Bedeutsamkeit, Welt und Mensch: Whiteheads Symbolphilosophie 9783495999714, 9783495491942


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1 Einleitung
1.1 Thema der Arbeit
1.2 Struktur der Arbeit
2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie
2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung: Raum für eine Symbolphilosophie – und deren (Nicht-)Rezeption
2.1.1 Werkhistorischer Kontext der Symbolphilosophie
2.1.2 Rezeption und Forschungsstand
2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien
2.2.1 Vieldeutigkeit des (Zeichen- und) Symbolbegriffs
2.2.2 Symboltheorien und Geltungsbereich des Symbolbegriffs
2.2.3 Whiteheads Symboldefinition
3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie
3.1 Die Welt als Organismus
3.1.1 Substanzparadigma versus Prozessidee
3.1.2 Die Wirklichkeit als Ineinanderfließen atomarer Prozesströpfchen
3.1.3 Das ontologische Primat der Relationen und das ontologische Prinzip
3.1.4 Die Wirklichkeit als Synthese von Zweckursachen und Wirkursachen
3.1.5 Erfahrungsakte als Akte des Fühlens und des Wertens
3.2 Ewige Ideen: So kommt Neues in die Welt
3.2.1 Ewige Ideen als Qualifikation der Wirklichkeit
3.2.2 Beschaffenheit der ewigen Ideen
3.2.3 Erfassen der ewigen Ideen
3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt
3.3.1 Allgemeines zur Kreativität und Whiteheads Kreativitätsbegriff
3.3.2 Kreativität als »Category of the Ultimate«
3.3.3 Kreativität als »Principle of Novelty«
4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis: Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und Realität
4.1 Die Ausgangslage
4.1.1 Whiteheads »Vertrauen in den positiven Wert der philosophischen Tradition«
4.1.2 Reibungspunkte mit der philosophischen Tradition: Ein Überblick vorweg
4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion – Das reformierte subjektivistische Prinzip und die Bipolarität als Alternativen
4.2.1 Whiteheads Anliegen: Wider die Natur-Geist-Distinktion
4.2.2 Auf dem Weg zum reformierten subjektivistischen Prinzip
4.2.3 Whiteheads Alternative: Bipolarität
4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik
4.3.1 Whitehead und Locke
4.3.2 Whitehead und Hume
4.3.3 Whitehead, Locke, Hume und das Phänomen der Alltagsgegenstände
4.4 Vom Mikrokosmos zum Mesokosmos menschlicher Erfahrung
4.4.1 Stufen der Wirklichkeit und der Erfahrung
4.4.2 Zusammenhang von Erfahrung, Wahrnehmung und Bewusstsein
4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie
4.5.1 Ein Beispiel vorweg: Kurkonzert im Park
4.5.2 Wir spüren: Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit
4.5.3 Wir strukturieren: Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit
4.5.4 Wir synthetisieren: Wahrnehmungsmodus der symbolischen Referenz
5 Symbolisierung als Kulturpraxis: Die Bedeutsamkeit der Welt und die Kunst der Zivilisation
5.1 Die Ausgangslage: Dimensionen von Symbolisierungen
5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente
5.2.1 Symbolisierung ist politisch
5.2.2 Wissen um Symbolisierungen
5.2.3 Symbol und Bedeutung
5.2.3.1 Die Beziehung von Symbol und Bedeutung
5.2.3.2 Wirksamkeit in der Bedeutung – Bedeutung als Bedeutsamkeit
5.2.3.3 Symbolsystem Sprache und Bedeutung
5.2.3.4 Bedeutungsverstärkung in den subjektiven Formen
5.2.3.5 Genese von Symbol und Bedeutung
5.2.4 Instinkthandeln, Reflexhandeln und symbolisch konditioniertes Handeln
5.2.5 Allgemeine Funktionen von Symbolisierung
5.2.5.1 Abstraktion und Konkretion
5.2.5.2 Individuation und Zusammenhalt
5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz
5.3.1 Definition von Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz
5.3.2 Überprüfbarkeit von Irrtümern
5.3.2.1 Das pragmatische Kriterium
5.3.2.2 Wahrnehmung von Konformation und Intensivierung des Fühlens
5.3.2.3 Verschiedene Weisen der Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklichkeit
5.3.3 Auf der Suche nach der »ungeschminkten Wahrheit«
5.4 Das kreative Fortschreiten eines zivilisierten Universums: Ordnung und Aufbruch im Streben nach Harmonie
5.4.1 Der positive Wert von Unvollkommenheiten
5.4.2 Ziel individuellen und gesellschaftlichen Handelns: Harmonie
5.4.3 Kunst in der Zivilisation und Kunst der Zivilisation
6 Fazit
7 Bibliographie
Whitehead
Weitere Literatur und Sekundärliteratur
Register
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Bedeutsamkeit, Welt und Mensch: Whiteheads Symbolphilosophie
 9783495999714, 9783495491942

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7

Whitehead Studien | Whitehead Studies

Tanja Kosubek

Bedeutsamkeit, Welt und Mensch Whiteheads Symbolphilosophie

https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

Whitehead Studien | Whitehead Studies Herausgegeben von Godehard Brüntrup (München) Christoph Kann (Düsseldorf) Franz Riffert (Salzburg) Band 7

https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

Tanja Kosubek

Bedeutsamkeit, Welt und Mensch Whiteheads Symbolphilosophie

https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Diss., Univ. Düsseldorf, 2019 ISBN 978-3-495-49194-2 (Print) ISBN 978-3-495-99971-4 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet https://doi.org/10.5771/9783495999714 verlag-alber.de .

Vorbemerkung und Dank

Dieses Buch ist eine geringfügig geänderte Fassung meiner im Som­ mersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf angenommenen Dissertationsschrift. Das Erscheinen dieses Buchs im Rahmen der Reihe Whitehead Stu­ dien des Verlags Nomos/Karl Alber ist nur möglich geworden durch die Unterstützung einiger Menschen, denen ich hierfür recht herzlich danken möchte. Ich danke zuerst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Christoph Kann für die Betreuung der Arbeit, für seine Expertise, seine Geduld und seine konstruktive Kritik. Herrn Prof. i. R. Dr. Dr. h.c. Dieter Birnbacher gilt mein Dank für das Erstellen des Zweitgutachtens und für seine unkomplizierte Unterstützung. An entscheidender Stelle haben sich aus Gesprächen mit Dr. Christine Rothe wertvolle Impulse zur Struktur der Arbeit ergeben; Christoph Dahm hat den gesamten Entstehungsprozess der Arbeit begleitet und das Lektorat der Arbeit übernommen. Danke. Einen ruhigen Arbeitsplatz in der heißen Phase verdanke ich der Freundlichkeit von Familie Thiem-Davulcu sowie der Judosportschule Düsseldorf. Dr. Julia Siep vom Promotionsbüro der Philosophischen Fakultät an der HHU danke ich für ihre organi­ satorische Unterstützung sowie für ihre positive Art, letzte Zweifel zu zerstreuen. Schließlich haben Dr. Martin Hähnel und vor allem Dr. Monika Mühlpfordt vom Verlag Nomos/Karl Alber professionell und zugewandt den Weg vom Manuskript zum Buch geebnet, danke. Dank sowieso und immer gilt: meiner Familie.

5 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Thema der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.2 Struktur der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung: Raum für eine Symbolphilosophie – und deren (Nicht-)Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Werkhistorischer Kontext der Symbolphilosophie . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Rezeption und Forschungsstand . . . . . . . 2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien . . . . . 2.2.1 Vieldeutigkeit des (Zeichen- und) Symbolbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Symboltheorien und Geltungsbereich des Symbolbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Whiteheads Symboldefinition . . . . . .

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1 Die Welt als Organismus . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Substanzparadigma versus Prozessidee . . 3.1.2 Die Wirklichkeit als Ineinanderfließen atomarer Prozesströpfchen . . . . . . . . . 3.1.3 Das ontologische Primat der Relationen und das ontologische Prinzip . . . . . . . . . . 3.1.4 Die Wirklichkeit als Synthese von Zweckursachen und Wirkursachen . . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

Inhaltsverzeichnis

3.1.5 Erfahrungsakte als Akte des Fühlens und des Wertens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2 Ewige Ideen: So kommt Neues in die Welt . . . . . 3.2.1 Ewige Ideen als Qualifikation der Wirklichkeit 3.2.2 Beschaffenheit der ewigen Ideen . . . . . . . 3.2.3 Erfassen der ewigen Ideen . . . . . . . . . .

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt . . . 3.3.1 Allgemeines zur Kreativität und Whiteheads Kreativitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Kreativität als »Category of the Ultimate« . 3.3.3 Kreativität als »Principle of Novelty« . . .

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis: Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und Realität . . . . . . . . . .

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4.1 Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Whiteheads »Vertrauen in den positiven Wert der philosophischen Tradition« . . . . . . . . 4.1.2 Reibungspunkte mit der philosophischen Tradition: Ein Überblick vorweg . . . . . . . 4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion – Das reformierte subjektivistische Prinzip und die Bipolarität als Alternativen . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Whiteheads Anliegen: Wider die Natur-GeistDistinktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Auf dem Weg zum reformierten subjektivistischen Prinzip . . . . . . . . . . 4.2.3 Whiteheads Alternative: Bipolarität . . . . . 4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Whitehead und Locke . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Whitehead und Hume . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Whitehead, Locke, Hume und das Phänomen der Alltagsgegenstände . . . . . . . . . . . 4.4 Vom Mikrokosmos zum Mesokosmos menschlicher Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Stufen der Wirklichkeit und der Erfahrung . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

123 124 127

131 131 134 142 144 145 151 156 161 163

Inhaltsverzeichnis

4.4.2 Zusammenhang von Erfahrung, Wahrnehmung und Bewusstsein . . . . . . . 4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie . . . . . 4.5.1 Ein Beispiel vorweg: Kurkonzert im Park . . . 4.5.2 Wir spüren: Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Wir strukturieren: Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit . . . . . . . . 4.5.4 Wir synthetisieren: Wahrnehmungsmodus der symbolischen Referenz . . . . . . . . . . . .

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis: Die Bedeutsamkeit der Welt und die Kunst der Zivilisation . . . . . . . .

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5.1 Die Ausgangslage: Dimensionen von Symbolisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Symbolisierung ist politisch . . . . . . . . 5.2.2 Wissen um Symbolisierungen . . . . . . . 5.2.3 Symbol und Bedeutung . . . . . . . . . . 5.2.3.1 Die Beziehung von Symbol und Bedeutung . . . . . . . . . . . . 5.2.3.2 Wirksamkeit in der Bedeutung – Bedeutung als Bedeutsamkeit . . . 5.2.3.3 Symbolsystem Sprache und Bedeutung . . . . . . . . . . . . 5.2.3.4 Bedeutungsverstärkung in den subjektiven Formen . . . . . . . . 5.2.3.5 Genese von Symbol und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Instinkthandeln, Reflexhandeln und symbolisch konditioniertes Handeln . . . . 5.2.5 Allgemeine Funktionen von Symbolisierung 5.2.5.1 Abstraktion und Konkretion . . . 5.2.5.2 Individuation und Zusammenhalt

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz 5.3.1 Definition von Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

Inhaltsverzeichnis

5.3.2 Überprüfbarkeit von Irrtümern . . . . . . 5.3.2.1 Das pragmatische Kriterium . . . 5.3.2.2 Wahrnehmung von Konformation und Intensivierung des Fühlens . . 5.3.2.3 Verschiedene Weisen der Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklichkeit . . . . . . . . . 5.3.3 Auf der Suche nach der »ungeschminkten Wahrheit« . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.4 Das kreative Fortschreiten eines zivilisierten Universums: Ordnung und Aufbruch im Streben nach Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Der positive Wert von Unvollkommenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Ziel individuellen und gesellschaftlichen Handelns: Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Kunst in der Zivilisation und Kunst der Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Whitehead . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Weitere Literatur und Sekundärliteratur . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

1 Einleitung

1.1 Thema der Arbeit Wir hören eine Folge von Tönen – und wir werden von der Musik berührt: Wir wippen mit dem Fuß, werden fröhlich oder aggressiv, spüren das Vibrieren dumpfer Bässe im Bauch, reagieren auf das Kreischen einer E-Gitarre mit einem Stirnrunzeln, singen ergriffen mit. Wir hören eine Folge von Tönen – und wir wissen, die Kirchen­ glocken läuten: Wir denken an die Hochzeitsfeier eines Freundes, laufen in den Luftschutzkeller, fühlen uns in Gott geborgen, prosten uns zum Neuen Jahr zu. Wir hören eine Folge von Tönen – und wir erkennen aus dem Gesprochenen eine Botschaft: Wir geben eine erfragte Sachinformation, freuen uns über ein Lob, sind irritiert über die in einer lustig erzählten Anekdote mitschwingende Traurigkeit. Wir legen uns aufs Sofa, bauen Brücken, singen die Nationalhymne, halten an der roten Ampel an, lachen über einen Witz, weinen beim Lesen eines Gedichts, summen das Baby in den Schlaf, können lesen und rechnen, spielen ein Lied vom Notenblatt, feiern den Ersten Mai, geben uns die Hand, setzen uns für Menschenrechte ein, zeigen einen Vogel, werfen Steinchen ans Fenster (aber keine Steine), gehen ins Museum, tanzen Tango, tippen auf der Tastatur. Im Sinne Whiteheads sind dies alles Beispiele für Symbolisie­ rungen und für die Funktion, die Symbole für uns im individuellen Alltagsleben und im gesellschaftlichen Miteinander haben können. Die Bandbreite der Beispiele macht deutlich, dass für Whitehead die Symbolisierung im menschlichen Leben eine zentrale Rolle ein­ nimmt. Menschliches Leben ist Leben mit und durch Symbolisierun­ gen – in Kultur, Wissenschaft und im ganz normalen Alltag. Vor allem Kultur ist jener Bereich, in dem wir dem Alltagsverständnis nach Symbole vorfinden, doch laut Whitehead ist auch unsere ganz einfache Wahrnehmung der Umwelt bereits durch Symbolisierung geprägt. Dass bei Whitehead zudem auch die Welt als Ganzes ohne Symbolisierungen nicht vollkommen ist, liegt daran, dass das Univer­ sum durchdrungen ist von den metaphysischen Prinzipien Kreativität

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1 Einleitung

und Rationalität, die in gelungenen Symbolisierungen verwirklicht werden. Auch wenn man bei Whitehead keine separat formulierte Symboltheorie als reine Erkenntnis- oder Kulturtheorie findet: Das Thema der Symbolisierung im Zusammenhang mit der Erfahrung sowie der kulturellen und zivilisatorischen Gestaltung der Realität durch den Menschen zieht sich in unterschiedlichen Ausprägungen durch sein Werk von An Introduction to Mathematics bis zu Modes of Thought (Denkweisen). Zentral genannt ist das Thema dabei im 1927 erschienenen Werk Symbolism. Its Meaning and Effect (Kulturelle Symbolisierung). Ein vollständiges Bild ergibt sich aber nur unter Berücksichtigung anderer Werke, vor allem auch Process and Reality (Prozess und Realität) und Adventures of Ideas (Abenteuer der Ideen). Zum ersten Mal steht mit dieser Arbeit Whiteheads Symbol­ konzeption im Fokus einer umfassenden Untersuchung seines Wer­ kes. Whiteheads Idee der Symbolisierung wird als ein wesentliches Mittel des menschlichen Umgangs mit der Welt aufgearbeitet und in seine als Kosmologie formulierte Philosophie eingeordnet. In diesem Kontext wird geklärt, wie Symbolisierung laut Whitehead überhaupt funktioniert und welcher Stellenwert ihr im Spannungs­ feld von Metaphysik, Epistemologie und Kulturphilosophie sowie in seiner Philosophie insgesamt eingeräumt wird. Es gilt dabei auch exemplarisch zu überprüfen, ob seine Philosophie dem Anspruch, sie möge die Erfahrungsbreite und -tiefe des menschlichen Alltags durchleuchten und zu einer Präzisierung von Fachwissenschaften und Alltagsphilosophien beitragen, gerecht werden kann. Ausdrücklich nimmt diese Arbeit Abstand von dem Ansatz, aus Whiteheads Äuße­ rungen zu Aspekten von Symbolisierung, für die auch die Begriffe Ästhetik und Kunst relevant sind, eine kulturphilosophische Kunstoder Ästhetiktheorie zu konstruieren. Auch auf eine Einordnung in den Kontext gängiger Symboltheorien aus Semiotik, Soziologie oder Kulturphilosophie wird verzichtet, da es hierfür aufgrund der Allein­ stellungsmerkmale der symbolphilosophischen Ansätze Whiteheads kein sinnvoll anwendbares Raster gibt. Ein Unterschied zu Symboltheorien, wie sie sich seit den zwanzi­ ger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, liegt bei Whitehead sicherlich in der fehlenden Fokussierung auf einen einzelnen Bereich. Er bezieht Aspekte aus den Bereichen Sprache, Kunst und Gesellschaft in seine Überlegungen ein, lässt sich aber weder in der semiotischen oder linguistischen noch in der kunst- oder sozialwissenschaftlichen Disziplin vollends nieder. Whitehead bietet einen Ansatz, der weite

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1.1 Thema der Arbeit

Bereiche der menschlichen Erfahrung mittels einer Theorie der Sym­ bolisierungen abdeckt und der die Erfahrungsgrundlagen sowie die existenzielle Bedeutung der Symbolisierung ebenso thematisiert wie deren Verankerung in einer metaphysischen Basis. Seine Überle­ gungen rund um den Begriff des Symbols wollen weder eine breit angelegte Kulturwissenschaft noch eine hochspezialisierte Nischen­ wissenschaft bedienen. Sie wollen einen Beitrag zur philosophischen Durchdringung unseres Alltagslebens leisten – und einen Beitrag zum Entwurf einer allgemeinen Kosmologie. Dies erschwert eine wissenschaftstheoretische Einordnung seiner Konzeption und hierin mag auch einer der Gründe für die lange Zeit kaum erfolgte Rezeption seines Werkes Kulturelle Symbolisierung zu finden sein.1 Diese Arbeit möchte einen andere Perspektive anregen: Gerade die Originalität von Whiteheads symbolphilosophischen Überlegungen, gerade ihre mögliche Reichweite bis tief in eine Kosmologie hinein sowie nicht zuletzt aus dieser heraus mitten ins echte Leben machen Kulturelle Symbolisierung zum lohnenswerten Gegenstand einer eingehenden Untersuchung. Bei der Entwicklung einer kohärenten und vor allem auf unseren Alltag anwendbaren Kosmologie spielt Whiteheads Sym­ bolisierungskonzeption nämlich eine deutlich größere Rolle, als die Sekundärliteratur ihr bisher zugedacht hat. In seinen mittleren bis späteren philosophischen Jahren – und zu Hochzeiten des Positivismus – angetan von der Idee einer Kosmolo­ gie, verstanden als »System allgemeiner Ideen [...], auf dessen Grund­ lage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann« (PR 31), macht sich Whitehead auf die Suche nach einer tauglichen Basis für solch einen integrativen Ansatz und schreibt eine metaphysische Organismusphilosophie. Diese bedeutet eine grundlegende Vernetz­ ung von Mensch und Natur in einem Gesamtorganismus Welt und damit konsequenterweise wissenschaftstheoretisch auch eine Aufhe­ bung der strikten Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften, denn »die ästhetischen, moralischen und religiösen Interessen [sol­ len] mit jenen Begriffen von der Welt in Verbindung gebracht werden, die ihren Ursprung in den Naturwissenschaften haben« (PR 22). Eine Besonderheit, die sich aus dieser Konzeption ergibt und die es in ihrer Plausibilität und in ihren Auswirkungen zu untersuchen gilt, ist eine naturalistische Perspektive auf Symbolisierungen. Auch wenn Whiteheads Symbolisierungen mit ihren Bedeutungen vor 1

Vgl. Lachmann (2000b:9).

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1 Einleitung

allem als kulturell und zivilisatorisch relevante Elemente menschli­ chen Erlebens und Handelns in voller Tiefe zum Tragen kommen, sind sie doch weder ausschließlich der menschlichen Kultursphäre zuzu­ schreiben, noch sind sie reine Produkte des menschlichen Geistes. Es gibt sie in einem gewissen Sinne wirklich – und sie sind dazu gemacht, unseren Bezug zur Wirklichkeit zu strukturieren. Whitehead ver­ tritt eine naturalistische Symboltheorie, deren Gegenstand im Unter­ schied zu ähnlichen Ansätzen über Symbolisierungen im Sinne von Denkinhalten und sprachlichen Ausdrücken weit hinausgeht. Für die menschlichen Erfahrungen, die an Symbolisierungsakten beteiligt sind, stellen in einer organistisch konstituierten Welt solche Erfah­ rungserlebnisse die Basis dar, die bereits auf ontologisch primärer Ebene stattfinden. Diese Verbindung des Begriffs der Symbolisie­ rung mit epistemologischen Fragestellungen und die ontologische Fundierung von Symbolisierungen in einer Metaphysik mit dem Ziel einer naturalistischen Symbolkonzeption stellen sowohl Whiteheads originären Beitrag zur Symbolphilosophie als auch Angriffspunkte seiner Kritiker dar. Auf jeden Fall kann ein Verständnis von Genese, Struktur und Wirkung der whiteheadschen Symbolisierungen nicht ohne das Verständnis seiner ontologischen Prämissen gelingen – so dass diese Arbeit Whiteheads Metaphysik und den darin angelegten symbolphilosophischen Spuren einen angemessenen Stellenwert in der Untersuchung zukommen lässt. In drei Bereiche also ist der Begriff des Symbols verwoben: Kultur und Gesellschaft, Erkenntnis und Wahrnehmung, Metaphy­ sik und Ontologie. Symbole im kulturellen Leben? Da fallen dem Alltagsverstand sofort Beispiele ein: die Taube als Symbol für Frieden, die Rose als Symbol für Liebe, das Gemälde »Guernica« als Symbol für die Schrecken des Nazi-Regimes, das Kreuz als Symbol für die Leiden Christi, das runde rote Schild mit dem weißen Balken darin als Symbol für ein Durchfahrtsverbot, der Handschlag als Symbol für eine höfliche Begrüßung. Aber Symbole im Erkennen der natürlichen Alltagswelt, der Welt der Steine, Berge, Tische, Mäuse? Ungewöhn­ lich – welche sollen das sein? Die Philosophin fragt sich vielleicht: Ist damit eventuell so etwas gemeint wie bei Locke die mentalen Repräsentationen der Dinge im menschlichen Geist? Aber wie passt das zu Whitehead als erkenntnistheoretischem Realisten? Und was hat das Symbol mit der Metaphysik zu schaffen? Spätestens hier stutzt auch der Philosoph, denn der Terminus »Symbol« ist zumeist explizit oder implizit mit dem Geist des Menschen assoziiert, der Symbole als

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1.1 Thema der Arbeit

solche ersinnt und versteht. »Symbol« und »Symbolisierung« sind bei Whitehead zwar keine genuin metaphysischen Termini und werden erst auf mesokosmischer Ebene des Menschen relevant, sie sind aber nur aus der Metaphysik heraus in ganzem Umfang zu verstehen. Es ist typisch für Whiteheads Philosophie, dass er dieselben Begriffe in unterschiedlichen Kontexten verwendet, um die Grundkonstruktion zu untermauern, dass für unterschiedlich komplexe und abstrakte Ebenen ähnliche Strukturen gelten. Von der ontologischen Basis über die Erfahrung zur Kultur hinter den verschiedenen Phänomenen tauchen stets die gleichen Muster auf. Daher gibt Whitehead zum Beispiel der Erfahrung, der Kreativität und eben auch dem Symbol eine relativ weite Definition. Am Beispiel der Analyse seiner sym­ boltheoretischen Überlegungen lässt sich sein Ansatz, ein philosophi­ sches Grundkonzept auf unterschiedlichen Ebenen anzuwenden, gut illustrieren und auf seine Kohärenz hin überprüfen. Bestimmte kulturelle Symbole sind nicht nur nettes Schmuck­ werk, sondern essenzieller Bestandteil des menschlichen Lebens – essenziell nicht nur pragmatisch zur Strukturierung der Welt und zur Gestaltung des alltäglichen Miteinanders, sondern auch kosmisch als Verbindung zu einem Universum, das durch jeden schöpferischen Symbolisierungsakt des Menschen in seinen Grundprinzipien exem­ plifiziert und als Ganzes entwickelt wird. Dies zu belegen, ist als eines von Whiteheads Anliegen aus Kulturelle Symbolisierung und Abenteuer der Ideen herauszulesen. Ein Ziel dieser Arbeit ist es, die grundsätzlich gelungene Umsetzung dieses Anliegens nachzuweisen und dabei aufzuzeigen, dass die menschliche Gesellschaft in ihrem Streben nach Verfeinerung und Vertiefung zentraler Symbolisierun­ gen verstanden werden kann als Entäußerung eines universalen Eros und damit auch als integraler Bestandteil eines sich in den Schwin­ gungen zwischen Wandel und Ordnung vervollkommnenden Univer­ sums. These ist, dass sich gesellschaftliches Handeln und kulturelle Aktivitäten dabei als Akte der Symbolisierung erweisen, in denen sich uns die grundlegenden metaphysischen Prinzipien von Kreativi­ tät und Rationalität offenbaren. Allen Arten von Symbolisierungen kommt damit die Bedeutung als Offenbarung des whiteheadschen Universums zu. Für das Anliegen dieser Arbeit, die unterschiedlichen Facetten des Symbolbegriffs und seine zentrale Rolle für Whiteheads Philo­ sophie strukturiert herauszustellen, bietet sich das gewählte metho­ dische Vorgehen an. Es gilt, auch die metaphysischen Grundlagen

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1 Einleitung

zu behandeln, dabei einige in der Forschungsliteratur bereits unter­ suchte Aspekte noch einmal von vorn (aber eben auch von hinten) aufzurollen und ein besonderes Augenmerk auf Präzision in der Rekonstruktion von Whiteheads Werk zu legen. Als Nebeneffekt wird sich zeigen, dass einige von Interpreten geäußerte vermeintliche Kritikpunkte aus Ungereimtheiten in Whiteheads Terminologie, aber auch aus terminologischen Missverständnissen oder inadäquaten Vorannahmen der Interpreten resultieren. Eine stilistische Herausforderung von Untersuchungen zu Whiteheads Werk liegt sicherlich darin, seine Dichtheit zu lichten, gleichzeitig aber der Idee des Universums als einer Vernetztheit aller Dinge gerecht zu werden – also darin, auf der Papierfläche linear einen organistisch inspirierten vieldimensionalen Gedanken­ raum darzustellen. Dem Bemühen um eine angemessene Reflexion des whiteheadschen Universums mag es geschuldet sein, dass sich manche Forschungsliteratur mit nicht weniger dichten Paraphrasen fast ebenso komplex liest wie das Original. Dies liegt sicherlich auch in Whiteheads Konzeption seiner Philosophie als Kosmologie begrün­ det, in der Aussagen zu den Bereichen Kultur, Gesellschaft oder (Natur)Wissenschaften jenseits seiner Metaphysik Gefahr laufen, oberflächlich oder trivial zu wirken, der Einbezug der metaphysischen Grundannahmen in den jeweiligen Erklärungs- und Begründungszu­ sammenhang allerdings einen langen Atem erfordert.2 Diese Arbeit ist auch der Versuch, bezogen auf das Thema der Symbolisierungen eine umfassende, aber in der Darstellung ihrer Ergebnisse weder sprachlich noch inhaltlich erdrückende Untersu­ chung vorzulegen. Zum Freilegen des gedanklichen Strickmusters von Whiteheads Philosophie werden hier einzelne Maschen des Ganzen nacheinander betrachtet und dargestellt sowie an ausgewähl­ ten Stellen Vereinfachungen vorgenommen oder konkrete eigene Illustrierungen angeführt. Dort, wo bereits früher angesponnene Ähnlich formuliert Berve die genannte Herausforderung in seiner Untersuchung der »Struktur des Politischen« bei Whitehead: »Geht man mit der whiteheadschen Konzeption an ein bestimmtes lebensweltliches Problem systemimmanent heran, so findet man sich immer wieder auf die metaphysischen Grundgedanken zurückverwie­ sen. Bedingt durch die daraus resultierenden langen Begründungswege lassen sich für praktische Fragestellungen häufig nur recht allgemeine und im Einzelfall vage bleibende Erklärungen finden« (Berve 2014:131). In dieser Arbeit soll dennoch der Versuch unternommen werden, bezogen auf das Thema der Symbolisierungen am Ende der Begründungswege möglichst konkrete Schlussfolgerung zu ziehen. 2

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1.2 Struktur der Arbeit

Fäden zu einem später thematisierten Aspekt wieder aufgegriffen werden, ist dies zum Zweck einer erleichterten Anknüpfung und im Sinne einer möglichst linearen Strukturierung des Gedankennetzes durchaus methodisch beabsichtigt.

1.2 Struktur der Arbeit Die Vorbemerkungen im zweiten Kapitel dienen der allgemeinen Einführung in das Thema der Symbolisierungen bei Whitehead aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie verorten Kulturelle Symboli­ sierung mittels eines werkhistorischen Überblicks im Rahmen von Whiteheads philosophischer Entwicklung und geben außerdem einen Einblick in Rezeption und Forschungsstand zum Thema Symbolisie­ rung bei Whitehead. Der werkhistorische Überblick ist hilfreich, um die verschiedenen gedanklichen Dimensionen zu erkennen, innerhalb derer Whitehead Anknüpfungspunkte für seine symbolphilosophi­ schen Überlegungen findet; mit dem Einblick in Rezeption und For­ schungsstand schaut diese Arbeit auf den philosophischen Diskurs darüber. Die allgemeinen Erläuterungen zum Zeichen- und zum Symbolbegriff in der Fachliteratur und zu Symboltheorien sollen eine Idee davon geben, in welches Umfeld sich Whitehead hätte begeben können, wäre er einen der klassischen Wege auf dem Terrain symboltheoretischer Überlegungen gegangen. Diese Erläuterungen, die einer ersten Kontextuierung und Abgrenzung der whiteheadschen Überlegungen zu Symbolisierungen dienen sollen, basieren bewusst auf einer assoziativ-subjektiven Auswahl von Aspekten und Auto­ ren, da eine repräsentative Behandlung symboltheoretischer Grund­ lagen Material für eine gesonderte Untersuchung zusammenbringen würde. Mit einer Darstellung Whiteheads eigener Definition des Symbolbegriffs wird dieses Kapitel abgerundet. Im dritten Kapitel befinden wir uns an der philosophischmikrokosmischen Basis der Welt. Hier werden die Grundzüge von Whiteheads Metaphysik mit Schwerpunkt auf dem Werk Prozess und Realität als Basis für seine epistemologischen und kulturphilo­ sophischen Untersuchungen skizziert. Diese sind, wie bereits ange­ sprochen, elementar für das Verständnis seiner Auseinandersetzung mit Symbolisierungen. Es werden jene Spuren in der Metaphysik aufgespürt und verfolgt, die zu Whiteheads symboltheoretischem Ansatz führen werden. Die Idee der Welt als prozesshaft und orga­

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1 Einleitung

nistisch, die Verankerung von Erfahrung bereits in den kleinsten Geschehnissen des Weltorganismus, die Integration physischer und psychischer Vorgänge in ebendiese Geschehnisse, die Etablierung von Kausalität, Werturteilen und Sinnstiftung als grundlegenden metaphysischen Akten sowie das Urprinzip der Kreativität und damit verbunden das Prinzip des Strebens nach Harmonie erscheinen fast als menschliche Alltagswelt im Mikrokosmos und bilden die Basis für Symbolisierungen. Der ganz ungeduldige Leser mag das Kapitel als ›alten Wein‹ überblättern und endlich zur Sache kommen wollen – verpassen wird er eine mit Blick auf Symbolisierungen besonders strukturierte Aufbereitung der metaphysischen Grundlagen. Zudem werden wir in dieser Arbeit am Schluss der Untersuchung ganz kon­ kreter menschlicher Symbolisierungen in Gesellschaft, Politik oder Kunst nach einer spiralförmigen Entwicklung im Großen wieder dort ankommen, wo wir im Kleinen gestartet sind: Whiteheads Metaphy­ sik will im Makrokosmos umsetzen, was im Mikrokosmos angelegt ist. Nicht zuletzt deshalb ist es sinnvoll, diese auch hinsichtlich der Bedeutung ihrer einzelnen Komponenten für das Universum und die Symbolisierungsfrage zu untersuchen. Einen Schritt weiter – je nach Perspektive in Richtung Oberfläch­ lichkeit oder Komplexität – wird ausgehend vom metaphysischen Fundament danach gefragt, wie sich aus den ontologisch elementaren Erfahrungen die höheren Formen der Erfahrung auf der mesokosmi­ schen Ebene der alltäglichen Realität gestalten und in welcher Weise der Mensch als Bestandteil der Welt ebendieser begegnet. Das vierte Kapitel untersucht daher, welche Rolle das whiteheadsche Konzept der Symbolisierung für die komplexeren Phänomene der Welt und für die Erkenntnistheorie spielt. Whiteheads Thesen können dabei wesent­ lich pointiert werden durch einen Blick auf philosophische Positionen, die ihnen entgegenstehen – und so vertieft sich das Verständnis für Whiteheads Konzept einer provisorisch-realistischen Erkenntnispra­ xis durch das Verständnis für seine Auseinandersetzung mit dem cartesischen Substanzdualismus, dem englischen Empirismus und dem kantschen Idealismus. Aus Whiteheads Diskussion und Revision der genannten Positionen erwächst seine eigene Wahrnehmungs­ theorie, deren detaillierte Analyse den abschließenden Schwerpunkt dieses Kapitels bildet. An der Schnittstelle zwischen (ontologischer) Wirklichkeit und (gesellschaftlicher) Realität wird sich dabei heraus­ stellen: Symbolisierung ist Erkenntnispraxis; (fast) jede alltägliche

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1.2 Struktur der Arbeit

Wahrnehmung ist bereits geprägt durch jene Prozesse, die Whitehead das Herstellen symbolischer Referenz nennt. Im fünften Kapitel wird in einem nächsten Schritt der Bogen zum weltverarbeitenden und handelnden Menschen in der Entwicklung der Zivilisation gespannt. Dieser Übergang erfolgt fließend, denn bereits Whiteheads Wahrnehmungstheorie ist so konzipiert, dass Wahrnehmen Weltgestalten und Handeln impliziert. Die menschli­ che Gesellschafts- und Kulturpraxis wird durch die Verwendung von Symbolisierungen geprägt; durch Symbolisierungen wie Sprache, Architektur, Mathematik oder Kunst gestaltet der Mensch eine zivili­ sierte Gemeinschaft. Es stellt sich die Frage: Inwieweit taugt das bisher herausgearbeitete Verständnis von Symbolisierungen dazu, auch im gesellschafts- und kulturphilosophischen Kontext für Erhellung zu sorgen bezüglich der Bedeutung, die ihnen in istrem pragmatischen Wert, in ihrer Nützlichkeit für die individuelle und gesamtgesell­ schaftliche Lebensgestaltung zukommt? Und andersherum betrach­ tet: Inwieweit kann unser Alltagsverständnis von Symbolen und unser täglicher Umgang damit angemessen durch dieses Konzept erfasst werden? Neben einer Antwort auf diese Fragen werden die Präzisierungen, Erweiterungen und Ergänzungen systematisiert, die der Symbolbegriff im gesellschaftsphilosophischen Kontext erfährt. Bei der Herausarbeitung der Funktionen, die Symbolisierungen für Individuum und Gesellschaft haben, wird sich zeigen: Symbolisierun­ gen sind in diesem Sinne immer auch sozial, mehr noch, sie sind politisch. Aus den Bedeutungen, die in kulturellen Symbolen gesehen werden, resultiert ihre Wirkung auf den Menschen, ihr Handlungsim­ puls, ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung. Was aber heißt es bei Whitehead konkret, dass der Mensch Symbole als durchdrungen von bestimmten Bedeutungen erfährt? Zur Untersuchung dieser Relation muss im Zusammenhang mit Whiteheads Übernahme der Begriffe »Symbol« und »Bedeutung« aus dem Alltagsverständnis an die Verknüpfung von Symbolisierungen mit der metaphysischen Basis erinnert werden. Soll die Beziehung zwischen Symbol und Bedeutung wie von Whitehead postuliert qualitativ differenzierbar oder gar falsch sein können, so bedarf es der entsprechenden Krite­ rien zur Beurteilung. Auch Whiteheads Herleitung, Gestaltung und Begründung von Güte- und Wahrheitskriterien für Symbolisierungen wird daher in diesem Kapitel der Arbeit untersucht. Dies zeigt, wie das Erkennen der Angemessenheit von Symbolisierungen und die kri­ tische Revision unangemessener Symbolisierungen möglich gemacht

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1 Einleitung

werden. In einem Exkurs führt der Untersuchungsweg hierbei noch einmal zur metaphysischen Basis, denn auf der Ebene der Kulturpra­ xis offenbart sich die spiralförmige Konstruktion von Whiteheads Philosophie: Es gelten das Prinzip der Harmonie sowie die Balance zwischen Stabilität und Intensität genauso für die Selbstschöpfung jeder einzelnen kleinsten ontologischen Einheit wie für die mensch­ liche Schöpfung eines Kunstwerks und die menschliche Gesellschaft. Das ist es, was das Urprinzip der Kreativität beinhaltet und was in jeder einzelnen Symbolisierung auf unterschiedliche Weise exempli­ fiziert wird. Abschließend wird in einem Resümee eine Antwort gegeben auf die Fragen, welche Rolle die Symbolisierungen im Rahmen seiner gesamter Philosophie spielen und inwiefern es Whitehead gelingt, den Ansprüchen gerecht werden, sie konsistent in seiner Kosmologie zu verankern. Hierbei wird auch zusammengefasst, in welchen Aspekten Whiteheads Symbolisierungkonzept überzeugen kann und wo seine Schwachstellen liegen. Es wird versucht, zu klären, warum Symbolisierungen bisher weder werk- und themenübergrei­ fend noch als wesentliche Elemente der menschlichen Gesellschaft untersucht worden sind. Dabei werden auch einige mögliche Kritik­ punkte angesprochen.3 Nicht zuletzt wird der Blick dafür geschärft, welchen Beitrag zur Durchdringung unseres Alltagsverständnisses der Welt Whiteheads symbolphilosophische Überlegungen denn nun leisten können.

3 Diese Kritikpunkte könnten gleichzeitig als Ausgangspunkt für vertiefte Untersu­ chungen in den angesprochenen Bereichen dienen.

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung: Raum für eine Symbolphilosophie – und deren (Nicht-)Rezeption 2.1.1 Werkhistorischer Kontext der Symbolphilosophie 1927 präsentiert Alfred North Whitehead in Symbolism. Its meaning and effect (Kulturelle Symbolisierung)4 eine Ausarbeitung seiner philo­ sophischen Position, die um den Begriff der Symbolisierung angelegt ist. Er liefert in diesem Werk einen Erklärungsansatz für die Struktur, das Funktionieren und die Bedeutung von Symbolisierungen im Kontext sowohl von Wahrnehmungs- als auch, darauf aufbauend, von Kulturpraxis. Als Anstoß für die 1927 an der University of Virginia gehaltenen Barbour-Page Lectures, auf denen Kulturelle Symbolisierung basiert, mögen die Beobachtung der Gesellschaft, die zeitgenössische Diskussion um Symbolisierung sowie eine ver­ tiefte Auseinandersetzung mit der Epistemologie und dem englischen Empirismus gedient haben. Auch die erst weit später in AI und MT ausführlicher aufgegriffene Frage nach dem Funktionieren von Zivilisation und Kultur bildet einen Hintergrund des Werks. 4 Im Sinne eines optimalen Leseflusses werden in dieser Arbeit folgende Abkür­ zungen für Whiteheads Werke verwendet: IM = An Introduction to Mathematics, PNK = Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge, CN = Concept of Nature, UC = Uniformity and Contingency, SMW = Science and the Modern World (Wissenschaft und moderne Welt), RM = Religion in the Making (Wie entsteht Religion?), SY = Symbolism (Kulturelle Symbolisierung), FR = Function of Reason (Die Funktion der Vernunft), PR = Process and Reality (Prozess und Realität), AI = Adventures of Ideas (Abenteuer der Ideen), MT = Modes of Thought (Denkweisen), ESP = Essays in Science and Philosophy, AE = Aims of Education (Die Ziele von Erziehung und Bildung), OT = The Organisation of Thought, MG = Mathematics and the Good. Die Rechtschreibung in zitierten Textstellen älterer Textausgaben wurde behutsam gemäß aktueller Orthographieregeln modernisiert, z. B. mit dem Ersetzen von »ß« durch »ss« oder »ae« durch »ä«.

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Wie fügen sich Kulturelle Symbolisierung und Whiteheads sym­ boltheoretische Überlegungen insgesamt in seine philosophische Entwicklung ein? Entgegen der zeitgenössischen Tendenz der Phi­ losophie zu einem metaphysikkritischen Positivismus sowie der Tendenz der Naturwissenschaften, eine Spezialisierung auf immer detailliertere Einzelgebiete vorzunehmen, verfasst Whitehead 1929 sein philosophisches Hauptwerk Prozess und Realität als »Entwurf einer Kosmologie«. In dieser Kosmologie verfolgt Whitehead den Anspruch, in einem umfassenden metaphysischen Schema seine Auffassung von der Natur der Dinge als kreativem Prozess darzulegen und dieses durch einen Überblick über die Vielfalt der menschlichen Erfahrung zu bestätigen. Sein Ziel ist es, »ein kohärentes, logisches und notwendiges System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann« (PR 31). Alles, was existiert – von den subatomaren Gescheh­ nissen bis hin zur menschlichen Erfahrung und den verschiedensten Phänomenen der menschlichen Zivilisation wie Wissenschaft, Kunst oder Religion –, basiert nach Whitehead auf der Verbindung einer Vielzahl von Prozessen und dem Grundprinzip eines kreativen wie gleichzeitig geordneten Universums. In Prozess und Realität sind die zentralen Gedanken seiner Metaphysik dargelegt, als deren Wegbe­ reiter sich die vorausgehenden philosophischen Werke Wissenschaft und moderne Welt (1925) und Die Funktion der Vernunft (1929) lesen lassen. Auch Wie entsteht Religion? (1926) und Kulturelle Symboli­ sierung (1927), das einen Beitrag zur Kulturphilosophie ausgehend von einer Untersuchung der Weltwahrnehmung des Menschen mit ihren emotionalen Grundlagen und ihrer symbolischen Artikulation leistet, sind in ihrer gesamten Reichweite nur mit Augenmerk auf die metaphysischen Grundannahmen zu verstehen, die Whitehead mehr oder weniger explizit auch in diese Werke einbringt. Mit Abenteuer der Ideen (1933), einer »Studie über den Begriff der Zivilisation und […] [dem] Versuch zu verstehen, wie es zur Entstehung zivili­ sierter Wesen kommt« (AI 75), vollzieht Whitehead später eine Anwendung der in PR detailliert entwickelten Grundthesen seiner Metaphysik auf die Untersuchung zeitgenössischer wie historischer Phänomene der menschlichen Ideengeschichte. AI untersucht den fördernden Effekt, »den bestimmte Ideen auf die langsame Drift der Menschheit in Richtung Zivilisation ausgeübt haben« (AI 75). Auch die Ideengeschichte der Philosophie ist dabei Gegenstand des Werkes. Die Sekundärliteratur zu Whiteheads Symbolisierungen

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2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

hat AI bisher weitgehend außen vor gelassen, obwohl auch dort einige Symboltheoriefäden wieder aufgegriffen und Parallelen zu PR und vor allem zu SY gesponnen werden können – thematisiert letzteres doch ebenfalls die Entwicklung der Zivilisation. Nachdem Whitehead den dritten Teil von AI der Darstellung philosophischer Aspekte im Sinne seiner organistischen Kosmologie gewidmet hat, wendet er seine metaphysische Konzeption im letzten Teil auf die seinem Ermessen nach wesentlichen Aspekte der Zivilisation an, die da lauten: Wahrheit, Schönheit, Sinn für Abenteuer und Frieden. Symbolisierungen spielen vor allem eine Rolle im Zusammenhang mit der Thematisierung von Wahrheit, Kunst und Schönheit – in der Metaphysik wie in der Zivilisation. Der Blick auf diese Aspekte trägt zum Verständnis der Wirkungsweisen von Symbolisierungen in Kunst und Alltag bei. Das 1925 erschienene Werk SMW markiert als Angelpunkt den Übergang von der Formulierung mathematischer, wissenschaftsphi­ losophischer und erkenntnistheoretischer Überlegungen zur Heraus­ arbeitung einer eigenen Metaphysik, die dann allen anderen weite­ ren Wissenschaftsbereichen zugrunde gelegt wird.5 Hauptsächliche Aufgabe der Philosophie ist es laut SMW, die vorherrschenden wis­ senschaftlichen und philosophischen Theorien einer kritischen Über­ prüfung und einer Systematisierung zu unterziehen. Zudem finden sich aber nicht nur Aussagen zu den methodischen Aufgaben von Philosophie, sondern auch zur inhaltlichen Konzeption einer Philoso­ phie als Metaphysik. Diese Zeitmarke eines Wandels in Whiteheads Denken setzt auch Murphy in seiner Rezension zu SY – er allerdings wertet sie eher als Verrat an der Mathematik und der philosophischen Analyse denn als philosophische Weiterentwicklung: »The turning point in this philosophy seems to have occurred when analysis was supplanted by analogy and metaphor took the place of mathematics, is to say, in certain phases of Science and the Modern World« (Murphy 1929:489). Gerade die Ergänzung des analytischen und deduktiven Denkens durch das Denken in Analogien und Metaphern stellt aber die Besonderheit von Whiteheads philosophischer Weiterentwick­ lung dar, die sich konsequent aus seinen metaphysischen Grundan­

5 Vgl. Felt (1961:286): SMW »marks the beginning of a new period in Whitehead’s life and writings. Thereafter he directs his writing towards an explicit metaphysics, thus going beyond the limits originally planned for his philosophy of nature.«

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

nahmen und dem Anspruch, diese müssen auf das Alltagsdenken anwendbar sein, ergibt.6 Woran lässt sich in SMW die Verbindung zwischen altem und neuem Whitehead festmachen? Zum einen finden sich Anbindun­ gen an wissenschaftstheoretische Fragen, wenn Whitehead in SMW Aspekte der westlichen (Wissens)Kultur und des vorherrschenden kosmologischen Weltbildes darauf untersucht, inwieweit und auf wel­ che Weise diese von der wissenschaftlichen Entwicklung der letzten drei Jahrhunderte beeinflusst worden sind.7 Zum anderen hebt er in einem eigenen Kapitel die Bedeutung der »Mathematik als Element in der Geschichte des Denkens« (SMW 32) hervor. An dieser Stelle lässt er bereits symboltheoretische Anmerkungen in sein philosophisches Werk einfließen. Über die Betrachtung der Mathematik als eines der zivilisationshistorisch bedeutendsten menschlichen Symbolsysteme neben der Sprache (SY 62) und der Musik (SMW 32) lässt sich einer der Bögen zu Whiteheads Symbolphilosophie und Kulturphilosophie spannen. Der Hinweis in SMW auf die Bedeutung mathematischer Zeichen als abstrakte, verallgemeinernde Symbole mit der Funktion einer Operationalisierung der menschlichen Erfahrungen zeigt noch eine starke Verwandtschaft mit dem Kapitel »The Symbolism of Mathematics« aus An Introduction to Mathematics von 1911, in dem Whitehead die mathematischen Zeichen der Arithmetik als »the simplest and universally known symbols« (IM 58) wissenschaftli­ cher Symbolik bezeichnet. Whitehead sieht Mathematik in diesem Zusammenhang als Mittel zum Fortschritt wissenschaftlichen Den­ kens an, da diese als gelungenes Beispiel zeigt, dass vage Ideen sowie die Erfahrungen alltäglicher Sinneseindrücke auf eine von der Gebundenheit an die Alltagserfahrung abstrahierten Weise präzisiert ausgedrückt werden können. Durch diese in der mathematischen Abstraktion liegende Vereinfachung des Umgangs mit der Welt ist es zugleich möglich, diese systematisch zu erfassen: »In relation to the application of mathematics to the events of the Universe we are here symbolizing with direct simplicity the most fundamental 6 Sind »Analogie« und »Metapher« von Murphy als abwertende Ausdrücke für eine von ihm beklagte Abkehr Whiteheads von naturwissenschaftlicher und mathemati­ scher Präzision zu verstehen, so weist Whitehead selbst hingegen auf den Irrglauben einer möglichen Exaktheit beim Erfassen der Welt und auf die Bedeutung des Denkens in Analogien und Metaphern für die Weiterentwicklung des Denkens hin. 7 Vgl. SMW 7.

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2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

facts respecting in the outlook on the world afforded to us by our senses« (IM 125). Er bezeichnet mathematische Symbolsysteme da­ her auch als eine Grundlage des »apparatus of ideas«8, der konstitutiv für die Entwicklung der Wissenschaft ist. Während Whitehead 1925 in SMW also durchaus die Vorzüge von Mathematik betont, so nennt er 1938 in MT die Symbolsysteme der Mathematik zwar noch eine für die Zivilisationsentwicklung wesentliche Abstraktion, weist dort im Folgenden dann aber vor allem auf die Gefahren eines zu großen Strebens nach Deduktionen und Verallgemeinerung, wie sie in der Mathematik, der Logik und teilweise auch in der Philosophie praktiziert werden, hin.9 Diese im Kontrast zu IM und SMW relativierende Sicht auf die Mathematik und die Logik in MT resultiert daraus, dass Whitehead in seinen Werken dieselben Gegen­ stände der menschlichen Erfahrung aus unterschiedlichen Perspekti­ ven betrachtet. Menschliches Erleben der kausal wirkenden Umwelt einerseits und zivilisatorischer Fortschritt durch Abstraktion von der direkten Unmittelbarkeit andererseits gehen nach Whiteheads Phi­ losophie Hand in Hand. Innerhalb der Grundannahme des untrenn­ baren gleichgewichtigen Zusammenspiels von direktem Erleben der Umwelt und Abstraktionsleistung des Menschen liegt Whiteheads Fokus in MT eher auf der Bedeutung des direkten Erlebens der Umwelt, so dass es in diesem späteren Kontext seine Intention ist, einer Überbetonung der Abstraktionen vorzubeugen. In SMW bahnen sich neue philosophische Wege an, die als Nächstes in SY ausführlicher behandelt werden. Whitehead stellt bei seinen Untersuchungen zur Entwicklung wissenschaftlichen Den­ kens in SMW fest, dass die Notwendigkeit besteht, das bis dato vorherrschende »wissenschaftliche Schema umzuarbeiten und auf den elementaren Grundbegriff des Organismus zu stützen« (SMW 81). Diese Wendung zum Plädoyer für eine organistische Philosophie wird eingeführt über Anmerkungen zur Anwendung der Mathematik auf Naturphilosophie und Physik und mit dem Hinweis auf die Tatsa­ che, dass im Zuge der an Bedeutung gewinnenden Quantenphysik Vgl. IM 58. Vgl. z. B. MT 141: »Selbst in der rein abstrakten Logik, so wie sie auf Arithmetik angewendet wird, wurde es während des letzten halben Jahrhunderts notwendig, eine neue Typenlehre einzuführen, um die Lücken der einst aufgestellten Prämissen zu kor­ rigieren. Also verfügt die deduktive Logik nicht über jene zwingende Überlegenheit, die ihr normalerweise zugestanden wird.« 8

9

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Abschied von dem Konzept einer andauernden undifferenzierten Materie genommen werden müsse.10 Mit der Offenheit für neue Antworten auf die Frage nach den Bestandteilen der Dinge, die nun nicht mehr als undifferenzierte Materieportionen angesehen werden können, »ist die Bahn frei für die Einführung einer neuen Lehre vom Organismus, die den Materialismus ablösen kann, welcher der Philosophie seit dem siebzehnten Jahrhundert von der Wissenschaft aufgebürdet wurde« (SMW 51/52). Hiermit ist der entscheidende Schritt getan zu einer Philosophie, die auf metaphysischer Basis den Begriff der »Naturordnung« eng verbindet »mit dem Begriff der Natur als des Ortes von Organismen im Prozess der Entwicklung« (SMW 92). Whitehead sieht seine organistische Prozessphilosophie als Alternative etwa zum mechanistischen Materialismus Newtons oder zum Substanzdualismus Descartes’. Hinweise auf eine prozess­ philosophische Interpretation der menschlichen Wahrnehmung, der Lokalisierung von Dingen oder der Quantentheorie werden von Whitehead zwar nicht systematisch eingeführt, ziehen sich aber durch das ganze Werk. Die zwei Kapitel »Abstraktion« und »Gott« widmet Whitehead explizit Ausführungen zu seinem metaphysischkosmologischen Ansatz, nach dem Philosophie neben einer inhaltli­ chen Revidierung zum Beispiel des Substanzparadigmas auch die Aufgabe hat, die bisherigen Positionen der Wissenschaft miteinander zu vereinen und auf ein neues, allgemein gültiges metaphysisches Fundament zu stellen. Nachdem Whitehead bereits in SY sein Konzept von Erkenntnisund Kulturpraxis vor dem gedanklichen Hintergrund einer Metaphy­ sik entfaltet, stellt er seinen eigenen Vorschlag für das geforderte all­ gemein gültige metaphysische Fundament vier Jahre nach SMW 1929 detailliert in PR vor. Wir finden dort eine Organismusphilosophie, in der das Werden kleinster ontologischer Prozesseinheiten die Basis der Wirklichkeit darstellt – einer Wirklichkeit, die durch Relationalität, Emotionalität und Kreativität charakterisiert ist. Die menschliche Alltagswelt zeigt sich in diesem philosophischen Konzept als eine Abstraktion von der konkreten ontologischen Beschaffenheit der Wirklichkeit, für die aber – und das ist wichtig für seine Episte­ mologie und seine Kulturphilosophie – dieselben metaphysischen Prinzipien gelten. Diese in der Metaphysik fundierten Abstraktionen, 10

Vgl. SMW 50/51.

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2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

die Whitehead auch Symbolisierungsakte nennt, ermöglichen uns überhaupt erst den Umgang mit der Welt. Bis zu seinem Spätwerk Denkweisen entwickelt Whitehead also im Zeitraum von 1925 bis 1938 nach seinen Anfängen als Mathema­ tiker und über die Auseinandersetzung mit naturphilosophischen und epistemologischen Problemen seine Metaphysik. Diese bleibt nie iso­ liert im Raum stehen, sondern kommt mit jeweils unterschiedlichen Pointierungen in der konkreten Anwendung als Interpretations- und Untersuchungsbasis auf naturphilosophische, erkenntnistheoretische und gesellschaftsphilosophische Fragen zum Tragen. In SMW, SY, FR, PR, AI und MT erläutert Whitehead seine metaphysische Konzeption oder setzt diese als Basis voraus. In einem Kommentar Whiteheads zur eigenen Einschätzung seines philosophischen Werkes im Vorwort zu AI bezieht er sich auf SMW, PR und AI als wichtige Werke seiner Metaphysik, in denen er seine Auffassung von der Natur der Dinge darzustellen versucht. Er weist darauf hin, dass sich diese Werke so ergänzen, »dass die Auslassungen und Verkürzungen des einen in einem der beiden anderen ausgeglichen werden« (AI 75). SY wird hier zwar nicht genannt, dieses Werk liegt mit Erscheinen 1927 aber zeit­ lich ebenfalls in den Anfängen von Whiteheads Metaphysikphase und kann daher als erste ausdrückliche Verschriftlichung prozessphiloso­ phischer Grundsätze gesehen werden. Die dortigen Erläuterungen zur Funktionsweise symbolischer Referenz sind in modifizierter Weise im Kapitel »Symbolischer Bezug« in PR wiederzufinden. Zusammen­ fassend lassen sich folgende Ziele Whiteheads aus SY herauslesen: Aufhebung des Substanzdualismus, Überwindung des humeschen Skeptizismus, Erklärung der Funktion menschlicher Wahrnehmung durch symbolische Referenz sowie Erklärung der Bedeutung von Symbolen für die menschliche Gesellschaft zwischen Konservation, Destruktion und Innovation – und das alles im Einklang mit seinen ontologischen Prämissen, die hier ihre Angemessenheit und prakti­ sche Anwendbarkeit beweisen müssen. Whitehead beginnt SY mit der Nennung konkreter Beispiele für Symbolisierungen aus dem gesellschaftlichen Alltagsleben und nimmt dabei eine Hierarchisierung unterschiedlicher Symbole in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Zivilisation und in ihrer grundsätzlichen Tauglichkeit für die Strukturierung der Welt vor; so bewertet er im Sinne seines Symbolverständnisses zum Beispiel sakral-architektonische und religiöse Symbole des Mittelalters als oberflächlich und wenig bedeutsam, das Symbolsystem Sprache hin­

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

gegen als fundamental.11 Diese Bewertung fußt auf zwei Gründen: Zum Ersten zeigt die empirisch-historische Betrachtung von Symbol­ systemen, dass die ›Sprache‹ sakraler Baustrukturen in einer deutlich ausgeprägten Weise Zeitgeist und Moden unterworfen und in ihrem Wirkungskreis stärker spezialisiert ist. Sprachstrukturen hingegen wandeln sich eher langsam und an der Peripherie, die Basis aber scheint unverzichtbar geworden zu sein. Zum Zweiten, so folgert Whitehead aus dieser Betrachtung, gibt es grundsätzlich Symbolsys­ teme, die sowohl für den Menschen als auch im universalen Gesamt­ organismus eine besondere Funktion übernehmen: Manche Symbol­ systeme sind besser als andere dazu geeignet, die grundlegenden metaphysischen Strukturen zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen sowie gleichzeitig in besonderer Weise zur Organisation des gemein­ schaftlichen Alltags beizutragen. Sprache ist laut Whitehead ein solches Symbolsystem. Nach welchen konkreten Kriterien Whitehead Güte und Tauglichkeit von Symbolsystemen bewertet, erläutert er im letzten Kapitel von SY und in AI.12 Ausgehend von diesen allgemein verständlichen Beispielen begibt sich Whitehead im Folgenden auf die erkenntnistheoretische und die ontologische Ebene, die auf den ersten Blick gar nichts mehr mit den Anfangsbeispielen zu tun haben. Hierbei wendet Whitehead aber nicht nur den didaktischen Kniff an, den Leser in seiner Alltag̼s­ erfahrung abzuholen, um darauf basierend ein völlig von den Alltags­ beispielen divergierendes Symbolverständnis zu entfalten. Er gibt vielmehr einen Ausblick auf die Themen, die er nach der Darstellung seiner ontologischen und epistemologischen Grundannahmen in den Kapiteln eins und zwei von SY dann im letzten Kapitel wieder aufgreift und vertieft aus gesellschaftsphilosophischer Perspektive behandelt. Auch wenn dieser Ebenenwechsel sehr abrupt anmutet, schließt sich also zum Ende des Textes mit einer Erläuterung der Funktion von alltäglichen Symbolen für die Zivilisation der gedankliche Kreis: Das Thema der Symbolisierung wird (als kulturelles wie epistemi­ sches Phänomen) metaphysisch fundiert und führt so, auf dieser Basis vertieft, auch zu der Möglichkeit, ein vertieftes Verständnis konkreter Symbolisierungen als wesentlicher Textur kultureller und gesellschaftlicher Phänomene zu entwickeln.

11 12

Vgl. SY 61. Siehe hierzu Kapitel 5.3 und 5.4 dieser Arbeit.

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2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

SY liest sich durch die Verbindung von epistemologischen mit kulturphilosophischen Fragestellungen zur Funktion von Symboli­ sierungen auf metaphysischer Basis als Brückenschlag zwischen den frühen philosophischen Werken SMW (Wissenschaftstheorie, Epis­ temologie), RM (Religionsphilosophie) und den späteren Werken PR (Metaphysik) sowie AI (Gesellschafts- und Kulturphilosophie) und MT (Abstraktionskritik). Das alltagspraktische, gesellschaftliche und kulturelle Leben hat nach Whitehead trotz allen Abstraktionsleistungen, die der Mensch vollbringt, um einen handhabbaren Zugang zur Welt zu gestalten, als wesentlichen Bezugspunkt die vagen, hoche­ motionalen und massiven Wirkwahrnehmungen der metaphysischen Basis, die er in SY beschreibt. Im Spannungsfeld zwischen den konkreten metaphysischen Bedingungen des Erkennens und den Abs­ traktionen des Alltagslebens gestaltet der Mensch seine gesellschaft­ liche und kulturelle Umgebung durch Symbolisierungen, in denen die Verbindung von unmittelbarem Bestimmtsein durch die Umwelt einerseits und kreativer Weltgestaltung andererseits zum Ausdruck kommt – dies ist eine der Thesen von SY, die auch in PR und MT aufgegriffen und weitergeführt wird. SY leistet ausgehend von einer Untersuchung der Erkenntnis des Menschen mit ihren emotionalen Grundlagen und ihrer symbolischen Artikulation auch einen Beitrag zur Gesellschaftsphilosophie. Wie in seinen anderen philosophi­ schen Werken setzt Whitehead dabei auch in SY metaphysische Annahmen als Basis voraus und bezieht sich auf grundlegende metaphysische Prinzipien: Unter anderem Prozessualität, kausale Wirk­ samkeit, Zweckgerichtetheit, Kreativität, Vernunft als Ordnungsprin­ zip oder das Prinzip der Harmonie tauchen auch im Erklärungszusammenhang von Symbolisierungen auf. Der Symbol­ begriff bei Whitehead muss daher im Zusammenhang mit seiner phi­ losophischen Entwicklung zwischen Naturphilosophie, Epistemolo­ gie, Metaphysik und Kulturphilosophie betrachtet werden.

2.1.2 Rezeption und Forschungsstand SY ist auf relativ wenig zeitgenössische Resonanz gestoßen – wenn überhaupt, so hat dieses Werk nach seinem Erscheinen eine eher negative Rezeption erfahren. Lachmann erklärt die geringe Wirkung von Whiteheads Symbolkonzeption dadurch, »dass sie weder einen

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Anknüpfungspunkt für die elaborierten Analysen der modernen Semiotiker abgibt, noch dem […] Motiv der Entwicklung einer umfas­ senden Kulturphilosophie entspringt« (Lachmann 2000a:197/198). Das Mäandern der whiteheadschen Gedanken zur Struktur und Funk­ tion von Symbolisierungen zwischen den Bereichen Metaphysik, Epistemologie, Semiotik und Kulturphilosophie weist auf einen inter­ disziplinären Ansatz hin, der Whiteheads Werk gerade auszeichnet – dieses Vorgehen mag von Spezialisten der unterschiedlichen Diszipli­ nen aber als jeweils zu wenig fachkonform wahrgenommen worden sein, so dass die Besonderheit seines Ansatzes nicht gewürdigt wurde. Diese anfängliche (Nicht)Rezeption mag auch mit Whiteheads unter Zeitgenossen unpopulärer Philosophiekonzeption ab ca. 1925 zusam­ menhängen, nach der alle Philosophie – so auch die Epistemologie und die Kulturphilosophie – eines metaphysischen Fundaments be­ darf, um angemessen alle Phänomene der Welt auf Mikro-, Mesound Makroebene13 erklären zu können. In diesem Zusammenhang wird von zeitgenössischen Rezensenten eine zu unklare Vorgehens­ weise beim Rückschluss von Alltagsphänomenen und erkenntnis­ theoretischen Fragen auf mögliche metaphysische Grundlagen als Kritikpunkt genannt. L. J. Russell zum Beispiel lässt die Lektüre von SY mit Unzufriedenheit zurück: »It leaves me, however, with a sense of dissatisfaction, not on account of its brevity, but because I cannot get hold of the clues on many important matters. I cannot get free from a sense that there are conflicting positions« (L. J. Russell 1928:530). Smart (1928) zweifelt an, dass Whiteheads Organismusphilosophie, auf der seine Symbolkonzeption basiert, tatsächlich wie von diesem postuliert das Substanz-Akzidenz-Schema überschreiten kann. Die in SY vorgestellte Beziehung zwischen Symbol und Bedeutung, die für Whitehead als (provisorischen) Realisten eine wirklich existente sein muss14, interpretiert Smart als Beleg dafür, dass Whitehead die Wirklichkeit entgegen seiner 1925 in SMW geäußerten Intention weiterhin »in terms of existential entities and their quasi-mechanical activities« (Smart 1928:388) konstruiert. Hier liegt, wie sich im Kapitel 3.1.3 dieser Arbeit zeigen wird, allerdings ein Missverständnis Smarts von Whiteheads Begriff der Relation vor. Murphys Rezension (1929) zu SY liest sich trotz – oder gerade wegen – seiner positiven Ontologie, Mensch und Gesellschaft, Universum. Smart (1928:388): »Relation between a symbol and its meaning must be such as obtains between existential phenomena.«

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30 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

Kritik zu Whiteheads bisheriger Philosophie als Verriss. Whitehead habe die hohen Hoffnungen und Erwartungen, die die Leserschaft von Concept of Nature (1920) laut Murphy an SY gerichtet habe, enttäuscht. Murphy stellt in seiner Besprechung fest: »This is not the treatment of symbolism which Professor Whitehead could have given us« (1929:490). Der Umstand, dass der Autor das Thema Symbolisierung gerne auf eine andere Weise behandelt gesehen hätte, offenbart einen möglichen Grund für seine Enttäuschung über SY. Murphys Lob für Whitehead als Autor von CN und PNK legt die Einschätzung nahe, dass Whiteheads zunehmende Einbettung natur­ philosophischer Fragen in einen metaphysischen Kontext für Unmut sorgt. Wenn Whitehead in CN ausdrücklich den Anspruch formuliert, die Natur ohne Rückgriff auf Metaphysik zu erklären, mag man durch­ aus verwundert feststellen, dass in SY metaphysische Annahmen zu finden sind, die als solche zudem eher assoziativ als systematisch vorgestellt werden. Dieser Schritt – und vor allem die assoziative Art und Weise der Ausführung – wird von Murphy als unsystematischer Fehltritt eingeschätzt: »Associations often misleading and analogies all too tenuous combine and connect a set of doctrines which, however suggestive in their implications, remain essentially undigested and heterogeneous« (Murphy 1929:490). Allerdings ist das, was Murphy als Inkonsistenz kritisiert, für Whitehead selbst als eine Öffnung und Weiterentwicklung seines Denkens zu bewerten, deren eigene Logik sich erschließt, lässt man sich auf Whiteheads gedankliche Abenteuer ein. Als Gegenstand philosophischer Untersuchungen findet man Whiteheads Symbolbegriff in älterer Sekundärliteratur vor allem unter wahrnehmungstheoretischer Perspektive15 und im Rahmen von Sprachphilosophie16, vereinzelt beziehen sich auch Kunst- und Ästhe­ tiktheorien zumindest am Rande auf Symbolisierungen17; neuere Untersuchungen fügen weitere Perspektiven hinzu.18 Auf den For­ schungsstand zu Symbolisierungen als Phänomenen der Wahrneh­ mung wird im Kapitel vier dieser Arbeit gesondert eingegangen. An dieser Stelle sei daher nur erwähnt, dass aus unserer Sicht eine aus­ Vgl. z. B. Cory 1933, Hooper 1944, Hooper 1946. Vgl. z. B. Urban 1929, Urban 1938, Urban 1939, Bubser 1960, Rorty 1963. 17 Vgl. z. B. Sherburne 1961, Dean 1983. 18 Vgl. Hampe 1990, Dickson 2003, Riffert 2005, Murray 2008, Code 2008, Berve 2015, Faber et al. (Hrsg.) 2017, Rohmer 2017. 15

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

führliche Diskussion der Wahrheitskriterien von Wahrnehmungen im Modus der symbolischen Referenz, die er vor allem in AI diskutiert und die besonders in der Interpretation von Whiteheads Theorie als naturalistisch nicht irrelevant sein können, wünschenswert wäre. Die in diesem Kontext oft vorgetragene Interpretation, in einer Welt, die sich auf ontologischer Basis aus subjektiven Erfahrungsprozessen entwickelt, könne es kein objektives Wahrheitskriterium geben, deckt nur einen Teil der Theorie ab und lässt auch Whiteheads eigene Andeutung eines Tags des Urteils19 unberücksichtigt. Zumindest in AI gilt für Whitehead: Es gibt Wahrheitskriterien für unsere mesokos­ mische Welt, auch wenn wir uns mit ihrer Hilfe nur asymptotisch der Wahrheit annähern können und ein Rest Ungewissheit wahrschein­ lich bleibt. Vermisst wird auch die explizite Thematisierung des Zusammen­ hangs von (Kunst als) Symbolisierung und Ästhetik. Ästhetik ist bei Whitehead ein weiter gefasster Begriff als Kunst. Kunstwerke sind Symbolisierungen, sie gehören als abstrakte Erscheinungen in die Sphäre des menschlichen Mesokosmos, in der auch die Frage nach Wahrheit und Falschheit relevant ist. Das Ästhetische als fundamentales Element der Erfahrung hingegen ist Bestandteil der gesamten Wirklichkeit, die sich nach Harmonieprinzipien in einer Art entfaltet, die Whitehead »schön« nennt. In der Kunst werden diese beiden Sphären miteinander verbunden: »Der Zweck, der in der Kunst verfolgt wird, ist ein doppelter, nämlich Wahrheit und Schönheit« (AI 465). Wir gehen also davon aus: Kunst wird bei Whitehead als Symbolisierung verstanden, die anhand der Maßstäbe Wahrheit und Schönheit beurteilt wird. Aus dieser Perspektive wirkt es erstaunlich, dass Interpreten zum Thema Ästhetik und Kunst die­ sen Zusammenhang entweder aussparen oder Symbolisierungen nur am Rande als Phänomene der Wahrnehmung erwähnen. Der Frage, ob sich aus Whiteheads Anmerkungen zum Ästhetischen eine Kulturund Kunsttheorie ableiten lässt, geht erstmals ausführlich Sherburne in seinen Werk A Whiteheadian Aesthetic. Some Implications of Whitehead‘s Metaphysical Speculation (1961) nach. Er konzentriert sich darauf, Whiteheads Metaphysik auf den Bereich menschlicher Kultur anzuwenden und aus Whiteheads Behandlung von Aspek­ ten der Kreativität, des Wertes, des Schönen und der Kunst eine whiteheadsche Ästhetik als Lehre des menschlichen Kulturschaffens 19

Vgl. PR 339.

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2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

herauszulesen. Zentral ist dabei der Hinweis auf den hypothetischen Charakter von Kunstwerken vor allem der Darstellenden Kunst, aufgrund dessen Sherburne das Kunstwerk als whiteheadsche Pro­ position20 interpretiert. Symbolische Referenz erwähnt er lediglich innerhalb des »Systematic Framework« als einen Wahrnehmungsmo­ dus. Im Gegensatz zu Sherburne lehnt Wessell die Interpretation von Whiteheads Ästhetik als Schönheits- oder Kunstlehre entschieden ab. Er legt seine Arbeit Zur Funktion des Ästhetischen in der Kosmolo­ gie Alfred North Whiteheads (1990) auf das Ziel aus, Ästhetik vor allem als metaphysischen Schlüsselbegriff herauszustellen. Als eine Untersuchungsbasis dient Wessell dabei Whiteheads Anmerkung, seine Organismusphilosophie verstehe sich in Anlehnung an Kants transzendentale Ästhetik analog zur »Kritik der reinen Vernunft« als »Kritik des reinen Empfindens«. Mit dem Ansatz, Whiteheads implizite Ästhetik vor allem als Konzeption ontologisch primärer Erfahrensprozesse zu interpretieren, rückt Wessell die Bedeutung der kosmologischen Sichtweise in den Fokus. Zudem öffnet er damit auch den Blick auf Whiteheads Strategie der Bedeutungsverschiebung und -erweiterung gewohnter Termini zum Zwecke der Gestaltung seiner Metaphysik. Wessells Versuch einer Untermauerung seiner These durch eine Quantifizierung der Verwendung von Ausdrücken aus dem Wortfeld des Ästhetischen mutet jedoch ein wenig bemüht an. Nach Möglichkeiten der Verbindung von Metaphysik und Ästhe­ tiktheorie bei Whitehead sucht Wiehl in seinem Aufsatz Prozesse und Kontraste. Ihre kategoriale Funktion in der philosophischen Ästhetik und Kunsttheorie auf der Grundlage der Whiteheadschen Metaphysik (Wiehl 1981). Interesse leitend ist die Frage, inwiefern Whiteheads metaphysische Grundbegriffe des Prozesses und des Kontrastes nicht nur seine eigene Ästhetik prägen, sondern sich auch als Kategorien für eine allgemeine philosophische Ästhetik oder Kunsttheorie fruchtbar machen lassen (wobei er auf das Kunstwerk bei Whitehead in sei­ nem Charakter als Symbolisierung nicht eingeht). Wiehl kommt zu dem Schluss, dass dies aufgrund prinzipieller Differenzen zwischen Whiteheads spekulativer Ästhetik und einer allgemeinen Philosophie der Kunst nicht ohne Weiteres möglich sei. Dieser Schluss impliziert auch, dass ebenso Whiteheads Verständnis von Kunst prinzipiell verschieden ist von sonstigen Kunstdefinitionen. Dies ist eine inter­ 20

Hypothese, Darstellung einer Möglichkeit.

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

essante Konsequenz, bei der es sicherlich lohnenswert wäre, genauer herauszustellen, worin die Unterschiede im Einzelnen liegen und ob sie eher Whiteheads Anspruch der Anwendbarkeit seiner Philosophie ins Wanken bringen oder das Nachdenken über eine Revision der Kunsttheorien anregen sollten. Wir nehmen mit unserer Interpretation eine Zwischenposition ein: Symbolisierungen allgemein und besonders in der Kunst gehören nicht direkt zum ontologischen Grundinventar, ergeben sich aber mit einer gewissen Notwendigkeit aus Whiteheads metaphysischen Prinzipien, zu denen Kreativität und die Ästhetik des Empfindens gehören. Ästhetik hängt mit Symbolisierungen in der Kunst deshalb zusammen, weil gelungene Symbolisierungen ästhetische Erfahrun­ gen in einem besonderen Maße ermöglichen und dadurch auch die metaphysisch elementaren Erfahrensprozesse widerspiegeln. Gelun­ gene Symbolisierungen in Form von Kunstwerken wiederum, die im Sinne Whiteheads ästhetisch sind durch die Erzeugung intensi­ ver Erfahrungen in einer Balance von Detail- und Gesamtwirkung, tragen dazu bei, die Strukturen des Universums im Streben nach der Integration all solcher Harmonien erfahrbar zu machen. Es besteht also eine enge Verknüpfung von Symbolisierungen mit der emotionalen, wertenden, auf »ästhetischen Genuss« hin ausgelegten Grundbeschaffenheit mikrokosmischer Erfahrensprozesse21 genauso wie mit dem kreativen Antrieb des Makrokosmos, der sich als Streben nach einer universellen Harmonie im Wechselspiel von Ordnung und Aufbruch bemerkbar macht.22 Neuere Ansätze sprechen, wenn auch nicht immer ausführlich, so doch positiver über SY und differenzierter über Whiteheads Symbo­ lisierungen.23 Berve (2015), der in seiner Arbeit symbolische Wahr­ nehmung als eine der höheren Formen der Erfahrung behandelt, sieht »das Konzept der Symbolisierung in der organistischen Philosophie Zu den ontologisch primären Erfahrungsakten als Akten des Fühlens und des Wertens siehe Kapitel 3.1.5 dieser Arbeit. 22 Zur Kreativität als momentum movens der Welt siehe Kapitel 3.3 dieser Arbeit, zum Streben nach Harmonie im Wechselspiel von Ordnung und Aufbruch siehe Kapitel 5.4 dieser Arbeit. 23 Weber sieht SY in seiner Einleitung zum Handbook of Whiteheadian Process Thought als »an excellent introduction to Whitehead‘s Weltanschauung in gene­ ral« (Weber 2016:22). Petek nennt SY in seiner Einleitung zum Sammelband Rethinking Whitehead's Symbolism »one of his most approachable and accessible works« (Petek 2017:1). 21

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2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

keineswegs auf die Diskussion der Wahrnehmung beschränkt« (Berve 2015:121) und nennt in der Einleitung seines Kapitels »Symboltheo­ rie« vor allem Sprache als wesentliche Symbolisierungsform bei Whitehead. Rohmer (2017) schreibt ähnlich dem Ansatz dieser Arbeit Whiteheads Symbolphilosophie über einzelne Werke hinweg durch­ aus eine »systematische Ausarbeitung« (Rohmer 2017:171/172) zu. Ein besonderes Augenmerk legt Rohmer in seinem Artikel auf Whiteheads Symboltheorie als Bestandteil seiner Metaphysik, die mit dem Charakter einer neu gedachten »breit angelegte[n] Theorie der Subjektivität« (Rohmer 2017:172) gerade nicht in einen Skeptizis­ mus führt, sondern mit einem konstruktivismus-kritischen Ansatz symbolische Prozesse realistisch versteht. Beide weisen auf Hampe (1990) hin, der den Symbolbegriff derart erweitert interpretiert, dass überhaupt jeder Erfahrungsakt eine symbolische Bezugnahme impli­ ziert.24 Hampe vertritt erstmals ausführlich die These, dass die Beson­ derheit bei Whitehead konträr zum Großteil philosophischer Sym­ boltheorien in einem nicht repräsentationalen Verständnis des Sym­ bolbegriffs zu sehen ist.25 Zur Stärkung dieser These siedelt er den

Vgl. Rohmer (2017:174). Naturalistische Symboltheorien beziehen sich fast immer auf Sprache und/oder mentale Konzepte als (realistische) Symbole für Dinge in der Welt, die direkt aus der Natur hervorgehen. Oft geht mit naturalistischen Symboltheorien ein Universa­ lienrealismus einher, der den »Bedeutungen« im Sinne von Begriffen als mentalen Konzepten und auch der Intentionalität eine Existenz als eigenen Entitäten zuschreibt. Whitehead ist, wie wir sehen werden, einerseits umfassender, da er den Symbolbegriff auf (fast) alle Phänomene der menschlichen Alltagswelt ausweitet – und andererseits sparsamer, denn er geht zumindest über weite Strecken einen anderen Weg, um Symbol und Bedeutung in der Wirklichkeit zu verankern. Als Autoren, die im Kontext der Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Denken und Welt auf die eine oder andere Weise mit einer realistischen Position sympathisie­ ren, nennt Hampe Mead, Quine, Millikan und Dretske (vgl. Hampe 1990:260). Vor allem Millikans Bedeutungsempirismus (Millikan 1984, Millikan 2010) mit dem Versuch, Bedeutungen einschließlich der Möglichkeit von Irrtümern naturalistisch zu verankern und durch die evolutionäre Verankerung unserer geistigen Fähigkeiten plausibel zu machen, böte sich für einen Vergleich mit Whitehead an. Millikans origi­ nelle Argumentation, »[d]er Umstand, dass unsere Sprache Intentionalität aufweist, wird vielmehr durch den Umstand konstituiert, dass es für die normale Ausübung ihrer eigentlichen Funktionen erforderlich ist, dass sie mit Sachverhalten in der Welt korrespondiert« (Millikan 2010:7), erinnert durchaus an Whiteheads Idee einer vereinigenden Entwicklung von Mensch und Welt im evolutionären Ganzen aufgrund des Harmonieprinzips (Vgl. Kapitel 5.4 dieser Arbeit). 24

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Symbolbegriff bereits auf ontologischer Ebene an. Die Herstellung symbolischer Bezüge zwischen zwei unterschiedlichen Weisen, auf komplexerer Ebene die Welt zu erfahren, erfordert bestimmte Erfah­ rungsprozesse auf ontologischer Ebene – dies veranlasst Hampe dazu, diesen ontologisch basalen Prozessen selbst bereits Symbolisie­ rungstätigkeit zuzuschreiben. Whiteheads Ansatz, dass der Mensch die in den ontologisch kleinsten Prozessen der Welt stattfindenden Realisierungen von Formen im Sinne von Formbestimmungen (den so genannten »eternal objects«) auf der Mesoebene als Eigenschaften von Dingen erfährt, führt Hampe zu dem Schluss, »dass für White­ head eternal objects [...] in einem fundamentalen Sinne Symbole sind und daher jeder Prozess der Erfassung eines eternal objects auch als die Perzeption eines Symbols verstanden werden muss« (Hampe 1990:259). Diese Idee Hampes ist grundsätzlich nachvollziehbar – allerdings spricht Whitehead selbst ausdrücklich davon, dass die von ihm so genannten Symbolisierungsakte erst bei höheren Organismen auf der Grundlage von Sinneswahrnehmungen erfolgen (vgl. auch seine »Kategorie der Umwandlung«).26 Für die Annahme eines whiteheadschen Symbol-Realismus, der Symbole gerade nicht als reine Artefakte des menschlichen Geistes (und damit auch nicht als Hindernisse für einen direkten Erkennt­ niszugang des Menschen zur Welt) ansieht, macht sich auch diese Arbeit stark, allerdings setzt sie ihren Fokus in der Interpretation des eigentlichen Aktes symbolischer Bezugnahme anders als Hampe auf Symbolisierungstätigkeit bei höheren Lebewesen und folgt damit Whiteheads expliziter Aussage, dass in der Herstellung symbolischer Referenz Wahrnehmungen durch Sinnesorgane eine relevante Rolle spielen. Hampes Ansatz schießt nach Einschätzung dieser Arbeit daher über sein Ziel hinaus. 2014 wagen die Mitglieder des Whitehead Research Project das gedankliche Abenteuer, öffnen den Untersuchungshorizont zu SY und widmen ihre siebte internationale Konferenz dem Thema Rethinking

Allerdings ist es durchaus so, dass Whitehead zu Beginn und gegen Ende seines philosophischen Schaffens die Hoffnung äußert, es sei dem Menschen möglich, ein logisches Symbolsystem zu entwickeln, das auf der Ebene höchster Abstraktion eine Ahnung von den wesentlichen Strukturprinzipien des Universums im Sinne elementarer Formen schaffen könne. In dem Sinne wären zwar ewige Ideen keine Symbole, aber Symbole realisierten und repräsentierten ewige Ideen. 26

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2.1 Whiteheads Philosophie in ihrer Entwicklung

Whitehead's Symbolism: Thought, Language and Culture.27 Faber wertet in seinem Beitrag Uniting Earth to the Blue of Heaven Above: Strange Attractors in Whitehead's Symbolism eben dieses als ein zu Unrecht wenig beachtetes oder als Vorübung zu PR angesehenes Werk: »It might be that in its fringe existence Symbolism holds some gems to be rediscovered and cherished« (Faber 2017:56). Als eines dieser Juwelen, die SY birgt, würdigt Faber, dass Whitehead ausdrücklich die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen thematisiert, die sich aus seiner Metaphysik und seiner Wahrneh­ mungstheorie ergeben: »This is the only book in which Whitehead directly addresses political philosophy; what is more, he develops it from his theory of perception, of all things« (Faber 2017:56). Noch 2017 stellt Rohmer trotz allem fest, dass Whiteheads Beitrag zur Symboltheorie »in seiner Relevanz für die Erkenntnis­ theorie, für Ästhetik und Kulturphilosophie noch nicht eine solch direkte Öffentlichkeitswirkung erzielt hat« (Rohmer 2017:172) wie seine Principia Mathematica oder seine Metaphysik und führt dies auf die von Whitehead so angelegte Notwendigkeit der Metaphysik für alle weitere Philosophie zurück. Ganz im Sinne dieser Arbeit versteht auch Rohmer den Ansatz Whiteheads, Symbolisierungen theoretisch zwischen Metaphysik und Epistemologie zu verankern und ontologisch zu fundieren, als ein beachtenswertes Alleinstel­ lungsmerkmal28, das eine realistisch-pragmatische Sicht auf den Menschen ermöglicht: Symbolische Funktionsweisen werden demnach hier als Teil der Rea­ lität eines schöpferischen individual- und allgemeingeschichtlichen Prozesses begriffen, in den sie konstruktiv eingreifen und aus dem heraus sie in ihrer Bedeutsamkeit und Wirksamkeit überhaupt erst kritisiert und verstanden werden (Rohmer 2017:179). Aus dem »call for papers« des Whitehead Research Project 2014: »Symbolism is unique in several ways: it relates the question of symbolization to a complex interfe­ rence of modes of perception; it integrates language – whether written or spoken – into its field of manifestations, and it harbors the only example of a direct application of Whitehead's theory of prehension to issues of the construction of human society and, indirectly, ecology. Its mentioning of three social revolutions – American, French, and English – as well as its refutation of a social-contract theory, its psychological allusions in between physiology and society, and its persistent silence on God, demonstrates the uniqueness of this lecture series.«, https://web.archive.org/web/20180209190449/ http://whiteheadresearch.org/occasions/ conferences/rethinking-symbolism/call -for-papers.html, Abruf vom 5.1.2022. 28 Vgl. Rohmer 2017:172. 27

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Ein Aspekt wird in der Sekundärliteratur zu Symbolisierungen bisher allerdings besonders vermisst: Wenn in SY Symbolismen als »der Textur des menschlichen Lebens inhärent« (SY 120) und als maß­ geblich für die »Beförderung des Zusammenhalts, des Fortschritts und der Auflösung menschlicher Gesellschaften« (SY 118) in ihrer kulturellen und zivilisatorischen Prägung bezeichnet werden, so sollte man erwarten, dass sich gesellschafts- und kulturtheoretische Untersuchungen zu Whiteheads Philosophie auch mit dem Konzept der Symbolisierungen einschließlich ihrer Genese aus Whiteheads metaphysischen Prämissen beschäftigen. Dies ist allerdings in einer ausgewogenen und umfassenden Weise bisher kaum der Fall.29 Als symptomatisch für das Unterschlagen der politischen Dimension der whiteheadschen Symbolphilosophie mag hier der Umstand gel­ ten, dass Northorp und Gross in der Auswahl der Texte zu ihrer Whitehead-Anthologie (Northorp 1961) aus SY lediglich die Kapitel eins und zwei mit dem Fokus auf der Wahrnehmungstheorie auswäh­ len und das dritte Kapitel, das explizit politische und gesellschaftsphi­ losophische Themen anspricht, auslassen. Johnson (1958) diskutiert Whitehead's Theory of Civilization fast ausschließlich anhand von Whiteheads expliziten Äußerungen zu kulturellen Erfahrungen und Handlungen des Menschen, ohne diese in Verbindung zu bringen mit dem Konzept der Symbolisierungen, auf welchem sie doch schließlich basieren. Hall (1973), der diesen Ansatz kritisiert und in seinem Werk The Civilization of Experience eine whiteheadsche Theorie der Kultur mit metaphysischer Fundie­ rung herausarbeiten möchte, kommt der Verdienst zu, als Erster ausführlich die sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte in Whiteheads Philosophie herausgestellt und dabei Schlüsselbegriffe wie »culture«, »civilisation« und »art« in den Kontext von Whiteheads metaphysischem Schema gesetzt zu haben. Doch auch er erwähnt Symbolisierungen nur am Rande. Obwohl er die Absicht verkündet »to establish several intrinsically related conclusions concerning the adequacy of Whiteheadian philosophy for the construction of a theory of culture und civilization« (Hall 1973:xii), beschleicht den Leser das Gefühl, das Ergebnis hänge irgendwie vage in der Luft. Das liegt daran, so unsere These, dass eben nicht ausreichend deutlich auf 29 Unter den wenigen Aufsätzen, die sich im weitesten Sinne mit dem Zusammen­ hang von Gesellschaft, Symbolisierung und Metaphysik befassen, sei vor allem auf Lachmann 2000a und Rohmer 2017 verwiesen.

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

Symbolisierungen als Verbindungsglied von Metaphysik und Gesell­ schaftsphilosophie, von Erfahrung und Kultur eingegangen wird. Auch im 2014 von Sölch herausgegebenen Band Erziehung, Politik und Religion, der Beiträge zu A. N. Whiteheads Kulturphilosophie versammelt, ist kein Beitrag zu Symbolisierungen zu finden.30 Ist es völlig evident, dass und wie bei Whitehead das Funk­ tionieren von Kultur, Gesellschaft und Politik auf der spezifischen Funktionsweise der Symbolisierungen beruht, ist deren Erwähnung daher obsolet? Oder sind im Gegenteil Whiteheads Anmerkungen zur Genese des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens aus Symbolisie­ rungen zu vereinzelt und anekdotisch, als dass sie eine systematische Untersuchung verdient hätten? Oder hat Whitehead es einfach (über seine versprengten und auf ein Überspringen der Fantasie warten­ den Hinweise hinaus) versäumt, wenn schon keine abschließend strukturierte Zusammenfassung der Funktion von Symbolisierungen, so doch zumindest einen deutlichen Hinweis auf die wesentliche integrative Bedeutsamkeit von Symbolisierungen für die einzelnen Aspekte seiner Philosophie wie gleichwohl für das gesellschaftliche und politische Denken zu formulieren? Schwingt diese Bedeutsamkeit also durchaus in allem mit, erschließt sich aber nur dem akribischen und vorgebildeten Leser und harrt noch der Explizierung? Herauszu­ stellen, ob hier ein Forschungsmanko vorliegt, und, falls ja, dieses auszugleichen, ist eines der Anliegen dieser Arbeit.

2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien Je nach Denkschule wird der Begriff »Symbol« als Neben- oder Unterbegriff zum »Zeichen« verstanden. Sowohl der Symbol- als auch der Zeichenbegriff werden dabei von Autor zu Autor äußerst unterschiedlich definiert und verwendet. Peirce stellt fest: »Das Wort Symbol hat derart viele Bedeutungen, dass es der Sprache schaden würde, eine weitere hinzuzufügen« (Peirce 1986:198). Cassirer, des­ 30 Dabei weist Sölch in seiner Einleitung zum Sammelband selbst auf eine der Bedeutungen und gesellschaftlichen Funktionen von Symbolisierungen hin, die bei Whitehead zentral sind. Im Kontext seiner Anmerkungen zur amerikanischen Poli­ tikgeschichte stellt er fest: »Die besondere Rolle der Volksvertretung, insbesondere des Präsidenten, liegt vor allem in seiner Symbolkraft. Seine Aufgabe besteht nicht zuletzt darin, Integration und Kohäsion zu unterstützen, ohne den Individualismus zu schmälern« (Sölch 2014:29).

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

sen Philosophie der symbolischen Formen als eines der zentralen kulturphilosophischen Werke zu Symbolen gilt, stellt in Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs fest, »dass der Symbolbegriff überhaupt kein einfacher Begriff ist, der einen scharf-bestimmten, eindeutigen Sachverhalt darstellt und beschreibt« (Cassirer 1956:207). In seiner Untersuchung soziologischer Symboltheorien konstatiert Hülst: Was aber als Symbol zu gelten habe, wodurch Symbole ihre Bedeutun­ gen erhalten und auf welche Weise die Ordnung der Bedeutungen zu bewerkstelligen sei – darüber existiert, in ihrer Gesamtheit kaum zu überblicken, eine Flut von Empfehlungen und Glaubenssätzen in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen (Hülst 1999:21).

Whitehead, soviel vorweg, lässt sich auf mögliche Feinheiten bei der Begriffsbestimmung nicht ein, der Entwurf einer ausdifferenzierten Semiotik ist nicht sein Anliegen. Er verwendet den Begriff des Sym­ bols zumeist synonym mit dem Begriff des Zeichens als allgemeinen Gattungsbegriff im Sinne eines: »Etwas steht für etwas anderes« (wobei die Relation von Symbol und dem, wofür es steht, seiner Bedeutung, allerdings nicht mit klassischen Kriterien wie zum Bei­ spiel jenen von Ähnlichkeit, Kausalverhältnis oder Konvention zu definieren ist). Um den Begriff des Symbols bei Whitehead einord­ nen zu können, ist ein Blick auf unterschiedliche Zeichenbegriffe und auf den Symbolbegriff im zeichentheoretischen Kontext aber dennoch sinnvoll. Die folgenden Ausführungen können aufgrund der Weitläufig­ keit des Themas nur einen kleinen Ausschnitt aus der Historie des Zeichen-/Symbolbegriffs einschließlich der Unstimmigkeiten um diesen wiedergeben und auch nur eine sehr begrenzte Auswahl unterschiedlicher Symboltheorien thematisieren.31 Es werden daher ganz bewusst einzelne subjektive Schwerpunkte gesetzt, die zeigen sollen, in welches Terrain Whitehead sich mit einer Symboltheorie begibt, welche Positionen abgesteckt werden können und worin die Originalität seines Ansatzes liegt.

Für einen philosophiehistorischen Überblick zu »Symbol« und »Zeichen« siehe Ritter 2004.

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

2.2.1 Vieldeutigkeit des (Zeichen- und) Symbolbegriffs Systematische Überlegungen zum Symbol im weitesten Sinne sind zuerst in der Zeichenlehre zu finden; daher werfen wir zuerst einen Blick auf das Zeichen. Ganz allgemein kann ein Zeichen verstanden werden als Markierung für etwas anderes. Ein Zeichen hat eine Repräsentationsfunktion: Es steht als etwas für etwas anderes, wie es die philosophische Tradition mit aliquid stat pro aliquo formuliert. Was aber (wie) wofür steht, das ist alles andere als Konsens. Je nach Zeichentheorie kann das aliquo verstanden werden als das konkrete Objekt, auf das sich das Zeichen bezieht, als die ideelle Bedeutung des Zeichens, oder aber als eine Kombination von beidem. Das Zeichen als aliquid kann je nachdem den reinen Zeichenkörper oder den Zeichenkörper mit integrierter Bedeutung meinen oder auch noch das Wahrgenommenwerden als Zeichen in seiner Definition beinhalten. Zurückgehend auf das griechische σημεῖον findet die Semiotik als Wissenschaft von den Zeichen und dem Zeichengebrauch ihre Wurzeln bereits bei Aristoteles. In De interpretatione behandelt Aris­ toteles als Zeichen vor allem das Wort (Nomen) im Sinne sprachlicher Äußerungen der Stimme. Mit der Auffassung, das geschriebene Worte wiederum sei abgeleitet als Zeichen vom gesprochenen Wort zu verstehen, gibt er letzterem den Vorrang.32 Worte als Zeichen haben dabei einen konventionellen Charakter: »Die Bestimmung ›konventionell‹ (aufgrund einer Übereinkunft) will sagen, dass kein Nomen von Natur aus ein solches ist, sondern erst dann, wenn es zum Zeichen geworden ist« (Aristoteles, De Interpretatione II 16a). Worte (Nomen) versteht Aristoteles als Zeichen für Vorstellungen in der Seele, diese wiederum sind Abbilder der entsprechend bezeichneten Dinge. Aristoteles nennt somit drei Elemente, die im Zusammenhang mit der Verwendung von Zeichen relevant sind: Die Zeichen selbst, Vorstellungen von Dingen in der Seele, für die die Worte Zeichen sind, sowie die Dinge, von denen die Vorstellungen Abbilder sind. Wie die Abbildrelation von Vorstellungen und Dingen im Detail aussieht, wird nicht näher erläutert. Ansätze zu einer allgemeinen Zeichenlehre finden wir zum ers­ ten Mal bei Augustinus, denn er formuliert – neben in verschiedenen Vgl. Aristoteles, De Interpretatione I 16a: »Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute.« 32

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Werken im Detail auch divergierenden inhaltlichen Zeichendefinitio­ nen – eine Funktionsbeschreibung des Zeichens, nach der, so die Formulierung in De doctrina christiana, das Zeichen »ein Ding [ist], das neben dem sinnlichen Eindruck, den es den Sinnen mitteilt, aus sich heraus etwas anderes in das Denken kommen lässt« (De doctrina christiana II,1)33. Unter diese Funktionsbeschreibung fallen sowohl natürliche (An)Zeichen (wie das klassische Rauch-Feuer-Beispiel) als auch vom Menschen gegebene Zeichen (wie Worte und Wörter). Hier ist der Zeichenbegriff also ein sehr allgemeiner, der sowohl semiotische als auch semantische Aspekte umfasst. Zwar wird über den Gegenstandsbereich einer Zeichenlehre also bereits seit der Antike debattiert, eine eigenständige Disziplin entwickelt sich aber erst mit den Arbeiten von Saussure und Peirce zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Saussure und Peirce werden daher meist als ›Väter der modernen Semiotik‹ betitelt. Saussure wird zumeist ein rein sprachlich-psychologisches Zeichenmodell zugeschrieben. Er verwendet mit seiner theoretischen Unterteilung des Zeichens in Ausdrucksseite/Zeichenkörper (Signifiant) und Inhalts- oder Bedeu­ tungsseite (Signifié) einen dyadischen Zeichenbegriff. Eine Welt realer Objekte, auf die sich Zeichen möglicherweise beziehen und die wir mit der Bedeutung von Zeichen belegen, spielt in seiner Semiotik keine Rolle. Die erkenntnistheoretische Frage, ob den Bedeutungen der Zeichen reale Gegenstände entsprechen, ist bei Saussure kein Thema. Peirce nimmt in seinem Zeichenmodell eine triadische Zei­ chenrelation an. Die drei Aspekte eines Zeichens, die näher analysiert werden können, sind nach Peirce das Zeichen selbst, das Zeichen in Beziehung zu seinem Objekt sowie das Zeichen in Beziehung zu seinem Interpretanten, sprich zur Bedeutung des Zeichens für den Zeichenleser, zur »vom Zeichen hervorgerufenen Idee im Geist, die ein geistiges Zeichen desselben Objekts ist« (Peirce 1986.1:208). Peirce ergänzt das ›etwas steht für etwas anderes‹ explizit um ein ›für Jemanden in einer bestimmten Weise‹. Damit betont er, dass etwas nur dann ein Zeichen sein und eine Bedeutung haben kann, wenn es von jemandem als solches angesehen und interpretiert wird. Diese Trias weist darauf hin, dass Peirce die relationale Beschaffenheit 33 Siehe auch: »Daraus ist ersichtlich, was ich unter einem Zeichen verstehe: Es sind jene Sachen, die angewendet werden, um irgend etwas zu bezeichnen. Daher ist jedes Zeichen auch irgendwie eine Sache; denn was keine Sache ist, das ist ganz und gar nichts: aber nicht jede Sache ist auch ein Zeichen.« (Augustinus, De doctrina christiana I,2).

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

des Zeichens für komplexer hält, als Saussure dies tut. Seine erkennt­ nistheoretische Position ist nicht eindeutig zu benennen, er nimmt das Objekt selbst in seine Semiotik auf, vertritt zumeist aber einen pragmatisch-konstruktivistischen Ansatz. Während Semiotik von den meisten Autoren als Anthropose­ miotik verstanden wird, erweitern – basierend auf Jakob von Uexkülls Ansätzen34 – vor allem Krampen und Sebeok das Untersuchungsfeld zur Anwendung von Zeichen auf jede Form von Lebewesen und begründen damit die Biosemiotik. Zeichengebrauch im weitesten Sinne gilt ihnen als Merkmal des Lebendigen. Krampen et al. defi­ nieren Semiotik in einem weiten Sinne als multidisziplinäre Untersu­ chung »alle[r] Arten von Kommunikation und Informationsaustausch zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und innerhalb von Organis­ men«, die »alle Gegenstandsbereiche der meisten Geistes- und Sozi­ alwissenschaften sowie der Biologie und der Medizin« (Krampen et al. 1986:9) umfasst. Diese Beschreibung beruht auf der Annahme, dass jegliche Arten von Kommunikations- und Informationsprozessen als Zeichenprozesse zu verstehen sind. Schauen wir uns nun den Symbolbegriff exemplarisch bei den Semiotikvätern Saussure und Peirce genauer an, so sind wir mit einer uneinheitlichen Verwendung des Terminus »Symbol« konfrontiert. Wir finden im Rahmen der Linguistik bei Saussure eine Gegenüber­ stellung von Zeichen und Symbol. Geschriebene oder gesprochene Sprache stellt laut Saussure eine Beziehung her zwischen dem, was bezeichnet wird (Signifié), und dem, was etwas bezeichnet (Signi­ fiant). Das Signifié entspricht der Vorstellung oder dem Konzept eines Objektes, das Bezeichnende ist ein graphisches Zeichen oder ein Lautbild. Ist der Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem beliebig und wird allgemein verständlich durch kon­ ventionelle Bestimmung, spricht Saussure von einem Zeichen.35 Die allermeisten sprachlichen Zeichen gelten Saussure als derart arbiträr und durch Konvention bestimmt. Der Gegenbegriff zum konventionell bestimmten Zeichen ist das Symbol, das sich über eine Vgl. Uexküll 2014. »Das Wort ›beliebig‹ erfordert hierbei eine Erklärung. Es soll […] besagen, daß es unmotiviert ist, d.h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat« (Saussure 1967:80). »Tatsächlich beruht jedes in einer Gesellschaft rezipierte Ausdrucksmittel im Grunde auf einer Kollektivgewohnheit, oder, was auf dasselbe hinauskommt, auf der Konven­ tion« (Saussure 1967:80).

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Ähnlichkeitsrelation definiert: Von Symbolen spricht Saussure dann, wenn Bezeichnendes und Bezeichnetes gemeinsame Merkmale auf­ weisen.36 Genau im Gegensatz zu dieser europäischen Linie benutzt Peirce »Zeichen« als Gattungsbegriff: Zeichen ist für ihn jedes Ding, »inso­ fern es dem Verstand eine Idee von einem Ding vermittelt« (Peirce 186:193). Auf die Art der Beziehung zwischen Zeichen und Objekt wird erst in einer Einteilung der Zeichen in Unterklassen eingegan­ gen. Geläufig ist es, in Anlehnung an die von Peirce verwendete Terminologie mit Blick auf die Objektrelation des Zeichens drei Arten von Zeichen zu differenzieren: Ikon/Simile, Index und Symbol. Ikons sind Zeichen, die durch Ähnlichkeit auf ihren Gegenstand verweisen.37 Fotografien und realistische Zeichnungen sind Beispiele für Ikons mit optischen Ähnlichkeiten zum dargestellten Ding, Dia­ gramme hingegen bilden strukturelle Ähnlichkeiten wie Mengen­ verhältnisse ab. Auch onomatopoetische Ausdrücke (»Kuckuck«), formikonische Wörter (»T-Shirt«) oder Piktogramme gelten als Ikons. Ein Index ist ein Zeichen, das als unmittelbare kausale Folge seines Objekts und somit als Verweis auf dieses verstanden wird. So kann man Späne als Index oder Anzeichen dafür interpretieren, dass geho­ belt wurde; das Steigen der Quecksilbersäule im Thermometer wird verursacht durch Ausdehnung des Metalls bei steigender Tempera­ tur.38 Symbole im Sinne von Peirce sind Saussures Zeichen, also Zei­ chen, bei denen die Objektrelation zwischen dem Zeichenkörper und seiner Bedeutung durch Arbitrarität und Konventionalität gekenn­ zeichnet ist. Das Symbol wird durch Vereinbarung und Gewohnheit als Verweis auf seinen Gegenstand definiert und ist damit als ein Produkt aus der geistigen Welt des Menschen anzunehmen: Symbole sind »Zeichen, die mit ihren Bedeutungen durch ihre Verwendung 36 »Beim Symbol ist es nämlich wesentlich, daß es niemals ganz beliebig ist; es ist nicht inhaltlos, sondern bei ihm besteht bis zu einem gewissen Grade eine natürliche Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem« (Saussure 1967:80). 37 Dies entspricht dem Symbol von Saussure. Vgl. Peirce: Ikons sind »Zeichen, die die Idee der von ihnen dargestellten Dinge einfach dadurch vermitteln, dass sie sie nachahmen« (Peirce 1986:193). Eine spätere Definition der Ikons stellt noch deutlicher den triadischen Charakter des Zeichens heraus: »Ein Ikon ist eine Zeichen, das für sein Objekt steht, weil es als ein wahrgenommenes Ding eine Idee wachruft, die naturgemäß mit der Idee verbunden ist, die das Objekt hervorrufen würde« (Peirce 1986:205). 38 Vgl. Peirce: Indizes zeigen etwas über die Dinge, »weil sie physisch mit ihnen verbunden sind« (1986:193).

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

verknüpft worden sind« (Peirce 1986:193). Pierces Einschätzung nach ist dies auch der historisch übliche Gebrauch des Terminus.39 Während Saussure das Symbol gerade in Abgrenzung zum Zei­ chen und Peirce das Symbol als eine Unterklasse von Zeichen defi­ niert, findet man bei anderen Autoren wie zum Beispiel Whitehead oder Goodman wieder die synonyme Verwendung der Begriffe »Sym­ bol« und »Zeichen«. Auch in der Alltagssprache werden diese beiden Begriffe oft ohne weitere Differenzierung synonym gebraucht. Wie bei Whitehead wird der Begriff des Symbols auch bei Goodman – der als Whiteheads Schüler ebenfalls die Bedeutung von Symbolen für das menschliche Leben betont hat, wenn auch mit einem von Whitehead abgelehnten konstruktivistischen und nominalistischen Ansatz – im Sinne des peirceschen Gattungsbegriffs Zeichen »als ein sehr allgemeiner und farbloser Ausdruck gebraucht« (Goodman 1995:9). Bei Goodman umfasst das Symbol als »Repräsentation für etwas anderes« »Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Kar­ ten, Modelle und mehr« (Goodman 1995:9). Einzelne künstlerische Symbolisierungen (z. B. Musiknotation, Malerei, Architektur mit ihren jeweils eigenen Regeln) bezeichnet Goodman als »Sprachen der Kunst«, sicherlich auch in Anlehnung an Cassirer, der die Symbol­ systeme unter anderem von Mythos, Religion, Sprache und Kunst als jeweils eigenständige »symbolische Form« der Weltinterpretation klassifiziert. Auch Whitehead bezeichnet die Symbolsysteme einzel­ ner Bereiche mitunter in einem allgemeinen Sinn als die Sprache dieses Bereichs. Neben der Sprache im linguistischen Sinne nennt er daher auch die Symbolisierungssysteme von Kunst, Religion und verschiedenen Wissenschaften Sprachen.40 Whitehead verwendet den Begriff »Symbol« in seiner alltags­ praktischen Relevanz zumeist synonym mit dem Begriff »Zeichen« als allgemeinen Gattungsbegriff. Daran angelehnt wird in dieser Arbeit – soweit nicht anders ausgewiesen – der Symbolbegriff als synonym zum Zeichenbegriff und dieser als Gattungsbegriff verstan­ Vgl. Peirce 1986:198. Vgl. Hampe 1998:182. Auch wenn Urban – im Rahmen seiner Sprachphilosophie allerdings von anderen Grundannahmen ausgehend als Whitehead – sich als Kritiker zu Whitehead äußert, so teilt er doch dessen Einschätzung, dass neben der Sprache auch weitere Symbolisie­ rungen eine Rolle für den Menschen spielen: »But language, as we have also seen, is not the only symbolic form. In art, religion and in science itself, non-linguistic symbols are employed« (Urban 1939:401). 39

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

den. In Deckung mit dem Alltagsverständnis des Begriffs sieht Whitehead einen Symbolismus als einen Zeichenkomplex an, in dem etwas aus einem Erfahrungsbereich stellvertretend für etwas anderes aus einem anderen Erfahrungsbereich steht. Oder – in einem Vorgriff auf die Kapitel zwei und vier dieser Arbeit – etwas genauer formuliert: Es werden zwei unterschiedliche Weisen der Erfahrung desselben Objekts so miteinander verbunden, dass man vereinfacht für den all­ täglichen Gebrauch sagen kann: Die eine steht für die andere. Das ist aber nur eine sehr verkürzte Version des gesamten Symbolisierungs­ geschehens, denn es passiert dabei, noch genauer formuliert, folgen­ des: Die Erfahrung bestimmter als Symbol/Zeichen bezeichneter Informationen verschmilzt im Prozess des Erfahrens mit der Erfah­ rung bestimmter als Bedeutung bezeichneter Informationen und erzeugt dabei als Ergebnis dieses Symbolisierungsaktes eine Reaktion in uns. Diese Reaktion kann zum Beispiel eine Handlung, eine Idee, ein Gefühl oder der Umgang mit den verschmolzenen Erfahrungs­ daten als Gegenstand sein. Diese Reaktion ist also auf jeden Fall von Bedeutsamkeit für uns und prägt unser Alltagsleben. Für die Wirkung von Symbolen notwendig ist eine gewisse Schnittmenge zwischen den Erfahrungsbereichen, wobei die Überschneidung gerade nicht auf einem kausalen Verhältnis, sondern auf einer speziellen Art Ähnlichkeitsbeziehung basiert. Diese Arbeit folgt nicht Hampes Interpreta­ tion des whiteheadschen Begriffspaares »Symbol« und »Bedeutung« als wesentlich geprägt durch eine Kausalbeziehung (vgl. Hampe 1990:260 ff.), so wie sie in Peirces Index als dem natürlichen Anzei­ chen verstanden wird, und sieht diese als zumindest missverständlich formuliert an. Whiteheads Symboltheorie sieht den Erfahrungsbe­ reich der Kausalität zwar als einen essenziellen Bestandteil symboli­ scher Bezugnahme an – postuliert aber dennoch keine direkte Kau­ salbeziehung zwischen Symbol und Bedeutung, sondern eher eine Verschmelzung auf Basis einer Ähnlichkeitsrelation. Auf Whiteheads Konzept sind auch andere klassische Kategorien der Zeichenlehre eher nicht anwendbar: Weder ein dyadischer Zeichenbegriff mit Zeichen­ körper und Bedeutungsgehalt noch die Annahme einer wie auch immer gearteten Trias können die besondere Dynamik in Whiteheads Symbolisierungen fassen. Zurück im Alltag heißt es für uns aber erst einmal: Mathemati­ sche Zeichen, Wörter, chemische Formeln bestehen aus Symbolen, die für Mengen und Rechenoperationen, Dinge, die Anordnung von Ato­ men in einem bestimmten Stoff stehen. Eine Banknote steht für einen

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

materiellen Wert, ein Unterton für ein Gefühl, eine Musiknote für einen Ton mit einer bestimmten Schwingung. Eine ganze Partitur von Noten kann als Symbol für ein Konzert, ein DNA-Code als Symbol für einen Organismus verstanden werden. Umgekehrt kann aber auch ein passionierter Molekularbiologe den Organismus als ein Symbol für einen bestimmten DNA-Code verstehen.41 Whitehead geht noch weiter: Selbst Tische, ja sämtliche Gegenstände und Objekte unseres Alltagslebens sollen laut Whitehead das Ergebnis von Symbolisierun­ gen sein für eine bestimmte Weise, wie wir die Welt erkennen – nämlich als eingeteilt in individuierbare Substanzen mit bestimmten Wirkungen. Die menschliche Wahrnehmung eines Steins kann ver­ standen werden als Symbolismus der Wahrnehmung eines sich auf subatomarer Ebene permanent wiederholenden Musters bestimmter Geschehnisse. Ein Lebewesen kann verstanden werden als Symbo­ lismus für eine hochkomplexe Vereinigung von Geschehnissen und Erfahrungen, die nach bestimmten Mustern ablaufen, dabei aber nach einer Differenz zum bisherigen Ablauf streben und daher auch neue Möglichkeiten verwirklichen. Und auch der Blick über den einzelnen Menschen hinaus in die menschliche Gesellschaft offenbart die Bedeutung von Symbolen: Die Entstehung verschiedener Kunst­ formen und die Entwicklung der Zivilisation lassen sich erklären als kreativer Umgang des Menschen mit den Möglichkeiten, die ihm aufgrund der elementar in der Wirklichkeit verwurzelten Fähigkeit zur Schaffung komplexer Symbolisierungen natürlich gegeben sind.

2.2.2 Symboltheorien und Geltungsbereich des Symbolbegriffs Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts taucht der Symbolbegriff – ob nun synonym oder untergeordnet zum Zeichenbegriff, hängt dabei auch von der jeweiligen Theorie ab – fast ausschließlich in semiotischen und linguistischen Überlegungen auf, die sich vor allem auf den 41 Es gibt zwar eine im Alltag eher gebräuchliche Richtung der Symbolisierung, Whiteheads metaphysisch fundierter Ansatz einer Symboltheorie erlaubt aber grund­ sätzlich eine Bidirektionalität in der Beziehung von Symbol und Bedeutung. Dies ist eine Besonderheit in Whiteheads Symboltheorie, die sich aus der Fundierung der symbolischen Relationen zweier Erfahrungsbereiche auf ontologischer Ebene herleiten lässt; unter anderem zum Verständnis dieser Besonderheit ist es notwendig, den Begriff der Erfahrung bei Whitehead auch im Rahmen seiner Metaphysik zu erläutern, vgl. dazu Kapitel drei und vier dieser Arbeit.

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Stellenwert und die Funktionsweise von Sprache als Zeichensystem und den Zusammenhang von Sprache und Denken beziehen. Parallel zur Semiotik findet eine Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit und Funktion von Symbolen zum Beispiel in jenen Disziplinen statt, in denen wir sie mit unserem Alltagsverständnis von Symbolen wie der Friedenstaube oder der Liebesrose am ehesten verorten: in der Theologie, in der Ästhetik oder in der Poetik. Von solch unterschiedlichen Ausgangspositionen aus wird der Symbolbegriff ins Zentrum philosophischer Theorien gerückt. »Zu den bemerkens­ werten Entwicklungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts gehört, dass ganz unterschiedliche Konzeptionen darin konvergieren, dem Symbolbegriff eine systematisch zentrale Stellung einzuräumen« Lachmann (2000a:196). Berndt/Dürgh (2009:9) sehen »das Symbol [...] seit dem 18. Jahrhundert im Zentrum von Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft.« Kulturwissenschaft ist hierbei die Disziplin, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Erweiterung und gegensei­ tigen Befruchtung der genannten einzelnen Disziplinen erwächst: Die Sphäre des menschlichen Zugangs zur Welt als Untersuchungs­ gegenstand wird über die Sprache hinaus erweitert und um die Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Symbolisierungsfor­ men ergänzt. Indem also unter einem weit gefassten Begriff des Symbols als grundlegender schöpferischer Ausdrucksform menschli­ chen Weltzugangs der gesamte Bereich kultureller Phänomene und ästhetischer Betrachtungen in der Philosophie zum systematischen Untersuchungsgegenstand wird, findet die Genese der philosophi­ schen Kulturwissenschaft statt. Federführend entwickelt Ernst Cas­ sirer seine Symboltheorie, die das Weltverständnis des Menschen als kulturelles Wesen und die symbolisierend-schöpferische Kraft des Verstehens in den Fokus rückt. Rolf (2006) schlägt in seiner Untersuchung des Symbolbegriffs im Theoriekontext eine Symboltypologie vor, in der das Symbol in die Kontexte Sprachtheorie, Erkenntnistheorie, Kunsttheorie, Zeichen­ theorie, Bewusstseinstheorie oder Gesellschaftstheorie eingeordnet wird. Diese Typisierung bietet sich an, um das Erkenntnisinteresse und die Intentionen, vor deren Hintergrund der Symbolbegriff unter­ sucht wird, systematisch erfassen zu können. Sollen mithilfe des Sym­ bolbegriffs semantische Besonderheiten sprachlicher Ausdruckstypen (Kontext Sprachtheorie) oder Eigentümlichkeiten künstlerischer Dar­ stellungen des Unbegrifflichen (Kontext Kunsttheorie) erfasst wer­ den? Werden Symbole im Zusammenhang mit semantologischen

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

Charakteristika bestimmter Arten und Funktionen von Zeichen (Kon­ text Zeichentheorie) oder mit der Absicht einer Charakterisierung bestimmter Qualitäten der Erkenntnis und mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Zeichen gebrauchendem Mensch und Welt (Kontext Erkenntnistheorie) untersucht? Vorteil dieses systemati­ schen Blicks auf Symboltheorien ist eine Vermeidung von Verständ­ nisschwierigkeiten, die aus den Kategorienfehlern unterschiedlicher Definitionen und Verwendungen des Symbolbegriffs resultieren kön­ nen.42 Bei Whitehead ist gleichermaßen die kulturphilosophische Per­ spektive, aus der er die Funktion von Symbolisierungen nach prag­ matischen Kriterien beurteilt, einerseits und der epistemologische Blickwinkel samt der Frage nach dem ontologischen Status von Zeichen und deren Bedeutung andererseits von Interesse. Während sich die meisten Symboltheorien entweder auf die Phänomenologie des Symbolgebrauchs beschränken und komplett auf epistemischontologische Aussagen verzichten oder eine skeptizistische, reprä­ sentationalistische oder konstruktivistische Position vertreten, muss Whiteheads symboltheoretischer Ansatz auf erkenntnistheoretische Fragen eine Antwort finden, die es ihm nicht nur ermöglicht, die Grundlagen und Prozesse symbolischen Verstehens adäquat zu be­ schreiben, sondern die es ihm auch erlaubt, eine naturalistische Symboltheorie zu vertreten und damit einen zwar pragmatisch-pro­ visorischen, aber dennoch eindeutigen erkenntnistheoretischen Rea­ lismus zu plausibilisieren. Zeichen und ihre Bedeutung müssen in irgendeiner Weise auch außerhalb des menschlichen Kopfes als solche in der zu erkennenden Realität verankert sein. Während Saussure den Zeichenbegriff ausschließlich im Rah­ men linguistischer Untersuchungen verwendet, nutzt Peirce den Zei­ chenbegriff mit der These »Wir denken ausschließlich in Zeichen« (Peirce 1986:200) auch für epistemologische Aussagen. Er schreibt dem Zeichen über die Repräsentationsfunktion hinaus auch eine Erkenntnisfunktion zu, die allerdings zumeist in einem pragmatischkonstruktivistischen Sinne interpretiert wird. Wir erkennen die Welt laut Peirce in der Darstellung seiner Position des Pragmatismus, in­ dem wir sie wahrnehmen und diese Wahrnehmung in einem Gedan­ kenfluss verarbeiten – denken aber können wir nur zeichenvermittelt, 42 Einen facettenreichen Überblick über verschiedene Aspekte von Symboltheorien gibt auch der Sammelband von Benedetti/Rauchfleisch 1989.

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

es ist dem Menschen also niemals eine unvermittelte Begegnung mit der Welt möglich. Selbst wenn also der Gegenstand der Erkennt­ nis außerhalb unserer selbst real existieren sollte, so können wir ihn uns doch nur mittels Gedanken in einer kontinuierlichen Kette von Zeichen wie Bildern oder Wörtern handhabbar machen. Eine asymptotisch mögliche Annäherung an die Wirklichkeit geschieht bei Peirce dann durch die intersubjektive Interaktion der die Vermittlung [zwischen Wissendem und Gewusstem] herstellenden Gemeinschaft der Men­ schen, die die Zeichen produziert. […] Real ist in diesem Sinne, was regelhaft ist, und das heißt, was im Prinzip durch jedes mögliche Mitglied dieser Gesellschaft verifiziert werden kann (Krampen et al. 1986:39).

Diese Position des philosophischen Pragmatismus, wie sie von Peirce vertreten wird, ist dabei allerdings kein reiner Konstruktivismus und wesentlich komplexer, als es die häufige Verkürzung auf den Leitsatz ›Wahr ist, was funktioniert‹ wiedergibt. Peirce bindet – da ist Whitehead ihm im Anliegen ähnlich, in der Ausführung allerdings nur partiell – das Zeichengeschehen in eine Metaphysik ein, die auch einen Zugang des Menschen zur Welt grundsätzlich für mög­ lich hält.43 Mit einer Zeichentheorie der Erkenntnis steht Peirce unter ande­ rem in der Tradition Lockes. Locke, mit dem sich auch Peirce beschäf­ tigt hat und der uns in Whiteheads Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie des englischen Empirismus noch näher begegnen wird, unterteilt im letzten Kapitel seines Essay die Wissenschaft in drei Teilbereiche: die Naturwissenschaft (Φυσική), Die Ethik (Πρακτική) und die Lehre von den Zeichen (Σημειωτική). Das dritte Gebiet kann vielleicht als Σημειωτική oder als die Lehre von den Zeichen bezeichnet werden […]: ihre Aufgabe besteht darin, die Natur der Zeichen zu untersuchen, die der Geist verwendet, um sich die Dinge verständlich zu machen oder anderen sein Wissen mitzuteilen (Locke: Essay IV/XXI).

Die Dinge der Welt sind im Prozess des Erkennens laut Locke nicht selbst in unserem Geist, sondern werden dort durch Ideen repräsen­ 43 Die mehrschichtige Beziehung der Theorien von Peirce, dem Pragmatismus und Whiteheads Philosophie untereinander wird noch einmal im Kapitel 5.3.2 dieser Arbeit angesprochen.

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

tiert. Diese Ideen kann man also als Zeichen ansehen, die für unser Verständnis der Welt notwendig sind.44 Vor allem auch für den Aus­ druck der Ideen und unseren Austausch darüber ist es weiter hilfreich, zusätzliche Zeichen als Hilfsmittel der Erkenntnis zu entwickeln, hierfür taugen laut Locke vor allem jene der Sprache. Die Zeichen für Dinge, ihre Repräsentationen, die der menschliche Geist verstehen und interpretieren kann, Lockes Ideen, stehen zwischen uns und der Wirklichkeit, über die deswegen keine sicheren Aussagen getroffen werden können. Locke nimmt die Existenz wirklicher Dinge und zumindest ein partielles Erkennen ebendieser aber dennoch an, da er davon ausgeht, dass die Repräsentationen im menschlichen Geist als Zeichen für Dinge der Wirklichkeit eine isomorphe Relation zu diesen aufweisen (wobei sich die Frage stellt, wodurch die Zeichenerzeugung per Isomorphie genau zustande kommt). Mit ganz unterschiedlichen theoretischen Hintergründen wird die besondere Bedeutung von Symbolen/Zeichen für den Menschen von vielen Autoren herausgestellt. Dewey meint, dass »die Erfindung oder Entdeckung von Symbolen […] zweifellos das bei weitem größte einzelne Ereignis in der Geschichte des Menschen« (Dewey 1998:153) ist, denn es ermöglicht ihm das Bewerten und Planen potenzieller Handlungen. Vor der konkreten Durchführung einer Handlung kann diese mittels Symbolen (zum Beispiel durch Berechnungen oder schriftliche Argumentationen) abstrakt erprobt und auf Basis der Einschätzung des Ergebnisses konkretisiert werden. Die Kreation einer symbolischen Kulturwelt sieht auch Cassirer als wesentliches Charakteristikum des Menschen an.45 Er versteht den Menschen als ein Symbole hervorbringendes und Symbole lesendes Wesen, das sich vom Tier dadurch unterscheidet, dass es sich über seine erste Natur, die Biologie, hinaus die Kultur als »zweite Natur« erschafft und nennt ihn – in Abgrenzung zu Aristoteles und in Erweiterung zu Kant statt »animal rationale« – ein »animal symbolicum« (Cassirer 1990:51). Für den Semiotiker Eco fallen Kultur- oder Gesellschafts­ 44 Vgl. Locke Essay IV/XXI: »Denn von den Dingen, die der Geist betrachtet, ist – abgesehen von ihm selbst – keines dem Verstande gegenwärtig. Daher ist es notwendig, dass er noch etwas anderes als Zeichen oder Stellvertreter des Dinges, das er betrachtet, zur Verfügung hat, und das sind die Ideen.« In diesem Sinne versteht Peirce die Repräsentamen-Funktion des Zeichens. 45 Dabei setzt Cassirer das Symbol als Teil der rein geistigen, menschlichen Welt der Bedeutungen explizit gegen das bloße Zeichen, das als Teil der nicht geistigen Welt auch von Tieren genutzt werden kann (Vgl. Cassirer 1990:57 ff.).

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

wissenschaft und Zeichentheorie zusammen: Zeichen sind Ausdruck menschlicher Kultur – und Kultur kann nur verstanden werden, wenn deren vielfältige Formen der Zeichenhaftigkeit angemessen berück­ sichtigt werden. Er resümiert, dass »Kultur [...] völlig unter einem semiotischen Gesichtspunkt untersucht werden« kann (Eco 1987:54). Auch Whitehead stellt fest, dass Symbolisierung dem menschli­ chen Lebens inhärent ist. Über das Verstehen symbolischer Systeme und ihrer Bedeutung für die Zivilisation hinaus gilt für Whitehead vor allem der kritische und kreative Umgang mit Symbolen als ein wesentlicher Faktor einer gelingenden Gestaltung der menschlichen Gesellschaft: »Die erfolgreiche Anpassung alter Symbole an Ände­ rungen der sozialen Struktur ist das höchste Zeichen von Weisheit in der gesellschaftlichen Staatskunst« (SY 120). Diejenigen Gesellschaften, welche eine Ehrfurcht gegenüber ihren Symbolen nicht mit der Freiheit ihrer Revision verbinden können, müssen zuletzt entweder aus Anarchie oder aus langsamer Verküm­ merung eines durch nutzlose Schatten erstarrten Lebens verfallen (SY 146/147).

Die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit Zeichen pointiert auch Krampen, wenn er auf deren ambivalente Bedeutung für die menschliche Gesellschaft verweist: Nur wer Zeichensysteme kennt und durchschaut, kann sich ihrer Herrschaft entziehen und die Kommunikation zwischen Menschen als auch zwischen Mensch und Natur durch ständige Innovation vor der Erstarrung bewahren (Krampen 1981:13).46

Nicht ausschließlich auf den Menschen, sondern allgemeiner formu­ liert auf alle im Sinne der Biosemiotik Zeichen gebrauchenden Lebe­ wesen weist auch Sebeok auf die Notwendigkeit hin, die Zeichen und deren Interpretation einer wechselnden Umwelt anzupassen: »Signs have acquired their effectiveness through evolutionary adaption to the vagaries of the sign wielder's Umwelt.47 When the Umwelt chan­ ges, these signs become obstacles, and the signer, extinct« (Sebeok 1994:5). Sebeok nimmt übrigens aufgrund der Feststellung, dass alle Kultur und alles Wissen zeichenvermittelt ist, erkenntnistheoretisch 46 Diese Aussage ähnelt der von Whitehead deutlich – es findet sich bei Krampen aber kein Literaturverweis auf Whitehead. 47 Der Begriff der Umwelt als Fachterminus geht auf den ›Vater‹ der Biosemiotik, Jakob von Uexküll, zurück, vgl. Uexküll 2014.

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

eine skeptizistische Position ein: »We can safely assert that the only cognizance any animal can possess [...] is that of signs. Whether there is a reality behind signs [...] humanity can never be sure« (Sebeok 1994:12). Die Allgegenwärtigkeit kultureller Symbolisierungen bei Whitehead zeigt auf den ersten Blick vor allem verblüffende Par­ allelen zur Philosophie Cassirers, der mit seiner fast zeitgleich zu Whiteheads symboltheoretischem Hauptwerk SY erschienenen Phi­ losophie der symbolischen Formen eine symboltheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen entworfen hat. Doch auch wenn Whiteheads Feststellung, »dass die Menschheit Symbole finden muss, um sich auszudrücken« (SY 121), auf die Annahme einer Unabdingbarkeit von Symbolisierungen und damit von Kultur hinweist, so stellt er gerade keine Kulturphilosophie im Tenor Cassirers auf, die alle kulturellen Formen entweder aus rein phänomenologischer Perspektive betrachtet oder die, kulturellen Formen als Produkten des menschlichen Geistes die Rolle apriori­ scher Bedingungen von Erkenntnis zuschreibend, auf einer idealisti­ schen Position fußt. Beiden Philosophen gemein ist die Betonung der Bedeutung von Symbolisierungen im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit Kants Kritik der reinen Vernunft und seinem Kritizismus. Nach Cassirer wie auch im Sinne Whiteheads sind nicht allein vernunftbasierte mathematische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch kreativ-schöpferische Ausdrucksformen relevant für das Weltverständnis des Menschen. »In dieser Linie ist der Symbolbegriff die Formel für die Überwindung von Kants erkenntnistheoretischer Begrenzung auf die mathematischen Natur­ wissenschaften« (Lachmann 2000a:198). Doch obwohl als gemein­ samer Ansatz das Projekt einer »Erweiterung des Vernunftbegriffs« (Rohmer 2017:172) auszumachen ist und beide Philosophen das Ziel verfolgen, durch die Analyse kultureller Symbolisierungen ein tiefe­ res Verständnis des Menschen zu gewinnen, unterscheiden sie sich in ihren Lösungsprinzipien fundamental. Cassirer spricht der kantschen Vernunft die Rolle als alleiniger Schlüssel des Menschen zur Welt ab48, stellt ihr als weitere Zugänge unter anderem den Mythos, 48 Vgl. Cassirer (1990:51): »Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, um die Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.«

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

die Sprache und die Künste (als jeweils eine »symbolische Form« der Weltverarbeitung) gleichwertig an die Seite und pointiert sein Vorgehen in dem Ausspruch: Kants »Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur« (Cassirer 1964, PSF I, 11) – einer Kultur, in der eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder der so genannten objektiven Wirklichkeit der Dinge gegenübertritt. Whitehead hebt einen solchen Ansatz anthropozentrischer Weltdeutung komplett auf (und stellt dabei das bisherige Verständnis von Subjektivismus vom Kopf auf die Füße), denn auch kulturelle Schöpfungen sind für ihn viel tiefer mit der Welt vernetzt, als dass man sie als reine Phänomene des menschlichen Geistes ansehen könnte. Statt einer Erweiterung der Geistestätigkeit postuliert Whitehead die Aufhebung der Dichotomie von Natur und Geist, er hält einen Körper-Geist-Dualismus für unzutreffend.49 Zwar lehnt Cassirer genau wie Whitehead die Vor­ stellung eines eher passiv rezipierenden Geistes ab und betont die Bedeutung des schöpferischen Tätigseins als einer aktiven prozessua­ len Erfassung des Daseienden mit dem »Willen zur Form«. Whitehead aber geht einen Schritt weiter, indem er den philosophisch relativ sicheren Hafen einer reinen Phänomenologie verlässt und annimmt, dass die Verbindung einzelner Wahrnehmungen der Welt und eine daraus entstehende Symbolisierung in Sinneswahrnehmung, Kunst und Kultur bereits in der metaphysischen Basis der Wahrnehmungs­ situation angelegt ist; er entwickelt also eben jene »Metaphysik der Erkenntnis«, die Cassirer ablehnt.50 49 Daher wäre es auch problematisch, Whiteheads Überlegungen zur kulturellen Bedeutung von Symbolisierungen im klassischen Sinne als geisteswissenschaftliche Kulturwissenschaft einzuordnen. 50 »Die Philosophie der symbolischen Formen will keine Metaphysik der Erkenntnis, sondern eine Phänomenologie der Erkenntnis sein« (Cassirer 1956:208). Mit Blick auf erkenntnistheoretische Fragen gibt es allerdings eine interessante Par­ allele zwischen dem ›frühen‹ wie auch dem ›ganz späten‹ philosophischen Whitehead und Cassirer. In IM und in ESP zeigt sich Whitehead von einer Seite, die durchaus metaphysisch-idealistische Aspekte aufweist. An diesen Stellen – und eben nicht, wie häufig in der Sekundärliteratur angemerkt, in seinen allgemeinen Beschreibungen der » ewigen Ideen« zum Beispiel in PR – bricht sich das platonische Erbe in kreativer Weise Bahn. Er äußert in diesen beiden Werken die Hoffnung, durch gelungene Abstraktionen eine logische Symbolik entwerfen zu können, mit der die grundlegenden Schöpfungsmuster, nach denen sich die konkrete Welt entwickelt, dargestellt werden können. Ein ähnliches Anliegen formuliert Cassirer: Gelingt es, »eine Art Grammatik der symbolischen Formen als solcher« (Cassirer 1964, PSF I, 19) zu entwickeln, dann erscheint der metaphysische Dualismus zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen überbrückt, »sofern sich zeigen lässt, dass gerade die

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2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

Fetz stellt im Rahmen seiner These einer Paradigmenverwandt­ schaft der Theorien von Whitehead, Cassirer und Piaget fest, dass Whitehead trotz seiner Betonung der gesellschaftlichen Bedeutsam­ keit kultureller Symbolisierungen keine systematische Kulturphilo­ sophie vorlegt: »Was wir jedoch bei Whitehead nicht finden, ist eine Kulturphilosophie, die die verschiedenen Symbolformen als solche thematisiert und sie nicht nur im Individuum, sondern auch mensch­ heitsgeschichtlich zueinander in Beziehung setzt‟ (Fetz 1999:165). Er sieht daher Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als sinnvolle Ergänzung zu Whiteheads Philosophie an und hofft, eine »anzustrebende Verbindung von Whitehead und Cassirer« möge eine Prozessphilosophie ergeben, »die auch die Form einer umfassenden Kulturphilosophie annimmt« (Fetz 1999:165). Auch wenn Cassirer wesentlich eingehender als Whitehead die Sphäre menschlichen Kul­ turschaffens durchleuchtet (da er diese ja auch zu seinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand deklariert) und daher für Ergänzungen zu Whitehead durchaus in Frage kommt, so müsste ein Unterfangen wie das von Fetz geforderte doch die epistemologische Frage außen vor lassen, denn diese trennt die beiden Philosophen voneinander. Das allerdings wäre ein Vorgehen, welches Whiteheads Philosophie an anderer Stelle wesentlich beschneiden würde, denn zu seinem Anliegen einer Aufhebung der Trennung von menschlicher und natürlicher Sphäre gehört eben auch ein metaphysisch verankerter erkenntnistheoretischer Realismus. Oswald Schwemmer greift Cassirers Symboltheorie auf und führt die Untersuchung von Symbolen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive in ihrer Funktion für die Selbstwerdung des Menschen fort. Auch er sieht das Vermögen zur Symbolbildung als wesentli­ ches Charakteristikum des Menschen an: »Mit der Herausbildung von Symbolen vollzieht sich der Übergang von einer leiblichen zur geistigen Weltorientierung: der Prozess der Menschwerdung« (Schwemmer 2006:7). Gleichzeitig versucht er, durch die Integration neurowissenschaftlicher Aspekte Cassirers idealistische Position zu relativieren. Mit Blick auf die Entwicklung der menschlichen Gesell­ reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muss« (Cassirer 1964, PSF I, 19). Cassirer wie oben geschehen eine philosophische Beschränkung auf die Phänomenologie der menschlichen Kulturwelt zu attestieren, ist daher zwar durchaus zutreffend, aber in gewissem Sinne auch verkürzt. Eigentlich gehen also beide davon aus, dass der Mensch (mit seinem Geist) Teil der ›wirklichen‹ Natur ist, die er erkennen und verarbeiten will.

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2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

schaft weist er auf die kulturschaffende Rolle von Tradition hin, die für einen »Wagenhebereffekt« sorgt, indem sie auf der Basis des Gekonnten für »eine immanente Fortentwicklung der Wahrneh­ mungs- und Äußerungsformen zu symbolischen Formen [sorgt] und damit eine kulturelle Entwicklung möglich macht« (Schwemmer 2006:8). Gleichzeitig aber betont er – und damit spricht er ganz im Geiste Whiteheads –, dass die jeweilige kulturelle Identität einer Gemeinschaft von Menschen, so wie sie durch entsprechende Sym­ bolisierungen zum Ausdruck kommt, neben einer Fixierung auch Raum für Innovation, Veränderung und Austausch braucht.

2.2.3 Whiteheads Symboldefinition Obwohl Whitehead auch aus kulturphilosophischer Perspektive auf die Funktion und die Bedeutung von Symbolen für die menschliche Gesellschaft eingeht, erfolgt eine Definition des Symbolbegriffs im Kontext seiner metaphysisch fundierten Epistemologie. Zur Bestim­ mung des Symbolbegriffs bei Whitehead findet sich eine Textstelle in SY und eine Entsprechung dieser Textstelle in PR. Die »formale Defi­ nition von Symbolismus« in SY bezogen auf den Wahrnehmungspro­ zess des Menschen lautet: Der menschliche Geist arbeitet symbolisch, wenn einige Komponen­ ten seiner Erfahrung Bewusstsein, Annahmen, Emotionen und Ver­ wendungsweisen bezüglich anderer Komponenten seiner Erfahrung hervorrufen. Die erste Menge von Komponenten sind die ›Symbole‹ und die letztere Menge von Komponenten bilden die ›Bedeutung‹ der Symbole (SY 67).

Eine ähnliche Textstelle ist in PR zu finden: Zum ›symbolischen Bezug‹ zwischen den beiden Arten [der Wahr­ nehmung] kommt es immer dann, wenn die Wahrnehmung eines Elements der einen Art sein Korrelat in der anderen hervorruft und sich darin die Verbindung von Empfindungen, Emotionen und abgeleiteten Handlungen niederschlagen lässt, die zu beiden Korrelaten des Paars gehören [...]. Die Art, von welcher der symbolische Bezug ausgeht,

56 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

wird als die ›Gattung der Symbole‹ bezeichnet, und die Art, in die er mündet, als die ›Gattung der Bedeutungen‹ (PR 337/338).51

Symbole sind nach Whitehead also in einer Relation zweier Wahr­ nehmungsarten jene Elemente einer Art der Wahrnehmung, von denen ein Erfahrungsprozess ausgeht und die innerhalb dieses Pro­ zesses auf Elemente einer anderen Art der Wahrnehmung, als Bedeu­ tung bezeichnet, bezogen werden. Die beiden Wahrnehmungsarten nennt Whitehead die der kausalen Wirksamkeit (die verkürzt als Verursachung eines aktuellen Geschehens oder einfach als physische Wirkung verstanden werden kann) und die der präsentativen Unmit­ telbarkeit (die verkürzt als gegenwärtig erlebte Formbestimmung oder einfach als klassische Sinneswahrnehmung bezeichnet werden kann). Whitehead definiert hier das Symbol (und die Bedeutung) also rein formal-relational.52 Eine formal-relationale Bestimmung von Symbol und Bedeu­ tung wirkt vor allem deshalb kontraintuitiv, weil dabei allein die Richtung des Übergangs für die Bestimmung der Wahrnehmungs­ elemente als Symbol oder Bedeutung verantwortlich ist. Es ist unge­ wöhnlich, dass eine prinzipielle Umkehrbarkeit der symbolischen Beziehung impliziert wird und zum Beispiel auch Wörter Bedeu­ tungen für etwas sinnlich Wahrgenommenes sein können sollen. Durchaus aber mag es den Dichter geben, der beim Betrachten eines Naturschauspiels die Inspiration für eine Verszeile empfindet. Dass für uns gewohnheitsmäßig die Wörter als Symbole für etwas stehen, Einen Zusammenhang von Symbolen und Emotionen, wie er – so wird sich in dieser Arbeit zeigen – bei Whitehead elementar ist, beschreibt auch Whiteheads Schülerin Langer: »Ein echtes Symbol entsteht am ehesten dort, wo ein Objekt, Laut oder Akt gegeben ist, der keinen praktischen Sinn hat, wohl aber die Tendenz, eine emotionale Antwort hervorzulocken und so die Aufmerksamkeit ungeteilt festzuhal­ ten« (Langer 1965:121). Mit dem Hinweis auf den fehlenden praktischen Sinn bezieht sich Langer hier auf ihre Abgrenzung des Symbols vom Anzeichen, das sie als »Mittel, das zu handeln gebietet«, bestimmt, wohingegen sie das Symbol als »Instrument des Denkens« ausmacht. Bei Langer haben Symbole durchaus auch einen pragmatischen Aspekt, im Unterschied zum Anzeichen aber sind sie nicht auf die Funktion als direkter Hinweis beschränkt, sondern bieten einen größeren Raum für Assoziationen und Interpretationen. Eine implizite Binnendifferenzierung nach der Wirkung, die ein Zeichen beim Menschen hervorrufen kann, findet sich auch bei Whitehead: Er unterscheidet Zeichen, die ein Reflexhandeln auslösen, und Zeichen, die symbolisch konditioniertes Handeln auslösen (vgl. hierzu Kapitel 5.2.4 dieser Arbeit). 52 Vgl. Brinkley (2012:35): »Whitehead argues, that the difference between symbol and meaning is not substantial, but functional.« 51

57 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

liegt an ihrer einfachen Anwendbarkeit, denn Symbole übernehmen die Funktion, den Alltag für uns handhabbar zu machen. Unsere übliche Verwendung von Symbolen hat also pragmatische Gründe. In der Regel werden aus diesen pragmatischen Gründen die klar abge­ grenzten und damit leichter handhabbaren formbestimmten Wahr­ nehmungen wie Sinneswahrnehmungen als Symbole für eher diffuse, emotional starke Wahrnehmungen genommen – grundsätzlich funk­ tioniert Symbolisierung laut Whitehead aber in beide Richtungen. Für Whiteheads Anliegen bietet eine rein relationale Bestim­ mung von Symbol und Bedeutung zwei Vorteile: Da Whitehead seine Symbolkonzeption nicht primär als Zeichen- oder Bedeutungstheorie versteht, umgeht er so die zeichentheoretischen Diskussionen um den notorisch unklaren Begriff der »Bedeutung«53, in denen man sich zwischen Feinheiten linguistischer, semiotischer und ontologischer Fragen verlieren kann. Zudem spricht er mit der Forderung, auch die Bedeutungserfahrung müsse uns in einer direkten Erfahrungsweise zugänglich sein, dieser zwar eine gewisse Wirklichkeit zu, negiert aber gleichzeitig die Existenz von Bedeutungen als zusätzlichen geis­ tigen Wesenheiten sowie als rein mentalen Produkten. Er schafft die Möglichkeit einer Integration von Bedeutungserfahrungen in die allgemeinen Erfahrungsprozesse, aus denen sich die Welt konstitu­ iert, und öffnet so die Tür für eine naturalistische Interpretation von Symbolisierungen. In ihrer pragmatischen alltäglichen Anwendung allerdings finden Symbolisierungen fast ausschließlich als Bezug von Sinneswahrnehmungen auf die damit verbundenen Kausalwirkungen statt – und dafür hat Whitehead, wie wir später sehen werden, auch gute Gründe.54 Den speziellen emotional getönten Erfahrungsprozess dieser Relationierung, das organische Funktionieren, mit dem ein Über­ gang vom Symbol zur Bedeutung stattfindet, nennt Whitehead den »Symbolisierungsakt«, das Herstellen symbolischer Referenz. Im Zuge der Herstellung symbolischer Referenz werden Vorstellungen, Emotionen und Annahmen hervorgebracht, die in beiden Wahrneh­ mungsarten ihren Grund haben und in denen sich diese daher über­ Vgl. C. W. Morris 1994. Whitehead selbst erwähnt zwar die theoretische Möglichkeit beider Verweisrich­ tungen, in seinen konkreten Erläuterungen und Beispielen aber bezieht er sich fast ausschließlich auf die Verweisrichtung von Sinneswahrnehmungen zu Kausalwirk­ samkeiten. 53

54

58 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

schneiden.55 Das bedeutet, dass wir Wahrnehmungen im Modus symbolischer Referenz stets als Handelnde machen und durch unsere Wahrnehmung in einer ständigen aktiven Auseinandersetzung mit unserer Umwelt sind. Dies gilt in unterschiedlich konkreter Ausprä­ gung für den symbolischen Übergang von Sinneswahrnehmungen zu Alltagsgegenständen genauso wie für die menschliche Reaktion auf Symbole in Kunst und Gesellschaft. Wahrnehmungen sind also ganz und gar keine passiv rezipierten Gegebenheiten. Im Gegenteil: Sie entstehen erst in Aktions- und Wirkungszusammenhängen – und zwar in solchen, in denen auch der Wahrnehmende selbst integraler Bestandteil der Vorgänge ist. Der Bezug der zwei Wahrnehmungs­ arten aufeinander erfolgt nämlich innerhalb eines wahrnehmenden Organismus (hier innerhalb des Menschen) derart, dass »dem Wahr­ nehmenden eine Aktivität in der Erzeugung seiner eigenen Erfahrung zu[geschrieben wird]« (SY 69) und er sich selbst durch diese Erfahrun­ gen entwickelt und charakterisiert. Der wahrnehmende Organismus ist bei diesem Prozess also kein zusätzliches Drittes, das mit seinem Bewusstsein Symbol und Bedeutung extern aufeinander bezieht – er ist nicht Schauplatz des Geschehens, sondern das Geschehen selbst. Die Symbolisierungsrelation ist eine im Selbstentwicklungsprozess des Wahrnehmenden stattfindende, sie ist »das aktive synthetische Element, das durch die Natur des Wahrnehmenden beigetragen wird« (SY 68).56 Eine genaue inhaltliche Analyse des Symbolisierungskonzeptes erfolgt in den Kapiteln vier und fünf der Arbeit – an dieser Stelle ist vorbereitend der Hinweis auf einige entscheidende (terminologische) Besonderheiten notwendig, die es im Folgenden zu beachten gilt. Gemäß seiner Forderung, ein philosophisches Schema einschließlich eines entsprechenden Begriffsinventars zu entwickeln, das auch zur Durchleuchtung unseres Alltagslebens taugt, verwendet Whitehead in seiner Metaphysik Begriffe aus der Alltagssprache und deutet diese um oder ergänzt sie um eine metaphysische Interpretation. Hierbei darf, so sein Anspruch, das Alltagsverständnis der Welt 55 Vgl. Lachmann in seiner Interpretation von SY: »Aufgrund eines durch die Wahr­ nehmung hervorgerufenen Fühlens, Denkens oder Handelns besteht zwischen dem direkt Wahrgenommenen und dem dadurch Hervorgerufenen eine ›symbolische Beziehung‹« (Lachmann 2000a:200). 56 Der ontologische Status von Relationen im Allgemeinen und somit auch jener der Relation »symbolische Referenz« im Besonderen wird im Kapitel drei dieser Arbeit ausführlich erläutert.

59 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

nicht außer Acht gelassen werden, sondern sollte sich – zumeist als abstrahierender, vereinfachender Spezialfall – in die Terminologie des philosophischen Schemas integrieren lassen. Beispiele hierfür sind die Begriffe »Kreativität«, »Organismus«, »Erfahrung« oder eben »Symbol«. Der Begriff »Symbol« ist bei Whitehead innerhalb seiner Wahrnehmungstheorie inhaltlich offen formal bestimmt: Das Symbol ist lediglich definiert als ›der eine von zwei unterschiedlichen basalen Wahrnehmungsbereichen, von dem der Prozess einer sym­ bolischer Bezugnahme ausgeht‹. Aber auch Symbole, wie sie der Alltagsverstand kennt und wie sie in unserem Alltagsleben eine große Rolle spielen (die Friedenstaube, die Nationalflagge, die rote Ampel), werden bei Whitehead als solche bezeichnet.57 Philosophisch sind sie mit Whitehead zu verstehen als Spezialfälle im Symbolisierungsge­ schehen, die den gleichen Grundprinzipien folgen, die aber auf der Mesoebene der menschlichen Gesellschaft aus einer abstrahierenden Perspektive betrachtet werden. Diese Symbole ermöglichen es dem Menschen aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades, sich aus dem unmittelbaren Eingebundensein in seine Umwelt zu emanzipieren und dadurch zivilisatorische Fortschritte zu erzielen. Es ist diese pragmatisch begründete Entfernung von der philosophischen Basis in unserem alltäglichen Umgang mit Symbolen wie der Friedenstaube, der roten Ampel, der Nationalflagge, die Whitehead diese Symbole (mehr oder weniger) oberflächlich nennen lässt – diese Benennung bedeutet erst einmal nicht unbedingt eine Wertung. Auch oberfläch­ liche Symbole können allerdings mehr oder weniger wertvoll sein, hierzu später mehr. Der beim Thema Symbol zuerst unerwartete Ausflug in die Metaphysik und die Rückkehr in die Zivilisation ergeben sich – so verstehen wir am Ende von SY – als notwendige Konsequenz aus Whiteheads These, »dass alle menschlichen Sym­ bolisierungen, unabhängig davon, wie oberflächlich sie erscheinen mögen, letztlich auf Verkettungen der fundamentalen symbolischen Referenz zurückgeführt werden müssen« (SY 67). Tatsächlich ist der Prozess der symbolischen Referenz nur unter Einbezug der metaphysischen Ebene erklärbar. Das für uns ersichtliche Erlebnis von Symbolen findet aber im Alltag statt und verdient ebenfalls philosophische Aufmerksamkeit. Eine weitere terminologische Feinheit ist zu beachten, damit keine interpretatorischen Unklarheiten entstehen. Das englische 57

Vgl. Kapitel drei von SY (S. 119–147).

60 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

Symbolism von Whitehead wird ins Deutsche übersetzt mit »Symbo­ lismus« und mit »Symbolisierung«. Der vielleicht auf den ersten Blick ungewöhnlichere deutsche Begriff »Symbolisierung« impliziert dabei ganz im Sinne von Whiteheads organistischer Metaphysik einen Prozess: den der Herstellung »symbolischer Referenz« zwischen zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsarten. Auf analytischer Ebene ist das Wesentliche also weder das Symbol noch die Bedeutung, sondern das Ereignis und die mit Emotionen verknüpfte Erfahrung des InBeziehung-Setzens zweier unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen eines gemeinsamen Bereiches, die als Symbole beziehungsweise Bedeutungen verstanden werden. Wie jede Relation bei Whitehead ist auch die symbolische Bezugnahme als konkret-ontologische und damit die Welt konstituierende Relation zu verstehen. Den Herz­ schlag der whiteheadschen Symboltheorie finden wir also in der Re­ lation der symbolischen Referenz.58 Dies ist einer der Wege, auf denen Whitehead der von ihm abgelehnten Dichotomie von Naturdingen einerseits und Konstrukten des menschlichen Geistes andererseits zu entkommen versucht. Ganz im Sinne einer organistischen Metaphy­ sik gibt es eigentlich gar kein physisches Ding ›Symbol‹ , dem vom Menschen ein geistiges Konstrukt ›Bedeutung‹ gegenübergesetzt wird. Das Belegen von Symbolen mit einer Bedeutung ist zwar in einem gewissen Sinne eine schöpferische Leistung des menschlichen Geistes, aber dennoch kein Akt aus einer rein mentalen Welt. Mensch, Symbol und Bedeutung treffen sich – idealerweise, wenn Symbolisie­ rungen nicht irrigerweise produziert werden – in einer realen Welt, die von durchgängig aktiver Natur ist. Trotz der Funktion von Symbolen, die Welt für den menschlichen Alltag greifbar zu machen und sie damit in einer gewissen Weise auch zu konstruieren, vertritt Whitehead keinen erkenntnistheore­ tischen Konstruktivismus wie beispielsweise Goodman in seinem Entwurf einer Symboltheorie. Es wird sich herausstellen, dass in Whiteheads Philosophie auch Symbole in ihrer Bestimmung und Interpretation durch den Menschen auf irgendeine Weise der ontolo­ gischen Wirklichkeit entspringen müssen und Whitehead somit einen (provisorischen) Realismus vertreten kann. Worin aber versteckt sich die konkrete wirkliche gegenständliche Welt, für deren Existenz und Um diesem Gedanken Rechnung zu tragen, wird in dieser Arbeit als Übersetzung von »symbolism« und »symbolic reference« überwiegend von »Symbolisierung« gesprochen, da dieser Terminus Prozess und Aktivität impliziert. 58

61 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2 Werkhistorischer Kontext und Anmerkungen zur Symboltheorie

Erkennbarkeit sich Whitehead als provisorischer Realist stark macht? Der Zusammenhang von Wirklichkeit, Erkenntnis und Zivilisation ergibt sich aus Whiteheads metaphysischer Konzeption, nach welcher der Mensch als Teil eines gesamten organistisch vernetzten Systems mit seinen individuellen Wahrnehmungs- und Symbolisierungsakten auf ontologischer Ebene denselben Prinzipien unterliegt, die auch für die wahrgenommene Umwelt gelten. Aus den ontologisch pri­ mären Geschehnissen primitiver Erfahrungen entwickeln sich nach bestimmten Prinzipien immer komplexer werdende Formen höherer Erfahrung, aus denen Dinge, Lebewesen mit und ohne Bewusstsein, Menschen mitsamt all ihren gesellschaftlichen und kulturellen Akti­ vitäten sowie das Universum als Ganzes hervorgehen. Im Bereich der menschlichen Lebenswelt nehmen Whiteheads Symbolisierungen besonders deutlich erkennbar ihren Platz ein. Für den Menschen sind sie von größter Relevanz und hier treffen sie auch auf Symbolisierungen, wie sie das Alltagsverständnis als Möglichkeit des Ausdrucks zum Beispiel in Sprache, kulturellen Symbolen oder sozialen Normen kennt. Doch der Begriff der Symbolisierung ist bei Whitehead nicht exklusiv für den Mesokosmos menschlicher Alltagsgegenstände reserviert: Er entwickelt seine Bedeutung und seine Bedeutsamkeit aus den metaphysischen Grundlagen heraus und bindet den Menschen dadurch eng in das Weltgeschehen als Ganzes ein. Er spannt die Fäden vom tiefen Nährboden des Mikrokosmos über die Welt bis in die weiten Sphären des Makrokosmos hinein.59 Aber Vorsicht: Dennoch ist Symbolisierung keine ontologische Kate­ gorie. Diese mehrschichtige Konzeption scheint das Paradox hervor­ zurufen, dass es bisher gerade kaum eine Whitehead-Interpretation gibt, in der das Offensichtliche (die Herrschaft von Symbolen und Bedeutungen im Gesellschaftsleben) mit dem Expliziten und bereits häufig Explizierten (dem Organismuscharakter der Welt) strukturell verbunden wird.60

Deutlich weist Halewood (2017:83) darauf hin: »While Whitehead's aim […] might well be to focus on the relation between symbolism and human life, this does not mean, that symbolism can be understood only in term of human life. Quite the opposite. In order to understand symbolism in human life, we have to locate symbolism in its wider context.« 60 Zumeist wird eher einer der beiden Aspekte außen vor gelassen – oder es wird der Fehler begangen, Symbolisierungen ontologisch zu interpretieren (siehe Hampe 1990). 59

62 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

2.2 Der Symbolbegriff und Symboltheorien

Nun ist die whiteheadsche Symbolkonzeption also recht eigen und mit den diversen angesprochenen Symbol- oder Zeichentheorien auch gar nicht in allen Aspekten kommensurabel. Dennoch wäre der Schluss verfehlt, wir könnten daher den bisher angerissenen zeichentheoretischen Kontext eigentlich direkt wieder vergessen. Es erweist sich als durchaus hilfreich, die dargelegten Theorien als Kontrastfolie für Whiteheads Ansatz im Kopf zu behalten. Bei der genaueren Untersuchung der Rolle von Symbol und Bedeutung hilft die Erinnerung daran, was diese Begriffe bei Whitehead gerade nicht bedeuten, interpretatorische Missverständnisse wie zum Beispiel jenes von Blyth (1941:59) zu vermeiden. Blyth begeht den fast schon klassischen Fehler, Whiteheads Theorie vor dem Hintergrund gewohnter substanzontologischer Denkmuster zu untersuchen. Er ordnet Symbol und Bedeutung wesentlich voneinander verschiedenen Kategorien zu und setzt diese mit Strukturen der Welt gleich. Das vermeintliche Problem Whiteheads, Bedeutung nicht zugleich widerspruchsfrei als Synthese dieser Kategorien definieren zu können, ergibt sich bei Blyth aus der interpretatorischen Ungenauigkeit, Whiteheads Grundannahmen zu vernachlässigen und die mikrokosmisch-ontologische mit der mesokosmisch-phänomenologischen Ebene zu vermischen.61 Blicken wir im Sinne des strukturierenden Anliegens dieser Arbeit nach dem symboltheoretischen Kontext nun auf die metaphy­ sischen Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie.

Für eine detaillierte Klarstellung solcher Missverständnisse siehe Kapitel 5.2.3 dieser Arbeit.

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63 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

3.1 Die Welt als Organismus 3.1.1 Substanzparadigma versus Prozessidee Die Wirklichkeit ist bei Whitehead durch und durch prozessual. Alles, was existiert – von den subatomaren Geschehnissen über die mensch­ liche Erfahrung bis hin zum Universum als Ganzem –, ist ein Prozess oder die Verbindung einer Vielzahl von Prozessen. Whiteheads Meta­ physik widerspricht mit dieser These jener Tradition von der Antike bis in die Gegenwart, die in ihrem ontologischen Denkschema von einer Einteilung der Welt in feste, unveränderliche Substanzen einer­ seits und deren akzidentelle oder attributive veränderliche Qualitä­ ten andererseits ausgeht. Whitehead wendet sich gegen Substanzen im Sinne letzter stofflich morphologisch bestimmbarer Einheiten, die konstante Träger wechselnder Eigenschaften sind. Dem Denken in Substanz-Akzidenz-Schemata gesteht Whitehead pragmatische Gründe im Alltagsleben zu – als grundlegende Darstellung der Natur der Dinge nennt er es aber falsch, da es vom inneren Wesen der Dinge abstrahiert: »Der einfache Begriff einer dauerhaften Substanz [...] drückt ein für viele Belange des Lebens nützliches Abstraktum aus. [...] Aber in der Metaphysik ist der Begriff ein schierer Irrtum« (PR 159/160). Die in Wissenschaft, Philosophie und Alltagsdenken oft vorherrschende Vorstellung der Welt als Ansammlung fester Substanzen, die Veränderungen oder Bewegungen erfahren, ist für Whitehead eine Abstraktion von der konkreten Beschaffenheit der Welt in Wirklichkeit. Wie das Substanz-Akzidenz-Denken, so erweist sich für Whitehead auch die entsprechende sprachliche Beschreibung der Welt in einer »Subjekt-Prädikat-Form des Ausdrucks« (PR 24) zur Wiedergabe der Wirklichkeit als inadäquat. »In der organistischen Philosophie wird eine Aussage in Form von Subjekt und Prädikat

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

als Ausdruck einer hohen Abstraktion aufgefasst« (PR 261), die nicht mit der eigentlichen Beschaffenheit der Wirklichkeit als Prozess verwechselt werden darf, da sie dieser in ihrer Struktur nicht gerecht wird. Aus diesem Grund nennt Whitehead sowohl »das Vertrauen in die Sprache als angemessener Ausdruck von Aussagen« (PR 24) als auch die Annahme fester Substanzen »irrige Verfahrensweisen« (PR 25) und sieht darin »Denkgewohnheiten [...], die zurückgewiesen werden« (PR 24) sollen. Whitehead führt »die uneingeschränkte Herrschaft der Sub­ stanz-Qualität-Metaphysik« (PR 261) in der philosophischen Tradi­ tion hauptsächlich auf die ›erste Substanz‹ in der Kategorienlehre Aristoteles’62, die aristotelische Logik63, die logische Präferenz der mittelalterlichen Periode64 und die substanzmetaphysische Lehre Descartes’65 zurück.66 Als ein fehlleitendes Resultat des aristote­ lischen Substanz-Akzidenz-Schemas kann die cartesische Teilung der Welt in natürliche Substanzen und geistige Substanzen inter­ pretiert werden. Eigenschaften von Substanzen werden im Zuge dieser Teilung aus der Welt der Naturgegenstände als Objekte des menschlichen Geistes in die Welt der geistigen Substanzen verlagert. Konsequenterweise kritisiert Whitehead dann auch den Ansatz der englischen Empiristen, Philosophie im Sinne einer »science of human nature« allein als Untersuchung der Bedingungen für die menschliche Erkenntnis zu betreiben – und dabei eine Kluft zwischen den Vorgän­ gen im menschlichen Geist und der wahrgenommenen Natur aufzu­ reißen. Whiteheads Wendung gegen Substanz-Akzidenz-Schemata in der Philosophie ist bereits in den naturphilosophischen Schriften seiner vormetaphysischen Phase zu finden – so äußert er hierzu zum Beispiel ähnlich wie in seinen späteren Werken schon in CN: Die Geschichte der Lehre von der Materie […] ist die Geschichte des Einflusses der griechischen Philosophie auf die Wissenschaft. Dieser Vgl. PR 78. Vgl. PR 77. 64 Vgl. PR 112. 65 Vgl. PR 261. 66 Zur Frage, ob Whitehead Aristoteles‘ Konzept der Substanz als statisch even­ tuell missversteht und inwiefern dies Auswirkungen auf die Plausibilität seines Alternativkonzeptes einer Prozessontologie hat, haben bereits Eslick (1958) und Hartshorne (1958), zwei frühe Whitehead-Interpreten, eine akademische Auseinan­ dersetzung geführt. 62

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66 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3.1 Die Welt als Organismus

Einfluss gipfelte in einer weitreichenden Fehlkonzeption des meta­ physischen Status natürlicher Entitäten. Die Entität wurde vom Faktor, der das Objekt des sinnlichen Bewusstseins ist, getrennt. Sie wurde zu einem Substrat dieses Faktors und der Faktor zu einem Attribut der Entität herabgestuft. Auf diese Weise wurde eine Unterscheidung in die Natur getragen, die in Wahrheit gar keine Unterscheidung ist (CN 16).

Das Postulat, in der Philosophie die Trennung von natürlichen Sub­ stanzen und den diese attribuierenden Eigenschaften aufzuheben, besteht also bereits zu dieser Zeit – die Konsequenzen, die er in dieser Phase für seine Naturphilosophie zieht, sind im Vergleich zur späteren Metaphysik allerdings noch andere: Während die Welt in der früheren Naturphilosophie unter Ausschluss des Nachdenkens über das Denken und mögliche Beiträge des menschlichen Geistes zur Wahrnehmung der Welt untersucht werden soll, werden in der Metaphysik der menschliche Geist, Eigenschaften von Dingen und die Dinge selbst als Phänomene derselben metaphysischen Prozessstruk­ turen verstanden. Die Grundlagen der Wirklichkeit in Whiteheads Metaphysik sind nicht statisch. Die Wirklichkeit ist als »actuality« durch und durch »activity«, sie ist Bewegung, Handlung, Fortschreiten. Jeder Aspekt der Wirklichkeit ist ein realer Vorgang und »jeder reale Vorgang ist in Wahrheit ein Prozess, ein Vollzug sich entfaltender Aktivitäten« (AI 390). »Die Begriffe Prozess und Existenz setzen sich gegenseitig voraus« (MT 133), nur dadurch, dass Prozesse geschehen, existiert etwas. Whiteheads Philosophie ist also eine Prozessmetaphysik, die er in deutlicher Abgrenzung zur Substanzmetaphysik konzipiert. Für unser Verständnis der Welt gilt daher, »dass nichts wirklich verstan­ den worden ist, bis seine Beziehung zum Prozess augenscheinlich gemacht wurde« (MT 86). Die Vorstellung der Wirklichkeit als Prozess sieht Whitehead trotz Verhaftung des menschlichen Denkens in Substanz-AkzidenzSchemata nicht generell als kontraintuitiv an: »Dass ›alle Dinge fließen‹, ist die erste vage Verallgemeinerung, die die unsystemati­ sche, kaum analysierte Intuition der Menschheit hervorgebracht hat« (PR 385) und die Whitehead unter anderem im heraklitischen Aus­ spruch findet.67 Allerdings birgt diese vage Intuition bei genauerem Hinsehen noch einige Stolpersteine: Selbst wenn man die Welt als prozessual anzunehmen versucht, erliegt man leicht der Versuchung, 67

Vgl. PR 485.

67 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

implizit dennoch kleinste wirkliche Substanzen als Subjekte mitzu­ denken, bei oder an denen Prozesse ablaufen. ›Alles fließt‹ könnte man sagen – doch darf man sich hier ›alles‹ nicht als Summe von Dingen vorstellen, die im Fluss sind. Es gibt in der Welt, so wie sie für Whitehead in Wirklichkeit ist, nichts den Prozessen Zugrundelie­ gendes. Es gibt nichts hinter dem Prozess, »die Realität ist der Pro­ zess«68 (SMW 90). Prozesse laufen als Ereignisse ab und gründen dadurch die Wirklichkeit. Bei Whitehead müsste eine Beschreibung der Wirklichkeit daher eher ganz schlicht ›Fließen‹ heißen – ohne materielle Grundlage, ohne eine beständige Substanz als Subjekt.69 ›Es gibt Wirkliches‹ bedeutet: ›Es ereignet sich‹ – ›wirklich sein‹ heißt ›im Prozess werdend sein‹. Bei der Vorstellung von Ereignissen als ontologischen Grundeinheiten muss allerdings eine weitere Falle gewohnter Denkmuster umgangen werden: Primäre Ereignisse fin­ den nicht als in einer Zeitdimension ausgedehnte Abläufe statt. Zeit­ lichkeit ist bei Whitehead etwas, das erst a posteriori aus der Strukturierung von Prozessen zu bestimmten Mustern besteht. Erst aus diesen zu Mustern zusammengesetzten Prozessen und aus einer Wie­ derholung und Veränderung dieser Muster bildet sich eine zeitliche Abfolge. Es gibt also »zwar ein Werden der Kontinuität, aber keine Kontinuität des Werdens« (PR 87). Die Wirklichkeit als Prozess bildet sich bei Whitehead also durch das Entstehen von kleinsten Prozesseinheiten. Diese sind, was sie sind, und können sich nicht verändern, denn Veränderung wird tradi­ tionell verstanden als Änderung von Eigenschaften an einem wesens­ beständigen Ding. Dinge aber gibt es nicht an der mikrokosmischen Basis der whiteheadschen Metaphysik – hier gibt es nur Prozesse. Dennoch sind diese Prozesse klar individuierbare Einzelereignisse, sie sind die »organistischen Atome« der Wirklichkeit.

Hervorhebung durch die Verfasserin. Vgl. AI 480: »Der Prozess selbst ist das, was wirklich ist; und er ist auf keinen schon vor ihm existierenden statischen Träger angewiesen.« Die Vorstellung einer nicht statischen Welt mag inzwischen vielleicht durch die Etablierung von grundlegenden Prozessen auch in den Naturwissenschaften leich­ ter fallen. 68

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68 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3.1 Die Welt als Organismus

3.1.2 Die Wirklichkeit als Ineinanderfließen atomarer Prozesströpfchen Whitehead geht von der »extremen Unwahrscheinlichkeit« eines regressus ad infinitum in der Natur aus70 und nimmt daher mit der Endlichkeit einer möglichen Teilung der Welt die Existenz kleinster atomistischer Bestandteile als letzter wirklicher Tatsachen an. Diese Annahme mag im ersten Moment als Widerspruch zur Absage an das Substanzdenken erscheinen – hatten wir nicht gerade festgestellt, dass die Welt ein einziges Fließen ist, ohne dass es darin letzte Teilchen gibt? Es ist aber nicht notwendig, mit der Prozessualität der wirklichen Welt auch den Gedanken einer undifferenzierbaren Kontinuität anzunehmen. Whiteheads Konzept des Prozesses als wirklicher und wirkender Grundlage der Welt kennt trotz der Vernei­ nung eines materiellen Grundstoffes immaterielle, aber voneinander abgegrenzte Prozesseinheiten, die man sich, um im Flussbild zu bleiben, als Prozesströpfchen vorstellen kann. Whitehead nennt diese letzten wirklichen Prozesseinheiten »wirkliche Einzelwesen« (»actual entities«)71 und betont, dass auch jedes dieser letzten »wirkliche[n] Einzelwesen [...] ein Prozess und nicht im Sinne der Morphologie eines Stoffs beschreibbar« (PR 94) ist. Die kleinsten Prozesseinheiten sind als letzte ontologische Einheiten nicht weiter geteilt, sie sind die Atome der Wirklichkeit: Die gleichzeitige Welt ist in der Tat geteilt und atomistisch, da sie eine Vielheit von bestimmten wirklichen Einzelwesen darstellt. Diese gleichzeitigen wirklichen Einzelwesen sind voneinander getrennt, kön­

Vgl. SMW 125. Neben dem in PR an zentraler Stelle eingeführten Terminus »actual entity« für die kleinste wirkliche Prozesseinheit finden sich mit synonymer Bedeutung in den Texten unter anderem auch die Umschreibungen und Begriffe »wirkliches Ereignis« (PR 150), »konkrete/einzelne Tatsache« (SMW 88), (PR 61), »realer Vorgang«, »Erlebensvorgang« (FR 29), »erfassendes Ereignis« (SMW 89), »Geschehnis« (SMW 125), »wirkliches Ereignis« (SMW 185), (PR 150), »Geschöpf« (PR 162), »Einheit des komplexen Empfindens« (PR 162), »individuelle[s] Ding« (AI 328). In dieser Arbeit werden synonym zur »actual entitiy« vor allem die Begriffe »Prozesseinheit«, »wirkliches Einzelwesen« oder »(wirkliches) Ereignis« verwendet. 70

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69 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

nen aber selbst nicht in andere gleichzeitige wirkliche Einzelwesen geteilt werden (PR 130/131).72

In Whiteheads Metaphysik ist die Wirklichkeit also »unheilbar ato­ mistisch« (PR 129) und gleichzeitig prozesshaft. Die Atome sind keine Materieteilchen, die Prozesse als ihnen wesentlich äußerliche Vorgänge erleiden: Die Atome sind die Prozesse, die Prozesse sind die Atome. Es gibt keinen substanziellen Kern in den letzten wirklichen Einheiten. Aus dem Prinzip des Prozesses resultiert, dass Sein in diesem Sinne immer als Werden verstanden werden muss und »dass wie ein wirkliches Einzelwesen wird, begründet, was dieses wirkliche Einzelwesen ist« (PR 66). Prozesse stellen also einerseits abgegrenzte Einheiten dar, andererseits lassen sie sich theoretisch durchaus noch in verschiedene Phasen zergliedern – aber der praktische Versuch einer weiteren Teilung ergibt keine weiteren wirklichen Bestandteile und genau deshalb sind die Prozesseinheiten atomistisch. Whitehead betont ausdrücklich, dass auch »die Vorstellung reiner Punktualität in Prozessen falsch ist«, denn der Prozess selbst ist eben nicht »als Zusammenfügung von endlichen Realitäten analysierbar [...], die selbst keinerlei Prozesscharakter haben« (MT 133), sondern nur als Gesamtheit verschiedener Prozessphasen. Die Wirklichkeit ließe sich demnach als ›F-l-i-e-ß-e-n‹73 bezeichnen – aus sich selbst heraus ohne Subjekt entstehend, atomistisch, aber dennoch nur als gesamter Prozess verstehbar, in dem ihr die aufeinander bezogenen Bestand­ teile isoliert voneinander nicht mehr gerecht werden. Die synonym zur »actual entity« verwendete Bezeichnung »actual occasion« (»wirkliches Ereignis«) weckt am ehesten die Asso­ ziation zur Bedeutung als Prozess74. Im Alltag begegnet uns dennoch kaum ein einzelnes wirkliches Ereignis im metaphysischen Sinne, »in unserem Bezug zur wirklichen Welt denken wir nur selten ein einzelnes wirkliches Einzelwesen« (PR 367). Wir pflanzen einen Baum als Baum – nicht als Photosynthese betreibendes Blättersystem Kontinuität hingegen ordnet Whitehead nicht der Wirklichkeit, sondern dem Bereich des Potenziellen zu: »Die Kontinuität betrifft das Potentielle, während die Wirklichkeit unheilbar atomistisch ist« (PR 129). 73 Es taucht die Schwierigkeit auf, Dynamisches mit statischen Mitteln abzubilden – hier sei angemerkt, dass die einzelnen Buchstabenatome natürlich lediglich abstrahie­ rende Darstellungen wirklicher Ereignisse sind. 74 Vgl. PR 149/150: »Um »den Begriff wirkliches ›Einzelwesen‹ enger mit unseren normalen Denkgewohnheiten [zu] verbinde[n], werde ich anstelle des Terminus ›wirkliches Einzelwesen‹ auch von einem ›wirklichen Ereignis‹ sprechen.« 72

70 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3.1 Die Welt als Organismus

und schon gar nicht als Umwandlungsprozess von Lichtenergie in Adenosintriphosphat mittels Elektronenübertragung. Die Realität, die sich auf Personen, Bäume oder auch auf physikalische Atome bezieht, besteht auf mikroskopischer Ebene aber aus Beziehungs­ geflechten vieler Ereignisse, die in bestimmten, sich wiederholen­ den Mustern miteinander in Verbindung treten. Werden mehrere Ereignisse zu einer Funktionseinheit zusammengeschlossen, nennt Whitehead diese Funktionseinheit »Gesellschaft von actual entities«, »Nexus« oder eben auch »Geschehnis«. Diese in PR verwendete Bezeichnung eines Zusammenschlusses mehrerer wirklicher Einzel­ wesen als Geschehnis unterstreicht den allgemeinen Prozesscharakter auch der alltäglichen Welt und entzieht diese damit zumindest teil­ weise der Dingvorstellung. Wir pflanzen den Baum als Baum – aber sind uns mit Whitehead darüber bewusst, dass es sich bei diesem um ein hochkomplexes Geschehnis handelt. Hier ist allerdings auf eine terminologische Änderung hinzuweisen: In SMW differenziert Whitehead noch nicht und verwendet »Geschehnis« synonym mit »aktuales Ereignis« in der Bedeutung ›kleinste ontologische, prozes­ suale Einheit‹. Wenn es dort also heißt: »Wir müssen vom Geschehnis als der letzten Einheit alles natürlichen Vorkommens ausgehen« (SMW 125), so entspricht dieses Geschehnis dort terminologisch der Prozesseinheit als kleinstem wirklichen Einzelwesen aus PR. Erst ab PR wird als Geschehnis die Verbindung mehrerer Prozesseinhei­ ten und ein wirkliches Ereignis als theoretischer »Grenzfall eines Geschehnisses mit nur einem Element« (PR 150) bezeichnet. Ein Ereignis als »actual entity« grenzt sich durch die Erfüllung seines ganz individuellen Werdensprozesses von anderen Ereignis­ sen ab und schließt sich gleichzeitig mit diesen zu komplexeren Einheiten zusammen. Die Beschreibung der Wirklichkeit als Prozess und Ineinanderwirken von Prozessen präzisiert Whitehead durch das Bild des Organismus. Seine Prozessphilosophie nennt er daher auch »organistische Philosophie«.75 Die Bezeichnung der Wirklichkeit als organistisch erschafft das Bild einer dynamischen Einheit, die in ihrer Identität wie in ihrer Verbundenheit mit allen Einzelheiten durch relationales Ineinanderwirken von Prozessen charakterisiert ist. In SMW76 weist Whitehead in diesem Zusammenhang auf die Entwick­ lung der Biologie als Wissenschaft von Organismen sowie auf einen 75 76

Vgl. z. B. PR 21. SMW 123–125.

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

Paradigmenwechsel in der modernen Physik hin, denn »auch das Atom verwandelt sich in einen Organismus« (SMW 124). Whitehead hält sich an seinen Adäquatheitsanspruch und verwendet dieses Bild auf allen Ebenen seiner Philosophie. Er beschreibt in Anlehnung an den Organismusbegriff der Biologie eine organische Naturtheo­ rie, in der eine Entwicklung komplexer lebendiger Organismen aus früheren Zuständen weniger komplexer Organismen stattfindet.77 Der Baum als Organismus? Das können wir uns auch mit unserem Alltagsverständnis vorstellen. Auch die unbelebte Natur aber ist bei Whitehead organistisch, denn Organismen sind ja bereits die grund­ legenden wirklichen Einheiten der Welt – lebendige Komplexe sind demgegenüber spezieller strukturierte Organismen. Es gibt demnach zwar eine Unterteilung in (mehr oder weniger) belebt und (mehr oder weniger) unbelebt – die klassische naturwissenschaftliche Ein­ teilung in organisch und anorganisch kann hier aber nicht getroffen werden. Ebenso beschreibt Whitehead den Menschen wie auch die menschliche Gesellschaft als komplexe Organismen unterschiedli­ cher Feinstrukturierung.78 In der Organismusphilosophie erscheint das Muster von Prozesseinheiten, das in seiner speziellen Komplexität die Natur bildet, nun »nicht mehr als ein Nebeneinander innerlich unzusammenhängender Materieteilchen, sondern als ein Geflecht organisch ineinander verwobener Wesenheiten.«79 Auf der mikrokos­ mischen Ebene nennt Whitehead diesem Bild entsprechend auch die kleinsten wirklichen Einheiten selbst sich entwickelnde »primäre Organismen [...], die sich nicht weiter zerlegen lassen« (SMW 125). Whitehead vergleicht seine ontologischen Basisatome mit den Monaden Leibniz‘, die jener als »die wahrhaften Atome der Natur und […] die Elemente der Dinge« (Leibniz, Monadologie § 3) beschreibt, weist aber auch auf Unterschiede zu diesen hin.80 Jede leibnizsche Monade spiegelt individuell das gesamte Universum wider – in diesem Sinne interpretiert Whitehead Leibniz‘ Philosophie als einen Vgl. SMW 130. Die Anwendung der gleichen prozessualen Struktur auf verschieden differenzier­ ten Ebenen kann visualisiert werden durch die Luftaufnahme eines verzweigten Flussdeltas, die ähnlich einem Fraktal aus jedem Maßstab aufgenommen die gleiche Art von Relationen zwischen den einzelnen Flussarmen, die wiederum fließende Beziehungen darstellen, abbildet (Aber Cave Subjectum! »Fluss« darf natürlich nur verstanden werden als ›Fließen‹, nicht als ›Wasser, das fließt‹). 79 Fetz 1981:64. 80 Vgl. PR 162. 77

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3.1 Die Welt als Organismus

Vorgänger seiner atomistischen Organismusphilosophie und zieht einen Vergleich zu seinen actual entities, denn auch jede actual entity als kleinste ontologische Einheit steht in Bezug zum ganzen Univer­ sum.81 Allerdings zeichnen sich Leibniz‘ Monaden durch ihre Fens­ terlosigkeit, sprich durch ihre direkte Beziehungslosigkeit unterein­ ander aus: Mit dem Universum stehen die einzelnen Monaden in Beziehung, doch nur zu diesem als Ganzem und nicht zu anderen Monaden als dessen einzelnen Bestandteilen. Untereinander sind die Monaden völlig beziehungslos. Dies ist ein Gegensatz zu den actual entities, für die, wie in Kapitel 3.1.3 näher erläutert wird, Beziehungen zu anderen, vorangegangenen actual entities sogar konstitutiv und existenziell notwendig sind. Das Fehlen dieser Verbundenheit der elementaren Atome untereinander in der philosophischen Lehre Leib­ niz‘ führt Whitehead darauf zurück, dass dieser sich nicht vom philo­ sophischen Substanzdenken losgesagt hat. Da Leibniz in Whiteheads Interpretation »an den kartesianischen Substanzen mit ihren qualifi­ zierenden Leidenschaften fest[hielt]« (SMW 182), die zu ihrer Exis­ tenz nicht auf eine Verbindung untereinander angewiesen sind, weil sie als unabhängig voneinander definiert sind, besteht die Welt bei Leibniz laut Whitehead aus einer reinen Ansammlung von unabhän­ gigen Einzelwesen. Wenn Whitehead seine atomistische Organis­ musphilosophie »eine Theorie der Monaden« (PR 162) nennt, so merkt er zudem an, dass diese Theorie sich »von derjenigen Leib­ nizens [unterscheidet], da sich dessen Monaden bewegen. In der organistischen Theorie werden sie lediglich« (PR 162). Whiteheads actual entities sind eben keine kleinsten aristotelischen oder cartesi­ schen Substanzen, die »äußere Abenteuer« der Eigenschaftsverände­ rung erfahren – sie existieren vielmehr nur im Werden, im Entste­ hensprozess und vergehen mit ihrer Abgeschlossenheit. Zusammenfassend pointiert Whitehead: Es ist ganz wesentlich für die metaphysische Lehre der organistischen Philosophie, dass der Begriff eines wirklichen Einzelwesens als das unveränderte Subjekt der Veränderung vollständig aufgegeben wird. Ein wirkliches Einzelwesen ist zugleich das erfahrende Subjekt und das Superjekt seiner Erfahrungen (PR 75/76).

81 Vgl. SMW 181/182: »Ganz eindeutig muss die Begründung der Philosophie durch die Voraussetzung des Organismus auf Leibniz zurückgeführt werden.«

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

An dieses Wirklichkeitsmodell können durchaus Fragen gerichtet werden; so taucht zum Beispiel vor allem im Zusammenhang mit der Gesellschaftsbildung von actual entities zum Organismus »Lebe­ wesen« die Unklarheit auf, in welcher Größenordnung sich diese auf einzelne abgeschlossene Ereignisse zurückführen lassen. Bei der Analyse von lebendigen Gesellschaften wirklicher Einzelwesen kann auch die Erfüllung subjektiver Ziele82 in der Selbstwerdung und -voll­ endung der jeweiligen Prozesse nicht ausreichend die Entscheidung für bestimmte Grenzen erklären, anhand derer in einem Lebewesen rückblickend einzelne Prozesseinheiten beziehungsweise funktionale Zusammenschlüsse von Prozesseinheiten zu sich wiederholenden Gesellschaften von Prozesseinheiten, sogenannte Nexūs ausgemacht werden könnten. An dieser Stelle soll nicht näher auf Whiteheads Konzept der Person und des menschlichen (Selbst-)Bewusstseins eingegangen werden, dennoch sei auf Fragen hingewiesen, welche die Organismusphilosophie in diesem Kontext klären können muss. Wie gelingt der Qualitätssprung in die Welt der komplexen Gesellschaften von Organismen bis zuletzt zu jenen, die wir in ihrer Gesamtheit als Eines empfinden: Wie erklärt Whitehead uns selbst als Men­ schen mit Bewusstsein und einem individuellen Ich-Verständnis? Und andersherum: In welchen Maßstäben könnte – ausgehend von der Erscheinung eines komplexen Zusammenschlusses wirklicher Einheiten als Person – diese lebendig erscheinende Welt sich selbst noch in Sinneinheiten unterteilen? Simplifizierend gefragt: Sind im Zusammenschluss zu dem realen Organismus, den ich als mich selbst erkenne, etwa meine Hände einzelne Prozessgesellschaften, oder meine einzelnen Finger? Ist meine Morgenmuffeligkeit eine einzelne Eigenschaft oder eine komplexe und in welchen Bereichen von mir wird sie realisiert? In meiner Bauchregion, in meiner Hirnregion, überall in mir? Könnte ich theoretisch meine Wünsche als einzelne Prozesse von mir abtrennen? Oder wie sonst lassen sich die kom­ plexen Muster meiner Hände, Finger, Wünsche wieder begründet in bestimmte einfache Prozesse analysieren?83 In einem ähnlichen 82 Der Ausdruck »subjektiv« bezeichnet hier die Perspektive auf die innere Konstitu­ tion einer atomistischen Prozesseinheit als sie selbst. 83 Mit bestimmten Methoden von Wahrnehmungsprozessen, die in der »Kategorie der begrifflichen Umkehrung« und der »Kategorie der Umwandlung« beschrieben werden, versucht Whitehead Dinge und Menschen dadurch zu erklären, dass er ein Streben vieler Prozesseinheiten zusammen zur Erfüllung gemeinsamer Muster eta­ bliert.

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Kontext in Bezug auf den Menschen und die Frage nach der Kategori­ sierung von Bewusstseinzuständen beispielsweise schlägt Fetz vor, diesen im Ganzen als eine nicht sinnvoll teilbare Prozesseinheit statt als eine Gesellschaft von Prozesseinheiten zu verstehen.84 Für den mesokosmischen Bereich der menschlichen Alltagswahrnehmung, in dem wir uns schließlich als ›Wir-selbst‹ mit Händen, Fingern und Wünschen erkennen, kommt Whiteheads Theorie der symboli­ schen Bezugnahme zum Tragen, mittels derer er den Sprung von der wirklichen ontologischen Welt zur für uns im Alltag realen Welt zu erklären versucht.85 Trotz möglicher offener Fragen an Whiteheads Konzept greift manche Kritik aber zu kurz, wie beispielsweise Pannenbergs Einwand der Unvereinbarkeit von Atomizitäts- und Prozessdenken. Für Pan­ nenberg geht der Prozess notwendigerweise mit der Vorstellung eines Kontinuums einher; einem prozessphilosophischen Atomismus attestiert er die logische Schwierigkeit, dass auch der Atomismus immer schon eine kontinuierliche Einheit mitdenkt und sich daher selbst widerspricht.86 Überdies sieht er einen Widerspruch im Kon­ zept der actual entities als ungeteilten Atomen und der Tatsache, dass Whitehead diese dann doch in weitere Phasen analysiert, um deren Selbsterschaffungscharakter zu erklären. Es kommt die Ver­ mutung auf, dass Pannenbergs Zugangsweise der Idee Whiteheads nicht gerecht wird, denn er kritisiert sie von außen, ohne sich auf ihre Grundlagen einzulassen. Pannenberg bezieht sich bei der Problematik von Einheit und Vielheit auf Platons Parmenides, der als ein Klassiker in der Thematisierung dieser Frage gilt, mit der Absicht, damit den Vorwurf der Widersprüchlichkeit Whiteheads zu untermauern, schließlich bezeichnet Whitehead die Philosophie­ geschichte und damit auch sein eigenes Schema ja in Anerkennung der Reichweite dieses Philosophen auch als »Fußnoten zu Platon« (PR 91). In seiner Metaphysik-Konzeption überwindet Whitehead nun aber den vermeintlichen Gegensatz von Vielem und Einem gerade durch sein Prinzip der Kreativität. Wie wir gesehen haben, gibt es bei Whitehead eben nicht Atome als winzige Bauklötzchen, die in der Wirklichkeit bestimmte Prozesse durchlaufen, sondern die Prozesse selbst sind die atomistisch zu verstehenden Einheiten. 84 85 86

Vgl. Fetz 1981:261. Siehe Kapitel 4.5 dieser Arbeit. Vgl. Pannenberg 1986:188.

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Diese Prozesse entstehen aus einem inneren kreativen Prinzip heraus und konstituieren in ihrem Werden die ganze Welt. Es können sich atomistische Prozesseinheiten nur durch die Motivation zur Erfüllung ihres inneren subjektiven Ziels der Selbstwerdung herausbilden, ihnen ist das Streben immanent, sich selbst aus der Relation zu allen anderen Prozessen als Einheit zu entwickeln. Dieses Prinzip der Zweckursachen in der Konstitution wirklicher Prozesse und der Atomismus sind bei Whitehead ineinandergreifende philosophische Grundsätze87, die Erfüllung des subjektiven Ziels einer werdenden atomistischen Einheit wiederum erfolgt aus dem Zusammenhang mit der Gesamtheit aller Prozesse als Wirkursachen. So sind die wirkli­ chen Einzelwesen zwar voneinander als Viele abgegrenzt, stehen aber dennoch – da es sich dabei ja um Prozesse handelt, die gerade dadurch entstehen, dass Bezugnahme stattfindet – in notwendiger Verbindung zueinander und zur Gesamtheit der Wirklichkeit als Eines. Die Vielen werden in einem neuen Einzelwesen synthetisiert, dieses vermehrt aber gleichzeitig die Vielheit um eins, um sich selbst, und verbindet alle Momente des Universums in einer neuen Einheit. Die Gegensätze der Welt als atomistisch und als Einheit überwinden und bewahren sich gleichzeitig selbst, sie heben sich auf im schwingenden Rhyth­ mus der Kreativität, durch den viele neue Einheiten in einer sich entwickelnden umfassenden Einheit entstehen. Pannenberg ignoriert diesen Zusammenhang, so wie Whitehead ihn in PR eingehend anhand des Prinzips der Kreativität erläutert hat. Weiter sind die actual entities zwar in verschiedene Prozesspha­ sen teilbar, aber sie sind eben de facto nie geteilt.88 Bei den actual entities als atomistischen Prozesseinheiten steht jedes theoretisch analysierbare Element in einer unabdingbaren Beziehung für die Kon­ stitution des Ganzen, jede Komponente ist unabdingbar für die Exis­ tenz von Wirklichkeit. Würde man versuchen, etwas davon wegzulas­ sen, so wäre das Resultat keine unvollständige Wirklichkeit, sondern Vgl. PR 59. An dieser Stelle sei, um Missverständnisse zu vermeiden, noch einmal angemerkt: Ein wirkliches Einzelwesen ist in Whiteheads Metaphysik eine atomistische Entität, die nicht weiter teilbar ist; der praktische Versuch einer weiteren Teilung ergibt keine weiteren wirklichen Bestandteile. Dennoch ist der Selbstgestaltungsprozess theoretisch analysierbar. Wenn hier also von verschiedenen Phasen der Wertung und Selbstgestaltung die Rede ist, so bezieht sich diese Rede auf eine formale Analyse des Konkretionsprozesses, nicht aber auf eine faktische Teilbarkeit der wirklichen Einzel­ wesen. 87

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eben überhaupt keine Wirklichkeit. Es können zum detaillierteren Verständnis zwar verschiedene Perspektiven auf denselben Gesamt­ prozess eingenommen werden89, aber man kann keinen Bestandteil einer kleinsten Einheit tatsächlich aus dieser herausnehmen und erwarten, dass irgendetwas – ein wenn auch unvollständiger, so dennoch wirklicher Rest – übrigbliebe. Genau in diesem Sinne sind die actual entities analysierbar, aber atomistisch. Atomismus schließt also weder Komplexität noch universelle Relativität aus.90 Zusammenfassend lässt sich sagen: Die kleinsten ontologischen Einheiten der Wirklichkeit in Whiteheads atomistischer Prozessphi­ losophie sind keine Materiepartikel oder aristotelische Substanzen, sondern in ihrem Entstehen aufeinander bezogene Prozesseinheiten. »Die endgültige Wirklichkeit91 ist der besondere Prozess« (PR 371) – aber nicht der Prozess von irgendetwas, das ihm zugrunde liegt, sondern der Prozess als er selbst, indem er abläuft und sich dabei auf andere Prozesse bezieht. Aus dieser Bezugnahme auf andere Prozesse bildet jede actual entity in einzelnen Phasen, die theoretisch analy­ sierbar, aber nicht als kleinere vollständige ontologische Einheiten von Gesamtprozess abgetrennt sind, ihren ganz eigenen Charakter. Actual entities sind also organistische Erfahrungseinheiten in ihrem Werden, bei dem Beziehungen eine wesentliche Rolle spielen: Pro­ zesse entstehen als Integration von Relationen.

3.1.3 Das ontologische Primat der Relationen und das ontologische Prinzip Die Welt entsteht aus Prozessen. Diese Prozesse erweisen sich bei genauerem Hinsehen als die Herstellung von Beziehungen. Whitehead betont daher die Relationalität von Ereignissen: Nichts geschieht, ohne dass anderes geschehen ist. Prozesse laufen in »Koor­ dination mit der Umgebung [ab], die erforderlich ist für die Existenz« 89 Pannenbergs Einwand, Whitehead erliege mit der Unterscheidung von theoreti­ scher Teilbarkeit und faktischer Ungeteiltheit der actual entities dem von ihm selbst doch bemängelten Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit, findet keine Angriffs­ fläche, weist Whitehead doch zur Genüge auf die Unzulänglichkeit bei gleichzeitiger Notwendigkeit sprachlicher Aussagen über die konkrete Wirklichkeit und auch auf deren Abstraktionsgehalt hin. 90 Vgl. PR 87. 91 Hervorhebung durch die Verfasserin.

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(MT 54) ihrer selbst als Bezugnahme-Ereignisse. Die Prozessein­ heiten geschehen in Bezogenheit aufeinander und bilden dadurch insgesamt eine organistische Einheit. Ein Prozess ist also ein Ereignis, das in Beziehung zu seiner sich im Voraus entwickelnden Umwelt abläuft, die wiederum auch als Vernetzung von Prozessen geschieht. Die aktuell werdenden Prozesse lassen sich als die Akte der Bezug­ nahme auf abgelaufene Prozesse, als ihr Erfassen charakterisieren. Der Entstehungsprozess eines neuen Ereignisses geschieht als aktives Verknüpfen von Beziehungen zwischen bereits erfolgten Ereignissen. Abgelaufene Prozesse bilden die Informationen, die ein sich gera­ de entwickelnder Prozess erfasst, verarbeitet und nach bestimmten Kriterien in die eigene Entwicklung integriert, die er also in sich selbst zusammenwachsen lässt. All diese Verarbeitungsprozesse sind der neue Prozess, der dadurch gerade er selbst wird. Whitehead nennt diesen Prozess des Zusammenwachsens auch Konkretion, »concrescence«. Nach ihrer Entstehung bilden alle aktuell neuen Prozesseinheiten den Informationspool, auf den die zukünftigen Beziehungsprozesse zugreifen und aus dem sie sich entwickeln, in diesem Sinne stellt das bereits gewordene Ereignis das Beziehungsund Entstehungspotenzial für jedes werdende Ereignis dar. Hierin begründet sich die Existenz der actual entities als die Vergangenheit, die in das Werden zukünftiger wirklicher Einheiten integriert wird. Es gehört zum Wesen des Seienden, ein Potenzial für jedes Werdende zu sein. Wo aber steckt die Gegenwart? Das Gegenwärtigsein einer actual entity kann verstanden werden als die Gestaltung des Übergangs von der Wiederholung durch Integration von Ereignissen der Vergangen­ heit zur Antizipation durch Bereitstellung des eigenen Charakters für die Ereignisse der Zukunft.92 Über diese interne Perspektive der einzelnen Werdensprozesse hinaus ist die Gegenwart der Welt geprägt durch eine gewisse Unabhängigkeit der Dinge voneinander: Wirkmächtig für die Entwicklung von Ereignissen sind die Beziehun­ gen der Vergangenheit zur Zukunft – hieraus lässt sich jenes Prin­ zip schlussfolgern, das Whitehead das »Prinzip[] der gleichzeitigen Unabhängigkeit« (PR 130) nennt: Gleichzeitig ablaufende Prozesse haben keinerlei direkten Bezug zueinander, sie finden unabhängig voneinander, quasi nebeneinanderher statt. Allerdings stehen sie Wie in der mittleren Phase dieses Übergangs auch neue Inhalte aufgenommen werden, wird im Kapitel 3.2 dieser Arbeit mit Bezug auf die ewigen Ideen erläutert.

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indirekt dadurch miteinander in Beziehung, dass sie Relationen zu denselben bereits geschehenen Ereignissen haben können. Zusam­ menfassend lässt sich sagen: Die Welt entwickelt sich dadurch, dass jedes Ereignis in Beziehung zu seiner Umwelt aus bereits gesche­ henen Ereignissen es selbst und damit zudem ein neues Element der Gesamtheit wird. »In the Organic Philosophy the term ›envi­ ronment‹ means other actual things which are ›objectified‹ in some important way so as to form component elements in an individual experience« (Hooper 1944:136). Der relationale Charakter der Welt zeigt sich also in dem Grundprinzip, »dass alles, was in der Wirklich­ keit auftaucht, jedem einzelnen Geschehnis seine Aspekte einpflanzt« (SMW 176) und dass die Beziehungen »konstituieren, was das Ge­ schehnis an sich ist« (SMW 126). Hier ist allerdings zu beachten, dass keine zwei sich gleichzeitig entwickelnden wirklichen Einzelwesen die wirkliche Welt auf identische Weise definieren, schließlich prägt ihre jeweils ganz individuelle Perspektive die Beziehung zu den anderen wirklichen Einzelwesen. Zudem stehen alle actual entities zwar in einer Relation zu all ihren Vorgängern – im gleichzeitigen Werden zueinander aber darum auch nur vermittelt über ihre Beziehungen zu ebendiesen Vorgängern der bereits gewordenen Welt. Im Gegensatz zur klassischen Auffassung von Zeit und Relation werden wirkliche Einzelwesen daher gleichzeitig genannt, »wenn keines von ihnen zu der ›gegebenen‹ wirklichen Welt gehört, die durch das andere abgegrenzt wird« (PR 137). Im Gegensatz zur materiellen Substanz, die gerade durch ihre Unabhängigkeit definiert wird93, ist »die Wirklichkeit eines Gescheh­ nisses [...] durch und durch abhängig von anderen Geschehnissen« (Hampe 1998:117). Jede Beziehung zu einem vergangenen Prozess geht in das Wesen eines sich aktuell generierenden Prozesses ein. Dieser Vorgang der Bezugnahme ist konstitutiv für eine actual entity, ohne diese Beziehungen wäre der Prozess nicht er selbst als wirkliche Einheit. Die Wirklichkeit entsteht also dadurch, »dass jede Entität [...] notwendigerweise über eine für sie wesentliche Verbindung mit dem Universum der Dinge verfügt« (MT 105). In diesem Sinne spricht Whitehead von den inneren Relationen der Ereignisse: Die Whitehead verweist auf die beiden Hauptschuldigen für diese Substanzdefinition, Aristoteles und Descartes; in PR zitiert er die von ihm kritisierten Substanz-Defi­ nitionen Descartes‘ und Aristoteles‘ (Vgl. PR 110), um ihnen sein Konzept der Verbundenheit aller Dinge entgegen zu setzen.

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Relationen sind wesenskonstitutiv, denn die »Verbundenheit ist das Wesen jeglicher Art von Dingen« (MT 54) und jeder einzelnen wirklichen Einheit.94 Die Relation jedes Einzelwesens zur Gesamtheit aller Prozesse veranlasst Whitehead, seine actual entities in Anlehnung an Leibniz‘ Monaden auch »monadische Geschöpfe« (PR 162) zu nennen.95 Zwar lässt Whitehead die Monadologie hinter sich, dennoch honoriert er, dass Leibniz »in der Tat als erster ein systematisches Denken [ent­ wickelt], in dem die Relationen der Dinge zueinander als konstitutiv für ihr innerstes Wesen zu betrachten sind« (Rohmer 2000:87). Genau wie bei Leibniz »jede Monade auf ihre Art ein Spiegel des Universums« (Leibniz, Monadologie § 63) ist, so ist bei Whitehead »jedes wirkliche Einzelwesen ein Ort für das Universum« (PR 130).96 Steht eine wirkliche Einheit nun auf diese für sie notwendige Weise in Verbindung mit dem ganzen Universum, so erweist sich aufgrund dieses Relativitätsprinzips die newtonsche Idee einer einfachen Loka­ lisierbarkeit als Irrtum: Eine Prozesseinheit kann nicht eindeutig von ihrer Umgebung isoliert bestimmt werden.97 Die Unsinnigkeit des Versuches einer Isolation einzelner Wirklichkeitsteile illustriert Whitehead folgendermaßen: »Eine halbe Welle beispielsweise kann uns nur die halbe Wahrheit erzählen« (MT 172). Auch die Vorstellung von Relationen, die den Dingen nur äußer­ lich und daher als Abstrakta zu verstehen sind, muss aufgegeben werden.98 Da sie das Wesen der Wirklichkeit ausmachen, sind die Relationen vom ontologischen Status her den Ereignissen gleich­ gestellt: »Eine Beziehung ist nichts Abstrakt-Universales, sondern genauso konkret wie die Dinge, zwischen denen sie besteht« (AI 302). Was verwirklicht wird, ist in erster Linie das Erfassen selbst, Vgl. MT 54: »Keine Tatsache ist nur sie selbst.« Vgl. SMW 149: »Das Geschehnis ist, was es ist, weil in ihm eine Vielheit von Beziehungen vereinigt werden.« Vgl. PR 125: »Jedes wirkliche Einzelwesen ist, was es ist und ist mit seinem abgegrenz­ ten Status im Universum, der durch seine inneren Relationen zu anderen wirklichen Einzelwesen bestimmt wird.« 95 Zum expliziten Vergleich von actual entitites und Monaden siehe PR 162. 96 Vgl. PR 448: Die Erschaffung jedes Einzelwesens, sprich »jeder kreative Akt, ist die Inkarnation des Universums als eins.« 97 Vgl. PR 277: Das Relativitätsprinzip besagt, »dass jede Einzelheit des Universums, einschließlich all der anderen wirklichen Einzelwesen, ein Konstituens in der Beschaf­ fenheit jedes wirklichen Einzelwesens ist.« 98 Vgl. z. B. AI 301/302. 94

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nicht ein Ding, das erfasst wird. Werden bestimmte Relationen über Ereignis-Generationen hinweg wiederholt, so dass ein bestimmtes Relationsmuster stets bestehen bleibt, so spricht Whitehead von »Gesellschaften« von actual entities. Diese nach bestimmten Mustern angeordneten Gesellschaften von actual entities sind das, was wir aus der Alltagsperspektive als Dinge und Gegenstände wahrnehmen. Der Grund für den Zusammenhang aller Tatsachen der Welt wie auch für das Entstehen von Zusammenschlüssen, die wir als Gegenstände oder Personen wahrnehmen, ist stets im relationalen Charakter der einzelnen wirklichen Ereignisse und in ihren Zusammenschlüssen zu komplexen Einheiten zu finden. Die Herstellung von Relationen zwischen den Ereignissen nennt Whitehead in seiner philosophischen Terminologie »Erfahrung« oder »Erfassen«: »Die wirklichen Einzelwesen sind aufgrund ihres gegenseitigen Erfassens miteinander verbunden« (PR 60). Wirkli­ che Einzelwesen als »komplexe und ineinandergreifende Erfahrungs­ tröpfchen« (PR 58) erfassen oder erfahren also Informationen von anderen, vorangegangenen Einzelwesen, die als Bedingungen für deren Auftreten verantwortlich sein können.99 Die Ausdrücke »Erfah­ rung« und »Erfassen« können in der Terminologie Whiteheads als Synonyme verstanden werden. Erfahrung ist bei Whitehead also ein fundamentaler ontologischer Terminus, der nicht auf den Bereich des Lebendigen oder gar des Bewusstseins eingeschränkt ist. Mit dem whiteheadschen Begriff der Erfahrung wird die stillschweigende Annahme der philosophischen Tradition zurückge­ wiesen […], dass die grundlegenden Elemente der Erfahrung nur mit Hilfe der drei Bestandteile Bewusstsein, Denken und Sinneswahrneh­ mung beschreibbar sind (PR 88).

Whitehead differenziert den Prozess des Erfassens oder der Erfah­ rung in verschiedene Phasen100, die an dieser Stelle allerdings nicht betrachtet werden müssen. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird aber auf die Relevanz der Unterteilung in positives und negatives Vgl. z. B. auch PR 66. Zudem erfassen die wirklichen Ereignisse mit den eternal objects als ewigen Ideen auch neue Möglichkeiten der Selbstwerdung, womit gesichert ist, dass Neues in die Welt kommt und diese keine reine Repetition und Umgestaltung bisher entstandener und rezipierter Ereignisse wird. Zu den »ewigen Ideen« siehe Kapitel 3.2 dieser Arbeit. 100 Um Missinterpretationen vorzubeugen, sei hier noch einmal daran erinnert: Die Unterteilung ist einzelne Phasen der Erfassensvorgänge ist zwar theoretisch möglich – praktisch aber ist der Erfahrungsprozess ein atomistisches Ganzes. 99

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

Erfassen eingegangen, wenn im Kapitel vier dieser Arbeit der Begriff der »Erfahrung« im Kontext von Whiteheads Epistemologie diskutiert wird, weil er eine entscheidende Rolle für das Verständnis seiner Symboltheorie spielt. Die im Relativitätsprinzip ausgesprochene Verbundenheit der Welt in all ihren Facetten und die Konzeption des Atoms als »System aller Dinge« (PR 87) begründen die Wirklichkeit als gegenseitige Bezugnahme von Prozesseinheiten. Die kleinsten wirklichen Einhei­ ten sind daher der Urgrund für die Seinsweisen der wirklichen Welt, denn wo kein Bezug zu einer Prozesseinheit hergestellt werden kann, da kann auch nichts Wirkliches geschehen. Alle Phänomene der Welt geschehen als Komplex wirklicher Prozesse, denn in diesen gründet die Welt. Alles, was ist, muss irgendwo in der Wirklichkeit vorhanden sein und überall Wirkungsmöglichkeiten haben – da nun die Wirk­ lichkeit aus den Prozesseinheiten actual entities besteht, muss alles auf irgendeine actual entity zurückführbar sein. Dieses Prinzip, nach dem wirkliche Einzelwesen die einzigen Gründe sind, ist also das Prinzip des Seins, es ist das »ontologische Prinzip«, das in folgender Weise zusammengefasst werden kann: »Wo kein wirkliches Einzel­ wesen, da auch kein Grund« (PR 58). Ohne wirkliche Einzelwesen ist nichts. Innerhalb der bisher erläuterten Konzeption der Welt bei Whitehead läuft die Aussage, dass jede Entscheidung auf mindestens ein wirkliches Einzelwesen bezogen werden kann, auf eine Tautologie hinaus, die besagt: Nur die Wirklichkeit ist wirklich. Die Formulie­ rung dieses ontologischen Prinzips pointiert aber noch einmal die konstitutive Bedeutung der Prozesseinheiten und betont zudem die theoretische Differenzierung zwischen dem konkreten ontologisch letzten Grund der Wirklichkeit und dem logisch-strukturellen Letztoder Urprinzip der Kreativität. Während das ontologische Prinzip erste Gründe im kausalen Sinne einer hierarchischen Ordnung von Entitäten der Wirklichkeit benennt, ist Kreativität keine von wirk­ lichen Einzelwesen abstrahierbare eigenständige Entität, sondern funktional in jeder Entität selbst immanent als logischer und analoger Wesensgrund enthalten.101 Ohne wirkliche Einzelwesen gibt es auch keine Kreativität – aber wenn es wirkliche Einzelwesen gibt, dann sind diese nur durch die Kreativität zu verstehen. »Ein wirkliches Ereignis ist also das Ergebnis einer kreativen, individuellen und vergänglichen Synthese« (RM 71). Bevor später in dieser Arbeit das Prinzip der 101

Vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit.

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3.1 Die Welt als Organismus

Kreativität erläutert wird, ist es jetzt notwendig, den Charakter der Relationen noch genauer zu betrachten. Es stellt sich heraus: Die Ent­ stehung der Wirklichkeit geschieht durch Relationen, die von Zweckursachen und Wirkursachen gleichermaßen geprägt sind.

3.1.4 Die Wirklichkeit als Synthese von Zweckursachen und Wirk­ ursachen Die Philosophiegeschichte zeigt: Je nach Epoche steht die Betonung unterschiedlicher Ursachen als Erklärungsmomente im Zentrum der jeweiligen Metaphysik. Die christliche Philosophie aristotelischer Tradition des Mittelalters zum Beispiel betont stark die Bedeutung von Zweckursachen. Als eine Reaktion auf die Scholastik wendet sich das Weltbild des neuzeitlichen Mechanizismus und der newton­ schen Physik dann hingegen stark der Erklärung der Welt durch Wirkursachen zu (wobei diese dann im Fortlauf der Philosophiege­ schichte spätestens mit dem englischen Empirismus aus der Welt genommen und in den Sphären des menschlichen Geistes verortet werden). Whitehead wendet sich gegen die Monopolisierung einer dieser beiden Ursachen zur Erklärung der Wirklichkeit, denn er sieht beide darin vertreten. Im Mesokosmos des menschlichen Alltags wird dies auf einer ganz simplen Ebene deutlich: Wir essen den Apfel mit dem Ziel, unseren Hunger zu stillen, und der gegessene Apfel bewirkt bei uns ein Sättigungsgefühl. In der Welt der Alltagserfah­ rung wird kaum jemand die Existenz von Zielsetzungen einerseits und kausalen Wirkungen andererseits bezweifeln. Die Frage ist, welchen Stellenwert wir solchen Erfahrungen in einer philosophischen Theorie geben. Mit dem Anspruch, mit seiner Philosophie eine »wirklich befriedigende Theorie des Kosmos« (FR 26) einschließlich unserer Alltagserfahrung aufzustellen, wird Whitehead »erklären müssen, auf welche Weise Wirk- und Zweckursachen miteinander verwoben sind« (FR 26). Als angemessene Philosophie und als kritische Reflexion der Wissenschaften besteht also »eine Aufgabe einer soliden Metaphysik [...] darin, Wirk- und Zweckursachen in ihrem richtigen Verhältnis zueinander darzulegen« (PR 168). Exemplarisch wird später in der Analyse symbolischer Prozesse im Alltagsleben deutlich, dass auch dort metaphysisch fundierte Wirkungen und Zwecksetzungen Hand in Hand gehen. Die komplexe Erfahrungseinheit Mensch nimmt

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gegenwärtige Sinneseindrücke wahr und verbindet diese in einer derartigen Weise mit der Erinnerung an bestimmte frühere Wirkun­ gen, dass durch diese Verbindung Handlungsmöglichkeiten erzielt werden. Konkret und in einem Vorgriff auf Wirk- und Zweckursachen im Symbolisierungsprozess überspitzt formuliert: Wir verbinden die Sinneseindrücke einer knautschigen, rechteckigen Gestalt in einem bestimmten Gebiet mit der Erinnerung an ein Gefühl von gemütlicher körperlicher Erholung und nehmen das Ergebnis dieser Verbindung als einen Sessel wahr – um uns in ihn hineinsetzen zu können.102 An der Basis seiner Metaphysik versucht Whitehead, dem oben genannten Postulat gerecht zu werden, indem er bereits dort sowohl Zweckursachen als auch Wirkursachen eine relevante Rolle zuschreibt und diese so miteinander verzahnt, dass das Entstehen der Wirklich­ keit nur durch das Zusammenwirken beider Ursachen erklärt werden kann. Kausalität und Teleologie sind bei ihm ineinandergreifende Elemente der Wirklichkeit. Je nach Perspektive auf die Welt kann die eine oder die andere Ursache näher betrachtet werden: Während der Blick auf die Entstehung des Universums durch die Verbundenheit von vergangenen und werdenden Ereignissen erst einmal die Wirkur­ sächlichkeit in den Fokus rückt, stellt der Blick auf die Vollendung der individuellen Selbstwerdung jedes einzelnen metaphysischen Ereig­ nisses die Zweckursächlichkeit in den Vordergrund. Der Übergangs­ prozess von der erreichten zur sich herausbildenden Wirklichkeit wird kausal beschrieben, die Entwicklung einzelner Ereignisse aus den Möglichkeiten ihres Seins zu einem konkreten wirklichen Einzelwe­ sen wird teleologisch dargestellt. Die Einsicht in das Zusammenspiel von Wirk- und Zweckursachen sowie in die daraus resultierenden Konsequenzen hält Whitehead für einen Schlüsselfaktor seiner Kos­ mologie: »Um das Universum verstehen zu können, müssen wir die Kausalität der Wirkursachen, die Teleologie der Selbsterschaf­ fung und die Unabhängigkeit des Gleichzeitigen voneinander im rechten Verhältnis sehen« (AI 355). Je nach Werk und Kontext setzt Whitehead unterschiedliche Schwerpunkte: Während die Darstellung der Systematisierungsfunktion der Vernunft in FR die Bedeutung der Teleologie betont, erfolgt die kritische Auseinandersetzung mit Hume und Kant in SY mit einem Plädoyer für die Kausalität. Während in SY 102 Vgl. SY 64: »Daher scheinen farbige Gestalten Symbole für einige andere Ele­ mente in unserer Erfahrung zu sein, und wenn wir farbige Gestalten sehen, stellen wir unsere Handlungen auf diese anderen Elemente ein.«

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3.1 Die Welt als Organismus

Wirk- und Zweckursachen vor allem auf mesokosmischer Ebene der menschlichen Alltagserfahrung thematisiert werden, behandelt PR die beiden Ursachen überwiegend auf mikrokosmisch-ontologischer Ebene. Letztere soll an dieser Stelle erläutert werden. Jedes geschehene Ereignis ist aufgrund des Primats von Rela­ tionen als Wirkursache für das Entstehen folgender Ereignisse zu verstehen. Wirklich sein bedeutet für Ereignisse, durch die Beziehung zu anderen werdenden Prozesseinheiten aus der Gegenwart in die Zukunft hinein zu wirken. Nach Abschluss ihres eigenen Werdens konstituieren sie die Wirklichkeit auch über den eigenen Vollen­ dungsprozess hinaus, indem sie als geschehene Welt von zukünftigen actual entities erfasst werden und somit an deren Entstehungspro­ zessen beteiligt sind. Whitehead nennt das Erfassen vergangener Prozesse zur Integration in neue wirkliche Einheiten »physisches Erfassen«.103 Vergangene Ereignisse stehen in einem öffentlichen Akt zur physischen Erfassung durch entstehende Ereignisse bereit. Da sie durch ihre Informationen diesen neuen Entstehungsprozess beeinflussen, sind sie kausal wirksam, eine Wirkursache. In einem öffentlichen Akt wirklich zu sein bedeutet also, »dass alle wirklichen Dinge gleichermaßen Objekte sind, die sich objektiver Unsterblich­ keit erfreuen, indem sie [dadurch] kreative Aktionen zuwege bringen« (PR 121), dass sie Grundlage für das Entstehen neuer Vorgänge sind. Jede actual entity entsteht in Beziehung zur Wirklichkeit ver­ gangener Erfahrungseinheiten und erlangt nach ihrer Vollendung Unsterblichkeit, indem sie nun wiederum als erfassbares Objekt die reale Potenzialität für zukünftige Wirklichkeiten bildet. Dieser Übergang von einem wirklichen Einzelwesen zum anderen ist dessen Wirkverursachung, die den makroskopischen Prozess in der Entwick­ lung der Welt ausmacht.104 Vor dem öffentlichen Akt der Wirkverursachung (für den eine actual entity nach Vollendung des eigenen Entstehungsprozesses für andere actual entities bereitsteht) findet in jedem Ereignis selbst der private subjektive Akt der Selbstgestaltung statt, der durch Zweckur­ sachen teleologisch bestimmt wird. Zwar liegt der Seinsgrund einer actual entity in der Wirkursächlichkeit seiner vergangenen Umwelt, mit der es in Beziehung steht – die konkrete Entwicklung jeder einzel­ nen individuellen actual entity als sie selbst aber ist durch Zweckur­ 103 104

Vgl. z. B. PR 66. Vgl. PR 396.

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

sachen motiviert. Jede actual entity entscheidet anhand der einbezo­ genen Wirkungen, was genau sie mit diesen macht, wie sie diese innerhalb ihres Selbstwerdungsprozesses derart gestaltet, dass sie damit ihren individuellen Charakter erfüllen kann. Jede actual entity strebt in ihrem Werden nämlich auf die Erfüllung eines individuellen Ziels, einer subjektiven Form hin. Bestimmt sind die wirklichen Ein­ zelwesen in ihrem Werden durch ein aus der universellen Kreativität resultierendes »inneres Prinzip der Unruhe« (PR 76), durch das sich ihr Werden als Streben nach etwas mit einer gewissen Differenz, nach einem besonderen subjektiven Ziel darstellt. Jeder Vorgang gestaltet sich durch den ihm immanenten kreativen Drang und »zielt auf ein private[s] Ideal, das im Prozess selbst kontinuierlich Gestalt annimmt« (PR 392)105, er ist die »Entwicklung und Erreichung eines abschließenden Ziels« (PR 282). Die Zweckverursachung drückt den inneren Prozess aus, durch welchen ein wirkliches Ereignis es selbst wird, sie ist als »ein dem Empfinden inhärentes Element« (PR 406) im Prozess selbst angelegt.106 Es findet in jedem Prozess der Wirklich­ keit das Zusammenwachsen, die Konkretion von Erfahrungen und Möglichkeiten statt, die zusammen in ihrer Erfüllung das angestrebte individuelle Ideal ausmachen.107 Der konkrete Entstehungsprozess einer actual entity erfolgt also als ein Streben nach der Erfüllung individueller, subjektiver Selbstgestaltungsziele. Diese legen fest, wie jede actual entity genau wird, indem sie gemäß ihren Konkretions­ zielen Relationen zu entsprechenden vergangenen Prozesseinheiten sowie zu neuen Möglichkeiten der individuellen Entwicklung108 in ihren Entstehungsprozess integriert und nach Mustern gestaltet, die dem subjektiven Ziel Ausdruck verleihen. Ein wirkliches Ereignis entsteht als »das Resultat seiner eigenen Zwecksetzungen« (FR 29) und schafft sich damit selbst als etwas individuelles ideales Neues. Wirkliche Ereignisse vollziehen sich also in einer zweckbestimmten

Vgl. FR 29: »Wir müssen uns das fundamental Wirkliche, den realen Vorgang, als etwas vorstellen, das einen eigenen Zweck anstrebt und erreicht.« 106 Vgl. FR 29: »Jeder reale Vorgang [ist] [...] das Resultat seiner eigenen Zweckset­ zungen.« 107 Vgl. MT 133: »Die Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach ein Abzielen auf Selbstge­ staltung.« 108 Diese neuen Möglichkeiten der individuellen Entwicklung sind die ewigen Ideen, die in Kapitel 3.2 dieser Arbeit näher erläutert werden. 105

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3.1 Die Welt als Organismus

Selbstkonstituierung. Mit dieser Selbstgestaltung109 erlebt das wirk­ liche Einzelwesen »das innere Abenteuer des Werdens« (PR 162). Die Relationalität der Prozesseinheiten impliziert daher keine äußerliche Determination, denn die Wirklichkeit der Prozesseinheiten realisiert sich im Erfassen der Welt aus ihren eigenen Bestimmungen heraus110, indem sich die Zwecksetzungen wirklicher Ereignisse während ihrer Entstehung als Erfahrungseinheit entwickeln: »Der Prozess erschafft sich selbst« (AI 330) und ist damit seine eigene Ursache, er ist im Sinne Spinozas »causa sui«.111 Bezüglich der Wirkursachen setzt sich Whitehead äußerst kri­ tisch mit dem englischen Empirismus auseinander, spricht sich in diesem Zusammenhang gegen Humes und Kants Thesen von der Kausalität als rein menschlicher Gewohnheit oder Kategorie des Denkens aus und macht sich für die Annahme tatsächlich existieren­ der Wirkursächlichkeit stark. Ebenso vehement wendet er sich aber gegen eine rein durch äußerliche kausale Wirkursachen bestimm­ bare, mechanizistische Vorstellung der Welt. Sowohl Phänomene der Alltagswelt wie die Evolution der Natur oder das Verhalten von Menschen als auch die metaphysisch grundlegenden wirklichen Ereignisse weisen notwendig eine Zweckgerichtetheit auf. In FR schlägt Whitehead über die Darstellung der Natur als geprägt von zweckgerichteten Prozessen der Höherentwicklung eine Brücke zu den metaphysischen Grundlagen in PR, denn die Erklärung der Natur mittels Aspekten wie Zweck, Streben, Ordnen und Fortschreiten und der Schluss auf die Beschaffenheit des gesamten materiellen Uni­ versums als teleologisch und selbstschöpferisch führen geradewegs zum Prinzip der Kreativität. FR kann in dieser Rolle als angewandte Illustration der Metaphysik von PR gelesen werden. Hampe (1998:97) sieht Whiteheads Entwurf der metaphysischen Grundlagen für eine Naturphilosophie in diesem Sinne als Schritt zur »Rehabilitierung der Teleologie« in den Naturwissenschaften an. Die Wirklichkeit muss bis in ihre fundamentalste Ebene hin­ ein mit teleologischen Momenten durchdrungen sein, um daraus 109 Whitehead spricht in diesem Kontext unter anderem von »Selbstverursachung« (PR 406), »Selbstgestaltung« (PR 555) und »Selbstrealisierung« (PR 407). Er nennt diesen Selbstkonstituierungsprozess auch den »mikroskopischen Prozess« (Vgl. PR 396, AI 352). 110 Vgl. PR 407: »Eine Wirklichkeit realisiert sich selbst und alles, was sich selbst realisiert, ist eine Wirklichkeit.« 111 Vgl. PR 406.

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konsistent bewusste Zwecksetzungsvorgänge des Lebens ableiten zu können. Ohne die Annahme einer inneren Teleologie bleibt der Selbstgestaltungsprozess der Welt für Whitehead unerklärbar. »Zwecksetzungsprozesse sind nach Whitehead universal und fun­ damental für Wirklichkeit überhaupt« (Hampe 1998:99). Aufgrund der Annahme von Zweckursachen als Zielbestimmungen, die in der Konkretion einer actual entity erfüllt werden sollen und die diesen Prozess daher leiten und bestimmen, bezeichnet Whitehead die Pro­ zesseinheiten auch als »innerlich determiniert« (PR 73). Allerdings sind diese dafür »äußerlich frei« (PR 73), denn im Prozess des Erfas­ sens anderer actual entities bei der Sebstkonstituierung können die entsprechenden Werdensziele durch das unterschiedliche Bewerten der Relationen zur vorausgegangenen Umwelt in ihrer Relevanz für den Selbstwerdungsprozess verwirklicht werden. Die wirklichen Ereignisse sind also dadurch äußerlich frei, dass sie bei der Erfüllung ihrer individuellen Zwecke nicht an bestimmte Relationen zu anderen wirklichen Ereignissen gebunden sind. Zwar erfasst ein Ereignis auf irgendeine, wenn durchaus auch nur vage Weise alle vorausgegange­ nen anderen Ereignisse – welchen Stellenwert es diesen einzelnen »Prehensionen« jedoch für das eigene Werden einräumt, ist nicht festgelegt. In der Entscheidung, wie die werdenden Ereignisse ihr subjektives Ziel erfüllen, das heißt, durch welche Ordnung, Wertung und Gewichtung der getätigten Erfassungen sie ihren individuellen Charakter formen, sind sie frei. Zudem spricht Whitehead von einer äußerlichen Freiheit der Ereignisse, da Relationen stets durch den Vorgang des Erfassens von vergangenen Ereignissen durch werdende Ereignisse hergestellt werden, gleichzeitige Ereignisse hingegen von­ einander unabhängig sind. Die wechselseitige kausale Unabhängigkeit gleichzeitiger Vorgänge ist die Grundtatsache, auf der die Freiheit in der Welt beruht. Die neuen Möglichkeiten, denen sich die gleichzeitige Welt gegenübersieht, werden von den gleichzeitigen Vorgängen unabhängig und isoliert voneinander aufgegriffen (AI 359).

In Whiteheads Metaphysik wird die Welt also beschrieben als »ein Prozess der Erschaffung individueller wirklicher Einzelwesen [...], von denen jedes seine eigene absolute Selbst-Vollendung erreicht« (PR 127) und ebenso durch die Funktion als Objekt in der Beziehung zu den Erschaffungsprozessen zukünftiger Einzelwesen transzendiert und unsterblich gemacht wird. Jedes wirkliche Ereignis entsteht als in

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3.1 Die Welt als Organismus

die Vergangenheit zurückblickende Wirkung und endet als eine in die Zukunft vorausschauende Ursache.112 Die Doppelrolle des transzen­ dierenden und transzendierten Ereignisses, das stets gleichzeitig ein Selbst- und Weltwerdungsprozess ist, wird bei Whitehead mit dem Terminus »Subjekt-Superjekt«113 bezeichnet. Je nach Kontext weist Whitehead auf die vernachlässigte der beiden Ursachen hin. Gegen ein mechanizistisches Weltbild und gegen eine einseitig interpretierte Evolutionsbiologie seiner Zeit gerichtet betont Whitehead die Bedeutung der Zweckursachen für eine angemessene Kosmologie.114 Auch zur Erklärung menschlichen Handelns als geprägt durch die Schaffung und den Gebrauch von Symbolen nutzt er die Idee der Zweckorientierung, indem er als Kriterium für gelungene Symbolisierung ihren pragmatischen Wert anführt. In seiner Diagnose der Spätfolgen eines substanzdualisti­ schen Weltbildes hingegen macht er sich für eine kausalursächlich wirkende Natur stark. Wirkursächlichkeit erhält ihren großen Auftritt in Whiteheads Werk dort, wo nach einer Möglichkeit gesucht wird, die Bedingungen menschlicher Erkenntnis so darzustellen, dass die Epistemologie weder in einem humeschen Skeptizismus noch in einem kantschen Idealismus enden muss. Indem Whitehead unter anderem mittels der ontologischen Etablierung von Wirkursachen die Erkenntnislücke zwischen Mensch und Natur zu schließen versucht, kann er einen provisorischen Realismus vertreten. Wie Whitehead kausale Verursachung und Zweckursachen dafür nutzen kann, menschliche Wahrnehmung als Symbolisierungsakte mit wirklichem Fundament darzustellen, die Wirkung von Symbolen in Kunst und Gesellschaft zu erklären und Symbolisierungen prag­ matische Relevanz für die Zivilisation zuzusprechen, wird in den Kapiteln vier und fünf dieser Arbeit gezeigt. Vor allem (aber nicht nur) Reaktionen auf Symbole in der Kunst, auf ein Gemälde, auf ein Musikstück sind oft verbunden mit einem hohen Maß an Emotio­ nalität. Das Hören des Queen-Songs »Who wants to live forever« rührt manch einen zu Tränen, ein anderer spürt Ergriffenheit beim Singen der Nationalhymne. Im Zusammenhang mit den menschli­ chen Wahrnehmungsweisen und mit kulturellen Symbolisierungen Vgl. AI 352. Vgl. z. B. PR 76. 114 Vgl. z. B. FR 16: »Es gibt unzweideutige Hinweise dafür, dass bestimmte Vorgänge und Verhaltensweisen bei bestimmten tierischen Wesen vom Vorblick auf einen Zweck und von der Absicht, diesen Zweck zu erreichen, bestimmt sind.« 112

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werden wir später sehen: Gefühl in der menschlichen Erfahrung ist »nicht bloße Emotion [...]. Es ist interpretiertes, integriertes und in höhere Kategorien des Empfindens umgewandeltes Gefühl« (PR 305) – aber dennoch Gefühl. Finden wir auch für diese Phänomene eine Basis in Whiteheads Metaphysik? Ja, denn bereits die ontologisch primären Erfahrungsakte erweisen sich als Akte des Fühlens und des Wertens und »die emotional strebenden Elemente in unserer bewussten Erfahrung [sind] gerade diejenigen [...], welche den grund­ legenden Elementen aller physischen Erfahrung am ähnlichsten sind« (PR 305).

3.1.5 Erfahrungsakte als Akte des Fühlens und des Wertens Wird der Vorgang der Bezugnahme aufeinander, sprich das gegensei­ tige Erfassen oder die Erfahrung, genauer betrachtet, so stellt sich heraus, dass dieser Vorgang nicht neutral abläuft. Erfahrungsakte nehmen eine Wertung der erfahrenen Umwelt vor und erweisen sich damit auch als emotional geleitet. Um den Vorgang der Wertung zu verstehen, müssen verschie­ dene Phasen in der Entstehung wirklicher Einheiten betrachten werden. In einer ersten Phase der Selbstkonstituierung findet eine reine physische »Rezeption der wirklichen Welt in ihrer Gestalt als objektives Datum für die ästhetische Synthese« (PR 392) zu einer neuen wirklichen Prozesseinheit statt. In einer zweiten Phase werden die erfassten Informationen dann auch subjektiv begrifflich empfunden, das heißt – da »die subjektive Form eines begrifflichen Empfindens […] die Wertung« (PR 453) ist – bewertet.115 Hier wird neben dem physischen Erfassen eine weitere Weise des Erfassens oder Empfindens erwähnt: das begriffliche Empfinden. Dieses wird im Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit genauer erläutert, hier nur bereits soviel: Das begriffliche Empfinden führt zur Selbstgestaltung der Wirklichkeitselemente in ihrem Werden. Es ist genau jener Akt, der dafür zuständig ist, die aus den Relationen ererbten Informationen mit einer Wertung zu versehen und auf Basis dieser Wertung in einer ganz bestimmten subjektiven, individuell unterschiedlichen Weise zu strukturieren. 115 Zum begrifflichen Erfassen und Werten siehe auch PR 453/454 »Kategorie der begrifflichen Wertung«.

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3.1 Die Welt als Organismus

Die subjektiven Formen von begrifflichen Empfindungen führen dabei den Faktor der Wertung auf folgende Weise ein: Jede Informati­ on berührt das Gesamtgefüge des Prozesses in einer besonderen Weise und wird in einer besonderen Weise in den Gesamtprozess der Selbstwerdung integriert, sie wird ein Gestaltungselement der subjektiven Form einer actual entity. Nachdem in einer frühen Phase des Prozesses alle Informationen neutral aufgenommen worden sind, erfährt jede Information im begrifflichen Empfinden dann eine Aufoder Abwertung.116 Hiermit wird die Relevanz der gewerteten Infor­ mation für das in diesem Prozess sich entwickelnde subjektive Ziel jeder actual entity festgelegt. Dies ist das Empfinden der Information als Wertempfinden, das in der Erfüllung eines subjektiven Ziels, im Gestalten einer ganz bestimmten Form mündet. »Ein wirkliches Einzelwesen zu sein heißt, ein Eigeninteresse zu haben. Dieses Eigeninteresse ist ein Empfinden der Selbstwertung« (RM 76/77) und aus dem Prozess der Selbstwertungen heraus erwächst die Selbst­ gestaltung der Wirklichkeitselemente.117 Man kann konstatieren: Am Ende ist »der Organismus [...] die Einheit eines auftauchenden Werts« (SMW 130). Fetz fasst die Konzeption der Wirklichkeit als Geschehen von Akten des Wertens folgendermaßen zusammen: »Für Whitehead ist die Werthaftigkeit ein der Wirklichkeit als solcher und im Maße ihres Wirklichseins innewohnender Charakterzug« (Fetz 1981:194). Eine Wertung ist also kein auf eine bestehende Wirklichkeit angewandter Prozess, ein Wert ist keine externe oder nachgeordnete Kategorie – sondern es gilt, dass »Wert [...] Bestandteil der Wirklichkeit selbst« (RM 76) ist und die innere Realität jeder wirklichen Einheit bestimmt.118 Wertung ist dabei mit Blick auf die Erfüllung subjektiver Ziele (einer actual entity genauso wie eines Menschen oder einer Gesellschaft) in einem gewissen Sinne zweck­ orientiert, dennoch ist sie nicht instrumentalistisch als reine Mittel­ nutzung zu verstehen. Etwas hat zwar einen Wert, wenn es einen pragmatischen Nutzen aufweist und dazu dient, Ziele zu erreichen – diese Ziele können aber auch in einem reinen intensiven Genuss oder in einer Art Selbstzufriedenheit liegen. Zudem wohnt auch die Vgl. PR 452/453. Vgl. AI 326. 118 Vgl. MT 167: »Alle Letztbegründungen existieren nur in bezug auf das Erzielen von Wert. […] Das Wesen des Lebens liegt darin, dass es um seiner selbst willen existiert, um seinen Wert im Inneren zu erlangen.«. 116

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Dynamik der Zwecksetzung dem ontologischen Prozess selbst inne, eine Wertung ist kein Mittel zum Zweck in Sinne eines externen Instruments. »Begriffliche Wertung führt kreative Zwecksetzung ein« (PR 453), indem sie Informationen so verarbeitet und gestaltet, dass diese in einer abschließenden subjektiven Einheit harmonisch zusammenfinden. Auf ontologischer wie auf anthropologischer Ebene ist etwas wertvoll für Entwicklungsprozesse, wenn es zur Steigerung der Intensität des Fühlens beiträgt und letztlich ein umfassendes, auch Dissonanzen integrierendes harmonisches Ganzes erzeugt. Solch intensiv-integrativ wirkende Ganze tragen neben dem Gelingen der Selbstentfaltung durch die Gestaltung subjektiver Ziele übrigens auch dazu bei, den innersten Charakter und Motor des gesamten Universums zu enthüllen und zu exemplifizieren. Eine wichtige Rolle spielen dabei Whiteheads Verständnis von Ästhetik und Harmonie sowie der elementare Zusammenhang von Wertung und Ästhetik im Mikrokosmos und im Mesokosmos. Beide Bereiche, so Whitehead, bergen die Geheimnisse des Makrokosmos und lassen in ihren Ent­ faltungen das Urprinzip des Universums, das unter »Kreativität« subsumiert wird, erahnen.119 Den Prozess der Gestaltung des subjektiven Ziels durch die Integration entsprechend bewerteter Erfahrungen, die in einer fortge­ schrittenen Phase der Selbstwerdung als privat empfunden werden, nennt Whitehead auch eine »ästhetische Synthese« (PR 392); sein Verständnis von Wertung impliziert also gewisse »ästhetische« Ele­ mente. Ästhetik wird hier als metaphysischer Begriff eingeführt, der lediglich einen Aspekt des Wertens hervorhebt: Kriterium für die positive Wertung von Ereignissen ist ihre Relevanz für den Selbstwerdungsprozess in dem Sinne, in dem sie es ermöglichen, ein intensiv empfundene, höhere Harmonie herzustellen. Ziel der meta­ physischen Selbstvollendung einer actual entity ist die »Einheit des ästhetischen Genusses« (PR 392). Whitehead spricht von ästhetis­ chen Erfahrungen und von ästhetischem Genuss also zur Illustration der inneren Struktur des Vorgangs subjektiver Wertungen. Ästhetik als anthropologisches Phänomen kann zwar in einem gewissen Sinne als Exemplifikation dieser Erfahrungen verstanden werden – eine eigene Theorie der Ästhetik auf mesokosmischer Ebene aber ist überhaupt nicht intendiert, so dass die Kritik mancher Autoren, 119

Vgl. Kapitel 3.3 und Kapitel 5.4 dieser Arbeit.

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3.1 Die Welt als Organismus

Whitehead äußere sich zu unsystematisch über den Ästhetikbegriff, um in diesem Bereich ernst genommen zu werden, ins Leere läuft.120 Blicken wir zum besseren Verständnis des whiteheadschen Uni­ versums noch einmal in einige Details: Actual entities treffen eine Entscheidung darüber, in welcher Art die erfahrene Umwelt in den Selbstwerdungsprozess jeder entstehenden actual entity eingeht. In einem ersten Schritt wird von jedem werdenden Prozess jeder Aspekt des Universums neutral erfasst, allerdings zielt jeder werdende Pro­ zess in seinem Fortlauf auf die Erfüllung einer ganz individuellen subjektiven Form ab. Die Gestaltung dieser subjektiven Form erfolgt in einem zweiten Schritt durch die Sortierung und Verarbeitung der erfassten Informationen vergangener actual entities zu einer neuen Erfahrungseinheit. Hier erfolgt eine individuelle Differenzierung: Die Daten werden entweder positiv oder negativ erfasst, sie werden bewertet. Ihnen wird entweder Relevanz für die weitere Konkretisie­ rung des Erfahrungsprozesses beigemessen oder eben nicht. Positiv erfasste Aspekte des Universums werden als förderlich für die Erfül­ lung des Eigeninteresses bewertet und gehen in die weitere Charak­ terisierung des Erlebensvorgangs ein. Diese positive Erfahrung wird von Whitehead als emotional bezeichnet, sie ist ein »Empfinden«, ein »feeling«.121 Im emotionalen Empfinden eines Prozesses wird also ausgedrückt, »in welchem Sinne andere Dinge Bestandteile in seiner eigenen Beschaffenheit sind« (PR 113). Die Bestimmung von Erfahrungen als emotional heißt bei Whitehead also, dass diese von Interessen, Wertungen und einer immanenten Teleologie durchwirkt sind. Einem in der Erfahrung negativ erfassten Aspekt des Univer­ sums hingegen wird durch eine bestimmte Negation, durch ein ›In diesem Fall so nicht‹, der Einfluss auf das Werden des Prozesses versagt. Von negativ erfassten Informationen gilt, dass sie aus dem Empfinden eliminiert werden122, »ein negatives Erfassen hält sein Datum davon ab, Einfluss auf die fortschreitende Konkretisierung der erfassten Informationen zu nehmen, aus der sich die Einheit des Subjekts ergibt« (PR 67). Indem »der Hintergrund zurückgewiesener 120 Siehe zum Beispiel Berve (2015:72ff), Wiehl 1986. Auch Sherburne, der sich positiv über »the ability of Whitehead's system to generate fruitful concepts for aestehtic analysis« (1961:8) äußert, weckt irrige Erwartungen, wenn er von einer »whiteheadschen Ästhetik« in Form einer Ästhetiktheorie spricht. 121 »Feeling« wird in PR mit »Empfinden«, in AI mit »Fühlen« übersetzt. 122 Vgl. PR 66.

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Daten die emotionale Stimmung der ganzen Schwingung mitprägt« (MT 126), wird in einem gewissen Sinne auch »der Ausschluss zu einem positiven Faktor« (MT 126). Der emotionale Einfluss des zurückgedrängten Hintergrundes auf die sich im Vordergrund konsti­ tuierende wirkliche Einheit wird im Zusammenhang mit dem Wesen der Harmonie eine Rolle spielen. Erfahren bedeutet also Fühlen – und Fühlen bedeutet Werten. In diesem Sinne vertritt Whitehead eine Konzeption von Wertung als emotional geprägt.123 Jeder reale Vorgang ist in seinem Werden »eine komplexe Ein­ heit, die als ein Prozess analysiert werden kann, in dem die einzelnen Komponenten durch Akte des Fühlens erfasst werden« (FR 29). Emo­ tionalität ist eine Konsequenz aus der Wertung der erfassten Umwelt bezüglich ihrer Bedeutung für das eigene Werden. Whitehead hat hier Emotionalität ausgehend vom Alltagsverständnis des Begriffs zu einem metaphysischen Fachterminus umfunktioniert, mit dem er sowohl das menschliche Erleben als auch dessen Fundament, die ontologische Wirklichkeit der Welt, beschreiben kann. »Feeling« ist damit auch ein Beispiel für Whiteheads Anliegen, eine philoso­ phische Terminologie zu entwickeln, in welcher das Alltagsverständ­ nis anthropomorph anmutender Begriffe als ein Spezialfall der mit dem Wort als metaphysischem Terminus beschriebenen Grundphä­ nomene gesehen werden kann. »Empfinden« oder »Fühlen« wird also über den anthropozentrischen Zusammenhang hinaus erweitert und als Fachterminus in seine Organismusphilosophie übertragen: 123 Auch Goheen betont die Bedeutung von Werten als Grundlage von Whiteheads metaphysischer Beschreibung der Wirklichkeit in seiner Theorie des Fühlens: »Thus the theory of feeling, which is developed by Whitehead as a description of the nature of events, may find its most important application in the interpretation of value« (Goheen 1951:459). Genauso wenig, wie die Bezeichnung der Bewertung subjektiver Erfahrungen als »ästhetische Erfahrungen« dazu führen sollte, von Whitehead eine elaborierte Kunst­ ästhetik zu erwarten, sollte die Konzeption von Werten als emotional geprägt nicht dazu verführen, hieraus auf menschlicher Ebene voreilig eine whiteheadsche emotio­ nale Wertetheorie oder gar eine Ethik des reinen Gefühls abzuleiten oder zu erwarten. Whitehead weist in seinen Betrachtungen des menschlichen Miteinanders zwar darauf hin, dass man in vielen Phänomenen die ontologischen Grundprinzipien verwirklicht findet und dass diese auch relevant sind, um uns selbst, die Dynamik menschlicher Gemeinschaft und die Zivilisationsentwicklung richtig begreifen zu können – doch zum einen gelangt er darüber hinaus gar nicht zur Formulierung einer expliziten Wertetheorie und zum anderen ist in seiner Metaphysik und daraus resultierend in seinen anthropologischen Ansätzen die Welt des Gefühls nicht komplett ohne die Welt der Vernunft, so dass rationale Elemente nicht fehlen dürfen.

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3.1 Die Welt als Organismus

»Die organistische Philosophie spricht der ganzen wirklichen Welt ›Empfinden‹ zu« (PR 330). Wenn die wirklichen Beziehungen zwi­ schen den Erfahrungsvorgängen nun Empfindungen sind, so kann »›Empfinden‹ [...] als Synonym für ›Wirklichkeit‹ verwendet« (RM 79) werden.124 Hampe fasst zusammen, »dass sowohl die anorgani­ sche wie die organische Natur in ihren räumlichen und zeitlichen Gestalten Ausdruck von emotionalen Mustern und Zwecksetzungen ist« (Hampe 1998:102). Auf diese Weise, so wird es in Kapitel vier die­ ser Arbeit dargelegt, gelingt es Whitehead, den Dualismus zwischen subjektiver Erfahrung des Menschen und der erfahrenen objektiven Natur zu überwinden: Mensch, Natur und die kleinsten ontologi­ schen Einheiten fußen alle in demselben Prozess der fühlenden und wertenden Bezugnahme. Feelings sind nichts, was den Menschen von der Natur unterscheidet – feelings sind in jedem Moment der Welt enthalten.125 »Nicht als bedeutungslose, vereinzelte Elemente, sondern als lebendige Elemente mit einer eigenen Wertqualität tragen sie zur Bildung anderer Einheiten, Einheiten der Wahrnehmung und anderer Verhaltensweisen bei« (Wiehl 1986:143). Whiteheads Idee der emotionalen Wertung wird uns daher in späteren Kapiteln dieser Arbeit auch im Zusammenhang mit der Wirkung von Symbolen im gesellschaftlichen Kontext sowie im Zusammenhang mit der Bedeutung des Ästhetischen für die Onto­ logie und die Alltagswelt begegnen. Unser konkretes Alltagserleben findet zwar auf einer Ebene statt, die in einem gewissen Maße vom basalen Wirklichkeitsgeschehen abstrahiert – aber dennoch finden wir laut Whitehead bei genaueren Hinsehen und -spüren immer wieder Fingerzeige auf metaphysische Prinzipien darin geborgen. In Vgl. PR 94/95: »Ein Empfinden gehört der positiven Gattung des Erfassens an. Es gibt zwei Arten des Erfassens: die positive und die negative. […] Ein negatives Erfassen ist der endgültige Ausschluss jener Einzelheit von einer positiven Einwirkung auf die reale innere Beschaffenheit des Subjekts selbst. […] Ein positives Erfassen lässt die positive Einwirkung auf die reale innere Beschaffenheit des Subjekts endgültig zu. Diese positive Form der Einbeziehung wird Empfinden jeder Einzelheit genannt.« Vgl. PR 330: »Die organistische Philosophie spricht der ganzen wirklichen Welt,Emp­ finden‹ zu.« Auch Hampe (1998:99) pointiert: »Die Wirklichkeit ist daher für Whitehead grund­ sätzlich emotional verfasst.« 125 Ähnlich wird diese Interpretation u. a. auch von Schaper (1961:268) for­ muliert: »Whitehead considered the feeling of actual things by actual things to be absolutely basic to more high-grade and specialized experience. […] Feeling components and emotional tones are of the essence of our contact with real things.« 124

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

der Tatsache beispielsweise, dass wir häufig Erfahrungen in poetische Worte kleiden, um sie besser ausdrücken zu können, sieht Whitehead einen deutlichen Beleg für seine Annahme der Wirklichkeit als Wert­ haftigkeit an: Wenn wir uns an die poetische Wiedergabe unserer konkreten Erfah­ rung erinnern, dann sehen wir, dass das Element des Werts, des Wert­ vollseins, des Werthabens, des Selbstzwecks und der Eigenständigkeit bei keiner Erklärung eines Geschehnisses als das konkreteste wirkliche Etwas vergessen werden darf (SMW 114).

Über die Wertung verstanden als das Zulassen oder Ausschließen von Gestaltungsmöglichkeiten im Werden der Welt entsteht diese in ihrer ganz spezifischen Ausprägung. Diese Charakterisierung erhält die gesamte Welt durch die jeweils individuelle Gestaltung der kleins­ ten ontologischen Einheiten sowie deren Zusammenschlüssen zu komplexeren wie Gegenständen oder Lebewesen – die Welt als Ganzes setzt sich also zusammen aus vielen verschiedenen, in sich stimmigen Werteinheiten. Jede Wertung ist ein relativer Vorgang, der mit der Integration jeweils spezifischer Informationen in ein bestimmtes Ereignis erfolgt. Werte gelten daher nicht absolut für das ganze Universum, sondern innerhalb individueller Ereignisse. Baren Wert losgelöst von einzelnen Ereignissen gibt es nicht.126 Aller­ dings ist es möglich, dass bestimmte Ziele und Formen von vielen unterschiedlichen Prozesseinheiten oder Gesellschaften angestrebt werden – und auch das Universum selbst strebt nach einer Wertung all seiner einzelnen Bestandteile, um insgesamt in ein harmonisches Ganzes hineinzufließen. Nun gibt uns die Bestandsaufnahme bei Whitehead also eine Art Selbstentfaltungsdrang einzelner Prozesseinheiten, die Entstehung größerer Gesellschaften von Prozesseinheiten nach bestimmten Mus­ tern sowie die (Selbst-)Gestaltung der Welt nach gewissen Harmo­ nie-Idealen – woher aber nehmen Individuen und Welt überhaupt die Ideen, was sie werden könnten?

Vgl. RM 79. Vgl. SMW 114.

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3.2 Ewige Ideen: So kommt Neues in die Welt

3.2 Ewige Ideen: So kommt Neues in die Welt 3.2.1 Ewige Ideen als Qualifikation der Wirklichkeit Fiktive Unterhaltung zweier Gesellschaften von actual entities: »Immer wieder nur die alte Leier… ich würde mich so gerne selbst verwirklichen… aber mit etwas ganz Neuem!« – »Mach es, dir stehen alle Möglichkeiten offen!« – »Ich weiß aber nicht, in welcher Form, mir fehlt noch die richtige Idee!« – »Hör doch auf dein Gefühl!« In Whiteheads Ontologie gibt es eine weitere für die Struktur der Welt relevante Klasse: die »zeitlosen Gegenstände« oder »ewi­ gen Ideen« (»eternal objects«)127. Diese haben als »pure potentials« den Status der Möglichkeit, in den Selbstwerdungsprozessen der Ereignisse verwirklicht zu werden. Sie sind zu verstehen als Quali­ fizierungspotenziale: Aspekte »derjenigen zeitlosen Gegenstände wie Farben, Klänge, Gerüche, geometrische Eigenschaften […], die für die Natur erforderlich sind und nicht aus ihr auftauchen« (SMW 125), durchdringen, qualifizieren und charakterisieren wirkliche Ereignisse. Ewige Ideen sind bei Whitehead also die Möglichkeiten, wie etwas sein kann; es sind Qualifizierungen, Formen der Bestimmtheit wie beispielsweise ›rot‹, ›rund‹ oder ›lustig‹, die in den Werdensprozess, in die Erfahrung und Entstehung von Prozesseinheiten einbezogen werden können.128 Können ist hierbei der wesentliche Punkt: Im Gegensatz zum Erfassen aller Prozesseinheiten müssen ewige Ideen nicht notwendigerweise in eine Prozesseinheit einbezogen werden. Auch wenn die charakteristischen Elemente eines vergangenen Ereig­ nisses durch ein sich aktuell konkretisierendes Ereignis aus dessen Entstehungsprozess in dem Sinne eliminiert werden können, dass sie für dieses keine relevante Rolle spielen, so muss doch aufgrund 127 In dieser Arbeit werden für das »eternal object« zumeist die Begriffe »Formbestim­ mung« oder »ewige Idee« verwendet. 128 In herkömmlichen Substanz-Akzidenz-Schemata gedacht, machen die eternal objects die Eigenschaften konkreter Gegenstände aus und es wäre etwa zu klären, ob diese als klassische Universalien und, wenn ja, ob in einem realistischen oder einem nominalistischen Sinne zu verstehen seien – oder ob sie als individuelle Eigen­ schaften den »Tropen« der analytischen Ontologie entsprechen. Da Whitehead auf ontologischer Ebene das Denken in Substanz-Akzidenz-Schemata ablehnt, werden diese Fragen, soweit relevant, innerhalb seiner prozessontologischen Konzeption geklärt. Einzelne Verweise z. B. auf Platons »Ideen« als Universalien, auf Aristoteles‘ »Substrat«, aber auch auf seine »Form« sind in diesem Sinne wohl eher als Analogien und Denkanregungen denn als Autoritätsargumente zu verstehen.

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

des Relationsprinzips der Wirklichkeit jedes Ereignis »durch irgendein einfaches kausales Empfinden, sei es auch noch so vage, trivial und unterdrückt« (PR 437), in die Konkretisierung des neuen Ereignis­ ses eingehen. Bei zeitlosen Gegenständen hingegen besteht diese Notwendigkeit nicht, daher nennt Whitehead sie auch »reine Poten­ tiale«: »Die Wirklichkeiten müssen empfunden werden, während die reinen Potentiale abgewiesen werden können« (PR 438). Bei einer unendlichen Menge ewiger Ideen leuchtet es ein, dass gar nicht jede von einem Ereignis positiv erfasst werden kann, da diese sich teilweise ausschließen: Wie sollten in einem Ereignis gleichzeitig die Ideen ›rund‹ und ›eckig‹ verwirklicht werden? Bisher unbeantwortet steht die Frage im Raum, wie es denn sein kann, dass trotz der notwendigen Verbindung eines Ereignisses zu allen anderen Ereignissen nicht ein einziger undifferenzierter, ewig wiederholter Wirklichkeits-Einheitsbrei entsteht. Die formgebenden ewigen Ideen liefern die erklärende Antwort, wie sich denn wirkliche Einzelwesen identifizieren und voneinander abgrenzen. Jede Prozess­ einheit konstituiert sich in ihrem Selbstwerdungsprozess als sie selbst mit ihrem ganz eigenen Charakter durch eine bestimmte Auswahl der zu realisierenden Möglichkeiten. Auf diese Weise grenzt sie sich auch von anderen Prozesseinheiten ab. Um ihre Individuierungsfunktion in Realisierungsprozessen zu betonen, nennt Whitehead die ewigen Ideen auch »Formen der Abgegrenztheit«.129 Während jedes wirkliche Einzelwesen mit der Gesamtheit der wirklichen Welt in Verbindung steht, bezieht es also von den möglichen Formen nur eine begrenzte Auswahl in seinen Selbstwerdungsprozess ein. Durch diese Auswahl der Form, die wirkliche Einzelwesen jeweils treffen, definieren sie sich und grenzen sich damit in ihrer Identität von anderen wirklichen Einzelwesen ab. Actual entities sind also dadurch individuell sie selbst, dass sie jeweils unterschiedliche Formen mit unterschiedlicher Gewichtung und Relevanz realisieren.130 Erklärt das physische Erfassen vergangener Prozesseinheiten das Werden und Fortdauern sowie die Stabilität der Welt, so erklärt das PR 61: »Die Abgegrenztheit einer Tatsache beruht auf ihren Formen.« Vgl. PR 84: »Der Begriff ›abgrenzendes Charakteristikum‹ steht im engen Zusammen­ hang mit dem aristotelischen Begriff der ›substantiellen Form‹.« 130 Vgl. PR 280: Actual entities »unterscheiden sich in ihrer Realisierung von Potentialen voneinander.« Vgl. PR 99: »Die bestimmte Abgegrenztheit jeder Wirklichkeit ist Ausdruck einer Auswahl unter diesen Formen.« 129

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3.2 Ewige Ideen: So kommt Neues in die Welt

Erfassen der unverwirklichten Möglichkeiten neben der Individualität auch, wie Veränderung und Neuigkeiten entstehen. Während die alleinige Erfahrung bereits entstandener wirklicher Einzelwesen (inklusive der in diesen bereits realisierten formgebenden Ideen) nur Repetitionen zur Folge hat, garantiert die Erfahrung und Realisierung jeder bisher unverwirklichten Möglichkeit Veränderung und quali­ tatives Fortschreiten, denn durch die Realisierung neuer Möglichkei­ ten kommt Veränderung in den Komplexen aus einzelnen Vorgängen zustande und auf diese Weise verändert sich auch die Welt als Gesamtheit.131 Wohlgemerkt können sich nur größere Einheiten ver­ ändern, denn einzelne »wirkliche Einzelwesen vergehen, aber sie ver­ ändern sich nicht; sie sind, was sie sind« (PR 86). Veränderung gibt es deshalb nur auf der komplexeren Ebene des Zusammenschlusses vieler Vorgänge zu funktionellen Einheiten – vor allem auf der Ebene lebendiger Organismen –, bei denen es durch die Integration einzel­ ner neuer Möglichkeiten zu strukturellen Verschiebungen in der Gesamtheit kommt. Beim Zusammenschluss vieler Prozesseinheiten zu einer funktionalen Gesellschaft werden bestimmte Muster phy­ sisch erfasst und immer wiederholt – dies ist die Beständigkeit inner­ halb der Gemeinschaft von actual entities über die Zeit. Andere Mus­ ter werden durch die Integration neuer Potenzialverwirklichungen modifiziert – dies ist das, was auf einer abstrakten Ebene als Veränderung wahrgenommen wird. Also: Jede einzelne actual entity in einem komplexen Zusammenschluss vieler Prozesseinheiten ist, was sie ist, und verändert sich nicht – Veränderung wird nur in der abstrakten Betrachtung dieses Zusammenschlusses von außen dadurch wahrgenommen, dass in der Aufeinanderfolge der actual entites in dieser Gesellschaft einzelne Prozesseinheiten im Kontrast zu ihren Vorgängern neue Ideen verwirklichen und damit das Muster dieser Gesellschaft modifizieren.

3.2.2 Beschaffenheit der ewigen Ideen Wie sind die eternal objects nun genauer beschrieben und wie erfolgt deren Erfassen? Whitehead vergleicht seine eternal objects mit Pla­ tons Ideen, in ihrer Funktion als die in den Erlebensakten zu verwirk­ Vgl. PR 125: »Veränderung beschreibt die Abenteuer der zeitlosen Gegenstände in dem sich entfaltenden Universum wirklicher Dinge.«

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

lichenden Formen sind sie für ihn »dasselbe wie die Formen Platons« (FR 30). Als ewige, der Realität Form gebende Elemente erinnern Whiteheads zeitlose Gegenstände in der Tat an platonische Ideen oder auch scholastische Universalien.132 Whitehead wie Platon siedeln diese Ideen ihrem Ursprung nach nicht in der sinnlich wahrnehm­ baren Realität an. In der Wirklichkeitskonzeption allerdings gibt es bei diesen beiden Philosophen einen wesentlichen Unterschied. Zwar nennt Whitehead seine eternal objects explizit auch Ideen Platons, doch die weitere Darlegung seiner Wirklichkeitskonzeption erweist sich als nicht ohne Weiteres mit Platons Kosmologie vereinbar. These ist, dass Whiteheads Metaphysik – zum Teil entgegen Whiteheads eigenen Äußerungen – auch vom Geist Aristoteles' inspiriert ist. Pla­ ton spricht seinen Ideen als absoluten, zeitunabhängig bestehenden Urbildern den ontologisch primären Rang der eigentlichen Wirklich­ keit zu, während den Gegenständen der sinnlich wahrnehmbaren Welt lediglich ein durch Teilhabe an den Ideen abgeleiteter Wirklich­ keitsstatus zukommt.133 Whiteheads ontologischem Prinzip zufolge hingegen konstituiert sich die Wirklichkeit als Wirkendsein aus dem gegenseitigen Erfassen konkreter Prozesseinheiten, der actual enti­ ties. Die Realität der Alltagswahrnehmung, die bei Platon als Abbild der Wirklichkeit des Ideenhimmels verstanden wird, ist auch bei Whitehead abgeleitet – aber in einem ganz anderen Sinne: In seiner Kosmologie wird die Realität der Sinneswelt als Abstraktion von der konkreten, aus kleinsten Ereignissen zusammengesetzten Wirklich­ keit definiert. Ganz im Gegensatz zu den platonischen Formen wird den ewigen Ideen nicht der Status der Wirklichkeit zugesprochen: Ohne ein Erfasstwerden durch ein wirkliches Einzelwesen und die Integration in dessen Selbstwerdungsprozess sind sie »die reinen Potentiale des Universums« (PR 280), nicht aber Entitäten der Wirk­ lichkeit.134 Dieser Status der ewigen Ideen, obwohl auch platonische Formen genannt, entspricht, da ihnen keine Wirklichkeit als eigene Neben dem Vergleich mit den Ideen Platons beschreibt Whitehead die Funktion der eternal objects in FR tatsächlich auch als die gleiche wie die der »Universalien der Scholastiker« (FR 30). 133 Vgl. z. B. Platon Phaidon 78d ff, Phaidros 247c. 134 Auch im Zusammenhang mit Symbolisierungen betont Whitehead deren Bedeu­ tung für den Menschen als Bindeglied zur prozesshaften kausal-wirksamen Wirk­ lichkeit. Wie sich diese Emphase dazu verhält, dass er in seiner frühen und seiner späten Phase die Hoffnung andeutet, es könne ein Symbolsystem logischer Zeichen entwickelt werden, das gerade nicht die emotionale Basis der Wirklichkeit, sondern 132

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3.2 Ewige Ideen: So kommt Neues in die Welt

Entität zugesprochen wird, eher der Idee als Formprinzip bei Aristo­ teles. Wie bei Aristoteles, so hat auch bei Whitehead die Wirklichkeit ontologische Priorität vor der Möglichkeit. Eternal objects haben eine für den Fortschritt der Wirklichkeit wichtige Funktion, sind anders als die actual entities selber jedoch nur existent, nicht aber wirklich. Diese Unterscheidung ergibt sich konsequent aus Whiteheads Definition von Wirklichsein als Wirkendsein. Es gibt ewige Ideen – aber nicht im Sinne eines wirklichen Seins, sondern eben im Modus der Mög­ lichkeit. »Der metaphysische Status eines zeitlosen Gegenstandes ist [...] der einer Möglichkeit für eine Wirklichkeit« (SMW 186). Da eine prozessuale Wirklichkeit den Ausschluss alles Statischen mit sich bringt, Ewigkeit aber Statik impliziert, können die eternal objects erst durch das Eingehen einer Beziehung zu einem Prozess Wirklichkeit erlangen. Nur durch dieses Eintreten in das Werden konkreter Vor­ gänge kann eine ewige Idee beschrieben werden, schließlich muss auch hier gemäß dem ontologischen Prinzip gelten, dass alle Wirk­ lichkeit in Relation zu den Prozesseinheiten entsteht. Losgelöst von der wirklichen Welt ist ein zeitloser Gegenstand reines Potenzial und nur durch die Realisierung in einem konkreten Vorgang qualifiziert er die Wirklichkeit.135 Qualitäten wie Farben oder Gerüche sind also nicht als etwas ihnen Äußerliches von den Ereignissen trennbar. Hat ein zeitloser Gegenstand seinen Seinsgrund in der Beschaf­ fenheit eines vergangenen wirklichen Ereignisses, so kann er durch dessen Erfasstwerden in ein neues Ereignis eingehen. Wie aber kann ein werdendes Ereignis eine ganz neue, bisher noch nicht in ver­ gangenen Ereignissen verwirklichte Idee erfassen und verwirklichen – ohne gegen das ontologische Prinzip zu verstoßen? In einem uranfänglichen Prozess, der als erste Exemplifikation des Strebens nach Selbstverwirklichung und Formgebung (das Whitehead auch Kreativität nennt) anzusehen ist, werden alle Potenziale erfasst und begrifflich gewertet. Diesen Prozess nennt Whitehead Gott in sei­

die formalen Strukturen hinter der Welt zu erkennen gibt, könnte in einer eigenen Untersuchung geklärt werden. 135 Vgl. RM 70: Die Ideen sind Formen der Bestimmtheit, »die an sich selbst nicht wirklich sind, die aber nach irgendeinem Verhältnis der Relevanz in allem Wirklichen exemplifiziert werden.« Vgl. Fetz (1981:195): »Wirklich werden die an sich zeitlosen Wertmöglichkeiten nur im zeitlichen Prozess, in dem sie zu ihrer Verwirklichung aufgerufen werden.«

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

ner »Urnatur«.136 Über das Erfassen dieses Ur-Wertungsprozesses können dann die darin bereitgestellten Möglichkeiten von aktuellen Ereignissen in ihren eigenen Selbstverwirklichungsprozess einbezo­ gen werden. Durch die Konzeption von formgebenden Elementen als reine Potenziale für konkrete Verwirklichungsprozesse von Dingen in der Welt in Verbindung mit dem ontologischen Prinzip gelingt es Whitehead, ewige Ideen einzuführen, ohne einen platonischen Wirk­ lichkeitsdualismus vertreten zu müssen. Wirft man im Zusammenhang mit der Formbestimmung einen genaueren Blick auf die aristotelische Unterscheidung von Akt (ἐνέργεια oder ἐντελέχεια) und Potenz (δύναμις), so kann Whiteheads Konzeption der reinen Potenziale allerdings auch nicht als pur aristo­ telisch aufgefasst werden. Kann der whiteheadsche Verwirklichungs­ akt möglicher Formen innerhalb einer Entität als aristotelische Ent­ elecheia verstanden werden, so gelingt es aber nicht vollkommen, die aristotelische Dynamis mit Whiteheads reiner Potenzialität gleichzu­ setzen. Aristoteles verortet das Formprinzip, das realisiert werden kann, als intrinsisch in den Prozessen einer Entität angesiedelt, die dann zur Formverwirklichung führen. Die Dynamis ist also als Dispo­ sition zur Formverwirklichung in den wirklichen Dingen selbst bereits angelegt und kann daher eher mit der whiteheadschen Kreativität als Grundprinzip des Strebens nach Neuem und mit dem daraus resultierenden subjektiven Ziel jeder Prozesseinheit denn mit den reinen Potenzialen an sich verglichen werden. Als in den einzelnen wirklichen Dingen angesiedelt ist bei Aristoteles auch die noch nicht realisierte Form Teil der Wirklichkeit – bei Whitehead jedoch nur Teil des Existenten und erst in ihrer konkreten Realisierung durch eine Prozesseinheit Teil der Wirklichkeit. Whiteheads Wirklichkeits­ konzeption nimmt damit eine Position zwischen der Platons und Aristoteles' ein.

3.2.3 Erfassen der ewigen Ideen Bisher kennen wir als theoretisch analysierbaren Vorgang in einem Ereignis das Erfassen anderer Ereignisse, auch physisches Erfassen genannt. Im Gegensatz zu diesem physischen Erfassen von Vor­ Vgl. PR 79: »Die uranfänglich erschaffene Tatsache ist die unbedingte Wertung der ganzen Vielheit von zeitlosen Gegenständen. Dies ist die ›Urnatur‹ Gottes.«

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3.2 Ewige Ideen: So kommt Neues in die Welt

gängerprozessen nennt Whitehead das Erfassen der Ideen »psychi­ sches«, »geistiges« oder auch »begriffliches Erfassen«. Den Terminus »begriffliches Erfassen« (oder synonym »begriffliches Empfinden«) definiert Whitehead als das »Empfinden eines zeitlosen Gegenstan­ des in der primären metaphysischen Eigenschaft als ein ›Objekt‹, das heißt, es ist das Empfinden seiner Fähigkeit, eine realisierte Determinante des Prozesses zu sein« (PR 438). In jeder Prozessein­ heit finden mit unterschiedlicher Gewichtung jeweils stets physische und begriffliche Erfassensvorgänge statt. Die Aktivitäten einer actual entity, die als begriffliches Erfassen verstanden werden können, nennt Whitehead zusammenfassend auch Aktivitäten des geistigen oder psychischen Pols137 in einer actual entity. Während also der physische Pol die Aufnahme rein kausal weitergegebener, vererbter Informatio­ nen bedeutet, sind mit dem psychischen Pol die geistigen Operationen des Bewertens und Rearrangierens von Informationen sowie die des Erfassens und Bewertens der Formbestimmungen gemeint.138 Würde man den Prozessablauf zum Zweck einer genaueren Analyse theoretisch in einzelne Phasen aufteilen, so wäre der primäre Schritt begrifflichen Erfassens jener, der sich auf die physischen Wirkungen der vorangegangenen actual entities bezieht. Hierbei verarbeitet eine Prozesseinheit die zuerst physisch erfassten Informa­ tionen aus einer anderen Prozesseinheit durch begriffliche Wertung im geistigen Pol weiter: Sie filtert aus den erfassten Informationen zum Beispiel eine dort verwirklichte Formbestimmung heraus und betont deren Bedeutung, oder sie trifft die konzeptuelle Entscheidung, in welcher Art und Weise eine physisch erfasste Information in die Formgebung des eigenen Entstehungsprozesses integriert werden soll. Diese Weise der begrifflichen Wertung eines unmittelbaren phy­ sischen Erfassens139, die »begriffliche Reproduktion des physischen Empfindens« (PR 72), nennt Whitehead »hybrides Erfassen«.140 Rein physisches Erfassen ist eine reine Wiederholung alter Daten in einem werdenden Ereignis. Hybrides Erfassen hingegen bedeutet 137 Die Begriffe »geistiger Pol«, »psychischer Pol« und »begrifflicher Pol« werden synonym verwendet. 138 Auf die Begriffe des geistigen und des physischen Pols wird im Kapitel vier dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Überwindung des Körper-Geist-Dualismus näher eingegangen. 139 Vgl. PR 71: »Kategorie der begrifflichen Wertung«. 140 Vgl. PR 554: »Ein hybrides Erfassen hat als sein Datum ein früheres Ereignis, das mit Bezug auf ein begriffliches Erfassen objektiviert wird.«

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

ein geistiges Empfinden von physischen Elementen der erfassten Einzelwesen im werdenden Ereignis und die konzeptuelle Integration in die Struktur des eigenen subjektiven Ziels. Hier sind also physische und psychische Aktivitäten unauflöslich miteinander verschlungen und operieren Hand in Hand. Nun kann, wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, in einem Zusammenschluss einander ähnlicher Ereignisse aber auch eine Mus­ terveränderung durch das Erfassen gänzlich neuer Ideen erzeugt werden. Erfolgt der Erfassensvorgang auf diese Weise, sprich als rein begriffliches Erfassen, bei dem die jeweiligen Potenziale bisher noch nicht in die physisch erfassten Vorgängerprozesse einbezogen worden sind, dann kategorisiert Whitehead sie als Teil der »begrifflichen Umkehrung«141 – weil im Kontrast zu den Vorgängerprozessen in der entstehenden Prozesseinheit etwas wirklich Neues realisiert und in diesem Bereich das Bisherige verändert, ja gewissermaßen »begriff­ lich umgekehrt« wird. Rein physisches, rein begriffliches und hybrides Erfassen erfol­ gen auf ontologischer Ebene in der Entstehung einzelner Wirk­ lichkeitsatome und ihrer Zusammenschlüsse. Da alle komplexeren Phänomene der Realität wie Gegenstände, Lebewesen und mit Bewusstsein ausgestattete Menschen zwar jeweils besondere Merk­ male aufweisen, aber nach dem ontologischen Prinzip stets auf die genannten Erfassensformen zwischen actual entities zurückgeführt werden können, sind Mensch und Natur unterschiedliche Teile der gleichen Wirklichkeitsbasis. Mit der Theorie der begrifflichen, physi­ schen und hybriden physischen Empfindungen versucht Whitehead daher eines seiner dringlichsten Anliegen zu realisieren: Die Vermei­ dung der seiner Ansicht nach fatalen cartesischen Trennung von Körper und Geist und damit einhergehend die Entwicklung einer Erkenntnistheorie, in der eine Brücke zwischen erkennendem Subjekt und erkannter Natur gespannt werden kann. Wie es Whitehead gelingt, in seiner Metaphysik physische und psychische Elemente zu etablieren, ohne in die Falle eines psychophysischen Dualismus zu tappen, wird im Kapitel 4.2 dieser Arbeit näher erläutert. Als äquivalenten Terminus zum »begrifflichen Erfassen« nennt Whitehead den Terminus »Streben«, da dieser seiner Ansicht nach den neutralen Begriff »Erfassen« mit dem »Bedeutungsreichtum vertrauter Tatsachen« (PR 82) auffüllt und damit eine intuitive 141

Vgl. PR 71: »Kategorie der begrifflichen Umkehrung«.

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

Anschaulichkeit des Gemeinten herzustellen tauglich ist. Mit dem Begriff des Strebens verbunden sind Assoziationen des Drangs nach einer bestimmten Zielerreichung und der Umsetzung bisher nicht verwirklichter Möglichkeiten. Genau dieses Streben und diese Ziel­ orientierung geschehen durch den Prozess des begrifflichen Erfassens: Neue Potenziale werden erfasst und verwirklicht. Begründet liegt dieses Streben im Urprinzip der Kreativität.

3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt 3.3.1 Allgemeines zur Kreativität und Whiteheads Kreativitätsbe­ griff Aus dem verwesenden Laub des letzten Herbstes sprießen diesen Herbst Pilze, Leonardo da Vinci erfindet den Hubschrauber, Antoni Gaudí entwirft die Sagrada Família, die Nachbarskinder bauen sich aus Stühlen und Decken eine Räuberhöhle, zwei Passanten unterhal­ ten sich in Gebärdensprache, Schumann komponiert ein Lied. Das Universum summt. Es ist das Summen der Kreativität. Die Annahme (einer philosophischen Interpretation) von Krea­ tivität als grundlegendem Prinzip funktioniert bei Whitehead als das Verbindungsmoment, über welches einzelne Elemente seiner Metaphysik, Aspekte der Natur- und Gesellschaftsphilosophie sowie ein entsprechendes Verständnis von Philosophie und Wissenschaft gemäß den genannten Ansprüchen an eine Kosmologie in Einklang gebracht werden sollen. Auch die menschliche Erfahrung künstleri­ schen Schaffens, zivilisatorischer Umbrüche und der Existenz von etwas Göttlichem wird mit Whiteheads Kreativität in seine Metaphy­ sik einbezogen. Von der Basis eines kreativen Universums aus be­ trachtet, gewinnen die bisher erläuterten Aspekte noch einmal einen weiteren Verständniszusammenhang und es gelingt die Überleitung zum Alltagsleben, das der Mensch mittels Symbolisierungen kreativschöpferisch gestaltet. Ein gelungenes »kreatives«, symbolisierendes Leben, so Whiteheads Konzeption, führt den Menschen über die Gestaltung seiner direkten Lebensumgebung hinaus zur Erfahrung des Aufblitzens einer Harmonie in der Welt, einer Harmonie, in der sich die Einzelnen und das Ganze, die Details und das Allgemeine, der Verfall und der Fortschritt auf eine neue Weise vereinen – und

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

menschliche Symbolisierungen sind zu verstehen als Exempel einer universalen Kreativität. Üblicherweise wird Kreativität als anthropologischer Begriff verstanden, der vor allem in der Psychologie als Aspekt des mensch­ lichen Geistes und im sozio-kulturellen Kontext als Faktor für Inno­ vationen vor allem im Spannungsfeld von Technik und Gesellschaft eine Rolle spielt. Sowohl Personen, als auch Prozesse und deren Ergebnisse können als kreativ bezeichnet werden. Kreativität bezieht sich also entweder im individualistischen Sinne auf die Fähigkeit schöpferischen Denkens und Handelns oder im gesellschaftlichen Sinne auf das Hervorbringen neuer, origineller Problemlösungen, Techniken oder Produkte. Kreatives Schaffen kann zwar zielorientiert ausgerichtet sein, ist dabei aber nicht starr auf einen eindeutigen Weg fixiert, sondern erfolgt spielerisch, flexibel und undogmatisch. Es versucht, sich unvoreingenommen von theoretischen und prakti­ schen Leitlinien auf die Umwelt einzulassen, eingefahrene Denkund Handlungsweisen zu durchbrechen und einen aktuellen Umgang mit der jeweiligen Situation zu erzeugen. Kreativität wird verbunden mit Fantasie, spielerischer Freude, Intuition, Originalität, lateralem Denken, Innovation und Inspiration. Als Initiation der modernen Kreativitätsforschung, die ihren Ausgangspunkt in der Psychologie hat, kann der 1950 vom damaligen Präsidenten der amerikanischen Psychologen-Gesellschaft Guilford veröffentlichte Aufsatz über Crea­ tivity angesehen werden.142 In der Kunst- und Literaturtheorie spielt die Kreativität eine Rolle bei der Frage nach der Aufgabe und dem Status künstleri­ schen Schaffens zwischen Mimesis und Schöpfung: Während der Kunstbegriff in der Tradition der Antike künstlerisches Schaffen als abbildende oder nachbildende Interpretation der bestehenden Welt versteht, gewinnt der Aspekt der Kreativität über die Vorstellung des Künstlers als schöpferischer Genius im 18. Jahrhundert und über das dadaistische Kunstverständnis einer Dekonstruktion der Welt und ihrer Neuschöpfung im Kunstwerk an Bedeutung für die gegenwärtige Kunsttheorie. Whitehead nennt Kunst ein wesentliches Charakteris­ tikum zivilisierter Gesellschaften.143 Auch bei wissenschaftstheoreti­ schen Überlegungen spielt der Aspekt der Kreativität zunehmend eine Rolle, wenn es um die methodologische Frage nach der Funktion 142 143

Siehe Guilford 1950. Vgl. AI 465–475.

106 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

(natur)wissenschaftlicher Arbeitsweisen und den Prozess der Theo­ riebildung geht. In engem Zusammenhang mit Kreativität steht hin­ sichtlich der praktischen Anwendung von Forschungsergebnissen und der Entwicklung neuer Technologien der Begriff der »Innovation«. Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zusammenhang mit dem Aspekt der Kreativität ist unter anderem Gegenstand in dem von Paul Feyerabend (1984) herausgegebenen Aufsatzband Kunst und Wissenschaft144 Nach Whitehead führt die ausschließliche Verwendung etablier­ ter Methoden in den Naturwissenschaften zu eingrenzenden Dog­ men, die Innovation verhindern. Daher ist Kreativität als grenzüber­ schreitendes Moment notwendig, um den vielfältigen Möglichkeiten des Fortschritts gerecht zu werden. Für Whitehead besteht der Zusam­ menhang zwischen Kunst und Wissenschaft darin, dass sie Exem­ plifikationen des Kreativitätsprinzips sind, die der Mensch als Teil des gesamten kreativen Universums im aktiven Umgang mit seiner Umwelt geschaffen hat. Beiden liegt das Streben nach einem höheren Ganzen zugrunde.145 Ableitungen aus dem lateinischen Verb creare in der Bedeutung ›kreieren‹, ›erschaffen‹ oder ›schöpfen‹ lassen sich vor allem in der mittelalterlichen Schöpfungsmetaphysik finden. Das Schöpferische impliziert hier Gott als Erschaffer der Welt, als Ursache einer creatio. Kreaturen sind demnach die von Gott geschaffenen Wesen, seine Geschöpfe. Die Welt der mittelalterlichen Schöpfungsmetaphysik ist daher kreativ im passiven Sinne eines Von-Gott-geschaffen-Seins; die creatio erfolgt hier ex nihilo und ist ein theologischer Begriff, der vor allem auch in der Philosophie des Thomas von Aquin eine wichtige Rolle spielt. Bei Whitehead ist die Welt auch eine creatio – aber eine aktive selbstschöpferische creatio ex mundo.146 In dieser Funktion tritt die Kreativität als Zusammenhang von Zweckursache und Wirkursache in den actual entities auf, durch den etwas Neues aus der Verbindung von Selbstverursachung und Weitergabe der bereits geschehenen an die zukünftige Welt entsteht. Das »›Weitergeben‹ [wird] zu ›Kreativität‹ in der lexikalischen Bedeutung des Verbs creare, ›hervorbringen, erzeugen, produzieren‹« (PR 393). Kreativität als Feyerabend 1984. Vgl. AI 474: »Wissenschaft und Kunst bilden gemeinsam ein vom Bewusstsein gelenktes Streben nach Wahrheit und Schönheit.« 146 Vgl. PR 393. 144 145

107 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

ein aktuell im Alltag häufig verwendetes Schlagwort ist sprachge­ schichtlich ein relativ junger Begriff, der sich im Zusammenhang mit der Entwicklung subjektivistischer und psychologischer Perspektiven etabliert hat. Die erste Verzeichnung von »creativity« findet sich im 1909 erschienenen Supplementband zum »Century Dictionary and Cyclopedia«147, einem der größten Wörterbücher der englischen Sprache, in der ersten Edition herausgegeben 1889–1891 von »The Century Company of New York«. Allerdings wird dort lediglich auf den synonymen Begriff »creativeness« verwiesen, der als »the character or faculty of being creative or productive; originality«148 umschrieben wird. Whitehead verbindet nun die moderne Perspektive auf die Krea­ tivität mit der Tradition der Metaphysik und zeigt sich für Fetz auf diese Weise »als der Metaphysiker der Aktualität, der griechisches und mittelalterliches Denken mit einem zeitgenössischen Problem verbindet« (Fetz 1981:208). Die Assoziationen zur Kreativität aus dem Alltagsverständnis wie auch in abgewandelter Form die Idee einer creatio schwingen im Hintergrund des Terminus »Kreativität« bei Whitehead mit – doch wie schon bei den bisher erläuterten Termini trifft deren Interpretation im Rahmen des Common Sense oder der Philosophiegeschichte nur einen speziellen Ausschnitt aus einer wesentlich allgemeineren Bedeutung des Begriffes innerhalb des Schemas, das die metaphysischen Grundlagen der Welt erfassen soll. Bei Whitehead ist die Kreativität, wie viele Begriffe seiner Philosophie, »aus einem primär anthropologischen Begriff zu einem metaphysischen Universalbegriff geworden« (Fetz 1981:208). Kreati­ vität birgt sowohl Momente von Originalität und Fantasie, allerdings ohne Reduktion auf den anthropologischen Bereich, als auch die Idee des Erschaffens, allerdings nicht im Sinne der Schaffenskraft eines externen Schöpfers. Kreativität ist der zentrale kosmologische Begriff, der alle anderen Perspektiven auf die Welt in sich vereint. Bezüglich der Funktion der Kreativität im metaphysischen Schema sind zwei Verwendungsschwerpunkte zu differenzieren: Als Element der »category of the ultimate« ist Kreativität in logisch-systematischer Funktion das erste Prinzip, das Erklärungsprinzip, das nicht weiter 147 The Century Dictionary Online Vol. XI, Page 0312, .http://www.global-lan­ guage.com/century/, Abruf vom 6.1.2022. 148 The Century Dictionary Online Vol. II, Page 1339, http://www.global-lan­ guage.com/century/, Abruf vom 6.1.2022.

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

von einem anderem ausgesagt wird, sondern von dem alles andere nur eine Exemplifikation ist. In dieser Rolle kann sie auch als das immanente Selbsterschaffungsprinzip der Wirklichkeit angesehen werden. Durch die Kreativität als »principle of novelty« erlangt die Welt ihre Wirkung als kreatives Fortschreiten zu Neuem – wobei das Neue häufig auch für Dissonanzen zum Bestehenden sorgt, im Ide­ alfall aber irgendwann alle Dissonanzen in eine universale höhere, ja vollkommene Ordnung und Harmonie integriert. In AI entspricht diesem Charakter der Kreativität übrigens der »fundamentale Eros, der alle idealen Möglichkeiten verwirklichungsfähig macht« (AI 376) und letztlich »das Vollkommene anstrebt« (AI 441). Im Sinne des principle of novelty ist Kreativität ontologisch-inhaltlich die Quelle des konkreten Fortschritts, die zwar selber keine Form hat, die aber als Prinzip aller fortschreitenden Verwirklichung immer schon zugrunde liegt und die Entwicklung der Welt verantwortet. Hall (1973:25) bezeichnet diese Unterscheidung als die »between ›creativ­ ity‹ as a concept and as the source of a fundamental intuition.« Auch Fetz nimmt eine ähnliche Differenzierung vor, indem er die Kreativität unter dem Aspekt der Miterschaffung des transzendierenden Anderen als »interne extrinsische Relation« und unter dem Aspekt des Selbsterschaffungsprozesses als »interne intrinsische Relation« dar­ stellt.149

3.3.2 Kreativität als »Category of the Ultimate« Nach Whitehead muss es in jeder Philosophie, die nicht mit einem infiniten Erklärungsregress ins Leere laufen will, ein ultimatives Element geben, von dem aber ohne die daraus folgende Welt nichts auszusagen ist, da es nichts Grundlegenderes gibt, wodurch es erklärt werden könnte.150 Dieses ultimative, »zur Natur der Dinge gehörige[] metaphysische[] Prinzip« (AI 418), das nur vermöge der es charakte­ risierenden Welt wirklich ist, heißt im spekulativen Schema White­

Vgl. Fetz 1981:207ff., insbes. 214/215. Vgl. Hall 1973:23: »Examples of such ultimates in philosophic theory are Plato‘s ›Form of the Good‹, Aristotle‘s ›Primary Matter‹ and Spinoza‘s ›God‹.«

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

heads »creativity«151 und ist die »Universalie der Universalien.«152 »Es kann kein Einzelwesen losgelöst vom Prinzip der Kreativität gedacht werden« (PR 393) – andersherum kann auch die Kreativität nicht losgelöst von den Einzelwesen gedacht werden, »denn die Kreativität ist unlösbar mit ihren Geschöpfen verbunden« (RM 71). Mit dem letztkategorischen Begriff der »Kreativität« »as a concept« (Hall 1973:25) wird also der Urgrund aller einzelnen Aspekte und deren Zusammenhang ausgedrückt. Der wesentliche Unterschied zur Aussage des ontologischen Prinzips, das als Legitimationsprinzip innerhalb der kosmologischen Ordnung die wirklichen Ereignisse als die Gründe der Welt benennt, liegt wie bereits erläutert darin, dass dieser Urgrund Kreativität eben nicht als eigenständige Entität, sondern als ein umfassendes Strukturprinzip zu verstehen ist, das in jedem wirklichen Ereignis individualisiert wird. Nicht zuletzt diese »Wandelbarkeit der Kreativität verbietet es uns, sie als ein wirkli­ ches Einzelwesen aufzufassen. Denn ihr fehlt die Eigenschaft der Bestimmtheit« (RM 71). Als nicht weiter bestimmbare Letztkategorie nimmt Kreativität im logischen Sinne die Rolle der aristotelischen ersten Substanz ein: »Das Konzept der inneren Relationen verlangt den Begriff der Substanz als die Aktivität [in PR: »Kreativität«], welche die Beziehungen zu ihrem auftauchenden Charakter syntheti­ siert« (SMW 149). Das Prinzip der kreativen Aktivität durchdringt als analoges Grundprinzip ähnlich dem aristotelischen Seinsbegriff alle Phänomene der Welt und ist daher als initiatorisches Moment für den Vorgang des Erfassens anderer Prozesseinheiten und der eternal objects zu verstehen, durch den sich neue Prozesseinheiten syntheti­ sieren. Ein Beweis dieses absoluten Prinzips ist nicht möglich, da der Beweis selbst seinerseits hinter dieses Prinzip gehen und auf noch grundlegendere Prinzipien gestützt sein müsste. Eine Begründung kann daher gewissermaßen nur von innen, durch Aufweis von Mög­ lichkeitsbedingungen und Erklärungskraft der betreffenden Position erfolgen. Whiteheads elementare Begriffe lassen sich weder durch höhere Universalien noch durch von der konkreten Wirklichkeit abstrahierende Analysen erklären. So kohärent und logisch ein Erklä­ rungsschema auch strukturiert ist – an diesem Punkt hilft konsequen­ Vgl. PR 38: »In der organistischen Philosophie wird dieses Elementare ›Kreativi­ tät‹ genannt.« 152 Vgl. PR 62.

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

terweise »nur noch Intuition weiter« (PR 63).153 Zwar kann es daher für diesen Begriff auch keine eigentliche Definition geben, denn als Letztbegriff kann er eben nicht weiter analysiert, sondern nur durch das, was aus ihm folgt, exemplifiziert werden – aus diesen Exemplifi­ kationen können dann allerdings Rückschlüsse auf die Existenz und Wirkungsweise dieses Prinzips gezogen werden. Kreativität selbst ist uncharakterisiert, dennoch charakterisiert sie die elementaren Sachverhalte, die aus ihr resultieren. In der Art, wie sich die von ihr charakterisierte Wirklichkeit zeigt, ist Kreativität also durchaus zu erkennen. Aussagen über Kreativität zu treffen, ist zwar nie in einem absoluten Sinne, aber über den Bezug zu ihren Qualifizierungen dennoch möglich.154 Könnte man vom Zusammenhang mit der Welt abstrahieren und die Kreativität getrennt als einzelnes Phänomen betrachten, so könnte man annehmen, sie sei aufgrund ihrer formalen Unbestimmtheit »eine andere Darstellung der aristotelischen Materie« (PR 79) und eine Möglichkeit für die Wirklichkeit, denn sie ist ja der generelle Aktualisierungsdrang, durch den und in dem Wirklichkeit als indi­ vidueller Erlebens- und Verwirklichungsprozess immer wieder neu entsteht. Faktisch und ihr wesentlich kann man die Kreativität aber nicht von der Welt trennen, denn sie zeigt sich stets nur durch die Prozesse des Werdens, das heißt in der reinen Aktualität. Zu erkennen ist sie nur in ihren Entäußerungen, den wirklichen Ereignissen, da sie selber ein nur durch ihre konkreten Qualifikationen beispielhaft belegbarer, nur über ihre Exemplifikationen erkennbarer »Begriff von höchster Allgemeinheit« (PR 80) ist. Obwohl sie ein selbst formloses Urprinzip darstellt, ist sie also im Gegensatz zur aristotelischen Materie gerade nicht Potenzialität, sondern reine Aktualität, »aus ihr wird [...] die Vorstellung von passiver Rezeptivität [...] getilgt; sie enthält nur die Vorstellung von der Aktivität, die auf der objektiven Unsterblichkeit der wirklichen Welt beruht« (PR 79/80). Im Gegen­ satz zu den ewigen Ideen, die als die Formen der Bestimmtheit eines Ereignisses die reinen Potenziale bereitstellen, ist sie die Bedingung der Möglichkeit einer Wirklichkeitserfahrung, in welcher sie dann

Vgl. MT 89: »Auf der Grundvoraussetzung von Evidenz basiert alles Verstehen.« Vgl. PR 80: Zwar kann Kreativität »nicht charakterisiert werden, da alle Eigen­ schaften spezieller sind als sie. Aber Kreativität wird immer unter Bedingungen vorgefunden und als bedingt beschrieben.« 153

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sichtbar wird.155 Die These Conneleys, dass »creativity may be viewed as an eternal object« (Conneley 1981:7), verfehlt also völlig die hier erläuterte Idee der Kreativität, denn als eine »Universalie der Universalien« ist sie eben nur durch ihren logischen Status der forma­ len Unbestimmtheit und nicht in der Rolle einer Form der Formen zu verstehen. Der kreative Drang ist der Grund für eine mögliche Formbestimmung der Wirklichkeit und nicht deren Formbestimmung selbst. Wäre Kreativität ein eternal object, so wäre nicht zu erklären, wie eine Prozesseinheit ohne dieses innere Streben den ersten Schritt zum Erfassen dieses eternal objects vollziehen sollte – gäbe es aber eine Erklärung, die diesen Schritt möglich machte, so wäre Kreati­ vität ein überflüssiges Element, denn dann gäbe es keinen Grund, warum ein wirkliches Ereignis nicht auch alle weiteren Informatio­ nen ohne diese erfassen sollte. Schließlich hat Whitehead auch die Kreativität und die ewigen Ideen in seinem Kategorienschema nicht unbegründet verschiedenen Kategorien zugeordnet; die Kreativität wird unter der Kategorie des Elementaren gefasst, die »das allgemeine Prinzip [formuliert], das in den drei spezielleren Kategorientafeln vorausgesetzt wird« (PR 61), eine ewige Idee aber unter die Kategorie der Existenz.156 Der Vorschlag von Fetz hingegen, die Kreativität als ἐνέργεια des Seienden, als Verwirklichungsdrang, als »Seins-Akt« (Fetz 1981:210) aufzufassen, wird der Konzeption der Kreativität besonders dadurch gerecht, dass diese in der Interpretation als SeinsAkt formal unbestimmt und dennoch konkrete Aktualität sein kann. Ein Argument für die strukturelle Durchdringung der wirklichen Ereignisse mit Kreativität ergibt sich aus der bisher erläuterten Kon­ struktion der Welt als Prozess und dem ontologischen Prinzip: Wenn alle Wirklichkeit Werdensprozess ist, so kann man die Kreativität als Urprinzip nicht von den wirklichen Ereignissen selber abtrennen, denn abgetrennt von den Prozesseinheiten wäre Kreativität dann ein statischer Urgrund. Dies aber kann sie, da sie wirklich ist, auf­ grund des Prozesscharakters der Wirklichkeit nicht sein. Whitehead 155 Vgl. AI 331: »Das Schöpferische [d. h. die Kreativität] bewirkt die Aktualisierung der Potentialität und dieser Prozess der Aktualisierung ist der Erlebensvorgang.« Fetz (1986:211, Fußnote 15) nennt die Kreativität aufgrund ihrer reinen Aktualität und ihrer Funktion als ein Seins-Akt mit Verweis auf das esse bei Thomas von Aquin auch eine actualitas omnium actuum. PR 81: Es »bedingt das unmittelbare Ereignis die Kreativität, um die [...] Realisierung [...] in der Zukunft zu ermöglichen.« 156 Vgl. PR 61ff.

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

will seine Kreativität gerade nicht als eine statische erste Substanz verstanden wissen. Da sie quer durch alle Wirklichkeit innerhalb aller wirklichen Ereignisse läuft, ist es nicht möglich, Kreativität in eine lineare Abfolge aus eindimensionalen Erklärungsgründen einzureihen. Kreativität ist nicht jenseits von konkreten wirklichen Ereignissen zu finden – sie durchdringt alles. »Die Kreativität, die überall in der Wirklichkeit universell vorhanden ist« (PR 306), muss also in der Funktion eines Analogbegriffs verstanden werden. In der Struktur als Analogbegriff ist Kreativität im Sinne des Seinsbegriffs bei Aristoteles zu verstehen.157 Das ontologische Prinzip spricht vom Werdenden – das Prinzip der Kreativität spricht vom Werdensdrang, der selbst niemals erscheint und sich doch in allem zeigt, was wirklich wird und geschieht. Die Kreativität »ist keine äußere Instanz mit ihren eigenen jenseitigen Zielen« (PR 406), sondern das schöpferische Moment im Werdensprozess der wirklichen Ereignisse. Sie ist kein Einzelwesen, sie ist in den Einzelwesen. In der abgesicherten Formulierung ›das Eigenschöpferische‹ der wirklichen Prozesseinheiten »kann man auch die [...] Implikation eines transzendenten Schöpfers vermeiden« (AI 418). Als Analogbegriff kann Kreativität aber auch in den wirklichen Ereignissen nicht gedacht werden als ein unabhängiges kleines Prin­ zipmännchen, das dort drin sitzt und schöpferisch tätig ist, denn sie ist nur durch den Selbstgestaltungsprozess zu erkennen und ohne die­ sen nicht individuierbar. Indem Whitehead Kreativität als analogen Begriff verwendet und ihm die Immanenz und intrinsische Motiviert­ heit in jedem einzelnen Wirklichkeitstropfen zuspricht, garantiert er die kohärente Konstruktion einer prozessualen Wirklichkeit.158 In diesem Sinne der Selbsterschaffung spricht Fetz von der Kreativität als einem »internen intrinsischen Prinzip« (Fetz 1981:215). Van der Veken (1986) hingegen weckt in seinem Aufsatz »Kreativität als allge­ meine Aktivität« die Vorstellung einer aktiven Schöpferwesenheit, die durch die Immanenz einer substantiellen Kreativität in den wirklichen Vgl. Fetz 1981:210. Auch die Monaden bei Leibniz, die Whitehead ja als eine Inspirationsquelle für die Konzeption seiner wirklichen Einzelwesen nennt, haben ein solches inneres Prin­ zip, das man »tätige Kraft« oder »Streben« nennen kann. Vgl. Leibniz, Monadologie § 15: »Die Handlung des inneren Prinzips, das die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zu einer anderen vollzieht, kann Appetition genannt werden.« Von Streben spricht Whitehead im Zusammenhang mit Kreativität explizit zum Beispiel in PR 80/81. 157

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Ereignissen als Gott Gestalt annimmt.159 Dieser Vorstellung muss widersprochen werden. Die Kreativität als uranfängliches Verwirk­ lichungsprinzip aller Möglichkeiten wird von Whitehead zwar als »Gottes Charakterisierung des kreativen Aktes« (PR 456) bezeichnet, dennoch ist diese Charakterisierung zwar als Teil der Realisierungs­ prozesse, aber darin nicht als separierbares Element zu verstehen. Wenn Whitehead den jedem Ereignis innewohnenden ersten form­ verwirklichenden Entäußerungsprozess des kreativen Strebens, durch den sich das Ereignis gestaltet, als Gott bezeichnet, dann ist Gott einfach zu verstehen als das uranfängliche Akzidenz der Kreativi­ tät160 in folgendem Sinne: Gott ist jenes Ereignis, das als primärer umfassender Prozess begrifflicher Wertung das Prinzip der Kreativi­ tät dadurch in jedem Prozess des Universums zum Tragen bringt, dass es alle möglichen Verwirklichungsoptionen in sich vereint – so dass allen anderen Ereignissen mit Erfassen des Gottesereignisses der gesamte Ideenpool zur Umsetzung ihres kreativen Strebens zur Verfügung steht. Als Prinzip einer prozessualen Wirklichkeit bezieht sich Kreativität nämlich nicht direkt auf die reinen Potenziale, da diese aufgrund ihres Status als ewige Formen im Bereich der Existenz nur der statischen Möglichkeit, nicht aber der dynamischen Wirklichkeit zuzuordnen sind. De facto werden sie über das in den Ereignissen wirksame kreativ-göttliche Streben nach einer bestimmten Form mit in die kreativen Prozesse der Wirklichkeit integriert und damit aktua­ lisiert. Im Sinne dieses Strebens zur Selbstbestimmung eines wirkli­ chen Ereignisses als es selbst mittels der Realisierung von Formen, sprich von Möglichkeiten der Abgrenzung, bestimmt Fetz Kreativität als den »Seinsakt von Formbestimmungen« (Fetz 1981:210). Auch als Grundlage für das kreative Erfasstwerden durch zukünftige Ereig­ nisse sind die wirklichen Einzelwesen keine äußerlichen Schöpfer, denn sie konstituieren die Prozesseinheiten der folgenden Welt ja durch eine innere Relationalität zu diesen. Wirkliche Ereignisse sind gleichzeitig in ihrer Selbstkonstitution zweckursächliche und durch ihre Relationen zur Welt wirkursächliche Schöpfungsgeschöpfe. In diesem Sinne als Wirkursache spricht Fetz von der Kreativität als dem internen extrinsischen Prinzip, wie es sich im kreativen Fortschreiten der Welt konkret beobachten lässt. Wir können also sagen, »dass Gott und die wirkliche Welt gemeinsam den Charakter der Kreativität 159 160

Van der Veken 1986:197ff. Vgl. PR 38.

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

für die Anfangsphase der neuen Konkretisierung [jedes Ereignisses] begründen« (PR 447). Die Unbestimmbarkeit der Kreativität in ihrer funktionalen Rolle als Letzt- oder Urprinzip innerhalb des philosophischen Schemas bedeutet also nicht, dass es über eine auf der Annahme eines solchen Prinzips basierende Philosophie nichts mehr zu sagen gäbe, weil sie sich damit vermeintlich gegen Kritik immunisiert, sich gleichzeitig aber auch disqualifiziert, da sie – so ein möglicher, aber unzutref­ fender Vorwurf – tautologisch und mit Leerformeln arbeitet.161 We­ sentlich für den Gehalt und die Funktionalität von Prinzipien ist, dass sie sich als Verallgemeinerungen aus den Beobachtungen der Welt herausbilden und dann, einmal hypothetisch festgestellt und zu einem kohärenten System ausgebildet, ihre Erklärungswirksamkeit bei einer wiederholten Anwendung auf alle Einzelheiten menschlicher Erfahrungstatsachen unter Beweis stellen. Entsprechend Whiteheads Konzeption der Welt als prozessual verkörpert die Kreativität daher das ursprüngliche Prinzip des Werdens. Für Hauskeller erklärt Whiteheads ultimative Kategorie in diesem Sinne »alles, weil sie Werden und Vergehen von wirklichen Einzelwesen im allgemeinsten Charakter der Wirklichkeit in der ›Natur der Dinge‹ gründen lässt« (Hauskeller 1994:82). Gemäß dem Anspruch Whiteheads, die einmal aus Erfahrung und Spekulation entwickelten Grundbegriffe möglichst adäquat in der Welt wiederfinden zu können, eröffnet das Konzept der Kreativität eine wesentliche und umfassende Perspektive auf die Welt, in der sie sich nicht als exzentrischer metaphysischer Spezialfall aus PR, sondern als Grundphänomen auch der Alltagswirklichkeit erweist. Der Begriff der Kreativität ist also keine Leerformel, die nur vage irgendein schöpferisches Prinzip benennt. Mit der Konzep­ tion der Kreativität als die Welt analog durchziehender Verwirkli­ chungsdrang, als Seinsakt von Formbestimmungen »entgehen wir der Gefahr, aus der whiteheadschen Kreativität ein irrationales Moment zu machen, nur weil sie an sich das formlose Moment im whitehead­ schen System ist« (Fetz 1981:210). Jede Aktivität lässt sich auf Kreativität zurückführen – selbst die Repetition gleicher Muster in dauerhaften Gegenständen wie zum Beispiel Steinen findet nur statt durch die ständige Neuerschaffung von wirklichen Ereignissen, die dann fortlaufend dieses gleiche Mus­ 161 Um dies zu vermeiden, betont Whitehead die Notwendigkeit der Erfüllung der genannten Ansprüche an ein philosophisches Schema (Vgl. PR 31ff.).

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ter bilden. Jeder wirkliche Erlebensvorgang entsteht also aus dem Zusammenfügen seines Erlebens anderer Vorgänge als den »realen Potentialen« und bestimmter ewiger Ideen als den »reinen Potentia­ len« zu einer neuen konkreten wirklichen Einheit; angetrieben wird er dabei von der ihm eigenen Zwecksetzung, vom Streben zur Selbst­ gestaltung, angeregt durch den inneren Drang zur Aktualisierung der Potenzialität. Dieses Streben, das »Eigenschöpferische« (AI 418), durch das auch die Welt in fortlaufender Verwirklichung geschaffen wird, ist das elementare metaphysische Prinzip bei Whitehead, die Kreativität.

3.3.3 Kreativität als »Principle of Novelty« Neben dem kreativen Prozess der Selbsterschaffung wird »jeder indi­ viduelle Vorgang durch den schöpferischen Drang, der zu seinem Wesen gehört, transzendiert« (AI 352), das heißt, die Anwendung des elementaren Prinzips auf jede neue Situation, die es hervorbringt, erweitert die Welt um ein konkretes neues Element und überträgt dieses in eine neue Gesamtheit, die sich unentwegt fortentwickelt.162 Die Welt ist dadurch, dass sie wird – und erschafft sich in jedem Moment neu dadurch, »dass ›Werden‹ ein kreatives Fortschreiten ins Neue ist« (PR 74).163 Kreativität bewirkt also als das »Prinzip des Neuen« (PR 62) den Fortschritt und die Weiterentwicklung der Welt. Sie äußert sich in den Erfahrungen wirklicher Einzelwesen und zeigt sich im Werdensprozess, der über die Gegenwart hinaus in die Zukunft wirkt. Durch die Wendung »das Schöpferische« kann man zum Ausdruck bringen, dass jedes Ereignis ein Prozess ist, der nicht nur sich selbst, sondern auch über sich hinaus etwas Neues erschafft. Weil Kreativität eben als analoges und ultimatives Prinzip sowohl jedes einzelnen atomistischen Erfahrungsmomentes als auch der wirklichen Welt als Ganzes zu verstehen ist, verbindet sich jeder individuelle Vorgang in seiner Entstehung durch den ihm immanen­ ten schöpferischen Drang gleichzeitig mit allen anderen individuellen Vorgängen sowie mit dem kreativen Fortschreiten der gesamten Welt. Vgl. PR 62: »Das kreative Fortschreiten ist die Anwendung dieses elementaren Prinzips der Kreativität auf jede neue Situation, die es hervorbringt.« 163 Das Werden liegt der Erklärung nach dem Sein zugrunde. Vgl. PR 66. 162

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

Auf diese Weise stellt »der analoge Kreativitätsbegriff Whiteheads [...] in Rechnung, dass es eine echte Novität geben kann, [...] die ihrem Wesen nach nicht voraussetzungslos ist« (Fetz 1981:225). Ist die Kreativität als Urprinzip an sich nicht zu bestimmen, so sind es aber die konkret feststellbaren Weiterentwicklungen in der Natur wie in der Gesellschaft, durch welche dieses Prinzip auch für den Alltagsmenschen erkannt werden kann, denn nach Whitehead lässt sich diese »aufwärtsgerichtete[] Entwicklungstendenz« (FR 29) der Welt nur als Entäußerung der Kreativität angemessen erklären. Als Prinzip des Neuen begründet die Kreativität »die Lehre des kreativen Voranschreitens, derzufolge es zum Wesen des Universums gehört, dass es in die Zukunft übergeht« (MT 181).164 Nun ist das entstehende Neue aber nicht unbedingt sofort mit einer aufwärtsgerichteten Entwicklung verbunden, die Zukunft ist nicht selbstverständlich rosig. Ein solches Postulat widerspräche der Empirie von Veränderungen, die in Streit, Durcheinander, Auf­ lösung oder Krieg münden oder diese zumindest vorübergehend verursachen. Zudem spiegelt auch grundsätzlich die Annahme eines ständigen Wandels (egal, ob wir ihn nun als Verbesserung oder Verschlechterung einschätzen) nicht vollständig unsere Alltagserfah­ rungen wieder: Manchmal haben wir auch den Eindruck, dass sich über lange Zeit gerade nichts zu bewegen scheint, dass (eher negativ empfunden) Stillstand oder (eher positiv angenommen) Stabilität herrschen. Die erneute Wiederwahl des verhassten Präsidenten, die nie enden wollende Baustelle in der Innenstadt, die immer noch ausbleibende Beförderung, der ewig seltsame Humor des Büronach­ barn, die hartnäckig an den Hüften haftenden Pfunde – dies sind Erfahrungen von Gleichförmigkeit (auf die wir allerdings gerne ver­ zichten würden). Schließlich aber bedürfen wir – um handlungsfähig zu sein, Prognosen zu wagen, Pläne zu schmieden oder auch einfach, um Dinge und Menschen wiederzuerkennen – auch gleichbleibender Umstände und Eigenschaften. Der Stammplatz im Lieblingscafé, die Vorlieben des Ehepartners, die Gültigkeit der Verkehrsregeln, der all­ morgendliche Sonnenaufgang, die Gehaltszahlung am Monatsanfang – all das gewinnt seine Attraktivität und Funktionalität dadurch, dass Vgl. AI 328: »Das Schöpferische dieser Welt ist die pulsende Emotion des Vergehenden, das sich in ein neues, es transzendierendes Faktum stürzt.« Vgl. RM 85/86: »Der schöpferische Prozess lässt sich also in jenem Übergang erkennen, durch den ein bereits wirkliches Ereignis in die Geburt eines anderen [...] eingeht.« 164

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

es sich eben nicht zu verändern scheint. Wie sind in Whiteheads Kreativitätskonzept also einerseits die Erfahrung von Veränderungen, die keinen Aufwärtstrend, sondern Auflösungserscheinungen mit sich bringen, und andererseits die Erfahrung von Stabilität oder Stillstand zu erklären? Kreativität führt tatsächlich auch zu Auflösungserscheinungen. Das liegt alleine schon in ihrem Wesen als Prinzip des Neuen begrün­ det. Der »Drang in die Zukunft« (PR 80) enthält als Streben über das Gegenwärtige hinaus »ein gewisses Ordnung auflösendes, anar­ chisches Moment« (FR 31), denn kreative Weiterentwicklung ist ohne Auflösung oder zumindest Veränderung des Bestehenden nicht mög­ lich. In Phasen starker Umbrüche, in Momenten von Orientierungs­ losigkeit und Chaos mag uns die Notwendigkeit und die darin verbor­ gene Chance solcher Umstände nicht direkt offensichtlich sein – doch Whiteheads Kreativitätsbegriff in seiner gesamten Konzeption bleibt an diesem Punkt nicht stehen, sondern impliziert ein Aufgreifen und Transzendieren, ein Kanalisieren aller Bewegungen. Um das kreative Streben nach einer Differenz, nach etwas mit einer bestimmten Neu­ heit zu bewältigen und zu kanalisieren, gibt es eine Selbstregulations­ kraft, ein strukturschaffendes Ordnungsprinzip, welches verhindert, dass die kreativen Prozesse in Chaos versinken. Dieses dem kreativen Drang immanente Ordnungsprinzip ist die »Vernunft«.165 Vernunft ist der Faktor in der Erfahrung, »der das Anstreben eines Ziels [...] lei­ tet und kritisch korrigiert« (FR 9). Kreativität schließt also als zweite Seite der Medaille immer auch Rationalität im Sinne vernünftiger Ordnung der erfassten neuen Möglichkeiten ein. Ordnende Vernünf­ tigkeit und schöpferische Grenzüberschreitung sind zwei Seiten ein und desselben Prozesses, in dem das Universum sich entäußert. Diese Faktoren sind in jeder kleinsten mikrokosmischen Einheit genauso wirksam wie in mesokosmischen Phänomenen des Lebens oder der Zivilisation.166 Es ist die Rationalität, die sich in der Leitung und kritischen Wertung von Realisierungsoptionen mit dem Ziel einer optimalen Balance zwischen Originalität und Stabilität entäußert. Vgl. FR 31. Vgl. Kapitel 5.4 dieser Arbeit. Mit der Argumentation für die Rationalität als ein Aspekt des fundamentalen Kreati­ vitätsprinzips verbindet Whitehead den Menschen direkt mit der ihn konstituierenden Wirklichkeit, denn mit diesem Prinzip ist die Vernunft des Menschen aus den gleichen Grundstrukturen herzuleiten, wie die vernünftige metaphysische Basis der Welt. 165

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

Rationalität erzeugt das Empfinden unserer Umwelt als geprägt von Stabilität – bei zu viel Stabilität allerdings geht irgendwann das Ele­ ment der Frische verloren und es setzt ein Prozess des ›Schalwerdens‹, der Dekadenz und des Verfalls ein. Aber auch Dekadenz und Verfall, die uns im ersten Moment als vermeidenswert erscheinen, führen optimalerweise zur Auflösung überkommener Ordnungen in einer Weise, die Erneuerungen und Verbesserungen ermöglicht.167 Zusammenfassend lässt sich sagen: Kreativität ist das diversifi­ zierende und gleichzeitig Einheit stiftende Urprinzip, durch welches einzelne Prozesseinheiten zu neuen Prozesseinheiten und zu einem sich entwickelnden Universum zusammenwachsen.168 Die Ereignisse der Wirklichkeit sind zwar voneinander als Viele abgegrenzt, stehen aber dennoch aufgrund ihres relationalen Charakters in notwendi­ ger Verbindung zueinander und zur Gesamtheit der Wirklichkeit. In seinem Werdensprozess synthetisiert ein neues Einzelwesen die vielen erfassten Aspekte der Welt; dadurch, dass es »um seiner selbst willen etwas Individuelles verkörpert, [...] transzendiert es die übrige Wirklichkeit« (PR 175). Es vermehrt gleichzeitig die Vielheit um eins – um sich selbst – und geht in die Einheit des Universums ein, es ist daher überdies »ein Geschöpf [...], das von der Kreativität, die es qualifiziert, transzendiert wird« (PR 175). Das wirkliche Ereignis erfährt also einen Prozess, in welchem es sich als Einheitsbildung des gesamten Universums konstituiert und sich dabei durch seine begriffliche Abgrenzung mittels der Realisierung ideeller Formen als es selbst begreift. Dieser Prozess ist die pulsierende kreative Schwin­ gung zwischen Einzelnem und Universum, zwischen Selbstschöpfung wirklicher Einzelwesen und kreativem Fortschreiten der gesamten Welt.169 »Die ganze Welt wirkt zusammen, um eine neue Schöpfung hervorzubringen« (RM 86) – die Gegensätze der Welt als atomistisch und als Einheit überwinden und bewahren sich gleichzeitig selbst, sie heben sich auf im schwingenden Rhythmus zwischen Selbsterschaf­ Vgl. Kapitel 5.2.1 und 5.4 dieser Arbeit. Vgl. PR 63: »Das elementare metaphysische Prinzip ist das Fortschreiten von einer Getrenntheit zu einer Verbundenheit, wobei ein neues Einzelwesen erschaffen wird, das sich von den in Getrenntheit vorhandenen Einzelwesen unterscheidet.« Es ist also das Prinzip der Kreativität, durch das die Vielen widerspruchslos Eins und um Eins vermehrt werden können. 169 Vgl. PR 121: »Die [von actual entities hervorgebrachte] kreative Aktion ist das Universum, das stets in einer besonderen Einheit der Selbst-Erfahrung eins wird und dadurch die Vielheit erweitert, die das Universum als vieles ist.« 167

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3 Metaphysische Grundlagen für Whiteheads Symbolphilosophie

fung und Weltschöpfung, im Rhythmus der Kreativität.170 Das Wir­ ken des schöpferischen Drangs des Universums in jedem wirklichen Ereignis beginnt mit der Verinnerlichung der in ihm fortwirkenden Vergangenheit und endet mit dem Innewerden seiner selbst als eines in die Zukunft wirkenden Prozesses. Durch ihre Aufgabe als gedoppeltes, universelles wie individuelles Schöpfungsprinzip und die Synthetisierung der Welt als genau dieser fortschreitende und sich selbst transzendierende Integrationsprozess erlangt die Kreativität ihre Rolle als selbst formlose Urform des Universums.171 Der in Selbsterschaffung und kreativem Fortschreiten der Welt entstehende »Schöpfungsprozess ist die Form der Einheit, die das Universum hat« (AI 331). Das Universum ist also die in ständigem Fortschritt begriffene Gesamtheit aller kreativen Prozesse – es »verweigert sich dem todbringenden Einfluss vollständiger Konformität« (MT 124), denn sein Grundprinzip der Kreativität offenbart sich als ἔρος, als lebendiger Drang, für den die Verwirklichung alles dessen, was mög­ lich ist, auch gut werden wird.172 Kreativität als innerstes Prinzip der Selbstverursachung einzelner Prozesse sowie des Universums insge­ samt und als Ansporn zu Neuem dient im Weiteren der Erklärung des Zusammenhangs von Freiheit und Solidarität, zivilisatorischer Fortschritte der Menschheit, der Höherentwicklung der Natur und eines umgreifenden Schöpfungsgeschehens. Momente der Welt wie Telos, Fortschritt, Wert, Harmonie oder Ästhetik beleuchten auf jeder Ebene das Prinzip der Kreativität aus verschiedenen Perspektiven, wobei jeder dieser Aspekte aber untrennbar mit der Kreativität und den anderen Momenten verbunden ist. Aus der Perspektive des Kreativitätsprinzips wird der Blick für die gemeinsame Grundlage von Phänomenen im Alltagserleben geschärft. Auf der mesokosmischen Ebene der Biologie beispielsweise wird mit dem Prinzip des Neuen 170 Vgl. PR 283: »Der kreative Prozess ist rhythmisch: er schwingt von der Öffent­ lichkeit der Vielen zu der individuellen Privatheit und zurück von dem privaten Individuum zu der Öffentlichkeit des objektivierten Individuums. Die erste Schwin­ gung wird von der Zweckursache beherrscht, welche das Ideal ist; die zweite von der Wirkursache, die wirklich ist.« Vgl. MT 125: »Es gibt eine Rhythmizität des Prozesses, wodurch die der Natur immanente Schöpfungskraft natürliche Schwingungen hervorbringt und jede Schwin­ gung wiederum eine natürliche Einheit geschichtlicher Tatsachen bildet.« 171 Vgl. PR 61: »Kreativität liegt allen Formen elementar zugrunde, kann nicht durch Formen erklärt werden und bleibt immer durch ihre Geschöpfe bedingt.« 172 Vgl. AI 511.

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3.3 Kreativität als Momentum Movens der Welt

die Entstehung von Leben und die »aufwärtsgerichtete[] Evolution der lebenden Organismen« (FR 3) erklärt. Höhere Lebensformen sind nach Whitehead darauf eingestellt, ihre Umwelt durch aktives Eingreifen zu verändern und dadurch ihr Bestreben umzusetzen, mit einer gesteigerten Intensität besser zu leben.173 Diese Tendenz zur Höherentwicklung in der belebten Natur ist ein Beispiel für das kreative Fortschreiten der Welt und die Folge des grundlegenden kreativen Prinzips, das Zusammenschlüsse von Prozesseinheiten zu lebendig genannten Gesellschaften hervorbringt. In der Anwendung des Principle of Novelty auf die mesokosmi­ sche Ebene der menschlichen Zivilisation dient die Idee der Kreativität dazu, »die Geschichte der Menschheit im Hinblick auf die ganze Vielfalt ihrer geistigen Erfahrung« (AI 79) als ein kreatives und fortschreitendes »Abenteuer der Ideen« darzustellen und gesellschaft­ liche Umbrüche, die Entwicklung von Technik oder die Entstehung von Kunst und Kultur mit all ihren Symbolisierungen zu erklären. Auch am makrokosmischen Ende von Whiteheads Metaphysik treffen wir auf die Kreativität, hier als Eros des Universums. Das Ineinan­ dergreifen von primären Erfahrungen im Mikrokosmos, menschli­ chem Alltag im Mesokosmos und Entfaltung des Universums im Makrokosmos finden wir im »Prinzip vom Wesen der Harmonie« erläutert.174 Es vertieft aus einer weiteren Perspektive Whiteheads Vorstellung vom inneren Charakter des Kreativitätsprinzips und ver­ deutlicht seine Folgen. Die Erfüllung des Prinzips vom Wesen der Harmonie ist maßgeblich für den Erfolg jeglicher Symbolisierungen, vor allem aber für den Erfolg von gesellschaftlichem Fortschritt und künstlerischem Umgang mit der Welt verantwortlich und öffnet uns eine Tür zur kosmischen Tiefe der Wirklichkeit. Bevor wir nun zur Kreativität bei der Schaffung von Symbolisierungen der menschlichen Kulturpraxis kommen, soll als Grundlage dafür zuerst die Rolle von Symbolisierungen in der menschlichen Erkenntnispraxis herausgear­ beitet werden. Begeben wir uns daher jetzt zuerst auf mesokosmischer Ebene in die Welt der alltäglichen menschlichen Erfahrung.

Vgl. FR 9. Dieses »Prinzip vom Wesen der Harmonie«, das Whitehead in AI 486ff. einführt, liest sich als vertiefende Ergänzung zum Kreativitätsprinzip aus PR. Vgl. hierzu auch Kapitel 5.4.1 dieser Arbeit.

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis: Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und Realität

4.1 Die Ausgangslage Einerseits wird in diesem Kapitel herausgearbeitet, dass und wie Whiteheads wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Ausfüh­ rungen als Dialog und kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Erkenntnistheorien stattfinden. Whitehead bietet Alternativen zu einigen seiner Ansicht nach einflussreichen, aber irrigen philosophi­ schen Theorien über die menschliche Wahrnehmung der Welt. Diese Alternativen sollen drei von ihm ausgemachte Problempunkte der Epistemologie lösen und sein Konzept der menschlichen Alltagser­ fahrung als ontologisch fundierter Symbolisierungsaktivität nimmt bei diesem Lösungsversuch eine wesentliche Rolle ein. Folgende Fallstricke sollen umgangen werden. Erstens: Der cartesische Sub­ stanzdualismus sowie Kants Lehre von der subjektiv wahrgenom­ menen Welt, die durch die Kategorien des Verstandes objektiviert wird, erzeugen eine Kluft zwischen Mensch und Natur sowie eine Solipsismus-Falle. Statische Substanz-Akzidenz-Schemata und die damit einhergehende Aufteilung der Natur in erkennenden Geist und erkannte Natur sollen überwunden werden. Dies erfolgt durch die Integration geistiger und physischer Elemente bereits auf meta­ physischer Basis. Zweitens: Die sensualistische Wahrnehmungslehre schneidet mit einer Überbetonung der Sinneswahrnehmung wesent­ liche Bereiche der menschlichen Erfahrung ab.175 Diese Überbetonung der Sinneswahrnehmung soll relativiert werden. Hierfür unternimmt Whitehead eine Erweiterung der Begriffe »Erfahrung«, »Wahrneh­ 175 Vgl. PR 292. Vgl. AI 459: »Die Vorstellung, dass rein qualitative Sinneseindrücke den Inhalt unseres Erlebens und das Fundament unserer Erfahrung bilden, wird durch nichts in unserer unmittelbaren Anschauung gerechtfertigt.«

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

mung« und »Bewusstsein« und konzipiert die Sinneswahrnehmung von Alltagsdingen als abgeleitet aus anderen Wahrnehmungswei­ sen.176 Drittens: Die psychologische Lehre von der Kausalität als Phänomen der Gewohnheit macht jegliche Zusammenhänge ontologisch zu Beliebigkeiten. Der Vernachlässigung von Kausalursächlichkeit in der Epistemologie, wie Whitehead sie als einen der kardinalen Fehler Lockes und Humes ansieht, soll entgegengewirkt werden. Zu diesem Zweck betont Whitehead in seinem naturalistischen Ansatz die Genese unserer Wahrnehmungen aus Prozessen, denen die Kausalität der organistischen Wirklichkeit immanent ist. Andererseits untersucht dieses Kapitel, wie Whitehead seinen eigenen wahrnehmungstheoretischen Ansatz gestaltet, der als Ablei­ tung der Realität des menschlichen Alltags aus der metaphysischen Wirklichkeit angelegt ist. Um nicht nur »die vielfältigen Aspekte unserer Erfahrung in eine widerspruchsfreie Relation zueinander« (PR 21) zu stellen, sondern auch »die philosophischen Konzeptionen einer realen Welt mit der Welt der täglichen Erfahrung in Einklang« (PR 293) zu bringen, muss er eine Erklärung für unsere Wahrneh­ mungserfahrungen, unser Erkennen von Dingen der Alltagswelt und unseren Umgang mit diesen – einschließlich der Entwicklung gesellschaftlicher und kultureller Phänomene – liefern. Als Schlüssel­ begriff für die Funktionsweise unserer Wahrnehmungserfahrung von Alltagsgegenständen wird hierbei die symbolische Referenz heraus­ gestellt. Wenden wir uns also nun im Hinblick auf die menschliche Erfah­ rungswelt Whiteheads Diskussion mit der Philosophiegeschichte, der Aufhebung des Dualismus', der Unterscheidung von Erfahrung, Wahrnehmung, Sinneswahrnehmung und Bewusstsein sowie der menschlichen Symbolisierungsaktivität als Erkenntnispraxis zu.

4.1.1 Whiteheads »Vertrauen in den positiven Wert der philosophischen Tradition« Whitehead bezieht sich neben Platon immer wieder ausdrücklich auf Descartes, Locke, Hume und Kant und interpretiert diese trotz teil­ weise deutlicher Kritik »im Vertrauen auf den positiven Wert der phi­ 176 »Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit« und »Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit« (Vgl. z. B. SY 76).

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4.1 Die Ausgangslage

losophischen Tradition« (PR 26) für die Entwicklung der Zivilisation im Allgemeinen und die Entwicklung seiner eigenen Gedanken im Besonderen. Es sind dabei auch und gerade die von Whitehead ausge­ machten problematischen Konsequenzen oder ungelösten Konflikte in Vorgänger-Theorien, die ihn neben der Formulierung von Kritik auf der Suche nach Lösungen und Alternativen zum Entwurf seiner eigenen philosophischen Theorie inspirieren. Diese Bedeutung des Diskurses und der kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit ausgewählten philosophiegeschichtlichen Positionen für die Denk­ wege Whiteheads stellt zuerst Kann (2001) in seiner Untersuchung der Philosophiegeschichte bei Whitehead pointiert heraus: »Erst über eine kritische Revision vorgängiger Positionen gelangt Whitehead zu einem neuen metaphysischen System« (Kann 2001:15). Mitunter scheint es dabei allerdings, als sähe Whitehead in seinem strecken­ weise assoziativ-kreativen Umgang mit den zitierten Philosophen deren positiven Wert vor allem in der eklezistischen Deutung als (vermeintliche) Vorläufer der Organismusphilosophie und deren Werke damit in einer Funktion als reiner Selbstbedienungsladen zur Fundierung seiner eigenen Kosmologie. Lockes Essay nennt er »ein unschätzbares Vorratslager für jeden, der seine metaphysischen Kon­ struktionen mit einem Rückgriff auf die Tatsachen konfrontieren will« (PR 274) – und auch wenn diese Äußerung wohl auf Hume und seine vermeintliche Missdeutung Lockes gemünzt ist, wird Whitehead durch seine eigene metaphysische Interpretation von Lockes Begriffen »Idee« und »Kraft« doch selbst zum Adressaten dieser Aussage. Er betont, in Lockes Essay fänden sich Gedankengänge, aus denen eine Metaphysik entwickelt werden könnte177, und wertet es daher als Mangel, dass Locke es seiner Interpretation nach versäumt hat, die Untersuchung der menschlichen Erkenntnis in eine Metaphysik zu integrieren – ungeachtet der Tatsache, dass Locke selbst einen psycho­ logischen Ansatz wählt und formuliert: »[F]ür meine Zwecke wird es genügen, wenn ich die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, so wie sie sich an den ihnen vorkommenden Objekten betätigen, ins Auge fasse« (Locke Essay Einleitung, 2). Auch Äußerungen zu Descartes wie die These: »[S]o wie Kolumbus nie Amerika besuchte, entging auch Descartes die ganze Reichweite seiner Entdeckung [des subjektiven Erlebens der Erfahrung]« (PR 298), zeigen wohlwollend gedacht Whiteheads Perspektive als geprägt durch die Begeisterung von seiner 177

Vgl. PR 275.

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

Idee der Prozessphilosophie – kritischer könnte man formulieren, hier zeige sich eine die philosophische Offenheit anderen Denksystemen gegenüber einschränkende Organismus-Brille. Kann (2001) hält eine solche Kritik für verfehlt, er fasst Whiteheads Umgang mit Descartes nicht als überinterpretativ auf und schlägt eine alternative Sichtweise auf Whiteheads Interpretationspraxis vor: Um Whiteheads philosophischem Ansatz gerecht zu werden, »muss die Frage ›Interpretiert Whitehead Descartes richtig?‹ hinter der Frage ›Welche Rolle spielt Descartes für Whiteheads Denken?‹ zurückstehen« (Kann 2001:8/9). Wenn Whitehead programmatisch verkündet, die beste Meta­ physik lasse sich wohl aus einer modifizierten Synthese der Kosmo­ logie Platons und der des siebzehnten Jahrhunderts herstellen178, wobei diese aber von ihren Denkfehlern bereinigt werden müssten, kann dies vor dem Hintergrund der Uminterpretation der jeweiligen Ansätze im Sinne einer Passung in seine eigene Theorie dennoch durchaus anmaßend klingen. So argumentiert Whitehead in seiner Kritik der Autoren nicht nur orientiert an Kohärenzansprüchen, sondern er sucht nach Möglichkeiten der Anwendbarkeit – allerdings einer Anwendbarkeit innerhalb des von ihm gewählten universellen Rahmens. Die Einschätzung, ein Autor habe ja schon ganz gute Ideen gehabt, es dann aber versäumt, sie in der richtigen Weise zu systema­ tisieren und weiterzudenken, kann als ein Hinweis auf mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft interpretiert werden, die Gedankengänge des entsprechenden Werks aus sich selbst heraus zu verstehen. So drängt sich partiell der Eindruck auf, Whitehead sei in dem Bestre­ ben, seine eigene Kosmologie philosophiehistorisch zu fundieren, bei der Interpretation der Referenzautoren ungewollt eben jenem Dogmatismus verfallen, den er selbst als »Zeichen von Torheit« (PR 27) kennzeichnet. Nun darf man Whitehead aber eben nicht als Philosophiehistoriker und Exeget philosophischer Klassiker lesen, sondern eher als dialogisch-diskursiv denkenden Entwickler einer eigenen Philosophie. Positiv formuliert ist also wichtig für Whitehead [...] nicht die Philosophiegeschichte im Sinne der Fiktion eines vollständigen Ganzen, sondern vielmehr die Philo­ sophiegeschichte in der Funktion eines Reservoirs, aus dem er die individuelle Vorgeschichte seiner eigenen Konzeption rekonstruiert (Kann 2001:6). 178

Vgl. PR 25/26.

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4.1 Die Ausgangslage

In Übereinstimmung mit Kann wird Whiteheads Auseinanderset­ zung mit anderen Philosophen hier als von Ernsthaftigkeit und Vertrauen in deren positiven Wert geprägt angesehen, denn wie wir im Laufe dieses Kapitels feststellen werden, lassen sich die meisten der Befürchtungen bei genauerem Hinsehen ausräumen.

4.1.2 Reibungspunkte mit der philosophischen Tradition: Ein Überblick vorweg Mit dem Substanzdualismus geht eine Trennung von erkennendem Geist einerseits und erkanntem Objekt andererseits einher. Diese birgt das Problem, dass sie fast unweigerlich zu einem von Whitehead unerwünschten epistemologischen Skeptizimus führen muss: Zwi­ schen den menschlichen Ideen über die physische Welt und der physischen Welt selbst klafft ein Graben, der Aussagen über die physische Welt als nicht an der Wirklichkeit überprüfbare Konstrukte des menschlichen Geistes stehen lässt.179 Zwar gesteht Whitehead Descartes zu, dass durch diesen »die berühmte subjektivistische Ten­ denz […] Eingang in die moderne Philosophie fand« (PR 297), indem er den Menschen als Subjekt mit bewusster Erfahrung ins Zentrum philosophischer Überlegungen rückt. Dennoch geht Descartes auf der anderen Seite weiterhin von einer objektiv und selbständig existenten Materie aus und begeht damit nach Whitehead den Fehler, »die Wirkweisen des subjektiven Erlebens der Erfahrung auf der Grund­ lage der Substanz-Qualität-Kategorien zu interpretieren« (PR 298). Whitehead möchte diesen epistemischen Graben zwischen Geist und Natur/Materie eher zuschütten als mit einer Brücke überwinden, denn er führt kein Verbindungsglied ein, wie es Descartes versucht hat, sondern vereint diese vermeintlich gegensätzlichen Elemente bereits in jeder kleinsten ontologischen Einheit: Die Subjektivität der Erfahrung objektiver Daten180 ist bei Whitehead konstituieren­ des Element der Wirklichkeit. Durch die Verbindung subjektiver Wenn nicht ein kartesischer guter Gott eine Brücke zwischen Geist und Welt schlägt, über die wir uns vertrauensvoll zum Erkennen der Welt begeben können – oder über die wir als geistige Wesen überhaupt auch nur in der Lage sind, unsere materiellen Körper zu bewegen: »Descartes musste seine Körper von Gott herumstoßen lassen« (FR 28). 180 Als diese stehen den werdenden Prozessen die bereits gewordenen Prozesse zur Verfügung. 179

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und objektiver Elemente bereits auf ontologischer Ebene entwickelt Whitehead einen Gegenentwurf, in dem menschliche Erkenntnis der wirklichen Welt möglich ist, da erkennender Mensch und erkannte Natur zur gemeinsamen metaphysischen Struktur einer organistisch vernetzten Welt gehören. Auch auf Kant geht Whitehead kritisch ein; dessen Kritik der reinen Vernunft sieht er als negative Konsequenz aus der philoso­ phischen Linie von Descartes über Locke und Hume an.181 Kants Versuch einer Verbindung von rationalistischen und empiristischen Elementen führt zu einer Form des Idealismus, wohingegen sich Whitehead für eine Form des Realismus stark macht. In PR wendet sich Whitehead daher gegen die kantschen Kategorien. Von der äußeren Welt kann der Mensch laut Kant nur die Existenz von Sinneseindrücken feststellen – Urteile über die Beschaffenheit der Welt resultieren dann aus dem Verstand, der mittels Kategorien Begriffsbildung vornimmt und die Begriffe auf die Sinneswahrneh­ mung anwendet: »Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Ge­ genstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht und von ihm entspringen Begriffe« (Kant: KrV A19/B33). Der Mensch bei Kant objektiviert die Welt, die sich ihm lediglich als Menge subjektiver Sinneseindrü­ cke präsentiert, anhand seiner Kategorien und Begriffe. Der reine Fluss von Sinneseindrücken wird bei Kant durch die subjektiven Kategorien des Verstandes zu einer als objektiv angesehenen Welt sortiert, von der wir anschließend an diese Verstandestätigkeit dann auch etwas wissen können. Allerdings befinden wir uns hier in einer Objektivität per Konvention, denn über die Dinge an sich, außerhalb der menschlichen Verstandeskategorien, lässt sich bei Kant nichts erkennen und wissen. Als Folge eines übertriebenen Subjektivismus klafft eine Lücke zwischen Natur und Mensch, hervorgerufen durch die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, bei der dem Verstand alleine für den Menschen weltschaffende Kraft zugesprochen wird. Kant hat es Whiteheads Auffassung nach versäumt, anzuerkennen, dass die Wirklichkeit selbst bereits durchzogen ist von emotionaler Subjektivität. Mit einer »Kritik des reinen Empfindens im Sinne der Organismusphilosophie« (PR 113/218) statt einer Kritik der reinen Vernunft, so Whitehead, hätte er das Aufreißen der Erkenntnislücke 181

Vgl. PR 271–293.

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4.1 Die Ausgangslage

verhindern können. Aufzulösen ist also, so sieht es auch Rohmer, ein für Whitehead fundamentaler Irrglauben, nämlich die Lehre, dass die objektive Welt als eine theo­ retische Konstruktion rein subjektiver Erfahrung zu begreifen sei; eine Lehre, die in ihrer abstrakten Entgegensetzung von Subjekt und Objekt ihrerseits weitere fundamentale Dualismen nach sich zieht (Rohmer 2017:179/180).

Whitehead fundiert als Antwort seine Erkenntnistheorie in einer Metaphysik, in der er das Verhältnis von Objektivität und Subjektivi­ tät als genauen Gegensatz zu Kant versteht: »Das von der Konkreti­ sierung zu lösende Problem besteht darin, wie die vielen Bestandteile des objektiven Inhalts in einem empfundenen Inhalt mit seiner komplexen subjektiven Form zu vereinigen sind« (PR 288). Einen handhabbaren Bezug zur Welt erlangt der Mensch bei Kant nur über den Verstand, nur innerhalb der durch den Verstand gewonnenen Begriffe ist bei Kant also Erkenntnis möglich – die Wirklichkeit bleibt außen vor. Dieser Bestand ist Whitehead, der einen provisorischen Realismus vertreten möchte, zu wenig, die Kluft zwischen der Natur und ihren Phänomenen als Produkten des menschlichen Geistes ist hier unüberbrückbar. Auch im Zusammenhang mit der Frage, wie die menschliche Wahrnehmung jeglicher Form von Kausalität – immerhin ein sehr prägendes Moment des Alltagserlebens – in eine philosophische Theorie integriert wird, erteilt Whitehead Kants Idealismus daher schlechte Noten, denn »für Kant gibt es außer Begriffen nichts zu erkennen, da Gegenstände, die in einer erkenn­ baren Welt aufeinander bezogen sind, das Produkt des begrifflichen Wirkens sind« (PR 291).182 Whiteheads Anliegen ist es hingegen, die Erfahrung von Welt und Kausalität unabhängig vom menschlichen Verstand in der metaphysischen Basis der Welt zu verankern. In SY kritisiert Whitehead daher vor allem, dass Kant wie Hume Kausalität nicht in den natürlichen Gegebenheiten ansiedelt, sondern diese 182 Vgl. Kant: KrV A77/78/B103: »Ich verstehe aber unter Synthesis in der all­ gemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzu­ zutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen. [...] Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewusst sind. Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft.«

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»zu unseren Weisen des Denkens über die Gegebenheiten« (SY 96) macht. Bei Kant ordnet der menschliche Verstand Sinneseindrücke mittels Kategorien und so erlangt der Mensch Erkenntnis über die Welt (allerdings nicht die Welt an sich, unabhängig von den Katego­ rien). Bei Whitehead vollzieht der Mensch Akte der Symbolisierung, durch die er die in ihrer Massivität ungefiltert auf ihn wirkende Welt zu Dingen sortiert und handhabbar macht. Nun mag man fragen: Wenn der Mensch von der Wirklichkeit abstrahiert, Symbolisierung vollzieht und damit Symbolisierungen zu den primären Gegenstän­ den seiner Erkenntnis macht – wo ist dann der Unterschied zum Beispiel zur kantschen Anwendung von Kategorien auf Sinneseindrü­ cke? Durch die Abstraktion bei Whitehead wird – abgesehen von Irrtümern, die passieren können – der natürlichen, physischen Welt keine Extrazutat durch den Geist hinzugefügt, die Welt bleibt auf verschiedenen Leveln immer ein und dieselbe und wird lediglich unterschiedlich strukturiert. Mit der sensualistischen Wahrnehmungslehre in der Tradition Lockes und Humes steht Whitehead auf Kriegsfuß, da diese seiner Ansicht nach weiterhin dem Denken in Substanz-Akzidenz-Schemata verhaftet bleiben. Bei Anerkennung der Leistung, die subjektive menschliche Wahrnehmung in ihren Untersuchungshorizont gerückt zu haben, kritisiert Whitehead dann vor allem bei beiden Autoren eine Überbetonung der Sinneswahrnehmungen bei der Bildung menschli­ cher Erfahrung und menschlichen Wissens über die Welt. Die Wahr­ nehmung der äußeren Welt durch die Sinnesorgane ins Zentrum einer Erklärung für unsere Erfahrungen und unser Wissen zu setzen, ist nach Whitehead ein inadäquater Ansatz, da hiermit versucht wird, »die offensichtlichen Erfahrungstatsachen im Gehorsam gegenüber dem Apriori des Sensualismus wegzuerklären« (PR 274), wobei die Vorrangstellung der Sinneswahrnehmung Probleme aufwirft, statt welche zu lösen. Vor allem deren unzusammenhängendes Nebenei­ nander sieht Whitehead als problematisch an, da man so entweder auf eine zusammenhanglose Welt zurückgeworfen ist, was unserer Erfah­ rung widerspricht, oder aber durch Geistesaktivitäten hergestellte Scheinverbindungen annehmen muss. Im Konzept der organistischen Philosophie sind Sinneswahrnehmungen lediglich ein Teilbereich, der einen sehr abstrakten Bereich der gesamten menschlichen Erfahrung und Wahrnehmung ausmacht. Zur menschlichen Wahrnehmung gehören nämlich Whiteheads Verständnis nach beispielsweise auch Intuitionen, diffuse Gefühle oder basale körperliche Empfindungen

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4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion

– für die es keine eindeutigen humeschen Perzeptionen gibt. Die Wahrnehmung eines Gemäldes ist nicht hinreichend mittels einer Beschreibung der durch die Augen wahrgenommenen objektiven Farben und Formen zu erfassen, die Schwingungen von Musikstücken können nicht nur über das Ohr, sondern auch mit dem ganzen Körper erspürt werden. Die Lehre von der zentralen Rolle der Sinneswahr­ nehmung kritisiert Whitehead also als zu kurz greifende Lehre der menschlichen Wahrnehmung, denn in der Interpretation der organis­ tischen Philosophie ist die Wahrnehmung im Sinne einer Erfahrung ein wesentlich allgemeinerer Begriff – und Sinneswahrnehmung, die sich auf Gegenstände als Objekte richtet, nur ein Erfahrungs-Spezial­ fall.183 So konstatiert auch Maclachlan: Whitehead's central disagreement with Kant, and with Hume, and with the whole tradition to which they belong, is that whatever account is given to presentational immediacy, it does not tell the whole story about experience through the senses Maclachlan (1992:3).

Das, was Hume und Locke laut Whitehead zum Erzählen der ganzen Geschichte fehlt, ist die Anerkennung der Wirklichkeit als durchwo­ ben von Kausalursächlichkeit.

4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion – Das reformierte subjektivistische Prinzip und die Bipolarität als Alternativen 4.2.1 Whiteheads Anliegen: Wider die Natur-Geist-Distinktion Eines von Whiteheads Zielen ist die Aufhebung der von ihm diagnos­ tizierten »bifurcation of nature« in der Philosophie. Die Kritik daran zieht sich als ein roter Faden durch Whiteheads philosophisches Werk von den naturphilosophischen Schriften PNK (1919) und CN bis zum Spätwerk MT (1938). Bereits in CN erklärt er programmatisch: Wogegen ich wesentlich protestiere, ist die Bifurkation in zwei Wirk­ lichkeitssysteme, die, insoweit sie wirklich sind, dies in jeweils ver­ schiedener Hinsicht sind. Die eine Wirklichkeit wäre die der Entitäten, etwa der Elektronen, die Gegenstand der theoretischen Physik sind. Vgl auch Jonas 1950:320: »Perhaps the problem lies in the very fact which Hume and Kant accepted as ultimate: the causal muteness of perception.«

183

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Dies wäre die Realität der Erkenntnis [knowledge], obwohl sie, nach dieser Theorie niemals bekannt [known] würde. Denn was bekannt ist, ist die andere Sorte Wirklichkeit: die begleitende Handlung des Geistes. So gäbe es dann zwei Naturen: Die eine wäre die Konjektur, die andere der Traum (CN 26).

Mit dem Ausdruck »bifurcation of nature« kennzeichnet er die phi­ losophische Aufspaltung der Welt in eine ursprüngliche natürliche Welt der materiellen Fakten und eine davon abgeleitete geistige Welt des Psychischen, der Gefühle und der kulturellen Werte. Zurückzu­ führen ist diese Trennung unter anderem auf das an Aristoteles anknüpfende ontologische wie epistemologische Substanz-AkzidenzSchema, dann vor allem aber auf den cartesischen Dualismus von geistiger und körperlicher Substanz. Die cartesische Philosophie beruht auf der scheinbaren Tatsache […] des einen Körpers und der einen Seele, die zwei Substanzen sind, zwischen denen eine kausale Verbindung besteht. Für die organistische Philosophie stellt sich das Problem anders dar (PR 210).184

Der Substanzdualismus fordert den Tribut einer Natur-Geist-Dis­ tinktion, einer Teilung der Welt in erkennende, geistige Subjekte einerseits und erkannte, materielle Objekte einschließlich des eige­ nen Körpers andererseits. Entsprechend hat auch die Wissenschaft eine Distinktion in Natur- und Geisteswissenschaften erfahren. Die Etablierung dieser Gabelung führt nach Whitehead zu dem bereits erwähnten Problem einer Kluft zwischen den in der subjektiven Erfah­ rung des Geistes enthaltenen Elementen einerseits und denjenigen der abgetrennten äußeren Welt andererseits, über die es oft keine Brücke gibt.185 In der Epistemologie bereitet diese Aufspaltung der sensualis­ tisch-psychologischen Stoßrichtung der englischen Empiristen den Weg.186 Zur geistigen Welt gehören bei diesen nämlich auch jene Eigenschaften von Gegenständen, die vermeintlich erst durch die menschliche Sinneswahrnehmung und den menschlichen Geist ein­ gebracht werden. An den Dingen wahrgenommene Eigenschaften Zu Untersuchungen zum Thema der Bifurkation siehe u. a. Balz 1934, Felt 1968. Vgl. PR 353: »Diese Trennung schafft die unüberwindliche Schwierigkeit für die Erkenntnistheorie.« Vgl. AI 375: »Dieser Fehler hat […] dazu geführt, dass man eine unüberbrückbare Kluft zwischen ›Geist‹ und ›Natur‹ sah.« 186 Vgl. z. B. PR 295, AI 392.

184 185

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werden bei Locke zum Beispiel eingeteilt in primäre Qualitäten wie Gewicht oder Größe, die zu den Dingen selbst gehören, und sekun­ däre Qualitäten wie Farben oder Klänge, die wir zwar den Dingen zuschreiben, die aber eigentlich nur eine Zutat unserer Sinnes- und Geistesaktivität sind.187 Whitehead hält es für einen wesentlichen Fehler Descartes’ und seiner Nachfolger Locke und Hume, »die Wirkungsweisen des subjek­ tiven Erlebens auf der Grundlage der Substanz-Qualität-Kategorien zu interpretieren« (PR 298), vor allem, wenn einige der Qualitäten nur in der geistigen Welt angesiedelt werden. Das aus diesem Fehler resultierende Problem, das laut Whitehead allen modernen Varianten der philosophischen Erkenntnistheorie zu schaffen gemacht hat, be­ schreibt er folgendermaßen: Eine mysteriöse, der Erkenntnis durch direkten Kontakt unzugängliche Realität steht im Hintergrund; und den Vordergrund des unmittelbaren Erlebens nimmt das Wechselspiel verschiedener Qualitäten auf der Oberfläche des in einsamer Abgeschlossenheit verharrenden Individu­ ums ein (AI 268).

Eine immanente Erklärung einer Erkenntnis aus den gegebenen Bedingungen des Menschen und der Natur heraus ist auf diese Weise laut Whitehead nicht mehr möglich. Nun könnte man dem Erkennt­ nisproblem entgehen, indem man einen Dualismus grundsätzlich für nichtig erklärt und monistisch wie Berkeley ausschließlich die Seite des Geistes oder wie der frühe philosophische Whitehead in CN ausschließlich die Betrachtung der Natur für relevant erklären. Oder aber man gelangt wie Hume zu einer skeptizistischen Position, die mit einem psychologischen Ansatz jegliche Induktionspraxis in Frage stellt. Dann läuft man aber Gefahr, einem Solipsismus nicht entgehen zu können – oder es müssen weitere Vorgänge oder Entitä­ ten eingeführt werden, die Erkenntnis ermöglichen. Man kann zum Beispiel entweder wie Leibniz und Descartes als Verbindungsglied einen Gott annehmen, der menschliche Erkenntnis dennoch ermög­ licht, oder wie Hume den Vorgang der Gewohnheit verantwortlich machen. Whitehead jedoch möchte die Erkenntnisfrage ohne einen 187 Vgl. CN 23: »Locke begegnete dieser Schwierigkeit mit einer Theorie primärer und sekundärer Qualitäten. Danach gibt es einige Materieattribute, die wir wahr­ nehmen können. Dies sind die primären Qualitäten. Daneben gibt es noch andere wahrnehmbare Dinge, Farben etwa, die nicht Materieattribute darstellen, aber von uns wahrgenommen werden, als seien sie welche. Dies sind die sekundären Qualitäten.«

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externen Gott und ohne die Annahme aus seiner Sicht überflüssiger Entitäten lösen. Seine Ablehnung philosophischer Konzepte, aus denen die Mög­ lichkeit der Erkenntnis nicht kohärent hergeleitet werden kann, drückt Whitehead bereits in seinem Aufsatz Uniformity and Contingency von 1922 aus: »I do not like this habit among philosophers, of having recourse to secret stores of information, which are not allowed for in their system of philosophy« (UC 13). Er nennt als ein Beispiel Humes Begriff der Gewohnheit als dessen Begründung für unser instinktives Vertrauen in induktive Schlüsse. Wie und wann genau gewohnheitsmäßiges Beobachten induktive Schlüsse rechtfertigt und produziert, kann Hume mit seiner Philosophie aber nicht erklären. Hier, so Whitehead, bedient er sich also inkohärenterweise aus einem »secret store of information«188. In einer ähnlichen Stoßrichtung polemisiert Whitehead – noch nicht als Organismusphilosoph, son­ dern als naturphilosophischer Realist – in CN auch gegen Lockes sekundäre Qualitäten in ihrem Status als Produkt des Geistes: Warum sollten wir sekundäre Qualitäten wahrnehmen? Es sieht nach einem äußerst unglücklichen Arrangement aus, dass wir eine Menge Dinge wahrnehmen sollten, die nicht vorhanden sind. Aber genau darauf läuft die Theorie der sekundären Qualitäten hinaus (CN 24).189

4.2.2 Auf dem Weg zum reformierten subjektivistischen Prinzip Whitehead schließt sich also keiner der oben genannten Möglichkei­ ten an, sondern begibt sich im Dialog mit der Philosophiegeschichte auf eigene Lösungswege, um menschliche Wahrnehmung und Natur zusammenzubringen. Auch wenn sein Ziel dasselbe bleibt: Der frü­ here naturphilosophische und der spätere metaphysische Lösungsan­ satz zur Aufhebung der »bifurcation of nature« unterscheiden sich deutlich voneinander. Während er in seiner frühen Philosophie eine monistische Position vertritt und die Natur unter Ausschluss sowohl von psychologischen als auch von metaphysischen Überlegungen untersuchen will, werden am Ende seines Werks epistemologische Vgl. UC 12. King (1941:91) fasst Whiteheads Position hierzu folgendermaßen zusam­ men: »The notion of a ›mind‹ entertaining private impressions of sensations is simply a derivate abstraction, and is inadaequate as an expression of the concrete experience.« 188

189

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Fragen auf ontologischer Ebene geklärt. So entwickelt er seine Orga­ nismusphilosophie, die quer liegt zu den genannten klassischen Kate­ gorisierungen. Zwei metaphysische Innovationen innerhalb seiner Organismusphilosophie prägen dabei entscheidend den Gegenent­ wurf zur Philosophie der geteilten Natur: das »reformierte subjekti­ vistische Prinzip« und die »geistig-physische Bipolarität« der kleins­ ten ontologischen Entitäten. Whiteheads Vorschlag zur Aufhebung der Bifurkation auf metaphysischer Basis bietet damit eine alternative Theorie von Wahrnehmung und Erkenntnis an. Die frühen Werke EPK (1919), CN (1920) und The Principle of Relativity (1922) wenden sich bereits gegen die auf den cartesischen Substanzdualismus zurückgeführte Entwicklung der Bifurkation. Als Konsequenz einer Ablehnung des cartesischen Subjektivismus‹, der unter Beachtung der Perspektive des menschlichen Geistes als einer res cogitans eine objektivierbare Betrachtung der Natur unmöglich zu machen scheint190, beschäftigen sich diese Werke als Naturund Wissenschaftsphilosophie mit der Untersuchung der von uns wahrgenommenen Welt unter striktem Ausschluss der Anteile des erkennenden Subjekts. Der psychologisch-epistemologische Ansatz Lockes und Humes, als erkenntnistheoretische Basis alles weiteren Wissens eine Untersuchung der Bedingungen des menschlichen Geis­ tes zu unternehmen, wird hier abgelehnt. Das läuft auf eine Weigerung hinaus, irgendeine Theorie der psychi­ schen Zutaten zum wahrnehmend zur Kenntnis gelangten Objekt zuzulassen. […] Meine Behauptung lautet, dass das Hineinbringen des Geistes mit seinen eigenmächtigen Hinzufügungen zum sinnlich bewussten, der Erkenntnis vorliegenden Objekt bloß eine Weise ist, das Problem der Naturphilosophie zu umgehen (CN 26).191

Durch das Ausblenden alles Subjektiven aus der Betrachtung der Natur soll eine Bifurkation vermieden werden. Whitehead vertritt hier die Idee, dass die Natur aus sich selbst heraus ohne Interpretation durch Rückgriff auf eine Untersuchung des menschlichen Geistes möglich ist. Wir erkennen die Natur zwar bedingt durch die menschli­ chen Sinnesorgane und den Verstand – diese sollen aber nur als reines Mittel angesehen werden, das selbst keiner Untersuchung bedarf Vgl. z. B. Meditationes I,7, AT VII, 27. Vgl. Felt (1961:286): Whitehead »aimed to restore nature’s unity so that the nature investigated by science would be objectively identical with the nature given for experience.« 190 191

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und irrelevant ist für die Inhalte der Naturerkenntnis.192 Denken leistet in der Untersuchung der Natur keinen zusätzlichen Beitrag zu deren Konstitution.193 Postuliert wird ein homogenes Denken über die Natur, sprich ein Denken über die Natur, ohne dabei über das Denken selbst nachzudenken.194 Whitehead vertritt hier einen objektiven Realismus und postuliert eine Betrachtung der Natur, so wie sie wahrgenommen wird – unabhängig von Überlegungen zur Beschaffenheit des menschlichen Geistes oder zu dessen Beteili­ gung an der Wahrnehmung. Diese Position impliziert auch einen Ausschluss der Beschäftigung mit Werten, die in der späteren Me­ taphysik eine wichtige Rolle spielen werden. Werte, so Whiteheads These zu seinen naturphilosophischen Zeiten, werden subjektiv gene­ riert – intendiert aber ist der Ausschluss alles Subjektiven. In der naturphilosophischen Phase seines Schaffens will Whitehead explizit keine metaphysischen Aussagen treffen, da er diese als Explosionsfak­ tor des Themas ansieht: »Der Rückgriff auf die Metaphysik ist wie das Entzünden eines Pulverfasses. Es sprengt die gesamte Arena in die Luft« (CN 25). Die These, dass Natur (und auch das bewusste Wahrnehmen der Natur durch die Sinne als Teile des natürlichen Körpers) unabhängig vom Denken existiert und untersucht werden kann, ist daher nicht metaphysisch zu verstehen.195 192 Vgl. CN 29: »Für die Naturphilosophie ist alles Wahrgenommene in der Natur. Wir können es uns nicht aussuchen. Für uns muss das rote Glühen des Sonnenunter­ gangs so sehr Teil der Natur sein, wie die Moleküle und die elektrischen Wellen, mit deren Hilfe die Wissenschaft das Phänomen erklären würde.« Wie wir an dieser Textstelle im Vergleich mit späteren Zitaten, in denen das Farber­ leben und das Erleben von Naturphänomenen wie dem Sonnenuntergang ebenfalls angesprochen wird (zum Beispiel in PR 566/567 und in AI 439), deutlich sehen können, bleibt Whitehead seinem Ziel, die gesamte Natur in all ihren Phänomenen aus denselben Grundprinzipien heraus erklären zu können, auch in seinen späteren Werken treu – nur der Weg hat sich geändert. 193 Dieses Postulat übernimmt Whitehead – wenn auch auf eine andere Weise begründet – in seine späteren metaphysischen Ansätze. 194 Vgl. CN 6: »Was ich meine ist, dass wir über die Natur nachdenken können, ohne über das Denken nachzudenken. Ich sage dann, wir würden ›homogen‹ über die Natur nachdenken.« 195 Vgl. CN 6: »Natur ist das, was wir in der Wahrnehmung durch die Sinne [welche als Teile des Körpers ebenfalls zur Natur gehören] zur Kenntnis nehmen. In dieser Sinneswahrnehmung wird uns etwas bewusst, was nicht gedacht und gegenüber dem Denken, dem es vorliegt, eigenständig ist. […] So ist die Natur in einem gewissen Sinne vom Denken unabhängig. Mit dieser Aussage ist keine metaphysische Aussage beabsichtigt.«

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4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion

Mit dem später folgenden Bestreben, ein grundlegendes phi­ losophisches Schema zu entwickeln, das als Kosmologie auf alle wissenschaftlichen Disziplinen angewandt werden kann und das alle Phänomene der Welt berücksichtigt, löst sich Whitehead von seinem exklusiven Fokus auf die Naturphilosophie. Schwierigkeiten bezüglich der Grundprinzipien von Erkenntnis sieht er nun als »ver­ steckte metaphysische Schwierigkeiten« an und folgert daher, dass sich »das erkenntnistheoretische Problem auch nur lösen [lässt], wenn man sich auf die Ontologie beruft« (PR 352). Die in der Philosophiegeschichte aufgerissene Kluft zwischen der geistigen und der physischen, der subjektiven und der objektiven Welt schließt er in der ab SMW entwickelten Metaphysik daher nun auf folgende Weise: Geistige wie physische Elemente werden bereits auf der ontologischen Basis aller Phänomene der Wirklichkeit – der actual entities genauso wie der Natur und des Menschen – angesiedelt. Auf diesem Weg bietet er eine Alternative nicht nur zum cartesischen Subjektivismus, sondern auch zum Sensualismus der englischen Empiristen an. Weder eine Beschränkung auf den die objektive Natur ausschließenden menschlichen Geist noch eine Beschränkung auf die Wahrnehmung der Welt allein durch die Sinne und den Geist ermöglicht nach Whitehead nämlich einen angemessenen Zugang zur Wirklichkeit. In Whiteheads Metaphysik wird seine frühere Wendung gegen den subjektiven Anteil in der Welt auf eine ganz besondere Weise auf­ gehoben. Realität soll nun unter Einbeziehung der menschlichen Sub­ jektivität begriffen werden und durch eine allgemeine metaphysische Grundlage aller Phänomene beschreibbar sein. Auch die menschliche Subjektivität selbst soll innerhalb der geforderten Ontologie ihren Platz finden können. Whitehead macht die »desaströse Trennung von Körper und Geist, auf die das europäische Denken durch seinen Cartesianismus fixiert ist« (MT 184), verantwortlich für die »wissen­ schaftliche Blindheit«, die Erklärungslücken produziert und weder Telos oder Kreativität noch Werte und individuelles Erleben in der Natur findet. Er stellt folgende Gegenposition zur vorherrschenden zeitgenössischen Naturphilosophie auf: Wenn man das menschliche Erleben nicht völlig außerhalb der Natur stellen will, kann man nicht umhin, in der Beschreibung des mensch­ lichen Erlebens nach denjenigen Faktoren zu suchen, die auch in der Beschreibung weniger spezialisierter Naturvorgänge auftreten. […] Entweder muss man sich zu einem – zumindest provisorischen –

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

Dualismus bekennen, oder aber die Elemente aufzeigen, die dem menschlichen Erleben und der Physik gemeinsam sind (AI 339).196

Dieses Postulat bedeutet, dass Phänomene des Erlebens wie Subjek­ tivität und Gefühle im weitesten Sinne auch in der metaphysischen Basis der Natur zu finden sein müssen. Sowohl die metaphysische Wirklichkeit als auch die Phänomene der menschlichen Alltagswelt müssen generell durch die gleichen Grundbegriffe beschreibbar sein. Um dem Körper-Geist-Dilemma zu entkommen, gilt es also aufzuzei­ gen, wie psychologische Phänomene als Naturphänomene verstanden und subjektive Elemente in die Metaphysik und die Naturphilosophie integriert werden können. Diese Forderung ist nicht als Widerspruch zu Whiteheads vor­ herigen Thesen zu verstehen, sondern als deren konsequente Wei­ terentwicklung auf dem Weg von einer reduktionistischen zu einer metaphysischen Naturphilosophie. Die Integration des menschlichen Erlebens, die Rolle von Werten und eine generelle Subjektivität versucht Whitehead kohärent mit einer metaphysischen Konzeption zu begründen, in der jedes kleinste Element der Welt bereits durch Prozesse der Wertung entsteht und eine Trennung in eine Welt des Psychischen einschließlich der Werte und eine Welt der physischen Fakten damit hinfällig ist.197 Nicht die menschliche Wahrnehmung oder das menschliche Bewusstsein fügen der Welt Subjektivität hinzu – Subjektivität wird ganz elementar in die Beschaffenheit der Welt selbst integriert. Menschliche Subjektivität ist damit nur noch der abstrakte Spezialfall eines grundlegenden ontologischen Prinzips. Auch Wertung und Qualifizierung im Sinne von individueller Cha­ rakterisierung sind nichts äußerlich Hinzugefügtes, sondern in jeder kleinsten ontologischen Prozesseinheit selbst elementarer Bestand­ teil der grundlegenden metaphysischen Wirklichkeit. Die Konzeption subjektiver Erfahrungen als konstitutiv für die Entwicklung der kleinsten Prozesseinheiten und der Welt als Ganzes führt Whitehead daher nicht zu den Konsequenzen einer klassisch subjektivistischen Position. Auch wenn hier von den individuellen, subjektiven Erfahrungen der Prozesseinheiten gesprochen wird, so 196 Das oben genannte Zitat ist im Kapitel »Objekte und Subjekte« (AI 325 – 348) zu finden. Dort stellt Whitehead eine Auflistung wesentlicher ontologischer Grund­ annahmen seiner Metaphysik zusammen. Bereits zwei Jahre vor der Veröffentlichung von AI ist dieses Kapitel als Aufsatz in Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 41 (S. 130 – 146) erschienen. 197 Vgl. Kapitel 3.1.5 dieser Arbeit.

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4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion

stellt sich Whitehead mit seinem Erfahrungsbegriff dennoch gerade gegen einen Subjektivismus im Sinne Descartes‹ oder Kants. Erfah­ rung ist kein subjektives Element in dem Sinne, dass dieser Vorgang alleine in der Privatheit des Individuums zu finden ist – im Gegenteil: Erfahrung, obwohl als individueller Entwicklungsprozess wirklicher Einzelwesen vollzogen, ist der grundlegende öffentliche Akt der Konstituierung von Wirklichkeit durch die Herstellung von Relatio­ nen. Whitehead grenzt sich hiermit explizit von Descartes ab, der »Erfahrung als die Art, wie eine individuelle Substanz ihre Qualifizie­ rungen [...] erlebt« (PR 273), versteht. Er möchte mit seiner Theorie unserer Alltagserfahrung Rechnung tragen, dass wir selbst ebenso gleichgearteter Teil der Welt sind wie Bäume, Steine, Mitmenschen. Wir entwickeln uns dieser Erfahrung nach mit der Welt und die Welt entwickelt sich mit uns – und nicht, wie der klassische Subjektivist annimmt, in Abhängigkeit von uns: Bei dieser Befragung [unserer Wahrnehmungserfahrung] stellt sich heraus, dass wir uns innerhalb einer Welt von Farben, Klängen und anderen Sinnesobjekten befinden, die in Raum und Zeit auf dauerhafte Objekte wie Steine, Bäume und menschliche Körper bezogen sind. Wir selbst scheinen in demselben Sinne Elemente dieser Welt zu sein, wie die anderen Dinge, die wir wahrnehmen. Aber der Subjektivist [...] lässt die so beschriebene Welt in einer Weise von uns abhängen, die unserer naiven Erfahrung direkt zuwiderläuft (SMW 109).

Eine subjektivistische Bedeutungsassoziation hat bei Whitehead den­ noch insofern ihre Berechtigung, als dass sich die ihre Umwelt syn­ thetisierenden Vorgänge auch als subjektive Erfahrungsprozesse des Werdens von actual entities verstehen lassen und diese actual entities individuelle Prozess-Subjekte darstellen. Es handelt sich hierbei aber höchstens um ein »reformiertes subjektivistisches Prinzip«, das eine alternative Formulierung des Relativitätsprinzips darstellt, nach dem eben alle Wirklichkeit aus Erfahrungsbeziehungen entsteht und das nicht mit dem modernen Subjektivismus verwechselt werden darf.198 Dieses so genannte »reformierte subjektivistische Prinzip« besagt, »dass das gesamte Universum aus Elementen besteht, die in der Analyse der Erfahrung von Subjekten enthüllt werden« (PR 311).

198 Vgl. PR 310/311: »Das von der organistischen Philosophie gewählte reformierte subjektivistische Prinzip ist lediglich eine alternative Darstellung des Relativitätsprin­ zips.«

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

Zwar werden die Dinge der Wirklichkeit durch den menschlichen Wahrnehmungsprozess auf einer abstrahierten Ebene wahrgenom­ men – unser Erleben basiert aber auf denselben Voraussetzungen wie die Dinge der äußeren Natur und hat daher denselben Wirklich­ keitsstatus. Menschliche Subjektivität inklusive von Gefühlen prägt demnach nicht die (Interpretation der) Welt, sondern entsteht aus die­ ser. Den Aspekt der Wirklichkeit subjektiver Gefühle in Whiteheads Metaphysik betont auch Schaper: »The felt elements do not belong to the world of private subjectivity; they are as ›real‹ as any objec­ tively verifiable components in an experimental situation« (Schaper 1961:268). In diesem Sinne hat Whitehead den SubjektivismusBegriff auf den Kopf gestellt. »Für Kant taucht die Welt aus dem Subjekt auf; für die organistische Philosophie taucht das Subjekt aus der Welt auf – eher ein ›Superjekt‹ als ein ›Subjekt‹« (PR 175). Durch diese Umdefinition des Subjektivismus innerhalb seiner Metaphysik gelingt Whitehead der Brückenschlag, die Trennung von objektiver Welt und subjektivem menschlichem Blick aufzuheben. Whitehead bringt die Erlebensweise des menschlichen Subjekts, »die private Welt seiner Erlebnisqualitäten als Symptom und symbolische Wiedergabe eines komplexen Wechselspiels zwischen fundamentalen Realitäten zu betrachten« (AI 268), in Einklang mit einer philosophischen Theorie, die eine realistische Position plausibel macht und gleichzeitig darlegt, dass die vermeintliche Lücke zwischen Welt und Subjekt gar nicht existiert. Sogar abstrakte symbolische Interpretationen der Welt, wie sie der Mensch in Kunst oder Musik vollzieht, sind nicht als rein privat-subjektive Leistungen eines durch diese von der objektiven Welt getrennten Geistes zu verstehen – vielmehr entsteht ein zu solchen schöpferischen Akten fähiges menschliches Subjekt erst aus den Selbst- und Weltwerdungsprozessen kleinster ontologischer Erfahrungssubjekte. Die Intention Whiteheads, auch einen Begriff wie Fühlen aus dem anthropozentrischen Bereich heraus zu einem metaphysischen Terminus technicus zu erweitern199, mag nun deutlicher nachvollzieh­ bar sein. Fühlen – also das positive Werten von Erfahrungsinhalten, die Entscheidung über die Relevanz einzelner Informationen für den eigenen Entwicklungsprozess – erfolgt bei actual entities genauso wie auf abstrakterer Ebene bei Menschen. Subjektive Wertung wird über die anthropozentrische Bedeutung hinaus erweitert und auf der 199

Vgl. Kapitel 3.1.5 dieser Arbeit.

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4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion

Basis der elementaren metaphysischen Grundprozesse verortet. Der Mensch wiederholt in seinem Erleben der Umwelt auf abstrakter Ebene die Vorgänge, die bereits in der Natur und in den kleinsten ontologischen Einheiten ablaufen – und ist gleichzeitig zudem selbst Teil der einen organistisch vernetzten Welt.200 Die vermeintliche Trennung von Geist und Natur wird zu einem Spezialfall der Alltags­ welt, in der wir von der eigentlichen ontologischen Grundbeschaffen­ heit der Welt abstrahieren. Jenseits dieser Abstraktion gibt es für Whitehead keine Trennung. Wichtig ist, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass bei Whitehead jeder Mensch ein Geschöpf unter Geschöpfen ist und dass alles in der Welt sich erst dadurch konstituiert, dass es in Verbindung mit allem anderen in die Welt tritt. Zwar stimmt Whitehead mit der Annahme überein, dass es subjektive und objektive Elemente gibt, »nicht aber damit, dass die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt mit der zwischen Erkennendem und Erkanntem gleichzusetzen wäre« (AI 326). Subjekt und Objekt, das erfahrende Selbst und das erfahrene Ding, sind nicht grundsätzlich völlig verschiedene Elemente der Wirklichkeit – beides kann aus denselben metaphysischen Prinzipien heraus erklärt werden. Die Funktion als Subjekt und als Objekt sind zwei sich gegenseitig bedingende Seiten jedes einzelnen Elements der Wirklichkeit. Mit dieser ontologischen Interpretation der SubjektObjekt-Relation als den Geschehnissen und Dingen immanent muss Whitehead erkenntnistheoretisch weder dem empirischen Skeptizis­ mus noch dem Idealismus verfallen, sondern kann einen provisori­ schen Realismus vertreten, in dem das menschliche Erkennen der Welt grundsätzlich möglich ist: Durch die gemeinsame Struktur alles Existenten – sei es eine actual entity, ein Stein oder ein Mensch – sind Aussagen über die reale Welt an sich durchaus möglich. Dewey hält dies für einen überzeugenden Ansatz Whiteheads, »which to me is his original and enduring contribution to philosophy, present and future […] and has revolutionary consequences for the theory of experience and of knowledge« (Dewey 1936:172/173).

200 Vgl. Schaper (1961:269): »Whitehead’s ›realism‹ considers felt experience as information about the world ›as it really is‹, and about the world which includes the feeling agent as an integral part.«

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

4.2.3 Whiteheads Alternative: Bipolarität Wie erfolgt nun konkret die Integration physischer und psychischer Elemente bereits auf der ontologischen Basis? Genauer nach den Ele­ menten des Erfassens im Ablauf eines ontologisch primären Ereignis­ ses differenziert, kann man zwei Aspekte jeden Prozesses ausmachen: »Der eine betrifft die Entstehung einfacher kausaler Empfindungen und der andere die Entstehung begrifflicher Empfindungen« (PR 438). Diese beiden Aspekte werden als der »physische Pol« und der »geistige Pol« eines wirklichen Einzelwesens bezeichnet – daher spricht Whitehead auch von der »Bipolarität« der Prozesseinheiten. Als dem physischen Pol zugehörig angesehen werden die kausalen Empfindungen, die sich auf die wirkliche Welt vergangener Prozess­ einheiten beziehen und die von der diese erfassenden actual entity verarbeitet werden. Die Aufgabe des geistigen Pols ist es, die bisher vom physischen Pol einfach angenommenen Informationen in einem gewissen Sinne weiterzuverarbeiten. Durch den geistigen Pol erfolgt eine Verarbei­ tung dieser physisch erfassten, kausal auf den Entstehungsprozess einer actual entity einwirkenden Informationen. Genauer gesagt: Es erfolgt dort die Sortierung und Wertung der physisch erfassten Informationen.201 Diese begriffliche Reproduktion des physischen Empfindens wird in der »Kategorie der begrifflichen Wertung« be­ schrieben.202 Weitere Aktivitäten des geistigen Pols sind diejenigen begrifflichen Empfindungen, die den Einbezug neuer Ideen, der eternal objects, in das Werden eines wirklichen Einzelwesens reali­ sieren.203 Die Aktivitäten des geistigen Pols in einer actual entity Vgl. PR 210: »Physische Vererbung ist im Wesentlichen von einer begrifflichen Reaktion begleitet, die ihr teils angepasst ist und teils einen relevanten neuen Kontrast einführt, immer jedoch Emphase, Wertung und Zwecksetzung mit sich bringt.« 202 Vgl. PR 71: »Von jedem physischen Empfinden leitet sich ein rein begriffliches ab, dessen Datum der zeitlose Gegenstand ist, der die Abgegrenztheit des wirklichen Einzelwesens oder des physisch empfundenen Nexus ist.« Vgl. PR 102: »Das wirkliche Einzelwesen besteht auf seiner physischen Seite aus seinen bestimmten Empfindungen von seiner wirklichen Welt und wird auf seiner geistigen Seite von seinen begrifflichen Strebungen hervorgebracht.« 203 »Begrifflich erfasste Informationen [...] bilden die primären Operationen im geistigen Pol eines wirklichen Einzelwesens« (PR 439) – physisch oder kausal erfasste Informationen erfährt das wirkliche Einzelwesen über die Relationen seines physischen Pols zur den anderen Prozesseinheiten der wirklichen Welt. 201

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4.2 Die irrige Prämisse der Natur-Geist-Distinktion

sind insgesamt jene, die alle Informationen auf die Erfüllung eines Selbstgestaltungsziels hin erfassen und sortieren. Nun darf die Sprechweise von Polen nicht dazu verführen, sich diese in einer wirklichen Einheit wie Nord- und Südpol mit einer phy­ sischen und einer geistigen Flagge markiert eindeutig lokalisierbar vorzustellen. Getreu dem Gedanken der Prozessualität und der kon­ stitutiven Relationalität illustriert die Sprechweise von Polen natür­ lich nur zwei verschiedene Funktionsweisen von Erfassensvorgängen. Jede wirkliche Prozesseinheit ist bipolar, da sie sich aus dem Zusam­ menspiel vom physischen Erfassen der schon bestimmten wirklichen Welt und dem begrifflichen Erfassen der noch nicht bestimmten Möglichkeiten herausbildet und »keinem wirklichen Einzelwesen fehlt es an einem dieser Pole, auch wenn ihre relative Bedeutung bei verschiedenen wirklichen Einzelwesen unterschiedlich ist« (PR 438). Psyche und Physis finden sich in der organistischen Konzeption Whiteheads »innerhalb ein und desselben realen Vorgangs wieder. In jedem Vorgang gibt es ein physisches Erbe und eine psychische Reaktion, die ihn zu seiner Selbstvollendung führt« (AI 347). Jede kleinste wirkliche Einheit der Welt trägt also die Bipolarität in ihrem eigenen Entstehen mit sich und ist als »das Produkt des Ineinander­ greifens von physischem und geistigem Pol« (PR 555) der Prozess der Erfahrung von anderen wirklichen Einheiten einerseits und von zu verwirklichenden Möglichkeiten andererseits. Im Selbstgestaltungs­ prozess einer actual entity werden die physische und die geistige Seite zu einer Einheit der Erfahrung integriert. Aus dieser Synthese entsteht fortlaufend die Wirklichkeit. Jede Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach also bipolar – physisch und geistig. Da über den geistigen Pol einer sich verwirklichenden Einheit neue Möglichkeiten der Realisierung erfasst und neue Strukturen gebildet werden können, nennt Whitehead das psychisch-geistige Erleben »das Organ für das Neue« (FR 30). Die emotionale Zweckge­ richtetheit einer Prozesseinheit, mit der sie Relationen zu möglichen Formen der Bestimmtheit herstellt und sich damit einen eigenen Charakter gibt, erweist sich daher als Streben über das Gegenwärtige hinaus. In dieser Innovationsfähigkeit und schöpferischen Kraft der wirklichen Einzelwesen kommt das Prinzip der Kreativität zum Vor­ schein. Der geistige Pol funktioniert als Scharnier, durch welches die Kreativität in einer Prozesseinheit Zweckursache und Wirkursache

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

miteinander verbindet und eine fortschreitende Weiterentwicklung und Veränderung der Welt erzeugt.204 Betrachtet man den Menschen auf abstrakterer Ebene als einheit­ liches Ganzes, so darf man nicht vergessen, dass auch für ihn die Bestimmungen der ontologischen Fundierung gelten. Der Mensch besteht aus hochkomplexen Gesellschaften von wirklichen Ereignis­ sen, deren Muster sehr stark durch Aktivitäten des geistigen Pols geprägt sind. Abstrahiert von der ontologischen Basis verfügt der Mensch auch als Individuum betrachtet über einen stark ausgeprägten geistigen Pol: Er ist ein Lebewesen mit Bewusstsein, Verstand und der Anlage zur kreativen Gestaltung seiner Umwelt.205 Diese aktiv gestaltende Grundkonstitution des Menschen begründet zum Bei­ spiel die Bedeutung von künstlerischer Kreativität für die individuelle und gemeinschaftliche menschliche Entwicklung sowie die Bedeutung von Innovationen in Wissenschaft und Kultur für die Entwicklung von Zivilisationen. Die Verarbeitung seiner Umwelt unternimmt der Mensch wesentlich kreativ, gestaltend und ordnend. Aufgrund der Aktivität seines geistigen Pols ist es dem Menschen auch möglich, die Welt auf eine abstrakte, von seiner direkten Einbindung in die kausal wirkende Umwelt losgelöste Weise zu verstehen, mit Symbolen zu operieren, aktuelle Symbole kritisch auf ihren alltagsrelevanten, pragmatischen Wert zu überprüfen und neue Symbole zu schaffen.

4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik Außer Kants klassischen Subjektivismus muss Whitehead mit seinem philosophischen Ansatz ebenfalls die empiristische Erkenntnistheorie kritisch hinterfragen. Dreh- und Angelpunkt von Whiteheads Kritik Vgl. PR 504. Vgl. AI 376: »Der psychische Pol gewinnt seinen objektiven Inhalt einesteils durch Abstraktion aus den Gegebenheiten des physischen Pols, andernteils aber verdankt er sie der Immanenz des fundamentalen Eros [der Kreativität], der alle idealen Möglichkeiten verwirklichungsfähig macht.‟ 205 Es taucht die Frage auf, wie genau das Verhältnis aussieht von actual entities als ontologischen Einheiten zum Organismus Mensch, der einerseits als komplexe Verbindung von actual entities, andererseits aber selbst eine gewisse ontologische Einheit auf abstrakterer Ebene gesehen wird. Diese Frage soll hier allerdings nicht thematisiert werden. 204

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

ist dabei Humes skeptischer Empirismus, mit dem sich Whitehead vor allem in PR und im zweiten Teil von SY auseinandersetzt. Vor allem Humes These der Kausalität als reiner Gewohnheit der Beob­ achtung kann Whitehead nicht gelten lassen, da die Erfahrung kau­ saler Wirksamkeit für ihn zu den wesentlichen menschlichen Grun­ derfahrungen gehört, die mitten ins Herz der eigentlichen Beschaffenheit der Welt als kausal vernetzter Organismus führt. Ohne eine Revision des humeschen Kausalitätsbegriffs ist für Whitehead weder eine adäquate Metaphysik noch eine Erklärung des Funktionierens von Kultur und Gesellschaft einschließlich der Wirkung von Symbolen möglich. Um Whiteheads Kritik am Empirismus zu verstehen, soll ein Blick auf die Erkenntnistheorien von Locke und Hume geworfen werden.

4.3.1 Whitehead und Locke Lockes Ziel ist es, »die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, so wie sie sich an den ihnen vorkommenden Objekten betätigen« (Locke: Essay, I, Einleitung, § 2), zu untersuchen und darzustellen, um Auf­ schluss über die Art und Weise zu geben, »wie unser Verstand sich jene Begriffe von den Dingen, die wir haben, aneignet« (Locke: Essay, I, Einleitung, § 2). Mit seiner Untersuchung der Funktions­ weise des menschlichen Verstandes und der Voraussetzungen für Erkenntnis und Wissen des Menschen legt er eine Erkenntnispsy­ chologie vor. Zur Erklärung des Wissenserwerbs und der Entwicklung der Denkfähigkeit im Laufe der menschlichen Erfahrung dient dabei die Betrachtung eines Neugeborenen. Mit der Programmatik, »[m]an verfolge die Entwicklung eines Kindes von Geburt an und beachte die Veränderungen, die die Zeit hervorruft« (Locke: Essay, II,1,§ 22), legt Locke hier einen frühen entwicklungspsychologischen Ansatz vor. Dieser Ansatz führt zu der These, dass erst mit einem zunehmenden Maß an Sinneswahrnehmungen und mit zunehmender Übung des Geistes in der Beschäftigung mit den Eindrücken aus der Umwelt und der eigenen Tätigkeit auch eine zunehmend komplexe und differen­ zierte Denkfähigkeit wächst. Was steht nun am Anfang jedes Denkens und Wissens? Lockes Konzept sieht folgendermaßen aus: Grundlage der Erkenntnis sind alle Bewusstseinsinhalte, die der Mensch sich im Laufe seiner Ent­

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wicklung aneignet und in reger Denktätigkeit zu Wissen verarbeitet. Diese Bewusstseinsinhalte nennt er Ideen. Locke führt den Terminus der Idee ein, ohne ihn in einen philosophiegeschichtlichen Zusam­ menhang zu stellen. Ideen sind bei ihm alles, »was immer, wenn ein Mensch denkt, das Objekt des Verstandes ist« (Locke: Essay, I, Enlei­ tung, § 8), wobei mit Denken in einem sehr weiten Sinne hier auch schon das rein passive Aufnehmen von Sinneseindrücken gemeint sein muss, denn die Objekte unserer Sinne drängen unserem Geist die Ideen, die sie erzeugen, auf – ob wir wollen oder nicht.206 Locke legt den Begriff der »Idee« sehr weit aus und fasst unter diesen jeden beliebigen Bewusstseinsinhalt im Prozess des Denkens: abstrakte Begriffe ebenso wie bildliche Vorstellungen mit und ohne Entspre­ chung in dem, was unsere Sinne dem Geist von der Welt übermitteln. Die Idee ist bei Locke der allgemeinste Begriff für die Inhalte des menschlichen Geistes und mit dem zu vergleichen, was Hume später als Wahrnehmung (perception) bezeichnen wird. Lockes weite Aus­ legung des Begriffs der Idee wird von Hume kritisiert, indem dieser dafür plädiert, den Ausdruck »Idee« mit der seiner Ansicht nach ursprünglichen Bedeutung zu verwenden, »from which Mr. Locke had perverted it, in making it stand for all our perceptions« (Hume: Trea­ tise I,i,1).207 Wie kommen diese Ideen nun in den menschlichen Geist? Als Quelle aller Ideen sieht Locke die konkrete Erfahrung (experience) der Welt an – gegen die Existenz einer vorempirischen Erkenntnis wie zum Beispiel bei Descartes wendet er sich ausdrücklich. Es erscheint ihm »für keinen Menschen möglich, sich an Körpern, gleichviel wel­ cher Beschaffenheit, andere Qualitäten als die Gehörs-, Geschmacks-, Geruchs-, Gesichts- und Tastqualitäten vorzustellen, durch die man von diesen Körpern Kenntnis erlangen kann« (Locke: Essay II,2,§ 3). Der menschliche Geist gleicht bei der Geburt einem unbeschriebenen Blatt208, auf dem erst die Erfahrung ihre Schriftzeichen hinterlässt. Dabei richtet sich der Geist in seiner Erfahrung entweder durch Sin­ neswahrnehmung auf äußere sinnlich wahrnehmbare Objekte oder Vgl. Locke: Essay II,1,§ 25. Diese Aussage Humes ist in der deutschen Übersetzung rhetorisch deutlich entschärft worden: »Am Ende gebe ich dem Wort Vorstellung [idea] damit doch nur seinen ursprünglichen Sinn zurück; Locke war es, der ihm diesen Sinn nahm, indem er das Wort zur Bezeichnung für jede beliebige Perzeption machte« (Hume: Treatise, I,i,1, 2013:11). Daher wird an dieser Stelle der englische Originaltext zitiert. 208 Vgl. Locke: Essay II,1,§ 2. 206

207

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

auf sich selbst und seine inneren Operationen wie Denken oder Wol­ len. Aus diesen beiden Quellen sammelt er das Material allen weite­ ren Denkens. Nichts ist also im Verstande, was nicht vorher sinnlich oder als Erlebnis gegeben ist. Zweierlei Dinge also, nämlich äußere materielle Dinge als die Objekte der Sensation und die inneren Operationen des Geistes als die Objekte der Reflexion, sind für mich die einzigen Ursprünge, von denen alle unsere Ideen ihren Anfang nehmen (Locke: Essay II,1,§ 4).

Dabei sind es entwicklungspsychologisch die Objekte der Sensation, die durch die hinterlassenen Sinneseindrücke im Geiste die ersten Ideen entstehen lassen – durch das Nachdenken über die Operatio­ nen, die er mit seinem Verstand an diesen Ideen vornimmt, erlangt der Mensch dann in Folge die Ideen der Reflexion. Lockes Ideen können einfach oder komplex sein. Die einfachen Ideen entstehen vermittelt durch einen oder mehrere Sinne (Farben, Töne, Festigkeit), durch die Reflexion (Erinnern, Schließen, Glauben) oder durch eine Kombination aus beidem (Freude, Schmerz). Sie sind schlechthin gegeben und werden im Geist passiv erregt. Diese einfachen Ideen aus der Sinneswahrnehmung und der Reflexion sind in Lockes ent­ wicklungspsychologischem Ansatz also die kleinsten Bausteine des menschlichen Wissens.209 Komplexe Ideen hingegen entstehen aus der aktiven Arbeit des Verstandes, mehrere einfache Ideen zu einer neuen komplexen Idee zu verknüpfen. Aus den gegebenen Ideen und deren Verbindung und Verarbeitung durch das Denken gewinnt der Geist alle Erkenntnis. Die komplexen Ideen differenziert Locke in drei Untergruppen: Relationen (relations) drücken das Verhältnis zwischen verschiedenen Ideen aus. Modi (modes) sind Ideen, die nur im Zusammenhang mit anderen Ideen zu verstehen sind und die konzeptuell zur Bestimmung von deren Zuständen gebraucht werden können. Hierunter fallen zum Beispiel die Ideen von Laufen, Kriechen, Springen als Modi der Bewegung, aber auch abstrakte Ideen wie Ort oder Distanz als Modi zur Idee des Raums. In der Beschreibung als abhängig von anderen Ideen ähneln sie den aristo­ telischen Akzidenzien mit ihrer Abhängigkeit von den Substanzen – Vgl. Locke: Essay II,2,§ 1: »Nichts kann für den Menschen deutlicher sein als die klare und deutliche Wahrnehmung, die er von jenen einfachen Ideen hat, von denen jede einzelne, weil sie in sich nicht zusammengesetzt ist, nichts in sich enthält als eine einheitliche Erscheinung oder Vorstellung im Geist; deshalb lässt sie sich auch nicht in verschiedene Ideen zerlegen.« 209

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

allerdings kritisiert Locke die aristotelische Einteilung in Substanzen und Eigenschaften.210 Die komplexen Ideen dessen, was bei Aristote­ les als Substanzen bezeichnet wird, also die Ideen von einheitlichen Gegenständen mit ihnen eigenen Wesenheiten, nehmen laut Locke im Denken des Menschen einen Sonderstatus ein. Von Substanzen, der dritten Gruppe komplexer Ideen, kann es nämlich keine klaren, sondern nur verworrene Ideen geben. Locke bezweifelt, dass für den Menschen eine Substanz als wirkliches und einheitliches, in seiner Identität beharrendes Einzelding erkennbar sein könne. Der Mensch ist jedenfalls weder mit seinen Sinnen noch mit seinen Denk­ möglichkeiten imstande, als Substanz eine Wesensbestimmung (real essence) zu erkennen, die einzelne Eindrücke zu bestimmten Einhei­ ten bündelte. Dennoch gehen wir von der Annahme der Existenz klar definierter Substanzen aus, dieses psychologische Phänomen hat dabei aber keinerlei sichere Rückkopplung mit der Wirklichkeit. Locke kritisiert zwar den Substanzbegriff, nimmt aber laut Whitehead weiterhin eine Trennung von natürlicher und geistiger Welt an, die letzterer überwinden möchte. Whitehead lastet Locke also an, dem Denken in Substanz-Akzidenz-Schemata weiterhin verhaftet zu blei­ ben. Specht hält diese Kritik Whiteheads an Locke für unangemessen wenn er meint, »dass Locke mit der cartesischen Einteilung der Welt in denkende und ausgedehnte Substanzen beträchtliche Schwierigkeiten hatte« (Specht 1986:56), und tatsächlich findet Locke die unabhängige Existenz von eigenschaftsbehafteten materiellen Substanzen im Sinne von Einzeldingen ja nicht nachweisbar. Doch Whitehead konstatiert, dass »Locke zwar »niemals müde [wird], den Begriff der ›Substanz‹ abzuwerten, er [...] aber keinen Hinweis auf alternative Kategorien [gibt], die man verwenden könnte, um die Begriffe ›wirkliches Einzel­ wesen‹ und ›Realität‹ zu analysieren« (PR 275). Dennoch sieht Whitehead in seiner Interpretation von Lockes Erkenntnistheorie mögliche Ansätze für eine Organismusphiloso­ phie. Aus seiner prinzipiellen Ablehnung einer Metaphysik heraus hat Locke, so Whitehead, die Chance verpasst, als sein »wahres Thema« die Analyse von Erfahrungstypen im metaphyisch ausge­ weiteten Sinne zu erkennen, diese Ansätze auszuarbeiten und dem

So ist z. B. der Sinneseindruck einer Farbe für Locke keine abhängige Eigenschaft, sondern eine unabhängige einfache Idee. 210

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

Dilemma einer psychisch-physisch geteilten Welt zu entgehen.211 In PR (PR 122–128) weist Whitehead auf die Inspirationen hin, die er in Lockes Essay findet.212 Lockes Begriff der Kraft zum Beispiel, die bestimme Einzelexistenzen auf andere ausüben können, impliziere eine Relationalität der Welt. Mit Verweis auf Lockes Essay II,21,§§ 1– 3 stellt Whitehead fest: »In dieser wichtigen Passage entfaltet Locke die Hauptthesen der organistischen Philosophie, nämlich das Relati­ vitätsprinzip […] [und] den Begriff der ›Kraft‹, der einen wesentlichen Bestandteil in dem eines wirklichen Einzelwesens (einer Substanz) ausmacht« (PR 123). Auf die Idee der Existenz und Wirkung einer Kraft kommen wir nach Locke, indem wir beobachten, wie sich inner­ halb von Einzeldingen einzelne einfache Ideen über einen Zeitraum hinweg abwechseln.213 Diese Veränderungen vollziehen sich sowohl in der Außenwelt, die wir durch Eindrücke aufnehmen, als auch in unserem Inneren, das uns durch Reflexion zugänglich ist. Wir sehen in den Dingen eine Neigung, zu verändern oder verändert zu werden. Diese Neigung oder Disposition zur Veränderung nennt Locke »Kraft«.214 Hierbei ist es notwendig, dass ein Ding, auf das eine bestimmte Veränderungskraft ausgeübt wird, auch die Disposition aufweist, diese Veränderung zu erleiden. Es gibt also einen Zusam­ menhang zwischen Kraft ausübenden und Kraft erleidenden Dingen. So kann Schnee die von der Sonne ausgeübte Veränderung des Schmelzens erfahren, Beton aber nicht. Pilons Zusammenfassung des lockeschen Kraftbegriffs mit den Worten: »So ›power‹ is not simply a term relating unconnected, separate entities (as a library collects various books); rather, the objects involved are intimately interrela­ ted« (Pilon 1977:197) könnte genauso gut eine Beschreibung der inneren Verbundenheit aller Dinge des Universums untereinander bei Whitehead sein. Auch wird den Einzeldingen die Kraft zugesprochen, eine Verbindung zur Vorstellung bestimmter Eigenschaften, denen bei Whitehead die eternal objects entsprechen, hervorzurufen. Man Vgl. PR 275: »Lockes Abneigung gegenüber der Metaphysik führte ihn auf eine Denkebene, auf der die Metaphysik ganz wesentlich zur Klärung beiträgt […]. Sein Essay enthält jedoch Gedankengänge, aus denen eine Metaphysik entwickelt werden könnte.« 212 Vgl. Wolf-Gazo: »It was the ›speculative moment‹ in Locke‘s Essay, such as the concept of ›power‹ which helped Whitehead to supplant the original problem of the ›bifurcation of nature‹« (Wolf-Gazo 1985:238). 213 Vgl. Locke: Essay II,21,§ 1. 214 Vgl. Locke: Essay II,21,§ 2. 211

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

macht die Beobachtung, »dass Gold oder Safran die Kraft haben, in uns die Idee ›gelb‹ zu erzeugen; Schnee oder Milch die Kraft, die Idee ›weiß‹ hervorzurufen« (Locke: Essay II,21,§ 73). Whitehead nimmt Lockes Ansatz und transformiert das Konzept der Kraft von einer epistemologischen auf eine ontologische Ebene, so dass die Kraftwirkung das ontologische Prinzip verkörpert, nach dem Relationalität ein wesentliches Konstituens der Welt auf mikroskopi­ scher Ebene ist. Als Substanzen will er in diesem Zusammenhang nicht mesokosmische Einzeldinge, sondern die wirklichen Einzelwe­ sen als letzte Bestandteile der Wirklichkeit verstanden wissen. Das ontologische Prinzip vertieft und erweitert ein allgemeines Prin­ zip, das John Locke in seinem Essay […] aufstellt, wenn er sagt, ›dass die Kräfte einen großen Teil unserer komplexen Ideen der Substanzen bilden‹. Der Begriff ›Substanz‹ wird in den eines ›wirklichen Einzel­ wesens‹ umgewandelt; und der Begriff ›Kraft‹ erhält die Form des Prinzips, dass die Gründe für irgend etwas stets in der zusammen­ gesetzten Natur bestimmter wirklicher Einzelwesen gesucht werden müssen (PR 58).

Letzteres entspricht dem Prinzip der kausalen Wirksamkeit, wonach die Kraft, die ein wirkliches Einzelwesen auf ein anderes ausübt, darin besteht, dass Informationen von Einzelwesen eine direkte Aus­ wirkung auf die Entstehung folgender Einzelwesen haben. Handelt es sich aber nicht um eine Überstrapazierung, wenn Whitehead einzelne Textstellen des Essay in dieser Weise auf das eigene Anliegen hin deutet? Whitehead vertritt die These, dass in vielen philosophischen Konzepten metaphysische Annahmen (unbe­ wusst) zugrunde, aber nicht immer offen gelegt werden. Locke betref­ fend vermutet er, es sei »nicht unwahrscheinlich, dass Locke in metaphysischen Problemen weiter sah als einige seiner Nachfolger« (PR 127), wie zum Beispiel Hume. Er weist darauf hin, dass er aus Lockes Essay metaphysische Ansätze herausliest, dass er sich aber damit zurückhält, diese Locke als bewusstes Konzept zu unterstellen: Ich behaupte gewiss nicht, dass Locke alle Implikationen seiner Worte so begriffen hat, wie sie für die organistische Philosophie ausgeführt wurden. Der Schritt von einer unachtsamen Formulierung zu einem Gedankenblitz ist aber nicht groß (PR 126/127).

Glauben wir Whitehead, dass er Locke nicht instrumentalisiert und gegen Lockes eigentliche Intention umdeutet, um seine eigene Meta­

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

physik durch die Berufung auf maßgebliche Autoritäten zu legitimie­ ren – sondern dass er gemäß der Arbeitsweise der spekulativen Philosophie lediglich dem Aufleuchten von Gedankenblitzen folgt, in denen man die Angemessenheit der organistischen Kosmologie erkennen kann. Specht, der sich für eine zurückhaltende philologi­ sche Untersuchung philosophischer Klassiker ausspricht, hält aus diesem Grund die Lockedeutung Whiteheads in fast allen Punkten für unangemessen215. Whiteheads »textlich nicht haltbare Interpreta­ tionen« (Specht 1986:66) kommen seiner Ansicht nach »dem Verste­ hen Lockes meist nicht einmal dadurch zugute, dass sie verborgene Züge des Autors sichtbar machen« (Specht 1986:66), sondern zeigen lediglich, dass »Whitehead Locke nicht wie ein Philologe, sondern in der Weise der Arbeitspräsenz« (Specht 1986:67) liest, womit er Locke nicht gerecht wird. In einer Verteidigung gegen diese Kritik weist Kann zurecht darauf hin, dass Whitehead bei weitem nicht nur assoziativ vorgeht, sondern auch lange Originalpassagen zitiert und diese durchaus mit »eine[m] streckenweise philologischen Interpre­ tationsstil« (Kann 2001:7) bearbeitet. Whitehead selbst jedenfalls weist darauf hin, dass er Locke nicht missdeutet, sondern dass er Lockes Ansätze als Denkanregung aus der Perspektive der Orga­ nismusphilosophie liest: »Die organistische Philosophie […] lässt Lockes Essay eine metaphysische Interpretation angedeihen, die Locke selbst nicht vor Augen hatte« (PR 264). Im Gegensatz zu Specht sieht Wolf-Gazo (1985:237) einen großen philosophischen Verdienst Whiteheads »[in] transforming the prototype of British empiricism, namely Locke and his epistemological doctrines, into an original and useful ontological position.«

4.3.2 Whitehead und Hume Hume legt seiner Erkenntnistheorie die Untersuchung der Bedingun­ gen für die menschliche Erkenntnis zugrunde und sieht diese »science of human nature« gleichzeitig als einzig mögliche Fundierung aller weiteren Wissenschaften an, da Wissen stets nur entsprechend den jeweiligen Erkenntnisfähigkeiten und -grenzen des menschlichen Geistes gewonnen werden kann: »Wenn wir daher hier den Anspruch erheben, die Prinzipien der menschlichen Natur klarzulegen, so stel­ 215

Vgl. Specht 1986:47.

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

len wir damit zugleich ein vollständiges System der Wissenschaften in Aussicht« (Hume: Treatise, Einleitung, 2013:6). Während Des­ cartes vom Menschen ausgehend zwar auch die Sinneseindrücke berücksichtigt, das Fundament der Wissenschaften aber mit Hilfe der Vernunft entwickeln möchte, werden bei Hume – wie bei Locke – Erfahrung und Beobachtung zum Fundament der Wissenschaften genommen. Er macht die menschliche Sinneswahrnehmung zum Dreh- und Angelpunkt seiner Erkenntnistheorie: Nicht durch das reine Denken, sondern mit Konzentration auf die direkte Sinneser­ fahrung des Menschen werden Erkenntnisse gewonnen. Bei seinem Vorschlag einer »science of man« als Grundlage aller Wissenschaften übt er gleichzeitig Kritik an einer überzogenen Vorstellung davon, wie weitreichend Erkenntnis über die Funktionsweise des menschlichen Geistes und über die Objekte seines Erkennens sein könnte: Ebenso gewiss aber können wir dabei [bei der Untersuchung unse­ rer Erklärungsgründe] nie über die Erfahrung hinausgehen. Jede Hypothese, welche die letzten und ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Natur entdeckt haben will, sollte darum von vornherein als anmaßend und chimärisch zurückgewiesen werden (Hume: Treati­ se, Einleitung, 2013:7).

Ontologische Aussagen über das Sein der Dinge unabhängig von der menschlichen Erfahrung sollen vermieden werden. Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis ist bei Hume das, was wir von der Welt vermittelt durch die Sinneswahrnehmung in unserem Kopf repräsentieren. Diese Wahrnehmungen (perceptions) genann­ ten Geistes- oder Bewusstseinsinhalte sind die Grundlage unseres Wissens über die Welt. Es gibt also kein Wissen, das nicht auf Wahrnehmungen basiert. Im Folgenden unterteilt Hume jene Wahr­ nehmungen oder Bewusstseinsinhalte in zwei verschiedene Arten: Eindrücke oder Impressionen (impressions) und Vorstellungen oder Ideen (ideas). Sowohl die Impressionen als auch die Ideen können jeweils in einfacher oder komplexer Form vorliegen. Die Impressio­ nen differenziert Hume weiter in äußere Eindrücke der Sinneswahr­ nehmung (sensations) und innere Eindrücke der Selbstwahrnehmung (emotions, passions). Jegliche Formen von Impressionen sind die direkten, starken und lebhaften Empfindungen oder Eindrücke, die durch Sinneswahrnehmung oder Selbstwahrnehmung in uns hervor­ gerufen werden. Hierzu gehören also sinnlich durch Sehen, Hören oder Tasten hervorgerufene Sensations genauso wie auch die emo­ tional durch Hassen, Wünschen oder Wollen in die Wahrnehmung

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

aufgenommenen Passions. Ideen, die zweite Art der Bewusstseinsin­ halte, sind als Vorstellungen von Eindrücken und als Erinnerungen an Eindrücke matte, abgeschwächte Abbilder eben dieser. Das, was bei Hume als Idee bezeichnet wird, ist also die Vorstellung über etwas, das wir in unserem Geist aus verschiedenen Informationen wie Sinnes­ eindrücken und Operationen des Geistes zusammensetzen. Eine Idee ist der Informationsgehalt eines Objektes, wie es im menschlichen Geist repräsentiert wird. Hume verwendet den Begriff der Idee also in einem engeren und differenzierteren Sinne als Locke, denn dieser versteht darunter auch die direkten Sinneseindrücke selbst, die bei Hume als Impressionen im Geist erst einmal nur die Urbilder der Ideen sind. Auch Hume nimmt eine Einteilung in einfache und kom­ plexe Ideen vor: Einfache Ideen entstammen einfachen Impressionen und entsprechen diesen. Komplexe Ideen werden vom Verstand aus den Resultaten verschiedener Impressionen, also aus verschiedenen einfachen Ideen zusammengesetzt. Jede Idee oder Vorstellung muss ungeachtet ihrer Komplexität immer auf einen irgendwann möglichen Sinneseindruck zurückgeführt werden können; ohne vorausgegange­ nen Eindruck existiert auch keine Vorstellung. Als Ganzes muss eine komplexe Idee kein diesem entsprechendes Korrelat an Impressionen aufweisen können, doch Hume postuliert: Es gibt keine klaren Ideen, die nicht wenigstens in ihren einzelnen Bestandteilen auf eindeutige Eindrücke zurückgeführt werden können. Man kann die komplexe Idee von einem Liebesbrief haben, ohne jemals einen bekommen zu haben, wenn man alle für diese Idee notwendigen einfachen Ideen kennt, da man ja über deren zugrunde liegende Impressionen verfügt hat. Zwar braucht die Relation je nach Menge der Impressionen und nach Komplexität der Ideen kein isomorphes Abbildungsverhältnis zu sein, es gilt jedoch: Zumindest jede einfache Idee hat ihre Ursache in einem einfachen impressionalen Korrelat. Es trifft die Regel zu, »dass jeder einfachen Vorstellung ein einfacher Eindruck entspricht, der ihr gleicht, dass es ebenso für jeden einfachen Eindruck eine ihm entsprechende Vorstellung gibt« (Hume: Treatise I,i,1, 2013:13). Mit zunehmenden Erfahrungen etablieren sich immer mehr Ideen im Geist des Menschen und bestimmen dessen Denken und Urteilen. Trotz Abhängigkeit des menschlichen Wissens von Eindrü­ cken wird durch die Ideen als ebenfalls im Geiste vorhandene Abbilder dieser Eindrücke die Möglichkeit garantiert, über Bewusstseinsin­ halte denken und urteilen zu können, ohne dass jedes Mal erneut die für die jeweiligen Bewusstseinsinhalte verantwortlichen Eindrücke

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

unmittelbar vorhanden sein müssen. Die kognitive und kreative Leistung des menschlichen Geistes besteht nun in der Fähigkeit, den durch die Sinne und die Erfahrung gewonnenen Stoff im Denken zu verbinden, umzustellen oder zu erweitern. Die Einbildungskraft ist dabei frei, ihre Vorstellungen auf Basis des impressionalen Grund­ gehaltes zu variieren und zu ändern. Unsere komplexen Ideen von den Gegenständen der Alltagswelt erschaffen wir dadurch, dass wir eine bestimmte Menge zusammen auftretender einfacher Ideen als ein zusammengehöriges Bündel betrachten. Auch abstrakte Ideen selbst sind dann im menschlichen Geist als konkrete individuelle Repräsentationen von Impressionen vorhanden – ungeachtet der Tatsache, dass wir sie in der Anwendung dieser Ideen in unserem Denken so benutzen, als seien sie Universalien.216 So können wir zwar auf die Jagd gehen mit der generellen Idee davon, was ein Wildschwein ist, auch ohne vorher jemals einem Exemplar begegnet zu sein – das Bild aber, was wir von diesem Tier im Kopf haben, ist immer ein partikulares, denn zur Bildung der Idee eines Wildschweins bedarf es einzelner partikularer Impressionen, aus denen wir diese Idee konstruieren. Auch das, was wir dann erlegen, ist ein ganz konkretes Individuum. Wie Locke kommt auch Hume zum Schluss der Gebundenheit unseres Wissens an die Bedingungen des Wahrnehmungsapparates unserer Sinnesorgane. Der Umfang im Erwerb der einfachen Ideen von außen hängt somit auch von der Zahl und der Vielfältigkeit der Erfahrungsobjekte ab. Hume belegt mit dem Hinweis auf die biologi­ sche Bedingtheit des Entstehens bestimmter Ideen seine These vom Zusammenhang der Existenz sinnlicher Eindrücke und der Existenz von Ideen im menschlichen Geist. »So können wir uns beispielsweise keine richtige Vorstellung von dem Geschmack einer Ananas machen, ohne sie wirklich gekostet zu haben« (Hume: Treatise I,i,1, 2013:16). Die Frage, wie es genau geschieht, dass die Sinneseindrücke dem Geist als Denkmaterial zur Verfügung stehen, liegt aber bei keinem der beiden im Zentrum der Untersuchungen, es wird einfach von den als allgemein gegeben angesehenen Fakten ausgegangen. Diese Fokussierung auf die Sinneswahrnehmung und vor allem auf den Sehsinn ist laut Whitehead allein deshalb aber schon irreführend, weil Sinneswahrnehmung nur einen kleinen – und dazu noch instabilen – Teil der menschlichen Erfahrung ausmacht. »Im Gegensatz zu 216

Vgl. Hume: Treatise I,i,7.

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

Humes Interpretation von Erfahrung muss als erstes festgestellt werden, dass distinkte Sinnesdaten die veränderlichsten Elemente unseres Lebens sind« (MT 147) und dass die Sinneswahrnehmung lediglich »ein hochentwickelter Abkömmling der primitiveren leibli­ chen Erfahrung« (MT 111) ist.217 Whitehead vertritt die These, dass Hume sich trotz seiner Kritik an Descartes dennoch nicht von dessen entscheidender ontologischer Prämisse, nämlich dem Substanzdualismus gelöst hat und dass diese daher implizit Humes Denken beeinflusst und in Verbindung mit seinem empiristischen Ansatz zu seiner skeptizistischen Haltung führt. Der cartesische Substanzdualismus wird von Hume aufgrund der Ablehnung einer Substanzontologie kritisiert, die aus dem Befund resultiert, man könne generell keine Impressionen von dem, was wir Substanzen nennen, in der menschlichen Wahrnehmung ausmachen – weder von Einzeldingen noch von einer Substanz, die wir eindeutig als den menschlichen Geist als solchen bezeichnen könnten. Descartes behauptete, […] dass Denken überhaupt das Wesen der Seele sei. Aber diese Behauptung ist vollkommen unverständlich, weil alles, was existiert, einzelnes ist. Daher müssen es die vielen Perzep­ tionen sein, die den Geist bilden. […] Die Seele oder der Geist sind keine Substanz, der die Perzeptionen inhärieren. […] Wir haben keine Vorstellungen von Substanzen. Denn alle unsere Vorstellungen hän­ gen irgendwie von unmittelbaren Eindrücken ab; und wir haben keinen Eindruck von einer sei es geistigen, sei es materiellen Substanz« (Hume: Abriss, S. 47).

Humes Konzentration auf die Funktionsweise des menschlichen Geis­ tes bei der Wahrnehmung und Erkenntnis der Natur impliziert nach Whitehead nun aber genau eine Kontrastierung von erkannter Natur auf der einen und erkennendem menschlichen Geist auf der anderen Seite – mögen diese nun Substanzen genannt werden oder auch nicht. Hume seinerseits […] rückte in seiner Erklärung der Geistestätigkeit und ihrer Inhalte niemals von genau dem Habitus ab, in Subjekt und Prädikat zu denken. […] Humes skeptische Reduktion der Erkenntnis Vgl. MT 192: »Die Schwäche der Epistemologie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts bestand darin, dass sie ausschließlich auf einer engen Formulierung unserer Sinneswahrnehmung beruhte. [...] In einer solchen Epistemologie sind wir weit entfernt von den komplexen Daten, denen die philosophische Spekulation Rechnung tragen muss, wenn sie ein System schaffen will, das das Ganze verständ­ lich macht.« 217

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

beruht (was seine Argumente angeht) vollständig auf der stillschwei­ genden Voraussetzung des Geistes als Subjekt und seiner Inhalte als Prädikate – eine Voraussetzung, die er explizit zurückweist (PR 112).

Die These, dass durch Sinneseindrücke Ideen von Qualitäten im menschlichen Geist erzeugt werden, dass durch diese aber keinerlei weitere Rückschlüsse auf die natürlichen Quellen der Sinneseindrü­ cke gezogen werden können, beinhaltet die Annahme einer getrenn­ ten Existenz von Außenwelt inklusive des menschlichen Körpers einerseits und Geist andererseits. Diese Annahme möchte Whitehead mit seiner Ontologie als irreführend und falsch herausstellen.

4.3.3 Whitehead, Locke, Hume und das Phänomen der Alltagsge­ genstände Hauptsächlicher Gegenstand unserer sinnlich vermittelten Erkennt­ nis sind nun aber die Objekte in unserer Umwelt, die unserem Alltagsverständnis nach durch feste Grenzen definiert sind, denen bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden und die ihre Identität auch durch verschiedene Veränderungen hindurch bewahren. Diese Einzeldinge und ihre Namen kann man als aristotelische Substanzen verstehen. Auf der logischen Ebene sind die Namen der Einzeldinge als Substanzen die letzten Subjekte, von denen alles andere prädiziert wird, die aber selbst kein Prädikat von etwas anderem mehr sind. Als konkrete Einzeldinge sind sie das, was in nichts anderem begründet ist und dem alles andere als Akzidenzien zukommt. Kriterien sind also unter anderem: Selbständigkeit, Grundlage für Eigenschaften und Wesenseinheitlichkeit, die in keine kleineren Bausteine unterteilt werden kann – also etwas mit essenziellen Eigenschaften, ohne die es nicht mehr es selbst wäre. Die tatsächliche Existenz dieser Alltagsge­ genstände und Dinge als Substanzen zweifeln alle drei Philosophen an – jedoch auf ganz unterschiedliche Weise. Wie kommen wir nun überhaupt zu dieser Überzeugung, es gäbe in der Welt bestimmte definierbare Objekte und Einzeldinge, die in Mengen als zu bestimmten Arten zugehörig klassifiziert werden können? Wie kommen wir zu dem Konzept oder der Idee eines Wildschweins? Locke und Hume treffen auf dem kleinsten gemeinsa­ men Nenner der These zusammen, dass man die zu bestimmende Vorstellung eines Wesenskerns in den von uns erkannten Dingen nicht greifen kann, da man lediglich zu einer Ausdifferenzierung

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

der komplexen Idee eines Objektes gelangt, nicht aber zu etwas wie deren Kern. Auch wenn wir in unserer Alltagskognition mit der Vorstellung einigermaßen klar definierter und als Einzeldinge bestimmter Objekte operieren, so gibt es doch keinen ausreichenden empirischen Befund dafür, dass wir in der Tat auch eine diese Einheit der Dinge begründende Entität ausmachen können. Es gibt keine für den Menschen erkennbare grundlegende Substanz der Dinge zusätzlich zu den einzelnen jeweils wahrgenommenen Impressionen. Bis hierhin stimmt Whitehead mit Locke und Hume überein – abgesehen von der nicht unwesentlichen und an anderer Stelle bereits erläuterten Tatsache, dass für ihn Wahrnehmung auf basaler Ebene nichts mit Sinneswahrnehmung zu tun hat, sondern damit, das sich der gesamte menschliche Organismus durch Relationen zu seiner Umwelt konstituiert, die man Wahrnehmungen in einem sehr weiten Sinne nennen kann. Nun teilen wir die Welt aber dennoch in Objekte ein. Wenn sich diese Objekte bei Locke und Hume aber einzig als Summe oder Bündel von Ideen darstellen – Wodurch ist dann eine Menge ganz bestimmter einfacher Ideen und keiner anderen also zu dem vereinigt, was wir als Substanzen wahrnehmen und bezeichnen? Wie schaffen es die jewei­ ligen einfachen Ideen, stets in ähnlicher Weise zu koexistieren, so dass wir diese Haufen gleicher Ideen immer wieder unter unsere komplexe Idee eines bestimmten Objektes fassen können? Jene Überzeugung kann kaum anders als durch Alltagsgewohnheit gerechtfertigt werden – diese These verbindet Locke und Hume und trennt sie von Whitehead. Sowohl Locke als auch Hume sprechen davon, dass es die Gewohnheit aufgrund der wiederholten Wahrnehmung stets zusam­ men auftretender Eindrücke ist, die uns veranlasst, diese Kopräsenz von Eigenschaften als in einem wesenseinheitlichen Objekt zu interpretieren. Locke beschreibt unsere Ideen von Substanzen als »Kom­ binationen von einfachen Ideen die man als Darstellungen bestimm­ ter, selbständig bestehender Einzeldinge ansieht« (Locke: Essay II,22,§ 6). Die regelmäßige und im Laufe wachsender Erfahrung auch fast automatisch funktionierende Kombination jeweils ganz bestimmter einfacher Ideen zu den Ideen von Objekten ist dabei ein auf Häufigkeit der Beobachtung beruhender Vorgang. Laut Locke beobachtet der menschliche Geist, dass »eine bestimmte Anzahl die­ ser einfachen Ideen stets zusammen auftritt. Man vermutet daher, dass sie einem einzigen Ding zugehören« (Locke: Essay II,23,§ 1). In der Kombination der einfachen Ideen, die wir, wenn wir sie als zusam­

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

men auftretend beobachten, zu unserer komplexen Idee eines Wild­ schweins vereinen, tritt so gut wie immer die Idee von Borstenhaaren auf, dafür aber nie die Idee des Unter-Wasser-Seins. Über die Verall­ gemeinerung der Ideen von beobachteten individuellen Einzeldingen gelangen wir auf diese Weise auch zur unseren Art-Klassifikationen mit den entsprechenden Bezeichnungen. Als problematisch kritisiert Locke, dass in unserem Geist die Idee der Substanz selbst die Idee einer ersten und obersten Grundlage oder einer verbindenden Basis der einzelnen sich vereinigenden Ideen impliziert, von deren genauer Beschaffenheit wir nur eine Idee haben können, die »hypothetisch oder verworren« (Locke: Essay II,12,§ 6), nicht aber klar ist. Locke stellt hier also fest, dass wir neben dem gewohnheitsmäßigen Zusam­ menstellen von Ideen zu Ideen von Objekten beim Denken über Ein­ zeldinge immer auch die Idee einer wesenskonstituierenden Grund­ lage haben, die als Substrat bestimmte Eigenschaften als für ein Objekt essenziell zusammenhält. Dies kann entweder die Idee eines urstofflichen Substrats im Sinne einer ›prima materia‹, eines materi­ ellen ›hypokeimenon‹ sein, dies kann aber auch eine verborgene Kraft sein. Bei Locke bleibt fraglich, ob er die Existenz einer solchen allgemeinen einheitsstiftenden Substanz postuliert oder sie aber ablehnt und lediglich den naiven Alltagsglauben an ein solches Substrat (das einzelne Ideen mit einer verborgenen Systematik zu definierten kom­ plexen Ideen von Substanzen im Sinne von Objekten verbindet) iro­ nisiert. Humes Position hingegen zur Frage des Konstituens eines bestimmten Gegenstandes als zu dem entsprechenden Konzept zuge­ hörig ist relativ eindeutig; er lehnt sowohl das aristotelische Konzept eines zugrunde liegenden Substrats als auch sonstige Vorstellungen von Substanz bildenden Kräften in der Natur ab.218 Unsere Definition der Dinge darüber, dass wir verschiedene beobachtete Eindrücke als notwendigerweise in einer Substanz zusammengehörig verstehen, beruht auf statistischen Regelmäßigkeiten und Gewohnheiten in der Beobachtung – und nicht auf einer natürlichen Bestimmung in den Dingen selbst: »Die Vorstellung einer Substanz, und ebenso die eines Modus ist nichts als ein Zusammen einfacher Vorstellungen, die durch die Einbildungs­ kraft vereinigt worden sind, und einen besonderen Namen erhalten haben, durch welchen wir dieses Zusammen uns oder anderen ins Gedächtnis zurückrufen können« (Hume: Treatise I,i,6, 2013:28). 218

Vgl. Hume: Treatise I,iv,3.

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4.3 Empiristische Erkenntnistheorie als Gegenstand der Kritik

Unsere Ideen von den Dingen sind nicht mehr als Bündel von einfa­ chen Ideen. Bei Hume gibt es die völlige Negation einer Kraft, Entität oder Wesensbestimmung, die einzelne Eigenschaften zu einer natür­ lichen Einheit zusammenhält. Er betont die absolute Unabhängigkeit aller einzelnen Ideen: Da jede Eigenschaft ein von jeder anderen unterschiedenen Etwas ist, so kann sie als für sich existierend vorgestellt werden und für sich oder ohne anderes existieren; nicht allein ohne eine andere Eigenschaft, sondern auch ohne jene unfassbare Chimäre, die man als Substanz bezeichnet (Hume: Treatise I,iv, 3, 2013:275).

In diesem Punkt äußert er sich radikaler als Locke: Er stellt nicht einmal Vermutungen über die mögliche Existenz einer klaren Idee von einer vereinigenden Kraft oder einem Substrat an, das für das Zusammendenken verschiedener Ideen zu einem Objekt verantwort­ lich sein könnte. Es ist für ihn vergebene Liebesmühe, nach einer Entität wie der alle Eigenschaften zu einem wesensbestimmten Ding vereinenden Substanz forschen zu wollen, ein absurdes und sinnloses Unterfangen, denn »kann man sich eine größere Qual denken als die, mit Eifer zu suchen, was uns für immer entflieht, und es an einem Ort zu suchen, wo es unmöglich je sich finden kann?« (Hume: Treatise I,iv,3, 2013:277). So spricht er auch von »Wahngebilde[n] der alten Philosophie betreffend die Substanzen« (Hume: Treatise, I,iv,3, 2013:271/272). Hume hält also ein deutliches Plädoyer für die positivistische Beschränkung auf beobachtbare Tatsachen (und damit auch gegen jede Art der Metaphysik). Das Phänomen des menschlichen Klassifizierens und Benennens von Objekten durch kategoriale Ideen und entsprechende Namen erklärt Hume mit einer im menschlichen Geist angelegten Ökono­ misierung zur Erleichterung der alltäglichen Handlungs- und Kom­ munikationsfähigkeit. Diese funktioniert mittels einer Ordnung von einzelnen Objekten in bestimmte Klassen anhand von Kriterien der Ähnlichkeitsrelation. Das Subsumieren von individuellen Objekten unter bestimmte Kategorien sowie das sprachliche Bezeichnen dieser Kategorien mit bestimmten Art-Termen rührt nach Hume also nicht aus einer zwingenden Notwendigkeit her, die in der Natur der Dinge liegt, sondern erweist sich vielmehr als rein geistige, aus pragmati­ schen Gründen erfolgende Ordnungsleistung ohne sicheres Korrelat der Allgemeinbegriffe in der Wirklichkeit.

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

Da […] die Einzeldinge von uns auf Grund der Ähnlichkeit, die sie miteinander haben, zusammengefasst und mit einem allgemeinen Ausdruck bezeichnet werden, so muss ebendiese Beziehung [der Ähnlichkeit] ihr Auftreten in der Einbildungskraft erleichtern und bewirken, dass sie im gegebenen Fall rascher zur Hand sind (Hume: Treatise I,i,7, 2013:36/37).

Wie es aber genau funktioniert, dass die Identifikation eines Objekts als zu einer bestimmten Kategorie gehörig eine schnellere geistige Verfügbarkeit dieses Objekts ermöglicht, erläutert Hume nicht. Hier greift er also auf den von Whitehead in UC kritisierten »secret store of information« zurück. Hat diese psychische Klassifikationstätigkeit eine wichtige Funktion für die Organisation unserer Ideen im All­ tag, so darf diese laut Hume trotzdem nicht mit einer Ordnung gleichgesetzt werden, die auch in der Wirklichkeit existiert. Zum Vollzug dieses Schrittes fehlen uns die entsprechenden Impressionen. Einzelne Objekte, die vom Verstand als beständig und durch verschie­ dene Eigenschaftsänderungen hindurch als mit sich selbst identisch angesehen werden, sind Konstrukte des Geistes und erweisen sich als psychologisch nachvollziehbare, aber philosophisch unhaltbare Fik­ tionen.219 Diese Äußerung Humes könnte Whitehead angesichts seiner eigenen Kritik des Begriffs der Substanz in der Definition eindeu­ tig von der Umwelt abtrennbarer, materieller Einzeldinge durchaus unterschreiben. Allerdings ist die philosophische Motivation zu dieser Kritik bei Whitehead eine völlig andere als bei Hume, denn er trifft gerade und mit Vehemenz Aussagen über die faktische Konstitution der Wirklichkeit. Whiteheads Kritik am Substanzbegriff ist motiviert von der These, dass es keine Substanzen im Sinne beständiger Dinge gibt – da die Welt auf mikrokosmischer Ebene aus Prozessen besteht und sich Alltagsgegenstände als Abstraktionen erweisen, in denen (tatsächlich existente) Strukturmerkmale aus dem Prozesskonglome­ rat herausgestellt werden. Die menschliche Annahme der Existenz von Alltagsgegenständen hält er auf der mesokosmischen Ebene nicht nur für nachvollziehbar, sondern – und in dem Punkt stimmt er mit Hume überein – auch sinnvoll zur Strukturierung des alltäglichen Handelns. Im Gegensatz zu Hume fügt diese Annahme bei White­ head der Welt allerdings keine zusätzlichen Entitäten als Produkte des Geistes hinzu, sondern nimmt eben lediglich eine Abstraktion 219

Vgl. Hume, Treatise, I,iv,3.

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4.4 Vom Mikrokosmos zum Mesokosmos menschlicher Erfahrung

von der ontologischen Wirklichkeit der Welt als Prozessorganismus vor. Anders als Hume, der sich hierzu nicht explizit äußert, nimmt Whitehead schließlich eine gemeinsame Grundlage von Mensch und Natur an. Laut Whitehead eignet sich die Einteilung der Welt in materielle Substanzen und ihnen angehefteten Eigenschaften nämlich nicht als Beschreibung der Wirklichkeit (hier würden Locke und Hume noch zustimmen), da die Welt auf metaphysischer Ebene aus kleinsten psycho-physischen Prozesseinheiten besteht (an dieser Stelle würden Locke und Hume aussteigen), die sich, vereinfacht ausgedrückt, in komplexen Mustern über Generationen von Prozess­ einheiten so wiederholen, dass wir sie als vermeintlich abgegrenzte Gegenstände wahrnehmen. Whitehead stimmt mit Humes Ansät­ zen überein, insoweit dieser eine kritische Analyse der Zuverlässig­ keit von Sinneswahrnehmung für epistemische Aussagen vollzieht. Humes Konsequenz, aus dieser Kritik einen Skeptizismus zu folgern, teilt Whitehead aber nicht. Nach Whitehead liegt Humes Denkfehler im Übersehen einer wesentlichen Wahrnehmungsweise, nämlich jener der kausalen Wirksamkeit, die aus der Prozessualität der Wirk­ lichkeit resultiert. Nachdem Whiteheads Kritikpunkte im Hinblick auf die Erkennt­ nistheorien von Locke und Hume deutlich gemacht worden sind, drängt sich nun umso stärker die Frage auf: Wie sieht denn Whiteheads Gegenmodell zur Beschaffenheit menschlicher Erfah­ rung konkret und im Detail aus?

4.4 Vom Mikrokosmos zum Mesokosmos menschlicher Erfahrung Whiteheads Position ist deutlich: Die Vertreter positivistischer Theo­ rien erliegen einem Irrtum, wenn sie die Gegenstände der Sin­ neswahrnehmung als notwendige, unbezweifelbare Elemente jeder Erkenntnis postulieren und nicht erkennen, dass es sich hierbei bereits um eine Abstraktion von den konkreten Tatsachen handelt. Ironi­ scherweise werden sie selber aus der Perspektive Whiteheads durch den Trugschluss unzutreffender Konkretheit bezüglich des Status von Sinnesdaten ihren eigenen Anforderungen an eine Wissenschaft, sich auf das Faktische, auf die konkreten Tatsachen zu beschränken, nicht gerecht. Whitehead beklagt daher, dass »die wissenschaftliche Welt [...] gegenwärtig unter einem gravierenden Anfall von konfu­

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

sem Positivismus« (MT 179) leidet. Er sieht den Positivismus als kontraproduktiv für den Fortschritt des Denkens an, wenn dieser das Dogma der reinen Beobachtung mit einer gewissen Willkür bei der Anwendung der Lehren kombiniert und sich selbst widerspricht, indem er implizit Schlussfolgerungen anstellt, die seinen eigentlichen Gegenstandsbereich transzendieren. Ganz im Gegensatz zu dem, was der Positivismus eigentlich postuliert, ist dieser für Whitehead »unglücklicherweise [...] von allen möglichen Denkweisen diejenige, die eine Konfrontation mit den Fakten am wenigsten vertragen kann« (AI 255). Wie kommt Whitehead zu einem solchen Vorwurf? Philoso­ phie, die bei Whitehead Metaphysik ist, »konfrontiert die Wissen­ schaften mit konkreten Tatsachen« (SMW 107) – der Positivismus aber lehnt die Metaphysik ab und bezichtigt sie der Beschäftigung mit Scheinproblemen. Positivistische Dogmen grenzen nach Whitehead also einen großen Teil der Wirklichkeit aus und erzeugen in ihrer Beschränkung ein verfälschtes Bild der Welt, von dem sie wirkliche Erkenntnis abzuleiten hoffen. Die Philosophie bei Whitehead geht – an das aristotelische Wis­ senschaftsverständnis erinnernd – den »Weg von dem uns Bekann­ teren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Bekannteren und Klare­ ren«220, also hin zur Klärung letzter Prinzipien als den eigentlichen Grundlagen der Welt und zu deren letzten wirklichen Bestandteilen, den kleinsten konkreten Tatsachen. In diesem Sinne ist es die Aufgabe der Philosophie, das Hervorgehen der abstrakteren Dinge aus den konkreteren zu erläutern.221 Die wahre philosophische Frage lautet bei Whitehead also: »Wie kann eine konkrete Tatsache Einzelwesen hervorbringen, die ihr gegenüber abstrakt sind, an denen sie aber gleichwohl kraft ihrer eigenen Natur teilhat« (PR 60)? Wir haben verstanden: Whiteheads Universum kennt weder reine Materie noch reinen Geist und entwickelt sich als Gewirke prozessualer Erfahrungströpfchen – und dann sitzen wir seit Stun­ den am selben Schreibtisch, schauen aus dem Fenster auf die ewig gleiche graue Hauswand gegenüber, kratzen uns am Kopf (der wie jeden Tag Teil unseres Körpers und vermutlich Sitz unseres Denkor­ gans Gehirn ist) und lassen die Gedanken schweifen zu den Unge­ reimtheiten philosophischer Theorien, zu unserer Wohnsituation Aristoteles: Physik, 184a16. Vgl. PR 60. Vgl. AI 286: »Philosophische Systeme haben die Aufgabe, die konkreten Fakten zu erleuchten, von denen die Einzelwissenschaften abstrahieren.«

220 221

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4.4 Vom Mikrokosmos zum Mesokosmos menschlicher Erfahrung

oder zum ersehnten Karibikurlaub. Wie ist das möglich? Um dem Anspruch seiner organistischen Philosophie gerecht zu werden, die Erklärungsbasis auch für alltägliche Phänomene sein zu können, muss Whitehead verschiedene Übergänge von der mikrokosmischen Ebene zur mesokosmischen Ebene plausibel integrieren. In diesem Fall heißt das: Erstens muss er den Sprung von wirklichen Einzelwesen als ontologischen Individuen zu komplexen phänomenalen Individuen anorganischer Art (Mauern, Steine etc.) und vor allem organischer Art (Pflanzen, Tiere, Menschen) erklären können und mit Blick auf das Organische auch eine Definition von Leben geben. Zweitens braucht er darauf aufbauend eine Erklärung für den Übergang von einem individuellen ›perzipierenden Subjekt‹ zu einem individuellen ›über die Perzeptionen reflektierenden, sprechenden und diese wei­ tergehend (um)gestaltenden Subjekt‹ – sprich, er muss das, was wir landläufig unserem Bewusstsein oder jedenfalls unseren kognitiven Fähigkeiten zuschreiben, in sein Konzept aufnehmen. Whitehead hat seinen ontologischen Entwurf daher so konzipiert, dass im Aufbau der Wirklichkeit dieselben Strukturen auf unterschiedlich feinen Ebenen zu finden sind – aber je nach Komplexität und Phase der Erfahrungen bestimmte Elemente daraus als physischer Körper, Lebewesen, Person oder Bewusstsein interpretiert werden können.

4.4.1 Stufen der Wirklichkeit und der Erfahrung In PR unterteilt Whitehead die Wirklichkeit in vier Stufen: In der wirklichen Welt erkennen wir vier Stufen von wirklichen Ereig­ nissen, die nicht scharf voneinander unterschieden werden können. Zuerst haben wir als unterste Stufe die wirklichen Ereignisse im so genannten ›leeren Raum‹ [einzelne actual entities]; zweitens die wirk­ lichen Ereignisse, die Momente in den Lebensgeschichten dauerhafter, nicht lebender Objekte sind, wie Elektronen oder andere einfache Organismen [Materie]; drittens sind da die wirklichen Ereignisse, die Momente in den Lebensgeschichten dauerhafter lebender Objekte dar­ stellen [Lebewesen]; viertens die wirklichen Ereignisse, die Momente in den Lebensgeschichten dauerhafter Objekte mit bewusster Erkennt­ nis sind [bewusste Lebewesen] (PR 331).

In MT unternimmt Whitehead eine Unterteilung in sechs Stufen: Man kann die Natur grob in sechs Typen von Geschehnissen eintei­ len. Der erste Typ ist die menschliche Existenz, Körper und Geist.

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

Der zweite Typ schließt alle Typen tierischen Lebens ein, Insekten, Wirbeltiere und andere Arten, also alle vielfältigen Typen tierischen Lebens neben dem Menschen. Der dritte Typ umfasst das pflanzliche Leben. Der vierte Typ besteht aus einzelnen lebenden Zellen. Der fünfte Typ besteht aus umfassenden anorganischen Aggregaten, von der Größenordnung her dem Körper eines Tieres vergleichbar oder größer. Der sechste Typ setzt sich aus den Geschehnissen auf einer Infinitesimalskala zusammen, so wie sie sich durch die genaue Analyse der modernen Physik darstellt (MT 186/187).

Von der Grundstruktur her sind diese beiden Einteilungen gleich, abgesehen davon, dass die erste Einteilung von der einfachsten zur komplexesten, die zweite Einteilung hingegen von der komplexesten zur einfachsten Stufe geordnet ist. Zudem liegt eine unterschiedlich feine Differenzierung vor: In beiden Einteilungen gilt als die komple­ xeste Stufe die der Lebewesen mit einem ausgeprägten Bewusstsein. In MT werden die einfachen Lebewesen aus der Ordnung von PR noch einmal in Tiere und Pflanzen, die anorganischen Dinge aus der Ordnung von PR noch einmal nach ihrer Größe in mit dem bloßen Auge sichtbare Dinge und Gegenstände der modernen Physik unter­ teilt. Einzelne actual entities werden in MT nicht explizit genannt – denn dass Whitehead meinte, die moderne Physik sei so weit, einzelne Prozesseinheiten im Sinne von actual entities als solche darzustellen, ist bei all seiner Betonung der quantenmechanischen Forschungsfortschritte eher unwahrscheinlich. Wenn doch die Welt in ihrem Fundament aber erst einmal ein allumwebendes Fließen kleinster Wirklichkeitsatome ist – wieso und wie entstehen aus diesem Fließen dann unterschiedliche Stufen einer komplexen Welt? Und: Welches sind die kritischen Momente, die den Übergangsschritt von einer zur nächsten Stufe entscheiden? Wir erinnern uns: Die aktuellen Prozesse entstehen aus ihren Beziehungen zu bereits abgelaufenen Prozessen, »jede Einzelheit des Universums, einschließlich all der anderen wirklichen Einzelwesen. [ist] ein Konstituens in der Beschaffenheit jedes wirklichen Einzelwe­ sens« (PR 277).222 Sie ordnen sich in ihren Relationen zueinander aufgrund innerer Prinzipien wie Wertung und Zielsetzung nach be­ stimmten Mustern. Diese Ordnungsmuster wiederholen sich, wenn 222 Vgl. AI 405: »Jeder Erlebensvorgang ist ein Vorgang innerhalb der Welt, und die Welt ihrerseits ist in allen Vorgängen in ihr enthalten.« Vgl. PR 408: »Jede schöpferische Aufgabe ist eine soziale Anstrengung, die das ganze Universum in Anspruch nimmt.‟

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4.4 Vom Mikrokosmos zum Mesokosmos menschlicher Erfahrung

zukünftige Prozesse diese erfassen. Es entstehen also in unterschied­ licher Komplexität aufeinander bezogene, Muster bildende Zusam­ menschlüsse von Vorgängen. Die unterschiedlichen Stufen der Wirklichkeit definiert Whitehead wie folgt: Ein Zusammenschluss von ähnlichen Ereignis­ sen, der durch das Erfasstwerden in einem sich aktuell konstituieren­ den Prozess erfolgt, wird allgemein als »Nexus« bezeichnet. Ist das gemeinsame Motiv für diesen Zusammenschluss aus der Perspektive des aktuell wahrnehmenden Ereignisses die (individuelle) Realisie­ rung einer in den Vorgängerprozessen jeweils gleichen Idee, zeichnen sich die zusammengefassten Ereignisse also durch die gleiche Form, das gleiche Formelement als abgrenzendes Charakteristikum aus, so wird aus ihnen ein »Nexus mit sozialer Ordnung« (eine »Gesell­ schaft« von actual entities) gebildet. An dieser Stelle kommt jener spezielle Mechanismus des Erfassens zum Tragen, den Whitehead in der »Kategorie der Umwandlung« einführt und der erklären soll, wie dieser Qualitätssprung von der atomistischen Ebene zur meso­ kosmischen Ebene der Gegenstände vonstatten geht: Das Erfassen der gleichen Formbestimmung durch viele verschiedene vergangene Einzelwesen wird in ein aktuelles Erfassen dieser Formbestimmung überführt.223 In einem Nexus erfasst der geistige Pol begrifflich die eine Formbestimmung, die für viele der Ereignisse in diesem Nexus relevant ist. Die verschiedenen Empfindungen einer ewigen Idee werden in ein Empfinden dieser Idee überführt – so dass diese eine Idee herausgestellt werden kann im Kontrast zu dem Nexus als einer Einheit (quasi als ein großes Einzelwesen). Auf diese Weise soll dem Prozess unserer Wahrnehmung der Welt als eingeteilt in Dinge mit Eigenschaften entsprochen werden. Wird ein solcher Nexus über Generationen von Ereignissen wiederholt, so handelt es sich um einen »Nexus mit personaler Ordnung«, dieser wird von uns auf mesokosmischer Ebene mittels symbolischer Referenz als dauerhafter Gegenstand erkannt. Über diese durch Wiederholung derselben Muster innerhalb der Relationen erzeugte Beständigkeit hinaus zeigen einige Gesell­ schaften von actual entities zudem ein großes Maß an Innovationsund Wandlungsfähigkeit. Veränderungen und Neuerungen entstehen Vgl. RM 82: »Jede Entität [ist] in ihrem Wesen sozial und benötigt die Gesellschaft, um existieren zu können. Ja, die Gesellschaft für jedes wirkliche oder ideelle Einzelwesen ist das allumfassende Universum, das auch seine ideellen Formen einschließt.« 223 Zur Kategorie der Umwandlung siehe auch Kapitel 4.5.3 dieser Arbeit.

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durch eine starke Betonung des geistigen Pols und der Tätigkeit des begrifflichen Erfassens, mit der ein ausgeprägtes Rearrangieren der erfassten Daten und eine Integration neuer Ideen in den Selbst­ gestaltungsprozess einhergeht. Dies ist bei Lebewesen allgemein und besonders bei Menschen der Fall. Von Lebewesen wird also bei einer hochspezialisierten Sonderform von Nexūs mit personaler Ord­ nung und zusätzlich stark ausgeprägtem geistigem Pol gesprochen. Bewusstsein entsteht auf einer noch komplexeren Stufe bei sehr starker Ausprägung des geistigen Pols als einer subjektiven Form des Individuums. Die Realitäten der alltäglichen Welt entstehen also dadurch, dass die aktuellen Prozesse im Zuge ihrer Selbstgestaltung viele einzelne Vorgänge auf eine komplexe funktionale Weise vereinigen, sie durch die Realisation der gleichen Ideale nach bestimmten, sich wiederholenden Strukturen und Mustern zusammenschließen. Diese Strukturen erkennen wir als menschlicher Erfahrungsorganismus ab einem bestimmten Komplexitätsgrad – auch durch den später erläu­ terten Abstraktionsprozess der Herstellung symbolischer Referenz – als Zelle, Gegenstand, unbewusstes oder bewusstes Lebewesen. So »begründen [die einzelnen wirklichen Vorgänge] eine kontinuierlich ausgedehnte Welt« (PR 87). Auf diese Weise wird das Hervorgehen von abstrakten Dingen der Realität wie zum Beispiel Tischen oder Fischen aus der konkreten Wirklichkeit erklärt und Whitehead gibt der menschlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit als morphologisch real, das heißt in der Erscheinung als Gegenstände, einen Platz. Die Übergänge zwischen den einzelnen Komplexitätsstufen in den Nexūs sind dabei fließend und können nicht mit einer eindeutigen Grenze festgelegt werden. Aufgrund der Prozesshaftigkeit gibt es bei Whitehead zwischen den Stufen der Materie, der Lebewesen und der bewussten Lebewesen Graubereiche. Diese in der Ontologie angelegten ›Unschärfen‹ zwischen Mikrokosmos und Mesokosmos, zwischen organisch fließender Wirklichkeit und substanzhafter Rea­ lität bieten den Vorteil, beides auseinander herleiten zu können – und damit auch einige philosophische Probleme, wie unter anderem das des Solipsismus, erst gar nicht aufkommen zu lassen. Allerdings kann in diesem Ansatz auch ein Schwachpunkt von Whiteheads Philosophie gesehen werden. So kritisieren einige Interpreten die fehlende Präzision in der Definition von Phänomenen, die in der Alltagserfahrung mit eindeutigen Grenzen verbunden sind, wie zum Beispiel vom Menschen als selbstbewusstem Individuum oder auch

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vom Tod. Gesellschaften von actual entities können nicht eindeutig in lebend oder nicht-lebend eingeteilt werden, es kann nur von einem graduellen, mehr oder weniger Lebendsein gesprochen werden: »Der Unterschied zwischen lebenden und nicht lebenden Ereignissen [ist] keineswegs scharf […], sondern fließend« (PR 211/212). Eine gra­ duelle Bestimmung von ›lebend‹ leuchtet uns in unserem alltäglichen Umgang mit der Welt nicht sofort intuitiv ein – mit der Frage nach der Definition von Leben greift Whitehead aber ein bis heute aktuelles und nicht eindeutig gelöstes Problem auf: »Wenn wir lebende Körper analysieren, können wir die Schranke, an der wir zum Unbelebten übergehen, nicht genau markieren« (AI 372). Selbst eine Größe der Physik wie Erwin Schrödinger weist 1944 im Vorwort zu »What is life?« (seinem populärwissenschaftlichen Versuch, dem Leben auf die Spur zu kommen) darauf hin, dass in der Beschäftigung mit der Defi­ nition von Leben für viele Wissenschaftler »[to] venture to embark on a synthesis of facts and theories […] [is] at the risk of making fools of ourselves« (Schrödinger 1944: Preface). Bis heute streiten Naturwis­ senschaftler (die Schrödingers Ausführungen zum Teil heftig kritisiert haben) im Grenzbereich zwischen (anorganischer und organischer) Chemie, Biophysik und Biologie weiterhin um verschiedene Theorien der Übergänge vom Unbelebten zum Belebten.224 Die Probleme einer derartigen Grenzfrage umgeht Whitehead von Anfang an dadurch, dass er in seiner Definition Leben als graduierenden Prozess formu­ liert. Zur Erinnerung, von der metaphysischen Basis ausgehend: Durch das kausal verursachte physische Erfassen vergangener actual entities werden bereits bestehende Muster wiederholt, durch das geistige Erfassen von ausgewählten Mustern und von eternal objects werden neue Elemente integriert. Jede komplexe Verbindung von wirklichen Ereignissen muss in ihrer Struktur eine Balance herstellen zwischen der Überlebenssicherung durch stabilisierende Wiederho­ lung gleicher Muster einerseits und einer Intensitätssteigerung durch das Streben nach Neuem andererseits. Eine gesteigerte Intensität im Erleben entsteht, wenn Routinen aufgebrochen und unbekannte Erfahrungen verarbeitet werden müssen. »Lebend« werden struktu­ 224 Einen guten und detaillierten Überblick über widerstreitende Definitionen und Theorien zum Leben aus unterschiedlichen Disziplinen gibt zum Beispiel Rauchfuss (2005). Kather (2003) geht der Frage »Was ist Leben?« in ihrer Untersuchung mit einer Verbindung von philosophiehistorischen, naturwissenschaftlichen und human­ wissenschaftlichen Aspekten perspektiv- und ertragreich auf den Grund.

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rierte Gesellschaften von wirklichen Einzelwesen genannt, in denen durch eine Betonung des geistigen Pols die »Initiative im begrifflichen Erfassen, d. h. im Streben« (PR 199) den wesentlichen Faktor dar­ stellt. Gesellschaften von actual entities sind nach Whitehead also in dem Maße als lebend zu bezeichnen, in dem sie neue unverwirk­ lichte Möglichkeiten in ihren Selbstwerdungsprozess einbeziehen und kreativ neue Entwicklungen schaffen. Das geschieht in man­ chen Gesellschaften weniger, in manchen Gesellschaften mehr. Bei Gesellschaften von actual entities, die wir als Materie wahrnehmen, ist der physische Pol stark ausgeprägt und sorgt für das Erfassen vorausgegangener actual entities. Da sich in diesen Gesellschaften mit dem Ablauf der Erfassensprozesse die erfassten Muster stets wiederholen, nehmen wir diese als gleichbleibend, beständig und stabil wahr. Bei lebendigen Organismen hingegen werden durch die ausgeprägte Initiative im begrifflichen Erfassen neue Elemente der Umgebung225 mit den Elementen der strukturierten Gesellschaft in Einklang gebracht. Diese Aufnahme neuer Elemente in die subjek­ tive Form bewirkt eine Intensitätssteigerung durch Schaffung neuer Kontraste. »Nach dieser Theorie des ›Lebens‹ ist die erste Bedeu­ tung von ›Leben‹ das Hervorbringen einer begrifflichen Neuheit – Neuheit des Strebens« (PR 200). Begibt sich ein Lebewesen in eine bisher unbekannte Umgebung, so »bringt das subjektive Ziel jedes sich konkretisierenden Ereignisses etwas Neues hervor« (PR 199), indem im begrifflichen Erfassen neue Möglichkeiten realisiert werden. Lebendige Organismen sind zielstrebig, kreativ, intensiv, aber durch die starke Aktivität des geistigen Pols auch weniger stabil als Materie-Geschehnisse. Der Unterschied zwischen einem lebenden Organismus und der anorganischen Umgebung ist zwar nur graduell, aber dennoch gerade entscheidend für die Weiterentwicklung der Welt. »Gerade auf diesen Unterschied kommt es an – und letzten Endes handelt es sich um einen qualitativen Sprung« (PR 334), um einen Sprung, der nicht zuletzt den Menschen zur Entwicklung von zivilisierten Gesellschaften, technischem Fortschritt und dem kulturellen Ausdruck durch Symbolisierungen gebracht hat. Es sei hier nun angemerkt, das mit nicht-lebend oder unbelebt das konträre Gegenteil zu lebend gemeint ist – über den kontradik­ Zur Definition von »Umgebung« vgl. SY 77: Mit »Umgebung sind diejenigen anderen aktualen Dinge gemeint, die in irgendwelchen relevanten Weisen ›objekti­ viert‹ werden, um einzelne Elemente in unserer individuellen Erfahrung zu bilden.«

225

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torischen Gegensatz von lebend und tot spricht Whitehead nicht. Hierin liegt, so Jonas‘ Kritik an Whiteheads Organismusphilosophie, auch einer ihrer Schwachpunkte, der sich aus der Strategie ergibt, zur Vermeidung eines psycho-physischen Dualismus »die Ausbreitung von Innerlichkeit bis hinunter in die stofflichen Grundlagen« (Jonas 1973:150) vorzunehmen. Wenn eine Ontologisierung gemeinhin eher anthropologisch verstandener Termini wie Erfahrung, Gefühl oder Geist und eine »Universalität der Innerlichkeit« eben auch die »Verwischung des Unterschiedes von beseelter und unbeseel­ ter Natur« (Jonas 1973:150) zur Folge hat, ist dies der Preis, den Whitehead dafür zahlt, die »sonst unvermeidliche monadische Isolie­ rung der Aktualitäten […] vermeiden« (Jonas 1973:150) zu können. Diesen Preis bewertet Jonas als zu hoch, denn »das Resultat ist eine Unterdrückung von Diskontinuität da, wo es darauf ankommt: Nämlich zwischen Leben und Nichtleben [im Sinne von Tod]« (Jonas 1973:150). Die Erfahrung von Sterben und Tod als Ende des Lebens aber ist für den Menschen eine derart prägende und essenzielle, dass Whitehead hier seinem Kriterium der Anwendbarkeit philoso­ phischer Theorie auf die Erfahrungen des menschlichen Alltags nicht gerecht werden kann. Lebende Organismen entstehen bei Whitehead also als Folge einer besonderen Betonung des geistigen Pols, die den Organismus zum aktiven und originellen Eingriff in seine Umwelt, zum kreativen Fortschreiten befähigt. Auf dieser metaphysischen Definition von Leben als einer besonderen, die Originalität betonenden Qualifizie­ rung der Kreativität fußt dann auch Whiteheads These vom »Leben [...] [als] eine[r] Offensive, die gegen die repetitiven Mechanismen des Universums gerichtet ist« (AI 193). Damit dabei aber kein Chaos entsteht und der lebendige Organismus sich durch das Aufbrechen alter Muster nicht zu stark destabilisiert, dürfen neue Elemente nicht beliebig aufgenommen, sondern müssen zielgerichtet integriert und geordnet werden. Das ordnende Element der Wirklichkeit nennt Whitehead die Vernunft. Das Wesen des Lebens besteht also in der teleologischen Verwirklichung von Neuem, wobei eine Ordnung der Innovationen für das erforderliche Mindestmaß an Stabilität sorgt. Mit strukturellen Parallelen zu seinem Konzept von Leben integriert Whitehead auch ein Konzept von Bewusstsein in seine Theorie. Ähnlich wie beim Leben sieht er die Übergänge zwischen nichtbewussten und bewussten Prozessen als fließend an und ver­ neint die Existenz einer klar umrissenen Grenze, ab der Bewusstsein

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notwendigerweise stattfindet. Möglich ist das Entstehen von bewuss­ ten Prozessen allerdings »erst in einer späten, abgeleiteten Phase komplexer Integrationen« (PR 302), die nur bei höchst entwickelten Lebewesen auftritt.226 Whitehead wird seiner Abstufung der Wirklichkeit auch termi­ nologisch gerecht. In PR verwendet er die Begriffe Wirklichkeit (»actuality«) und Realität (»reality«) im selben Kontext, aber mit unterschiedlichen Bedeutungsschwerpunkten. Der Unterschied der beiden Begriffe im englischen Original kommt in ihrem Bezug zum lateinischen Ursprung zum Tragen: »Actuality« impliziert aufgrund seiner Herkunft vom lateinischen actus als ›Handlung‹ die dynami­ sche Komponente des Wirkens. »Reality« hingegen impliziert auf­ grund der Herkunft vom lateinischen res als ›Sache‹ die Komponente des Verdinglichten. In beiden Fällen geht es also um eine Aussage zur Beschaffenheit der Welt, wobei »actuality« sich auf die Erklärung von deren konkreter, innerer Struktur, »reality« hingegen auf ihre erste äußere Erscheinung in der alltäglichen Betrachtungsweise bezieht. Realität in Kontrastierung zur Wirklichkeit hat dieselbe metaphysi­ sche Grundbeschaffenheit, bezieht sich aber auf die grobkörnigere Ebene der Welt, die in der menschlichen Alltagspraxis von Relevanz ist. Schließlich nehmen wir uns selbst nicht primär als ein mit der gesamten dynamischen Umwelt vernetztes Bündel von Prozess­ einheiten wahr – sondern wir sitzen mit unseren klar definierten Körpern auf deutlich als Gegenständen abgegrenzten Stühlen und tippen Symbolreihen in den PC, die andere Menschen als Sätze mit einer bestimmten Bedeutung interpretieren können. Lässt man für diesen Moment Whiteheads Konzeption der Wirklichkeit als Prozess oder auch die Diskussion um ein bestimmtes Maß an Vagheit in der Klassifizierung von Alltagsdingen einmal außen vor, so erscheint uns die Realität gut portioniert und in diesen Portionen im Alltag handhabbar. Auf den Ebenen von menschlicher Sinneswahrnehmung und menschlichem Bewusstsein findet eine Abstraktion von den metaphysisch grundlegenden Prozessen statt und die Alltagswelt wird in einer Aufteilung in mittelgroße, konstante Gegenstände wahr­ genommen. Dies geschieht laut Whitehead durch die Herstellung symbolischer Referenz227 und kennzeichnet die Ebene der Realität – 226 Genauere Erläuterungen zum Bewusstsein erfolgen im nächsten Kapitel die­ ser Arbeit. 227 Zur Herstellung von symbolischer Referenz siehe Kapitel 4.5.4 dieser Arbeit.

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im Gegensatz zu jener Ebene der metaphysischen Wirklichkeit. Um die unterschiedlichen Ebenen, auf denen die Welt wahrgenommen werden kann, zu unterscheiden, unternimmt Whitehead stellenweise die Nuancierung der beiden Begriffe »Wirklichkeit« und »Realität«, die aussagen: »Die Wirklichkeit ist prozessual, der Begriff ›Realität‹ bezieht sich auf ihre Morphologie« (Holl 1987:642), so wie sie durch Sinneswahrnehmung und Bewusstsein geordnet wird.228 Die komple­ xe Verknüpfung von Relationen führt also je nach Betrachtungsebene – abhängig davon, ob die innere Struktur der Welt oder deren äußere Morphologie untersucht wird – zur Differenzierung von Wirklichkeit und Realität. Abstraktion ist im wörtlichen Sinne von Loslösung zu verstehen: Wenn wir Gegenstände wahrnehmen oder über diese sprechen, lösen wir den durch unsere Erfahrungen zu einer Einheit verschmolzenen Komplex aus dem Gesamtzusammenhang mit allem anderen heraus. Bei der Betrachtung der Sinneswelt teilen wir diese in Einzelgegenstände ein – so als wäre es möglich, die Welt in klar abgegrenzte und voneinander unabhängige Päckchen zu portionie­ ren, obwohl in Wirklichkeit die gesamte Umwelt ein notwendiger Bestandteil des Wesens jeden einzelnen Dinges ist. Wir nehmen also eine Abstraktion von der Grundbeschaffenheit des Universums als Eines, als relationale Gesamtheit vor. »Diese Weise des Abstrahierens ist einfach eine Denknotwendigkeit« (AI 297) für den habituellen Umgang mit der Welt, eine Notwendigkeit für die Schaffung einer Realität, die als Umgebung den Bedingungen der Konstitution des Menschen angepasst ist und in der er sich als handelndes Wesen ver­ orten kann. Ein gewisses Maß an Abstraktion geht notwendigerweise mit jeder fortgeschrittenen Komplexität der Realität einher. Auf die Unterscheidung von Wirklichkeit und Realität, auf die in der Philosophie oft vernachlässigten Wirkmechanismen der actuality und auf den Fehler, Erscheinungen einer für die mensch­ liche Alltagspraxis handhabbar portionierten Realität für ontologi­ sche Wirklichkeit zu halten, wird auch in der Untersuchung von Whiteheads Epistemologie und deren Auswirkung auf seine Kultur­ philosophie eingegangen werden. An diese Annahme werden wir uns im Folgenden also des Öfteren erinnern, wenn es darum geht, zwischen Wirklichkeit und Realität zu unterscheiden, den Stellenwert von Symbolisierungen als Abstraktionen zu bestimmen, die mensch­ liche Sinneswahrnehmung zu erklären, die Bedeutung der in der 228

Vgl. AI 374–391.

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empiristischen Epistemologie vernachlässigten Kausalwirksamkeit zu betonen, die Kulturpraxis der Symbolisierung zu untersuchen und alle diese Phänomene wieder auf ihre metaphysische Basis zurückzuführen. Die erläuterte Grundkonzeption gilt es immer wie­ der zu erinnern, wenn gefragt werden mag, wie denn nun der menschliche Umgang mit Symbolisierungen, die Überprüfung der Wahrheit unserer Wahrnehmungsgegenstände, die (vermeintliche) Dominanz unseres Bewusstseins konsistent erklärt werden kann. Um Whitehead zu verstehen, müssen wir hinter die Phänomene und Erscheinungen blicken und jegliche Implikation einer ontologischen Gegenüberstellung von Mensch und Welt, Geist und Ding auch aus den verborgensten Ecken unseres Denkens eliminieren.

4.4.2 Zusammenhang von Erfahrung, Wahrnehmung und Bewusstsein Da Whiteheads Wirklichkeit aus Erfahrungsprozessen entsteht, gibt es Erfahrung auf allen Stufen, allerdings in unterschiedlicher Spezi­ fikation: Spezifischere Unterbegriffe der Erfahrung sind Wahrneh­ mung, Sinneswahrnehmung und Bewusstsein. Sinneswahrnehmung und Bewusstsein treten bei relativ komplexen Zusammenschlüssen von actual entities mit starker Aktivität des geistigen Pols auf, menschliches Bewusstsein entsteht als ein sehr komplexer Spezial­ fall geistiger Erfahrung. Durch diese Konzeption ist das alltägliche Erleben unserer selbst als sehende, hörende, sprechende, fühlende, denkende und analysierende Personen direkt mit den Ereignissen unserer Vergangenheit und unserer gegenwärtigen Umwelt verbun­ den. Das Bemühen um die Herleitung alltäglich erlebter Phänomene aus einer diese fundierenden Ontologie ist bei Whitehead – wie wir inzwischen bereits exemplarisch bei der Untersuchung von Ter­ mini wie »Einzelwesen«, »Fühlen« oder »Kreativität« festgestellt haben – mit einer Umdeutung alltäglicher Begriffe aus dem Bereich menschlichen Erlebens in philosophische Termini verbunden. Moti­ viert vom Anspruch, die Welt auf unterschiedlichen Ebenen anhand derselben Prinzipien darstellen zu können, findet eine Verwendung derselben Termini mit unterschiedlichem Bedeutungsschwerpunkt auf mikro- wie mesokosmischer Ebene statt. Neben der Chance, auf diese Weise vertraute Assoziationen wecken zu können, birgt

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dieser Kniff aber auch das Risiko einer terminologischen Verwir­ rung und einer Vermischung unterschiedlicher Ebenen. Kritikpunkte an Whiteheads Konzeption können auch daraus erwachsen, dass Differenzen in den Grundannahmen zwischen Whitehead und sei­ nen Interpreten aufgrund terminologischer Unklarheiten verborgen bleiben. Dies ist in unserem aktuellen Untersuchungsbereich auch bei den Begriffen »Erfahrung«, »Wahrnehmung«, »Sinneswahrneh­ mung« und »Bewusstsein« der Fall – diese sollen hier daher näher erläutert werden. Whitehead stellt fest: »Das Wort ›Erfahrung‹ ist eines der trü­ gerischsten Wörter in der Philosophie« (SY 76) – denn es wird zumeist für den Bereich des Menschen reserviert. Er kritisiert diese Tradition und setzt ihr seine alternative Erfahrungstheorie entgegen. Wie bereits angesprochen ist Erfahrung (oder synonym verwendet »direkte Wahrnehmung«) bei Whitehead gerade nicht als anthropo­ logischer Begriff zu verstehen. Erfahrung wird als metaphysischer Begriff eingeführt, der kein bewusstes Subjekt voraussetzt, sondern den elementaren Akt der Bezugnahme von actual entities auf ihre Umwelt, sprich auf vergangene actual entities, bezeichnet. Eine ent­ stehende wirkliche Einheit als Erfahrungssubjekt entwickelt auf diese Weise ihren ganz eigenen Charakter, man kann sagen, sie wird durch die Erfahrung anderer Einzelwesen qualifiziert. »Die Weise, in der ein wirkliches Einzelwesen durch andere Einzelwesen qualifiziert wird, ist die ›Erfahrung‹ von der wirklichen Welt« (PR 311).229 Hauskeller fasst diese Konzeption der whiteheadschen Philosophie »– mit und gegen Berkeley – [als] esse est percipere« (Hauskeller 1994:31) zusammen. Entscheidend ist dabei auch die bereits erläuterte Konzeption dieser Rezeption als emotional, als Empfinden: Die primitiveren Typen der Erfahrung haben mit Sinnes-Rezeption und nicht mit Sinneswahrnehmung zu tun. […]. In der Sinnes-Rezep­ tion sind die Sinnesgegenstände die Abgegrenztheit des Gefühls: Sie sind emotionale Formen, die von Ereignis zu Ereignis übertragen werden (PR 219).

Vgl. PR 54: »Der Prozess ist nichts anderes, als das erfahrende Subjekt selbst.« Vgl. AI 328: »Die[] individuellen Dinge sind die individuellen Erlebensvorgänge, die sich aktualisierenden Gebilde.« Vgl. SMW 206: Es gilt das »allgemeine[] Konzept eines Geschehnisses als ein Prozess, dessen Ergebnis eine Erfahrungseinheit ist.« 229

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Direkte Wahrnehmung im Sinne von emotionalen Erlebensvorgän­ gen – und nicht von Sinneswahrnehmung im traditionellen Sinne – hat daher bei Whitehead immer auch mit Wertung zu tun: »Es gehört zum Wesen der Wahrnehmung, dass es ihr ›um etwas geht‹« (AI 333). Grundlegende, direkte, primitive Erfahrung – auch beim Menschen – basiert weder auf Sinneswahrnehmung noch resultiert sie aus bewusster Erkenntnis eines Sachverhalts, sondern ist ursprüngliche unvermittelte Werterfahrung. Wichtig ist, festzuhalten: Der Begriff der Erfahrung ist bei Whitehead nicht auf Lebewesen begrenzt, sondern wird grund­ sätzlich für die Beschreibung der kausal-wirksamen, emotionalen Bezugnahme aller metaphysischer Prozesse aufeinander verwendet. Erfahrung als Fachterminus impliziert also nur auf einer groben Abstraktionsebene das, was im Common-Sense darunter verstanden wird, nämlich die Verarbeitung von Informationen aus dem meso­ kosmischen Alltag höherer Lebewesen. »Die elementaren Tatsachen der unmittelbar wirklichen Erfahrung sind wirkliche Einzelwesen, erfasste Informationen und Nexūs. Alles andere ist für unsere Erfah­ rung nur abgeleitete Abstraktion« (PR 60). Menschliche Erfahrung auf der Alltagsebene kann man als einen abstrakten Spezialfall der Erfahrung im metaphysischen Sinne verstehen. In Whiteheads orga­ nistischer Philosophie wird also die stillschweigende Annahme der philosophischen Tradition zurückgewiesen, die darin besteht, dass die grundlegenden Elemente der Erfahrung nur mit Hilfe der drei Bestandteile Bewusstsein, Denken und Sinneswahrnehmung beschreibbar sind. […] Nach der organistischen Philosophie sind diese drei Bestandteile unwesentliche Elemente sowohl der physischen als auch der geistigen Erfahrung (PR 88).

Bewusstsein im Alltagsverständnis ist hier ein durch zunehmende Komplexität in der Verbindung von Prozesseinheiten entstehendes Spezialphänomen: »Das Bewusstsein [ist] die Krone der Erfahrung [...], die nur gelegentlich erreicht wird, keineswegs aber deren not­ wendige Grundlage« (PR 486).230 Die Strukturen der Erfahrung lassen sich bei actual entities genauso finden wie in der Natur und beim Menschen. »Es gibt also so etwas wie eine generelle Kontinuität zwischen dem menschlichen 230 Vgl. PR 52: »Das Bewusstsein ist nur das letzte und höchste dieser Elemente, durch welche der selektive Charakter des Individuums die äußere Totalität abblendet, aus der es hervorgeht und die es verkörpert.«

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Erleben und den Naturvorgängen« (AI 346/347). Die Natur ist damit nicht nur Objekt der menschlichen Erfahrung, sondern ebenso erfah­ rendes Subjekt. Dies ist auch der Grund, warum es bei Whitehead dem Menschen grundsätzlich möglich ist, etwas über die Wirklichkeit zu erfahren: Er ist organisch-dynamischer Teil derselben und geht mit ihr aus ihr hervor. King sieht den Verdienst von Whiteheads Theorie der Erfahrung daher auch in der Aufhebung der Lücke zwischen menschlicher Erfahrung und der erfahrenen Natur durch den Clou, dass »any instance of experience falls within nature, whether it be something willed, felt, thought, or remembered, and thus these sub­ jective phenomena are equally explicable in terms of generic notions applicable to all other natural phenomena« (King 1949:96). Dewey fasst diese Implikationen des whiteheadschen Erfahrungsbegriffs folgendermaßen zusammen: It is customary to find the application of the term [experience] confined to human and even to conscious experience. Denial of this restriction is fundamental in Mr. Whitehead's thought. Everything that charac­ terizes human experience is found in the natural world. Conversely, what is found in the natural world is found in human experience (Dewey 1936:171).

Die Verankerung derselben Erfahrungsstrukturen auf ontologischer wie alltagspraktischer Ebene ermöglicht es, nicht die Natur dem Men­ schen als von ihm getrenntes Objekt seiner Erfahrung gegenüberzu­ stellen, sondern Mensch und Natur als miteinander in direkter Ver­ bindung stehende Elemente ein- und desselben Gesamtorganismus zu konstituieren. Whiteheads Ansatz, menschliche Wahrnehmung und Natur zusammenzuführen, bringt King folgendermaßen auf den Punkt: »Perception can no longer be conceived as an epiphenomenon that somehow mysteriously supervenes upon certain physiological excitements« (King 1949:91). Menschen als Individuen spricht Whitehead Erfahrungen ähn­ lich denen der actual entities zu. Auch beim Menschen bedeutet Erfah­ rung erst einmal das nicht-sinnesspezifische und nicht-kognitive, sondern kausale und emotionale Erfassen der Umgebung durch den Körper. Auch von Wahrnehmung spricht Whitehead auf ontologi­ scher Ebene der actual entities ebenso wie auf der Ebene menschlicher Individuen. Die Struktur der Prozesse soll dieselbe bleiben, nur die Körnung und die Qualität ändern sich, es kommen in späteren Pro­ zessphasen komplexere Erfahrungsweisen hinzu. So ist es hilfreich, sich die jeweilige Ebene zu vergegenwärtigen, auf der Whitehead

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seine Termini jeweils anwendet – und abschließend zu prüfen, ob er dem Anspruch, die ontologische Basis und die menschliche All­ tagswelt aus den gleichen Strukturen heraus zu erläutern, nicht nur in seiner Terminologie, sondern auch in der inhaltlichen Ausarbei­ tung der Termini und in einer angemessenen Anwendung gerecht werden kann. Der Begriff der Wahrnehmung wird von Whitehead in PR nicht eindeutig definiert. Grundsätzlich differenziert er – im Gegensatz zur von ihm kritisierten Tradition der Philosophie – zwischen Wahrneh­ mung generell und Sinneswahrnehmung als einem speziellen Fall der Wahrnehmung. Wenn er anmerkt, dass »die geläufigen Auffassungen von der Wahrnehmung [...] die Hochburg der modernen metaphysi­ schen Schwierigkeiten« sind, da sie »ihren Ursprung in genau demsel­ ben Missverständnis [haben], das zu der belastenden Hypothek der Substanz-Qualität-Kategorien führte« (PR 225/226), spricht diese Kritik eine übermäßige Konzentration auf die Sinneswahrnehmung an, die laut Whitehead nur eine hochspezialisierte Variante der Wahr­ nehmung darstellt und eine Form der Erfahrung ist, die innerhalb komplexerer Gesellschaften wie Lebewesen erfolgt.231 In AI spricht sich Whitehead dafür aus, in einem allgemeinen philosophischen Kontext den Terminus Wahrnehmung aufgrund seiner bisherigen Verwendung auch weiterhin überwiegend für die Sinneswahrneh­ mung zu benutzen. Im Hinterkopf behalten soll man dabei aber auf jeden Fall, dass es auch eine umfassendere Bedeutung des Begriffs Wahrnehmung gibt, die Whitehead zum Zwecke der Differenzierung auch als »direkte Wahrnehmung« bezeichnet. »Direkte Wahrneh­ mung« entspricht den Begriffen »physisches Erfassen« und »primitive Erfahrung«.232 Zumeist verwendet Whitehead den Begriff »Wahr­ nehmung« als Gleichsetzung mit »Erlebensvorgang«, als »direkte 231 Vgl. AI 332: »Bei der stillschweigenden Gleichsetzung von Sinneswahrnehmung und Wahrnehmung überhaupt [handelt es sich] um einen fatalen, den Fortschritt der systematischen Metaphysik behindernden Irrtum.« Vgl. AI 333: »Die Erkenntnistheorien der letzten zweihundert Jahre haben kaum etwas anderes getan, als immer wieder durch den unkritischen Gebrauch gängiger Redewendungen Gedankengänge einzuführen, die sich nicht im Rahmen ihres erklär­ ten Themas hielten.« 232 Vgl. AI 330: »In Anbetracht dessen, dass diese Verwendungsweise [als Sinnes­ wahrnehmung] schon so lange eingeführt ist, würde ich es dann auch für ratsam halten, das Wort ›Wahrnehmung‹ als Philosoph ausschließlich in dieser eingeschränk­ ten Bedeutung zu verwenden, wobei ich allerdings immer darauf bestehen würde, dass dies eine eingeschränkte Bedeutung ist, und dass ihr eine umfassendere Bedeutung

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Wahrnehmung« und betont dabei z. B. in AI: »Es ist klar, dass diese Definition der Wahrnehmung umfassender ist als die, die von der Sin­ neswahrnehmung, den Sinnesempfindungen und den körperlichen Sinnesorganen ausgeht« (AI 332).233 Eine derartige terminologische Vermischung birgt die Gefahr von Missinterpretationen und es wäre wünschenswert gewesen, dass Whitehead hier einzelnen Termini eine von ihm dann durchgängig verwendete Definition zuschreibt. So aber bleibt es die Anforderung an den wohlgesonnenen Leser, jeweils genau zu prüfen, in welchem Kontext und mit welcher Stoßrichtung Whitehead Termini gerade verwendet. Von Wahrnehmung – noch nicht von Sinneswahrnehmung – spricht Whitehead auch als besonderer Weise des Erfassens bei Gesellschaften von actual entities, die durch ihren starken geistigen Pol als Lebewesen gelten. Die wertenden Erfahrungsvorgänge, die durch den gesamten koordinierten Zusammenschluss der actual enti­ ties, konkret durch den Körper als Organismus, erfolgen, bezeichnet er als Wahrnehmung. Wahrnehmende Subjekte können also Orga­ nismen als actual entities (dann wird zumeist von Erfassen oder Erfahrung gesprochen) oder Organismen in der Organisation als komplexe Gesellschaften von actual entities wie Tiere oder Menschen (dann wird meist von Wahrnehmung gesprochen) sein. Von den verschieden gestuften Formen der Wahrnehmung ist die Erfahrung die primitivste, aber damit auch ursprünglichste und direkteste Form der Interaktion mit der Umwelt. In der Sinneswahrnehmung, vor allem in der Sinneswahrnehmung unserer Alltagsgegenstände, hin­ gegen »haben wir den Rubikon überschritten, der die direkte Wahr­ nehmung von den höheren Formen der Geistestätigkeit scheidet, die mit dem Irrtum spielen und so intellektuelle Reiche gründen« (PR 219). Mit der Entwicklung von Sinneswahrnehmung hat also in den Strukturen der Realität so etwas wie ein Qualitätssprung hin zu höheren Erfahrungsformen mit einer ausgeprägten Beteiligung geistiger Elemente und einem deutlichen Grad an Komplexität und Abstraktion stattgefunden.

gegenüber zu stellen wäre, die bisher mit der eingeschränkten Verwendungsweise des Wortes ›Wahrnehmung‹ stillschweigend gleichgesetzt worden ist.« 233 Auch in PR finden sich Textstellen, an denen »Wahrnehmung« in einem gene­ rellen metaphysischen Sinne gebraucht wird: »Für die organistische Theorie ist die einfachste Wahrnehmung das ›Empfinden des körperlichen Wirkens‹« (PR 163).

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Für Whitehead gilt also: Das, was im Positivismus für die ursprünglichste Erkennensform gehalten wird, die Sinneswahrneh­ mung, ist eine Abstraktion.234 Dieser Ansatz erklärt auch, wieso Whithehead sich vehement gegen einen sensualistischen Erfahrungs­ begriff wendet. Die Annahme, dass der Mensch lediglich über die genau festgelegten Wege der fünf Sinne mit der Außenwelt kom­ munizieren könne, stellt sich aus Whiteheads Perspektive als ein Grundirrtum heraus, denn »in Wirklichkeit ist der lebende Körper als Ganzes das lebendige Organ unserer Erfahrung« (AI 400).235 Wenn Whitehead feststellt, dass »der Körper [...] die Basis unserer emotionalen und zielgerichteten Erfahrung« und »die Basis unserer Existenz« (MT 149) ist, so bedeutet dies nicht, dass mit dem Körper etwas rein Materielles die wesentliche Basis ist, denn der Körper stellt sich in seiner mikroskosmischen Zusammensetzung ja gerade auch als Vereinigung psychischer und physischer Elemente dar. Wichtig ist zudem: Der ganze Körper als Gesamtorganismus, der in einer Vernet­ zung mit Ereignissen ihn umgebender Organismen steht, bildet die menschliche Erfahrungs- und Wahrnehmungsgrundlage – auf dieser Grundlage erfolgen Sinneswahrnehmungen durch die Sinnesorgane als spezialisierten Regionen des Körpers. Sinnesorgane können also denselben Erfahrungsbereich auf zwei verschiedene Weisen aufneh­ men und verarbeiten: einmal in der Weise als Gesamtkörper auf eine ganzheitliche, eher diffuse Weise – und einmal als spezialisiertes Sinnesorgan in einer Weise, die von den diffusen Beziehungen abs­ trahiert und eine betonende Auswahl trifft. Diese Auswahl gestaltet sich als das, was landläufig Sinneseindrücke genannt wird: Farben, Formen, Empfindungen, Töne.236 Die richtige Erklärung der Sinneswahrnehmung ist, dass die qualitative Seite der affektiven Tönung der hier zur Debatte stehenden körperli­ chen Funktionen zu Eigenschaften bestimmter Regionen transmutiert wird. Diese Regionen werden dann als mit diesen charakteristischen Vgl. MT 148. Vgl. SMW 111/112: »Wir müssen einräumen, dass es sich beim Körper um den Organismus handelt, dessen Zustände unser Erkennen der Welt regulieren. Die Einheit des Wahrnehmungsgebietes muss daher eine Einheit der körperlichen Erfahrung sein. Indem man der körperlichen Erfahrung gewahr ist, muss man daher auch der Aspekte der ganzen raumzeitlichen Welt gewahr sein, wie sie sich innerhalb des körperlichen Lebens widerspiegeln.« 236 Diese Aspekte der Wahrnehmung werden im Kapitel 4.5.3 dieser Arbeit noch einmal genauer beleuchtet werden. 234

235

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Qualitäten assoziiert wahrgenommen, wobei aber gleichzeitig auch die subjektive Form des Erfassens von eben denselben Qualitäten bestimmt bleibt (AI 385).

Mit der menschlichen Sinneswahrnehmung sind wir auf der Abstrak­ tionsleiter der Erfahrungsabstufungen bereits zu einer der obersten Sprossen gelangt. Der Grad an Abstraktion, der unseren gewohnten Erfahrungsprozessen innewohnt, bürgt für die Möglichkeit einer intellektuellen Verarbeitung, die zum zivilisatorischen Fortschritt beiträgt – dennoch gilt, dass es sich bei den hochentwickelten distink­ ten sinnlichen Faktoren unserer Erfahrung »um vergleichsweise ober­ flächliche Elemente in unserem Leben handelt« (MT 149), vergleicht man sie mit dem massiven Erfahrungsschatz, der den Menschen im Kontakt mit der gesamten Umwelt auf mikrokosmischer Ebene prägt. Dennoch bietet Sinneswahrnehmung im Alltagsleben (die genauer formuliert eine Wahrnehmung im Modus symbolischer Referenz ist) einen entscheidenden Vorteil für die Entwicklung der Menschheit: Als »höchst spezieller Funktionsmodus« (AI 333) macht sie uns die Wahrnehmungsgegenstände als wesentlich hier, jetzt, unmittel­ bar gegeben und diskret handhabbar. Damit sind sie verfügbar für einen Schritt in unserer alltäglichen Erfahrung, der bisher noch nicht explizit angesprochen wurde: den Übergang vom Wahrnehmen zum Erkennen und Wissen. Für diesen Schritt führt Whitehead das Bewusstsein ein.237 Über die Bestimmung des Bewusstseins als Funktion des Erken­ nens hinaus erweist es sich als schwierig, Whiteheads Äußerungen zu einem eindeutigen Bild zusammenfügen. Berve, der eine aus­ führliche Untersuchung der relevantesten Textstellen zum mensch­ lichen Bewusstsein mit Schwerpunkt auf dem dritten Teil aus PR unternimmt, stellt fest: »Whiteheads Bewusstseinskonzept bleibt, auch nach eingehender Untersuchung, merkwürdig vage« (Berve Eine ausführliche Analyse des Bewusstseins bei Whitehead kann und soll in dieser Arbeit nicht geleistet werden, dazu ist das Untersuchungsfeld zu weit und neblig, zumal dann auch seine ebenso vielschichtige bis unklare Theorie der Propositionen nicht unberücksichtigt bleiben dürfte. Eine Herausstellung der Zusammenhänge und Widersprüche rund um Propositionen, bewusste Wahrnehmung und symbolische Referenz in Verbindung mit der Frage nach der Formulierung einer angemessenen Wahrheitstheorie wäre sicherlich eine spannende Angelegenheit, würde hier aber zu weit führen. Absicht dieser Arbeit ist es, Symbolisierungen primär als Erkenntnis- und Kulturpraxis zu thematisieren. Bewusstsein wird hier daher überwiegend behandelt, insofern es im Zusammenhang mit den Bereichen Wahrnehmen und Wissen von Symbolisierungen relevant ist. 237

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2015:269). Whitehead thematisiert selbst, dass bei dem Versuch, Bewusstsein zu definieren, eine gewisse Vagheit nicht zu vermeiden ist: »Natürlich gilt für das Bewusstsein – wie für alles übrige auch – dass es in einem gewissen Sinne undefinierbar bleiben muss. Es ist es selbst und etwas, das man erlebt haben muss« (AI 469). Textstellen, an denen Whitehead sich in seiner Verwendung des Begriffs Bewusstsein nicht eindeutig auf die Kognition bezieht, impli­ zieren je nach Zusammenhang die Annahme einer gewissen geistigen Wachheit, Erinnerungsvermögen, die Fähigkeit zum Nachdenken und zur Analyse sowie auch Antizipation, Zukunftsorientierung und Selbsterkenntnis als Individuum, sind aber im Detail kaum kohärent darstellbar. Ähnlich fasst es Weber zusammen: »A sharp definition of consciousness would have been handy, but when Whitehead does not provide a definition, he simply assumes a common-sensical one, which means that consciousness involves memory, anticipation, representation and imagination« (Weber 2016:359). Wiehl sieht als Konsequenz, die Whitehead aus der Vielfalt von Wahrnehmbaren und beobachtbaren Phänomenen des Bewusstseins zieht: Dass sich die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Auftreten von Bewusstsein in einem Prozess menschlichen Lebens nicht definitiv angeben lassen, weil es das Bewusstsein als eine feste und klar umris­ sene allgemeine Bestimmtheit nicht gibt (Wiehl 2007:39/40).

Auf jeden Fall implizieren Bewusstseinstätigkeiten ein großes Maß an geistiger Aktivität und sind jene Erfahrungsweisen, die den höchsten Grad an Abstraktion erreichen können. Aus diesem Grund bezeichnet Whitehead das Bewusstsein auch als »Krone der Erfahrung«: Wie eine Baumkrone von den Baumwurzeln ist auch das Bewusstsein weit entfernt von den eigentlichen Wurzeln der Erfahrung. Metaphysisch formuliert ist für Whitehead das Bewusstsein eine subjektive Form der Erfahrung – und zwar eine solche, in der ein Kontrast zwischen einer Tatsache (wie etwas ist) und einer Annahme (wie etwas sein könnte) empfunden werden kann.238 Solche 238 Vgl. PR 485/486. Ganz ähnlich definiert Whitehead auch in AI: »Das Bewusstsein ist diejenige Qualität, die im objektiven Inhalt als das Erlebnis der Konjunktion eines Faktums mit einer Annahme (supposition) über dieses Faktum auftaucht. [...] Es handelt sich bei ihm um eine Qualität, die dem Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit – d.h. zwischen den Produkten des physischen und des psychischen Pols im Erleben – inhärent ist« (AI 469/470).

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Kontrastierungen von Sein und Können machen die Qualität unseres Alltags-Bewusstseins aus: Wir schaffen eine innerliche Distanz zum direkten Erleben, indem wir es denken – indem wir also aus dieser innerlichen Distanz feststellen, wie etwas ist und wie es sein könnte. Wir identifizieren es bewusst durch die Unterscheidung von dem, was es nicht ist. Bewusstsein tritt in den höheren Phasen der Erfahrung auf, in denen wir es mit sehr komplexen Erfahrungsvorgängen wie der Sinneswahrnehmung oder der Wahrnehmung von Symbolisierungen zu tun haben, darum erhellt es auch vornehmlich diese abstrakten, von der konkreten Wirklichkeit abgeleiteten Elemente. »Diejenigen Bestandteile unserer Erfahrung, die in unserem Bewusstsein klar und deutlich hervortreten, [sind] nicht seine grundlegenden Tatsachen; sie sind die abgeleiteten Modifikationen, die im Prozess entstehen« (PR 303).239 Dass der Mensch, der sich besonders auch durch sein Bewusst­ sein und das Bewusstsein seiner selbst als mit sich identische Per­ son auszeichnet, als Gesamtphänomen aus diesen Ansätzen bei Whitehead nicht greifbar wird, bemängelt Berve. Er bezweifelt, »ob [...] Whiteheads Bewusstseinstheorie als Ganze eine adäquate Reprä­ sentation oder zumindest ein adäquates Repräsentationsmuster unse­ rer psychologischen Dynamik bietet« (Berve 2015:270). Es mag sein, dass hier die eigenen Vorannahmen zum Thema Bewusstsein andere und die Erwartungen an Whiteheads Philosophie diesbezüglich zu hochgesteckt sind. Wer eine elaborierte ›philosophy of mind‹ von Whitehead erwartet, wird sicherlich enttäuscht werden, denn eine solche leistet er nicht. Tatsächlich findet sich bei Whitehead keine differenzierte Theorie personaler Identität, die das Entstehen eines Ich-Bewusstseins beim Menschen explizit thematisiert. Primär ist ihm daran gelegen, das menschliche Erleben in einer generellen Kon­ tinuität aus den Naturvorgängen herzuleiten und beides durch eine metaphysische Interpretation von Erlebensvorgängen zu erklären. Bereits in einer Seminarveranstaltung von 1927 diktiert Whitehead eine ähnliche Definition, in der auch schon seine ganz eigene Bestimmung desjenigen Erfahrungs­ prinzips, das er später den »ästhetischen Genuss« nennt, anklingt: »Consciousness is the enjoyment of the distinction between the verified and the nonverified« (MS 320). 239 Auch hierzu ist die Parallele in AI zu finden: »Das Bewusstsein ist das Instrument, das das Moment der Künstlichkeit am Erlebensvorgang verstärkt. Es vergrößert die Bedeutung, die die den Vorgang abschließende Erscheinung gegenüber der anfänglich gegebenen Realität besitzt. Infolgedessen ist es die Erscheinung, die im Bewusstsein klar und distinkt ist, während die Details der im Dämmerlicht des Hintergrunds liegenden Wirklichkeit für das Bewusstsein kaum erkennbar sind« (AI 470).

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Obwohl sich mit diesem Ansatz in Whiteheads Interpretation des menschlichen Erlebens das »Personenhafte am Menschen« »zu einer genetischen Beziehung zwischen menschlichen Erlebensvorgängen verdünnt« (AI 341/342), ist ihm durchaus klar, dass im Rahmen seiner Kosmologie unsere Annahme einer Ich-Identität ihren Platz finden muss, da sie unser Selbstverständnis wesentlich prägt: »Die Einheit der menschlichen Person ist eine Tatsache, um die man nicht herumkommt« (AI 342). Dennoch bleibt er diesbezüglich tatsäch­ lich vage. In AI verweist er auf das platonische »Worin« (ὑποδοχή) als einheitsstiftendes Prinzip (vgl. AI 342/343) und definiert das »Bewusstsein der persönlichen Identität« (AI 343) als die »Kenntnis eines einzelnen Strangs von Einheitlichkeit innerhalb der allgemeinen Einheit der Natur« (AI 343), wobei auch dieser Strang abgesehen von den ihm eigenen Spezifika dem allgemeinen Prinzip der Kreativität gehorcht, das für die Konstitution des ›großen Ganzen‹ grundlegend ist. Eine Anlage für Selbstbewusstsein ist auch mit Whiteheads Prinzip der (Selbst-)Reflexivität und mit dem Streben nach Erfüllung subjektiver Ziele der actual entities in einer abgeschlossenen Einheit gegeben. Es käme es auf den Versuch an, sie aus diesen und weiteren bei Whitehead gegebenen Annahmen herzuleiten. Armstrong-Buck unternimmt einen solchen Versuch. Auch sie stellt zwar fest, dass Whitehead selbst den Begriff Selbstbewusstsein in PR nur einmal ausdrücklich erwähnt und ihn nicht systematisch verwendet, schlägt aber folgende Interpretation vor: »I propose, we consider self-con­ sciousness to be a subjective form characterized by higher and more complexe contrasts than exhibited by consciousness per se« (Arm­ strong-Buck 1989:1). Mit der Annahme einer Grundlage für Selbstbewusstsein auf mikro- wie mesokosmischer Ebene stimmt diese Arbeit eher mit der Interpretation Rohmers überein, der allen Individuen als »reflexive[n] Werde-Wesen« (Rohmer 2000:200) rudimentäres Selbstbewusst­ sein zuschreibt, als mit jener Berves, der das mit Selbstbewusstsein einhergehende Konzept der »persönliche[n] Identität« bei Whitehead komplett vermisst (Berve 2015:267). Bewusstsein, so wie diese Arbeit Whitehead versteht, ist gar nicht primär ein psychologisches oder neurophilosophisches Phänomen, bei dessen Definition notwendi­ gerweise auch Fragen von personaler Identität oder Selbstbewusst­ sein beantwortet werden sollten. Das Bewusstsein wird in expliziter Anlehnung an William James‘ Text Does ›consciousness‹ exist? funk­ tional bestimmt und bezieht sich inhaltlich überwiegend auf Aspekte

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der Kognition.240 Es ist vielmehr funktional als im Sinne einer Entität bestimmt und Whiteheads Antwort auf die Frage, wie sich aus den Prozessen, die Welt aktiv zu erfahren, solche Prozesse entwickeln können, die diese Erfahrungen in alltäglichem Sinne auch wissen, die bewusste Bekanntschaft mit ihnen machen. Ganz rudimentär gilt: Bewusstsein ist erst einmal einfach die Funktion des kognitiven Erkennens und Wissens.241 Ganz sicher jedenfalls ist Bewusstsein bei Whitehead keine eigenständige Substanz wie etwa Descartes‘ res cogi­ tans, jegliche Assoziationen zum Bewusstsein als mentaler Substanz wären kontraproduktiv für Whiteheads Anliegen einer Aufhebung der Bifurkation von Geist und Natur. Nun ist uns vielleicht im Alltagsverständnis unsere genaue psychologische Dynamik auch selbst gar nicht so klar – klar ist uns aber auf jeden Fall: Wir wissen Dinge über die Welt. Die Genese dieser menschlichen ›Fähigkeit, zu wissen‹ aus Prozessen in ihren höheren Phasen der Erfahrung ist es, die uns hier interessiert und die in Verbin­ dung mit symbolischer Referenz (und ihrer Irrtumsdisposition) noch einmal angesprochen werden wird. Bewusstsein wird hier also meist im Einklang mit dem Alltagsverständnis als ›Fähigkeit, zu wissen‹, interpretiert und dann auch als Grundlage für den Verstand mit seiner Fähigkeit über etwas (kritisch) nachzudenken. Weitergehende Analysen zur (Un-)Möglickkeit einer Systematik Whiteheads unter­ schiedlichster Ansätze um den Begriff des Bewusstseins hingegen sind für unsere Zwecke nicht relevant.242 Vgl. SMW 167. Im Kontext von Bewusstsein als der Funktion des Erkennens nennt Whitehead awareness, perception, cognition, cognisance – diese Begriffe aus dem Bereich Wahr­ nehmung und Kognition sind im Englischen inhaltlich näher an »consciousness« als die Übersetzungen davon am deutschen »Bewusstsein«, was beim Lesen der deut­ schen Übersetzung zu Missverständnissen und falschen Erwartungen führen kann. 242 Zum Teil kann sich der Eindruck, Whiteheads Überlegungen zum Bewusstsein fehle es an Struktur, auch aus seinem Anliegen ergeben, die eigene Philosophie im Dialog mit anderen philosophischen Theorien zu entwickeln. Hierbei kann es zu einer unterschiedlichen Gewichtung einzelner Aspekte je nach Fragerichtung oder Adressat kommen, es gilt also, den jeweiligen Kontext genau zu berücksichtigen. In SY zum Beispiel wird »begriffliche Analyse« durchaus als Tätigkeit des menschlichen Geistes im Sinne von bewusstem Durchdenken verstanden – im Gegensatz zu Textstellen in PR, bei denen Whitehead sich in die Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie von Locke und Hume (PR 432ff.) begibt. Dort weist er deutlich auf den Unterschied von begrifflicher Analyse/begrifflichem Empfinden und Bewusstsein hin: »Ein rein begriffliches Empfinden schließt in seiner ersten Entstehungsweise niemals Bewusst­ sein ein« (PR 442). Wenn er außerdem betont, dass das Bewusstsein »in einem Prozess 240

241

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

Hingewiesen werden soll an dieser Stelle aber noch auf den ambivalenten Charakter des Bewusstseins, wie Whitehead ihn vor allem in seinem Spätwerk MT darstellt. Die starke Loslösung von der kausal wirksamen Wirklichkeit, die das Bewusstsein als Qualifi­ zierung höchster Abstraktionsprozesse in der Wahrnehmung mit sich bringt, bedeutet gleichzeitig Fluch und Segen. Der Segen, durch die Konzentration auf die Klarheit einiger weniger Details Spezialisierun­ gen entwickeln und damit die menschliche Zivilisation vorantreiben zu können, geht einher mit dem Fluch, dies nur um den Preis des Verlustes einer direkten intuitiven Verbindung mit dem Universum tun zu können. Die Bewusstseinsfähigkeit des Menschen ist seine hochspezialisierte Besonderheit, die abstrahiert wahrgenommene und strukturierte Welt auch zu wissen und damit gestalten zu können – die Basis seiner Existenz aber teilt er mit der Gesamtheit der Welt: »Klares, bewusstes Urteilsvermögen [...] ist die Essenz unserer Menschlichkeit. Aber es ist ein Akzidenz unserer Existenz« (MT 150/151).243 Nur in den höheren Formen unserer Wahrnehmung bil­ det der Mensch mithilfe seiner Sinnesorgane diese Welt in abstrakten Strukturen ab und erfasst und betont mit dem Bewusstsein diese abstrakten Strukturen. Das Aufkommen von tierischem und später menschlichem Bewusst­ sein ist der Triumph der Spezialisierung. [...] Es gibt eine Abstraktion der vagen Masse anfänglicher Empfindungen und eine Konzentration auf die Klarheit und Vergleichbarkeit einiger weniger Details. Dies sind die Sinnesdaten (MT 155/156).

Der Mensch als Ganzes, als vernetzter Organismus aber erfährt die gesamte auf ihn einwirkende Welt in einer ungefilterten emotio­ der Synthese physischer und geistiger Vorgänge« (PR 443) entsteht, so ist klar: Hier geht es Whitehead um eine deutliche Abgrenzung vom Gedankengang der Empiristen, Begriffe als Produkte der Arbeit des menschlichen Geistes/Bewusstseins aufzufassen und das Bewusstsein als rein mentales Phänomen zum Kontrapart der physischen Natur zu machen – denn dieser Ansatz führt zu der erkenntnistheoretischen Lücke, die Whitehead vermeiden will. »Die traditionelle Philosophie hat sich in ihrer Einschät­ zung der bewussten Wahrnehmung ausschließlich auf deren rein begriffliche Seite konzentriert; und dadurch hat sie sich mit Bezug auf die Erkenntnistheorie selbst Schwierigkeiten in den Weg gelegt« (PR 444). 243 Vgl. FR 64: »Der Zusammenhang unter den klar gegebenen Dingen bleibt der klaren analytischen Anschauung verschlossen. Das Ganze bildet offensichtlich ein System; aber wenn wir versuchen, dieses System zu beschreiben, spielt uns unsere unmittelbare Anschauung einen Streich.«

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

nalen Massivität. So wichtig das menschliche Bewusstsein für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auch ist, so ist es doch auch ein oft flüchtiges Moment: Wenn wir schlafen, tagträumen, Erinnerungslücken haben, uns von Zorn übermannen lassen und in vielen anderen Situationen sind wir nicht primär von unserem Bewusstsein dominiert. Sinnvoll ist es daher, immer wieder auch andere Zugänge zur Welt zu suchen, die uns die Wirklichkeit auf eine umfassendere Weise kennenlernen lassen. Hierfür taugen zum Beispiel bestimmte Symbolisierungen und insbesondere die Kunst, denn in diesen Formen fördert eine abstrahierende Struktur gleich­ zeitig auch die darunter schwelenden emotionalen Wirkerfahrungen zu Tage.

4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie 4.5.1 Ein Beispiel vorweg: Kurkonzert im Park Wir sind nun in der glücklichen Situation, als Verständnisgrundlage für Whiteheads Wahrnehmungstheorie und Kulturphilosophie seine Metaphysik aus PR bereits analysiert zu haben – anders als der zeitgenössische Leser von SY, der sehr unvermittelt Sätzen wie dem folgenden begegnet: »Wahrnehmung müssen wir uns als eine primäre Phase in der Selbst-Erzeugung eines Geschehens aktualer Existenz vorstellen« (SY 68). Jener Leser mag sich fragen, warum hier plötzlich eine derartige Begriffsdefinition in einer so ungewohnten Terminologie auftaucht, wenn vorher lediglich erwähnt worden ist, dass die menschliche Wahrnehmung von Alltagsgegenständen als ein »Symbolismus von Sinnes-Präsentationen zu physischen Körpern« (SY 64) zu verstehen ist. Nach der Lektüre von PR weiß man, dass sich alle Organismen und Dinge der Wirklichkeit mit Whitehead formuliert als Wahrnehmungsprozesse im Sinne des Einbeziehens der erfahrenen Umgebung in die eigene Entwicklung gestalten – ohne diese Lektüre aber können solche Aussagen höchstens intuitiv erfasst oder mit viel Kreativität im Denken erschlossen werden und wirken ansonsten eher assoziativ und zusammenhanglos. Die in SY angedeu­ teten Ideen finden ihre explizite Ausarbeitung mit unterschiedlichem Schwerpunkt in wenig später folgenden Werken: Metaphysische und epistemologische Überlegungen stehen im Zentrum von PR, die gesellschafts- und kulturphilosophischen Ansätze aus dem dritten

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Teil von SY werden in AI wieder aufgegriffen und vertieft. So mögen die Vorlesungen, auf denen SY basiert, eine Art Gedankenprotokoll, Momentaufnahmen im Prozess seiner gedanklichen Entwicklung gewesen sein. Wie sieht nun die alternative Wahrnehmungstheorie aus, die Whitehead aus seinen Denkwegen entwickelt hat? Als Basis für unsere alltäglichen Wahrnehmungen auf menschlicher Ebene werden zwei grundlegende perzeptive Modi unterschieden, die für den Men­ schen auf der mesokosmischen Ebene des Alltags gelten.244 Diese beiden reinen Wahrnehmungsmodi ermöglichen dem Menschen, jedem auf seine Art, theoretisch einen direkten Zugang zu den Naturtatsachen der mikrokosmischen und mesokosmischen Welt. Jeder der beiden Modi tritt in der Alltagspraxis allerdings nur extrem selten separat auf, zumeist nimmt der Mensch seine Umwelt in einer Synthese der beiden Modi wahr, die auch verantwortlich ist für unseren alltäglichen Symbolgebrauch und unser Symbolverstehen. Whiteheads These ist es, »dass menschliche Symbolisierungen ihren Ursprung im symbolischen Wechselspiel zwischen zwei verschiede­ nen Modi der direkten Wahrnehmung der äußeren Welt haben« (SY 89).245 Der Modus, in dem wir einigermaßen klar portionierbare, bewusst reproduzierbare Erfahrungen wie Sinneswahrnehmungen erzeugen, ist jener der »präsentativen oder vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit« (»presentational immediacy«). Der Modus, in dem wir ein diffuses Gefühl für die Wirkung der Welt als Organismus, ein Gefühl für unmittelbare Freude, für Ahnungen, Intuitionen oder Schmerzen entwickeln und in dem wir auch durch Eindrücke gegen­ wärtig nicht präsenter Dinge im Sinne von Erinnerungen geprägt sind, wird Modus der »kausalen Wirksamkeit« (»causal efficacy«) genannt. »Ein Teil unserer Erfahrung ist handlich, in unserem Bewusstsein definit und kann nach Belieben leicht reproduziert werden« (SY 102) – hier befinden wir uns mit unserer Wahrnehmung im Bereich der präsentativen Unmittelbarkeit, in dem die unmittelbar präsente Welt 244 Eine genauere Erläuterung der Wahrnehmungsweisen gibt Whitehead in SY sowie in den Kapiteln IV (»Organismen und Umgebung«, PR 213ff.) und VIII (»Symbolischer Bezug«, PR 314ff.) von PR. 245 Philosophisch sieht Whitehead in der »Entwirrung der komplexen Wechselbezie­ hungen zwischen den beiden Wahrnehmungsweisen – kausale Wirksamkeit und vergegenwärtigende Unmittelbarkeit – [...] ein Hauptproblem der Wahrnehmungs­ theorie« (PR 233).

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um uns herum über die Sinnesorgane als Sinneswahrnehmung verar­ beitet und als Sinneseindruck präsentiert wird. Sinneswahrnehmung ist hierbei noch nicht gleichzusetzen mit dem Common-Sense-Ver­ ständnis der Wahrnehmung von Gegenständen, letztere entsteht erst durch die Verbindung der beiden reinen Wahrnehmungsweisen in der symbolischen Referenz. »Der andere Typ der Erfahrung ist, obwohl er insistierend ist, vage, eindringlich und schwer zu handhaben« (SY 102) – hier haben wir es mit der Wahrnehmung kausaler Wirksamkeit zu tun, die wir als direkte Folge aus dem Einfluss vergangener Ereignisse auf den gegenwärtigen Moment spüren. In einer Synthese, in einem Verschmelzen der beiden reinen Wahrnehmungsweisen zu einer Einheit des Erfahrens entsteht der abgeleitete »Wahrnehmungsmodus des symbolischen Bezugs«, in dem eine Übergangsbeziehung von der einen zur anderen reinen perzeptiven Weise hergestellt wird. Das Herstellen »symbolischer Referenz« ist jener Vorgang, der maßgeblich an der menschlichen Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft beteiligt ist, denn »das Ergebnis der symbolischen Referenz ist, was die aktuale Welt für uns ist« (SY 78). Das Ergebnis der symbolischen Referenz ist die Welt aus Alltagsgegenständen, Kommunikation, Kunst und Wissen­ schaft. Diese neue Einheit des Erfahrens, die Synthese der beiden reinen Wahrnehmungsmodi in Form symbolischer Referenz kommt im Gegensatz zur Wahrnehmung der kausalen Wirksamkeit nur bei hoch entwickelten Lebewesen vor, die zumindest eine Spezialisierung bestimmter Körperregionen zu Sinnesorganen aufweisen246 – bei diesen aber übernimmt sie dann eine sehr dominante Rolle. Alle drei Wahrnehmungsweisen ermöglichen – innerhalb ihrer jeweiligen Spezifika – dem Menschen theoretisch einen Zugang zur wirklichen Welt; in der Praxis erfolgt menschliche Wahrnehmung allerdings so gut wie immer in einer durch symbolische Referenz verschmolze­ nen Einheit. Im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Wahrnehmungs­ weisen und dem Wissen über die Welt trifft Whitehead auch die Unterscheidung von direktem Wissen (»direct knowledge«) und abgeleitetem, symbolisch vermitteltem Wissen: Direktes Wissen er­ langt der Mensch, wenn Wahrnehmungen in einem reinen Modus und ohne eine geistige Analyse von symbolischer Referenz statt­ finden. Abgeleitetes Wissen entsteht, wenn symbolische Referenz 246

Vgl. SY 66/67.

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hergestellt wird und die Gegenstände dieser symbolischen Referenz dann vom geistigen Pol – beim Menschen vom Verstand – begriff­ lich analysiert werden. Obwohl Symbolisierungen ein wesentlicher Bestandteil der Weise sind, wie der Mensch seine Informationen über die Welt erlangt und verarbeitet, ist ihm grundsätzlich auch der Zugang zu direktem Wissen ohne den Umweg über symbolische Referenz möglich. Schließlich liegen auch jedem Erkennen durch Symbolisierungen stets die zwar synthetisierten, aber ursprünglich reinen Erkenntnisweisen zugrunde. Was bedeutet diese Konzeption für eine tatsächliche Alltagssi­ tuation? Ist überhaupt eine konkrete Übertragung und Anwendung möglich? Bisher gibt es in der Auseinandersetzung mit Whiteheads Wahrnehmungstheorie keinen Versuch einer umfassenden Illustra­ tion. Hier darum, bevor die Wahrnehmungsweisen genauer unter­ sucht werden, ein fiktives Anwendungsbeispiel: Kurkonzert im Park, ich promeniere mit meinen Großeltern, ein Orchester musiziert (zwölf einzelne Musiker spielen jeweils auf unterschiedlichen Instrumenten einen Teil einer Partitur und diese Geschehnisse fügen sich zu einem Ganzen zusammen). Mein Groß­ vater bewegt summend die Arme im Takt und schreitet beschwingt voran, meine Großmutter verzieht das Gesicht, ich spüre einen dif­ fusen Druck im Bauch und werde irgendwie unruhig. Eine alltägli­ che Szene. Würde man diese Szene filmen, so sähe und hörte man in den einzel­ nen Einstellungen: unsere Körper, unsere Ohren, das Orchester, Töne – eine Momentaufnahme disparater, klar voneinander unabhängiger Dinge und Ereignisse. Dennoch gibt es im wirklichen Geschehen gemeinsame Beziehungen zwischen alldem. Dieselben Ereignisse aus einer anderen Perspektive: In der Region, in der das Orchester steht, fängt die Luft an zu schwingen, es werden Schallwellen er­ zeugt. Diese gelangen bis unmittelbar zu uns, treffen auf unseren gesamten Körper und auch auf eine spezialisierte Region unseres Körpers, das Ohr. Schauen wir uns den fiktiven Film dieser Ereig­ nisse in Zeitlupe an, stellen wir fest: Während die Verarbeitung des Schalls im Ohr geschieht und Ohr- und Schallereignisse ineinander integriert werden, hat der Cellist auf seinem Instrument bereits die nächste Schallwelle erzeugt – die bei uns gerade verarbeitete ist also eigentlich schon Vergangenheit. Präziser müsste man also sagen: Der Körper allgemein und das Ohr besonders erinnern sich

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

in ihren Verarbeitungsprozessen an die jeweils gerade geschehenen Schallereignisse. Dieser winzige Zeitsprung soll für den Moment hier aber vernachlässigt werden. Auf jeden Fall haben die Schallwellen des Orchesters und wir also einen ›gemeinsamen Ort‹. Das Ereignis der eben im Orchester entstandenen Schallwellen hat eine Wirkung auf uns und beeinflusst unsere aktuelle Entwicklung: Die Schallwellen wirken auf die Prozesse des Körpers, werden von diesem – dabei insbesondere vom Ohr – gespürt, in dessen physiologische Prozesse integriert und dort weiterverarbeitet. Das Ereignis ›Schall‹ und das Ereignis ›verarbeiteter Schall in unserem Körper‹ haben also eine gemeinsame Vergangenheit, durch die sie in direkter Verbindung miteinander stehen. In diesem Sinne kann man von einer direkten Wirkung des Schallereignisses auf unsere Körper- und folgend spe­ ziell auf unsere Hörereignisse sprechen. Das Orchester produziert Schallwellen, diese wirken auf den ganzen Körper, er nimmt die Schwingungen auf, spürt ein Beben und wird emotional gestimmt. Auch das Ohr als Teil des Körpers integriert diese Ereignisse in seine eigenen Prozesse, zum Beispiel indem sich die Flimmerhär­ chen bewegen und elektrische Impulse in die Region des Gehirns reichen. Was unser Ohr spürt, integrierend verarbeitet und über Nervenbahnen an das Gehirn weiterleitet, hören wir als Geräusch. Als räumlich von uns getrennt verortete Ereignisse aus der unmittelbaren Vergangenheit wirken die Schallwellen auf uns ein, überschneiden sich dadurch mit unseren Körperprozessen und erzeugen Reaktionen. Wir verarbeiten Geräusche mit dem Ohr. Es ist dabei aber nicht nur das Ohr, sondern der ganze Körper beteiligt, die Schallwellen erzeugen Empfindungen in meinem gesamten Körper.247 Vor allem die dumpfen Schwingungen der Pauke spüre ich zum Beispiel als Druck im Bauch. Da ich aber gerade geistig abwesend in Gedanken versunken bin oder einen athletischen Jogger beobachte, werden mir die Töne nicht unmittelbar deutlich als solche präsent. Ich spüre die Musik durch meinen ganzen Körper, empfinde dabei unterschwellig den Bauchdruck. Meine latente Unruhe mag davon herrühren, dass ich die Musik nicht mag, sie als kitschig empfinde, das ist mir in diesem Moment aber nicht bewusst. Das ist also eine der Weisen, in der Wahrnehmung stattfindet: in der Weise kausaler Wirksamkeit.

247 Die Rolle des Gehirns soll in dieser vereinfachenden Darstellung (erst einmal) außen vorgelassen werden.

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Mein Großvater hingegen nimmt dieselben Ereignisse auch noch auf eine andere Weise wahr, denn er ist direkt ganz auf das dargebotene Musikstück fokussiert: Er hört aus den eben in ihrer Genese beschriebenen Körperprozessen sofort eine ganz bestimmte Folge distinkter Töne mit einer bestimmten Tonhöhe heraus, die in diesem Moment drüben in der Konzertmuschel erzeugt werden. In diesem Fall funktioniert das Ohr in einer besonderen Weise als spezia­ lisierte Region des Körpers, die für die konzentrierte und von anderen Eindrücken abstrahierende Wahrnehmung von Schallereignissen und deren Sortierung zu Tönen zuständig ist. Es filtert einzelne Formbe­ stimmungen aus den jeweiligen akustischen Eindrücken heraus, die im Gehirn als Klangerfahrung decodiert werden. Mein Großvater könnte sie je nachdem als hell, dunkel, spitz, sanft, beruhigend, tief beschreiben. Das Orchester spielt, mein Großvater identifiziert Geräusche und die Geräusche als eine bestimmte Tonfolge. Diese Geschehnisse ereignen sich gleichzeitig und in einem gewissen Sinne unabhängig voneinander. Den Instrumenten (und vielleicht auch den Musikern) ist das Hörerlebnis meines Großvaters dabei ziemlich egal. Sie produzieren (betätigt durch die Musiker) erst einmal nur die diesem zugrundeliegenden Schallwellen – und das auch unabhängig davon, ob wir sie wahrnehmen oder nicht. Das Ohr meines Großva­ ters nimmt die Schallwellen auf, diese Ereignisse wandeln sich in ganz bestimmte elektrische Impulse um – und strukturieren sich mit den Gehirnprozessen zu bestimmten Mustern oder Eigenschaften, mit dem Ergebnis, dass dem Bewusstsein eine ganz bestimmte Tonfolge präsentiert wird. Mein Großvater fokussiert sich in seiner akustischen Wahrnehmung auf die einzelnen Töne in unterschiedlichen Höhen. In jedem unmittelbar gegenwärtigen Moment sind die jeweiligen Schallwellen für ihn als ganz bestimmte Töne präsent. Dies ist eine andere der Weisen, in denen Wahrnehmung stattfindet: Es werden distinkte Sinnesdaten gefiltert und als Eigenschaften, in diesem Fall Tonhöhen, unmittelbar präsentiert. Mein Großvater hört in diesem Moment ein ganz konkretes Lied. Die Abfolge der Töne ist für ihn nicht beliebig: Sie ist für ihn als eine ganz bestimmte Melodie mit einer ganz bestimmten Bedeutung präsent. Wie automatisch sind die beiden eben beschriebenen Wahr­ nehmungsweisen im Hörerlebnis meines Großvaters eine Synthese eingegangen. Das diffuse Spüren der Schallwellen mit ihrer emotio­ nalen Wirkung auf den Körper einerseits und das deutliche Erkennen einer klaren, distinkten Tonfolge andererseits sind zu einer Einheit der

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

Erfahrung verschmolzen, deren Ergebnis mein die Melodie erkennen­ der, lächelnder, summender Großvater ist. Dieses Erlebnis ist für ihn noch mehr als nur präsent. Er erinnert sich an das Lied und anders als für mich ist es für ihn auch noch von Bedeutsamkeit. Für ihn hat dieses Erlebnis eine besonders starke emotionale Tönung, es versetzt ihn in Wallungen. Er geht beschwingt, summt die Melodie, bewegt automatisch die Arme im Takt und spürt: Er kennt und mag dieses Lied. Außerdem hat er es auf seiner Lieblingsplatte, die er sonntags immer meiner Großmutter vorspielt, das sind schöne Stunden für die beiden. Dies ist das dritte mögliche und im menschlichen Alltag fast ausschließlich vorherrschende Wahrnehmungsgeschehen: Her­ vorgehend aus einem gemeinsamen Bereich und mit einer gewissen gemeinsamen Vergangenheit verschmelzen diffus emotional gespürte physische Wirkungen einerseits und distinkt erkannte Sinneseindrü­ cke andererseits im Prozess einer symbolischen Bezugnahme aufein­ ander zu einer Einheit der Erfahrung. In diesem Fall erzeugt die Einheit der Erfahrung das Erkennen einer Melodie mit den dazuge­ hörigen Reaktionen wie Armeschwingen und Summen. Was macht mein Großvater jetzt? Er überlegt, grübelt, setzt sich bewusst mit dem Hörerlebnis auseinander, analysiert es, versucht, es zu benennen – und dann fällt ihm ein: Das sind ja Schurickes »Capri Fischer«.248 Wir haben angefangen bei einer Folge von Tönen und sind über schwingende Luft, ein diffuses Körpergefühl und einige Erinnerungen bei meinem lächelnden Großvater geendet. Kausal wirkende physika­ lische und physiologische Prozesse um uns und in uns sorgen in einer Synthese mit der geistigen Strukturierung dieser Ereignisse zu Mus­ tern, die wir gegenwärtig wahrnehmen können, dafür, dass für uns aus schwingender Luft letztendlich ein warnendes Geräusch, ein ver­ ständlicher Satz oder (un-)angenehme Musik geworden ist.249 Dieser 248 Meine Großmutter übrigens verzieht das Gesicht, da sie als einzig wirklich musikalische Person in der Familie nicht das Orchester als Ganzes rhythmisch spielen hört, sondern die einzelnen Musiker mit ihren Instrumenten wahrnimmt und es schwer zu ertragen findet, dass der Cellist stets einen Hauch neben dem Takt liegt. 249 Einfach der Vollständigkeit halber sei hier der (neuro-)physiologische Hörvor­ gang stark simplifizierend und in aller Kürze beschrieben: Die Ohrmuschel in ihrer Trichterform verstärkt die Luftschwingungen und lenkt die Schallwellen in das Innere dieser Körperregion, im Mittelohr wird die Luftschwingung in eine Knochen­ schwingung umgewandelt, wiederum verstärkt und auf eine Flüssigkeit im Innenohr übertragen. Je nach Schwingungsfrequenz werden unterschiedliche Flimmerhärchen gereizt und von diesen in unterschiedliche elektrische Signale übersetzt, die über den Hörnerv an das Gehirn weitergeleitet werden. Bis hierhin spürt unser Körper zwar

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Exkurs kann zur Illustration der whiteheadschen Wahrnehmungs­ konzeption dienen. Vice versa sollte seine Philosophie in der Lage sein, diese alltäglichen Erfahrungen zu erklären. Bei diesem Anspruch sollten wir allerdings Einschränkungen hinnehmen: So alltäglich es einerseits auch für uns ist, dass Hörerlebnisse und andere Sinneswahrnehmungen Handlungen anregen, alte Abneigungen verstärken oder neue Ideen sprudeln lassen, so schwierig erweist sich bisher immer noch eine differenzierte neurowissenschaftliche Beschreibung und Kategorisierung aller dafür verantwortlicher Prozesse. Wenn wir uns nun also Whiteheads philosophische Erklärung für diese Phäno­ mene anschauen, sei ihm nachgesehen, dass er nicht alle Details der Prozesse der menschlichen Wahrnehmung und des Bewusstseins in ein konsistentes und kohärentes Schema zu bringen vermag.

4.5.2 Wir spüren: Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit Kausale Wirksamkeit bestimmt die metaphysische Grundkonstitu­ tion der Welt. Sie ist die grundlegende und in allen Prozessen enthaltene Wahrnehmungsweise. In ihr kommen die historische Vernetzung aller Ereignisse und Elemente der Welt und deren gegen­ seitiger Einfluss aufeinander zum Tragen. Erfahrung im Modus der die Reize, im Sinne eines bewussten Erkennens hat der Schall für uns aber noch keinerlei Bedeutung. Erstmals rudimentär in unserem Verständnis wahrgenommen wird er mit der Verarbeitung im Hirnstamm. Auch den unbewussten Reizen aber wird eine Wirkung auf das vegetative und emotionale System zugesprochen, im limbischen System des Gehirns werden eingehende Hörsignale bereits kurz vor der bewussten Wahrnehmung bewertet und lösen entsprechende Emotionen aus – dies passt zu Whiteheads philosophischen Annahmen, dass der Körper als Ganzes emotionale Wirkungen zu spüren fähig ist: Es »können die Geräuschwellen aufgrund ihrer kausalen Wirksamkeit im Körper einen Zustand angenehmer ästhetischer Emo­ tion hervorrufen, der dann symbolisch auf die Sinneswahrnehmung der Geräusche transferiert wird« (SY 143). In verschiedenen Gehirnregionen werden die elektrischen Signale nun einerseits einer emotionalen Bewertung unterzogen und andererseits zu Mustern gruppiert und mit bestehenden Mustern verknüpft. Aus dieser Synthese ergeben sich dann unsere alltäglichen bedeutungsvollen Hörerlebnisse. Insgesamt wird das Hören von der Forschungsliteratur als ausgesprochen aktiver Prozess des Gehörs in Zusammenarbeit mit der zentralen neuronalen Verarbeitung beschrieben und ist damit durchaus in Verbindung zu bringen mit einem prozessphilosophischen Ansatz im Sinne Whiteheads.

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

kausalen Wirksamkeit ist daher in unterschiedlich komplexer Weise allen Individuen von einzelnen actual entities bis hin zu Menschen wesentlich eigen. Sie ist die ursprünglichste Art der Erfahrung, durch welche Informationen in einer emotional geprägten Weise von einer vergangenen Prozesseinheit an eine entstehende Prozesseinheit weitergegeben, vererbt werden und durch welche die Gegenwart von der Vergangenheit beeinflusst wird. Der Bereich dieser direkten Erfahrung »wird geformt durch einen Sinn für jene qualitative Erfah­ rung, die aus der vorangegangenen Wirklichkeit herrührt, von der personalen Einheit der gegenwärtigen Wirklichkeit erlebt wird und die zukünftige Wirklichkeit bedingt« (MT 110). Diese Erfahrung der kausalen Wirksamkeit in Form der Vererbung von Eigenschaften und emotionalen Stimmungen vergangener an folgende Ereignisse ist für Whitehead die direkteste, ursprünglichste und damit auch primitivste Form der Wahrnehmung. »Der primitive, ursprüngliche Charakter der direkten Wahrnehmung ist Vererbung. Vererbt wird der Ton des Empfindens mit Anzeichen für seinen Ursprung« (PR 229).250 Im Detail erfolgen die kausalen Wahrnehmungsprozesse so, wie im Kapitel drei dieser Arbeit erläutert wurde: Theoretisch sind die einzelnen mikrokosmischen Prozesse in Phasen unterteilbar, sie beginnen mit dem physischen Erfassen von Vorgängerprozessen, empfinden die emotionale Wirkung der darin enthaltenen Formen, bewerten deren Bedeutung für das subjektive Ziel und vollenden sich mit einem abschließenden Gefühl für das Ganze. Auf diesen Prozes­ sen basiert nun auch die menschliche Wahrnehmung, so dass auch diese als grundlegend emotional getönt bezeichnet werden kann. Da Wahrnehmung im Modus kausaler Wirksamkeit weder die Aktivität von Sinnesorganen noch von Bewusstsein impliziert, sondern die grundlegendste, unvermittelte Weise der Erfahrung ist, kann man sagen, dass kausale Wirksamkeit einfach erfolgt und erfahren wird – ob man dies nun will oder nicht. »Alle Organismen [machen] Erfahrungen kausaler Wirksamkeit, aufgrund derer ihr Funktionie­ ren durch ihre Umgebung konditioniert wird« (SY 64).251 Die vom Orchester erzeugten Schallwellen gelangen durch die Luft zu unserem 250 In SY formuliert Whitehead: »Das gegenwärtige Ereignis ergibt sich in Abhän­ gigkeit von Begrenzungen, die ihm durch die aktuale Natur der unmittelbaren Vergangenheit auferlegt sind« (SY 105). 251 Vgl. PR 334: »Unsere Wahrnehmungsgegenstände in der Weise der vergegenwär­ tigenden Unmittelbarkeit stimmen wir ab, denen in der Weise der Wirksamkeit sind wir ausgesetzt.«

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Körper, bewirken in unserem Ohr Bewegungen der Flimmerhärchen und in meinem Bauch einen dumpfen Druck – ob wir wollen oder nicht. In SY beschreibt die Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit daher auch als »beladen mit dem Gewicht des Kontakts vergangener Dinge, welche ihren Griff auf unser unmittelbares Selbst legen« (SY 103). In der Geschichte der Erkenntnisphilosophie gibt es eine unter­ schiedliche Betonung in der Rangfolge von Sinneswahrnehmung und direkter kausaler Wahrnehmung der Umwelt – sofern letzterer überhaupt eine Berechtigung zugesprochen wird, was laut Whitehead eher selten der Fall ist: »Ganz offensichtlich ist die ›Wahrnehmung in der Weise der kausalen Wirksamkeit‹ nicht die, welche in der philoso­ phischen Tradition die Hauptaufmerksamkeit auf sich gezogen hat« (PR 232). Hier sieht Whitehead ein Paradebeispiel für eine oftmals paradoxe Haltung der Philosophie, die er als nicht alltagsrelevant pragmatisch anwendbar und unangemessen ansieht: Die Nichtexis­ tenz kausaler Wirksamkeit ist für Whitehead eine kontraintuitive und nutzlose Annahme, denn die Erfahrung kausaler Wirksamkeit ist ein elementarer Bestandteil menschlichen Lebens252: Wir freuen uns über das frische Gefühl nach einem ausgiebigen Nickerchen, wir sprechen von der positiven Wirkung einer Motivationsrede auf uns, das Trinken von Pflaumensaft wirkt unserer Erfahrung nach abführend, wenn wir Wasser als ein wirksames Mittel zum Blumen­ gießen einsetzen, so wollen wir damit das Weiterleben der Blume, nicht etwa die Koexistenz bestimmter Moleküle erzielen, »wenn wir hassen, so hassen wir einen Mann, einen kausalen, wirksamen Mann, nicht etwa eine Ansammlung von Sinnesdaten« (SY 104). »In der Praxis bezweifeln wir die Tatsache der Konformation der Gegenwart an die unmittelbare Vergangenheit nie« (SY 105). Whitehead hält ein Primat der Sinneswahrnehmung bei der Gewinnung von Daten aus der Umwelt für falsch und sieht daher auch die entsprechende Stoßrichtung der Epistemologie als verfehlt an: Mein Streit mit der modernen Epistemologie betrifft ihre exklusive Betonung der Sinneswahrnehmung, um die Daten der Natur zu gewin­

252 Wir erinnern uns hier an Whiteheads Forderung einer philosophischen Kosmo­ logie, die alle Phänomene der Welt und der menschlichen Erfahrung aus einigen Grundprinzipien heraus erklären können soll. Dies ist seines Erachtens ohne die Akzeptanz von Kausalursachen nicht möglich.

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nen. Die Sinneswahrnehmung stellt die Daten nicht in dem Sinn zur Verfügung, in dem wir sie interpretieren (MT 165).253

In der Wahrnehmung unserer Umwelt spielt für Whitehead die Wahr­ nehmung kausaler Wirksamkeit eine wesentlich größere Rolle, als dies in der neuzeitlichen und zeitgenössischen Philosophie ansonsten der Fall ist. Er betont also genau jenes Phänomen, dem zum Beispiel Hume die Existenzberechtigung abstreiten möchte. Mit der umge­ kehrten Reihenfolge von Verstandestätigkeit, Sinneswahrnehmung und Kausalerfahrung legt Whitehead gewissermaßen den Entwurf eines Gegen-Humes vor, in dem er für den ontologischen Vorrang von kausalursächlichen Wirkungen plädiert.254 Diese These trennt ihn von Locke, Hume und Kant, denn bei diesen Autoren ist Kausal­ ursächlichkeit ein abgeleitetes, geistiges Phänomen ohne Fundierung in der Natur selbst.255 Bei Hume erfolgt die Annahme von Kausalität aus einer Gewohnheit des Denkens, bei Kant ist sie eine Kategorie des Denkens – der Irrtum liegt darin, dass »beide Schulen meinen, ›kausale Wirksamkeit‹ sei eine Hinzufügung zu den Daten, sie sei eine Weise des Denkens oder des Urteilens über jene Daten« (SY 98/99). Whitehead unternimmt eine Uminterpretation dessen, was

253 Vgl. AI 334: »Das zwingendste Beispiel für die Existenz nichtsinnlicher Wahrneh­ mung im menschlichen Erleben ist unsere Kenntnis von unserer eigenen unmittel­ baren Vergangenheit«, denn diese wird erinnert, ohne dass sie sinnlich wahrgenom­ men wird. 254 Vgl. SY 108: »Die in der Sinnes-Präsentation gegebene Welt ist nicht die ursprüngliche Erfahrung der niedrigeren Organismen, die dann später durch die Schlussfolgerung zur kausalen Wirksamkeit verfeinert wird. Das Gegenteil ist der Fall: Erst dominiert die kausale Seite der Erfahrung, danach gewinnt die Sinnes-Präsenta­ tion an Subtilität. Ihre wechselseitige symbolische Referenz wird schließlich durch das Bewusstsein und die kritische Vernunft mit Hilfe einer pragmatischen Berufung auf die Konsequenzen gereinigt.« Vgl. MT 153: »Unsere Erfahrung beginnt mit einem Sinn für Kraft und geht in die Un­ terscheidung von Einzeldingen und ihrer Qualitäten über« – und nicht andersherum. Zu Whiteheads Diskussion der kausalen Wirksamkeit und seiner Kritik an Kant und Hume siehe vor allem auch PR 324–328 und SY 89–98. 255 Vgl. Dean (1983:104): »Thinkers [like Descartes, Hume and Berkeley] regarded the clear and distinct mental images of presentational immediacy as primitive, and causal efficacy as derivative. Whitehead calls this ›a complete inversion of the evidence‹.« Vgl. Lindsey (1985:145): »Many philosophers from Kant to Hume regard presenta­ tional immediacy to be the primary, even sole, datum of perception; whereas, for Whitehead it is secondary.«

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Hume »Gewohnheit der Beobachtung« nennt, und stellt das Wirken von Kausalität als ontologisch primär dar: Humes Appell an das Gedächtnis [die Gewohnheit der Beobachtung] ist in Wirklichkeit ein Appell an die beobachtete Immanenz der Ver­ gangenheit in der Gegenwart, die eine Kontinuität der subjektiven Formen involviert. [...] Aber daraus folgt auch, dass es einen Kausalzu­ sammenhang zwischen Erlebensvorgängen gibt (AI 338).

Bezogen auf Whiteheads Kritik an Humes Gewohnheit der Beobach­ tung und der alternativen Betonung von kausalen Zusammenhängen bemängelt Williams: »This is an unconvincing critique of Hume [...]. Hume can appeal to habit in the same way as Santayana and Whitehead appeal to conformation. They make the mistake of overemphasising inference of causality at the expense of custom and habit in Hume‘s philosophy« (Williams 2016:4). Williams unterstellt Whitehead, er selbst zaubere Kausalität aus dem von ihm geächteten »secret store of information«. Innerhalb des philosophischen Sche­ mas Whiteheads ist der Bezug auf kausales Wirken allerdings durch­ aus konsistent möglich, da dieses als ontologische Prämisse seiner Metaphysik gesetzt ist – als Fürsprecher Humes, der explizit keine Metaphysik entwerfen, sondern sich auf eine philosophisch-psycho­ logische Betrachtung des Menschen beschränken möchte, müsste Williams in diesem Fall also (Whiteheads) Metaphysik grundsätzlich als fantastisches Kruschelkistchen ablehnen, hätte damit aber auch keine Diskussionsgrundlage mehr. Im zweiten Kapitel von SY und im Kapitel VIII,3 von PR setzt sich Whitehead mit dem Problem der Kausalität bei Hume und Kant auseinander. Zur Überprüfung und Widerlegung der These, die primären, klaren Erfahrungen des Menschen basierten auf Sin­ neseindrücken und Kausalität sei als Ergebnis des Denkens zu verste­ hen, argumentiert Whitehead folgendermaßen: Wenn dem so sei, dann sollte die Annahme von Kausalität und ein Handeln danach bei jenen Organismen am ausgeprägtesten sein, die am höchsten entwickelt sind. Eine solche Schlussfolgerung ist laut Whitehead nach einer Betrachtung unserer Erfahrungstatsachen aber nicht zu stützen – im Gegenteil: Die Konformität der gegenwärtigen Tatsachen an die unmittelbare Vergangenheit herrscht bei niedriger entwickelten Organismen viel stärker vor als bei höher entwickelten Organismen: »Ein Blume wendet sich dem Licht mit viel größerer Sicherheit zu als ein Mensch« (SY 101). So ist es nach Whitehead sogar genau

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anders herum, als man im Anschluss an Hume und Kant vermuten könnte – die Vertrautheit mit den Sinnesdaten, die bei Hume eine Notwendigkeit zur Herstellung von Kausalitätsschlüssen darstellt, ist nicht nur nicht immer gegeben, sondern kann sich sogar kontra­ produktiv auf die direkte Erfahrung von Kausalität auswirken: »Das lebhafte Auffassen unmittelbarer Sinnesdaten unterbindet notorisch die Aufmerksamkeit auf die Relevanz der Zukunft« (SY 101) und der Vergangenheit. Die Interpretation von Wirkursachen und Kausal­ zusammenhängen als psychologisches Phänomen hält Whitehead (ebenso wie die Trennung von Geist und Natur) für eine Solipsis­ musfalle. Er sieht den Ausweg aus dieser Falle in der Annahme, dass die Wahrnehmung von Wirkursächlichkeit ein fundamentales Element der Wirklichkeit darstellt, das auf der komplexen Ebene menschlichen Lebens ebenso zu finden ist wie an der ontologischen Basis und in der Konsequenz, dass die Sinneswahrnehmung erst eine spätere, abstrahierende Weise der Wahrnehmung darstellt.256 Kausalursachen stehen damit auch zur Erklärung alltäglicher gesell­ schaftlicher Phänomene zur Verfügung. Indem für den Menschen dieselben ontologischen Grundlagen gelten wie für jede actual entity, hat er Teil an der gesamten, organisch miteinander vernetzten Wirk­ lichkeit. Diese ist daher für den Menschen prinzipiell erkennbar. Mit Anerkennung der Wahrnehmung kausaler Wirksamkeit wird die Kluft zwischen menschlicher Wahrnehmung und dem Rest der Natur erst gar nicht aufgerissen, die Gefahren von Skeptizismus oder Idealismus sind gebannt.257 King fasst Whiteheads Lösung des Kausalitätsproblems durch die Etablierung von Kausalursachen auf metaphysischer Grundlage des Menschen folgendermaßen zusam­ men: »All this mystery and false modesty surrounding causality can

Vgl. PR 163/164: »Wir müssen – um einen Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks zu vermeiden – in die direkte Wahrnehmung etwas mehr hineinneh­ men als vergegenwärtigende Unmittelbarkeit. Für die organistische Theorie ist die einfachste Wahrnehmung das ›Empfinden des körperlichen Wirkens‹. Dies ist ein Empfinden der Welt in der Vergangenheit; es ist das Erleben der Welt als ein Komplex des Empfindens, nämlich das Empfinden abgeleiteter Empfindungen. Die spätere, verfeinerte Wahrnehmung ist das ›Empfinden der gleichzeitigen Welt‹.« 257 Vgl. Robson (1941:87): »Whitehead argues that Hume, by neglecting the causal mode of perception, missed the essential relatedness of things, and by missing the essential relatedness of things, lands in scepticism.« Vgl. King (1949:93): »With this requisite of perceptual analysis (causal efficacy) we cut the frail roots of Humian scepticism and Berkeleyan Idealism.« 256

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be dispersed by the simple acknowledgement that the perceptual act is itself a natural event« (King 1949:100). Dean bezeichnet Whiteheads empiristische Position in Anleh­ nung an William James’ Terminus als »radikalen Empirismus« – auch, um diesen vom positivistischen Empirismus Humes zu unterschei­ den.258 Whitehead hält es schließlich für falsch, dass der Mensch lediglich über die genau festgelegten Wege der fünf Sinne mit der Außenwelt kommunizieren könne, und geht mit der Annahme des gesamten Körpers als einer Erfahrungseinheit weit über einen klassi­ schen Empirismus hinaus.259 Whiteheads These, dass die gesamte Umwelt in ihrer fundamentalen Vagheit durch den Menschen mittels seines ganzen Körpers wahrgenommen wird und keine Beschränkung auf die Wahrnehmung von distinkten Sinnesdaten stattfindet, poin­ tiert Hooper folgendermaßen: »We are urged to remember that our bodies are a part of the wider realm of nature to which we belong« (Hooper 1944:136). Bei Whitehead ist der gesamte Körper deshalb ein Wahrneh­ mungsorgan, weil dieser nicht als Ansammlung materieller Zellen verstanden wird, sondern als ein komplexer Organismus wirklicher Vorgänge, der »sich selbst als er selbst begründet, indem er das ihm zur Verfügung stehende Universum in sich entfaltet« (Rohmer 2000:94). Entfaltet sich also der Zusammenschluss vieler actual entities mit ihrer Bezogenheit zu allen anderen Wesenheiten des Universums in der Weise eines menschlichen Körpers, so steht Vgl. Dean 1983:Fußnote 21. Vgl. PR 228: »Die beherrschende Grundlage der Wahrnehmung ist die Wahrneh­ mung der verschiedenen körperlichen Organe, die ihre Erfahrung auf dem Weg der Übertragung und der Verstärkung weitergeben.« Eine interessante aktuelle Parallele ist in der Philosophie der Pflanzen von Coccia zu finden, der wie Whitehead einen organistischen Ansatz vertritt und »ein Universum, das eigentlich ohne Ding ist, ein riesiges Feld voller Ereignisse unterschiedlicher Intensität« (Coccia 2018:48) annimmt, was ihn schließen lässt: »Wenn jedes Lebe­ wesen ein Sein in der Welt ist, dann ist jede Umwelt ein In-den-Lebewesen-Sein« (Coccia 2018:57). Auch Coccia sieht konsequenterweise den gesamten menschlichen Körper als Wahrnehmungsorgan: »Eine Welt, in der Handlung und Betrachtung nicht mehr unterschieden sind, ist auch eine Welt, in der Materie und Wahrnehmung – oder, wenn man so will, Auge und Licht – ein vollkommenes Amalgam bilden. Körper und Sinnesorgane lassen sich nicht mehr trennen. Wir würden nicht mehr mit einem einzigen Körperteil wahrnehmen, sondern mit unserem gesamten Wesen. Wir wären nur noch ein riesiges Sinnesorgan, das mit dem wahrgenommenen Gegenstand verschmilzt. Ein Ohr, das nur noch der Klang ist, den es hört, ein Auge, das ständig in dem Licht badet, das ihm Leben gibt« (Coccia 2018:50). 258

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auch dieser Körper mit seinen geistigen wie physischen Anteilen als Ganzes notwendigerweise in Beziehung zum gesamten Univer­ sum. Analog zum selbstgestaltenden Erlebensprozess der kleinsten wirklichen Einheiten bestimmt Whitehead also auch »das mensch­ liche Erleben [...] [als] ein[en] Akt der Selbsthervorbringung, der die Gesamtheit der [...] Natur mit in sich einschließt« (AI 401). Der Körper kann uns Menschen dabei als Vermittler in die Welt des ontologischen Mikrokosmos dienen. Die direkte Wahrnehmung kausaler Wirksamkeit kann der Mensch durch seinen ganzen Körper als das Empfinden emotionaler Tönungen aus der Umgebung regis­ trieren. Über das (körperlich vermittelte) Gefühl können wir in unse­ rer üblicherweise mesokosmisch strukturierten Alltagswelt trotz all unserer abstrahierenden Bewusstseinstätigkeiten eine Ahnung von der metaphysischen Basis erlangen. Gefühl ist in der menschlichen Erfahrung fast immer bereits interpretiertes Gefühl und nie einfach bloße Emotion, »aber selbst dann sind die emotional strebenden Ele­ mente in unserer bewussten Erfahrung gerade diejenigen, welche den grundlegenden Elementen aller physischen Erfahrung am ähnlichsten sind« (PR 305). Zwar ist laut Whitehead die dominierende Wahrnehmungs­ weise, mit der wir unser Alltagsleben organisieren, diejenige der symbolischen Referenz (also der Wahrnehmung in einer Synthese von kausaler Wirksamkeit und präsentativer Unmittelbarkeit) – ver­ mittelt durch unseren Körper als gesamten Organismus aber erhalten wir eine Ahnung vom direkten kausalen, emotionalen Erlebenssinn. Was spricht für diese Annahme? Es gibt Situationen, in denen eine bestimmte primitive Arbeitsweise des menschlichen Organismus außergewöhnlich intensiviert ist und in denen auch Menschen in einem Rückfall überwiegend vom Wahrnehmungsmodus der kau­ salen Wirksamkeit dominiert werden. Dies ist zum Beispiel beim Straucheln als Reflex auf ein Stolpern, bei dem die Bewegungssignale anders als bei bewussten Bewegungen ohne Umweg über das Gehirn direkt über das Rückenmark in die Nervenzellen der Gliedmaßen geleitet werden, der Fall. Stressreaktionen, die mit einer Ausschüttung entsprechender Hormone einhergehen, laufen ebenfalls im Modus kausaler Wirksamkeit ab – und noch bevor wir eine klare Sinneswahr­ nehmung registrieren und diese analysieren können, laufen wir schon vor dem Grizzlybären fort. Auch starke Emotionen wie Zorn, Liebe oder intensiven Genuss erleben wir im Modus der kausalen Wirksam­

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keit.260 Die Schwingungen der Pauke im Kurorchester bewirken bei mir, obwohl ich in Betrachtung des Joggers versunken bin, direkt einen Druck im Bauch und ein diffuses Gefühl der Ablehnung. Auch meine Erinnerung an jenes Erlebnis eine Woche später kann dieses Gefühl noch einmal erzeugen, das körperliche Spüren der physikalisch verursachten Ereignisse im Kurpark hat quasi Spuren hinterlassen. Whitehead selbst führt in AI261 als Beispiel einer Dominanz der Wahrnehmung im Modus kausaler Wirksamkeit die Beobachtung an, dass ein kleines Kind Stimmungen der Mutter noch unterhalb der Schwelle zu Sinnesgegebenheiten direkt aus deren Gesicht als Wahr­ heit empfinden könne – zwar ist hierbei auch der Sehsinn beteiligt, der Form und Schattierungen des Gesichts aufnimmt, das Kind muss jedoch noch nicht, wie später Erwachsene, die Gesichtszüge auch als solche erkennen und interpretieren. Das Kind ist in der Lage, seiner Mutter Stimmungslagen wie liebevolle Fürsorglichkeit, Fröhlichkeit, Niedergeschlagenheit oder Gereiztheit unmittelbar vom Gesicht abzulesen und spontan auf sie zu reagieren. [...] Die Fröhlichkeit der Mutter wird vom Kind als etwas Gegebenes gefühlt, und zwar auf eine dem Gegebenen konforme Weise, mit der gleichen affektiven Tönung (AI 432).

Riffert (1999) führt drei Beispiele aus der Psychologie an, um den von ihm konstatierten Mangel zu beseitigen, »dass für die Existenz dieses Modus [der kausalen Wirksamkeit] kaum je empirische, geschweige denn empirisch-experimentelle Belege beigebracht wurden.«262 Diese Beispiele sollen Whiteheads Annahme der Existenz einer Wahrneh­ mung im Modus kausaler Wirksamkeit stützen. Hierbei wird auf eine Studie von Neisser (1979) zur Unmittelbarkeit physiognomischer Wahrnehmung im frühsten Kindesalter hingewiesen, die stark an Vgl. SY 104. In AI behandelt Whitehead die Wahrnehmungsweisen mit Bezug auf die Frage nach »Wahrheit« und »Falschheit« im Sinne einer Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklichkeit, wobei diese Begriffe mit Blick auf seine Metaphysik verstanden wer­ den müssen. »Erscheinung« nennt er hierbei alle aus der ontologischen Wirklichkeit der kausalen Wirksamkeit abgeleiteten Wahrnehmungsinhalte. 262 Vgl. Riffert 1999:180ff.: (1) »physiognomischen Wahrnehmung«, (2) »sublimi­ nale Wahrnehmung, künstlich induziert durch tachytoskopische Darbietung visueller Stimuli«, (3) »Wahrnehmung im frühesten Stadium kindlicher Entwicklung«. Riffert setzt sein Anliegen, Whiteheads Wahrnehmungstheorie mit empirischen Daten zu untermauern, fort, in einem Aufsatz von 2007 zieht er dazu empirische Befunde aus der Mikrogenese- und Perzept-Genese-Forschung heran. 260 261

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Whiteheads Beispiel erinnert, wenn bezogen auf das Verständnis von Mimik und Emotionen festgestellt wird: »Wir bemerken nicht zuerst die gespannten Backenmuskeln und schließen daraus auf Ärger; oft ist es gerade umgekehrt.«263 Demnach ist diese Wahrnehmung laut Neisser (in der Interpretation von Riffert) keine abgeleitete, sondern eine primäre, vage Wahrnehmungsweise von Bedeutungen, die meist emotional stark gefärbt ist.264 Auch bei speziellen Psychosen und unter dem Eindruck von Drogen – wenn also die gewohnte Aktion des Herstellens symbolischer Referenz in ihrer üblichen Weise außer Gefecht gesetzt oder zumindest stark eingeschränkt wird – ist diese Art der Wahrnehmung laut Neisser häufiger zu finden. Um die Erfah­ rung kausaler Wirksamkeit kommen wir letztendlich allein deshalb nicht herum, weil diese die Wiege unserer Existenz ist. Am Ende des Tages sind auch wir Menschen nur zu verstehen als hochkomplexer Zusammenschluss von Prozessen, deren Beginn im physischen Erfas­ sen voneinander liegt.

4.5.3 Wir strukturieren: Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit Wir haben gesehen, dass der grundlegende Ausgangspunkt der Reak­ tion von Organismen auf die (direkt vorangegangene) Umwelt bei Whitehead nicht die Sinneserfahrung, sondern die Erfahrung von Kausalität ist. Im Gegensatz zu den Folgen kausaler Wirksamkeit werden die Sinnesgegenstände im Wahrnehmungsmodus der prä­ sentativen Unmittelbarkeit erst auf einem weniger fundamentalen Level erfahren, denn hierfür ist eine Komplexität innerhalb von Orga­ nismen notwendig, die durch die Betonung des geistigen Pols von der Erfahrung direkter Kausalität zu abstrahieren fähig ist. Wahrneh­ mung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit ist jene, die über die Ketten kausaler Abhängigkeitsverhältnisse hinaus bestimmten gleichzeitig ablaufenden Prozessen oder Ereignissen eine gewisse Relevanz zugesteht und sie mittels Formbestimmungen, die in allen Neisser 1979, zitiert nach Riffert 1999:181. Auch Neisser selbst stellt fest: »Der Prozess [physiognomischer Wahrnehmung] läuft zu schnell und automatisch ab, erscheint zu früh in der Kindheit und ist unabhängig von der Urteilsfähigkeit und der Fähigkeit des Schlussfolgerns« (zitiert nach Riffert 1999:181). 263

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Prozessen gleich oder ähnlich empfunden werden, zu Mustern grup­ piert. Mit dieser Herausstellung von Mustern geht eine Abstraktion einher: Bestimmte Merkmale werden besonders betont, strukturiert und in gewisser Weise losgelöst von ihrer Vergangenheit betrachtet; die massive Gesamtheit der Umgebung bildet nur noch den Hinter­ grund, der als Kontrast für die dadurch deutlicher wahrnehmbaren einzelnen Besonderheiten dient. So entsteht »eine Abstraktion, wel­ che die Vollständigkeit des Wirklichen beleuchtet und stimuliert« (MT 148).265 Diese Wahrnehmungsweise nennt Whitehead Sinnes­ wahrnehmung oder Sinneserfahrung: »Unter ›präsentativer Unmit­ telbarkeit‹ verstehe ich das, was üblicherweise als ›Sinnes-Wahrneh­ mung‹ bezeichnet wird« (SY 80). Allerdings verwendet Whitehead den Begriff der Sinneswahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit in einem engeren Sinne, als dies unserem Alltagsver­ ständnis von Sinneswahrnehmung entspricht. Zum Beispiel nehmen wir auf diesem Level, so wie es Whitehead versteht, mit unseren Sinnen erst einmal nur eine schwarze, eckige Form wahr, noch nicht aber den LC2, einen Klassiker unter den Bauhaus-Sesseln. Es werden mittels der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittel­ barkeit also beispielsweise Töne, Formen, Farben, unterschiedliche Volumina und räumliche Beziehungen erkannt – aber noch keine Gegenstände identifiziert. Welcher Schritt noch fehlt, damit wir auch Alltagsgegenstände als solche erkennen können, wird im nächsten Kapitel dieser Arbeit erläutert. Gegenstandsbereich der Sinneswahrnehmung im engeren Sinne, der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit, ist bei Whitehead die gegenwärtige, gleichzeitige Welt in der Weise, in der sie mit unseren Sinnen direkt (und noch unvermittelt durch begriffliche Analyse) in Interaktion tritt. In der Sinneswahrnehmung »zeigt sich die Welt als eine Gemeinschaft aktualer Dinge, die in demselben Sinn aktual sind, wie wir selbst es sind« (SY 80/81). Die Objekte dieser Wahrnehmungsweise sind dem unmittelbaren sinnlichen Erleben zugänglich und haben im Moment des Erlebens nur einen minimalen Bezug zur Vergangenheit oder zur Zukunft. Es handelt sich bei dem, was im Modus der präsentativen Unmit­ telbarkeit wahrgenommen wird, um je eine besondere Auswahl an gleichzeitigen, räumlich benachbarten Prozessen, die durch die Sin­ Vgl. SY 81: »Die räumlichen Relationen ebenso wie die Sinnesdaten sind an und für sich Abstraktionen.«

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nesorgane aus einem Hintergrund kausal-emotionaler Wirkintensität als zusammengehöriger Komplex herausgestellt und gegen den dif­ fusen Hintergrund kontrastiert werden.266 Wir haben es hier also mit der Erfahrung und Sortierung der unmittelbaren Welt um uns herum zu tun. Diese gleichzeitige Welt nehmen wir als mit klaren Grenzen umrissen, unterteilt in unterschiedliche Qualitäten und als ausgedehnt wahr. Gleichzeitigkeit der wahrgenommenen Prozesse ist ein entscheidendes Kriterium für diesen Wahrnehmungsmodus.267 Gleichzeitig ablaufende Prozesse sind jene, die als kausal unabhängig voneinander verstanden werden können. »Ereignisse sind definiti­ onsgemäß gleichzeitig, wenn zwischen ihnen kein kausales Abhän­ gigkeitsverhältnis besteht« (AI 354), wenn sie also nicht in dem Verhältnis einer Abfolge von Wirkungen zueinanderstehen. Diese Bestimmung liegt auf der Hand, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Kausalität als Wirkung von bereits bestehenden actual entities auf künftig entstehende actual entites definiert ist. Gleichzeitig entste­ hende Prozesseinheiten können daher keine direkte Wirkung aufein­ ander haben und so ist es möglich, sie in dem Sinne aus der Massivität intensiver Erfahrung herauszulösen, das auf gemeinsame abstraktere Details fokussiert wird. Wie aber steht es dann um die These, dass doch laut dem ontologischen Prinzip der Relationalität alle Ereignisse der Welt miteinander verbunden sein sollen? Whitehead betont, dass sich »die wechselseitige Unabhängigkeit der gleichzeitigen Vorgänge [...] strikt auf die Sphäre ihrer teleologischen Selbsterschaffung« (AI 355) beschränkt. Wenn ein Ereignis entsteht, so erschafft es sich selbst als vollständigen Charakter, indem es seine subjektiven Ziele 266 Vgl. PR 233: »Die Wahrnehmung, die lediglich ein gleichzeitiges räumliches Gebiet mit Hilfe eines Sinnesgegenstandes vor der Vagheit bezüglich seiner räumli­ chen Gestalt und seiner räumlichen Perspektive, vom Wahrnehmenden aus gesehen, bewahrt, wird ›Wahrnehmung in der Weise der vergegenwärtigenden Unmittelbar­ keit‹ genannt.« Vgl. SY 80: »Präsentative Unmittelbarkeit ist unsere unmittelbare Wahrnehmung der gleichzeitigen äußeren Welt, die als ein konstitutives Element unserer eigenen Erfahrung erscheint.« Vgl. AI 387: »Im menschlichen Erleben nimmt das Erfassen der gleichzeitigen Welt den Charakter der mit Hilfe der körperlichen Sinnesorgane vollzogenen Sinneswahr­ nehmung an.« 267 Vgl. SY 75: Der Erfahrungstyp der präsentativen Unmittelbarkeit verdeutlicht, »wie gleichzeitige Ereignisse von gegenseitiger Relevanz sein können und dennoch eine gegenseitige Unabhängigkeit bewahren.« Die Relevanz inmitten einer Unabhän­ gigkeit ist das besondere Charakteristikum von Gleichzeitigkeit.

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bestimmt, indem es die Entscheidung trifft, was es werden will. Diese unmittelbare Aktivität der Selbsterschaffung vollzieht sich als priva­ ter, von allen anderen gleichzeitigen Vorgängen abgetrennter Akt. Dennoch haben diese von uns in ihrer gleichzeitigen Unabhängigkeit voneinander wahrgenommenen Ereignisse eine Vergangenheit und eine Zukunft – und darüber stehen sie miteinander in Verbindung. Gleichzeitig ablaufende Prozesse wirken nicht aufeinander ein – aber sie stehen dadurch indirekt miteinander in Beziehung, dass sie Rela­ tionen zu denselben bereits geschehenen Ereignissen, zu möglichen gemeinsamen Vorgängerprozessen haben können, besonders zu Vor­ gängerprozessen des sie erfassenden Subjekts.268 Dadurch, dass die Sinneserfahrungen in direkter Wechselwirkung mit dem erfahrenden Organismus stehen, sind sie auch mit den übrigen Informationen aus dem jeweiligen wahrgenommenen Raum in seiner Historizität verbunden. Die Erfahrung von Ausdehnung, von der räumlichen Beziehung wahrgenommener Dinge zueinander ist ein weiteres wich­ tiges Element der Sinneswahrnehmung. Whitehead bezeichnet diese Wahrnehmungsweise daher auch als jene, in der »die gleichzeitige Welt bewusst als ein Kontinuum von extensiven Relationen erfasst« (PR 129) wird, wobei Raum eben durch das Knüpfen von Beziehungen benachbarter Prozesseinheiten untereinander erzeugt wird. Es muss nun über einen angenommenen räumlichen Abstand hinweg eine Verbindung bestehen zwischen den Prozessen im Wahr­ nehmenden und den Prozessen im Wahrgenommenen. Im Erfassen gleichzeitiger Ereignisse »direkt in uns« und »räumlich direkt vor uns« bilden wir anhand der Betonung struktureller Gemeinsamkei­ ten dieses Gesamtgebietes das heraus, was als Sinnesdaten gilt. Die wahrgenommenen Sinnesdaten sind für uns also nur durch die Vorstellung eines Raumes denkbar, denn »die Relationiertheit räumlicher Ausdehnung [...] ist das Schema der Morphologie der komplexen Organismen, die die Gemeinschaft der gleichzeitigen Welt ausmacht« (SY 81). Welche Daten aus der Umgebung in den jeweiligen Akt der Sinneswahrnehmung einbezogen werden, hängt vom wahrnehmenden Organismus und seinen räumlichen Relationen zu den wahrgenommenen Organismen seiner Umgebung ab. 268 Vgl. AI 389: »Es handelt sich beim Erfassen der gleichzeitigen Vorgänge um ein Erfassen dieser Vorgänge, insofern und insoweit sie Bedingungen unterliegen, die ihnen durch die Vorgänge der unmittelbaren Vergangenheit des sie erfassenden Subjekts vorgegeben sind.«

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Mittels Sinneswahrnehmungen schießen wir also Momentauf­ nahmen, einem Foto ähnlich, von formalen Gemeinsamkeiten sich nebeneinander individuell gestaltender Ereignisse und blenden für diesen Fotomoment jedes Vorher und Nachher der entsprechenden Ereignisse aus. Während die Wahrnehmung in der Weise der kausa­ len Wirksamkeit also gewissermaßeneinen Längsschnitt durch das Universums zieht, zeichnet die Wahrnehmung im Modus der präsen­ tativen Unmittelbarkeit einen Querschnitt durch einen gleichzeitigen Moment des Universums. Mit diesem Querschnitt durchs Universum, der distinkte Sin­ nesdaten pointiert, scheint es zu einer qualitativen Veränderung der Erfassensvorgänge zu kommen, denn hier erfassen nicht mehr einzelne Prozesseinheiten einander, sondern es generieren sich kom­ plexe Zusammenschlüsse, durch die in der gleichzeitigen Welt eine besondere Struktur entsteht. Aufgrund seiner Komplexität ist der Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit Organis­ men wie Lebewesen vorbehalten, »Sinneswahrnehmungen [sind] in einer nennenswerten Bedeutung nur für hochentwickelte Organis­ men charakteristisch« (SY 65).269 Es taucht an dieser Stelle, wie bereits früher angesprochen, die Frage auf: Wie funktioniert der Übergang von einzelnen Prozesseinheiten als Erfahrungssubjekten zu einer Person als Erfahrungssubjekt, das mittels seines Körpers und seiner Sinnesorgane emotionale Wirkungen spürt und Sinnesdaten als eindeutig voneinander unterscheidbare Erfahrungsgegenstände aus einer Umwelt herausfiltert, die sich im Kontrast zu diesen dis­ tinkten Erfahrungsinhalten als diffuses Wirknetz darstellt? Und wie können im dazu komplementären Prozess Formbestimmungen als Eigenschaften von Alltagsgegenständen abgegrenzt werden? White­ head ist sich der Notwendigkeit einer Erklärung für diesen Übergang durchaus bewusst: Wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass der eine Nexus an die Stelle der in ihm enthaltenen Einzelwesen rückt. [...] Wir brauchen irgendeine Kategorie, um das physische Empfinden eines Nexus als ein Einzelwesen mit seinem eigenen kategorialen Typ der Existenz ansehen zu können« (PR 458/459).

Vgl. MT 111: »Nun ist aber die Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung nur höheren Tieren zueigen.«

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Nur dann nämlich gelingt es, aus der kausal wirksamen atomistischen Wirklichkeit die uns geläufige gegenwärtige Welt der Menschen und Steine herauszubilden. Hierfür führt Whitehead die »Kategorie der Umwandlung« ein270, mittels derer mehrere benachbarte physische Empfindungen von verschiedenen Wirklichkeiten (im abschließen­ den Subjekt) ein begriffliches Empfinden hervorrufen. »In diesem Fall leitet der Nexus als ganzer eine Eigenschaft ab, die in gewisser Weise zu seinen verschiedenen Elementen gehört« (PR 461). Whitehead unterscheidet dabei mehrere Weisen der Umkeh­ rung, je nachdem, in welcher Phase und in welcher Komplexität sie stattfinden: »Die Umkehrung kann in den getrennten Wirklichkeiten des Nexus oder im abschließenden erfassenden Subjekt erfolgen, oder es kann eine doppelte Umkehrung stattfinden, die aus beiden Quellen gespeist wird« (PR 460); Umkehrung271 ist also auf unterschied­ lich komplexen Stufen möglich. Wird beispielsweise im erfassenden Organismus die in allen Ereignissen aus einem bestimmten Gebiet erfasste Eigenschaft ›grau‹ oder ›gerade‹ als Eigenschaft dieser Region objektiviert und präsentiert, bedarf es dazu einer derartigen Struk­ turierung des erfassenden Gesamtorganismus, dass die Ereignisse in einzelnen Gebieten davon zum gemeinsamen Funktionieren als Sinnesorgan gruppiert werden können und sich in anderen Gebieten davon zu einer verstärkten Aktivität des geistigen Pols verdichten. Über die Sinnesorgane als gemeinsamen Ort für erfasste Daten und erfassenden Organismus finden dann in der begrifflichen Arbeit des geistigen Pols jene Prozesse statt, die Whitehead in der Kategorie der Umwandlung nennt: Die Formbestimmungen individueller ob­ jektivierter Ereignisse werden als gemeinsames Charakteristikum eines Nexus als Ganzem wahrgenommen und kontrastierend aus der kausal wirksamen Umgebung herausgehoben. Die Kategorie der Umwandlung hängt also – darauf weist Whitehead selbst auch hin272 – ganz eng zusammen mit der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit. In AI pointiert Whitehead diesbezüglich: »Für die auf der Erd­ oberfläche lebenden Wesen ist die Sinneswahrnehmung das bei

Vgl. PR 458ff. »Umwandlung« und »Umkehrung« werden von uns an dieser Stelle synonym ver­ wendet. 272 Vgl. PR 461. 270 271

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weitem wichtigste Beispiel einer Transmutation« (AI 382).273 In diesem späteren Werk thematisiert Whitehead die Problematik des Übergangs von einer prozessualen atomistischen Wirklichkeit zur Realität der menschlichen Alltagswelt einschließlich Sinnesdaten und dem Common-Sense-Verständnis von Sinneswahrnehmung im Ka­ pitel »Erscheinung und Wirklichkeit« (AI 374–391). Mit Erscheinung bezeichnet er hier – wie auch in SY274 – den durch den geistigen Pol »transmutierten«, umgewandelten Inhalt des Erlebens höchst entwickelter Organismen.275 »Das transmutierte Perzept – also das, was nach dieser Übertragung wahrgenommen wird – gehört offen­ sichtlich dem Bereich der ›Erscheinung‹ an« (AI 381/382). Die Welt der Erscheinungen ist also unsere abstrakte mesokosmische Welt der Farben, Formen, Gerüche und die noch abstraktere Welt der Menschen, Tische, Steine – aber auch die Welt der unbewussten und bewussten Annahmen, Aussagen und Theorien. Als Resultat der strukturierenden und abstrahierenden Aktivität des geistigen Pols schreibt Whitehead auch in AI der Erscheinung »eine Klarheit und Distinktheit, die unserem vagen und kompakten Gefühl der Abkunft aus der realen Welt völlig abgeht« (AI 378), zu. Die Bezeich­ nung »Erscheinung« zielt dabei auf die Tatsache, dass es sich bei Erscheinungen um Wahrnehmungsgegenstände auf einem hohen Abstraktionslevel handelt – ist aber unseres Erachtens kein besonders passender Terminus, denn die hier mitschwingende Konnotation des ›Scheinhaften‹, des ›Wirklichkeitsfremden‹ ist zu stark: Jede noch so stark abstrahierte Erscheinung der mesokosmischen Realität sollte sich schließlich auf irgendwelche Ereignisse aus der ontologischen Wirklichkeit zurückführen lassen. Whitehead verwendet für den Vorgang der Umwandlung von Atomen zu größeren qualitativ zusammenhängenden Einhei­ ten durch die Betonung gemeinsamer Formbestimmungen, sprich gemeinsamer Eigenschaften auch den Ausdruck der »Projektion von

Das englische »transmutation« wird in PR mit »Umwandlung« und in AI mit »Transmutation« übersetzt. 274 Vgl. SY 80/81. 275 Vgl. AI 377: »Was ›Erscheinung‹ ist, ist ein Resultat der Aktivität des psychischen Pols, durch den die Qualitäten und Koordinationen der gegebenen physischen Welt einer Transformation unterzogen werden.« 273

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Sinnesdaten«.276 Er verweist darauf, dass dies eine in der Philosophie landläufige Formulierung für das beschriebene Wahrnehmungsphä­ nomen ist, warnt jedoch gleichzeitig vor einer möglichen Missin­ terpretation dieser Ausdrucksweise: »In der gewöhnlichen Sprache werden die Sinnesdaten projiziert. Diese Terminologie ist unglück­ lich gewählt« (PR 323), da sie die Wesentlichkeit der Beziehungen zwischen Wahrnehmenden, Daten und materiellen Gegenständen vernachlässigt.277 Bei Whitehead ist diese Projektion kein hinzuge­ fügter oder hinzufügender Akt, der durch die Attribuierung von Substanzen eine Brücke schlägt zwischen Sinnesdaten einerseits und einem bestimmten Raum oder Gegenstand andererseits, sondern selber elementarer Teil des gesamten Wahrnehmungsprozesses. »Es gibt keine reinen Sinnesempfindungen, welche zuerst erfahren und dann [...] auf die gegenüberliegende Wand als ihre Farben ›projiziert‹ werden. Die Projektion ist ein integraler Bestandteil der Situation und ganz genauso ursprünglich wie die Sinnesdaten« (SY 74). Whitehead übt daher Kritik an der Bezeichnung »Sinnesdaten«, wie Russell sie versteht und die, grob gesagt, den »impressions« bei Hume entspricht. In AI fasst Whitehead diesen Zusammenhang rund um die Sinneswahrnehmung folgendermaßen zusammen: »Auf diese Weise wird das aus der Vergangenheit Ererbte auf die Gegenwart projiziert: es wird zur Sinneswahrnehmung, zu dem, was im gegenwärtigen Erleben ›Erscheinung‹ ist« (AI 387). Er weist auch hier darauf hin, dass es sich bei der »Erscheinung um eine unglaublich simplifizierte Version der Wirklichkeit« (AI 380) handelt, die von der massiven Wirkmächtigkeit der ontologischen Basis abstrahiert – aber es ist immer noch eine Version der Wirklichkeit und nicht ein zur Wirklich­ keit gegensätzliches reines Produkt der Psyche. Die Vorgänge dieses Wahrnehmungsprozesses sind zwar kom­ plex – das Ergebnis allerdings ist eine Vereinfachung, eine Loslösung von der diffusen Wirkmächtigkeit der Vergangenheit. Sinneswahr­ nehmung als eine auf den aktuellen Moment ausgerichtete Erfahrung abstrahiert und differenziert den omnipräsenten, aber vagen Ton des Empfindens, der die Wahrnehmung kausaler Wirksamkeit prägt, und betont die verschiedenen Typen von Sinnesgegenständen in der Umwelt: Gegenstände der Berührung, des Sehens, des Riechens, des »Die Sinneseindrücke, die aus voraufgegangenen Aktivitäten des Organismus resultieren, werden als Eigenschaften auf bestimmte Regionen der gleichzeitigen Welt projiziert« (AI 430). 277 Vgl. SY 73/74. 276

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Hörens und des Schmeckens. Die Sinne nehmen eine Selektion der massigen Umgebung vor; in der Sinneswahrnehmung fokussieren wir uns auf jene Informationen aus bestimmten räumlichen Teilen unserer Umwelt, die wir aus den dort relevanten verwirklichten zeitlosen Gegenständen erlangen können. »Diese Formen, qualitativ und raum-zeitlich, beherrschen diese Erfahrung« (MT 111) der prä­ sentativen Unmittelbarkeit und liefern uns direkte Informationen über einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit bezüglich seiner Formbestimmungen. Am stärksten relevant für den Menschen sind dabei visuelle Erfahrungen, die Alltagserfahrung wie auch die philo­ sophische Epistemologie des 19. Jahrhunderts konzentrieren sich vor allem auf den Sehsinn. Man kann bei Sinnesgegenständen angelehnt an den allgemei­ nen Sprachgebrauch durchaus von Qualitäten der aktualen Dinge, die wir wahrnehmen, sprechen278 – allerdings sollte man im Hinterkopf behalten, dass es sich hierbei anders als bei Locke und seinen Nach­ folgern nicht um sekundäre Qualitäten als Konstrukte des Geistes handelt. Als die in bestimmten Prozessen verwirklichten ewigen Ideen sind Whiteheads Sinnesgegenstände mehr als konstruierte Attribute oder Qualitäten von Substanzen, sie sind verwirklichte Formbestimmungen aus Bestandteilen der Umgebung, von der wir eine Selektion aus ihrem Querschnitt in uns, in der Verarbeitung in unseren Sinnesorganen, wahrnehmen: »Diese Qualitäten wie Farben, Geräusche, körperliche Empfindungen, Geschmacksrichtungen und Gerüche […] sind die relationalen zeitlosen Gegenstände, aufgrund derer die gleichzeitigen wirklichen Einzelwesen Elemente in unserer Beschaffenheit sind« (PR 130). Auch wenn auf einer weiteren Verarbeitungsstufe der Umgebung durch den Menschen mit der »begrifflichen Analyse« der geistige Pol und der menschliche Verstand ins Spiel kommen – die Sinne fungieren bei Whitehead nicht (ausschließlich) als Übermittler von Eindrücken an den menschlichen Geist, sondern sie stehen selbst als Teil des gesamten menschlichen Organismus in unmittelbarer Wechselbeziehung mit der wahrgenommenen Region, »die in der und der Richtung ›gerade vor uns liegt‹« (AI 385). Genau in der Weise, Vgl. SY 81: Die Sinneserscheinung »wird bewirkt durch die Vermittlung von Qualitäten, z. B. Farben, Geräusche, Geschmäcker usw., die mit demselben Recht entweder als unsere Sinnesempfindungen oder als die Qualitäten der aktualen Dinge, die wir wahrnehmen, beschrieben werden können.« 278

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in der Umwelt und Sinne interagieren, nehmen wir diese in der prä­ sentativen Unmittelbarkeit279 auch wahr – oder präziser formuliert: Es laufen die Vorgänge ab, die als Bezug des Subjekts mit seinen Sinnesorganen auf seine direkte Umwelt interpretiert werden. Es sei daran erinnert: Wahrnehmungsprozesse sind subjektive Prozesse der Weltaneignung zum Zwecke der Selbst- und Weltwerdung. Wir selbst entstehen aus Wahrnehmungsprozessen – und Sinneswahrnehmung ist nur eine abstraktere Variante davon, aber auch sie läuft in uns, in unseren Organen und unserem Gehirn ab und konstituiert sich unter Einbezug von Daten, die aus dem Raum direkt vor uns kommen. Wir sind also kein fixes Subjekt, das passiv von außen kommende Sinnes­ eindrücke rezipiert – sondern wir generieren uns und die Umwelt als neue Prozesse. Am Beispiel des Sehsinns und der Bestimmung der Eigenschaft »Geradheit« pointiert Whitehead die Anforderung an sein Konzept: Das Erfassen des Stücks einer geraden Linie innerhalb des Gehirns sollte mit Notwendigkeit ihre Verlängerung über die Grenzen des Körpers hinaus determinieren, und zwar ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der Vorgänge in der Außenwelt. Wenn es uns gelingt, das im einzelnen aufzuweisen, haben wir die Möglichkeit von ›Trans­ mutationen‹, die eine ›Projektion‹ von Sinnesqualitäten involvieren, sichergestellt (AI 386).

Das Kriterium, das mentale Erfassen von Eigenschaften möge »ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der Außenwelt« erfolgen, ist dabei nicht mit der Annahme des klassischen Subjektivismus zu verwech­ seln, dass die Dinge der Welt subjektive Produkte des menschlichen Geistes sind und ihnen damit kein Bezug zur wirklichen Außenwelt nachweisbar ist (und daher zwischen Außenwelt und menschlichem Geist ein unüberbrückbarer Graben klafft). Vielmehr ist im Gegen­ teil damit gemeint, dass die Erfahrungsprozesse des menschlichen Gehirns und der Sinne über dessen körperliche Grenzen hinausrei­ chen und daher ohne Annahme einer separaten Außenwelt gleich­

279 »Presentational immediacy« wird übrigens in SY mit »präsentative Unmittelbar­ keit« und in PR mit »vergegenwärtigende Unmittelbarkeit« übersetzt. Beide Versio­ nen betonen je einen unterschiedlichen Aspekt dieses Begriffs: Erstere Übersetzung weckt die Assoziation der Sinnespräsentation, letztere Übersetzung betont die Bedeu­ tung der Gegenwärtigkeit dieses Wahrnehmungsmodus im Kontrast zur Historizität der Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit.

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zeitig die Verbindung und Unterscheidung von ›uns hier‹ und ›den Eigenschaften der Welt da‹ möglich ist. Zwar rühren die Sinneserfahrungen von der Realisierung »ewige Ideen« genannter Eigenschaften im wahrgenommenen Bereich her, dennoch werden sie als im konkreten Einzelfall realisierte Partiku­ larien und nicht als Universalien erlebt; dies verhält sich bei der menschlichen Erfahrung im Mesokosmos genauso wie bei der Erfah­ rung kleinster ontologischer Einheiten im Mikrokosmos. Wir neh­ men im Alltag keine Abstrakta wie räumliche Ausdehnung oder Farbe an sich wahr, sondern immer nur Eindrücke aus ganz konkre­ ten Situationen, wie die konkrete Farbe der konkreten Wand. Wir sehen also zum Beispiel nicht zuerst Gräue und projizieren dieses Sinnesdatum dann auf die Wand, die sich auch in diesem Wahr­ nehmungsraum befindet – sondern wir treten stets als Wir-in-die­ sem-Moment mit dem Genau-diesem-Grau-da-in-diesem-Moment oder dem Grau-dieser-Wand-in-diesem-Moment in Beziehung.280 Wohlgemerkt: Die Wand ist hierbei ontologisch betrachtet nicht das Ding-da, sondern eine Momentaufnahme gleichzeitig auftretender Muster von Prozesseinheiten mit einer bestimmten, wesentlichen räumlichen Beziehung zum wahrnehmenden Organismus und einer kausal bewirkten Entstehungsgeschichte. Aufgrund des Abstraktionslevels mangelt es dieser Wahrneh­ mungsweise im Gegensatz zu jener der kausalen Wirksamkeit an Intimität, Intensität und Vagheit281 – oder andersherum formuliert: Mit der Sinneswahrnehmung wird Vagheit ergänzt durch Präzision, Gesamtheit durch Auswahl, Historie durch Gegenwart und Emotio­ nalität durch Neutralität.282 Wieso aber impliziert die direkte Wahr­ nehmung der kausal verbundenen Umwelt eine Vagheit, der die Sinneswahrnehmung mit Präzision begegnet? Whitehead betont, dass der Erlebenssinn der direkten kausalen Wahrnehmung »glei­ chermaßen vielschichtig, vage und bedingend« (MT 110) ist. Diese Formulierung wirkt aufs erste Lesen kontraintuitiv, denn schließlich könnte man annehmen, dass die ursprünglichste Wahrnehmung 280 Vgl. SY 75: »Die bloße Farbe und die bloße räumliche Perspektive sind sehr abstrakte Entitäten, denn diese werden erst durch ein Absehen von der konkre­ ten Beziehung der Wand-in-jenem-Moment und dem Wahrnehmenden-in-jenemMoment gewonnen.« 281 Vgl. MT 111. 282 Vgl. SY 82: »Wissen, das durch die reine präsentative Unmittelbarkeit geliefert wird, [ist] lebhaft, präzise und uninteressant.«

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jene ist, die einem das klarste Bild der Umwelt ermöglicht. Nun ist aber die Welt in ihrer Grundstruktur gar nicht in solch klaren Grenzen umrissen, wie wir sie als Menschen brauchen, um mit der Alltagswelt umzugehen. Die Wirklichkeit stellt sich dar als ineinander verwobenes Netz emotionaler Tönungen, die von einem Ereignis zu einem folgenden mit unterschiedlicher Deutlichkeit und Intensität weitergegeben werden: Die (unbewusste) direkte Wahrnehmung von [Ereignissen] A, B und C [ist] lediglich deren kausale Wirksamkeit als Elemente in der Beschaf­ fenheit [des Ereignisses] M[]. Solche direkte Wahrnehmung wird immer vage sein; wenn nämlich A, B und C dieselben Berichte mit geringen Intensitätsschwankungen abgeben, wird die Abweichung von A, B und C untereinander irrelevant sein. Was dann verbleiben kann, ist ein Sinn für die kausale Wirksamkeit wirklicher Erscheinungen, deren exakte Beziehungen in der äußeren Welt verborgen sind (PR 223).

Wir erinnern uns zudem: Jede Prozesseinheit steht in vielfältigen Beziehungen zum gesamten Universum. Der Umstand, dass ein solches Beziehungsgeflecht kaum eindeutige, klare und präzise Ein­ drücke hinterlässt, mag auch intuitiv nachvollziehbar sein. Da wir auf mesokosmischer Ebene nicht in der Lage sind, diese gesamte mikrokosmische Diffusität der Welt zu erfassen, brauchen wir die Sinne und den Verstand, um durch einigermaßen klar defi­ nierte Grenzen die ursprüngliche Vielfältigkeit so weit zu reduzieren, dass wir im Alltag damit umgehen können. Die Sinneswahrnehmung vereinfacht die Flut an Erfahrungen, die uns und unsere Umwelt auf metaphysischer Ebene bestimmen, indem sie aus den vielfältigen Verflechtungen und historischen Wegen der einzelnen Prozesseinhei­ ten einzelne prägnante Muster als Momentaufnahmen herausfiltert. Durch diese Abstraktion wird zudem der Einfluss der direkten emo­ tionalen Wirkungen auf den Wahrnehmungsprozess relativiert, denn die Sinneswahrnehmung widmet sich den Mustern gleichzeitiger Ereignisse, die ja kausal und damit auch emotional unabhängig voneinander sind. Sinneswahrnehmung kann man daher verstehen als »eine prägnante Vergegenwärtigung von Dingen, die zu einer Abstraktion von aktuellen Ereignissen mit ihrer emotionalen Last in der Lage sind« (MT 111/112). Dieser spezielle Funktionsmodus präsentiert uns die Wahrnehmungsgegenstände also »als wesentlich hier, jetzt, unmittelbar gegeben und diskret« (AI 333), aber eben auch als neutral, unemotional – und bedeutungslos in dem Sinne, dass die Verbindung zur kausalen Basis, der es »um etwas geht«, abgeschnitten

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ist. Wenn Weber die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit zutreffend wiefolgt charakterisert: Its paradigm is sight and the coldness of its objectification: to locate is the act of sight itself. The intrinsic natural processuality is here obliterated; the World becomes stiff and lifeless, a mosaic of qualities spread out in front of an acosmic subject (Weber 2016:359),

dann ist das gar nicht so negativ, wie es vielleicht im ersten Moment klingen mag, denn wenn wir der Welt durch Formen von Abge­ grenztheit und Objektivierung der diffusen Prozesse mit einer gewis­ sen Gleichgültigkeit begegnen, ermöglicht uns das auch einen kla­ ren Kopf. Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit wird von Whitehead auch als oberflächlich bezeichnet. Diese Beschreibung ist nicht abwertend gemeint, sondern bezieht sich auf die Struktur der Welt. Demnach ist dieser Wahrnehmungsmodus für die Höherentwicklung von Organismen von Bedeutung, aber er entfernt sich eben von der metaphysischen Basis. In diesem Sinne ist er nicht in der Tiefe, sondern an der Oberfläche der Wirklichkeit zu finden. Ontologisch primär bei der Entstehung des Universums ist dieser Modus nicht – aber entscheidend für die Entwicklung des Menschen und der Zivilisation. Nur in Verbindung mit der Sinnes­ wahrnehmung können die Ereignisse der Wirklichkeit so erfahren werden, dass daraus unsere Alltagswelt entsteht: im Modus der symbolischen Referenz. Wir bedienen uns der Wahrnehmung in der Weise der präsentativen Unmittelbarkeit und darauf aufbauend in der Form symbolischer Referenz, um die Welt für uns einfacher zu strukturieren – und sie mittels Symbolisierungen in einer uns ganz eigenen Weise durch Wissenschaft, Kultur und Kunst reicher zu gestalten. Fassen wir zusammen: In der Sinneswahrnehmung geht die Allgemeinheit der kausalen Wirksamkeit verloren, dafür gewinnt die Besonderheit ausgewählter gegenwärtiger Wirklichkeitsausschnitte an Bedeutung. Durch die Fokussierung auf die Informationen der in einer bestimmten Region jeweils verwirklichten zeitlosen Gegen­ stände erfolgt Sinneswahrnehmung als eine gesteigerte Betonung der Selektivität und als Abstraktion von der massigen Erfahrung einer allumfassenden Kausalität. Die Welt wird nicht mehr als diffu­ ses Beziehungsgeflecht wahrgenommen, sondern nach bestimmten Mustern sortiert, indem einige Informationen über die Welt in den

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Vordergrund gerückt und andere als unwesentlich vernachlässigt wer­ den. Durch diesen Vorgang wird die Bedeutsamkeit einzelner Muster gesteigert. Die Herausbildung von Relevanz inmitten der Unabhän­ gigkeit gleichzeitiger Prozesse ist das besondere Charakteristikum dieses Wahrnehmungsmodus. Der Erfahrungstyp der präsentativen Unmittelbarkeit zeigt also, »wie gleichzeitige Ereignisse von gegen­ seitiger Relevanz sein können und dennoch eine gegenseitige Unab­ hängigkeit bewahren« (SY 75).

4.5.4 Wir synthetisieren: Wahrnehmungsmodus der symbolischen Referenz Wir sehen etwas mit einer bestimmten räumlichen Ausdehnung, Farbigkeit und Konsistenz – und wir setzen uns müde darauf, wenn wir es als Stuhl identifizieren. Wir freuen uns, wenn wir es als lange nicht gesehene Freundin erkennen. Wir beißen herzhaft hinein, wenn wir es als Apfel in unserer Hand ausmachen, den wir essen wollen, weil wir hungrig sind. All dies tun wir, indem wir der Welt im Modus der symbolischen Referenz begegnen: »Das Ergebnis der symbolischen Referenz ist, was die aktuale Welt für uns ist: dasjenige Gegebene in unserer Erfahrung, das Gefühle, Emotionen, Befriedigungen und Aktionen produziert« (SY 78). Alles bisher Erläu­ terte bildet eine essenzielle Grundlage für das Verständnis unseres Zugangs zur Alltagswelt, erst mit der Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz aber sind wir dort auch wirklich angekommen. Die Wahrnehmung von symbolischer Referenz beruht auf den kom­ plexesten Vorgängen – ihr Ergebnis aber ist häufig das für uns im Alltagsleben klarste. Daher fällt der symbolischen Referenz im Alltag menschlichen Handelns ein besonderes Gewicht zu: »Wenn es um die menschliche Erfahrung geht, bedeutet ›Wahrnehmung‹ fast immer ›Wahrnehmung in der gemischten Weise des symbolischen Bezugs‹« (PR 315). Reine Wahrnehmung von kausaler Wirksamkeit verbin­ det den Menschen mit der Basis der Wirklichkeit, erzeugt direktes körperliches Erleben, Erinnerung, ein Gefühl für die Bedeutsamkeit der Vergangenheit und birgt einen Reichtum an Emotionalität – ermöglicht aber keinerlei Differenzierung oder besondere Betonung einzelner Bereiche. Im reinen Modus der präsentativen Unmittelbar­ keit (also mit der reinen Sinneswahrnehmung im whiteheadschen

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Sinne) nehmen wir sortierte gleichzeitig ablaufende Prozesse der Umwelt durch den Fokus auf ihre Formbestimmungen als Sinnesein­ drücke wie Lautstärken, Farben, Ausdehnung oder Festigkeit wahr – wissen aber nicht, was uns diese bedeuten oder was wir mit ihnen anfangen sollen. Diese beiden Wahrnehmungsmodi, die in ihrer Rein­ form theoretisch völlig voneinander trennbar sind, treten nun in der alltäglichen menschlichen Wahrnehmungspraxis in den allermeisten Fällen miteinander verbunden auf. Den Prozess der Verbindung bei­ der Wahrnehmungsmodi, »die synthetische Aktivität, durch die die zwei Modi in eine Wahrnehmung verschmolzen werden« (SY 77), bezeichnet Whitehead als »Herstellung symbolischer Referenz«.283 An der Produktion von reinen Wahrnehmungserfahrungen ist der Gesamtorganismus Mensch beteiligt, darauf aufbauende symbolische Referenz erfolgt dann in einem Gebiet mit ausgeprägter Dominanz psychischer Prozesse: im (menschlichen) Geist. Explizit hat White­ head dieses »Übergangphänomen [...] für die Interpretation der Leistungen höherentwickelter Organismen veranschlagt« (Lachmann 2000a:210) und beim Menschen als Arbeitsweise des Geistes defi­ niert.284 Daher bedeutet es eine Überstrapazierung der Begriffe der symbolischen Referenz und des Symbols, wollte man diese auch als metaphysische Grundbegriffe zur Beschreibung von Prozessen auf

Formal ähnlich dem Begriff »symbolische Referenz« etabliert übrigens Cassirer den Begriff »symbolische Prägnanz«, der wie bei Whitehead als relationaler Begriff verstanden werden muss, der Sinnliches und Nicht-Sinnliches miteinander verbindet. Cassirer versteht darunter den Prozess und die Art, »in der ein Wahrnehmungserleb­ nis als ›sinnliches Erlebnis‹ zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich befasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt« (Cassirer 1964, PSF III, 235). Dieser »nicht-anschauliche Sinn« ist bei Cassirer allerdings als reines Produkt des menschlichen Umgangs mit der Welt zu verstehen – bei Whitehead hingegen ist er als ›Bedeutung‹ stets in irgendeiner, wenn häufig auch stark abgeleiteten Weise verbunden mit der Wirklichkeit außerhalb des Menschen. 284 Vgl. SY 67: »Der menschliche Geist arbeitet symbolisch, wenn einige Kompo­ nenten seiner Erfahrung Bewusstsein, Annahmen, Emotionen und Verwendungswei­ sen bezüglich anderer Komponenten seiner Erfahrung hervorrufen.« Dieses Zitat impliziert natürlich nicht, dass ausschließlich der menschliche Geist symbolisch arbeitet. Da für diese Arbeitsweise allerdings Wahrnehmungserfahrungen in der – den höchstentwickelten Organismen vorbehaltenen – Weise der präsentativen Unmittelbarkeit erfolgen müssen, ist zu schließen, dass höchstens noch der tierische Geist symbolisierend funktionieren kann. 283

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ontologisch primärer Ebene plausibel verwenden, wie es zum Beispiel Hampe (1990:259) versucht.285 In der symbolischen Referenz wird die Gegenwärtigkeit von Sinneswahrnehmungen mit der Historizität kausaler Wirksamkeit vereint. Objektivierter Inhalt dieses Vereinigungsvorgangs ist die Schnittmenge jener Ereignisse, die in beiden Modi auf jeweils modusspezifische Weise erschlossen und dadurch besonders betont wird – und die ihre ganz eigenen Erwartungen, Gefühle, Bedeut­ samkeiten und Handlungsaufforderungen mit in die Vollendung des Wahrnehmungsprozesses einbringt.286 Die Erzeugung solcher Schnittmengen kulminiert in der Wahrnehmung von Geschichten, Funktionen, Handlungsaufforderungen, die wir mit Symbolisierun­ gen wie Tischen, Tassen, Menschen – und auf einer noch abstrakte­ ren Ebene auch mit Kunstwerken oder Metaphern verbinden. Die Wahrnehmung in der Weise der symbolischen Referenz führt zur Bewertung der wahrgenommenen Gestalt als etwas für uns, zum Beispiel als Apfel oder Freundin. Wir bewerten sie in ihrer Relevanz für unser Alltagsleben und tätigen entsprechende Handlungen: bei­ ßen hinein oder geben eine Umarmung.287 Auch die farbige Gestalt an sich bereits wird nicht neutral aufgenommen, sondern mit einer emotionalen Tönung: »Es gehört zum Wesen der Wahrnehmung, dass es ihr ›um etwas geht‹« (AI 333).288 Eine Farbe wirkt appetitlich oder gammelig, eine Gestalt linkisch oder elegant. In dem Moment, in dem wir nicht nur ein partikulares Grau oder eine partikulare Fläche, sondern eine graue Wand mit einer Lebensgeschichte sehen, befinden wir uns in der Erfahrung symbolischer Referenz – genauso wie in dem Moment, in dem wir nicht nur einen Schmerz fühlen, sondern diesen auch der Kollision unseres Körpers mit der Wand zuschreiben. Wenn wir uns nicht auf eine Gesellschaft von actual entities setzen, die bestimmte Muster von Generation zu Generation weitergibt und von 285 Auch Lachmann warnt (nicht bezogen auf Hampe, sondern allgemein) vor der »Gefahr, dass die Begriffe der symbolischen Referenz und der Bedeutung zu metaphy­ sischen – die Natur allen Seins schlechthin charakterisierenden – Grundbegriffen erweitert werden« (Lachmann 2000a:210). 286 Vgl. SY 77/78. Zum Zusammenhang von symboltheoretischer »Bedeutung« und metaphysischer »Bedeutsamkeit« siehe Kapitel 5.2.3.2 dieser Arbeit. 287 Hierzu Lachmann (2000a:199): »Je nach dem Handlungszusammenhang, in dem wir uns befinden, gewinnt die farbige Gestalt eine unterschiedliche praktische Bedeutung, durch die unser Wahrnehmungsbewusstsein mitcharakterisiert ist.« 288 Vgl. AI 387/388.

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

der uns unsere Sinnesorgane Informationen übermitteln, die wir als Formen und Farben wahrnehmen, sondern in einen grünen Sessel mit klar umrissener Sitzfläche, in dem wir gemütlich entspannen können und der uns zudem vielleicht an die Großmutter erinnert, von der wir ihn geerbt haben – dann nehmen wir die Welt auf die Weise der symbolischen Referenz wahr. Die von uns im Symbolisierungsprozess gespürten Emotionen sind – soweit sie nicht erst in einer späten Phase der Wertung mit Blick auf die subjektive Form entstehen – in der Wirklichkeit, die der Wahrnehmung zugrunde liegt, tatsächlich von Anfang an enthalten und werden durch symbolische Referenz nicht erzeugt, sondern lediglich kanalisiert und transferiert. Dies illustriert White­ head in SY einerseits am Beispiel der ultravioletten Strahlung von Sonnenlicht, die nicht zu einem Farbeindruck führt, unseren Körper aber dennoch kausal affiziert, sowie andererseits mit dem Hinweis auf Töne knapp unter- oder oberhalb Hörschwelle, »die eine emotionale Spur zum Volumen der hörbaren Klänge« (SY 143) hinzufügen. Als eine artifiziellere Variante symbolischer Referenz entsteht darüber hinaus unser Verständnis von Symbolen wie der Friedenstaube, der Nationalhymne oder dem Handschlag. Diese erweisen sich in der whiteheadschen Symbolkonzeption als noch stärker abstrakter Spe­ zialfall einer Verkettung von Symbolisierungen. In AI (438) definiert Whitehead übrigens unter dem Stichwort »symbolische Wahrheit« ebenfalls die symbolische Referenz – mit anderen Termini (die aus dem Schwerpunkt des Werkes resultieren mögen, der auf einer Gesellschaftstheorie liegt), aber mit inhaltlichen und strukturellen Entsprechungen: »Man kann sagen, dass sich zwei Verhaltensmuster dann und nur dann wechselseitig interpretieren, wenn es einen beiden gemeinsamen Erlebensfaktor gibt, der bei jeder Aktivierung des einen wie des anderen Verhaltensmusters realisiert wird.« Verstärkt wird die Parallele dadurch, dass »Verhaltensmuster« als Synonym für »Modus des Erlebens« verwendet wird und dass mit dem Stammestanz oder höfischen Zeremoniellen klassische Symbo­ lisierungen, wie sie auch in SY angeführt werden, als Beispiele für Verhaltensmuster (wir können ergänzen: im Modus der symbolischen Referenz) genannt werden. Meist setzen wir uns nicht müde auf den Apfel oder beißen hungrig in die Freundin – manchmal aber grüßen wir vielleicht erfreut einen uns entgegenkommenden Menschen, um einen Moment spä­ ter peinlich berührt festzustellen, dass wir aufgrund irgendeiner

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Assoziation eine Fremde mit unserer Freundin verwechselt haben. Mittels (fast automatisch ablaufender) Wahrnehmung im Modus symbolischer Referenz ermöglichen wir uns also einen in der Alltags­ praxis meist recht tauglichen Umgang mit der organistischen Welt, sind dabei vor Irrtümern aber nicht gefeit. Die Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz ist aufgrund ihrer Genese aus einer synthetischen Aktivität keine reine und damit irrtumsfreie, sondern eine abgeleitete Form der Wahrnehmung, die vom Indivi­ duum relativ frei gestaltet werden kann – und gerade deshalb nicht unfehlbar ist. Eine fleischfressende Pflanze schnappt zu, wenn etwas ihre Tentakel berührt, das ist die ganze Geschichte. Ein Hund schnappt auch zu, wenn ihm ein saftiges Stück Fleisch vor die Nase gehalten wird – er aber sieht mit seinen Augen eine bestimmte Form, Farbe und Konsistenz, er erschnuppert vor allem mit seiner Nase einen vielschichtigen Duft und er spürt den Hunger in seinem Magen. Dem Hund aus Äsops Fabel allerdings, der sein Fleisch fallen ließ, um nach dessen Spiegelbild im Wasser zu schnappen, unterlief ein Fehler: Er fokussierte sich in seiner Gier zu sehr auf die Sinneswahr­ nehmungen des Auges und nahm die Existenz eines weiteren Stücks Fleisch an, obwohl dem Spiegelbild im Wasser Duft und Konsistenz desselben fehlten. Durch seine Abgeleitetheit birgt das Synthetisieren der Erfahrungen aus den zwei reinen Wahrnehmungsmodi also die Möglichkeit des Irrtums, denn »Wahrheit und Irrtum gibt es in der Welt aufgrund von Synthesen« (SY 80). Die Möglichkeit des Irrtums müssen Menschen in Kauf nehmen, denn obwohl Symbolisierungen fehlbar sind, sind diese ein wesentliches Charakteristikum von hoch entwickelten Organismen: »Symbolik ist den höheren Formen des Lebens wesentlich; und die Irrtümer der Symbolik lassen sich nie ganz vermeiden« (PR 342). Wie entsteht symbolische Referenz genau betrachtet? Notwen­ dig zur Herstellung von symbolischer Referenz ist eine gemeinsame Grundlage, auf der die Verbindungen zwischen dem Wahrnehmenden und der wahrgenommenen Umgebung und zwischen den beiden reinen Wahrnehmungsweisen entstehen. Es ist erforderlich, »dass es Bestandteile in der Erfahrung geben muss, die sich in jeder der reinen Wahrnehmungsweisen direkt miteinander identifizieren lassen« (PR 314). So ist die Wirklichkeit für den Menschen auch innerhalb von Kultur und Zivilisation – zumindest im Hintergrund – immer präsent. Die Tatsache,

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dass ›vergegenwärtigende Unmittelbarkeit‹ mit demselben Datum zu tun hat wie ›kausale Wirksamkeit‹, liefert den elementaren Grund, aus dem es eine gemeinsame ›Grundlage‹ für den ›symbolischen Bezug‹ gibt. Die beiden Weisen bringen dasselbe Datum mit verschiedenen Schwerpunkten zum Ausdruck (PR 323).289

Die Wahrnehmung in der Weise der kausalen Wirksamkeit legt den Schwerpunkt auf die emotionale Historie der wahrgenomme­ nen Umgebung, die Wahrnehmung in der Weise der präsentativen Unmittelbarkeit hingegen betont die in gleichzeitigen Mustern ver­ wirklichten Ideen – symbolische Referenzen zwischen Wahrnehmun­ gen aus diesen beiden Modi sind nun nur möglich, wenn es eine Schnittmenge gemeinsamer Strukturelemente gibt, über die eine Verbindung miteinander hergestellt werden kann: »Ein Paar solcher Wahrnehmungen [muss] Strukturelemente gemeinsam haben, [...] durch die sie für die Aktion der symbolischen Referenz bestimmt werden« (SY 109). Beide müssen sich also, damit symbolische Refe­ renz hergestellt werden kann, auf dieselbe Umgebung beziehen und eine gemeinsame Grundlage aufweisen, über die eine Korrelation zwischen ihnen hergestellt werden kann.290 Für die gelungene Herstellung von symbolischem Bezug durch den wahrnehmenden Menschen sind dabei zwei Faktoren als gemein­ same Grundlage der beiden reinen Wahrnehmungsweisen relevant: der in beiden Wahrnehmungsweisen vergegenwärtigte geometrische Ort und die Identität eines in beide Wahrnehmungsweisen eintreten­ den zeitlosen Gegenstandes. Bei korrekter symbolischer Referenz ist eine gemeinsame Grundlage der beiden reinen Wahrnehmungs­ weisen also dadurch gegeben, dass sie sich – mit unterschiedlichem Schwerpunkt – auf dieselben kausalen Daten aus demselben verge­

289 Vgl. PR 337: »Symbolik setzt voraus, dass es zwei Arten von Wahrnehmungsge­ genständen gibt; und dass ein Wahrnehmungsgegenstand der einen Art eine gemein­ same ›Grundlage‹ mit einem Wahrnehmungsgegenstand der anderen hat, so dass eine Korrelation zwischen dem Paar von Wahrnehmungsgegenständen hergestellt wird.« 290 Wiehl formuliert diese Bedingung folgendermaßen: Der Aktion des symboli­ schen Bezugs der einen Wahrnehmungsweise auf die andere liegt »notwendig eine vorsymbolische, einheitliche Doppelfunktion zugrunde. Eine solche vorsymbolische, einheitliche Doppelfunktion ist die Bedingung dafür, dass sich überhaupt unterschied­ liche symbolische Funktionen entwickeln können. Die Doppelfunktion [...] charakte­ risiert die unmittelbare Gegebenheitsweise solcher Daten. Das bedeutet, dass ein solches Datum in ein Erlebnis gleichermaßen als Inhalt und als Form eingeht« (Wiehl im Vorwort zu AI:44).

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genwärtigten Ort und auf dieselben in diesem Ort verwirklichten Ideen beziehen.291 Das wahrnehmende Subjekt, das diese Beziehung überhaupt erst als Wahrnehmungsprozess in seiner eigenen Entwick­ lung erzeugt, ist dabei aktiver Teil des Wahrnehmungsgeschehens. Es kommt zu einer Wahrnehmung derjenigen früheren wirklichen Ereig­ nisse, die nicht nur für die relevanten Ereignisse in dem vergegenwär­ tigten Ort, sondern auch für den Wahrnehmenden kausal wirksam sind. »Der Wahrnehmende erfasst daher unter der Einschränkung sei­ ner eigenen Perspektive die kausalen Einflüsse, denen die wichtigen Gebiete des vergegenwärtigten Ortes ausgesetzt sind« (PR 316). Nun muss die gemeinsame Grundlage der Daten noch als solche empfunden werden. Die vereinigende Instanz, die – selbst auch aus Symbolisierungsprozessen herausgebildet – symbolische Refe­ renz herstellt, ist dabei der menschliche Körper.292 Der Körper als Ganzes steht in Verbindung mit seiner Umwelt und spürt deren Wirkung, Whitehead betont »die Ansicht, dass die beherrschende Grundlage der Wahrnehmung die Wahrnehmung der verschiedenen körperlichen Organe ist, die ihre Erfahrungen auf dem Wege der Übertragung und der Verstärkung weitergeben« (PR 228). Den kör­ perlichen Regionen der Sinnesorgane fällt dann noch eine besondere Rolle zu: Sie sind die konkret körperlichen, vereinigenden Instanzen bei der Herstellung von symbolischer Referenz. Informationen der kausalen Wirksamkeit werden über den gesamten Körper eigentlich als diffus und vage wahrgenommen, die Sinnesorgane aber sind jene besonderen Gebiete im menschlichen Körper, für die auch die kausale Wirksamkeit eine gewisse Präzision annimmt.293 Die Sinnesorgane als Spezialgebiete des Körpers nehmen also gleichzeitig kausale Wirksamkeit und präsentative Unmittelbarkeit wahr, mit letzterer 291 Vgl. PR 336: »Die beiden Weisen werden aufgrund eines blinden symbolischen Bezugs vereinigt, in dessen Rahmen ergänzende Empfindungen, die sich von der intensiven, aber vagen Weise der Wirksamkeit herleiten, direkt auf die deutlichen Gebiete übertragen werden, die in der Weise der Unmittelbarkeit Veranschaulichung finden. Die Integration der beiden Weisen im ergänzenden Empfinden macht das, was vage gewesen wäre, deutlich und was schwach gewesen wäre, intensiv.« 292 Der eigentlich elegantere Begriff im Deutschen wäre in diesem Zusammenhang »Leib« – aus Gründen der Nachvollziehbarkeit folgt diese Arbeit aber der deutschen Whitehead-Übersetzung von »body« als »Körper«. 293 Vgl. PR 317/318: »Der tierische Körper der Wahrnehmenden [ist] ein Gebiet, für das die kausale Wirksamkeit mit ihrer Unterscheidung von Gebieten eine gewisse Genauigkeit annimmt […]. Beispielweise sehen wir mit unseren Augen, schmecken mit unserem Gaumen.«

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

sortieren und konkretisieren sie die Wahrnehmung: Wir spüren den Schmerz in der Hand, wir sehen die Farbe mit den Augen.294 Dabei funktionieren die Sinnesorgane nicht als reine Übermittler von Sinnesdaten, vielmehr entsteht erst in ihrer Interaktion mit der Umwelt das, was wahrgenommen wird: Wenn wir eine gleichzeitige ausgedehnte Gestalt wahrnehmen, die wir als ›Stuhl‹ bezeichnen, sind die einbezogenen Sinnesdaten nicht zwin­ gend Elemente in der ›realen inneren Beschaffenheit‹ dieses Stuhl-Bil­ des; sie sind Elemente – in gewisser Weise des Empfindens – in der ›realen inneren Beschaffenheit‹ derjenigen vorangehenden Organe des menschlichen Körpers, mit denen wir den ›Stuhl‹ wahrnehmen (PR 135).

Zwar entsteht die mesokosmische Welt erst aus diesen Wahrneh­ mungsprozessen, dennoch teilt dieses Konzept weder die sensualis­ tische Annahme eine reinen Übermittlerfunktion der Sinnesorgane noch die Annahme der Welt als Geisteskonstrukt, denn alles ergibt sich als Prozess in einer prozessualen Wirklichkeit. In den Sinnesorganen vereinen sich also die Wahrnehmung kausaler Verbindungen, durch die die Historie des wahrgenommenen Gebiets auf den körperlichen Bereich der Sinnesorgane einwirkt, und die Wahrnehmung der Informationen aus dieser Umgebung, wie sie sich uns mit den dort realisierten Ideen in einer bestimmten gegen­ wärtigen Momentaufnahme präsentieren: Idealerweise verstärken sich diese Wahrnehmungserfahrungen im Zuge ihrer körperlichen Synthetisierung gegenseitig derart, dass sie eindeutige Empfindun­ gen, Ideen, Absichten in uns hervorrufen. Daher »muss der mensch­ liche Körper als ein komplexer ›Verstärker‹ aufgefasst werden« (PR 229). Töne werden mit dem ganzen Körper gespürt, in der Ohrre­ gion und auf ihrem Weg ins Gehirn als eine Abfolge von Reizüber­ mittlungen wahrgenommen und gleichzeitig als just erklingende Melodie gehört. »Auf diese Weise ist der tierische Körper die große zentrale Grundlage, die allem symbolischen Bezug unterliegt« (PR 318) und die auch für den in den meisten Symbolisierungen (zumin­ dest der weniger abstrakten Art) manifestierten Handlungsaspekt verantwortlich ist.

294 Vgl. PR 318: »In den Sinnesorganen »grenzt die kausale Wirksamkeit Gebiete ab, die insofern mit sich selbst identifiziert werden, als sie in der anderen Wahrnehmungs­ weise deutlicher zum Ausdruck kommen.«

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

Der Henkel an der Tasse impliziert die körperliche Aktion des Greifens, die Tasse selbst jene des Daraustrinkens, Schluckens, Durst­ löschens. In diesem Punkt erinnert Whiteheads Wahrnehmungs- und Wissenstheorie an die Theorie der Embodied Cognition, in der davon ausgegangen wird, dass der Körper nicht nur als Medium der Daten­ übermittlung fungiert, sondern dass körperliche Prozesse wesentlich zur Konzeptbildung (Symbolisierungsaktivität) beitragen und selbst Bestandteil von Konzepten (Symbolisierungen) sind. Varela, Thomp­ son und Rosch definieren: By using the term embodied we mean to highlight two points: first that cognition depends upon the kinds of experience that come from having a body with various sensorimotor capacities, and second, that these individual sensorimotor capacities are themselves embedded in a more encompassing biological, psychological and cultural context (Varela et al. 1993:172/173).295

Wir erinnern uns an das Kurkonzert im Park: Der gesamte Körper meines Großvaters nimmt die Schwingungen wahr, die vom Orches­ ter ausgehen (vor allem die Bässe können als Vibrieren im ganzen Körper oder als dumpfes Gefühl im Magen gespürt werden), ruft Erinnerungen an frühere Erfahrungen dieser Art wach und reagiert darauf mit Entspannung, Verkrampfung, Freude oder Ärger; sein Ohr als spezialisierte Region seines Körpers nimmt Schallwellen auf, die sein Gehirn in eine distinkte Folge verschiedener Töne übersetzt; sein Geist verarbeitet all diese Informationen, synthetisiert sie im Modus symbolischer Referenz; mein Großvater erkennt die Melodie der »Capri Fischer«, spürt dessen Bedeutsamkeit für die Beziehung meiner Großeltern und schwingt die Arme.296 295 In der Stanford Encyclopedia of Philosophy definieren die Autoren Robert A. Wilson und Lucia Foglia (2011): »Cognition is embodied when it is deeply dependent upon features of the physical body of an agent, that is, when aspects of the agent's body beyond the brain play a significant causal or physically constitutive role in cognitive processing.« https://plato.stanford.edu/archives/fall2011/entries/embodied-cognition/ Zugriff vom 6.1.2022. 296 Für bewusstes Wissen von Gegenständen, die im Modus der symbolischen Referenz wahrgenommen werden, könnte man quasi als einen Anti-Locke statt »Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu« formulieren: ›Nihil est in mente, quod non prius fuerit in corpore‹, wobei mit Körper hier natürlich gerade nicht spezialisierte Körperregionen wie die abstrahierenden Sinnesorgane gemeint sind, sondern der Körper als ganzheitlicher Organismus. Da Vorgänge des menschlichen

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

Das wahrnehmende Subjekt ist nicht nur aktiver Teil des Wahrnehmungsgeschehens, vielmehr birgt sein individuelles Wer­ den durch die Integration der Umwelterfahrungen in die subjektive Dynamik diese Umwelt auch in sich. In AI weist Whitehead auf diesen Zusammenhang ausdrücklich hin: Die Sinnesdaten, die eine bestimmte von uns wahrgenommene Region qualifizieren, werden im Prozess der Wahrnehmung zu einem Faktor in der subjektiven Form unseres Empfindens. Das bedeutet: »Wir erfreuen uns am grünen Frühlingslaub ›auf grüne Weise‹; wir genießen den Sonnenuntergang mit einer Emotion, die durch die Farben und Kontraste des von uns Gesehenen artikuliert wird« (AI 439).297 Diese intensive Verbindung zwischen Wahrnehmendem und Umwelt erleuchtet zum Beispiel unsere Ergriffenheit beim Betrachten der Natur, eines Naturschau­ spiels oder ist der Grund dafür, dass so etwas wie Kunst mit ihrer ganz eigenen Wirkmächtigkeit möglich wird. Es gibt nicht eine abstrakte, sondern eine wirkliche Relation zwischen uns und der Umwelt, in gewisser Weise sind wir das Geschehen und Erleben dieses Sonnenun­ tergangs oder jenes Kunstwerkes. Die Daten aus einem Gebiet, in dem sich eine bestimmte farbige, mit unseren Augen wahrgenommene Gestalt ausdehnt, verschmelzen wir im Prozess des symbolischen Wahrnehmens mit körperlichen und emotionalen Erfahrungen aus dem gleichen Gebiet – so enden wir bei der Wahrnehmung des Sessels, der so gemütlich einladend ein Ruhepäuschen verspricht. Dieses Konzept erlaubt es Whitehead, unsere Wahrnehmung von Gegenständen als den alltäglichsten Symbolismus zu bezeich­ nen: »Der Symbolismus von Sinnes-Präsentationen zu physischen Körpern ist der natürlichste und der am weitesten verbreitete aller symbolischen Modi« (SY 64). Symbolisierungen in Form von Alltags­ gegenständen scheinen enorme Vorteile für die Strukturierung der menschlichen Welt zu haben, denn wir haben diese Aktivität extrem stark internalisiert. Meist läuft der Übergang von der Wahrnehmung einer farbigen Gestalt zur Vorstellung eines Objekts, also die Wahr­ nehmung der Umwelt als eingeteilt in physikalische Gegenstände, Geistes laut Whitehead nicht in jeder Weise sofort auch Bewusstsein im Sinne von Nachdenken einschließen müssen, ist hier statt Lockes intellectus das offenere mens gewählt worden. 297 Vgl. PR 566/567: »Beispielsweise wird Rot mit dem emotionalen Erleben sei­ ner schieren Röte empfunden. Bei diesem ganz einfachen Erfassen haben wir ein ursprüngliches physisches Empfinden, in dem das Subjekt sich selbst als Röte erle­ bend wahrnimmt.«

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so gut wie automatisch ab, was als Hinweis darauf verstanden wer­ den kann, dass diese Art von Symbolisierung für den Menschen eine sehr fundamentale ist. »Dieser symbolische Bezug ist in der menschlichen Erfahrung so gewohnt, dass große Sorgfalt erforderlich ist, um die beiden Wahrnehmungsweisen auseinanderzuhalten« (PR 233), was im Alltag nahezu unmöglich ist. Wir praktizieren diese ganz selbstverständlich und müssten große gedankliche Anstren­ gung unternehmen, wollten wir eben gerade keine symbolische Referenz herstellen.298 Den Zugang zu den ontologisch ursprüngli­ cheren Wahrnehmungsweisen, der uns grundsätzlich auch möglich ist, müssten wir uns erst erarbeiten. Whitehead nennt als Beispiel den Künstler, der sich in vorsymbolischer Wahrnehmungsweise übt und Formen und Farben sieht, wo andere Menschen Wände oder Sessel sehen. Auch medizinische Fälle, die aufgrund der fehlenden Möglich­ keit zur Herstellung symbolischer Referenz als (neuro)pathologische Seltenheiten eingestuft werden, verdeutlichen, dass die Annahme von Normalität in der Wahrnehmung auf der Wahrnehmung im Modus symbolischer Referenz basiert. Als Beispiel mag hier der in den neunziger Jahren durch den Neurologen Oliver Sacks publi­ zierte Fall von Shirl Jennings dienen, der im Alter von zehn Jahren erblindete und mit 51 Jahren durch eine Operation seine Sehkraft wiedererlangte. Nach Abnahme des Augenverbandes war dieser nicht in der Lage, das von ihm nun Gesehene als Alltagsgegenstände zu klassifizieren. Statt des Gesichts seines Chirurgen nahm er – im reinen Modus der präsentativen Unmittelbarkeit – in der Chirurgen­ gesichtsregion lediglich Licht, Bewegung, Farbe wahr und konnte mit diesen Eindrücken keinerlei Bedeutung assoziieren. Kein Wunder, würde Whitehead sagen, schließlich hatte er bisher durch den Sehsinn keinerlei kausal wirksame Erfahrungen gemacht, die er mit diesen nun neu auf ihn einströmenden visuellen Sinneseindrücken zum Gesicht des Chirurgen hätte synthetisieren können. Erst die aus der mit den Augen wahrgenommenen Region erklingende, ihm durch

298 Vgl. SY 64: »Der Übergang von [der Wahrnehmung] einer farbigen Gestalt zur Vorstellung eines Objekts [scheint] sehr natürlich zu sein und wir [...] müssen ein ausgedehntes Training durchlaufen, wenn wir davon Abstand nehmen wollen.«

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

den Hörsinn bereits bekannte Stimme des Chirurgen ließ Shirl die visuellen Sinnesdaten als dessen Gesicht kategorisieren.299 Abgesehen von solchen Einzelfällen nehmen wir die Welt um uns herum ganz selbstverständlich als eingeteilt in mehr oder weni­ ger deutlich umgrenzte Gegenstände und Lebewesen wahr. Dieser Symbolismus von Sinnen-Präsentationen zu physischen Körpern mit einer bestimmten Funktion und Geschichte ist für uns, so Whitehead, unsere natürliche Wahrnehmungsweise. Aber er ist bei weitem nicht der einzige: Sprache, Mathematik oder Kunst basieren auf komple­ xen Formen von Symbolisierungen und die zivilisierte Gesellschaft formiert sich in sozialen Gefügen, die durch eine Vielzahl unterschied­ lichster Symbolisierungen geprägt sind. Unser selbstverständlicher Umgang mit Symbolen lässt sich auch an solch stärker artifizieller Symbolisierung wie zum Beispiel der Sprache verdeutlichen: Wohl nur sehr kleine Kinder oder Meister der Meditation empfinden beim Hören des Wortes »Hund« einfach einen Klang – alle anderen Men­ schen denken wohl spontan eher an das süße Fellknäuel des Nachbarn, an die Töle, die das Blumenbeet verwüstet hat, oder einfach an ein bestimmtes Tier, das zu diesem Wort passt. Diese selbstverständliche Vorherrschaft der symbolischen Referenz in unserem Alltagsleben darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ontologisch gesehen die abstrakteste Wahrnehmungsweise ist. Damit diese Abs­ traktion funktioniert und ein Gegenstand als eine Einheit erfahren wird, ist eine gewisse Ordnung aller miteinander synthetisierten Wahrnehmungselemente aus den beiden reinen Modi einzurichten. Wie das Einrichten dieser Ordnung abläuft, wird in den Kapiteln 5.2.3 sowie 5.4 dieser Arbeit näher erläutert. Es ist sinnvoll, Whiteheads Symbolisierungen mit Blick auf ihren Abstraktionsgrad in unterschiedliche Stufen einzuteilen. Eine Sacks (1993:59): »The bandage was removed, and Virgil’s* eye was finally exposed, without cover, to the world. The moment of truth had finally come. [...] The dramatic moment stayed vacant, grew longer, sagged. [...] [Virgil] seemed to be staring blankly, bewildered, without focussing, at the surgeon, who stood before him, still holding the bandages. Only when the surgeon spoke – saying ›Well?‹ – did a look of recognition cross Virgil’s face. Virgil told me later that in this first moment he had no idea what he was seeing. There was light, there was movement, there was color, all mixed up, all meaningless, a blur. Then out of the blur came a voice that said, ›Well?‹ Then, and only then, he said, did he finally realize that this chaos of light and shadow was a face – and, indeed, the face of his surgeon.« *»Virgil« ist in diesem Artikel das von Sacks gewählte Pseudonym für »Shirl«. 299

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

mögliche Aufteilung unternimmt Whitehead indirekt selbst, indem er Symbolisierungen einmal als wesentliche Elemente seiner Wahrneh­ mungstheorie und einmal als gesellschaftlich-kulturelle Phänomene behandelt300 – die beide auf die gleichen Prinzipien zurückführbar sein sollen, wobei die Binnenstruktur bei kulturellen Symbolisierun­ gen eine komplexere ist als bei Alltagsgegenständen. Viele kulturelle Symbolisierungen bauen auf alltagsgegenständlichen Symbolisierun­ gen auf: Aus einer Taube wird die Friedenstaube, aus einen Stück Stoff die Nationalflagge. Es bleibt im Kapitel fünf dieser Arbeit noch zu klären, welche zusätzlichen Prozesse im Detail ablaufen, um kulturelle Symbolisierungen entstehen zu lassen. Auch stellt sich abschließend die Frage, ob nicht weitere terminologische Differenzie­ rungen sinnvoll sind, um den Besonderheiten kultureller Symbolisie­ rungen gerecht zu werden – auch wenn sich die Sinneswahrnehmung von Alltagsgegenständen einerseits und die Symbolisierungen im Common-Sense-Verständnis andererseits aus den gleichen Grund­ strukturen herausbilden sollen. Klar ist jedenfalls: Je abstrakter die Symbolisierungen sind, desto anspruchsvoller wird es, ihre Verbindungen zur Wirklichkeit bis zu ontologisch grundlegenden Prozessen zurückzuverfolgen. Die Wahr­ nehmung von recht eindeutig erkennbaren natürlichen Alltagsgegen­ ständen wie Bergen, Steinen, Bäumen erweist sich auch deshalb als so praktisch und selbstverständlich, weil sie trotz ihres Abstraktions­ charakters noch eine relativ einfach rekonstruierbare Beziehung zur Wirklichkeit enthält. Eine Stufe abstrakter, da artifizieller sind Sym­ bolisierungen wie Tische, Tassen, Autos – dafür enthalten sie aber relativ eindeutige Handlungsappelle. Bei den kulturellen Symbolisie­ rungen gibt es solche wie den Fehdehandschuh oder die rote Ampel, die in ihrer Struktur recht einfach aufgebaut sind und bei denen die kausalen Verkettungen in der Bedeutungsentstehung noch durch­ schimmern. Schwieriger mit dem Verstand zu durchdringen sind noch abstraktere kulturelle Symbolisierungen zum Beispiel ein Fruchtbar­ keitsritus, eine Nationalhymne, die Sprache oder die Mathematik. Allen Symbolisierungen, egal auf welcher Stufe, soll aber gemein sein: Sie müssen letztendlich auf »Verkettungen der fundamentalen symbolischen Referenz zurückgeführt werden« (SY 67) können – 300 Hierbei geht er allerdings nicht trennscharf vor, denn er thematisiert im Kontext des wahrnehmungstheoretischen Ansatzes auch Sprache als Symbolisierung (vgl. SY 70ff.).

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4.5 Whiteheads alternative Erkenntnistheorie

selbst Werke der Abstrakten Malerei, poetische Metaphern oder gesellschaftliche Rituale wie in westlichen Ländern ein Handschlag. Mit dieser »fundamentalen symbolischen Referenz« ist jene des tatsächlichen Verschmelzens von einfachen Sinnespräsentationen mit entsprechenden kausalen Wirksamkeiten aus einer gemeinsamen Schnittmenge gemeint. Diese Bedingung garantiert so etwas wir eine Angemessenheit, aber auch eine korrespondenztheoretische Wahr­ heit der Symbolisierung. Irgendwann kommt also auch die Frage nach der Korrektheit von Symbolisierungen ins Spiel, nicht zuletzt, weil mit den Symbolisierungen301 von Whitehead auch die Möglichkeit des Irrtums eingeführt wird. In AI differenziert Whitehead unter dem Aspekt möglicher Wahrheitsbeziehungen für den Bereich der Gegenstände von Sinneswahrnehmungen (in der weiten, alltäglichen Definition des Begriffs) drei verschiedene Abstufungen, die eine jeweils geringere direkte Bindung an kausale Wirksamkeiten aufwei­ sen. Auf diese wird im Kapitel 5.3 dieser Arbeit eingegangen. Da es keine mit Notwendigkeit vorbestimmte Weise für Erfah­ rungen von Symbolisierungen gibt, sondern der symbolische Bezug einer der späteren schöpferischen Phasen der Erfahrung angehört, die »durch ihr neues Element der schöpferischen Freiheit ausgezeich­ net« (PR 314) sind, »beruht es auch auf dem Wahrnehmenden, ob es überhaupt irgendeinen symbolischen Bezug gibt« (PR 359). Im Kontrast zu den reinen Wahrnehmungsweisen, die ontologisch basal sind und unmittelbar ablaufen, kann man die Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz als anthropologische Wahr­ nehmungsweise bezeichnen: In bemerkenswerter Ausführung tritt sie als abgeleiteter Wahrnehmungsmodus, der eines besonders aus­ geprägten psychischen Pols bedarf, erst in menschlichen Sphären auf. Es gilt aber: Trotz des hohen Abstraktionsgrades hat das Erle­ ben funktionierender symbolischer Referenz Teil am Erleben der Wirklichkeit, denn es ist zumindest eine minimale Schnittmenge zwischen den beiden reinen Wahrnehmungsweisen notwendig und in dieser Schnittmenge tummeln sich Prozesse, die mit ontologisch primären Prozessen verbunden sind. Und das sind eben auch kausal wirksame Prozesse, muss man betonen – denn diese sieht Whitehead in der Philosophie und auch im Alltag als zu häufig vernachlässigt an. Durch dekorative Momentaufnahmen, die uns die Sinnesorgane präsentieren, vermeintlich in der Welt orientiert, verkennen wir 301

Und zwar zusammen mit den Propositionen.

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4 Symbolisierung als Erkenntnispraxis

häufig den Einfluss subtiler kausaler und emotionaler Wirkungen auf unsere Lebensgestaltung. Wie bereits in seiner Kritik an sensualisti­ schen Wahrnehmungstheorien angemerkt, mahnt Whitehead auch bezüglich einer Gesellschaftstheorie, dass eine Vernachlässigung von Kausalität zu einer Verkennung der wirklich relevanten Prozesse und Dynamiken führt. Whiteheads Herz für die Kausalität eröffnet daher auch einen Interpretationshorizont für die Begriffe Symbol und Bedeutung. Das menschliche Bewusstsein kann mit einer vernunftbestimm­ ten Analyse die Ergebnisse dieses Wahrnehmungsmodus noch wesentlich erhellen, bestärken oder kritisieren. Es gilt mittels unserer Vernunft später auch die Frage zu klären, aus welchen Gründen welche Symbolisierungen überhaupt vollzogen werden und was ein Kriterium für ihre Korrektheit sein kann.

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis: Die Bedeutsamkeit der Welt und die Kunst der Zivilisation

Wir haben aus systematischen Gründen den Gedankenweg durch Whiteheads Philosophie von der metaphysischen Basis aus zu immer komplexeren Phänomenen bis in die menschliche Alltagswelt ver­ folgt und sind nun in der Zivilisation angekommen. Eigentlich aber postuliert Whitehead eine andere Denkrichtung, denn der von ihm favorisierte spekulative Gedankenflug gewinnt seinen Startimpuls aus einzelnen alltäglichen Beobachtungen, die er dann in ein kohären­ tes metaphysisches Schema zu integrieren versucht, das wiederum auf die Phänomene der Welt anwendbar ist. Für das Konzept von Whiteheads Symbolisierungen lässt sich auch ein solcher Gedanken­ flug vermuten. Er beobachtet, dass es im Alltag die Verwendung von Symbolen gibt und dass diese zum Teil eine große Relevanz für das Funktionieren der organisatorischen Strukturen und des mensch­ lichen Miteinanders einer Gesellschaft haben – und konzipiert eine metaphysische Theorie, in der auch Symbolisierungsakte fundiert sind und aus der heraus er kulturelle Symbolisierungen erklären kann. Darüber hinaus auch unsere Wahrnehmungen von Alltagsge­ genständen als Symbolisierungen zu interpretieren, ist für uns erst einmal ungewöhnlich, für Whitehead ist es aber der entscheidende Schritt, über den er eine Verbindung zwischen unserer ontologischen Basis und Symbolverwendungen in unserer kulturellen Sphäre schaf­ fen kann. In diesem Teil der Arbeit sollen nun vor allem die kulturellen Symbolisierungen in ihrer Wirkung und Funktion genauer unter­ sucht werden. Diese Untersuchung führt uns nach einem genaueren Blick auf die menschliche Gesellschaft am Ende unweigerlich weiter ins Universum – und damit auch zurück zu den metaphysischen Grundprinzipien, auf denen nach Whitehead alles fußt. Bezogen auf die Verknüpfung von Metaphysik und Symboltheorie interpretiert Weber die Konzeption von Whiteheads Werk SY derart, dass dieser

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

nach einer ontologischen Verankerung von Symbolen jenseits ihrer gesellschaftlichen Wirkung sucht, um ihre Bedeutsamkeit durch die Zuschreibung einer gewisse Notwendigkeit stärken zu können: »His project is obviously to abstract the essence of symbolism from its loose cultural marrow. The question – is there such a thing as necessary symbols? – is the thread. [...] If symbols are given an ontological role, they become, without discussion, necessary« (Weber 2016: 354, 359). Berve (2015:164) hingegen zieht aus seiner Untersuchung der whiteheadschen Symbolkonzeption das Fazit, dass diese auf ontolo­ gischer Ebene keine wesentliche Rolle spielt. Ob es überzogen ist, Symbolen eine ontologische Rolle zuzusprechen, oder inwiefern deren Konzeption den Bogen zum großen Ganzen rechtfertigt, soll in diesem Kapitel herausgestellt werden.

5.1 Die Ausgangslage: Dimensionen von Symbolisierungen Der schlicht Symbolism lautende Originaltitel von SY lässt erst einmal völlig offen, welchen näheren Spezifizierungen Whitehead diesen Begriff unterzieht. Die Übersetzung Kulturelle Symbolisierung ist daher bereits eine Interpretation, die entscheidet, was unter dem Begriff »Kultur« verstanden wird. Versteht man diesen Begriff in einem ganz weiten Sinne als ›grundsätzlich die menschliche Sphäre betreffend‹, so ist er durchaus passend. Es erscheint jedoch sinnvoll, zu differenzieren zwischen Sym­ bolisierungen als einfachen Gegenständen der alltäglichen Sinnes­ wahrnehmung einerseits und kulturellen Symbolisierungen als Manifestationen des menschlichen Ausdrucksbedürfnisses mit einer gesteigerten Künstlichkeit andererseits.302 Whitehead selbst bezieht sich systematisch nicht ausdrücklich auf die eine oder andere Katego­ rie von Symbolisierungen – vor allem seine Ausführungen in AI zu einer Pluralität von Wahrheitsbeziehungen zwischen Symbolisierun­ Zum Unterschied der Symbolisierung ›Alltagsereignis‹ und der Symbolisierung ›Kunstwerk‹: Dass der Kampf der Capulets und der Montagues, so wie er in einer Inszenierung von Shakespeares »Romeo und Julia« dargestellt wird, etwas anderes, Künstlicheres ist als ein tatsächlicher Kampf verfeindeter Familien, leuchtet uns intuitiv ein. Sherburne nennt als ähnliches Beispiel »a difference between the assassi­ nation scene in Julius Caesar and a street-knifing in Chicago« (Sherburne 1961:111). Die Frage, worin die gesteigerte Künstlichkeit kultureller Symbolisierungen genau besteht, wird auch im Kapitel 5.3 dieser Arbeit behandelt. 302

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5.1 Die Ausgangslage: Dimensionen von Symbolisierungen

gen (»Erscheinungen«) und der Wirklichkeit legen aber den Schluss nahe, dass er im Detail die innere Beschaffenheit der Wahrnehmung und Genese von Alltagsgegenständen durchaus unterscheidet von jener artifiziellerer kultureller Symbolisierungen. Der symbolische Bezug von der Wahrnehmung einer ausgedehnten, farbigen Gestalt hin zum Sehen eines Sessels erfolgt auf eine etwas andere Weise als der symbolische Bezug von der Wahrnehmung derselben ausge­ dehnten, farbigen Gestalt hin zum Sehen von Omis gemütlichem Lesesessel in der Wohnzimmernische. Und damit hieraus eine kultu­ relle Symbolisierung in einem engeren Sinne entsteht, bedarf es noch weiterer assoziativer Verkettungen – zum Beispiel indem der Sessel als besonders plüschenes Exemplar oder integriert in den sprachlichen Ausdruck »Sesselpupser« zum Symbol und zum Teil einer Kritik der Behäbigkeit wird.303 Mögliche Unterschiede zwischen diesen Symbolisierungsarten werden in den Kapiteln 5.2.3 sowie 5.3.2.3 dieser Arbeit thematisiert. Was sind kulturelle Symbolisierungen? Kultur im Sinne von Kul­ tiviertheit ist bei Whitehead als ein weitgefasster Begriff zu verstehen, der auch soziale und politische Aspekte berücksichtigt. Damit ist er in seiner Interpretation größtenteils als Synonym zum Begriff »Zivilisa­ tion« zu verstehen und umfasst alle Belange menschlicher Aktivität, insofern sie sich auf die Gestaltung des Spannungsfeldes von Indi­ viduum und Gemeinschaft beziehen und dabei dem menschlichen Gestaltungsdrang in einer Weise Ausdruck verleihen, die sowohl den Einzelnen als auch das Ganze einer Verfeinerung des Fühlens, Denkens und Handelns zuführen. Diese Verfeinerung betrifft dabei auch das Anerkennen der anderen als Individuen und als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft. Dieses Verständnis von zivilisierter Kultur betont auch Weber in seiner Interpretation von Whiteheads Symboltheorie: »Culture [...] [is] another name for common sense, i.e., for the atmospheric feeling bringing together individual growth and solidarity« (Weber 2016:351). In einer zivilisierten Gesellschaft, sprich in einer Gesellschaft, die eine zivilisierte Kultur entwickelt hat, verbinden sich ihre Mitglieder miteinander durch Gemeinsamkeiten in fundamentalen Ideen und Wie Whitehead den Begriff »Assoziation« dazu verwendet, anzunehmen, dass auch sehr abstrakte Symbolisierungen durch zwar verblasste, aber dennoch tatsächli­ che Zusammenhänge mit der Wirklichkeit bestimmt werden, wird im Kapitel 5.2.3 dieser Arbeit angesprochen.

303

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erkennen [...] sich wechselseitig als Individuen an, die je für sich Emotionen und Leidenschaften, Behagen und Unbehagen, Wahrneh­ mungen, Hoffnungen, Ängste und Absichten haben, und außerdem gewisse intellektuelle Fähigkeiten, die [...] [unter anderem] Urteile über ›wahr oder falsch‹ (AI 88)

ermöglichen. Zivilisiertes kulturelles Handeln geht für Whitehead also über die Orientierung an nackten Tatsachen hinaus und impliziert eine gewisse Werthaltung: »Kultiviertheit ist gedankliche Aktivität, Empfänglichkeit für Schönheit und Gefühle der Menschlichkeit« (AE 39). Eine Vielzahl von Individuen wächst in ihrer Kulturpraxis zu einer Gemeinschaft zusammen, die, so Whitehead in AI, mittels Symbolisierungen der Realisierung der Ideale von Wahrheit, Schön­ heit, Abenteuer und Frieden entgegenstrebt.304 Hall fasst in seiner Rekonstruktion der whiteheadschen Kulturtheorie zivilisierte Kultur folgendermaßen zusammen: Culture is composed of a complex set of aims and interests defining social activity and its products. A civilized culture is one in which the norms of thought and action are conducive to creative endeavor in the various specialized interests, in which there exists a consciousness of the viable relations among these human interests (Hall 1973:232).

Kulturelle Symbolisierungen sind also all jene Symbolisierungen, die in diesem Rahmen entstehen und die Entwicklung von Individuum und Gesellschaft prägen. Innerhalb kultureller Symbolisierungen kann man bei Whitehead zwei große Bereiche unterscheiden, die er selbst aller­ dings nur indirekt unterschiedlich einstuft und nicht ausdrücklich differenziert: Es gibt Symbolisierungen, die eine direkte gesellschaft­ liche Funktion aufweisen, bei denen der Ausdruck der Menschen recht offensichtlich zur Organisation der Gemeinschaft dient, wie Herrschaftssymbole, Höflichkeitskodizes oder Verkehrszeichen. Und es gibt Symbolisierungen mit einer indirekteren gesellschaftlichen Funktion, die den Ausdruck menschlicher Ideen, Sehnsüchte und Ideale oder einfach eine Erfüllung aus sich selbst heraus zum Ziel haben, wie Darstellende und Bildende Kunst (Malerei und Bildhaue­

304 Zu Whiteheads Definition von Zivilisation siehe insbesondere AI 475–477. Zum Zusammenhang des Wahren, Schönen und Guten bei Whitehead siehe auch Johnson 1944.

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5.1 Die Ausgangslage: Dimensionen von Symbolisierungen

rei), Literatur und Musik.305 Eine Einteilung in die beiden Bereiche ist als Arbeitshypothese für diese Untersuchung gedacht. Sie nimmt weiche Grenzen an, unterschiedliche Schwerpunkte sind möglich: So ist eine musikalische Komposition eher als Kunstwerk oder eher als gesellschaftliches Instrument aufzufassen, je nachdem, ob es sich um Beethovens 5. Sinfonie oder eine Nationalhymne handelt. Auch Sprache gehört zu beiden Bereichen, je nachdem, ob die Übermittlung von Information oder von Emotion im Vordergrund steht, das stellt auch Whitehead heraus.306 Nicht zuletzt geht der menschliche Aus­ druck von Empfindungen und Einstellungen nach einem Durchleben ebendieser in eher freien oder künstlerischen Formen (Malerei, Tanz, Riten, Versammlungen) häufig auch über in rational artikulierte Ideen und schlägt sich in Formen von Konventionen und Institutionen nieder – und führt auch zur Etablierung entsprechender gesellschaft­ 305 Sherburne (1961:108) unterteilt in seiner Anwendung von Whiteheads Metaphy­ sik auf die Ästhetik- und Kunsttheorie die Künste nur in »performing arts« und »non-performing arts« und rechnet zur ersteren auch die Musik und die Literatur. Kunstwerken aus dem Bereich der performing arts wie zum Beispiel Theaterstücken schreibt Sherburne aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Inszeniert- und Rezipiertwer­ den, ihrer Kontextabhängigkeit und der Notwendigkeit, bewusst reflektiert zu werden, den Charakter einer »Proposition« zu: »The concrete experience of watching the play is an instance of prehending a proposition« (Sherburne 1961:111). Versuchen wir, Sherburnes These auf eigene Weise nachzuvollziehen: Charakteris­ tisch für diese Kunstwerke sind auch ihre ausgeprägte Künstlichkeit im Sinne einer Fokussierung auf bestimmte Formen und damit einer starken Abstraktion von der konkreten Wirklichkeit. In dieser Künstlichkeit taugen Kunstwerke besonders als Objekte des Bewusstseins, das Whitehead auch als Instrument der Betonung künstlich-abstrakter Strukturen bezeichnet (vgl. AI 470). Man kann ein solches Kunstwerk durchaus als komplexe Hypothese, wie die Welt sein könnte, verstehen. Laut Sherburne erlangt das Kunstwerk mit der Aufführung einen Status ähnlich dem einer objektivierten Proposition. Es kann dann rational und bewusst durchdacht und interpretiert werden. Der Hypothesencharakter eines Theaterstücks ist recht unstrittig (selbst in dem Moment, in dem es aufgeführt wird, ist es nicht in derselben Weise wirklich wie eine nichtinszenierte Handlung). Sherburnes direkte Gleichsetzung mit einer Proposition auch im metaphysischen Sinne führt ihn allerdings in die gleichen Schwierigkeiten wie Whitehead selbst, weil unklar bleibt, auf welcher Ebene und wie im Detail mit dem Propositionsbegriff operiert wird. Zudem wird in einer solchen Interpretation – so auch die gewichtige Kritik von Dean (1983:104) an Sherburne – das rationale Element ästhetischer Erfahrung sehr stark betont und die emotionale Erfahrung vernachlässigt. Beide gehen aber miteinander einher – und so wichtig für eine vernünftige Ordnung allen Geschehens die rationale Auseinandersetzung mit unserer Weltsicht auch ist, so unabdingbar ist es dafür doch auch, darin unsere Verbundenheit mit den uns emotional bewegenden Gründen erfahren zu können. 306 Vgl. z. B. SY 142, AI 402.

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licher Symbolisierungen.307 Künstlerische Symbolisierungen können auch umgedeutet oder in einen erweiterten gesellschaftlichen Kontext eingebunden werden. So haben zum Beispiel 1985 die EU-Staatsund Regierungschefs den letzten Satz von Beethovens 9. Sinfonie (mit der Vertonung von Schillers Gedicht Ode an die Freude) zur offiziellen Hymne der Europäischen Union gemacht, mit der Begrün­ dung: »Ohne Worte, nur in der universellen Sprache der Musik, bringt sie die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität zum Ausdruck.«308 In AI spricht Whitehead der Kunst die Genese aus dem Bedürfnis des Menschen nach »Re-enacting« zu: Einfache (Vor-)Formen der Kunst entstehen durch unser Bedürfnis, bestimmte Elemente unseres emotionalen Lebens noch einmal zu erleben. In Ritualen, Tänzen und Poesie werden die Emotion und andere Elemente des ursprünglichen Erlebnisses [...] noch einmal durchlebt, aber diesmal ohne den Zwang der Notwendig­ keit. Die ursprüngliche Anspannung ist verschwunden, aber die Freude an der Intensität des Fühlens ist zurückgeblieben (AI 473) –

insofern liegt ein Geheimnis der Kunst in ihrer Freiheit.309 Kunst und Gesellschaft bereichern und bedingen sich also gegenseitig. Daher sind für Whitehead auch beide Bereiche relevant – und er verbindet sie in einer ganz eigenen erweiterten Definition von Kunst: in der Kunst der Zivilisation. Mit Kunst bezeichnet Whitehead neben den kulturellen Symbolisierungsformen der Schönen Künste in einem allgemeineren Sinne auch das gelingende Gestalten einer Zivilisation nach ästhetischen Prinzipien. Es muss daher betont werden: White­ head legt weder eine Ästhetiktheorie noch eine Kunsttheorie vor und hat dies auch gar nicht intendiert.310 Wohl aber entwickelt er eine 307 Vgl. AI 437/438. Siehe auch Kapitel 5.2.3.5 dieser Arbeit. 308 Website der EU: https://european-union.europa.eu/principles-countrieshistory/symbols/european-anthem_de, Abruf vom 6.1.2022. 309 Interessant in diesem Zusammenhang wäre ein näherer Blick auf die Frage, ob und inwiefern sich nach Whiteheads Ansatz das Gefühl der Bestürzung, das der Betrachter der realen Szene empfindet, von jenem unterscheidet, das der Betrachter der inszenierten Szene empfindet. 310 Zu diesem Schluss kommt auch Wiehl in seiner Untersuchung des Ästhetischen bei Whitehead: »Whitehead hat über seine spekulative kosmopsychologische Ästhetik hinaus keine ausgeführte Philosophie der Kunst im eigentlichen Wortsinne vorgelegt. Ausführungen in seinen Schriften, die in die Richtung einer Philosophie der Kunst

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5.1 Die Ausgangslage: Dimensionen von Symbolisierungen

Gesellschaftstheorie, in der er die menschliche Gesellschaft weitest­ gehend als abstrakten Fall ontologischer Gesellschaften verstehen möchte und in der auch Ästhetik und Kunst eine Rolle spielen. An dieser Stelle ist eine weitere Begriffsklärung notwendig, denn mit dem Begriff »Kunst« fällt oft der Begriff »Ästhetik«. Auch bei Whitehead ist ein solcher Zusammenhang zu finden – allerdings in einer eher unüblichen, uns nun aber schon geläufigen Weise: Er verwendet Ästhetik in PR explizit als metaphysischen Begriff, gibt dementsprechend der Kunst in einer allgemeinen Definition einen weiten Geltungsbereich und sieht die Schönen Künste im engeren Sinne als konkrete Exemplifizierung an. Nicht systematisch eingeführt und meist adjektivisch gebraucht illustriert »Ästhetik« bzw. »ästhetisch« bei Whitehead schlicht die Erfahrung bestimmter Harmonien innerhalb von Selbst- und Weltgestaltungsprozessen.311 Diese Harmonien sind als Folge aus dem Urprinzip der Kreativität (einschließlich des darin enthaltenen Moments der Rationalität) zu verstehen. Sie ergeben sich aus der Anordnung aller in die jewei­ ligen Gestaltungsprozesse integrierter Erfahrungen zu Strukturen, innerhalb derer das einzelne Element und die als Eines aufgefasste Gesamtheit aller Elemente sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstär­ ken und ergänzen. Konsequent definiert Whitehead auch für die Schönen Künste, dass ein Kunstwerk ästhetisch ist, wenn gilt: Es »enthüllt das Ganze die Komponenten« (MT 110). Symbolisierungen aus dem Bereich der Schönen Künste werden, so unsere These, in Whiteheads Konzept nie ausschließlich als Kunst um der Kunst willen produziert und rezipiert, sondern stets mit einem teleologischen Impetus – der aber keine mechanistische Instrumentalisierung des künstlerischen Ausdrucks

weisen, etwa über Harmonie, Ausgleich und Schönheit, bleiben prinzipiell an den Kontext seiner spekulativen Ästhetik gebunden und wirken, von diesem Kontext abgelöst, relativ trivial« (Wiehl 1981:334). Ähnlich sieht dies auch Allan: »Whitehead wrote extensively about aesthetics in a metaphysical sense and he cites the arts as one of the specific forms of endeavor from which a metaphysical theory might take its departure. His comments about art and aesthetics as human activities, however, about the artist's crafting of aesthtic objects, that evoke aesthetic experiences, are informal, illustrative and episodic« (Allan 2008:42). Bereits Bertram Morris merkt an: »Perhaps Professor Whitehead has consciously refused to develop an aesthetic theory as such« (B. Morris 1951:477). 311 Vgl. Kapitel 3.1.5 dieser Arbeit.

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bedeutet, sondern eine Füllung des universellen Grundprinzips der Kreativität mit vielfältigem Leben.312 Whiteheads vor allem in MT entfaltete Thesen zum Zusam­ menhang von Ästhetik und Logik als zwei unterschiedlichen Seiten unseres strukturierten Zugangs zur selben Welt sind sicherlich eine genauere Untersuchung wert, im Kontext dieser Arbeit, die sich nicht speziell auf Symbolisierungssysteme der Logik konzentrieren möchte, führte dies aber zu weit. Nur so viel: Wir würden – ange­ lehnt an Deans Unterscheidung von rationalistischer und empiristi­ scher Ästhetik bei Whitehead (Dean 1983) – folgend differenzieren: Ästhetik im engeren Sinne fokussiert auf die Erfahrung emotionaler Elemente in der Anordnung von Wirkprozessen, Logik auf die Reali­ sierung der formalen Elemente darin und auf das Herausstellen der dadurch erzeugten Strukturen. Man könnte Logik und Ästhetik damit auch als den abstraktesten und den konkretesten Weg des Menschen, die Welt zu erfahren, bezeichnen. Wobei, um dies zu präzisieren, auch der Weg der Ästhetik das Herausstellen von Mustern bedeutet, denn nur ein Muster, das Detail und Massivität in ein angemessenes Verhältnis zueinander bringt, kann intensive emotionale Erfahrungen erzeugen. Auf beiden Wegen wird also die Welt geordnet – einmal mit dem Ziel der Erfahrung abstrakter Formen und einmal mit dem Ziel der Erfahrung konkreter Emotionen (Vgl. MT 100), wobei die Erfahrungen jeweils besonders intensiv sind, wenn dabei besondere Harmonien entstehen.313 Als Beispiele für kulturelle Symbolisierungen wählt Whitehead in SY vor allem Symbolisierungen mit einer gesellschaftlichen Funk­ tion wie Rituale, (Rang-)Abzeichen, Musik, Sprache allgemein und Literatur insbesondere. In anderen Werken erwähnt er auch Archi­ tektur, Kunst, Mathematik, Logik. Obwohl er durchaus auf unter­ schiedliche Schwerpunkte im Detail der Struktur (z. B. Größe der Schnittmenge zwischen den beiden Wahrnehmungsweisen in der symbolischen Referenz, Prominenz der subjektiven Form) und der Funktionsweise (z. B. Bedeutungsindikation, Emotionsübertragung, Signalisation) von Symbolisierungen hinweist, nimmt Whitehead keine explizite Klassifizierung vor. Bezogen auf ihren inneren Auf­ bau könnte man kulturelle Symbolisierungen als ›Symbolisierungen (mindestens) zweiter Stufe‹ bezeichnen, da sie in den Alltagsdingen 312 313

Vgl. Kapitel 5.4.3 dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch Kapitel 5.4 dieser Arbeit.

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5.1 Die Ausgangslage: Dimensionen von Symbolisierungen

eine erweiterte Ausdrucksdimension hervorrufen oder sich aus der Kombination alltäglicher Elemente ergeben: Mit dem Ölzweig im Schnabel wird aus der ordinären Taube eine Friedenstaube, mit bestimmten Mustern zu einem Fanschal gestrickt wird Wolle zum Ausdruck der Begeisterung für einen Fußballverein. Kulturelle Sym­ bolisierungen entstehen also aus einer Verkettung von Symbolisie­ rungsakten, die auf jeden Fall ›Symbolisierungen erster Stufe‹ enthal­ ten. Hin zu stärker künstlichen Symbolen entsteht durch eine immer längere »Verkettung« eine immer größere Entfernung zur Wirklich­ keit – aber auch hochartifizielle Symbolismen wie Werke Abstrakter Kunst oder formale Logiken müssen in irgendeinem Element bis zu primären Symbolisierungsakten zurückgeführt werden können, wollen sie als wahr oder korrekt gelten. Die zwei unterschiedlichen Wege, auf denen Elemente der Symbolisierung mit der Wirklichkeit übereinstimmen können, sind bereits angesprochen worden: Primär über den Weg des Wertens und Fühlens oder primär über den Weg der verwirklichten Formen. Beide sind nicht völlig voneinander zu trennen, da nur ihre Verbindung den Gesamtprozess der Wirklichkeit bildet. In seiner hier hauptsäch­ lich behandelten mittleren Schaffensphase betont Whitehead vor allem die Verbindung des Menschen zur kausal-emotional wirken­ den Basis der Welt und rückt daher den Weg des Fühlens in den Vordergrund. Logik hingegen, so der ganz frühe (IM) und ganz späte (EPS) Whitehead, kann auch verstanden werden als Versuch der Annäherung eines Symbolisierungssystems an das Muster hinter den Mustern, an die Form, die als allgemeines Ordnungsprinzip alle Ereignisse in die Harmonie der Harmonien überführt. Während Whitehead in PR noch auf die »Fehleinschätzung der Sicherheit der Prämissen des logischen Vorgehens« (PR 39) hinweist und kritisch äußert, »das Streben nach Verallgemeinerung [ist zwar] begründet, aber die Hoffnung auf Erfolg ist übertrieben« (PR 39), und auch in MT noch auf die Grenzen von symbolischer Logik hinweist, scheint er in EPS wieder auf der Suche nach den ›Super-Symbolen‹ zu sein. Dort hofft er, »the symbolic examination of pattern with the use of real variables« (ESP:99) könne verwendet werden, um metaphysisch fundierte Muster anderer (vor allem kultureller und ästhetischer) Symbolkomplexe wie zum Beispiel einem Gemälde oder dem Schwenken eines Weihrauchfasses in ihrer Wirkung auf den Menschen untersuchen und nachvollziehbar machen zu können. Die Hoffnung, es könne möglich sein, mit einem abstrakten System

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

logischer Symbole zutreffend jene ›Formel‹ herauszustellen, nach der sich die Dinge der Alltagswelt aus der konkreten Wirklichkeit bilden, schließt den Kreis und Whitehead kehrt in gewissem Sinne zu seinen Anfängen als Mathematiker zurück. Wenn es das Ziel der Mathema­ tik oder der Logik als Mittel zur Generalisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse sein soll, »to see what is general in what is particular and what’s permanent in what is transitory« (IM 11), dann zielt eine solche Abstraktion darauf ab, eine Ahnung von der hinter den Dingen liegenden Struktur zu erlangen und damit auch einen Blick auf die ewigen Ideen losgelöst von ihrer konkreten Realisierung in der Welt zu erhaschen. An dieser Stelle scheint sich der Platoniker in Whitehead zu zeigen, denn trotz Betonung des ontologischen Prinzips, das Wirklichkeit nur in Bezug zu Prozesseinheiten zulässt, wird hier eine Faszination für gewisse die Wirklichkeit gestaltende Urformen deutlich. Das ganz frühe und ganz späte whiteheadsche Kriterium für gelungene Symbolisierung ist allerdings nicht jenes, das im Fokus dieser Arbeit stehen soll. Es lohnt sich, für das Verständnis kultureller Symbolisierungen auch einen Blick in AI zu werfen: Da Whitehead Symbolisierungen als wesentliches Element der Zivilisation bestimmt und in AI der Versuch unternommen wird, »zu verstehen, wie es zur Entstehung zivilisierter Wesen kommt« (AI 75), finden sich dort inhaltliche Ergänzungen, die man in SY und PR vermissen mag, zum Beispiel Details zur Entstehung von artifiziellen kulturellen Symbolisierun­ gen wie Musik, Zeremonien oder Gedichten.314 Die in PR nur am Rande erwähnte »schwammige ›Kategorie der subjektiven Harmo­ nie‹« (Berve 2015:159) wird in AI über das einzelne Erfahrungssub­ jekt hinaus auf das Universum als Ganzes erweitert und bildet ein Erklärungsfundament auch für die Ausrichtung des menschlichen Handelns auf die Gestaltung der Zukunft. Schauen wir nun also, wie Symbolisierungen das Individuum, die Gesellschaft und das Universum prägen.

314 Zum Teil weicht die Terminologie in AI von jener in SY und PR ab, die strukturellen Übereinstimmungen sind aber derart deutlich, dass von einem identischen Inhalt ausgegangen werden kann.

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente 5.2.1 Symbolisierung ist politisch Kulturelle Symbolisierungen bei Whithehead kann man auch nach ihrer Relevanz und Funktion für die Gesellschaft differenzieren. So gibt es unter den vielfältigen Symbolisierungen eher wildwachsende Randerscheinungen und solche, die eine wesentlich gesellschaftsprä­ gende Funktion einnehmen. Es gibt einerseits sehr detaillastige und gleichzeitig bezogen auf ihre Wichtigkeit oberflächliche Symbolisie­ rungen, die in ihren Ausprägungen je nach historischer Epoche und kulturellem Kontext variieren können (zum Beispiel Mode oder Architektur) – und andererseits Symbolisierungen, die elementar zum modernen menschlichen Leben dazugehören zu scheinen (zum Beispiel bestimmte Rituale, Sprache, Mathematik).315 Whitehead nimmt wie gewohnt eine synthetisierende Position ein und betont einerseits mit Blick auf die Kanalisierung emotional-kausaler Wirk­ kräfte die Bedeutung von Symbolisierungen für den Menschen, weist aber andererseits in seiner Rolle als Abstraktionskritiker auf die Notwendigkeit einer reflektierten und, falls notwendig, auch miss­ trauischen Haltung ihnen gegenüber hin. Oberflächliche Symbolisierungen zeichnen sich dadurch aus, dass bei ihnen mit einem gewissen Grad an Künstlichkeit auch ein gewisser Grad an Austauschbarkeit einhergeht. »Solche Symbo­ lisierungen stehen allerdings am Rande des Lebens« (SY 61) und hinterlassen keine bedeutsamen Spuren. Ob die Dame aus höheren Kreisen zur Abendgesellschaft angemessenerweise lange Robe, das Kleine Schwarze oder einen Hosenanzug trägt, ist für die Entwicklung der Menschheit letztlich irrelevant (dass sie überhaupt partizipieren darf, hingegen nicht); ob in der Heraldik nun eine geteilte oder gespaltene Wappentopographie als ausdrucksstärker gilt, ebenso (dass während der Kreuzzüge das Tragen gleichgestalteter Schilde das Zusammengehörigkeitsgefühl der Ritter stärkte, hingegen nicht). Derartige Symbolisierungen kann man also – vornehmlich aus einer eher nüchternen, rationalen Perspektive heraus – als bloßen Zierrat, überflüssigen Schnickschnack und damit auch als Ballast für eine aufgeklärte und zivilisierte Gesellschaft ansehen. 315

Vgl. SY 62.

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

Auch Symbolisierungen, die ein solch unberechenbares Maß an Emotionalität oder einen solch starken Sog der Gewohnheit erzeu­ gen, dass Rationalität oder Innovation kaum möglich sind, steht der aufgeklärte Gesellschaftsphilosoph gerne kritisch gegenüber: Voo­ doo-Tänze zu Vollmond, vor ihren Eltern schweigend hofknicksende Kinder, kreischende Teenager auf Konzerten von Pop-Idolen, über Devotionalien delirierende Anhänger religiöser Sekten, erwachsene Männer mit plüschenen Herzbärchen in der Hand zum Valentinstag – dies sind tatsächlich nicht die Ergebnisse von Symbolisierungen, die auf eine Weiterentwicklung der Zivilisation hoffen lassen. Es ist also nachvollziehbar, dass »die Abneigung gegenüber der Symbolisierung [...] als ein klar erkennbares Element in der Kulturgeschichte der zivilisierten Völker hervor[sticht]« (SY 119), wie Whitehead zutref­ fend feststellt. Die Beobachtung aber, dass die Menschheit anscheinend den dringenden Impuls hat, ständig »Maskerade« treiben zu müssen, sich und die Umwelt anzumalen, aufzupeppen, kreativ umzustrukturie­ ren, kann andersherum auch zur Einsicht in die Notwendigkeit von Symbolisierungen führen. Die Allgegenwart von Symbolisierungak­ ten lässt den Schluss zu, dass diese auf irgendeine Weise essenzielle Bedeutung für das menschliche Leben haben – und dass deshalb »die Vorstellung einer müßigen Maskerade die falsche Denkweise über die symbolischen Elemente im Leben ist« (SY 121). Durch Symbolisierungen findet der Mensch laut Whitehead die Möglichkeit zum Ausdruck seiner selbst als Individuum und gleichzeitig als soziales Wesen. »›Ausdruck‹ ist ›Symbolisierung‹« (SY 121): Unsere Sehnsucht nach der passenden anderen Hälfte in unserem Leben drücken wir im Bild des Kugelmenschen oder in einem Liebeslied aus, unser Selbstverständnis als Mitglied einer gesellschaftlichen Klasse in der entsprechenden Kleidung, unsere Identität als Nation in der Nationalhymne. Neben der Ausdrucks- hat das Symbol zudem eine Ordnungs­ funktion für den Menschen, denn es dient, wie bereits erläutert, dazu, eine Welt dingfest und verständlich zu machen, die für uns ohne Symbole oft flüchtig und kontingent bleiben müsste. Wenn es so ist, »dass sich ein wesentlicher Zweck von Symbolen aus ihrer Verfügbarkeit ergibt« (PR 342), dann können wir sie nutzen, um gleichzeitig eine Ordnung und eine »Steigerung der Wichtigkeit dessen, was symbolisiert wird« (SY 122), zu erreichen. Wir können unserem Nachbarn mittels Sprache von unserer Entdeckung eines

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

Wildschweins in seinem Garten berichten, ohne darauf warten zu müssen, dass es das nächste Mal dort vorbeischnüffelt. Wir können mittels Sprache auch unsere Vorstellungen von der Welt und der Gesellschaft greifbar und vor allem kommunizierbar machen und auf diese Weise ebenso die Wissenschaften voranbringen wie mit Poesie andere Menschen berühren. Wir können mittels der Mathematik Berechnungen anstellen, die es uns ermöglichen, stabile Häuser zu bauen oder zum Mond zu fliegen. Wir können mittels Verhaltensko­ dizes das gesellschaftliche Miteinander regeln. Wir können also sowohl Gefühle als auch Strukturen hervorru­ fen – auch und gerade solche, mit der wir Kommunikation ermögli­ chen, Kooperation sicherstellen, Aggression kanalisieren, Kreativität blühen lassen, ein Gefühl für Abenteuer, Wahrheit und Schönheit entwickeln und ausleben, die individuelle Entfaltung beflügeln und gleichzeitig Gemeinschaftssinn fördern. Genau dies versteht White­ head in einem weiteren Sinne unter zivilisierter Kultur. Symbolisie­ rungen sind in ihrer Wirkung also gerade nicht exklusiv auf die Sphäre der Kultur im engeren Sinne beschränkt, sind in der Mensch­ heitsgeschichte kein dekoratives Phänomen der neueren Zeit, son­ dern Bestandteil und nicht selten (aufwärts oder abwärts) treibende Kraft aller gesellschaftlichen Entwicklungen. Wenn der Mensch das Zusammenleben wesentlich mittels Symbolisierungen organisiert und gestaltet, dann können wir sagen: Das Symbol als Element von Kultur in einem weiteren Sinne ist sozial und politisch.316 Das Verstehen der Bedeutung von Symbolen impliziert dabei fast immer das Durchführen einer passenden Handlung, zumindest aber das Gewahrwerden eines Handlungsappells. Auf diese Weise regeln wir mit Symbolen unser Zusammenleben: Wir stoppen an In diesem Verständnis ist Politik (wie später in dieser Arbeit noch einmal genauer erwähnt) nicht zu denken ohne einen Sinn für Schönheit – eine reizvolle Vorstellung. Mit einer anderen Konnotation des Symbolischen verstanden sieht Jessen symboli­ sche Politik, die er als Politik der Zeichen einer Politik der Taten gegenüberstellt, eher negativ zumeist als Versuch der Augenwischerei und Ablenkung von unliebsamen Tatsachen oder ausbleibenden Taten. Das Symbol als im Politischen per se »leeres Zeichen« (Jessen 2006:3) hält laut Jessen nicht, was es verspricht. Daher bewertet er es negativ, dass in der Politik »materielle Interessen symbolisch verschlüsselt werden (wie Amerika die Kontrolle der nahöstlichen Ölquellen als ›Kreuzzug gegen das Böse‹ tarnte)« (Jessen 2006:3). Dieses Symbolische in Jessens Interpretation ist für Whitehead jedoch eine unangemessene, unproduktive Symbolisierung, einer jener symbolischen Wildwüchse, die es durch den kritischen Einsatz der Vernunft zu identifizieren und zu eliminieren gilt. 316

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

der roten Ampel, erwidern den Handschlag zum Gruß, befolgen die Instruktionen des Menschen in Polizeiuniform. Die Handlungsregu­ lierung ist jene den Symbolisierungen eigene Funktion, aufgrund derer menschliche Gemeinschaften ausgeklügelte Symbolsysteme entwickeln, durch die das Interagieren einer Vielzahl von Gemein­ schaftsmitgliedern ermöglicht werden soll.317 Im besten Fall kanali­ sieren Symbolisierungen dabei das Handeln der Individuen zum Wohle der Gemeinschaft, ohne das Individuum in seiner persönlichen Entfaltung zu unterdrücken, zumindest aber lenken sie das Handeln in Bahnen, die das Gesamtsystem nicht unnötig destabilisieren (es sei denn, Elemente des Systems erweisen sich als überholt und mit Blick auf den Fortschritt als so dysfunktional, dass eine temporäre Destabilisierung im Übergang zu neuen Systemstrukturen unabding­ bar ist). Der »soziale Symbolismus« befördert also einerseits »die Richtunggebung der Individuen zu spezifischen Handlungen« (SY 133), die ihre persönliche Entwicklung ausdrücken, und andererseits Strukturen, die notwendig sind, um »die bunte Menge in eine rei­ bungslos ablaufende Gemeinschaft zu organisieren« (SY 133). Gerade aufgrund des sozialen und politischen Charakters von Symbolen ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass – wie eingangs erwähnt – symbolische Elemente im Leben der Menschen einerseits »eine Tendenz des Wildwuchses haben« (SY 120) und sich damit andererseits auch wie Unkraut in der Gesellschaft festsetzen kön­ nen, selbst wenn sie ihre Funktionalität verloren haben. Neben der Anerkennung von Symbolisierungen als wesentlichen Elementen der menschlichen Gesellschaftspraxis ist daher auch die kritische Über­ prüfung ihrer Angemessenheit und gegebenenfalls eine Revision vonnöten.318 Diese Überprüfung sieht Whitehead auch als eine Auf­ gabe der Philosophie an, denn als »Kritik der Abstraktionen« muss Philosophie natürlich Symbolisierungskritik sein. »Wir können nicht ohne Abstraktionen denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen. Genau hier

Vgl. SY 131/132. Halewood fasst die von Whitehead gesehene Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung und möglichen Revision von Symbolisierungen folgendermaßen zusammen: »There is a need for a constant scrutiny of the operations of the unconscious and linguistic modes of symbolism which attempt to bind a society together. And a preparedness to critique these to the point of destruction« (Hale­ wood 2009:302). 317

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

findet die Philosophie ihren Platz als wesentlicher Beitrag zum gelun­ genen gesellschaftlichen Fortschritt« (SMW 75). Hauptsächlicher Gegenstand der Philosophie in dieser Funktion ist laut Whitehead die Sprache, da diese eines jener Symbolisie­ rungssysteme darstellt, die gesellschaftlich ungemein folgenreich und »von solcher Art [sind], dass wir ohne sie nicht leben könnten« (SY 61).319 »Die allgemeine Übereinstimmung der Menschheit hinsicht­ lich erfahrener Tatsachen [ist] am besten sprachlich vermittelbar« (PR 45), Sprache ermöglicht eine intersubjektive Verständigung, durch die auch der Austausch von Ideen vorangetrieben werden kann. Damit trägt Sprache wesentlich zum Fortschritt der Zivilisation bei und ist als »Triumph der menschlichen Genialität« (MT 74) anzusehen, der sogar über die Kompliziertheit moderner Technik hinausgeht. Als Instrument der Vernunft ermöglicht sie auch die Kommunizierbarkeit von Kritik und kann so den Anstoß zu Veränderungen geben. Dennoch birgt ein unreflektiertes Vertrauen in die Angemessen­ heit der abstrakten Sprache zur Wiedergabe ganz konkreter menschli­ cher Erfahrungen oder gar metaphysischer Wahrheiten Gefahren wie die des Trugschlusses unzutreffender Konkretheit. Trotz der großen Bedeutung der Sprache für die menschliche Gesellschaft besteht daher die Notwendigkeit einer Bewusstmachung ihrer Beschränkungen. Ziel der Philosophie ist es dabei, »die Oberfläche der Scheinklarheiten unserer Umgangssprache zu durchdringen« (AI 394) und darauf hinzuweisen, dass auch Wissenschaftssprache weder die abstrakten Ideen noch die konkrete Wirkmächtigkeit der Wirklichkeit tatsäch­ lich komplett erfassen kann. Eine Sprache, mit der die metaphysi­ schen Grundlagen exakt wiedergegeben werden können, setzt exakte SY 61: »Es gibt grundlegendere Arten von Symbolismen, die zwar in einem bestimmten Sinne künstlich sind, aber dennoch von solcher Art, dass wir ohne sie nicht leben könnten. Die geschriebene oder gesprochene Sprache ist ein solcher Symbolis­ mus.« Sprache als eines der wesentlichen Symbolisierungssysteme hätte eigentlich eine eigene Thematisierung verdient – da die hierbei relevanten Themen aber zu vielfältig sind (unter anderem Genese von Sprache als Symbolisierungssystem, Notwendigkeit einer Sprachkritik als Abstraktionskritik, Ordinary Language Theory oder Ideal Language Theory?, Funktion und Beschaffenheit einer angemessenen philosophischen Terminologie, Whiteheads eigene Terminologie in der Diskussion), werden mit Blick auf die Balance der Gesamtkomposition dieser Arbeit Aspekte sprachlicher Symbolisierungen nur exemplarisch thematisiert. Einen guten Einblick in das Themenfeld ›Whitehead und Sprache‹ bietet zum Beispiel die Lektüre von: Urban 1938, Urban 1939, Doan 1960, Bubser 1960, Rorty 1963, Lindsey 1976, Lindsey 1985, Kann 2008, Kann 2020. 319

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Erkenntnis derselben voraus320 – eine solche Erkenntnis ist aber, trotz prinzipieller Verbindung des Menschen zur Wirklichkeit, nicht möglich (wohl aber eine asymptotische Annäherung). Auch gesellschaftliche Symbolisierungen bedürfen eines kriti­ schen Blicks auf ihren (ursprünglichen) Zweck und auf ihre aktu­ elle Angemessenheit für die Entwicklung der Zivilisation in einer Balance aus Neuerung und Stabilität. »Die erfolgreiche Anpassung alter Symbole an Änderungen der sozialen Struktur ist das höchste Zeichen von Weisheit in der gesellschaftlichen Staatskunst« (SY 120). Dafür bedarf es einer Analyse der Bedeutung und Funktion einzelner Symbolisierungen – diese aber erweist sich als schwierig. Eine der Herausforderungen besteht darin, überhaupt genau anzugeben, was und auf welche Weise symbolisiert wird und wie man darum wissen kann. Das wollen wir uns nun näher ansehen und gehen dafür auch noch einmal zurück in Details des Symbolisierungsprozesses, sofern diese für den gesellschaftlichen Kontext relevant sind.

5.2.2 Wissen um Symbolisierungen Wir nehmen im Alltag meist automatisch wahr, ohne viel darüber nachzudenken, und erzeugen zumindest mit der Wahrnehmung von Alltagsgegenständen auch ständig Symbolisierungen. Mit den Ergebnissen der Wahrnehmungsprozesse bekannt zu werden, sie sich bewusst zu machen, um sie zu wissen, erfordert das Entstehen einer gewissen Metaebene. Dies ist auch der (bisher implizit mit angenommene) Schritt, der Whiteheads Theorie Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz zu einer Erkenntnistheorie kom­ plettiert.321 In PR entwickelt Whitehead mit Hilfe des Konzepts der Propositionen (hypothetische Aussagen, Annahmen) einen Ansatz, der im metaphysischen Bereich bestimmte Vorgänge aus späteren komplexen Phasen der Erfahrung als bewusste Wahrnehmungen und als Bewusstsein beschreibt, wobei dieses Bewusstsein die subjektive Vgl. PR 47: »Eine präzise Sprache ist nur auf der Grundlage vollkommener metaphysischer Erkenntnis denkbar.« 321 Der Aspekt des Wissens um Symbolisierungen schließt daher eigentlich auch das erkenntnistheoretische Kapitel vier dieser Arbeit ab. Die Entscheidung für eine Verlagerung dieses Aspekts in das kulturphilosophische Kapitel fünf dieser Arbeit ist der Bedeutung der Reflexion von Symbolisierungen in ihrer Funktion für Zivilisation durch die Vernunft (die auf dem Wissen um Symbolisierungen basiert) geschuldet. 320

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Form ist, die uns als Menschen mit unseren Wahrnehmungsgegen­ ständen auch bekannt werden lässt. In AI liest sich Whitehead teilweise so, als sehe er erste Manifestationen dessen, was er auf mesokosmischer Ebene Bewusstsein nennt, bereits dann entstehen, wenn in einem metaphysischen Empfinden der Umwelt physische und psychische Elemente als Objekte ausgewählt, synthetisiert und betont werden: »Das Bewusstsein ist die Betonung, die auf eine Auswahl dieser Objekte gelegt wird« (AI 332). Ansonsten aber nimmt Whitehead Bewusstsein als ein Phänomen hochkomplexer Organis­ men mit ausgeprägten geistigen Aktivitäten an und sieht darin »das Instrument, das das Moment der Künstlichkeit am Erlebensvorgang verstärkt« (AI 470). Kurz rekapituliert, soweit unstrittig: Bewusstsein entsteht in der subjektiven Form von Erfahrungen aus der Kontrastierung von Daten aus einem empfundenen Nexus (wie die Tatsachen sind) mit bestimmten Annahmen (wie die Tatsachen nicht sind). Diese Kon­ trastierung der Erfahrung, wie etwas ist, mit der dann möglichen Annahme, wie etwas auch sein könnte, bedeutet den Prozess der Bewusstwerdung der Erfahrungsinhalte. Die in ihren weiteren Details sehr komplexe und durchaus kontrovers diskutierte Bewusstseins­ theorie muss hier nicht besprochen werden – denn in SY, was für diesen Aspekt im Moment maßgeblich sein soll, belässt es Whitehead dabei, von einer Art Alltagsverständnis des Bewusstseins im Sinne von Wissen und Reflexion auszugehen, ohne deren Entstehung genauer herzuleiten. Auch für die Ausführungen in SY zutreffend ist aber die rein formale Beschreibung des Bewusstseins aus PR als »eine subjektive Form, die in den höheren Phasen der Konkretisierung entsteht« (PR 303) und die diese höheren Phasen, in denen es aufkommt, erhellt. Dabei ist es so, dass Bewusstsein »immer von einer Komponente des begrifflichen Wirkens begleitet sein [muss]. Denn das abstrakte Element in der konkreten Tatsache ist genau das, was unser Bewusstsein wachruft« (PR 443). Der Umkehrschluss aber gilt nicht: Begriffliches Wirken im metaphysischen Sinne impli­ ziert nicht notwendigerweise Bewusstsein, denn es ist bereits in Prozessen angesiedelt, die zu wenig komplex sind, als dass dort auch Bewusstsein entstehen könnte. In der Literatur herrscht Unei­ nigkeit über den Zusammenhang von Wahrnehmungsweisen und Bewusstsein. Während beispielsweise Blyth (1941:84) die reinen Wahrnehmungsweisen als unbewusst ansieht, spricht Hall (1973:69) bei der »sense-perception in the mode of presentational immediacy«

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von »conscious perception«. Unsere Interpretation legt nahe, dass in der Alltagspraxis zumindest die meisten Wahrnehmungen im Modus symbolischer Referenz, die zu symbolisch konditioniertem Handeln führen, faktisch von Bewusstsein begleitet werden, dies aber theoretisch nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Auf jeden Fall hat Bewusstsein etwas mit verstärkter mentaler Aktivität zu tun und legt den Fokus auf die in unserer Wahrnehmung klar und distinkt, also auf eine künstlichere Weise präsenten Elemente322, es lässt uns unsere Wahrnehmungsinhalte von einer übergeordnet abstrakten Ebene aus erfahren und wissen. Auf eine ganz schlichte Art, die hier für unsere Zwecke ausreichen soll, bedeutet dies: Wissen entsteht bereits, wenn zur Wahrnehmung auch das Gewahrwerden hinzukommt – und hierauf kann dann in einer noch abstrakteren Funktionsweise das diskursive Wissen im Sinne von Denken und Reflektieren aufbauen.323 Relevant für die Symboltheorie ist die bereits angesprochene Unterscheidung von direktem Wissen und abgeleitetem Wissen324: Direktes Wissen ist »das bewusste Wissen einer Perzeption in einem reinen Modus, also ohne jede symbolische Referenz« (SY 78). »Bewusstes Wissen« ist unserer vorgeschlagenen Interpretation nach eine Tautologie, die zur Verdeutlichung der Abgrenzung von Wissen zu Perzeptionen dient, da letztere kein Bewusstsein enthalten. Direktes bewusstes Wissen gibt es ausgehend von beiden reinen Wahrnehmungsweisen. Wir empfinden einen Schmerz und denken uns prompt ›Aua!‹; wir treffen auf eine weit ausgedehnte Fläche und denken uns ›Uha... groß!‹ (wobei diese Denkprozesse durchaus als vorsprachliche zu verstehen sind). Demgegenüber ist abgeleitetes Obwohl dies eigentlich die Merkmale der Wahrnehmung in der präsentativen Unmittelbarkeit sind, gibt es – wie im Kapitel 4.5.2 dieser Arbeit sowie weiter unten erläutert – auch Momente, in denen uns die sonst diffus im Hintergrund schwelende kausale Wirksamkeit derart präsent wird, zum Beispiel in Momenten großer Freude. 323 Eine solche Interpretation legt auch der Übersetzer des Werks CN nahe, der auf die Problematik der Übersetzung des Begriffs »knowledge« und auf die Schwierigkeit der Unterscheidung von dem, was im Deutschen die Begriffe »Kennen« und »Wissen« bedeutet, bei Whitehead hinweist. Er sieht bei Whitehead in CN aber durchaus – und das gilt unserer Interpretation nach zumindest auch für SY – »die Unterscheidung zwischen sinnlichem Bewusstsein (das nicht verbal ist) und Verstand. In diesem Sinne ließe sich die besagte Unterscheidung doch für das Kennen von sinnlich Bewusstem einerseits und für analysierte Relationen andererseits aufrechterhalten. Der Oberbegriff jedoch ist die ›Erkenntnis‹« (siehe CN:26, Anmerkung 6). 324 Vgl. SY 66/67, SY 78. 322

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Wissen das bewusste Wissen von Perzeptionen im Modus der symbo­ lischen Referenz, zum Beispiel wenn wir uns denken ›Aua, Mist wie doof... gegen die Wand gerannt!‹ (auch dieser Denkprozess kann erst einmal ein vorsprachlicher sein). In einer vermeintlichen Inkonsistenz von Whiteheads Wahrneh­ mungstheorie und seiner Konzeption von bewusstem Wissen sieht Blyth »one of the most serious defects in Whitehead's theory of per­ ception considered as a whole« (Blyth 1941:84). Laut Blyth gelingt es Whitehead nicht »to coordinate the explanation of conscious percep­ tion with the two unconscious modes of perception« (Blyth 1941:84). Den Grund hierfür sieht er in der Unmöglichkeit, Daten aus der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit einem bewussten Erfassen zuzuführen: »Perceptions in the mode of presen­ tational immediacy cannot [...] contribute their data, contemporary actual entities, to the data of conscious feeling« (Blyth 1941:86). Gemäß dem ontologischen Prinzip ist jeder Prozess des Erfassens nur als Erfassen vergangener Prozesse möglich – wären die Daten, die die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit in das bewusste Erfassen einbringen wollte, also tatsächlich »contem­ porary entities« (1941:86), so wäre Blyths Kritik berechtigt. Ihr liegt allerdings ein Missverständnis zugrunde, denn die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit hebt zwar eine Formbe­ stimmung als gegenwärtiges Element mehrerer Prozesse heraus – bezieht sich dabei aber natürlich auf die Formbestimmung aus vergan­ genen Prozesseinheiten. In einen Prozess des bewussten Erfassens eingehen können also die Daten der präsentativen Unmittelbarkeit als Nexus vergangener Prozesseinheiten mitsamt einer gemeinsamen als gegenwärtig wahrgenommenen Formbestimmung. Auch Sherburne (1961:88) weist auf das Missverständnis von Blyth hin und erinnert daran, dass gegenwärtige Prozesseinheiten überhaupt nicht erfasst werden können, weder bewusst noch unbewusst. Unserer in diesem Kapitel dargelegten Interpretation nach ist bereits Blyths Bezeichnung der zwei reinen Wahrnehmungsweisen als unbedingt »unconscious« (Blyth 1941:84) nicht zutreffend, das zeigt Whiteheads Definition des »direkten Wissens« in SY als »bewusstem Wissen« in einem der reinen Wahrnehmungsmodi. Dass selbst das Wissen, was – zumindest theoretisch – nur aus Wahrnehmungen im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit resultiert, immer mit der wirksamen Vergangenheit verknüpft sein muss, zeigt nicht zuletzt Whiteheads Statement, dass es »kein Wissen [gibt], das nicht von gewissen

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Emotionen und Zweckvorstellungen begleitet würde« (AI 81).Wissen aus reinen Wahrnehmungsweisen kann weder richtig noch falsch sein, denn diese sind einfach und wir wissen entweder um sie oder nicht. Erst im Fall einer Synthese können aufgrund der Abgeleitetheit Fehler passieren, wenn unzutreffende Bezüge hergestellt werden. Zur Einordnung, Überprüfung und Beurteilung der Gegenstände einer Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz tritt die Vernunft (»reason«) auf die Bühne. Vernunft auf metaphysischer Ebene als Streben nach Struktur und Ordnung ist das zum Streben nach Erneuerung komplementäre Element des Kreativitätsprinzips. Bezogen auf den Menschen basiert die Vernunft auf bewusstem Wissen und entäußert sich in der Bewusstseinsaktivität des Denkens. Wenn Whitehead in SY davon spricht, dass unser Denken in Form begrifflicher Analyse das bewusste Wissen über unsere Symbolisie­ rungen erzeugt und unser Verständnis von Genese, Wirkung und Funktion dieser Symbolisierungen erhellen kann325, dann bezieht er sich dabei auf die mesokosmische Ebene des menschlichen Alltags. Whitehead meint mit »begrifflicher Analyse« (vor allem in SY, aber auch in einigen Passagen von PR) also nicht durchgängig in metaphy­ sischer Definition die Aktivität des geistigen Pols innerhalb späterer Phasen von Erfahrungsprozessen, mit der die objektivierten Daten aus früheren Phasen bewertet, kategorisiert und strukturiert werden – sondern er abstrahiert diesen Terminus auch und überträgt ihn auf den Menschen. In SY geht er zwar auch schon davon aus, dass unsere Alltagswelt mit ihren physischen Körpern, pflanzlichen wie tierischen Organismen und mit uns geistbegabten Menschen aus Mikroprozes­ sen entsteht, in denen es keine Substanzen gibt und in denen geistige und physische Vorgänge untrennbar miteinander verwoben sind. Wenn er aber sagt, dass das »Denken in Form der begrifflichen Ana­ lyse« (SY 78) unsere symbolischen Wahrnehmungen zum »Thema des bewussten Wissens« (SY 78) macht, dann sind mit begrifflicher Analyse hier geistige Operationen des Gesamtorganismus Mensch, ja tatsächlich einfach Vorgänge des Denkens gemeint.326 Vgl. SY 78. Eine solche Interpretation der unterschiedlichen Verwendungsweise von Termini liegt nahe, wenn man berücksichtigt, dass viele von Whiteheads Termini im Laufe seines philosophischen Schaffens eine Genese durchlaufen und während seiner Denkund Arbeitsprozesse Anpassung, Erweiterung und Vertiefung erfahren haben (ver­ gleiche zum Beispiel »Geschehnis« in SMW und PR oder »Aktivität« in SMW und PR). Die Assoziationen des ›Klarmachens‹ und ›Strukturierens‹ sind bei der 325

326

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Begriffliche Analyse wird in SY also vor allem als Tätigkeit der durch das Bewusstsein geweckten Vernunft angesehen. Im Sinne einer vernunftbasierten Untersuchung kann begriffliche Analyse Symbolismen erst einmal als solche bekannt machen, es kann sie sprachlich benennen, sortieren, kritisieren und damit noch greifbarer machen: »Es ist die Aufgabe der Vernunft, die Symbole, von denen die Menschheit abhängt, zu verstehen und zu läutern« (SY 66). Die Vernunft kann im günstigsten Fall auch darüber entscheiden, ob und inwiefern Symbolisierungen (noch) korrekt sind oder ob sie verwor­ fen werden sollten. Als Gegenstand der Vernunft und des Denkens ist der Prozess der Symbolisierung daher auch wesentlich, um eine Grundlage für die Möglichkeit des Menschen zu schaffen, die (gesell­ schaftliche) Welt zu strukturieren und bestehende Strukturen entweder zu festigen oder aufzubrechen. Wir können also Symbole untersuchen und ihre Bedeutung verstehen. Was bedeutet das?

5.2.3 Symbol und Bedeutung 5.2.3.1 Die Beziehung von Symbol und Bedeutung Bisher haben wir fast ausschließlich von der symbolischen Bezie­ hung gesprochen. Auch wenn diese in der organistischen Symbol­ theorie das wesentliche Ereignis ist, so verzichtet Whitehead nicht auf die klassischen zeichentheoretischen Begriffe von Symbol und Bedeutung. Wir erinnern uns an Whiteheads im Kapitel zwei dieser Arbeit bereits angesprochene funktional-relationale Definition dieser Begriffe: Symbole sind nach Whitehead in einer Relation zweier Wahrnehmungsarten jene Elemente einer Art der Wahrnehmung, von denen ein Erfahrungsprozess ausgeht und die innerhalb dieses Prozesses auf Elemente einer anderen Art der Wahrnehmung, als Bedeutung bezeichnet, bezogen werden.327 Für die Beziehung zwischen Symbol und Bedeutung gibt es keine Naturnotwendigkeit, diese wird durch den Wahrnehmenden herge­ Verschiebung von »begrifflicher Analyse« auf die metaphysische Ebene beibehalten worden, »Bewusstsein« allerdings bedeuten diese Prozesse dann nicht, dieses reser­ viert Whitehead exklusiv für Organismen höchster Komplexität. 327 Vgl. SY 67. Vgl. PR 337/338.

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stellt.328 Dennoch haben sie eine konkrete Grundlage in der Wirklich­ keit – keines dieser beiden Elemente ist lediglich ausschließlich im Kopf des Menschen konstruiert und so auch nicht ihr Zusammenhang. Die Möglichkeit einer (korrekten) Beziehung zwischen Symbol und Bedeutung besteht aufgrund einer gemeinsamen Basis unabhängig davon, ob symbolische Referenz auch faktisch durch den Menschen hergestellt wird oder nicht, denn »die symbolische Referenz setzt das Bestehen einer Gemeinsamkeit zwischen Symbol und Bedeutung voraus, die ohne Berücksichtigung des realisierten Wahrnehmenden angegeben werden kann« (SY 69), die Richtung, die Art und die Intensität der Beziehung aber ist nicht festgelegt.329 Greenman sieht den Begriff »Bedeutung« bei Whitehead nicht im Zusammenhang mit der Theorie der symbolischen Referenz ein­ geführt. Er liest aus SY und PR eine umfassendere »general theory of meaning« heraus, in der die Theorie der symbolischen Referenz (einschließlich der dort verwendeten Definition von Symbol und Bedeutung) als ein untergeordnetes Element aufgeht: »In the present paper, Whitehead's theory of symbolic reference is considered among the elements presupposed in, rather than constitutive of, the general theory of meaning« (Greenman 1953:31). Seine Überlegung geht von der Annahme aus, dass Whiteheads Begriffe »Erfahrung« und »Emp­ finden« weiter zu fassen sind und eine größere Intension aufweisen als der Begriff »Bedeutung«. Da Erfahrung ein ontologisch primärer Prozess ist, die Erfahrung der Bedeutung von Symbolen hingegen erst beim Menschen in Erscheinung tritt, ist diese Differenzierung grundsätzlich zutreffend. Wenn es damit auch Erfahrung gibt, die keine Bedeutung impliziert, dann, so folgert Greenman, muss es ein Unterscheidungskriterium geben »between those feelings which are instances of meaning and those feelings which are not« (Greenman 1953:33). Greenmans Interpretation sieht aus diesem Grund vor, die Erfahrungen, die Bestandteil von Bedeutungen sind, als Propositio­ nen aufzufassen: »In terms of this definition ›meaning‹ is equated with ›propositional feeling‹, so that the analysis of meaning will be identical with the analysis of propositional feeling« (Greenman

Das erklärt auch die Konventionalität bestimmter Symbolisierungen. Vgl. SY 69: »Die Natur ihrer Beziehung bestimmt nicht von selbst, was Symbol und was Bedeutung ist. Es gibt keine Komponenten der Erfahrung, welche ausschließ­ lich Symbole oder ausschließlich Bedeutungen sind.« 328

329

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1953:33).330 Eine solche Gleichsetzung zieht allerdings nach sich, dass jeglicher Bedeutung der Charakter des Hypothetischen anhaftet. Die im Verlauf dieses Kapitels vorgeschlagene Interpretation geht einen anderen Weg: Sie erweitert den Geltungsbereich von Bedeutung in einem gewissen Sinne ebenfalls über einen engen Rahmen der Symboltheorie hinaus – verortet diese im Gegensatz zu Greenman aber gerade nicht im Hypothetischen, sondern direkt in der unmittelbaren Wirklichkeit.331 Blyth sieht eine Vermischung zweier unterschiedlicher Defi­ nitionen von symbolischer Referenz, die inhaltlich nicht miteinan­ der vereinbar sind: »There appear two mutually inconsistent doc­ trines running through his discussion of symbolic reference« (Blyth 1941:59). Zumeist werden Whiteheads Symbolisierungen im Kontext allgemeiner Symboltheorien mit jener Definition diskutiert, in der die beiden Elemente »Symbol« und »Bedeutung« einander gegen­ übergestellt werden. »The doctrine most emphasized explains the reference from one mode of perception to the other, […] thus the percepta of one mode are considered as symbols for percepta of the other mode« (Blyth 1941:59). Wenn im Zuge symbolischer Referenz eine reine Wahrnehmungsweise als Symbol auf die andere reine Wahrnehmungsweise als Bedeutung bezogen wird und diese damit eine wesentliche Verschiedenheit voneinander attestiert bekommen, kann Bedeutung, so das Problem laut Blyth, nicht gleichzeitig wi­ derspruchsfrei aus einer gemeinsamen Grundlage beider Wahrneh­ mungsweisen resultieren. Eine solche Forderung stellt Whitehead aber in seiner zweiten »Doktrin« zur symbolischen Referenz auf.

Nicht auf übergeordneter, sondern auf gleichrangiger Ebene sehen auch andere Autoren einen Zusammenhang von Propositions- und Symboltheorie. Sher­ burne (1961) schreibt bestimmten Kunstwerken den Status einer Proposition zu, Berve (2015) vermutet eine grundsätzliche Verwandtschaft von Propositionstheorie und Symboltheorie. 331 Um die ominöse Koexistenz von Symbolisierungen und Propositionen ein wenig zu erhellen, kann folgender Interpretationsansatz hilfreich sein: Symbolisierungen können im Prozess der symbolischen Referenz und gleichzeitig im Prozess propositio­ nalen Fühlens erfahren werden, wenn sie durch verstärkte geistige Aktivität bearbeitet werden. Dann sind sie, stark vereinfacht gesagt, die Inhalte des bewussten Nachden­ kens und Reflektierens (und somit auch mit den nicht realisierten Möglichkeiten, mit einem ›Es-hätte-auch-anders-sein-Können‹ konfrontiert). Auch wenn dies häufig der Fall sein mag, ist propositionales Erfahren nicht notwendigerweise Element der Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz. 330

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Dieses Problem lässt sich relativ leicht auflösen. Whitehead bezieht sich, so unser Erklärungsansatz, bei den beiden unterschied­ lichen Bestimmungen von symbolischer Referenz einmal auf die mikrokosmisch-ontologische und das andere Mal auf die mesokos­ misch-phänomenologische Ebene. Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz ist immer ein gemischter Modus, bei dem die synthetisierten Wahrnehmungen auf zwei unterschiedliche Wei­ sen aus einer gemeinsamen Region herrühren. Obwohl wir aber unbewusst das darin Verbundene immer auch direkt so wahrzuneh­ men, gerät bewusst meistens zuerst die eine Wahrnehmungsweise in den Fokus unserer Aufmerksamkeit und wir enden bei der anderen Weise, die sie für uns mittransportiert – einfach weil das auf unserer alltäglichen Abstraktionsebene praktischer ist. Warum das so ist, wird im Fortlauf dieses Kapitels erläutert werden. Whiteheads Verwendung der Begriffe »Symbol« und »Bedeu­ tung« scheint in der Rezeption insgesamt eher für Konfusion als für Klarheit zu sorgen. Tatsächlich ist die Frage berechtigt, warum er diese einführt, wenn es der Prozess der Synthetisierung zweier Wahrneh­ mungsmodi selbst sein soll, der das wesentliche Ereignis darstellt. Unser bisher betontes Verständnis von symbolischer Referenz als Synthese, die sich von einer gemeinsamen Basis aus ergibt, wird durch die Einführung der Begriffe von Symbol und Bedeutung (und sei es nur in der eingangs erläuterten formalen Definition) teilweise torpediert. Es wäre durchaus möglich gewesen, hierfür einen neutra­ len Terminus zu wählen. So hätte vermieden werden können, dass wir doch verführt sind, aus unserem gewohnten Denkschema heraus Symbol und Bedeutung als zwei separate Entitäten zu verstehen, die über eine abstrakte Relation miteinander verbunden sind – also all die Irrtümer in Whiteheads Konzept zu tragen, die er eigentlich aufheben möchte. Warum nimmt Whitehead eine solche Irritation in Kauf? Wir nehmen an, dass es Whiteheads Absicht war, mit der Ein­ führung der Begriffe Symbol und Bedeutung und mit der Definition seines Synthetisierungsprozesses als Verschmelzung von Symbol und Bedeutung eine Brücke zu schlagen zwischen zwei unterschiedlichen Mengen von Abstraktionen in zwei für den Menschen relevanten Lebensbereichen: Unsere Wahrnehmung von Symbolisierungen, wie wir sie in der Alltagsdefinition kennen, nämlich als kulturelle Sym­ bole mit Bedeutungen, soll hervorgehen als abstraktere Version aus unserer Wahrnehmung von Alltagsgegenständen.

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Auch wenn symbolischer Bezug zwischen zwei Wahrnehmungs­ arten grundsätzlich in beide Richtungen hergestellt werden kann, so verläuft die gewöhnliche Richtung des Übergangs in der Alltagspraxis doch »von der weniger primitiven Komponente als dem Symbol zu der primitiveren Komponente als der Bedeutung« (SY 69/70). Das heißt zumeist, eine Sinneswahrnehmung als Symbol integriert eine Wahr­ nehmung von damit verbundenen Kausalwirkungen als Bedeutung. Der symbolische Bezug [ist], auch wenn er in der komplexen mensch­ lichen Erfahrung beide Richtungen nimmt, hauptsächlich als die Erhel­ lung von Wahrnehmungsgegenständen in der Weise der kausalen Wirksamkeit durch die fluktuierende Einwirkung von solchen in der Weise der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit zu denken (PR 333).

Eine solche Richtung ist vor allem pragmatisch begründet: »Der Grund, weshalb im allgemeinen die projizierten Sinnesdaten als Symbole verwendet werden, ist, dass sie handlich, definit und leicht verwendbar sind« (SY 115/116).332 Symbole sind die uns direkt zugänglichen Elemente, die uns helfen, durch ihre Bedeutung die Welt um uns herum für uns greifbar und uns selbst damit handlungs­ fähig zu machen. Mit dieser Funktion ist es einleuchtend, dass der symbolische Übergang zumeist von definiten Sinneswahrnehmungen als Symbolen zu diffusen Wirkwahrnehmungen als Bedeutungen ver­ läuft: Das primär sinnliche Symbol fördert die mit ihm verbundenen aber verborgenen, kausal wirksamen Strömungen zutage.333 Dies ist der Fall, wenn wir als Symbole unmittelbar präsente Sinneserfahrun­ gen wie Formen, Farben oder Geräusche mit Bedeutungen im Sinne bestimmter Verwendungsweisen verbinden, also Alltagsgegenstände wie den gemütlichen Sessel wahrnehmen. Dies ist auch der Fall, wenn wir auf einer abstrakteren Stufe Alltagsgegenstände mit Bedeutungen im Sinne von Botschaften verbinden, also kulturelle Symbolisierun­ gen wie die Friedenstaube oder die Nationalhymne wahrnehmen.

332 Vgl. SY 121: »Die Funktion dieser [symbolischen] Elemente ist es, definit, hand­ habbar und reproduzierbar und auch mit ihrer eigenen emotionalen Wirksamkeit aufgeladen zu sein.« Vgl. PR 341: »In allgemeinen sind die Symbole leichter verfügbare Elemente unserer Erfahrung als die Bedeutung.« 333 Vgl. SY 128: »Der symbolische Ausdruck instinktiver Kräfte zieht diese mühsam ans Licht.«

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5.2.3.2 Wirksamkeit in der Bedeutung – Bedeutung als Bedeutsamkeit Wir haben von der Tatsache gesprochen, dass die gleichzeitige Welt als die schneller greifbare sich den Sinnen gewissermaßen aufdrängt. Damit wird sie automatisch zum Ausgangspunkt für symbolische Referenz, zum Symbol – und lässt für die Bedeutungsseite die Welt der kausalen Wirksamkeit übrig. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, der im Sinne der organistischen Philosophie für diese Richtung der Übertragung mit der entsprechenden Zuordnung von Symbol und Bedeutung spricht. Man kann Whitehead derart interpretieren, dass er mit seinem Begriff »Bedeutung« selbst eine Verschmelzung vorgenommen und zwei konzeptionelle Fliegen mit einer Begriffsklappe geschlagen hat. Er verwendet nämlich neben dem genannten formalen Begriff »Bedeutung« in der Interpretation als ›Endpunkt der Verweisung‹ auch einen materialen Begriff »Bedeutung« in der Interpretation als ›Bedeutsamkeit‹. Es kristallisiert sich heraus: Bedeutsamkeit stellt für Whitehead einen wesentlichen Motor aller Geschehnisse im Kleinen, im Großen und hier im menschlichen Alltag dazwischen dar. Bezogen auf die menschliche Wahrnehmung charakterisiert er – im Kontrast zur Erfahrung der präsentativen Unmittelbarkeit, die sich als »intrinsically meaningless«334 erweist – die Wirkerfahrung inhaltlich als Erfahrung einer »deep significance«, der ein intensiver erlebnismäßiger Gehalt, eine Werterfahrung, eine Bedeutung im Sinne von Bedeutsamkeit zugeschrieben wird.335 In bestimmten Bereichen des Alltagslebens, in unseren Abnei­ gungen und Vorlieben, im Erfahren von Kunst und Poesie entwickeln wir ein unbestimmtes Empfinden für Wert: »Wert ist ein Element, das die poetische Sicht der Natur ganz und gar durchdringt« (SMW 114). In diesem Kontext muss »Wert« nicht einmal präziser als ethischer oder ästhetischer Begriff definiert werden – wichtig ist: Es geht um etwas. Nun hat Whitehead diesen »Wert, den wir im Rahmen des menschlichen Lebens so leicht erkennen, [einerseits] auch auf die Textur der Realisierung an sich übertragen« (SMW 334 Wir erinnern uns: Intrinsisch bedeutungslos sind die präsentativen Wahrneh­ mungen, weil sie aufgrund der Gleichzeitigkeit ja in keinem Kausalverhältnis zuein­ ander und zum Wahrnehmenden stehen können. 335 Vgl. Lachmann 2000a.

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114) und ihn andererseits dem Symbol als dessen Bedeutung an die Seite gestellt. Damit garantiert er über die allgemeine prozessphiloso­ phische These hinaus, dass der Prozess der symbolischen Referenz selbst Element der Entstehung der Realität als kreativer Selbst- und Weltwerdungsprozess ist336, die Möglichkeit eines naturalistischen Ansatzes. Wir dürfen schließlich nicht vergessen: Die grundlegenden Prozesse der Wirklichkeit sind jene der Erfahrung von bedeutsamen Wirkungen und Übergängen, sind die in ihrem vektoriellen Charakter elementaren emotionalen Relationen. Es ist das Wesen der Wirklich­ keit, dass es ihr »um etwas geht«. Wirksam zusammenzuhängen bedeutet immer (und sei es auch nur auf eine im Nexus schwache, verblasste Weise) auch, von Fühlensprozessen durchzogen zu sein. Meist verlassen wir uns im Handeln, Denken, Planen und im Umgang miteinander auf Informationen, die wir über unsere fünf Sinne über­ mittelt bekommen – meinen wir. Doch wenn wir genau hinschauen (oder besser gesagt: hinfühlen), scheint noch etwas Anderes unsere Aktionen zu beeinflussen: Beim Anblick von Hundewelpen entfleucht manch ernstem Zeitgenossen ein verzücktes »Ooooohhh...«; den falschen Gasmann lassen wir trotz Ausweis nicht in die Wohnung, weil wir bei ihm so ein komisches Gefühl haben; wenn jemand unsere zur Begrüßung ausgestreckte Hand nicht ergreift, sind wir beleidigt oder zumindest irritiert; zur Fußballweltmeisterschaft hängt manch einer die Nationalflagge aus dem Fenster und zittert gemeinsam mit bisher Unbekannten bei jedem Spiel der »Mannschaft«. Zusätzlich zu den nackten Informationen, die wir aus der Sinneswahrnehmung direkt aufnehmen, vibriert in all diesen Situationen nämlich noch etwas im Hintergrund mit: Es sind die Wirkerfahrungen, die feinen emotionalen Verbindungsfäden, die ein Netz weben, in dem wir mit der Welt verbunden sind – und eben auch miteinander. Als Organis­ men in einer organistischen Welt sind wir stets eingebettet in die diffuse Wirkmächtigkeit der (unmittelbaren) Vergangenheit, in eine dichte Menge an verborgenen Emotionen und kausalen Einflüssen – ob wir das nun gerade wissen oder meist eben nicht. Wenn nun also in den allermeisten Fällen im Zuge symbolischer Referenz durch Gegenstände der Sinneswahrnehmung als Symbole der Charakter der dazugehörigen kausalen Wirklichkeit und emotio­ naler Tönungen zutage gefördert wird, dann ist die mesokosmische Bedeutung des Symbols tatsächlich auch in ursprünglichster Weise 336

Vgl. Rohmer 2017.

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durchzogen von mikrokosmischen Bedeutungserfahrungen. Aus den bisherigen Erläuterungen kristallisiert sich die These heraus, dass Whitehead eigentlich nur der Form halber von einer Umkehrbarkeit von Symbol und Bedeutung spricht und dass auf der Bedeutungsseite immer ein Hauch kausaler Wirksamkeit mitschwingen muss. Das erklärt auch, warum Symbolisierungen für uns Menschen und für unser Handeln eine nicht wegzudenkende Bedeutsamkeit entwickeln können: Der Prozess der symbolischen Referenz, in dem diese Wirkerfahrungen und Emotionen durch Symbole aus dem Wahrneh­ mungsbereich der präsentativen Unmittelbarkeit aufgefangen und domestiziert werden, macht sie für uns als die Bedeutungen dieser Symbole erkennbar. Indem Symbole uns auf eine praktikable Weise eine Abstraktion von jenem massiven Wirkhintergrund anbieten und ihn gleichzeitig in der symbolischen Referenz für uns ans Licht brin­ gen, helfen sie uns zu einem gleichsam handfesten wie umfassenden Eindruck von uns und der Welt in der Gesamtheit ihrer Kräfte. Whitehead fasst diese Konzeption im Kapitel II.7 vom SY unter der Überschrift »Akkurate Definition und Wichtigkeit« zusammen: In der symbolischen Referenz erzeugt die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit mehr oder weniger akkurat definierte Sinnesgegenstände, die in der Funktion als Symbol die darin auch enthaltenen kausal wirkenden, emotionalen Elemente transportieren und für uns aufbereiten. In diesem Sinne gilt, Bedeutung wird durch die Symbole nicht erzeugt, sondern »die Symbole entdecken337 die Bedeutung für uns« (SY 116). Dies gilt nicht nur für das menschliche Individuum und seine Umwelt, sondern auch für die Menschen als Gemeinschaft. Symbole, die wir als Mitglieder einer Gruppe teilen und auf die wir uns in Interaktion miteinander beziehen, taugen auch dazu, die in ihnen enthaltenen affektiven Tönungen zu teilen, gemein­ sam zu erleben und ein Gespür für Gemeinschaft zu entwickeln – aber bei Bedarf auch als Objekte der Vernunft kritisch zu reflektieren.

5.2.3.3 Symbolsystem Sprache und Bedeutung Nun haben wir gerade die Seite der Bedeutung als grundsätzlich affektiv getönt herausgestellt, da stolpern wir in Bezug auf Sprache in SY über folgende Aussage: »Wörter und Wendungen haben zusätzlich 337

Kursiv durch die Verfasserin.

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

zu ihrer bloßen Bedeutungsindikation eine umhüllende Suggestivität und eine emotionale Wirksamkeit« (SY 125). Auch in AI findet sich eine entsprechende Formulierung: »In Anbetracht des ästhetischen Phänomens der Literatur [ist] daran zu erinnern [...], dass durch Spra­ che nicht nur objektive Bedeutungsinhalte, sondern auch subjektive Formen vermittelt werden« (AI 436) – wobei die subjektiven Formen im Gegensatz zur reinen Datenübermittlung für eine individuelle Wertung zuständig sind. In MT schreibt Whitehead der Sprache neben der Übermittlung von »Identitäten [...], auf denen Wissen basiert« (MT 81), einerseits und dem emotionalen Ausdruck, der »jene Besonderheit des Bezugs zur Umgebung voraussetzt, welche die Essenz der Existenz ist« (MT 81), andererseits überdies die Funktion der Signalisierung zu. Diese kann als Spezialform von Bedeutungsin­ dikation verstanden werden.338 Wir fragen uns: Wenn Bedeutungsindikation so wie bisher angenommen doch immer schon mit Emotionalität verbunden sein soll – wieso hält Whitehead es an den genannten Stellen dann für notwendig, die immanente Emotionalität und subjektive Formung sprachlicher Symbolisierungen über die Bedeutungsindikation hinaus noch einmal extra zu betonen? Müssen wir unsere Interpretation von Bedeutung revidieren, da Whitehead hier auch ausdrücklich von rei­ ner Wissensübermittlung spricht? Nein, denn Whitehead betont, so unser Verständnis, hier lediglich zwei Seiten derselben Medaille. Mit diesen Bemerkungen wird kein prinzipieller Gegensatz hergestellt zwischen (neutraler) Bedeutung im Sinne reiner Fakten einerseits und Emotionalität andererseits. Ganz im Gegenteil ist dies der Hinweis darauf, dass eigentlich in uns allen ein Poet steckt, der Wörter auch immer ästhetisch empfindet. Dieser Poet gleitet unter den Sachzwän­ gen des Alltags und hinter der Notwendigkeit, Sachinformationen übermitteln, empfangen und strukturieren zu müssen, nur häufig aus unserem Bewusstsein. Die alltagspraktisch sinnvolle Funktionalisierung von Symbolen im Allgemeinen und von Sprache im Besonderen hat folgenden Nachteil: Das wie bisher erläuterte bedeutsame emotionale Element ist bei den sehr geläufigen alltäglichen Symbolisierungen häufig Vgl. MT 79. Eine implizite Kategorisierung verschiedener Bedeutungsaspekte und Symbolfunk­ tionen nimmt Whitehead also durchaus vor, eine entsprechende Explikation scheint er allerdings nicht für notwendig zu halten. 338

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verblasst und in unserem Handeln nicht aktiv präsent. Wir könnten uns der Tiefe eines Symbols über den reinen Informationsgehalt hinaus bewusst werden und dabei auch auf einen emotionalen Gehalt stoßen. Im Alltag sind wir aber zumeist stärker von der pragmati­ schen Ordnungsfunktion der Symbole beeinflusst und handeln an der Oberfläche einfach, ohne viel zu spüren oder zu denken. Ein solches Handeln, das ursprünglich symbolisch konditioniert ist, dann aber aus Gewohnheit wie eine direkte Reaktion auf reine Tatsachen erfolgt, nennt Whitehead Reflexhandeln.339 Die Kommunikation mittels Sprache ist für dieses Reflexhandeln ein typisches Beispiel: Wir assoziieren mit einem gehörten Wort häufig direkt eine bestimm­ te Bedeutung im Sinne einer Sachinformation und nehmen diese auch als Basis für unser Handeln, schneiden dabei aber quasi die Verkettungen kausaler Wirksamkeiten und Emotionen, die hierzu geführt haben, ab.340 Auf jeden Fall gibt es aber stets eine »Kette von symbolischen Bezügen« (PR 340), durch welche die Ereignisse im wahrnehmenden Menschen, das Ereignis der Wortäußerung und die Ereignisse, auf die sich das Wort bezieht, miteinander verbunden sind. Whitehead verwendet in diesem Kontext den Begriff »Assoziation« mit dem expliziten Hinweis darauf, dass hierbei die Verkettung der kausalen Zusammenhänge nicht bewusst präsent ist und dass das Verstehen einer Bedeutung daher als unwillkürliche Verknüpfung höchstens auf der Kenntnis aktueller Konventionen oder auf Intuition zu basieren scheint. Dennoch hat jedes Wort seine ganz eigene Entste­ hungsgeschichte, die auch mit der Geschichte individueller Menschen und der Gemeinschaft von Menschen zusammenhängt, die das Wort verwenden und die auch die darin enthaltenen Emotionen prägt.341 In diesem Sinne fungiert Sprache – so Whitehead in MT – »als Ausdruck der Vergangenheit eines Menschen in seine Gegenwart hinein. Sie Vgl. Kapitel 5.2.4 dieser Arbeit. Vgl. SY 141. 341 Vgl. SY 142: »Ein Wort hat eine symbolische Assoziation mit seiner eigenen Geschichte, mit seinen anderen Bedeutungen und mit seinem allgemeinen Stellenwert in der aktuellen Literatur. Daher gewinnt ein Wort eine emotionale Signifikation aus seiner emotionalen Geschichte in der Vergangenheit, und diese wird auf die Bedeutung im gegenwärtigen Gebrauch symbolisch transferiert.« Vgl. AI 402: »Die Sprache legt ihr Zeugnis gleichsam in drei Kapiteln ab: über die Bedeutung der Wörter, über die Bedeutungen, die sich in grammatischen Formen verkörpert haben, und schließlich noch in einem dritten über Bedeutungen, die über einzelne Wörter und grammatische Formen hinausreichen und sich auf geheimnis­ volle Weise in den Meisterwerken der Literatur offenbaren.« 339

340

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ist die Reproduktion in die Gegenwart von Sinnesdaten, die eine enge Beziehung zu den Realitäten der Vergangenheit« (MT 75) und damit eben auch zur Wirklichkeit haben. Bei Menschen derselben Sprachgemeinschaft kann die über den Sachgehalt hinausgehende mitschwingende Bedeutung von Worten differieren, je nachdem, aus welcher Region die damit zusammenhängenden Erinnerungen und gedanklichen wie emotionalen Verknüpfungen stammen. Whitehead illustriert dieses Phänomen am Beispiel der Asso­ ziationen, mit denen die Bedeutung von Heimatliebe in dem Wort »Nation« für einen Amerikaner beziehungsweise Engländer eingewo­ ben ist. Auf jeden Fall bedeutet »Nation« ›Heimat; Gegend, aus der jemand stammt und in der er sich verwurzelt fühlt‹. Unabhängig von der spezifischen Nation impliziert »Nation« zumeist auch ein Gefühl der Verbundenheit mit der Geografie und den Menschen der entspre­ chenden Gegend. Dieses Gefühl ist beim einen assoziiert mit der Weite eines großen Kontinents, beim anderen mit der Abgegrenztheit eines kleinen Eilands. In der Literatur, die ihre Wirkkraft gerade aus der Bedeutung von Sprache jenseits reiner Informationsübermittlung gewinnt, kann dieses jeweilige Gefühl durch entsprechende naturpoe­ tische Zeilen zum Leben erweckt werden.342 In der Sprache finden sich also besonders deutlich sowohl Ele­ mente von Rationalität als auch von Kreativität wieder: Sie begeg­ net uns in einer Gebrauchsanweisung oder einer wissenschaftlichen Abhandlung genauso wie in einem Gedicht. Dieses Merkmal von Sprache, in einer besonders dichten Weise Sachinformationen und Emotionen zwischen Individuen übermitteln zu können, veranlasst Whitehead, Sprache trotz sehr abstraktem und artifiziellem Charakter 342 Vgl. SY 126/127. In MT betont Whitehead den großen pragmatischen Nutzen von Sprache durch die leichte Verfügbarkeit sprachlicher Ausdrücke und weist ebenfalls auf die Prägung und Festigung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch die wiederholte Verbindung mit bestimmten Erfahrungen, die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in diesem Zusammenhang machen: »Das Hauptkennzeichen der Sprache besteht darin, dass sie jene Elemente der Erfahrung benutzt, die innerhalb des bewussten Erlebens am leichtesten abstrahierbar und eben darum in der Erfahrung am besten reproduzierbar sind. Durch die fortwährende Benutzung im menschlichen Alltag werden diese Elemente mit ihren Bedeutungen assoziiert, die eine Vielfalt menschlicher Erfahrung umfassen« (MT 76). Die »fortwährende Benutzung«, durch die Bedeutungsassoziatio­ nen entstehen, ist dabei nicht als reine Gewohnheit im humeschen Sinne zu verstehen, sondern als eine Betonung und Hervorhebung von kausal-emotionalen Elementen, die durchaus auf wirkliche Vorgänge zurückgeführt werden können.

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als wichtigstes Symbolsystem des Menschen zu bezeichnen, das wesentlich zum Fortschritt der Zivilisation beigetragen hat. Er spricht von Sprache auch als paradigmatischer Symbolisierung, ohne die die Menschheit nicht leben kann.343 In der Untersuchung menschlicher Sprachverwendung werden die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von Symbolisierungen, die in ihrer Vermittlerrolle zwischen endlichem Menschen und unend­ lichem Universum einen ständigen Balanceakt zu leisten haben, besonders deutlich: Es gibt »keine Sprache, die mehr als elliptische wäre, so dass ein Überspringen der Phantasie hinzukommen muss, um ihre Bedeutung in ihrer Relevanz für die unmittelbare Erfah­ rung zu verstehen« (PR 49). Nicht immer aber springt der fantasie­ volle Interpretationsfunke tatsächlich auch über: Wenn zum Beispiel sprachliche Kommunikation eben einmal nicht funktioniert, wenn Missverständnisse entstehen oder wenn es partout nicht gelingen will, eine besondere Erfahrung in passende Worte zu kleiden, sind die Grenzen von Sprache (oder zumindest die Grenzen bestimmter sprachlicher Ausdrücke, die eventuell einer kritischen Reflexion und Revision bedürfen) erreicht. Diese Erfahrung hat Whitehead nicht zuletzt selbst machen müssen, denn seine Ausführungen zur Sprache als Gegenstand und als Instrument der Philosophie sowie besonders seine so eigenen wie eigenwilligen philosophischen Termini haben auch viele kritische Stimmen laut werden lassen.

5.2.3.4 Bedeutungsverstärkung in den subjektiven Formen Wie stark wir welche Art Emotionalität in die Symbolisierungen integrieren und als Bedeutung darin empfinden, hängt auch davon ab, wie die jeweilige Datenverarbeitung im Detail ausfällt. Der sym­ bolische Transfer von Emotionen findet zum einen statt aus jener Vergangenheit, die die Sinneseindrücke mit sich bringen, also von den affektiven Tönungen der elementaren Wirkprozesse aus der sinnlich wahrgenommenen (oder bei Worten erinnerten und imaginierten) Region. Bei einer schlecht funktionierenden Symbolisierung können sie gehemmt werden oder aus Gründen der Gewöhnung (vor allem bei Alltagsgegenständen) verblassen. In unseren Wahrnehmungsprozess aufgenommen werden diese Kausalitäten jedenfalls als objektivierte Daten. In Übereinstimmung mit unseren subjektiven Zielen verarbei­ 343

Vgl. SY 61.

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ten wir die Daten weiter. Mit dem Entschluss, einen Symbolisierungs­ prozess zu erleben, ist natürlich bereits ein subjektives Element an der Wahrnehmung beteiligt – dasjenige, was wir bereits kennen und das Rohmer (2017:179) die »Konstruktion des Konstrukteurs« im Wahrnehmungsprozess nennt. Abgesehen davon kann zum anderen in der subjektiven Form der Wahrnehmung aber noch eine weitere, mehr oder weniger stark ausgeprägte emotionale Wertung stattfin­ den: Wirkempfinden und Emotionalität werden intensiviert, wenn die affektiven Tönungen in der subjektiven Form als wichtig bewertet, betont und ergänzt werden. Diese Weise der Bedeutungsentstehung im Zuge symbolischer Referenz erläutert Whitehead allerdings erst in AI (435–438) – bis dahin müssen wir mit der vagen Ahnung auskommen, dass auch er einen erwähnungsbedürftigen Unterschied zwischen der Bedeutung einer farbigen Gestalt als Stuhl und einem Musikstück als Nationalhymne sieht. Einem umfassenden Verständ­ nis von Bedeutung nach werden im Zuge symbolischer Referenz emo­ tionale Kausalität und affektive Tönungen also in zwei verschiedenen Weisen und Phasen transportiert: Erstens werden zu Beginn des Pro­ zesses jene emotional getönten Wirkerfahrungen als objektive Daten integriert, die aus dem gemeinsamen Ort mit den entsprechenden Sinnes-Präsentationen stammen. Zweitens werden alle wahrgenom­ menen Daten zum Abschluss des Prozesses in die subjektive Form eingebunden und im Zuge dessen umsortiert, bewertet und in ihrer emotionalen Wirkung abgeschwächt oder verstärkt. Besonders deutlich wird die emotionale Seite der Bedeutung als stark präsente subjektive Form bei Riten und Musik. Vor allem Musik kann aufgrund der Beteiligung des gesamten Körpers an der Auf­ nahme und Verarbeitung der akustischen Schwingungen Emotionali­ tät in einem hohen Maße übertragen. Welche Bedeutung beim Spüren und Hören der Musik konkret entsteht, hängt neben der Wirkung der objektivierten Daten, die aus Art und Anzahl der Instrumente, Tonart und ähnlichem herrühren, nun auch von der subjektiven Form ab, davon, wie das Individuum diese Daten empfindet und persönlich bewertet. Symbolisierungen entstehen aus einer Schnitt­ menge zweier Wahrnehmungsweisen, von denen die eine direkten Zugang zur kausalen Wirklichkeit hat; im Extremfall von Artifizialität einer Symbolisierung ist die erforderliche Schnittmenge nur noch über Gemeinsamkeiten bei den Wertungsweisen in den subjektiven

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Formen verschiedener Mitglieder einer Gemeinschaft zu finden.344 Durch eine starke Übereinstimmung im Empfinden verschiedener Individuen beim Wahrnehmen einer bestimmten Symbolisierung, zum Beispiel beim Hören desselben Musikstücks, kann diese eine besonders stark ausgeprägte verbindende Funktion erfüllen. Mit der Nationalhymne ist eine Komposition, ein Musikstück (das selbst bereits als Symbolisierung im Übergang von Tonfolgen zu einer bestimmten Melodie verstanden werden kann) zu einem Symbol geworden – mit der Bedeutung von Heimatliebe und Zusammenge­ hörigkeit. Im symbolischen Erfassen wird ein Übergang geschaffen von der Abfolge von Tönen zu einer bestimmten Art Emotionalität, die in diesem Lied mitschwingt und die wir in der subjektiven Form unseres Empfindens besonders betonen. Auf der Basis eines gemein­ samen Erfahrungshintergrundes, bestehend aus Geografie, Klima, Atmosphäre, bereits etablierten Ideen und Ritualen, folgend also im Zuge gemeinsamer kultureller Prozesse findet eine sehr ähnliche Empfindung und Wertung in der subjektiven Form vieler Individuen einer Gesellschaft statt. Die Nationalhymne als Symbol fängt in Text, Melodie, Tempo und Rhythmus die Schwingungen ein, die wir als Mitglieder einer Nation in gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen teilen und in denen wir daher pathetisch, heimatliebend und gemeinschaftlich fühlen. Diese Gefühle bringt die Hymne als ihre Bedeutung ans Alltagslicht. Im guten Fall haben wir so die Möglichkeit, diesen Gefühlen einen Platz zu geben, sie mit einer positiven Idee wie jener des gegenseitigen Respekts zu verknüpfen und uns zum Wohle der Gemeinschaft zu verhalten – im schlechten Fall verleitet sie einige von uns dazu, Fremde(s) abzulehnen und Flüchtlingsheime anzuzünden. Darum ist es besonders wichtig, die Chance zu nutzen, die durch Symbole zutage geförderten Gefühle, ihre Funktionen und Folgen mit der Vernunft zu analysieren, die damit verbundenen Ideen kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls Verhaltensweisen zu modifizieren sowie Symbole zu revidieren oder zu verwerfen.

5.2.3.5 Genese von Symbol und Bedeutung Wir wissen jetzt, wie Symbol und Bedeutung funktionieren. Ange­ sichts der Freiheit zur Herstellung von symbolischer Referenz muss 344

Vgl. Kapitel 5.2.3.4 dieser Arbeit.

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nun aber noch geklärt werden: In welchen Fällen wird symbolische Referenz erzeugt? Immer dann, wenn etwas eine besondere Bedeut­ samkeit für uns erlangt – dann werden aus dem empfundenen Bereich bestimmte Details in der Weise der präsentativen Unmittelbarkeit so hervorgehoben, dass damit das massive Wirkfeld der Bedeutung für uns herausgestellt und in seiner Wichtigkeit betont wird. Das ist aber nur die halbe Miete. Wie kommt es dazu, dass sich Symbole dann auch als solche etablieren? In SY geht Whitehead von der Annahme aus, dass eine Genese von Symbolen und ihrer Bedeutung dadurch stattfindet, dass »die Natur während des langen Verlaufs der Anpassung lebender Wesen an ihre Umgebung ihre Verwendung lehrte« (SY 116), sprich, dass sich die in einzelnen Fällen immer wieder existente Schnittmenge zwischen den beiden Wahrnehmungs­ weisen in der symbolischen Referenz durch Empirie herausgestellt und uns ins Bewusstsein gerufen hat. Im Kontext ist diese Aussage vor allem auf die Entwicklung des menschlichen Körpers bezogen, die nach Whitehead in einer Weise verlaufen ist, dass im Normalfall über die Sinnesorgane Wahrnehmungen transportiert werden, deren Ursprung so tatsächlich in der Natur auch existiert (und es die grünen Grashalme der von uns gesehenen Wiese so auch wirklich gibt). Mit einer solchen Synchronisierung von Körper, Umwelt und Sinneser­ fahrungen ist der erste Schritt dahin getan, auf dieser Basis auch eine allgemeine naturalistische Deutung von Anpassung, Gewöh­ nung und Konvention im Symbolisierungs- und Interpretationsakt zu entwickeln. Damit gilt diese Synchronisierung hauptsächlich für Symbolisierungen im Verständnis von Gegenständen der alltäglichen Sinneswahrnehmung. Wie aber sieht es mit Symbolisierungen auf höherer Stufe aus, die auf diesen Sinnesgegenständen aufbauen oder sich auf diese beziehen, wie zum Beispiel sprachliche Ausdrücke oder abstrakte Ideen? Whitehead spricht den Aspekt der Gewöhnung (die nicht als humesche Gewohnheit verstanden werden darf, da es hier um die Gewöhnung an eine wirkliche Beziehung und nicht um die Konstruk­ tion von Beziehungen aus Gewohnheit geht) auch in MT mit Bezug auf die Genese von Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke an: Das Hauptkennzeichen der Sprache besteht darin, dass sie jene Ele­ mente der Erfahrung benutzt, die innerhalb des bewussten Erlebens am leichtesten abstrahierbar und eben darum in der Erfahrung am besten reproduzierbar sind. Durch die fortwährende Benutzung im

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menschlichen Alltag werden diese Elemente mit ihren Bedeutungen assoziiert, die eine Vielfalt menschlicher Erfahrung umfassen (MT 76).

Die Vielfalt der Erfahrung, aus der die Bedeutung gebildet wird, ist dabei zu verstehen als jene des Erlebens und Erinnerns kausaler Wirksamkeiten und emotionaler Einflüsse aus der Umwelt, wie wir es im Beispiel der Bedeutung des Begriffs »Nation« erläutert haben. Nun muss allerdings genauer geklärt werden, worauf sich Whiteheads oben zitierte Aussage bezieht. Leichter reproduzierbar beim Wahrnehmen einer bestimmten Region, die wir als Wald wahr­ nehmen, ist die Sinneswahrnehmung der Strukturen, die Anordnung von Stöckigem, Blättrigem, Puscheligem, Grünem. Darin schwingt mit das Gefühl einer Melange aus Natürlichkeit, Frische, Schatten, Ruhe, Wildnis. Hier sind wir aber erst beim Wald als Sinnesgegen­ stand. Wieso hat sich hierfür nun das Wort »Wald« und nicht das Wort »Brolf« etabliert? Will man Whiteheads gemäßigt realistischen Ansatz auch auf der Sprachebene erhalten, so müssen einander er­ gänzende Annahmen gemacht werden: Erstens entsteht die Welt fortwährend aus den stattfindenden Wahrnehmungsprozessen auf allen Ebenen. Das impliziert, dass die fortwährende Benutzung von Worten ihre Bedeutung im Sinne des Hervorbringens von Welt wirklich erzeugt (und nicht im klassisch subjektivistischen Sinne als Produkt der Geisteswelt konstruiert).345 Diese Erklärung des Wahrnehmens von Bedeutung als durch sprachliche Symbole initi­ iertes Hervorbringen von Ereignissen, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen, reicht aber noch nicht aus: Zwei­ tens müssen es solche Ereignisse sein, die mit der Wahrnehmung von sprachlichen Symbolen, z. B. mit dem Hören eines bestimmten Klangs eng zusammenhängen: Wenn die Bedeutung des Wortes ein Geschehnis ist, dann wird die­ ses entweder direkt, als ein erinnerter Wahrnehmungsgegenstand in einem früheren Ereignis im Leben des Wahrnehmenden erkannt, oder dieses Geschehnis wird über seinen raum-zeitlichen Nexus mit direkt erkannten Geschehnissen nur vage erkannt (PR 340),

aber eben doch gespürt. Durch das Wort »Wald« wird ein Wald symbolisiert im Hervorrufen des Erinnerungsprozesses an einen 345 »Jeder Erlebensvorgang ist ein Vorgang innerhalb der Welt, und die Welt ihrer­ seits ist in allen Vorgängen in ihr enthalten« (AI 405) – das gilt auch für das Erleben von Symbolen und Bedeutungen.

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dinglichen, bereits wahrgenommenen Wald, der wiederum als Sym­ bolisierung für die blättrige, dunkel-frische, stöckige Erfahrung eben­ diese tatsächlich als wirkliches Element enthält. Dies ist der individuelle Weg, über den Sprech- und Hörereig­ nisse die mit ihnen verbundenen Bedeutungsereignisse erzeugen. Um Kommunikation zu ermöglichen, brauchen wir nun aber noch eine Übereinstimmung in der subjektiven Form unterschiedlicher Wahrnehmender als whiteheadsches Pendant zur klassischen Kon­ vention. Es muss also Wörter geben, die sich besser dazu anbieten als andere, bestimmte emotionale Schwingungen zu transportieren und bestimmte einander ähnliche Ereignisse zu erinnern – und das eben auch interindividuell. Diese Wörter etablieren sich im Laufe der Menschheitsgeschichte zum Ausdruck dieser Schwingungen. Hierzu passt auch Whiteheads These, dass gesprochene Sprache eine grö­ ßere Nähe zur Wirklichkeit besitzt als geschriebene Sprache: Bei gesprochener Sprache ist der menschliche Körper in einem wesentlich direkteren Maße an der Erzeugung und Wahrnehmung des Symbols »Wort« beteiligt als bei geschriebener Sprache. Durch Intonation, Akzent, Lautstärke können in der gesprochenen Sprache daher fei­ nere Bedeutungsnuancen mitschwingen, in denen die Verbindung zu wirklichen Ereignissen offenbar wird.346 Bei onomatopoetischen oder formikonischen Wörtern ist zumindest noch die Verwandtschaft zu den einfacheren Symbolisierungen, auf die sie sich beziehen, erkenn­ bar: Der Kuckuck heißt so, weil er so klingt, das T-Shirt heißt so, weil es so aussieht. Gelungen sind Wörter, die so gestaltet sind, dass sie das »Aufblitzen von Einsichten« (AI 400) in die Beschaffenheit der Wirklichkeit ermöglichen. Nachdem nun ausführlich die emotionalen Aspekte von Symbo­ lisierungen herausgestellt worden sind, kommen wir auf ihren Aspekt der Ordnung zurück und darauf, dass sich in ihnen auch die Ideen der Menschen manifestieren; Ideen, die sich nach und nach aus dem praktischen Leben herauskristallisieren und die – durch Bewusstsein, Verstandestätigkeit und Symbolisierungen höherer Formen wie Spra­ che oder Logik abstrahiert und bearbeitet – den weiteren Fortschritt der Zivilisation vorantreiben. Wie machen Symbolisierungen Ideen bewusst? Im Laufe der Entwicklung einer Gemeinschaft bilden sich gemeinsame Verhaltensweisen heraus, die auf Symbolisierungen basieren und in denen emotionale Stimmungen ausgedrückt werden. 346

Vgl. PR 339/340.

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In diesen Stimmungen ist der Keim für eine Idee angelegt. Der Intellekt einiger Menschen erkennt – so Whitehead in AI – die in der symbolischen Kanalisation bestimmter Emotionen aufblitzende Idee als darin bereits eingefangenes Strukturelement und expliziert diese. »Ideen entstehen aufgrund einer inneren Verwandtschaft mit gewissen menschlichen Funktionsweisen, die sich schon lange vor ihnen herausgebildet haben« (AI 437). Wenden wir Whiteheads Erklärungsansatz auf ein Beispiel an: So wird aus den gemeinschaft­ lich zelebrierten Bewegungsmustern und Rhythmen, angeregt durch die Freude über die ersten warmen Frühlingstage und das Ende des entbehrungsreichen Winters, in der irisch-keltischen Mythologie das Beltane-Fest als Feier des Lebens und Ausdruck für die Idee von Stärke und Fruchtbarkeit. Aus der zum Ende des 19. Jahrhun­ derts unterschwellig immer stärker gärenden Unzufriedenheit der amerikanischen Arbeiterschaft mit den herrschenden Arbeitsbedin­ gungen entsteht die konkrete Idee eines Streiks zur Durchsetzung des Acht-Stunden-Tages, aus der sich eine Etablierung entsprechender Rituale wie den Demonstrationen zum Ersten Mai und die allgemeine Idee der Arbeiterrechte entwickelt. Der späteren Institutionalisierung dieses Demonstrationstages als gesetzlicher Gedenk- und Feiertag im Sinne eines Symbols für die Anliegen der Arbeiterschaft liegt dann sicherlich auch die Intention zugrunde, durch eine derart gesellschaft­ lich etablierte Symbolisierung der entsprechenden Idee Raum und Ausdruck zu geben, ihr aber gleichzeitig die Kraft zur Sprengung der gesellschaftlichen Ordnung zu nehmen.347 Menschen drücken in ihrem individuellen und gemeinschaftli­ chen Verhalten also mehr oder weniger bewusst bestimmte Erfahrun­ gen, Bedürfnisse und Anliegen aus, die durch die Vernunft erfasst und als Idee artikuliert werden können. Whitehead bezeichnet in AI das Erfassen einer Idee einerseits und ihren Ausdruck andererseits als zwei verschiedene »Verhaltensweisen« oder »Modi des Erlebens« und die Verknüpfung zwischen einer Idee und ihrem Ausdruck als »Interpretation«. Wenn er definiert, dass sich zwei Modi des Erlebens wechselseitig dann interpretieren, »wenn es einen beiden gemeinsa­ men Erlebensfaktor gibt, der bei jeder Aktivierung des einen wie des anderen Verhaltensmusters realisiert wird« (AI 438), dann erinnert uns das stark an seine Definition von symbolischer Referenz. Unser 347 Eine Intention, die in Deutschland einige Mitglieder der Gesellschaft mit Krawal­ len zum Revolutionären Ersten Mai zu demontieren versuchen.

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Ansatz ist es, diese Parallele derart aufzufassen, dass die Interpreta­ tion des Ausdrucks durch Ideen in dem Fall erfolgen kann und erfolgen sollte, in dem uns unsere Symbolisierungen bewusst werden, in dem wir um sie wissen und über sie nachdenken können. In Symbolisierungen treffen wir also auf mesokosmischer Ebene die Prinzipiendualismen von Aufbruch und Ordnung, Kreativität und Rationalität wieder. Zur Wirksamkeit von Symbolisierungen im einen oder anderen Sinne ist es notwendig, dass sie mit Handlungen verbunden werden. Wie stellt sich Whitehead den Zusammenhang von Symbolisierungen und menschlichem Handeln in einer konkre­ teren Weise vor als nur durch den allgemeinen Verweis auf das ontologische Prinzip: »Sein bedeutet Aktivsein«?

5.2.4 Instinkthandeln, Reflexhandeln und symbolisch konditioniertes Handeln Wir laufen versehentlich gegen den Laternenpfahl – und wir jaulen auf. Instinkthaft. Die Ampel springt auf Rot – und wir stoppen. Reflexhaft. Wir kaufen unserem kleinen Sohn ausgerechnet keine rosafarbene Hose. Symbolisch konditioniert. Wenn wir an der Ampel, statt zu stoppen, sobald wir das rote Licht sehen, erst in uns hin­ einspüren, ein rotstoppgebietendes Empfinden aus der Region des Ampellichts wahrnehmen, die Wirkung der Farbe Rot als »Achtung!« signalisierend verstehen und über die Unterschiede im Verkehrsfluss zwischen Ampel- und Kreisverkehrsregelung nachdenken würden, während wir weiterfahren, könnte dies unsere letzte Handlung gewe­ sen sein. Ein direktes Handeln als Reaktion auf die Symbolisierung der roten Ampel ist in diesem Fall also definitiv sinnvoll, um den Fort­ bestand der Menschen zu sichern. In anderen Fällen hingegen kann es für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft förderlich sein, sich der emotionalen Hintergründe, die in der Bedeutung bestimmter Symbolisierungen mitschwingen und die unser Handeln beeinflus­ sen, nicht nur bewusst zu werden, sondern diese auch zu hinterfragen. Was empfinden wir, wenn wir Rosa als Mädchenfarbe und Blau als Jungenfarbe verstehen und welche Folgen hat eine solche symbolische Distinktion nicht nur für den individuellen kleinen Jungen, der mit der Lieblingsfarbe Rosa als verkehrt stigmatisiert wird, sondern auch für unser generelles Gesellschafts- und Menschenbild?

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Whitehead verbindet die Einführung des Konzepts der symbo­ lischen Referenz mit Ansätzen einer Handlungstheorie – dies ist eine naheliegende Konsequenz, wenn sowohl die Wahrnehmung im Modus symbolischer Referenz als auch das aus der Metaphysik transportierte Motto »Sein bedeutet Aktivsein« essenzielle Elemente des mesokosmischen Menschen sind. Die These, Symbolisierungen spielten eine wichtige Rolle in der Organisation und Gestaltung gesellschaftlichen Lebens, wird plausibler durch Erläuterungen zu der Frage, wie sich Symbolisierungen auf das alltägliche menschliche Handeln auswirken. Man könnte bemängeln, dass die von Whitehead skizzierten Ansätze einer Handlungstheorie sehr rudimentär bleiben, vielleicht aber ist aus Whiteheads Sicht das Wesentliche zum mensch­ lichen Handeln bereits mit den metaphysischen Grundlagen und einer Herleitung aus diesen etabliert. Eine mögliche Handlungstheorie fin­ det ihre Basis in der metaphysischen Grundannahme der selbst- und gleichzeitig fremdschöpferischen Aktivität wirklicher Einzelwesen als Superjects (PR), wird aus diesen heraus auf den Menschen und die menschliche Gesellschaft übertragen (AI) und endet mit dem Blick auf die Vervollkommnung jeglicher Aktivitäten in der »Ernte tragischer Schönheit« (AI 511), der das Universum als Ganzes entgegenstrebt. Wenn als Motor für die Aktivität wirklicher Einzelwesen die Selbstvollendung in der Erfüllung des subjektiven Ziels angegeben wird, dann fehlt zu einer Handlungstheorie der soziale Aspekt. Erin­ nern wir uns aber an die Charakterisierung eines wirklichen Einzelwe­ sens als Spiegel des Universums, das dessen Prinzipien exemplifiziert, dann ist es legitim, in der Erfüllung des eigenen subjektiven Ziels auch ein Fraktalteilchen universeller kosmischer Ziele zu sehen. Der soziale Aspekt des Handelns wäre demnach das Aufgehen aller indi­ vidueller Ziele in einer übergeordneten Gesamtheit (wobei der eigene Charakter bewahrt wird). Auch auf der mesokosmischen Ebene der menschlichen Gesellschaft erfolgt nicht nur eine Koexistenz, sondern vielmehr eine gegenseitige Befruchtung der Erfüllung individueller Ziele einerseits und der Herstellung und Erhaltung von Gemeinschaft mit ihren überindividuellen Zielen andererseits.348 Auf jeden Fall gilt: Die Grundstruktur der Welt ist Aktion – und auch der Mensch definiert sich in Aktion, definiert sich durch sein Handeln. Whitehead Ziel aller menschlichen Handlungen ist letztendlich die Annäherung an das Wahre, Schöne und Gute – ein Ziel, das sich aus dem Charakter des Universums ergibt. In AI werden diese Elemente ausführlich behandelt, im Kontext dieser Arbeit können sie nur angerissen werden. 348

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differenziert drei Arten des Handelns: rein instinktive Aktion, Reflex­ handeln und symbolisch konditioniertes Handeln. Diese Handlungs­ weisen können ganz grob den drei Wahrnehmungsweisen im Modus der kausalen Wirksamkeit, im Modus der präsentativen Unmittel­ barkeit und im Modus symbolischer Referenz zugeordnet werden. Symbole in ihrer sozialen Funktion können sowohl mit der Absicht verwendet werden, Reflexhandeln auszulösen, als auch, symbolisch konditioniertes Handeln anzuregen. Das instinktive Handeln ist die primitivste der drei menschlichen Handlungsweisen, die deshalb zutreffender eine Re-Aktion genannt wird.349 Unter einer instinktiven Handlung versteht Whitehead die Reaktion eines Organismus auf kausale Einwirkungen, es handelt sich hierbei also um eine reine kausal induzierte Reaktion350 , um das uns aus Whiteheads ontologischen Grundannahmen bekannte physische Erfassen. Dieses physische Erfassen von Prozesseinheiten unterein­ ander erfolgt in den einfachsten Zusammenschlüssen und ist als reine Repetition von Mustern aus der Vergangenheit allen anorganischen Substanzen eigen. Als »unmittelbare Anpassung an die unmittelbare Umgebung« (SY 137) garantiert der Instinkt ein großes Maß an Stabilität. In dieser Interpretation hat auch der Stein einen Instinkt. Beim Menschen können Reaktionen auf kausale Einwirkungen zum Beispiel ein Schmerzensschrei, ein Blinzeln, das Zerschlagen von Geschirr in einem Moment übermächtiger Wut, ein Stolpern und Straucheln sein. Das symbolisch konditionierte Handeln stellt gegenüber dem Instinkthandeln die komplexeste Handlungsweise dar und ist zu fin­ den bei hochentwickelten Organismen, die zur Herstellung und Ana­

Weber weist darauf hin, dass in der Forschungsliteratur zumeist der Reflex als primitivste Aktion angenommen wird und beim Instinkthandeln bereits eine komple­ xere Gehirnstruktur vorausgesetzt wird: »According to anthropology, ethology and physiology, reflex action – not instinct – is the most primitive action while instinct involves more complex brain circuitry« (Weber 2016:363). Mit Weber nehmen wir an, dass diese terminologische Abstufung bei Whitehead keine weiteren Gründe hat, als dass er den Instinktbegriff einfach so weitgefasst interpretiert, dass dieser die Aktionen beschreibt, die noch fundamentaler als sein Verständnis von Reflexen sind: »In sum, the only explanation for Whitehead’s inversion of instinct and reflex seems the fact that since, by definition, the reflex arc requires a central nervous system to be implemented, a broadened concept of instinct is required in a full process worldview« (Weber 2016:363). 350 Vgl. SY 136/137. 349

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lyse symbolischer Referenz fähig sind351 , sprich, die im Optimalfall auch dazu in der Lage sind, die massive Wahrnehmung der kausalen Wirksamkeit durch das Verschmelzen mit Sinnes-Präsentationen als Bedeutung von Symbolen der Vernunft zur Analyse bereitzustellen. Im Zusammenhang mit der Funktion von Symbolisierungen für das menschliche Handeln betont Whitehead hier besonders das Zutage­ fördern der affektiven Tönungen durch die Sinnes-Präsentationen. Neben der Betonung des Gefühls erfolgt so aber auch die Präparation der wirklichen Welt in einer Weise, in der sie weiterführend als Objekt des menschlichen Denkens behandelt werden kann.352 Auf diese Weise der Loslösung von der reinen Instinktbestimmtheit ist es dem Menschen möglich, nicht nur direkt zu (re-)agieren, sondern auch eine langfristig ausgerichtete Analyse der besonderen Umstände sei­ ner Umgebung vorzunehmen und mögliche Aktionen entsprechend anzupassen. Symbolisch konditioniertes Handeln ist in besonderer Weise geprägt von der Kanalisierung der hintergründigen, emotiona­ len Seite des Wahrgenommenen und von ihrer Bereitstellung für die Vernunft. Es zeigt sich in Fansymbolen wie dem Fortuna-Schal, der vielzitierten Nationalhymne, der Einführung des Veggi-Days, der Farbwahl beim Kinderhosenkauf – wenn dabei über Sinn und Unsinn der jeweiligen Symbolisierung nachgedacht werden kann oder diese zumindest bewusst als solche benutzt wird. Wenn jemand versteht, dass die Metapher vom ›vollen Boot‹ Angst vor dem Verlust seines Wohlstandes in ihm erzeugt, wird ihm dadurch auch ermöglicht, in dieses Gefühl bewusst hineinzuspüren – und darüber nachzudenken, ob es tatsächlich mit der Wirklich­ keit seiner Lebenssituation und der Verhältnisse in seinem Land übereinstimmt. Er muss den Brandsatz also nicht reflexhaft in die Flüchtlingsunterkunft werfen, sondern hat auch die Möglichkeit, dies zu lassen. Es ist auch möglich, Handlungsoptionen grundsätzlich symbolisch abstrahiert durchzuspielen und zu proben (mit einer Pro- und Kontra-Liste, mit einer mathematischen Berechnung, mit einer wissenschaftlichen Hypothese), um eine angemessene Hand­ Vgl. SY 138/139: »Symbolisch konditioniertes Handeln ist daher ein durch die Analyse des Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit konditioniertes Handeln. Diese Analyse wird durch die symbolische Transferenz ausgehend vom Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit herbeigeführt.« 352 Denken und Vernunft sind beides Übersetzungen für Whiteheads »reason« und werden hier synonym verwendet. 351

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

lungsstrategie zu entwickeln. Dies wäre dann nicht nur symbolisch konditioniertes Handeln, sondern darauf aufbauend sogar – im Sinne Deweys – symbolisches Handeln.353 Mittels Symbolisierungen kann also auch eine Planbarkeit und Systematisierung von Handlungen erzeugt werden – damit sind wir wieder bei einer Verbindung von Kreativität und Rationalität, diesmal mit einer Betonung des ratio­ nalen Aspekts. Das erinnert an FR, dort schreibt Whitehead der Vernunft die Funktion zu, dem Menschen in einem kreativen, dis­ sonanten, von Auflösungserscheinungen durchzogenen Universum geordnetes Fortschreiten zu ermöglichen. Auf diese Parallele weist auch Berve hin: »Das Anpassen der eigenen Aktionen an die Umwelt in einem symbolisch konditionierten Handeln ist genau das, was in die Funktion der Vernunft als ›Methode‹ eingeführt wurde – die Möglichkeit, als handelndes Subjekt selbst mit der eigenen Umwelt zu interagieren« (Berve 2015:160). Die Reflexion von Symbolisierungen und ein daraus resultierendes Handeln befördert also wesentlich den zivilisatorischen Fortschritt, denn es ermöglicht Strukturierung, langfristige Planung und Revision überholter Annahmen. In diesem Handeln sind wir vor Irrwegen nicht gefeit, da dem Denken als sehr abstrakter Funktionsweise des menschlichen Geistes Fehler unterlau­ fen können354, Irrwege aber gehören zum Fortschritt dazu. Auch Reflexhandeln ist eigentlich ein aus Symbolisierungen entstehendes Handeln, bei dem allerdings durch eine ausgeprägte Etablierung bestimmter Symbole die »symbolische Erhöhung der kausalen Wirksamkeit verworfen« (SY 140) wird. Es erfolgt ohne Denken direkt eine (fast) automatische Reaktion auf die Sinneswahr­ nehmungen: Die Ampel springt auf Rot – und wir stoppen. Jede 353 Vgl. Dewey (1998:153): »Mit Hilfe von Symbolen, ob nun Gesten, Worten oder ausgefeilteren Konstruktionen, handeln wir, ohne zu handeln. […] [Wenn der Mensch] die Handlung ganz für sich in Symbolen probt, kann er ihr Ergebnis antizipieren und einschätzen. Und auf der Grundlage dessen, was antizipiert und nicht in Wirklichkeit da ist, kann er offen handeln oder nicht handeln.« Die Auswirkung der Entwicklung sehr abstrakter Symbolsysteme wie der Mathematik, die von Zufäl­ ligkeiten und Wildwüchsen mancher Alltagssymbolisierungen bereinigt worden sind, schätzt Dewey hierbei ähnlich wie Whitehead ein: »Die Erfindung technischer Sym­ bole [Mathematik und Logik] bedeutet die Möglichkeit eines Fortschritts des Denkens von der Ebene des gesunden Menschenverstandes zur Ebene des wissenschaftlichen Denkens« (Dewey 1998:154). 354 Die meisten Fehler allerdings passieren laut Whitehead gar nicht im Denken, sondern bereits eine Stufe vorher beim Herstellen symbolischer Referenz selbst, hierzu mehr im Kapitel 5.3 dieser Arbeit.

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effektive Referenz auf das symbolisierte Ding wird in einer solch unmittelbaren Reaktion unterbunden. Wir unterdrücken, übergehen oder übersehen das Empfinden der dahinterstehenden Wirksamkeit und praktizieren in diesem Sinne einen »Ausschluss der Bedeutung« (SY 132), so dass diese für uns nur vage im Hintergrund mitschwingt. Reflexhandeln findet also statt, wenn symbolische Referenz derart verarbeitet wird, dass die Seite der Sinneswahrnehmungen überbe­ tont und die Seite der Emotionalität vernachlässigt wird. Da Denken als Vorgang der Analyse der symbolischen Beziehung notwendiger­ weise die Dominanz der symbolischen Referenz verstärkt, wird »Re­ flexhandeln durch das Denken [...] behindert« (SY 139). Andersherum werden beim Reflexhandeln Denkprozesse ausgeschaltet oder erst gar nicht zugelassen, was in bestimmten Fällen für den reibungslo­ sen Ablauf des Miteinanders gerade sinnvoll ist. Obwohl Reflexhan­ deln also einen »Rückfall hinter die hoch entwickelte Aktivität der symbolischen Referenz« darstellt, der »bei Abwesenheit bewusster Aufmerksamkeit praktisch unvermeidbar« (SY 140) ist, benötigen die höher entwickelten Arten lebendiger Gemeinschaften Symbolismen, die für die Gemeinschaft passende Reflexe auslösen können. Es bedarf einer regelmäßigen Gewöhnung an Symbolisierungen, damit sie Reflexhandeln hervorrufen. Whitehead nennt als Beispiel die exakten Abläufe und die militärische Disziplin in einer Kaserne355 , die unbedingt notwendig sind, damit Soldaten immer und unter allen Umständen auf Befehle richtig reagieren – zum eigenen Nachdenken wäre im kriegerischen Ernstfall gar keine Zeit. Wieso aber kann ein Reflex ausgelöst werden, wenn eine Unterdrückung der Bedeutung doch eigentlich auch ein Abschneiden der Verbindung zur Wirklich­ keit ist? Beim Reflexhandeln ist die Bedeutung zwar sehr vage, aber doch insistierend – und diese Insistenz hypnotisiert das Individuum zum Reflex, die Reaktion auf die Wirkung erfolgt unbewusst, wie automatisch – und deshalb teilweise umso stärker, denn Nachdenken ist ja unterbunden. Der Befehl in seiner Wirkung auf den Soldaten ist Whiteheads Beispiel eines Extremfalls: Hier fällt nicht nur das Nachdenken über die Symbolisierung weg, sondern auch der Bezug zum emotionalen Gehalt ist fast überhaupt nicht existent. Der Soldat soll weder denken noch fühlen, er soll einfach reagieren. Ein derart starkes Reflexhandeln wird allerdings im normalen Alltagsgeschäft einer Gesellschaft nur selten ausgelöst: 355

Vgl. SY 133/134.

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

Für den größeren Teil der Bürger eines Staates gibt es – abgesehen von wenigen Fällen, wie etwa der Reaktion auf die Anzeichen der Verkehrspolizei – praktisch keinen verlässlichen automatischen Ge­ horsam gegenüber irgendeinem Symbol, so wie es das Befehlswort für Soldaten ist (SY 134).

Die Übergänge zwischen Reflexhandeln und symbolisch konditio­ niertem Handeln sind fließend – ob das eine oder das andere erfolgt, hängt auch vom Grad der Konditionierung auf bestimmte Symbole ab. Die Emotionalität der kausalen Wirklichkeit ist in jeder Symboli­ sierung irgendwo vorhanden, wird aber wie erläutert in bestimmten Fällen der Wahrnehmung und in der Reaktion auf das Wahrgenom­ mene unterdrückt oder abgeschnitten. Zumeist ist jedoch durchaus ein Bezug zum kausalen Empfinden und zu entsprechenden Werten in den Symbolisierungen vorhanden. Wenn die symbolisch vermittelten Werte von den Mitgliedern einer Gesellschaft sehr ähnlich empfun­ den werden, zu den Zielen der Gemeinschaft als ganzer passen und dadurch auch eine allgemein verständliche Handlungsimplikation aufweisen, dann sind solche Symbolisierungen genau jene, durch welche die Gemeinschaft sich am besten organisieren kann. »Die Selbst-Organisation der Gesellschaft hängt von allgemein verbreite­ ten Symbolen ab, die allgemein verbreitete Vorstellungen hervorru­ fen und zugleich allgemein verständliche Aktionen anzeigen« (SY 134/135). Besonders gut taugt nach Whitehead hierfür die Sprache. Eine Gesellschaft, die sich nur auf etablierte Rituale und Reflexe verlässt, die aus Angst vor dem Unbekannten, das dem Abenteuer kreativen Denkens und Handelns immanent ist, auf ständige Wieder­ holung von Altbewährtem setzt, erstickt irgendwann im Muff ihrer Reglosigkeit. Doch auch eine Gesellschaft, die sich ständig neu erfin­ det, keinerlei richtungsweisende Regeln und durch Verbindlichkeit verbindende Normen etabliert, einen Wildwuchs von Symbolisierun­ gen nicht beschneidet und Innovation absolut über Konservation stellt, versinkt schnell im Chaos. Gesellschaften müssen also solche Weisen des Zusammenlebens entwickeln und durch entsprechende Symbolisierungen formen, die die Intensität des Erlebens steigern, neue Ideen zulassen und deren bedachte und bedächtige Realisierung ermöglichen. Für eine ausgewogene Balance zwischen Stabilität und Sicherheit einerseits sowie Kreativität und Fortschritt andererseits braucht eine Gesellschaft also Symbolsysteme, die eine Ausgewogen­ heit von Reflexhandeln und symbolisch konditioniertem Handeln

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ermöglichen, wobei sich letzteres gleichermaßen in Fantasiebeflü­ gelung und in Vernunftarbeit ausdrücken sollte. Reflexhandeln ist notwendig, um Orientierung und Stabilität im Alltag zu ermöglichen. Der Mensch neigt allerdings dazu, sein Handeln in bequemen Bah­ nen aus Gewohnheiten und altbekannten Vorurteilen schleifen zu lassen356 , so dass es häufig auch dann zu reflexhaften Handlungen kommt, wenn diese längst nicht (mehr) angemessen sind. Wenn wir zu sehr von emotionalen Kräften geleitet werden, ohne dass wir das Gespür für unsere Handlungsmotivation als hervorgehend aus der Wirkung und Bedeutung der Symbolisierung, auf die wir reagieren, aus dem Unbewussten hervorholen oder es umgehend wieder ins Unbewusste drängen, dann können wir die Zukunft nicht aktiv gestal­ ten. Wir brauchen also für frischen Wind und die Möglichkeit von Neuordnungen gleichermaßen Symbolisierungen, mit denen wir uns sowohl kreativ ausdrücken als auch die im Verborgenen wirkenden Strömungen für unsere Vernunft ans Licht befördern. Letzten Endes nämlich ist das Denken verantwortlich für die Herstellung einer Ordnung auf höherer Ebene: »Nur aktives Denken kann symbolisch konditionierte Handlungen vor einem schnellen Rückfall in Reflex­ handeln bewahren« (SY 140).

5.2.5 Allgemeine Funktionen von Symbolisierung Wir können zusammenfassen: Für die menschliche Sphäre von Indi­ viduum und Gesellschaft haben kulturelle Symbolisierungen zwei mal zwei – nur auf den ersten Blick widersprüchliche – Funktionen. Sie sorgen für Abstraktion und Konkretion sowie für Individuation und Zusammenhalt.

5.2.5.1 Abstraktion und Konkretion Merkmal hoch entwickelter Organismen ist ein kreatives Überschrei­ ten der Grenzen einer bloßen Reaktion auf ihre Umgebung. Im Laufe der Aufwärtsentwicklung haben sich »die höheren Lebewesen […] immer stärker der Aufgabe zugewandt, die Umwelt ihren Bedürfnis­ 356 Vgl. SY 127/128: »Meine Hauptthese ist, dass ein Sozialwesen durch die blinde Kraft instinktiver Aktionen und instinktiver Emotionen, die um Gewohnheiten und Vorurteile herum gruppiert sind, zusammengehalten wird.«

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

sen anzupassen« (FR 8). Die Höherentwicklung des Menschen ist also durch aktive Gestaltung seiner Umwelt, durch fortschreitende Abstraktion und Loslösung von den unmittelbaren Gegebenheiten seines Umfeldes erfolgt – dennoch braucht er immer wieder auch eine Rückbindung an seinen Ursprung, um begreifen zu können, was mit ihm geschieht. Für die Gestaltung dieser Ambivalenz hat er Symbolisierungen entwickelt. Symbole schaffen zwar einerseits eine gewisse Distanz zur konkreten metaphysischen Wirklichkeit, sind aber durchaus auch fähig, (beinahe) automatische Reaktionen des Menschen auf seine Umwelt zu erzeugen. Einerseits hilft der Abstrak­ tionsgrad von Symbolen dem Menschen, die diffus wirkende Welt zu sortieren, die darin verwirklichten Formen herauszustellen und damit handhabbar zu machen. Andererseits übernehmen Symbole auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft die Funktion, kausale Wirksamkeit im Sinne einer konkreten emotionalen Verbindung des Menschen mit seiner Umgebung und seiner direkten Vergangenheit zu vermitteln, wie sie vergleichbar auf der metaphysischen Ebene zwi­ schen den kleinsten ontologischen Prozesseinheiten der Wirklichkeit stattfindet. Diese durch Symbolisierungen ans Tageslicht beförderte emotionale Verbindung des Menschen mit der Welt kann dann je nachdem entweder zu Reflexen oder zu Reflexion, also zu einer höhe­ ren Form der Abstraktion führen. Durch Symbolisierungen wie zum Beispiel Mathematik oder Sprache als Mittel zur Abstraktion kann sich der Mensch von der direkten kausalen Wirkung seiner Umwelt auf ihn selbst emanzipieren; er kann seine Umwelt ordnen und handhabbar machen. Dies gilt vor allem für das Individuum (zum Bei­ spiel für die Wahrnehmung der Welt als eingeteilt in Gegenstände), dann aber auch interindividuell (zum Beispiel für die Kommunika­ tion durch Sprache oder für die Weiterentwicklung der Zivilisation durch wissenschaftliche Theorien). Aus dem direkten Einfluss seiner Umwelt heraus erlebt der Mensch eventuell den Eindruck, ›zu Hause mal wirklich eine Menge Zeug entrümpeln zu müssen‹ – mittels mathematischer Symbole gelingt es ihm, zu berechnen, wie viele Kartons er benötigt, um das Zeug wegzutragen. Das diffuse Gefühl des Unwohlseins nach dem Genuss einer ganzen Sahnetorte lässt sich zwar nicht direkt auflösen, aber immerhin besser einordnen, wenn der Arzt erklärt: »Sie haben sich den Magen verdorben!«. Auf gesell­ schaftlicher Ebene wird die direkte kausale Wirkung der Umgebung auf das menschliche Individuum also dadurch relativiert, dass der Mensch geistige Abstraktionsleistungen vollbringt und damit auch

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die Welt kategorisiert. Der Vollzug von Symbolisierungen bedeutet also auch Freiheit für das menschliche Individuum: die Freiheit, sich selbst zu erschaffen aus den Gegebenheiten der Umwelt und sich dabei gleichermaßen von ihnen loszulösen. Wie aber kann die direkte, ungefilterte Wirkung der Umgebung auf den einzelnen Menschen trotz Abstraktionen funktionieren? Auch dies geschieht durch Symbole, denn diese schaffen zwar einerseits eine gewisse Distanz zur Ungefiltertheit und Massivität der direkten Wirklichkeit, sind aber wie erläutert auch fähig, (beinahe) automati­ sche Reaktionen des Menschen auf seine Umwelt zu erzeugen. Das Hören eines Musikstücks erzeugt eine direkte emotionale Betroffen­ heit beim Hörer; auch das Bremsen an einer roten Ampel erfolgt reflexhaft, wie kausal verursacht. Es ist das sinnlich Präsente im Symbol, was uns die Welt sichtbar und hörbar strukturiert – und was uns zum konkreten Spüren der darin kanalisierten bedeutsamen Wirkkräfte bringt. Während wir eine verkehrsreiche Straße überqueren, sehen wir die Far­ ben der Autos, ihre Gestalten, die bunten Farben ihrer Benutzer. Aber in diesem Augenblick sind wir vollständig davon eingenommen, diese unmittelbare Schau als ein Symbol für die Kräfte, die die unmittelbare Zukunft determinieren, zu verwenden (SY 116).

Wir bleiben nicht einfach stehen und lassen das Schau- und Hörspiel auf uns wirken, sondern wir reagieren mit einer Interpretation der Symbole und mit entsprechenden Handlungen. Wir hören laut quiet­ schende Bremsen und weichen aus, weil wir den Zusammenstoß zweier Autos vorausahnen. Wir sehen die Rücklichter des Fahrzeugs vor uns aufleuchten und bremsen deshalb selbst vorsichtshalber schon einmal. Wir hören ein Martinshorn, sehen Blaulichter hinter uns und fahren an die Seite, um dem Krankenwagen eine Rettungs­ gasse freizumachen. Dies ist die Konkretion, die Symbolverwendung vollbringt: Wir erhalten, trotz der Entfernung von unserer direkten Umwelt durch zivilisatorische Errungenschaften, eine Anbindung an die kausalen Wirksamkeiten einer organistisch strukturierten Welt. Durch Symbolisierungen erfolgt also sowohl eine Loslösung, eine Abstraktion der menschlichen Lebenswelt von der direkten Gebundenheit an die Ereignisse auf ontologischer Basis – als

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dann wiederum auch eine Unmittelbarkeit, eine Konkretion direkter menschlicher Reaktionen in Beziehung zur Umwelt.357

5.2.5.2 Individuation und Zusammenhalt Auch das Funktionspaar von Individuation und Zusammenhalt358 haben wir bereits angesprochen. Whitehead verwendet als Beispiel, an dem er die Relevanz von Symbolisierungen für den Zusammen­ halt einer Gemeinschaft illustriert, die Nation in der Definition als geografisch begrenzte Gesellschaft. Dieses Beispiel hat mit dem Cha­ rakteristikum der geografischen Einheit für Whitehead den Vorteil, dass die Nation ein gesellschaftstheoretisches Äquivalent zu den gemeinschaftlichen Strukturen der ontologischen Basis (sprich der Verbindung von wirklichen Einzelwesen zu einem gemeinschaftli­ chen Nexus aufgrund ihrer Nachbarschaft) zu sein scheint: »Gemein­ schaften mit geographischer Einheit bilden den primären Typ von Gemeinschaften, den wir auf der Welt finden« (SY 123). Es ist mög­ lich, diese Aussage Whiteheads auf mesokosmischer Ebene im Sinne einer absoluten Legitimation geografischer Grenzen für die Defini­ tion der (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu interpretie­ ren und zu kritisieren. Ideologische Differenzen und Unterschiede im Lebensgefühl finden sich bei Menschen aus derselben Region bisweilen in einem stärkeren Maße als bei räumlich weit voneinan­ der getrennten Menschen aus ähnlichen sozialen Milieus, so dass Whiteheads Parallele zum geografischen Gemeinschaftskriterium auf ontologischer Basis ein wenig erzwungen wirkt. Heutzutage stellen nicht zuletzt Phänomene der Globalisierung territoriale National­ staatlichkeit als Gemeinschaftskriterium durchaus in Frage. Abgesehen hiervon aber finden sich tatsächlich einige von Whiteheads ontologischen Annahmen als Phänomene in der Beob­ 357 Abschließend zwei weitere Beispiele: Bezüglich der Doppelfunktion von Symbo­ len zwischen Konkretions- und Abstraktionsleistung liegt der Fokus einer symboli­ schen Logik auf der Funktion der Abstraktion, religiöse Symbole hingegen sorgen in ihrer direkten emotionalisierenden Wirkung eher für Konkretion. Symbolisierung in unserer Interpretation als ästhetischer Prozess mit der Doppel­ funktion von Abstraktion und Konkretion weist Ähnlichkeiten auf zu Deans Interpre­ tation der Ästhetik in ihrer Doppelfunktion als rationalistische und empiristische Ästhetik (vgl. Dean 1983). 358 Weber interpretiert ähnlich: »The cultural import of symbolism lies in the two complementary dimensions that it perfectly exemplifies: a symbol allows both the individuation and the solidarity of the members of a group« (Weber 2016:355).

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achtung der menschlichen Alltagswelt wieder. Soziales Leben, wie es in menschlichen Gesellschaften organisiert werden muss, ist viel­ leicht im Menschen als Organismus unter Organismen angelegt, funktioniert aber bei Weitem nicht von alleine – vor allem auch, weil dem sozialen Aspekt der Drang zur Selbstverwirklichung des Indivi­ duums häufig entgegensteht. Es bedarf daher Symbolisierungen, die Gemeinschaft und Individualität gleichermaßen befördern können, um Einzel- und Gesamtorganismus gleichermaßen zu befördern. Auf metaphysischer Ebene ist in Whiteheads Konzept soziales Leben kein Charakteristikum höher entwickelter Lebewesen – im Gegenteil: Soziales Leben, bei Whitehead definiert als gemeinsames, ständiges Wiederholen der gleichen Muster in einer Gemeinschaft, ist der Grund für das lange Überdauern einfacher Gemeinschaften wie der von physikalischen Objekten. Bei höher entwickelten Organismen hingegen gibt es einen verstärkten Drang zu Individualität, Kreativität und Originalität. Höher entwickelte, lebendige Organismen streben nach Innovation und nach dem Ausbrechen aus gewohnten Mustern: Leben ist der Versuch von Organismen, Freiheit zu erlangen – [...] [der] Versuch, eine gewisse Unabhängigkeit der Individualität mit Eigeninteressen und Aktivitäten, die nicht vollständig hinsichtlich ihrer Verpflichtun­ gen gegenüber der Umgebung verstanden werden können, zu erlangen (SY 123/124).

So entsteht Fortschritt, der durch das metaphysische Urprinzip der Kreativität schon in der Welt selbst angelegt ist, so entstehen aber auch Gemeinschaft sprengende Kräfte, die zu einer Destabilisierung führen können. »Es gibt eine Revolte gegen die bloß kausalen Ver­ pflichtungen, die den Individuen durch den sozialen Charakter der Umgebung auferlegt werden« (SY 124). Diese Aussage ist sowohl auf individueller Ebene von Organismen im Allgemeinen und Menschen im Besonderen zu verstehen als auch auf der Ebene von Individuen als Teil einer Gesellschaft. Individuen bestehen aus einer Gemein­ schaft und aus einem Netz des Annehmens und Ablehnens anderer Individuen. Diese Individuen wollen sich verändern und in ihrer Entwicklung nach Neuem streben, das sie realisieren, indem sie neue Ideen aufnehmen und realisieren. Auf einer gröberen Ebene der menschlichen Gesellschaft gilt dies ebenso: Der einzelne Mensch ist auf die Gemeinschaft einer Gesellschaft angewiesen, will sich aber auch individuell weiter entwickeln. Als Konsequenz für das soziale

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5.2 Symbolisierungen als gesellschaftliche Gestaltungselemente

Leben einer menschlichen Gesellschaft gilt es daher, eine Balance zwischen Gemeinschaft und Individualität herstellen: »Wir benötigen sowohl die Vorzüge der sozialen Bewahrung als auch den entgegen gesetzten Anreiz der Heterogenität, der aus der Freiheit herstammt. Die Gesellschaft muss inmitten der Divergenzen ihrer Individuen reibungslos funktionieren« (SY 124). In der Gesellschaft werden aus diesem Grund verschiedene Formen des symbolischen Ausdrucks eingeführt, die das Individuum persönlich ansprechen, die aber zudem, wenn sich ein gewisses Maß an Konventionalität etabliert hat, zu ähnlichem Instinkthandeln der Menschen führen, wie es die Wahrnehmung im Modus der kausa­ len Wirksamkeit tut. »Die Reaktion auf das Symbol ist beinahe – aber [eben] nicht ganz – automatisch« (SY 124), daher kann mit gut gewählten Symbolen eine Balance von Anpassung und Freiheit, Stabilität und Kreativität gewährleistet werden. In diesem Sinne ist die Entstehung komplexer Symbolsysteme in einer Gesellschaft eine aus ihren Bedingungen resultierende natürliche Konsequenz und für ihr Funktionieren unabdingbar. »Die Gesellschaft hat anstelle der Macht des Instinkts, der die Individualität unterdrückt, die Wirksam­ keit der Symbole gewonnen, die zugleich das Gemeinwohl und den individuellen Standpunkt bewahren« (SY 125). Im Fußballstadion kann sich ein entsprechend interessierter Mensch als Individuum ausleben, indem er seinem Hobby frönt, seine Freizeit gestaltet, seinen Jobstress kanalisiert und in Anfeuerungsge­ sängen hinausbrüllt. Gleichzeitig können alle anwesenden Individuen das verbindende Element im gemeinsamen Singen der Vereinshymne spüren und sich als Fangemeinschaft zusammengehörig fühlen. Spra­ che, die deutlich die Funktionen von Informationsübermittlung und emotionalem Ausdruck in sich vereint, taugt vor allem als Literatur und Poesie ganz besonders dazu, den individuellen Träumen, Wün­ schen, Ansichten und Gefühlen des Sprechers oder Schreibers Gestalt zu verleihen. Inspiriert von der Tragkraft der Schwingungen in einer gelungen komponierten Gedichtzeile kann sich auch der Hörer oder Leser zur Entwicklung eigener Fantasien und Ideen beflügelt fühlen. Die affektiven Tönungen, die ein Gedicht in sich trägt und die es bei der Rezeption entfaltet, können darüber hinaus dem Lebensgefühl einer ganzen Gemeinschaft Ausdruck verleihen und die gesellschaftliche Stimmung einer Zeit einfangen – und dadurch zur Verarbeitung in der Gemeinschaft bereitstellen. Solch diffuse emotionale Mischungen wie beispielsweise jene aus Resignation, Sehnsucht und Revisionis­

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

mus nach dem Scheitern bürgerlicher Revolutionsversuche, wie sie die literarische Epoche der Romantik kennzeichnen oder jene der Ambivalenz von Endzeit- und Aufbruchsstimmung gegen Ende des Deutschen Kaiserreiches und Beginn des Ersten Weltkrieges, wie sie im literarischen Expressionismus verarbeitet werden, schwelen häufig im Untergrund und beeinflussen das individuelle Lebensgefühl wie auch die gesellschaftliche Atmosphäre. Durch die Manifestation dieser Schwingungen in der Sprache gibt Literatur ihnen einen Raum und macht sie damit für uns zugänglich – entweder einfach zum Nachspüren oder gar zum Darübernachdenken und Handeln. Indem Symbolisierung gleichzeitig das Individuum und die Gesellschaft in ihrer Entwicklung befördert, erinnert sie an den kreativen metaphysischen Prozess des »Fortschreiten[s] von einer Getrenntheit zu einer Verbundenheit, wobei ein neues Einzelwesen erschaffen wird, das sich von den in Getrenntheit vorhandenen Ein­ zelwesen unterscheidet« (PR 63) und gleichzeitig in einer Gemein­ schaft mit ihnen aufgeht. In den kulturellen Symbolisierungen ist Kreativität als menschliche schöpferische Kraft genauso enthalten wie als diversifizierendes und gleichzeitig einheitsstiftendes Urprinzip, durch das einzelne Prozesseinheiten zu neuen Prozesseinheiten und zu einem sich entwickelnden Universum zusammenwachsen. Dieser Zusammenhang wird noch stärker deutlich, fokussiert man sich auf Symbolisierungen in der Kunst, die eindeutig ästhetische und kreative Elemente beinhalten. Die Bedeutsamkeit von Symbolen, Kunst und Kreativität im üblichen anthropologischen Sinnes des Wortes für den Menschen und für den Fortschritt der Zivilisation rühren also auch daher, dass sie nicht nur über die Wahrnehmungsweisen im metaphysischen Fundament verankert sind: Es sind Entäußerungen und Exemplifikationen des metaphysischen Urprinzips der Kreativi­ tät, das mit der Vernunft Hand in Hand auf die Verwirklichung einer vollkommenen kosmischen Harmonie zustrebt. Die Synthese von Kreativität und Rationalität359, Aufbruch und Ordnung (als die sich übrigens auch die Kunst der Zivilisation und die Kunst selbst erweisen) findet sich also sowohl auf mikroskopischer 359 Rationalität ist im Prinzip der Kreativität durch die Teleologie und die Selbstver­ ursachung der Prozesseinheiten, konkret im Vorgang der Wertung mit dem Ziel einer Harmonie als durch den psychischen Pol realisiertes Ordnungsprinzip inbegriffen. Vgl. Rohmer (2001:37): »Kreativität, die Schaffung von Neuem ist aus Whiteheads Sicht überall dort rational, wo sie eine bestehende Werterfahrung zu maximieren, zumindest aber zu erhalten und zu bewahren versucht.«

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

metaphysischer Ebene als auch auf der konkreten mesokosmischen Ebene menschlichen Denkens und Handelns. Insgesamt gilt: »Die Kunst des Fortschritts besteht darin, im Rahmen des Wandels Ord­ nung und im Rahmen der Ordnung Wandel zu bewahren« (PR 606). Das ist dem Menschen möglich durch eine weise Auswahl, Festigung und Revidierung von Symbolisierungen. Hierfür ist es auch notwendig, Beurteilungskriterien für Wahrheit und Irrtum von Symbolisierungen an der Hand zu haben. Was also sind Wahrheit und Irrtum im whiteheadschen Sinne, welche Möglichkeiten zur Beurteilung der Wahrheit und der Güte von Symbolisierungen sind uns gegeben und wie steht es am Ende um das Verständnis eines konkreten Bezugs unserer Symbolisierungen zur Wirklichkeit der Welt als Ganzes?

5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz 5.3.1 Definition von Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Re­ ferenz Symbolisierungen können fehlerhaft sein und Irrtümer bergen. Der Irrtum kommt (neben den Propositionen) mit der symbolischen Referenz in die Welt. Die grundsätzliche Abhängigkeit der SinnesWahrnehmung von diversen Einflüssen wie zum Beispiel Müdig­ keit, Alkoholkonsum, Tagträumerei, das Vorkommen von Sinnestäu­ schungen, ein generell funktionsstörungsanfälliger Körper als Basis der Erfahrungsprozesse, interkulturelle Missverständnisse (zum Bei­ spiel bezüglich bestimmter Gesten), die Notwendigkeit einer Anpas­ sung überkommener kultureller Symbolisierungen an neue gesell­ schaftliche Umstände – all dies erfordert, Symbolisierungen darauf überprüfen zu können, ob sie ›der Wahrheit entsprechen‹ oder einem Irrtum erliegen. Bei Symbolisierungen liegt ein Irrtum vor, so definiert Whitehead in SY, wenn »ein bestimmtes ›direktes Wissen‹ in sei­ Vgl. Wiehl (1981:319): »Zum Begriff des Organismus gehört die Idee einer optimalen Verwirklichung der Vernunft in Form einer allseitigen und allumfassenden Kohärenz, das heißt, die Formidee einer relativ vollkommenen Anpassung der Teile des organis­ tischen Ganzen aneinander und an das Ganze, und einer entsprechend perfekten Abstimmung ihrer Funktionen aufeinander.«

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

ner Auskunft über die aktuale Welt mit dem bewussten Auffassen des aus der symbolischen Referenz hervorgehenden verschmolze­ nen Resultats nicht übereinstimmt« (SY 78) und die Symbolisierun­ gen daher »Handlungen, Gefühle, Emotionen und Meinungen über Dinge hervorrufen [...], die bloße Vorstellungen sind und ohne jede Exemplifikation dessen in der Welt, was uns die Symbolisierung annehmen lässt« (SY 66). Ähnlich formuliert Whitehead in PR, symbolische Referenz kann in dem Sinne irrig sein, dass das Empfinden [der Synthese] Gebiete des vergegenwärtigten geometrischen Orts mit Einflüssen aus der Vergangenheit in Verbindung bringt, die tatsächlich nicht dergestalt in die gegenwärtigen Gebiete übertragen worden sind (PR 336/337).

Es werden also falsche Bedeutungen erzeugt, indem Emotionen emp­ funden werden, die mit den Eindrücken aus der Sinneswahrnehmung eigentlich gar nichts zu tun haben.360 In PR wie auch in SY betont Whitehead, dass Irrtümer nicht erst im Zuge der begrifflichen Ana­ lyse, also als Fehler des Denkens entstehen, sondern bereits auf der Stufe der abgeleiteten Wahrnehmungen.361 360 Whitehead nimmt in diesen Passagen als Ausgangspunkt der Herstellung sym­ bolischen Bezugs (also als Symbol) eine Wahrnehmungserfahrung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit an und folgert, dass diese im Körper mit unzutreffen­ den Wirkerfahrungen aus der Vergangenheit synthetisiert werden (vgl. PR 333). Zwar ist diese Richtung der Symbolisierung (ob nun zutreffend oder nicht) die geläufige, Whitehead müsste aber aufgrund seiner rein formalen Definition der Beziehung von Symbol und Bedeutung auch annehmen können, dass im Irrtum Wirkerfahrungen den Eigenschaften eines Ort zugeschrieben werden, die so nicht in der reinen Weise der präsentativen Unmittelbarkeit wahrgenommen werden. 361 Als bezeichnend für Missverständnisse und für das Ausbleiben gedanklicher Vernetzungen in der Whitehead-Interpretation kann an dieser Stelle die bereits ange­ sprochene Untersuchung der whiteheadschen Erkenntnistheorie von Blyth (1941) genannt werden. Blyth behandelt symbolische Referenz als »unbewusste Wahrneh­ mung«. Erkenntnis, Wahrheit und Irrtum thematisiert er in einem Kapitel mit der Überschrift »bewusste Wahrnehmung«. Diese Unterscheidung ist so nicht ganz haltbar. Letztlich kommt es darauf an, wie man Whiteheads Begriffe »knowledge« und »consciousness« versteht. Bedürfte die Erkenntnis bei Whitehead eines Bewusstseins im Sinne einer hochkomplexen Denk- und Reflexionstätigkeit, so wäre Blyths Unter­ scheidung zutreffend. Reicht zu ersten Schritten der Erkenntnis – und diese Annahme macht Whitehead in SY zumindest implizit – allerdings eine Geistestätigkeit aus, die eine ›Bekanntschaft mit‹, ein ›Wissen um‹ herstellt, so ist Blyths Kategorisierung irreführend. Ein Versäumnis, der aus dieser Einteilung resultiert, ist, dass Blyth sich in seinem Erkenntnis-Kapitel auf Whiteheads Wahrheitskriterium der »Überein­

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

Die Fehlbarkeit von Symbolisierungen muss dabei mit der Kon­ stitution des menschlichen Körpers zusammenhängen, denn dieser ist die Grundlage, in der die Referenzprozesse stattfinden. Als Ort der Herstellung von symbolischer Referenz ist der Körper zwar unabdingbar, aber »als ein Instrument zur Synthese und Verstärkung von Empfindungen [dennoch] in dem Sinne mangelhaft [...], dass er Empfindungen erzeugt, die nur einen schwachen Bezug zu dem realen Zustand des vergegenwärtigten Zeitschnitts haben« (PR 337). Diese Erklärung leuchtet ein vor allem für Symbolisierungen im Sinne von Alltagsgegenständen, schwieriger stellt sich die Situation allerdings dar, wenn es um kulturelle Symbolisierungen geht. Erzeugt der Körper beim Hören der Nationalhymne ein Gefühl von Fremden­ hass, so mag man gerne vermuten, der Hörer sei nicht ganz bei Sinnen – eine Sinnestäuschung oder generelle Fehlbarkeit des Körpers im üblichen Verständnis ist das aber nicht. Wir müssen für diesen Fall annehmen, dass in den gesamten Daten, die zu dieser Symbolisierung synthetisiert werden, neben dem Empfinden der Melodie als Wahr­ nehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit auch die mit­ tels kausaler Übertragung erinnerte Erfahrung über den politischen Zustand des Heimatlandes und die emotionale Verfasstheit der Mit­ menschen inbegriffen sind. Diese körperlich emotionale Erinnerung kann dann tatsächlich irrig sein in dem Sinne, dass die Stimmung von Fremdenfeindlichkeit, die als Schwingung ankommt, in Wirklichkeit nur sehr schwach auch wirklich vorherrscht. Manchmal erweist sich der oben zitierte Bezug nicht nur als schwach, sondern auch als falsch: Eine Gestalt kommt auf uns zu und wir freuen uns, die Mundwinkel heben sich, der Puls beschleunigt und ein diffuses Netz von Emotionen und Erinnerungen an interessante Gespräche, einen speziellen Duft, ein besonderes Wohlgefühl macht sich in uns breit. Wir heben schon die Hand zum Gruß, die Gestalt kommt näher – und wir stellen fest: Die Sinnesdaten, die wir aufgrund einer Ähnlichkeit in Statur und Gang der Gestalt mit den genannten Erinnerungen und Gefühlen zu einer Symbolisierung verknüpft und mit der Bedeutung ›unsere beste Freundin‹ belegt haben, geben gar keine wirkliche Grundlage für diese Verbindung her, wir haben uns stimmung von Erscheinung und Wirklichkeit« bezieht, Symbolisierungen aber nicht erwähnt – obwohl jene Erscheinungen, in denen laut Whitehead häufig Irrtümer passieren, die Sinneswahrnehmungen sind, die als die geläufigsten Vorkommnisse von Symbolisierungen gelten (vgl. hierzu Kapitel 5.3.2.3 dieser Arbeit).

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

verguckt – und daher auch ›verfühlt‹. Wir bewundern ehrfurchtsvoll die kunstfertige Schnitzerei einer (industriell produzierten) Marien­ statue. Aus der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittel­ barkeit entsteht in uns tatsächlich die Gestalt der Figur, sowie wir sie bestaunen. Allein die Kette der kausalen Wirksamkeit reißt, denn auf diese Statue ist nie mit Handwerk eingewirkt worden. Irrtum. Beim Spüren eines Phantomschmerzes lokalisiert unsere Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz einen Schmerz im Bein. Der Schmerz ist in unserem Körper tatsächlich wirksam vorhanden. In der Region, der die Herkunft des Schmerzes zugeschrieben wird, ist aber keinerlei körperliche Ausdehnung auszumachen, unser Bein ist ab.362 Irrtum. Nun ist der Irrtum, so Whitehead, nicht grundsätzlich als nega­ tiv zu bewerten. Schließlich kann man diesen auch als Element kreativer Freiheit interpretieren, wohingegen der völlige Ausschluss des Irrtums sklavisches Eingebundensein in streng determinierende Verhältnisse bedeuten würde. Irrtümer stärken die Imaginationskraft und sie bereichern die Erfahrung um bisher noch nicht Dagewesenes. Vielleicht entsteht aus dem irrtümlichen Grüßen der fremden Person eine wunderbare neue Freundschaft. So exemplifizieren Irrtümer auch das universelle Grundprinzip der Kreativität als das Fortschreiten der Welt zu Neuem.363 In diesem Sinne ist für Whitehead »Irrtum [...] der Preis, den wir für Fortschritt zahlen« (PR 348). Die von der Ausein­ andersetzung mit Irrtümern geprägte Annäherung an die Wahrheit als ein wesentliches Thema von Whiteheads Wissenschaftstheorie findet sich übrigens auch in modernen wissenschaftstheoretischen Statements, so formuliert ganz ähnlich wie Whitehead der Astrophy­ siker Livio: Blunders are an essential part of the scientific process. Research is not a linear march to the truth but a zigzag path, involving trial and error. [...] Truly innovative ideas require a willingness to embrace risks, and acceptance of the fact that errors can be portals to progress. [...] Researchers must embrace blunders that come from thinking outside the box (Livio 2013:309/310).

362 Schmerz scheint eines der raren Beispiele zu sein für die Übertragungsrichtung einer Art Symbolisierung vom kausalen Wahrnehmen hin zur präsentativen Unmit­ telbarkeit. 363 Vgl. SY 78/79.

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

Unabhängig von der Bewertung des Irrtums scheint es aber ein Bedürfnis des Menschen zu sein, Wahrheit und Irrtum als Kategorien auf das Leben anwenden zu können, um sich darin zurecht zu finden. Vor allem für die Gestaltung und den Fortschritt der Zivilisation ist es laut Whitehead auch notwendig, Meinungen, Beschlüsse, Regeln und kulturelle Symbolisierungen im engeren Sinne überprüfen, revidieren oder verwerfen zu können. Wie also können Irrtümer in der Praxis festgestellt werden? Hierfür gibt es laut Whitehead grundsätzlich verschiedene Wege, je nachdem, nach welcher Art von Wahrheiten und Irrtümern man sucht, denn »Wahrsein ist also eine Eigenschaft, der Gattungscharakter zukommt, und die eine Vielfalt von Graden und Modi umfasst« (AI 424). Eine solch graduelle Bestimmung von Wahrheit erscheint im ersten Moment kontraintuitiv, ergibt sich aber, ähnlich wie die Bestimmung von Bewusstsein oder Leben, aus den Grundlagen der Organismusphilosophie. Sowohl in PR (336/387) als auch in SY (66,78) geht Whitehead davon aus, dass Irrtum in der Symbolisierung entsteht, wenn die vermeintliche Schnittmenge der beiden Wahrnehmungsweisen so nicht tatsächlich in der Wirklichkeit existiert, weil Elemente der einen oder anderen Weise darin gar nicht wie angenommen vorkommen. Er verwendet also eine Art Korrespondenzkriterium der Wahrheit, das er in AI die »Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklichkeit« nennt. Im Fall der vermeintlichen Freundin ist das Aufdecken des Irrtums recht wahrscheinlich, denn mit Näherkommen der Person werden mehr Daten aus der vergegenwärtigten Region verfügbar, die wir verarbeiten können und die bei Vorliegen eines Irrtums die Symbolisierung wieder zerfallen lassen: Gesichtszüge, Augenfarbe, die Art des Lächelns der Gestalt passen nicht zu unserer Freundin und hemmen die Aufrechterhaltung der Symbolisierung. Etwas schwieri­ ger wird es, den Irrtum zu erkennen, sollten wir auf ihre uns bisher unbekannte eineiige Zwillingsschwester treffen. Dann kann es aber vielleicht sein, dass unser Gefühl nicht zu der Erscheinung passt, dass die empfundene Verbundenheit nicht so groß ist wie sonst oder wir gar keine Lust verspüren, mit ihr um die Häuser zu ziehen: Die Wahr­ nehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit kann nicht halten, was die Symbolisierung verspricht, denn mit dieser Person haben wir noch keine gemeinsame Vergangenheit erfahren. Hier gilt dann doch ein Bivalenzprinzip beim Wahrheitswert, denn auch trotz anfänglicher Verwechslung stellt sich im Laufe des Erkennensprozesses heraus: Es ist die Freundin oder es ist nicht die Freundin – ›ein bisschen

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

Freundin‹ kann uns nicht entgegenkommen. Zweiwertige Wahrheit ist bei Whitehead also gar nicht ausgeschlossen, sondern nur ein ›Wahrheits-Modus‹ von mehreren. Nun gibt es aber eine Herausforderung: In vielen Fällen bleibt es unklar, wie wir Irrtümer nach Whiteheads Definition aufdecken können, denn ein Abgleich der Informationen aus den reinen Wahr­ nehmungsweisen ist für uns im Alltag eher selten möglich. In SY weist Whitehead selbst darauf hin, dass bei den meisten Symbolisie­ rungen, bei denen die Raumstellen kausaler Wirksamkeit ja durch die Sinnes-Präsentationen bestimmt werden, für jene wahrgenommenen Organismen, die dem menschlichen Körper äußerlich sind, faktisch die »involvierte räumliche Unterscheidung ihrer reinen kausalen Wirksamkeit so schwach [ist], dass es [...] praktisch keine Prüfung die­ ser symbolischen Transferenz364 gibt« (SY 138). Vereinfacht gesagt: Es ist uns im Normalfall in der Wahrnehmung nicht möglich, das sym­ bolische Gemisch nicht als homogen wahrzunehmen, es aufzulösen, das Empfinden der kausalen Wirkungen in der Symbolisierung von ihrer Lokalisierung durch die Sinnes-Präsentationen zu trennen und ihre reine Herkunft zu bestimmen. Wenn unsere Wahrnehmungen so gut wie immer im Modus der symbolischen Referenz stattfinden – welches Kriterium bleibt uns dann zur kritischen Überprüfung unserer Symbolisierungen und zur Entdeckung möglicher Fehler? Wann können wir eine Symbolisierung als wahr ansehen?365

364 Im dritten Kapitel von SY spricht Whitehead statt von »symbolischer Referenz« von »symbolischer Transferenz«, wir gehen davon aus, dass die beiden Begriffe synonym zu verwenden sind. Ersterer Begriff betont mit dem Fokus auf der Wahr­ nehmung von Alltagsgegenständen etwas stärker den Beziehungsaspekt zwischen den Wahrnehmungsweisen. Letzterer betont stärker den Aspekt des Übergangs, der für die Interpretation kultureller Symbole und ihrer Bedeutung eher ein intuitives Verständnis erzeugt. 365 In PR verwendet Whitehead die Begriffspaare »wahr« und » falsch«, » richtig« und » unrichtig« vor allem in seiner Erläuterung von Propositionen und Urteilen (Siehe PR 354/355). Eine solche Definition sucht man für Symbolisierungen vergeblich. Das Verhältnis von Propositionen zu Symbolisierungen ist im Detail unklar. Nehmen Symbolisierungen die Funktion des logischen Subjekts in Propositionen ein? Unter­ scheidet sich das Wahrsein der Propositionen von jenem der Symbolisierungen – und wenn ja: wie? Um diese Untersuchung nicht unnötig zu verästeln, lassen wir die Propositionen weiterhin außen vor und arbeiten mit den Textstellen, die Whitehead explizit zu Symbolisierungen verfasst hat.

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

5.3.2 Überprüfbarkeit von Irrtümern 5.3.2.1 Das pragmatische Kriterium Whitehead führt ein schwaches Wahrheitskriterium für Symbolisie­ rungen ein: ihre Nach- oder Vorteilhaftigkeit für das Alltagsleben.366 Eine solch pragmatische Rechtfertigung für die Korrektheit von Sym­ bolisierungen sieht er durch die Empirie bestätigt. »Die menschliche Erfahrung geht so oft mit symbolischem Bezug einher, dass es kaum übertrieben ist zu sagen, die eigentliche Bedeutung von Wahrheit sei pragmatisch« (PR 338). Demnach ist eine Symbolisierung kor­ rekt, wenn sie im Alltagsleben beständig vorteilhaft funktioniert. Hiermit ist zumindest jene Art Wahrheit erreicht, die sich bezüg­ lich bestimmter Symbole als Konsens unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft ergibt: Wenn jeder das Reichen der rechten Hand als Begrüßung versteht, sich dadurch willkommen fühlt und die Geste erwidert, dann funktioniert diese Begrüßungssymbolisierung korrekt und wahrhaftig. Andersherum würde keine Gemeinschaft dauerhaft mit Symbolisierungen existieren, geschweige denn voranschreiten können, die nicht funktionieren, die etwa für gravierende Missver­ ständnisse sorgen oder schädliche Handlungen evozieren.367 Etwas, das beständig funktioniert und mehr Nutzen als Schaden bringt, kann pragmatisch gesehen erst einmal nicht so verkehrt sein. Diese Wahrheitsdefinition zu Symbolisierungen erinnert stark an die Position des philosophischen Pragmatismus von Peirce (obwohl Whitehead diesen – anders als Bergson, James oder Dewey – zumindest in seinen philosophischen Werken nicht explizit erwähnt). Laut Peirce verarbeiten wir die Wahrnehmung der Welt in einem Gedankenfluss, denken aber können wir nur zeichenvermittelt. Den Gegenstand unserer Erkenntnis machen wir in einer kontinuierlichen Kette von Zeichen wie Bildern oder Wörtern greifbar. Bewertet wird ein Gedanke dabei nach seiner Konsequenz für die Praxis: Relevant ist, ob er eine in Wissenschaft oder Alltag als brauchbar angesehene Ver­ haltensweise erzeugt – und so konstituiert sich auch unsere Realität: Die Meinung, die vom Schicksal dazu bestimmt ist, dass ihr letztlich jeder Forschende zustimmt, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen, Vgl. PR 338: »Symbolik kann gerechtfertigt sein oder nicht. Der Maßstab für ihre Rechtfertigung muss immer pragmatisch sein.« 367 Vgl. SY 145/146: »Keine elaborierte Gemeinschaft elaborierter Organismen könnte existieren, wenn nicht ihre Symbolsysteme im allgemeinen erfolgreich wären.« 366

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und der Gegenstand, der durch diese Meinung repräsentiert wird, ist das Reale. So würde ich Realität erklären (Peirce 1991:205).

Bezogen auf den Zusammenhang von Zeichentheorie, Epistemologie und Metaphysik ist das Verhältnis von Whiteheads Symbolphiloso­ phie zum Pragmatismus und zu den philosophischen Ansätzen von Peirce von einer interessanten Ambivalenz geprägt.368 Zuerst einmal ist festzustellen, dass die Position des philosophischen Pragmatismus wesentlich komplexer ist, als sie in der häufig auf die Grundthese ›Wirklich ist, was funktioniert‹ verkürzten Darstellung einer relativis­ tischen Nützlichkeitsphilosophie zum Ausdruck kommt. Während sich in einer solchen Überspitzung Peirce und der Pragmatismus einerseits und Whitehead andererseits unvereinbar gegenüberstün­ den, fällt bei differenzierter Betrachtung eine inhaltliche Nähe von Whitehead zu Peirce auf. Gegen eine verkürzte Interpretation prag­ matischer Philosophie hat sich nicht nur Whitehead, sondern auch Peirce selbst gewandt.369 Beide gehen in ihrem Verständnis von Prag­ matismus über Erwägungen zur Nützlichkeit menschlicher Symboli­ sierungen im Alltagsleben hinaus und verknüpfen die Untersuchung ihres Funktionierens mit der Suche nach metaphysischen Strukturen, in denen sich eine Verbindung von Mensch und Universum heraus­ stellen lässt.370 Teilen beide also ein Anliegen, so unterscheiden sie 368 Einen Überblick über die Ambivalenzen im und die Forschungsliteratur zum Verhältnis von Whitehead und Peirce gibt Nubiola (2008). Lowe beschreibt das ambivalente Verhältnis der beiden Denker als »picture [...] of paths which, though touching at certain important points, were for the most part so separate that whoever thinks to make further explorations must choose the one and reject the other, and as he looks back at Peirce and Whitehead, he must then be ready to reconsider the significance of those similarities« (Lowe 1964:430). 369 Zur Abgrenzung bezeichnet Peirce seine philosophische Position später als »Prag­ matizismus«. Einer verkürzten Interpretation seiner Philosophie widerspricht er zum Beispiel in den Aufsätzen The Essentials of Pragmatism und Pragmatism in Retrospect: A last Formulation. 370 Auch Hampe weist in der Frage der Beziehung von Whitehead zu Peirce und zum Pragmatismus auf die Notwendigkeit einer Differenzierung hin: »Es ist […] notwen­ dig, hier zwischen den inhaltlichen Positionen auf der einen Seite und dem, wofür das Wort »Pragmatismus« teilweise in der amerikanischen Philosophie […] stand und steht, auf der anderen Seite zu unterscheiden. […] Dieses öffentliche Bild des Pragmatismus ist mit einer Philosophiekonzeption verbunden, die der Spekulation und dem Systemanspruch eine eindeutige Absage erteilt« (Hampe 1990:28/29) und die grundsätzlich Metaphysik eher ablehnt. Sowohl Whitehead als auch Peirce lassen sich ohne ihre – wenn auch unterschiedlichen – metaphysischen Überlegungen aber nicht vollständig verstehen.

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

sich doch in der Umsetzung. Whiteheads spekulatives Schema ist jene Metaphysik, die Peirce sicherlich zeitweise als kurios bezeichnet hätte; der Ansatz seiner eigenen Metaphysik, die sich vor allem als Suche von Mathematik und Logik nach Strukturen versteht, mit denen die Welt zu erfassen ist, klingt höchstens beim ganz frühen und ganz späten Whitehead an. Bei der Annahme einer welt- und wirklich­ keitsschaffenden Kraft von Symbolisierungen, in der Mensch und Universum miteinander verbunden sind, treffen beide dann aber wie­ der aufeinander. Whitehead nennt neben dem reinen »Überlebenswert« (SY 138) als pragmatische Kriterien auch noch die »logische oder ästhetische Selbstzufriedenheit« (SY 138). Eine mathematische Formel kann nützlich sein zur Statik-Berechnung einer Brücke; ein Kunstwerk kann dazu dienen, einen gesellschaftlichen Appell auszudrücken; eine Erfahrung kann helfen, einen Sachverhalt besser zu verstehen. Aber selbst die einfach besonders elegante Formel, das besondere Schönheit ausstrahlende Kunstwerk und das Erleben der Erfahrung an sich haben ihren Wert – und dieser Wert ist auch pragmatisch bestimmt. In dieser Interpretation wird selbst die Selbstzufriedenheit nützlicher Part und Zweck zur Erfüllung eines höheren Ganzen. Eine solche Pragmatik entspricht nämlich nicht nur dem Phänomen des Strebens nach der Erfüllung subjektiver Ziele von Intensität und Vollkommenheit auf der Ebene des menschlichen Individuums und der menschlichen Gesellschaft. Makrokosmisch erweist sich der Motor zum Erzielen von Selbstzufriedenheit, der allen Prozessen immanente »lebendige[] Drang, für den die Verwirklichung alles dessen, was möglich ist, auch gut ist« (AI 511), als Streben nach einer allumfassenden Harmonie des Universums, in der auch Dissonanzen wieder aufgehoben sind.

5.3.2.2 Wahrnehmung von Konformation und Intensivierung des Fühlens Whitehead wäre allerdings nicht Whitehead, gäbe es bezüglich der Wahrheitsfrage nicht doch auch eine (weitere) Wendung hin zur Verbindung mit der ontologischen Wirklichkeit und ein Verständnis von Wahrheit, das über das Kriterium von Pragmatik und Konvention hinausginge. Die rote Ampel verhindert Verkehrsunfälle, weil sie etwas signalisiert, das uns bedeutet, vor ihr anzuhalten. Der Hand­

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schlag ermöglicht eine Einschätzung des Gegenübers, weil wir durch den Kontakt mit ihm seine Ausstrahlung spüren.371 Die National­ hymne stärkt die Gemeinschaft, weil das Hören dieses Musikstücks verbindende Emotionen in uns hervorruft. Das letztere Beispiel mag diskutabel sein, in den ersten beiden Beispielen aber ist der praktische Nutzen evident – und er hängt zusammen mit der Auswirkung, die die Symbolisierungen auf unser Handeln und Fühlen haben. Für Whitehead steht daher eindeutig fest: »Die Evidenz des pragmati­ schen Aspekts ist einfach die Evidenz der Wahrnehmung der Tatsache der Konformation« (SY 105). Das Kriterium des Nutzens impliziert also Zwecksetzung, denn »es kann keinen nützlichen Aspekt von irgendetwas geben, wenn wir nicht das Prinzip der Konformation zulassen, wodurch dasjenige, was bereits geworden ist, zu einer Determinanten für das wird, was im Entstehen begriffen ist« (SY 105).372 Konformation können wir verstehen als ›kausal bewirkte und zweckorientiert auf die Zukunft gerichtete Anpassung‹. Ein Plädoyer für Zweckursachen mit einer Begründung durch solches Handeln und Denken, das offensichtlich am Pragmatismus orientiert ist, spricht Whitehead bereits in FR aus. Er definiert dort die Vernunft als Aktivität, »die Zweckursachen und die Stärke des auf sie gerichteten Strebens zu konstituieren, zu artikulieren und zu kritisieren« (FR 25), und stellt einen Zusammenhang her zwischen einer pragmatischen Haltung und einer derartigen Definition von Vernunft: Wer pragmatisch denkt, muss diese Definition [dass Vernunft beim Menschen eine ziele-ordnende Funktion hat, die nur sinnvoll ist, wenn man Zweckursachen zulässt] akzeptieren; denn ohne Zweckursachen

371 Allerdings gilt diese Bedeutung des Handschlags nur für viele westliche Länder, in anderen Ländern ist der Handschlag als Körperkontakt zwischen Fremden verpönt. Dort scheint sich also im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung die Betonung anderer Bereiche aus den Ketten kausaler Wirksamkeiten durchgesetzt zu haben (so wären auch andere Unterschiede in gesellschaftlichen Konventionen zu erklären). Naturwissenschaftliche Unterstützung für die These, dass bei Symbolisierungen im Hintergrund stets kausale Wirksamkeit eine prägende Rolle spielt, erhält unser Bei­ spiel vom Handschlag durch neurobiologische Studien zum »social chemosignaling«. Demnach kann als unbewusster Grund für den Handschlag auch der Austausch biochemischer Signale in Form von Geruchsstoffen gelten, die dazu dienen, das Gegenüber einzuschätzen. Solch eine Übertragung von Geruchsstoffen funktioniert kausal wirksam (gerade Geruchsstoffe wirken sehr stark auf Erinnerungen und können so auch intensive Emotionen erzeugen) (vgl. Frumin et al. 2015). 372 Vgl. SY 104.

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

wäre der Pragmatismus offensichtlich Unsinn: eine Meinung lässt sich nur dann testen, wenn man nach ihr handelt (FR 25).

Wir müssen uns, so folgert er und so konzipiert er dann auch seine Ontologie, »das fundamental Wirkliche, den realen Vorgang, als etwas vorstellen, das einen eigenen Zweck anstrebt und erreicht« (FR 29). Was bedeutet das für die Symbolisierungen? Die Synthese der zwei zugrundeliegenden Wahrnehmungsweisen in der symbolischen Referenz erfolgt aus freien Stücken und ohne kausale Notwendigkeit, ist in ihrem Ergebnis aber natürlich geprägt von jenen kausal-emotio­ nalen Wirksamkeiten, die aus einer ersten Phase des Erfassens verar­ beitet werden und auch von jenen Emotionen und Wertungen, die sich in einer späteren Phase des Erfassens herausbilden. Verbunden mit diesen Wertungen ist auch die Ausrichtung der Wirkungen auf ein subjektives Ziel, auf einen bestimmten Zweck. Das Symbol kann einen Nutzen haben, weil es einen Wert hat und weil es nicht nur auf vergangene Prozesse verweist, sondern auch eine Auswirkung hat, die auf die Zukunft blickt. Diese Auswirkung rührt direkt daher, dass das Symbol in dem Verschmelzen mit seiner Bedeutung bestimmte kausal wirksame Prozesse transportiert, die im metaphysischen Hintergrund unsere Existenz bestimmen und die auf die Erfüllung bestimmter Ziele hin ausgerichtet sind. Mit der Nützlichkeit als Güte- und Wahrheitskriterium für die Interpretation von Wahrnehmungswei­ sen bricht Whitehead also auch in SY eine Lanze für die Existenz von Zweckursachen – denn die Beurteilung bestimmter Handlungen als nützlich impliziert neben der Annahme kausaler Wirksamkeit auch die Akzeptanz von Zweckursachen. Die Begründung für Annahmen, die aus symbolischer Referenz resultieren, muss neben dem Blick in die wirkende unmittelbare Vergangenheit auch »in einer pragmati­ schen Berufung auf die Zukunft gesucht werden« (SY 89). Wissend um ihre Signalwirkung installieren wir an der Kreuzung eine Ampel zu dem Zweck, dass künftig Autofahrer bei Rotlicht anhalten mögen. Eine rein pragmatische Begründung ist Whitehead aber auch unter Berufung auf das Band von Nützlichkeit und Kausalität nicht ausreichend (schließlich muss er auch darauf achten, seine gemäßigt realistische Position nicht zu torpedieren), daher ergänzt er in PR etwas enger formuliert: Eine Symbolisierung funktioniert am besten, wenn die aufeinander bezogenen Wahrnehmungen sich gegenseitig

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verstärken und eine Betonung bestimmter Aspekte hervorrufen.373 Falsch aufeinander bezogene Wahrnehmungen hingegen hemmen sich in ihrem Effekt, funktionieren also nicht, weil sie keine Betonung schaffen und damit auch keine derartige Intensität im Empfinden hervorrufen können, dass wir ›daraus etwas mitnehmen‹. Es kann dann zwar zu einem symbolischen Bezug kommen, aber die erzeugten Vorstellungen sind nicht so umfassend und intensiv, wie sie eigentlich sein könnten. Es besteht dann auch in dem Sinne ein Fehler, dass etwas fehlt – im Falle von Äsops Hund zum Beispiel fehlt dem Stück Fleisch im Wasser nicht nur die Dreidimensionalität, sondern auch der Duft, der Geschmack und die Disposition, beim Verspeisen Hunger zu lindern.374 Im Korrektheitskriterium der Verstärkung und Intensivierung verbindet Whitehead den pragmatischen Ansatz mit einer eigenen Art Kohärenzansatz375, denn eine gegenseitige Ver­ stärkung der Wahrnehmungsweisen in der symbolischen Referenz 373 Die Übergänge zwischen Reflexhandeln und symbolisch konditioniertem Han­ deln sind fließend – ob das eine oder das andere erfolgt, hängt auch vom Grad der ›Konditionierung‹ auf bestimmte Symbole ab. Die Emotionalität der kausalen Wirklichkeit ist in jeder Symbolisierung irgendwo vorhanden, wird aber wie erläutert in bestimmten Fällen der Wahrnehmung und der Reaktion auf das Wahrgenommene unterdrückt oder abgeschnitten. 374 Das Kriterium der Vorteilhaftigkeit oder Praktikabilität von Symbolisierungen stößt uns übrigens gerade auch im Bereich der Kunst unweigerlich auf Fragen der Moral: Ist bei einem Kunstwerk die Fälschung genauso richtig, wahr und gut wie das Original, wenn sie genauso ihren Zweck erfüllt, die gleiche Szene darstellt, die gleichen Empfindungen hervorruft? Ist eine unerkannte Lüge, die so vorgetragen wird, dass sie den Hörer überzeugt und beruhigt, nicht nur im symboltheoretischen Sinne wahr, sondern damit auch gut, weil sie Vorteile für unser Alltagsleben mit sich bringt? Ein täuschend echt gemaltes Porträt, das als Wiedergabe »so wahrheitsgetreu ist, dass sie den Dargestellten dem Blick als wirklich gegenwärtig erscheinen lassen kann«, beurteilt Whitehead selbst als »fast schon wieder so etwas [...] wie ein[en] Betrug« (AI 424) – anders als bei der perfekten Fälschung ist in diesem aber ein Unterschied (zum Beispiel die fehlende Körperhaftigkeit beim Gemälde) erkennbar. Hier deutet sich an, dass Whitehead ein weiteres Wahrheitskriterium benötigt. Im folgenden Kapitel werden wir sehen: Unter Anwendung eines Korrespondenzkriteriums kann die täuschend echte Kunstfälschung bei Whitehead deshalb nicht ›wahr‹ sein, weil ihr die kausalen Beziehungen zum Wirken der Künstlerin, die das Original geschaffen hat, fehlen – und zwar nicht nur im Sinne der Verursachung, sondern auch in dem Sinne, dass die Wechselwirkungen zwischen den Materialien und der Künstlerin im Entstehensprozess des Kunstwerks konstituierender Teil desselben sind. 375 Wobei man auch von einem Korrespondenzansatz sprechen könnte, denn wenn die Sinneseindrücke der präsentativen Unmittelbarkeit die kausal wirksamen Prozesse aus der wahrgenommenen Region verstärken, dann korrespondiert ja Erscheinung mit Wirklichkeit.

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

erfolgt ja umso stärker, desto größer die gemeinsame Grundlage ist; eine gegenseitige Hemmung entsteht, wenn die Wahrnehmungser­ fahrungen von unterschiedlichen Regionen herrühren und sich daher widersprechen. Im Beispiel der verwechselten Freundin stand beim Näherkommen der Person die emotional geprägte Erinnerung an das wohlige Gefühl des Von-ihr-angelächelt-Werdens im Widerspruch mit dem tatsächlich gesehenen Lächeln. In den meisten anderen Fällen können wir anhand dieses Kriteriums keine völlig sichere Aussage zur Korrektheit von Symbolisierungen machen, wir können sie aber anhand der Intensität unserer Erfahrungen mutmaßen.

5.3.2.3 Verschiedene Weisen der Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklichkeit Whitehead möchte, wie eingangs bereits erwähnt, auf stärkere Krite­ rien nicht verzichten, denn in PR merkt er an, dass letztlich auch pragmatische Kriterien nur dann sinnvoll anwendbar sind, wenn wenigstens »irgendein Ereignis [...] eine eindeutige Bestimmung dessen, was an diesem Ereignis wahr ist, bei sich trägt« (PR 339), wobei mit Wahrheit hier eine Übereinstimmung vom Ergebnis der Symbolisierung auf der Bedeutungsseite einerseits und (kausaler) Wirklichkeit andererseits gemeint ist. Um dies beurteilen zu können, muss es uns möglich sein, irgendwann die Bedeutung klar durchdrin­ gen zu können. Nach den hier aufgestellten Lehren kommt der Tag des Urteils [dann], wenn die ›Bedeutung‹ als ein Wahrnehmungsgegenstand in der ihm angemessenen reinen Weise hinreichend klar und relevant ist, um einen Vergleich mit dem direkten Niederschlag des Empfindens zu erlauben, der sich vom symbolischen Bezug herleitet (PR 339).

Wie aber gelangen wir zu dieser Klarheit – vor allem, wenn die Bedeutung doch zumeist mit vager Emotionalität verbunden ist und daher »eine Schwierigkeit der Symbolik [darin] besteht [...], dass die schwer verfügbaren Bedeutungen oft vage sind« (PR 342)? Diese Frage lässt Whitehead hier offen. Wir können vermuten, dass es unter anderem die Aufgabe des Verstandes ist, hier für Klarheit zu sorgen – angemessene Erhellung in die dunkle Seite der Wirkmacht zu bringen, dürfte für diesen aber eine große Herausforderung sein.

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In AI thematisiert Whitehead Wahrheit als einen »Aspekt der Zivilisation« und stellt in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Urteil über die Korrektheit von Symbolisierungen.376 Wahrheitsbeziehungen zwischen zwei Gegenstandsbereichen sind dort formal derart definiert, dass »bei der Betrachtung des einen [...] ein Faktor erkennbar [ist], der auch zum Wesen des anderen gehört« (AI 424), sie sind damit nicht zweiwertig, sondern erlauben auch eine graduelle Abstufung von mehr oder weniger wahr, je nachdem, wie groß die Schnittmenge ist.377 Im menschlichen Erleben sieht Whitehead »Wahrheitsbeziehungen am augenfälligsten in den ›Propositionen‹ [...] und in der Sinneswahrnehmung in Erscheinung« (AI 426/427) treten378, wobei er hier nicht seinen metaphysischen, sondern den weiten Begriff von Sinneswahrnehmung verwendet, der dem Common-Sense-Verständnis entspricht. Bezogen auf die Sinneswahrnehmung differenziert er drei verschiedene Typen von Wahrheitsbeziehungen, die sich durch eine Abstufung der Schnitt­ mengengröße, in der Erscheinung und Wirklichkeit übereinstimmen, auszeichnen. Es gilt hier für Symbolisierungen zu klären: Sind sie wahr in dem Sinne, dass die Relation von Symbol und Bedeutung wirklich aus einer gemeinsamen Grundlage resultiert?

376 Vgl. AI:423–441 (vierter Teil »Aspekte der Zivilisation«, Kapitel XVI »Wahr­ heit«). Abschnitt III (AI 426–430) widmet Whitehead den Propositionen. Darauffol­ gend stellt er dar, »welche Typen von Wahrheit und Falschheit es bei der Sinneswahr­ nehmung geben kann« (AI 430), und bezieht sich auch explizit auf Symbolisierungen. 377 Vgl. AI 430: »Es gibt im Haus der Wahrheit viele Wohnungen, und deshalb werden wir analysieren müssen, welche Typen von Wahrheit und Falschheit es bei der Sinneswahrnehmung geben kann.« 378 Berve (2015:223) weist auf die mögliche Verwandtschaft von Propositionstheorie und Symboltheorie hin (die er bei Whitehead allerdings nicht eindeutig artikuliert sieht). Tatsächlich gibt es strukturelle Ähnlichkeiten: In beiden Fällen findet eine Abstraktion von der Wirklichkeit und eine Art Projektion auf die Welt statt und in beiden Fällen ist daher Irrtum möglich. Im Falle von Propositionen ist die Projektion jene der Einteilung in logische Subjekte und Prädikate. Es gibt allerdings einen gravie­ renden Unterschied: Symbolisierungen zumindest in Form der Sinneswahrnehmung von Alltagsgegenständen zeigen, wie die Welt für uns ist, und »jeder Beigeschmack des Hypothetischen [...] wird dabei zum Verschwinden gebracht« (AI 430) – wohingegen Propositionen gerade dazu dienen sollen, ihren Inhalt als reine Möglichkeit (im Sinne von ›hätte bei Realisierung anderer Ideen auch anders sein können‹) zu verstehen. Gegen eine Gleichsetzung spricht alleine schon, dass Whitehead in AI ausdrücklich die Propositionen und die Sinneswahrnehmung (sprich Symbolisierungen) als Irrtums­ quellen nennt.

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

Den ursprünglichsten allgemeingültigen objektiven Bezug zur ontologischen Basis haben jene Wahrnehmungen im Modus der prä­ sentativen Unmittelbarkeit, die Qualifikationen affektiver Tönungen sind.379 In einer bestimmten Vernetzung (physischer) Empfindungen wird eine bestimmte Form als Sinnesqualität – zum Beispiel ›rot‹ – realisiert, die diese Empfindungen qualifiziert.380 Unmittelbar mit der Wahrnehmung einer Sinnesqualität verbunden ist daher ein emotionales Erleben. Im ersten Moment erscheint es uns aufgrund unserer gewohnten abstrakten Denkstrukturen schwer vorstellbar, Gefühle als qualifiziert in Formbestimmungen wahrnehmen zu kön­ nen, darauf weist Whitehead auch in PR hin: »Wir sind so an die hohe Abstraktion ›der Stein als grün‹ gewöhnt, dass wir Schwierig­ keiten haben, uns die Vorstellung von ›grün‹ als die qualifizierende Eigenschaft eines Gefühls bewusst zu machen« (PR 304).381 Für Farben aber ist uns diese Art Qualifizierung in einigen Beispielen sogar recht geläufig: Wut ist rot, Neid ist gelb. Auch wer sich gerne in die Farbsauna legt, denke dabei das nächste Mal an Whitehead: Eine beruhigende Wirkung auf den Organismus soll dort durch Blau qualifiziert werden, eine regenerierende durch Grün. Wenn jene wirklichen Ereignisse mit affektiven roten Tönungen tatsächlich in der Region stattfinden, aus der wir den Sinneseindruck dieser ›roten Wut‹ erhalten, dann gibt es eine Wahrheitsbeziehung zwischen der wirklichen Beschaffenheit der fraglichen Region und der Art, wie sie dem gleichzeitigen Beobachter als Erscheinung gegeben ist. Objektiv überprüfen können wir dies nicht – Whitehead geht davon aus, diese Wahrnehmungen seien derart direkt und intensiv spürbar, dass sie eine Verbindung mit der Wirklichkeit ausweisen müssen. Der zweite Typ von Wahrheitsrelation bezieht sich auf Sym­ bolisierungen in Form von Gegenständen unserer alltäglichen Sin­ neswahrnehmung. Dieser Typ ist indirekter, vager und diffuser arti­ kulierbar als erstgenannter, weil die Weise der Wahrnehmung von Vgl. AI 430–432. Oder aus der Perspektive des wahrnehmenden Menschen andersherum formu­ liert: »Eine gegebene Konfiguration von Sinnesqualitäten produziert also eine ihr konforme Konfiguration affektiver Tönungen« (AI 431). 381 Whitehead stellt hier einen expliziten Bezug zur Bildenden Kunst her, auf den wir später noch eingehen werden: »Gleichwohl sind die ästhetischen Empfindungen, aufgrund derer es die Malerei gibt, nichts anderes als Produkte derjenigen Kontraste, die in einer Vielfalt von Farben angelegt sind, welche das Gefühl qualifizieren« (PR 304). 379

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Symbolisierungen eine abstraktere ist, auch hier wird aber eine grundsätzliche Allgemeingültigkeit der Beziehung angenommen. Whitehead nimmt bezüglich der Symbolisierungen vor allem im Sinne von Gegenständen der Alltagswahrnehmung an, dass die »Natur während des langen Verlaufs der Anpassung lebender Wesen an ihre Umgebung ihre Verwendung lehrte« (SY 116). Diese Annahme meint, dass eine natürliche Entwicklung stattgefunden hat, durch die im Zuge der Herstellung symbolischer Referenz die Prozesse der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit und die Prozesse unserer körperlichen Organe eine Übereinstimmung auf­ weisen – und wir aus dieser Übereinstimmung entsprechende Reak­ tionen ableiten. Die Projektion unserer Sinneseindrücke ist demnach nichts anderes »als die Illustration der Welt in partiellem Einklang mit dem systematischen raum-zeitlichen Schema« (SY 117), an das sich unsere Reaktionen anpassen. Schlicht formuliert: Whitehead geht also davon aus, dass es im menschlichen Körper und in seiner Umwelt einen Normalfall gibt, sprich gewisse Gegebenheiten und Bedingun­ gen von menschlichem Körper einschließlich der Sinnesorgane und seiner Umwelt, unter deren Vorliegen stets gleiche Wahrnehmungs­ prozesse und -ergebnisse erzeugt werden. »Wir nehmen einfach wahr, was jedes in guter Verfassung befindliche Individuum unseres Typs unter diesen Umständen wahrnehmen würde« (AI 433). Erfolgen unsere Wahrnehmungen in diesem Rahmen der Normalität, dann können wir davon sprechen, dass sie innerhalb der Bedingungen des jeweiligen Rahmens wahr sind. Überprüfen könnten wir hier die Wahrheit anhand empirischer und statistischer Daten. Den dritten Typ von Wahrheitsbeziehungen, der eine noch vagere und indirektere Variante des zweiten Typs darstellt, bezeichnet Whitehead als den der »symbolischen Wahrheit« (AI 435). Die Erscheinungen sind hierbei kulturelle Symbolisierungen in Form von Sprache, Musik oder Ritualen, die aus einer abstrahierenden Weiterverarbeitung von Gegenständen der Sinneswahrnehmung eine Bedeutung entwickeln. Eine (korrekte) Beziehung zwischen Erschei­ nung und Wirklichkeit gibt es bei solchen Symbolisierungen nicht allgemeingültig, sondern »ausschließlich im Erleben einer Klasse entsprechend konditionierter wahrnehmender Personen« (AI 436). Dies ist eine wichtige Ergänzung und Präzisierung zum Symbolisie­ rungskonzept in SY, denn tatsächlich erfahren wir bestimmte symbo­ lische Beziehungen ja als Konvention und erleben kulturell bedingte Unterschiede in der Bedeutung von Symbolen, die erklärt werden

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

müssen. Wollen wir dem Australier mit hochgestrecktem Daumen symbolisieren, dass alles in Ordnung ist, müssen wir uns nicht wun­ dern, wenn er handgreiflich wird – er nämlich empfindet diese Geste als Beleidigung. Auch im dritten Teil von SY weist Whitehead darauf hin, dass viele Symbole in ihrer Funktion und Gültigkeit auf eine entsprechende Gemeinschaft oder eine bestimmte historische Epoche begrenzt sind. Wollen wir uns mittels Symbolisierungen verständi­ gen, ist Konventionalität unabdingbar, schließlich gibt es ja gerade keine Naturnotwendigkeiten und Kausalitäten, die die Beziehung zwischen Symbol und Bedeutung allgemeingültig festlegen, sondern diese entsteht durch den individuellen Prozess der Wahrnehmung, das stellt Whitehead in SY (69) klar – damit Symbole im kulturellen Kontext als Handlungsmotor funktionieren können, müssen ihre Bedeutungen über die einzelne individuelle Wahrnehmung hinaus aber eine gemeinschaftliche interindividuelle Gültigkeit erlangen. Bei der Etablierung von Konventionen hinsichtlich Symbolisierungen darf aber auch keine reine Arbitrarität herrschen, soll Whiteheads Ansatz glaubwürdig bleiben. Nichts, auch nicht die Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz geschieht ohne Grund und ohne Zusammenhang mit irgendwelchen anderen Geschehnissen. Auch im Fall abstrakter kultureller Symbolisierungen führt bei allen Mitglie­ dern der Gemeinschaft, in der die Symbolisierungen etabliert sind, das Erfassen der Erscheinung zum Erfassen einer gewissen Wahrheit. Die Übereinstimmung besteht in diesem Fall in einer Übereinstimmung der subjektiven Formen, also der Art und Weise, wie die Bedeutung der Symbolisierung empfunden wird: Alle Mitglieder einer Gemein­ schaft erleben eine »Konformität zwischen den subjektiven Formen dieser beiden Erfassensakte« (AI 435). In der Umwelt, wie der Austra­ lier sie sich im Normalfall wahrnehmend erschafft und strukturiert, werden bei der Symbolisierung ›hochgestreckter Daumen‹ im Zuge der Erfahrungsprozesse aus der Region des hochgestreckten Daumens jene kausalen Wirksamkeiten betont, die Aggressionen als affektive Tönungen mit sich transportieren – und jeder Australier empfindet und bewertet in seiner subjektiven Form diese affektiven Tönungen als ähnlich relevant. Entweder sind affektive Tönungen also bereits in der wahrge­ nommenen Region vorhanden und werden von jedem Mitglied der menschlichen Gesellschaft erfasst und subjektiv integriert – oder aber es wird in einer späteren Phase des Erfassens den Wahrnehmun­ gen aus dem Modus der präsentativen Unmittelbarkeit ein entspre­

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chender affektiver Wert zugeschrieben und dieser in die subjektive Form integriert; im Fall der Australier wird die Wahrnehmung des Daumens subjektiv als Aggression gewertet. Die Mitglieder einer Gemeinschaft sind bezüglich konventioneller Symbolisierungen also derart in ihre Umgebung eingepasst und konditioniert, dass bei allen Mitgliedern bestimmte Wahrnehmungen auf die gleiche Weise in ihre subjektive Form integriert werden. In AI bezeichnet Whitehead in diesem Zusammenhang Sprache als das »wohl augenfälligste Beispiel« (AI 436) für eine Symbolisierung, bei der zwischen Symbol (Wort) und Bedeutung (Bedeutung des Wortes) eine »symbolische Wahrheitsbeziehung« vorliegt, die durch Konvention bestimmt ist. Hier resultiert die Wahrheitsbeziehung aus einer Übereinstimmung der subjektiven Formen: Es gibt bei jeder Sprache eine richtige und eine falsche Verwendungs­ weise der in ihr vorkommenden Ausdrücke, und zwar innerhalb jener Gruppe von Menschen, die entsprechend konditioniert worden sind. Wobei – in Anbetracht des ästhetischen Phänomens der Literatur – daran zu erinnern ist, dass durch die Sprache nicht nur objektive Bedeutungsinhalte, sondern auch subjektive Formen vermittelt wer­ den (AI 436).

Als besonders wirkmächtig in der Übermittlung von Gemeinsamkei­ ten in den Werten und Emotionen der subjektiven Formen sieht Whitehead bestimmte Musikstücke und Handlungen mit zeremo­ niellem Charakter an. Diese entstehen aus einer derart stark von der Wirklichkeit abstrahierenden Verkettung von Symbolisierungen, dass die für eine Wahrheitsdefinition (eben jene der »symbolischen Wahrheit«) erforderlichen Gemeinsamkeiten bei den Wertungswei­ sen zu finden sind, wie sie in den subjektiven Formen verschiedener Mitglieder einer Gemeinschaft erfolgen, die das Musikstück anhö­ ren oder die zeremonielle Handlung ausführen beziehungsweise anschauen. In diesen Symbolisierungen erreicht also »die Vermitt­ lung objektiver Bedeutungsinhalte ein Minimum, während die Ver­ mittlung subjektiver Formen den höchsten Grad erreicht« (AI 436). Wir haben die Prominenz subjektiver Formen in der Bedeutung bestimmter Symbolisierungen bereits im Kapitel 5.2.3 dieser Arbeit thematisiert, hier eine kurze Rekapitulation: Beim Wahrnehmen von sehr abstrakten Symbolisierungen wie Musikstücken durch verschie­ dene menschliche Individuen gibt es eine durch die Gemeinsamkeit der Gefühle in der jeweiligen subjektiven Form begründete, mehrstu­

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

fige Wahrheitsbeziehung: Auf eine sehr vage und schwer zu fassende Weise entsteht eine Beziehung zwischen der Musik und den damit verbundenen emotionalen Wertungen, im Falle der Nationalhymne zwischen den Charakteristika der Hymne und dem Gefühl der Hei­ matliebe: »Das dumpfe, unartikulierte Gefühl wird durch die Musik zur artikulierten und distinkten Erfassbarkeit erhoben« (AI 436). In dieser Symbolisierung gilt es dann aber auch, eine direktere darin ein­ gebettete Wahrheitsbeziehung zu überprüfen, nämlich jene zwischen den Gefühlen und Annahmen, die in der Heimatliebe impliziert sind, und dem tatsächlichen Zustand des Vaterlandes.382 Whitehead muss eine solche mit der Übereinstimmung der sub­ jektiven Formen in der Wahrnehmung von Symbolen sehr schwache Wahrheitsbeziehung alleine schon deshalb annehmen, weil anders die Genese rein konventionell verstandener Symbolisierungen nicht zu erklären ist. Er geht davon aus, dass es auch unter den Symbolisie­ rungen mit stark ausgeprägter subjektiver Form solche gibt, in denen die Gestaltung der Erscheinung als Arrangement von Details vor einem massiven Hintergrund stark mit der Wahrheit übereinstimmt – und dass diese sich besonders gut durchsetzen, da sie besonders langlebige und intensive Emotionen samt daraus folgender Hand­ lungen hervorzurufen fähig sind, denn das ist letztlich ja Ziel und Zweck von Symbolisierungen. Hier kommen wir zu einem weiteren Element der Wahrheitskriterien: Entscheidend ist, in welchem Maße die Komposition der Erscheinung dazu taugt, dauerhaft wirksam Intensität im Fühlen zu erzeugen. Zum Verständnis dieses Kriteriums ist ein kurzer Exkurs zum Begriff der »Harmonie« notwendig. Gelungene Symbolisierungen sind nicht nur das Resultat aus einem relativ frei schöpferischen, sondern auch aus einem ordnenden Prozess. Dieser ordnende und strukturierende Prozess ist jener, in dem die vielen einzelnen Wahrnehmungselemente mit ihrer indivi­ duellen Stärke durch den Hintergrund in Zusammenhang gebracht werden, wobei die geordneten Details im Vordergrund eher jene sind, 382 Vgl. AI 437. In dieser Weise können die in den Bedeutungen enthaltenen Gefühle auch auf Annah­ men beruhen, so zum Beispiel, wenn das Gefühl der Heimatliebe auf der Einschätzung basiert, die Regierung einer Nation arbeite zum Wohle der Bevölkerung, oder wenn es als Handlungsimpuls verstanden wird, Fremde(s) aus der Gemeinschaft auszuschlie­ ßen (hier zeigt sich also auch ihre Irrtumsanfälligkeit). An diesem Punkt sind sowohl Greenmans Definition der Bedeutung als Proposition als auch Berves Feststellung der Verwandtschaft von Symbol- und Propositionstheorie besonders nachvollziehbar.

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die der Sinneswahrnehmung ins Auge oder Ohr springen, und der Hintergrund eher die diffuse Massivität der Wirkursächlichkeit in sich birgt. Man kann also auch sagen, Objekte alltäglicher Art und besonders jene künstlerischer Art entstehen aus der Verteilung der Erfahrungselemente in einen Hintergrund aus massiver Gleichför­ migkeit und in einen »Vordergrund aus dauernden Individuen mit einer bestimmten Stärke der subjektiven Tönung« (AI 489) und einer Intensität im Erleben.383 Die Intensität des Fühlens entsteht nach Whitehead durch das Erleben der individuellen Bedeutung einzelner relevanter Bestandteile einer Einheit jenseits der simplifizierenden Wahrnehmung dieser Einheit als Gegenstand. Besonders stark kann die Bedeutung von Symbolen erfahren werden, wenn das Symbol auch auf der Ebene, in der die Sinneswahrnehmung angesprochen wird, eine Wirkung dadurch erzielt, dass es in der beschriebenen Weise strukturiert ist – wobei der Hintergrund seine Wirksamkeit natürlich am besten entfalten kann, wenn dort die Erscheinung mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Liegt der Symbolisierung keine oder nur eine schwache Überein­ stimmung von Erscheinung und Wirklichkeit zugrunde, so ist aus ihrer Komposition dauerhaft auch nur wenig emotionale intensive Wirkung herauszuholen – ganz einfach deshalb, weil nicht viel Wirk­ lichkeit im Sinne kausaler Wirkungen und emotionaler Intensität darin verarbeitet ist: Schlechte und falsche Symbolisierungen erzeu­ gen keine Resonanz zwischen uns und dem Universum. Mit sensibi­ lisierten Antennen empfinden wir ihre Schalheit, die einem Mangel an Wirkung und daher an Wirklichkeit entspringt. »In dem Maße, in dem es dem Verhältnis zwischen diesen beiden [Erscheinung und Wirk­ lichkeit] an Wahrheit fehlt, wird es schwerer, neue Kräfte des Fühlens im unausgeschöpften Hintergrund der Wirklichkeit zu mobilisieren« (AI 491). Gelingt hingegen eine gut gestaltete Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklichkeit, so kann diese eine Erfahrung von Schönheit hervorrufen, dies ist einer falschen Symbolisierung derart nicht möglich. »Der Falschheit fehlt jener Zauber, durch den eine [...] Schönheit plötzlich [...] ins Dasein gerufen werden kann« (AI 491). Besonders wirksam ist also eine Erscheinung, die ihre Komponenten derart anordnet, dass sinnliche Details und massiver Hintergrund Vgl. PR 213–217. Vgl. PR 217: »In dem Hintergrund herrscht [...] massive Gleichförmigkeit; im Vorder­ grund dominieren Unterscheidungen und Kontraste [...].« 383

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5.3 Wahrheit und Irrtum in der symbolischen Referenz

eine bestimmte Form von Harmonie erzeugen, die Whitehead als »schön« bezeichnet. Das Wahrheitskriterium wäre hier die Intensität des Fühlens und ein Gespür für Schönheit – je stärker und langlebiger das ist, desto mehr kann man davon ausgehen, dass es eine Überein­ stimmung mit der Wahrheit gibt. Warum? Das intensive Empfinden von Harmonie und Schönheit ist ein metaphysisches Grundprinzip – und wenn man intensiv empfindet, dann kann das als Hinweis dafür genommen werden, dass man einen Hauch der Vollkommenheit des Universums, deren Anstreben unser aller eigentlicher Seinsgrund ist, erspürt hat. Zusammengefasst können wir sagen: Whitehead nimmt direk­ tere und indirektere Wahrheitsbeziehungen zwischen Erscheinungen und Wirklichkeit an, wobei in der Kunst Symbole und ihre Bedeutung indirektere Wahrheitsbeziehungen aufweisen. Doch wie indirekt und interpretationsbedürftig sie auch sein mögen, es gibt diese Wahrheits­ beziehungen und dadurch gelingt es Symbolisierungen in der Kunst, »die Wahrheit über die Natur der Dinge auf dem Wege der indirekten Interpretation zum Ausdruck zu bringen« (AI 437).

5.3.3 Auf der Suche nach der »ungeschminkten Wahrheit« Whitehead nimmt in AI also die »komplexe Verbindung einer Vielfalt von Wahrheitsbeziehungen mitsamt den in sie eingehenden Falsch­ heiten« (AI 437) an. Symbolisierungen von Alltagsgegenständen weisen dabei eine simplere und direktere Beziehung zur Wirklichkeit auf als gesellschaftliche Symbolisierungen. Symbolisierungen in der Kunst finden über eine Verkettung von Umwegen eine Verbindung zur Wirklichkeit. Gleichzeitig mit dem Hinweis auf die Vagheit und Komplexität verschiedener Wahrheitsphänomene charakterisiert Whitehead den Menschen aber als ein Wesen, das jenseits aller prag­ matischer Abwägungen sein Bedürfnis nach einer »ungeschminkten Wahrheit« als Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklichkeit nicht unterdrücken kann: »Schließlich und letztlich aber ist es ja doch die ungeschminkte Wahrheit, die wir wissen wollen. [...] Die indirekten und umwegigen Formen der Wahrheit werden uns nie zufriedenstellen können« (AI 439). Uns beschäftigt letztlich doch die Möglichkeit einer definitiven Antwort auf die Frage, »ob die grüne Frühlingswiese, so wie sie uns erscheint, den Vorgängen im Bereich der Wiese – und vor allem im Bereich der einzelnen Grashalme –

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

irgendwie unmittelbar konform ist« (AI 440). Whitehead nimmt zu­ mindest für den Bereich der Sinneswahrnehmung von Alltagsgegen­ ständen an, dass in einer organistisch strukturierten Welt der Orga­ nismus und die ihn umgebende Umwelt so aufeinander abgestimmt sind, »dass unter normalen Umständen das in der Wahrnehmung Erscheinende den wirklichen Vorgängen in den wahrgenommenen Regionen konform ist« (AI 441). Eine solche Annahme macht auch der naive Realismus, den Whitehead aber aufgrund der vorherrschen­ den Verhaftung des Denkens in Substanz-Akzidenz-Schemata als dem Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit anheimgefallen kri­ tisiert. Wie ist die Übereinstimmung von Erscheinung und Wirklich­ keit in unserer Wahrnehmung innerhalb von Whiteheads metaphysi­ schem Schema plausibel zu machen? Whitehead bezieht die Annahme der Übereinstimmung auf die philosophische Ebene einer Kosmologie und erweitert sie zur Formulierung der These, dass das Universum als Ganzes – initiiert durch das Streben, das in der Natur aller Dinge selbst angelegt ist – einer Art der Vervollkommnung entgegenstrebt. Diese Vervollkommnung besteht darin, dass alle Erfahrungselemente in einer Weise angeordnet werden, die einen Gleichklang erzeugt (und dabei auch Irrtümer, Dissonanzen und Widersprüche auf einer höheren Ebene in eine Gesamtheit integriert). Er fragt rhetorisch, »ob es nicht doch in der Natur selbst eine Tendenz zum Gleichklang gibt, einen Eros, der das Vollkommene anstrebt« (AI 441). Wenn dieses Streben auch unsere menschlichen Akte der Sinneswahrnehmung durchzieht, so kann man davon ausgehen, dass im Normalfall die an der Wahrnehmung beteiligten Prozesse in uns und außerhalb von uns in einer Entsprechung aufeinander abgestimmt sind. Mit diesem Verweis auf das Streben nach Vollendung im Uni­ versum als Grund für die Möglichkeit einer Übereinstimmung von verschiedenen Erscheinungen miteinander und mit der ontologischen Wirklichkeit postuliert Whitehead eine Art prästabilierte Harmonie, durch die Wahrheit auch in einem korrespondenztheoretischen Sinne möglich und erfahrbar ist. Nun fällt uns auf, dass er die prästabilierte Harmonie bereits in der Vorstellung der »kategorialen Verbindlich­ keiten« zu Beginn von PR in der »Kategorie der subjektiven Harmo­ nie« (PR 72) erwähnt – dann aber nicht mehr explizit anspricht. Das Konzept des Strebens nach Harmonie ist also bereits in die entsprechenden metaphysischen Grundprinzipien seiner Prozessphi­ losophie eingewoben und geht daher über die Formulierung einer

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5.4 Das kreative Fortschreiten eines zivilisierten Universums

einfachen Hoffnung,Gott und das Universum werden es schon richten (wie man Leibniz‘ Konzeption der prästabilierten Harmonie lapidar zusammenfassen könnte), hinaus. Dennoch mag die Frage auftau­ chen, ob Whitehead nicht doch einen Notausgang nimmt, wenn er am Ende einer hochkomplizierten Theorie der Wahrnehmung und der Weltgestaltung eine so einfache Lösung für die Denkmöglichkeit eines provisorischen Realismus vorschlägt. Um sein Konzept des Strebens nach universalem Gleichklang beurteilen zu können, braucht man aber nicht nur die Untersuchung des Wahren, sondern auch einen Blick auf das Schöne. Wahrheit entsteht erst auf einer Komple­ xitätsebene, auf der ein Subjekt in Wahrnehmungsprozessen Erschei­ nungen wie Propositionen und Sinneswahrnehmungen generiert. Schönheit hingegen ist mit dem Harmonieprinzip im Fundament der Welt selbst angelegt und daher ein fundamentalerer Begriff. Es zeigt sich, dass die hier dargelegte Entwicklung der menschlichen Zivilisa­ tion ein Beitrag ist zur Zivilisierung des Universums, verstanden als ein seine einzelnen Elemente transzendierendes Ganzes.

5.4 Das kreative Fortschreiten eines zivilisierten Universums: Ordnung und Aufbruch im Streben nach Harmonie Die möglichst freie Selbstentfaltung des Individuums innerhalb der Gesellschaft und gleichzeitig die Gestaltung der Gesellschaft als funk­ tionierendes Miteinander vieler Individuen – diese Balance ermög­ licht das Fortbestehen und die Entwicklung der Menschheit. Warum aber blieben wir nicht in der Höhle wohnen, malten die Wände an und freuten uns gemeinsam mit anderen Stammesangehörigen eines recht ungebundenen Lebens? Dass es in der Menschheitsgeschichte notwendig war, Techniken und Strategien zu entwickeln, um Natur­ gewalten besser trotzen und einfacher überleben zu können, leuchtet ein – aber warum erfinden wir Abstrakte Malerei, Gewaltenteilung, Schulpflicht, Marssonden und Menschenrechte (aber auch Folterme­ thoden, Fast Food und Castingshows)? Warum entwickeln wir aus einfachen und überschaubaren Gesellschaftsstrukturen jene komple­ xen Gesellschaftsstrukturen, die wir Zivilisation nennen? Warum bilden die verschiedensten Arten von Symbolisierungen ihre Triebe und wachsen zu Verflechtungen wie Wissenschaften, den Schönen

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Künsten, Demokratien, aber auch Konsumgesellschaft und Unterhal­ tungsindustrie heran? Eine Antwort auf die Frage nach den Gründen für die Entwick­ lung der Zivilisation mittels Symbolisierungen und nach ihrer Rele­ vanz für das Universum macht unweigerlich einen nochmaligen Blick auf die Begriffe Wert, ästhetisches Empfinden und Schönheit, Kunst und vor allem das Prinzip der Harmonie notwendig – denn aus diesen entwickelt Whitehead die Grundlage, mit dem er das Fortschreiten jeglicher Form von Gesellschaften zu höheren Entäußerungen von Kreativität und Ordnung begründet, wie sie in Symbolisierungen zum Ausdruck kommen und wie sie in die Gesamtheit aller Gestaltungen eingehen. Dieser Blick ist nicht als weitere genaue Analyse der genannten Begriffe gedacht, sondern als abschließender Ausblick in Whiteheads Idee einer Zukunft, die trotz und mit allen Umbrüchen, Unvollkommenheiten und Unruhen die Hoffnung birgt, eine gute sein zu können. Letztlich kommen wir am Ende unserer Reise durch Whiteheads Philosophie entlang des Symbolisierungskonzepts über den menschlichen Mesokosmos zu den Weiten des Makrokosmos zurück zum Anfang im Mikrokosmos und stellen fest: Innerhalb seiner Kosmologie finden wir Kreativität als das diversifizierende und gleichzeitig Einheit stiftende Urprinzip tatsächlich analog in allen Dingen – und es entäußert sich in unseren »Strebungen, die zu Zweckursachen führen, die auf ideale, außerhalb des Bereichs der physikalischen Entwicklung liegende Zwecke ausgerichtet sind« (FR 73), im Genuss des Schönen und in der schwankenden, aber durchaus existenten Herrschaft der Vernunft.

5.4.1 Der positive Wert von Unvollkommenheiten Es hilft uns, den Menschen und die Gesellschaft genauso wie das Universum zu begreifen, wenn wir anerkennen: Gewisse Unvoll­ kommenheiten lassen sich nicht vermeiden und sind sogar Motor des Fortschritts und der ständigen Weiterbewegung. Dieser Schluss ergibt sich aus den metaphysischen Annahmen, die wir in dieser Arbeit bereits erläutert haben und auf die wir nun in ausgewählten Aspekten noch einmal zurückkommen. Hierbei sind vor allem die Ausführungen in AI relevant, denn dort erläutert Whitehead die Zivilisationsentwicklung so, wie sie ihm als Inspiration für seine

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5.4 Das kreative Fortschreiten eines zivilisierten Universums

Metaphysik gedient haben mag und wie sie sich vice versa aus dieser heraus interpretieren lässt. Das Ideal einer Harmonie, verstanden als eine Ordnung des Ganzen, in der sich die einzelnen Elemente zumindest nicht desta­ bilisieren und im Optimalfall gegenseitig ergänzen und verstärken, ist nicht ohne Weiteres zu verwirklichen. Schließlich kann ein Ereig­ nis während seines Werdens viele verschiedene Informationen aus vergangenen Prozessen und verschiedene ewige Ideen erfassen, die bei dem Versuch einer gemeinsamen Verwirklichung eine zu starke Dissonanz ergeben würden oder von denen einige miteinander oder mit der Vergangenheit des Ereignisses völlig unvereinbar sind. Selbst wenn ein Werdensprozess alle erfassten Möglichkeiten positiv wer­ ten, sprich in den Selbstgestaltungsprozess integrieren wollte, so wäre dies aufgrund des »Prinzip[s] der inneren Unverträglichkeit« (AI 481) nicht möglich.384 Am Schluss des Werdensprozesses soll aber die Verwirklichung eines subjektiven Ziels stehen – so dass einige Informationen notwendigerweise mit dem Fazit ›Ausschluss aus der Selbstgestaltung‹ bewertet werden müssen. »Die vielen Potentiali­ täten für ein Einzelwesen müssen zu einer Tatsache synthetisiert werden. So entstehen die Unverträglichkeiten, die zur Eliminierung führen« (PR 309). Aufgrund der Verschiedenheit einzelner erfasster Informationen und der Endlichkeit jedes wirklichen Ereignisses ist es die Folge der notwendigen Wertung in Form einer Begrenzung der tatsächlichen Verwirklichungen, dass es »keine Gesamtheit gibt, die eine Harmonie aller Vollkommenheiten in sich umfassen könnte« (AI 481). Es können nur relative Vollkommenheiten hergestellt werden, die in einem fortschreitenden Universum entstehen, vergehen und dabei als Potenzial für immer neue Vollkommenheiten in die Zukunft transzendiert werden. Daher gibt es in Whiteheads Kosmologie auch »keinen Augenblick des Stillstands, in dem das Wirkliche nichts wei­ ter als ein statisches, mit sich selbst identisch bleibendes Etwas wäre« (AI 477/478), sondern stets eine widerstreitende, aber sich dabei auch weiterentwickelnde Dynamik partieller Vollkommenheiten. Whitehead bezeichnet dieses Prinzip in AI als eines der drei wesentlichen metaphysischen Prinzipien, aus denen auch Konsequenzen für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft resultieren (vgl. AI 477–491). Bei den beiden anderen genannten Prinzipien handelt es sich um das bereits ausführlich besprochene »Prinzip des Prozesscharakters der Wirklichkeit« und das »Prinzip der Individualität« bzw. das »Prinzip vom Wesen der Harmonie«, auf das im folgenden Unterkapitel dieser Arbeit eingegangen wird. 384

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Dem Streben nach umfassender Harmonie steht die Begrenztheit von Möglichkeiten der Realisierung in einem einzelnen Ereignis oder einem Zusammenschluss von Ereignissen zu einem Gegenstand gegenüber.385 Dieses Prinzip der inneren Unverträglichkeit gilt für Gegenstände der Alltagswelt (ein Tisch kann nicht gleichzeitig höl­ zern und stählern sein), den Menschen (ich kann nicht gleichzeitig Torte essen und Diät halten) und die menschliche Zivilisation (es ist in einer Demokratie schwer möglich, keine Steuern zu erheben und gleichzeitig ein starkes Gemeinwesen zu finanzieren). Auch Politik und Geschichte lassen sich laut Whitehead nur verstehen, wenn man dabei das Zusammentreffen konfligierender oder einander aus­ schließender Ideen untersucht. Der Widerstreit partieller Vollkom­ menheiten, der auch mit temporären Dissoziationserscheinungen einhergeht, zeigt sich in der Gesellschaft zum Beispiel bei bisher in unterschiedlichen Kontexten erfolgreichen Ritualen, bei kohärenten, aber konkurrierenden wissenschaftlichen Theorien, bei nicht mehr den aktuellen Zeitgeist verkörpernden Moden oder Lebensstilen. Whitehead führt als ein Beispiel den historischen Umstand an, dass »zweitausend Jahre einer leblosen Wiederholung griechischer Kunst­ formen und unfruchtbarer, in leere Formeln gekleideter philosophi­ scher Debatten« (AI 451) durch das Entstehen des Christentums und des Islams belebt worden sind. Innerhalb von Routinen kann es – wie für den mikrokosmischen Bereich ausführlich erläutert – auch im menschlichen Miteinander durchaus zu einem positiven Fühlen neuer Momente kommen. Unser Streben verlagert sich dann von der »Schalheit einer verbrauchten Vollkommenheit auf ein noch frisches Ideal […]. Dieser am Dissonanten auftauchende Wertaspekt ist ein Tribut an die Verdienste des Unvollkommenen« (AI 450). Das Prinzip der Kreativität als »principle of novelty«, das für die Selbstkonstitu­ ierung einzelner Ereignisse wie auch für die Entstehung von Leben verantwortlich ist, sorgt also auch für den lebendigen Fortschritt der Zivilisation. Dissonanzen und Kontraste können zur Überschreitung gewohnter Abläufe und zu Veränderungen führen – sie können aber auch eine bestehenden Gesellschaft in der Art vertiefend gestalten, dass sie für intensivere Formen von Harmonien sorgen. Eine kon­ struktive Weise, mit Momenten der Disharmonie in der individuellen Vgl. AI 481: »Alles, was in einem Erlebensvorgang verwirklicht wird, schließt mit Notwendigkeit eine Fülle mit ihm unverträglicher Möglichkeiten von der Verwirk­ lichung aus.« 385

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Entwicklung umzugehen, ist es, sie in eine Harmonie auf höherer Stufe zu überführen. So entwickelt sich der Einzelne weiter und bereichert das Ganze um die Besonderheiten seiner individuellen Entwick­ lung. Der Fortschritt des gemeinschaftlichen Universums wird also auch durch die Notwendigkeit einer ständigen Stärkung der Indivi­ dualität angetrieben. Whitehead nennt dieses »Prinzip der Individua­ lität«386 auch das »Prinzip vom Wesen der Harmonie«387. Dies besagt, dass die Kontraste, die sich beim Blick auf die Gesamtheit aller indi­ viduellen Erfahrungsprozesse zwischen Unvereinbarkeiten unter ihnen ergeben, derart angeordnet werden, dass daraus eine vertiefte Erfahrung mit einer Steigerung der Intensität hervorgeht. Diese höhere Form der Harmonie lebt also von der Integration dissonanter Elemente in ein Ganzes. Dies gilt für die Bildung von Gesellschaften wirklicher Einzelwesen genauso wie für die menschliche Gesellschaft.

5.4.2 Ziel individuellen und gesellschaftlichen Han­ delns: Harmonie Wir erinnern uns: Durch die Konzeption der grundlegenden Selbst­ gestaltungsakte als Wertungsakte ist »im Grunde unserer Existenz [...] der Sinn von ›Wert‹ verankert« (MT 145) als »Sinn der Existenz um ihrer selbst willen […] und [mit] ihrem eigenen Charakter« (MT 145). Der Wert einer einzelnen Erfahrung ergibt sich dabei aus ihrer Funktion innerhalb eines Gesamtgefüges. Diese Funktion kann auf unterschiedliche Weise ausgefüllt werden, je nachdem, wie das Ganze gestaltet werden soll: Der Wert einer Erfahrung kann sowohl in ihrer Funktion der Erzeugung von Widerspruchsfreiheit bei der Eingliede­ rung in die subjektive Form als auch von einer Kontrastierung zu anderen Erfahrungen oder reiner Selbstzufriedenheit bestehen. Je nach Ebene kann das Gesamtgefüge zum Beispiel das subjektive Ziel einer actual entity, ein Tier in Interaktion mit seinem Lebensraum, der Lebensentwurf eines Menschen, die Ideale einer Gesellschaft oder die Organisation eines Staates sein. Allen Ebenen gemein ist dabei: Die Gestaltung des Ganzen zielt stets auf bestimmte Formen von Harmonie ab. 386 387

Vgl. SMW 231/232. Vgl. AI 486–491.

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Ein Individuum definiert während seines Werdens seinen Cha­ rakter und strebt nach der Erfüllung seines subjektives Ziels, indem es eine Auf- oder Abwertung erfasster Informationen vornimmt, Formelemente zulässt oder sich von ihnen abgrenzt und durch diese Werterfahrungen eine innere Form von Harmonie herstellt. Auf einem niedrigen Niveau ist es das Ziel des Individuums, diese Harmonie seiner inneren Form durch Vermeidung von Störungen zu erreichen. Eine solche Harmonie ist recht einfach und dadurch sehr stabil, aber auch simpel und unspektakulär. Auf einem höhe­ ren Niveau beinhaltet die Harmonie der inneren Form auch und gerade eine derartige Anordnung von Widersprüchen und Kontrasten, dass sie eine Steigerung und Verfeinerung der Fühlensintensität zur Folge hat. Auch diese Harmonie ist also ein vollkommenes Ganzes, sie beinhaltet aber mehr Drama und damit mehr Wirklichkeit.388 Dissonanzen sind also durchaus positiv konnotiert, wenn sie dazu beitragen, einer Gesamtheit mehr Charakter zu geben, indem sie durch das Zusammenfügen von Kontrasten eine gesteigerte Intensität der Erfahrung herstellen. Ziel der wertenden Gestaltungsakte in ihren höheren Formen ist also das Erreichen einer Harmonie, die sich als möglichst feiner, intensiver und umfassender Erfahrungsschatz unter der Balance von Aufbruch und Ordnung, Transzendenz und Permanenz, Details und Ganzem, Widersprüchen und Gleichklängen offenbart. Die intensive Werterfahrung, die aus dem Wechselspiel von sich kontrastierenden Prozessen und ihrer Vereinigung in einem Ganzen entsteht, nennt Whitehead auch eine »ästhetische Erfahrung«389 – oder auf einen weiteren Begriff gebracht, den Whitehead aus der menschlichen Lebenswelt entlehnt hat: die Erfahrung von Schönheit. Whitehead verwendet den Begriff der »Schönheit« vor allem in AI auf der Ebene einzelner Erfahrungsprozesse von Individuen – als actual entities oder als Menschen – als Synonym für die gelungene »wech­ selseitige Anpassung der verschiedenen Faktoren innerhalb eines Erlebensvorgangs« (AI 441), wobei als Maßstab für die Anpassung hierbei das subjektive Ziel des Individuums beziehungsweise das allgemeine Ziel einer Gesellschaft dient. Also ist »alle ästhetische Erfahrung [...] Empfinden, das aus der Realisierung eines Kontrastes 388 Dass und wie auch Symbolisierungen Werte transportieren und Harmonien erzielen, haben wir im Kapitel »Symbol und Bedeutung« dieser Arbeit herausgestellt. 389 Vgl. Kapitel 3.1.5 dieser Arbeit.

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unter Identität hervorgeht« (PR 508) – und die wertende Ordnung von Kontrasten und Dissonanzen zu einer Einheit ist immer eine ästhetische Ordnung.390 Die vollkommene Harmonie entsteht durch eine Vervollkommnung der subjektiven Formen in ihren Details und in der sie zusammenfassenden Synthese391, die eine ästhetische Synthese mit einer möglichst starken Wirkung ist.392 Insofern erzielt eine vollkommene Harmonie vollkommene Schönheit. In diesem Ziel findet sich die Berücksichtigung der Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Zukunft – auf die Zukunft eines Individuums, einer Gemeinschaft, einer Nation, ja des ganzen Universums: »Die Teleologie des gesamten Universums ist auf Hervorbringen von Schönheit ausgerichtet« (AI 462), indem eine vollkommene Harmo­ nie angestrebt wird. Das Ziel ist die vollkommene Harmonie eines schönen, zivilisierten Universums. Whitehead sieht die eingangs in diesem Kapitel geschilderte Entwicklung als der Natur der Dinge immanent an, denn auch die »Zivilisation ist nichts weiter als das unablässige Streben nach den höheren Vollkommenheiten der Harmonie« (AI 472). Als unbestrit­ tenes Ziel auch der Zivilisation sieht Whitehead die »Verfeinerung des Fühlens« an.393 Diese Verfeinerung des Fühlens kann in unter­ schiedlichen Bereichen und auf unterschiedliche Weisen erfolgen. Auf jeden Fall ist es für eine Gesellschaft dabei von Bedeutung, »die Beziehungen ihrer Angehörigen untereinander und zu ihrer natürlichen Umwelt so einzurichten, dass in ihrem Erleben Erschei­ nungen evoziert werden, in denen die Harmonie kraftvoll-dauern­ der Dinge dominiert« (AI 489). Manchmal entstehen dabei auch untaugliche Versuche, (vermeintliche) Fehler oder Irrwege. Auch dem Aufwärtsstreben gegenläufige Tendenzen wie Dekadenz, Auflösungs­ erscheinungen und Disharmonien gehören als Zwischenschritte der Entwicklung auf lange Sicht dazu. Wenn Gefühle von Disharmonie im Umgang mit bestimmten Erscheinungen allerdings nicht aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Ausschnitte der Wirklichkeit, sondern aus einer mangelnden Übereinstimmung der Erscheinung 390 Vgl. RM 80: »Die wirkliche Welt ist das Resultat der ästhetischen Ordnung. […] Ordnung […] ist immer ästhetische Ordnung.« 391 Vgl. AI 442. 392 Vgl. AI 462: »Die Schönheit besteht im Erreichen einer inneren Konformität unter den verschiedenen Komponenten des Erlebens, die ihnen ein Maximum an Effektivität verleiht.« 393 Vgl. AI 489.

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mit der Wirklichkeit resultieren oder keine erfolgreiche Integration der einzelnen Elemente zu einem wirkungsvollen Muster gelingt, dann werden sie eben nicht als kraftvoll-dauerndes Ding empfunden und sind damit auch von geringer Relevanz, wenn nicht sogar schäd­ lich für die Zivilisation.394 Behält Whitehead mit dieser Annahme recht, so dürfen wir zuversichtlich sein, dass Castingshows zwar ein gewisses Bedürfnis des Menschen nach Ausdruck und Hoffnung auf Bedeutsamkeit erfüllen, dass es für ein solches Format aufgrund einer geringen Übereinstimmung mit der Erfahrungstiefe der Wirklichkeit auf Dauer aber immer schwerer wird, neue konstruktive Kräfte, Impulse und Emotionen aus dem Erfahrungsreichtum des massiven Wirklichkeitshintergrundes hervorzuheben und es daher irgendwann in zivilisatorischer Irrelevanz versinkt. Der fundamentale Maßstab, an dem persönliches Erleben genauso gemessen werden kann wie gesellschaftliches Wirken, künst­ lerisches Schaffen und politisches Engagement ist also die ästhetische Erfahrung als das starke und eindringliche Erleben einer Harmonie, die sich aus der Erscheinung ergibt, »deren Vordergrund aus dauern­ den Individuen mit einer bestimmten Stärke der subjektiven Tönung besteht, die durch den Hintergrund in Zusammenhang und ins Relief gebracht werden« (AI 489).

5.4.3 Kunst in der Zivilisation und Kunst der Zivilisation Wir entdecken eine Parallele, die sich aus der Logik der whitehead­ schen Organismusphilosophie heraus nahezu aufdrängt: Whitehead bringt auf eine ihm eigene Weise die Begriffe Kunst und Zivilisation miteinander in Verbindung, denn Kunst ist für ihn »im weitesten Sinne des Wortes das Gleiche wie Zivilisation« (AI 472). Dabei ver­ steht er unter Kunst mit einer allgemeinen Bedeutung die eben erläu­ terte Ordnung kreativer Prozesse nach bestimmten harmonischen Idealen: Die Gewohnheit der Kunst ist – so formuliert er bereits in SMW – die Bildung eines Ganzen mit einer »Auswahl, durch die kon­ krete Tatsachen so angeordnet werden, dass die Aufmerksamkeit auf 394 In MG merkt Whitehead an: »The point that I am emphasizing is the function of pattern in the production of Good or Evil in the finite unit of feeling which enbraces the enjoyment of the pattern« (MG 679). Das Böse bezeichnet er auch als »mal-adjustment of patterns of experience« (MG 679), das als solches erkannt, reflektiert und korrigiert werden sollte.

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5.4 Das kreative Fortschreiten eines zivilisierten Universums

besondere Werte gerichtet wird, die durch sie realisierbar sind« (SMW 232), und die Konstitution, diese im Ganzen zur Geltung kommenden »lebendige[n] Werte zu genießen« (SMW 232). Im Sinne der Schönen Künste ist Kunst, die aus sehr abstrakten Symbolisierungsaktivitäten entsteht, ein Spezifikum der menschlichen Sphäre. Sie exemplifiziert aber dieselben metaphysischen Prinzipien, denn in der Erfahrung eines gelungenen Kunstwerks »enthüllt das Ganze die Komponenten« (MT 110), sprich, es wird so geschaffen, dass im Rahmen des Gesamt­ eindrucks bestimmte Details eine intensive Wirkung entfalten und das Ganze als Summe der Details transzendieren können: In den großartigsten Beispielen jeder Art von Kunst wird eine wunder­ same Balance erreicht. Das Ganze spiegelt die Teile seiner Zusammen­ setzung wider, und jedes kann seinen Wert zur Geltung bringen. Die Teile führen zu einem Ganzen, das jenseits von ihnen liegt und für sie nicht destruktiv ist (MT 102).

Whitehead mag bei seinen Äußerungen zur Kunst beflügelt gewesen sein von der Idee, diese als Exemplifikation seiner metaphysischen Prinzipien interpretieren und damit erklären zu können – jedenfalls stellt er seine bemerkenswerten Thesen zur Funktion von Kunst vor allem in einen kosmologischen Kontext und nicht in einen systema­ tischen Rahmen, der es erlauben würde, von einer Kunsttheorie zu sprechen.395 Kunst ist also im engeren Sinne ein Element der Zivili­ sation genauso wie im weiteren Sinne ihr faktisches Ausleben und Gestalten. Sowohl die Kunst in der Zivilisation als auch die Kunst der Zivilisation zeichnen sich durch das Streben nach der Verwirklichung kreativer Neuerungen aus, die trotz der Betonung von individuellen Details und Kontrasten in einer intensiven Erfahrung und gleichzeitig in einem harmonischen Ganzen mündet. Die Kunst der Zivilisati­ on zeigt sich dabei auch in den gesellschaftlichen Strukturen, der Technik, den Wissenschaften. Ohne Eros in der Sache, ohne die Möglichkeit zum ästhetischen Genuss in Whiteheads metaphysischer Definition ist kein qualitativer Fortschritt zu erreichen.396 These ist, dass auch Symbolisierungen aus dem Bereich der Schönen Künste in 395 Anders verhält es sich unserer Ansicht nach mit den nun ausgiebig untersuch­ ten und erläuterten Anmerkungen zu Symbolisierungen allgemein, die trotz ihrer Verstreutheit – mit Lücken und Mängeln, aber dennoch – tatsächlich systematisch entfaltet und in seine Gesamtphilosophie integriert werden. 396 Eine ähnliche Idee findet sich bereits in OT: »What I have said about art is a parable which applies to other occupations and other studies. It is more than a parable; it is the

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

Whiteheads Konzept nie ausschließlich als Kunst um der Kunst willen produziert und rezipiert werden, sondern stets mit einem teleologi­ schen Impetus – der aber keine mechanistische Instrumentalisierung des Ausdrucks bedeutet. Ein Kunstwerk als es selbst zu genießen, bedeutet, eine ästhetische Erfahrung zu machen. Innerhalb seiner Philosophie interpretiert Whitehead den ästhetischen Genuss beim Erfahren eines Kunstwerks oder bei einer anderen Erfahrung als eine Form des Strebens397 – denn im ästhetischen Genuss als Erleben einer Intensität des Fühlens, die durch die Vereinigung kontrastieren­ der Eindrücke in einem Kunstwerk entsteht, findet der Drang nach Transzendenz des Bestehenden seinen Ausdruck. So ist die Wendung möglich, dass auch Kunstgenuss einen Beitrag leistet zur Vollendung des Universums im Genuss des Ganzen, zum genießenden und genossenen Universum. Das höchste Ziel allen Strebens ist ein Universum, in dem alle Ebenen des Erfahrens im Erfahren einer allumfassenden Harmonie aufgehoben sind. Wem das zu viel der elysischen Gesänge erscheint, der sei daran erinnert: Whitehead philosophiert mit seinem Konzept nicht einfach blauäugig das Böse, den Streit, die Entropie, die Fehler und den schlechten Geschmack aus der Welt hinaus. Whitehead weist, vor allem in FR und in AI, selbst oft genug darauf hin, dass es faktisch in der Natur Auflösungserscheinungen gibt, es in der Gesellschaft literal truth. The love of art is the love of excellence, it is the enjoyment of the triumph of design [i.e. beauty] over the shapeless products of chance forces« (OT 67). Auch in SMW bezeichnet Whitehead die Kunst im engeren Sinne als einen Spezial­ fall der grundlegenden Erfahrung von strukturierten Werterfahrungen, vergleiche SMW 232. In den Schönen Künsten ist das Ziel des Erzeugens möglichst intensiver Erfahrungen durch An-Ordnung von Details und Ganzem laut Whitehead sowieso ein Allgemein­ platz. Je nach Auswahl der Daten, die in ihm realisiert und zu einer abschließenden individuellen Harmonie koordiniert werden, erzeugt es auch unterschiedliche emotio­ nale Reaktionen und ästhetische Erfahrungen. Whitehead illustriert die metaphysisch begründete ästhetische Erfahrung in der Kunst, die sich aus der speziellen Auswahl und Anordnung der Daten einschließlich der Entscheidung über die Art der Unvoll­ kommenheit der angestrebten Harmonie, sprich über den Ausschluss bestimmter Daten ergibt, am Beispiel eines Gemäldes: »Es gibt allerdings auch Empfinden von ästhetischem Genuss in der Distinktion. Das Blau kann ein Element in einem Meisterwerk darstellen, während das Einsetzen von Rot an derselben geometrischen Stelle den ganzen ästhetischen Wert einfach zerstört« (MT 99). Zum Beispiel der Anordnung von Farben und Strukturen als Kriterium für die Güte und Gelungenheit eines Kunstwerks siehe auch MG 678/679. 397 Vgl. PR 392.

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5.4 Das kreative Fortschreiten eines zivilisierten Universums

immer wieder zu Phasen der Dekadenz kommt – und dass das Prinzip des Strebens nach Vervollkommnung zwar der Welt immanent und ihr Motor ist, wahrscheinlich aber nur eine asymptotische Annähe­ rung an das Ideal erfolgen kann. Einerseits nimmt er Umbrüche und Verfall als temporäre Konsequenzen des Freiheitsdrangs aller Wesen in Kauf, andererseits transzendiert er dissonante Elemente, indem er sie derart integriert, dass sie nicht ihre störende, sondern eine inspirierende Wirkung entfalten können. Durch die Vernunft ist es auf mesokosmischer Ebene dem Menschen zudem möglich, seine Sym­ bolisierung kritisch zu überprüfen und diese im Falle von entdeckten Fehlern oder Übeln zu ersetzen und zu überarbeiten. Whitehead konzipiert das Streben als janusköpfig in einem positiven Sinne: als Synthese der einander bedingenden Prinzipien Kreativität und Rationalität, Aufbruch und Ordnung, Verfall und Weiterentwicklung – und ja: Er lässt es sich nicht nehmen, seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, am Ende des Tages möge es das lächelnde Gesicht sein, mit der das Universum auf sich selbst blickt. Auch in der menschlichen Gesellschaft gilt das Kreativitätsprin­ zip als Eros der Vervollkommnung des Einzelnen mit Aufgehen des Einzelnen im Ganzen, das um eins bereichert wird.398 Für den einzelnen Menschen könnte dies bedeuten: Er strebt danach, sein Leben so zu gestalten, dass er einzelnen unterschiedlichen Bedürf­ nissen gerecht werden kann und dabei gleichzeitig ein stimmiges Gesamtgefühl für sein Leben, auch im Einklang mit seiner Umwelt, erzeugt. Für die Gestaltung des Zusammenlebens bedeutet dies für alle Mitglieder einer Gemeinschaft: Sie berücksichtigen bei ihrer persönlichen Entwicklung auch die Auswirkungen auf andere Indivi­ duen und auf die Gemeinschaft insgesamt, denn diese sind ebenso konstituierender Bestandteil ihres Lebens wie sie selbst. In der Politik bedeutet dies, wie wir bereits herausgestellt haben: Die Aufgabe eines Staates ist es, sein Funktionieren mit möglichst großer indivi­ dueller Entwicklungsfreiheit zu organisieren, diese aber durch einen Ordnungsrahmen auch zu gewährleisten. Für unseren Umgang mit kulturellen Symbolisierungen bedeutet dieser Gedanke: Symbolisie­ rungen jeglicher Art sind essenzieller Bestandteil einer Welt, in der Vgl. Lewis (1991:22): »In sum, for a civilized society the reality of its existence is the social togetherness of many, and its ideality is their civilized perfection as one. So it is that a civilized society, itself a one living in the many, and a many striving to live as one, comes to exemplify the ultimate creativity of things.«

398

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5 Symbolisierung als Kulturpraxis

der Mensch so viel Platz und Gestaltungsraum eingenommen hat, dass wir inzwischen vom Anthropozän sprechen. Sie abzulehnen oder zu unterdrücken beschneidet die Menschheit in ihren Entwicklungs­ möglichkeiten.399 Symbolisierungen können schlechter oder besser in die Gesamtharmonie des Universums passen und dem Menschen eine mehr oder weniger gelungene Integration in eine kosmische ›Gesamt­ heit‹ ermöglichen – je nachdem wie gut sie dazu taugen, das Erspüren des universellen Eros, der in allen Dingen liegt, zu ermöglichen. Symbolisierungen, die eine besondere Sensibilität für die menschliche Gemeinschaft, die Umwelt und den Kosmos steigern, funktionieren nicht nur im alltagspraktischen, sondern auch im metaphysischen Sinne besonders gut. Über die Revision und Verfeinerung kultureller Symbolisierungen kann mit der Annäherung der Symbolisierungen an metaphysische Wahrheiten daher der Fortschritt eines durch den Menschen zivilisierten Universums gelingen – so Whiteheads Hoff­ nung.

399 Ähnlich formuliert Faber die gesellschaftliche Rolle von Symbolisierugen bei Whitehead: »The suspension of symbolism, although it makes space for more chaotic forms of novelty, also devastates the sensitivity necessary for cultural refine­ ment« (Faber 2017:72).

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6 Fazit

Diese Arbeit sollte als Grundlage für weitere Überlegungen durch genaue Rekonstruktion und Systematisierung ein möglichst diffe­ renziertes Bild von Whiteheads Symbolisierungskonzept schaffen. Dazu war es notwendig, Whiteheads im Laufe der Zeit gewachsenen und weiterentwickelten Gedanken und Ideen rund um den Sym­ bolbegriff nachzuverfolgen und abzugleichen sowie Abweichungen, Änderungen und Lücken aufzuweisen und mit Blick auf die im Werk freigelegte Grundidee die Basis für eine abschließende Version ›Organismusphilosophie 2.0‹ herauszustellen – gewissermaßen als finales Lektorat, das Whitehead versäumt hat. Auf diese Weise ist auch deutlich geworden, an welchen Stellen es tatsächlich inhaltliche Inkonsistenzen oder ungeklärte Fragen gibt – und wo nicht. Einige Kritikpunkte konnten mit dem Hinweis darauf ausgeräumt werden, dass sie aus einem terminologischen Missverständnis oder aus der philosophischen Erwartungshaltung der Interpreten resultieren. Im Zuge unserer Untersuchung haben wir keinen Grund finden können, der die bisherige Vernachlässigung der Symbolisierungen in ihrer gesamten Dimension durch die Sekundärliteratur erklären könnte. Sicherlich gibt es einige Ungereimtheiten und Teile von Whiteheads Ideen zu Symbolisierungen sind rhapsodisch und nicht bis ins Detail umfassend und übersichtlich dargestellt – das aber gilt für viele Aspekte der whiteheadschen Philosophie, deren Inspirationskraft dadurch nicht geschmälert wird. Dennoch wird auch der Blick frei auf einige nach wie vor unklare Aspekte. Was offenbleibt oder zumindest zu diskutieren ist: Ist der Begriff des Symbols im Bemühen, alle Phänomene der Welt aus eini­ gen allgemeinen Grundsätzen herzuleiten, so allgemein geraten, dass er dadurch an Aussagekraft verliert? Wird der Begriff des Symbols dadurch für die Analyse der menschlichen Gesellschaft zu oberfläch­ lich und den Phänomenen kultureller Symbolisierungen nicht in der Tiefe gerecht? Wie genau bringt Whitehead den Ursprung von Sym­ bolen im kausalen Wirken der Welt und die faktisch gegebene Kon­ ventionalität bestimmter Symbole (er weist auf diese in AI bezogen

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6 Fazit

auf Sprache ja selbst hin) unter einen Hut? Können wir damit leben, dass seine Äußerungen zum Selbstbewusstsein oder zur personalen Identität notwendigerweise ›schwammig‹ bleiben müssen? In der Zusammenfassung ergibt sich das folgende Bild. Wir haben gefragt: Welche Rolle spielen Symbolisierungen in Whiteheads Philosophie und wie sind sie integriert? Tatsächlich spricht nach unserer Untersuchung viel für die These, dass Whiteheads Konzept der Symbolisierungen mit einer gewissen Notwendigkeit erwachsen ist aus seiner Diskussion der Philosophiegeschichte, seinem Anliegen einer philosophischen Durchdringung der menschlichen Alltagswelt und der daraus hervorgehenden Heuristik des spekulativen Gedan­ kenflugs, die im Entwurf seiner Kosmologie mündet. Whitehead identifiziert das Denken im Substanz-AkzidenzSchema, die Trennung von Geist und Materie sowie die Annahme der Kontingenz von Ereignissen als philosophische Problemzonen, die eine Erkenntniskluft aufreißen, in die Solipsismusfalle und zum Leerlauf von Erklärungen jenseits eines Psychologismus führen. Als Alternative, die in ihren Konsequenzen maßgeblich zur Entwicklung seines Symbolisierungskonzeptes beigetragen hat, legt Whitehead eine revidierte subjektivistische Organismusphilosophie vor. Diese nimmt als kleinste wirkliche Einheiten Prozesse an, die sich aus der Integration von Formbestimmungen in das Zusammenspiel kau­ sal wirksamer physischer und wertender psychischer Erfahrungsvor­ gänge formieren.400 Daraus lässt Whitehead eine Welt als Gesamt­ organismus erwachsen, die auch die Prozesse unserer Selbstwerdung 400 Bisweilen taucht der Eindruck auf, Whitehead schlage sich doch stärker entweder auf die Seite der konkreten Kausalität oder auf jene der abstrakten Formbestimmung. Dieser Eindruck mag dadurch entstehen, dass Whitehead sich in einem inneren gedanklichen Dialog mit der Philosophiegeschichte befindet. Je nachdem, gegen welchen ›Dogmatismus‹ er sich gerade wendet, betont er den einen oder anderen Aspekt in Abgrenzung zu der kritisierten Position stärker. Sieht er den Menschen aus seiner biologischen, kausal wirksamen Umwelt fortgerissen und isoliert als Geisteswesen von der Natur fortdriften, wie dies im Skeptizismus und im Idealismus der Fall ist – dann betont er die vernachlässigte Bedeutung der kausalen Wirksamkeit. Sieht er den Menschen hingegen unreflektiert in einer Flut von Reflexen und in einem massigen undifferenzierten Hintergrundrauschen untergehen, sich in Kriegen verzehren oder in Belanglosigkeiten ergehen, wie dies in den Dekadenzphasen von Gesellschaften droht, dann betont er die Bedeutung der menschlichen Abstraktions­ fähigkeit und der Fähigkeit zum intensiven Erfahren harmonischer Strukturen, die bei der Filterung bestimmter Eindrücke zu Sinneswahrnehmungen beginnt und auch bei komplizierten mathematischen Berechnungen, großen Kunstwerken und dem Erdenken wissenschaftlicher Innovationen nicht endet.

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6 Fazit

in Wechselwirkung mit unserer Umwelt einschließt und die daher von uns prinzipiell erfahrbar ist. Allerdings steht er damit vor einer Herausforderung: Da die Kosmologie, als die er seine Metaphysik versteht, gedacht ist als ein System von Ideen, das als Grundlage zur Erklärung all unserer alltäglichen Erfahrung dienen können soll, muss er sowohl unsere Erfahrung der mesokosmischen Alltagswelt als eine Welt voller beständiger Gegenstände mit Eigenschaften als auch die Entwicklung von Zivilisation und Kultur, die den Menschen wesentlich prägen, erklären können. Das heißt, Whitehead braucht sowohl Antworten auf erkenntnistheoretische als auch auf gesellschaftsphilosophische Fragen – und muss, um Kohärenz und Anwendbarkeit zu garantieren, diese Antworten aus seinen metaphysischen Grundprinzipien heraus entwickeln und durch Hinweise auf Phänomene unserer Alltagser­ fahrung plausibilisieren. Als Konsequenz aus der Konzeption seiner Ontologie braucht er eine Erkenntnistheorie, mit der er sowohl die Spaltung der Natur (wie sie Skeptizismus und Idealismus nach sich ziehen) als auch den Trugschluss unzutreffender Konkretheit bezüglich der gegenständlichen Welt (dem der naive Realismus erliegt) umgehen kann. Auch die empirische Evidenz des mensch­ lichen Eingebundenseins in eine Fülle sozialer Regeln, kultureller Phänomene und gesellschaftlicher Fort- und Rückschritte darf er nicht allein phänomenologisch als reines Resultat des menschlichen Geistes erklären. Als Lösung entwickelt Whitehead einen provisorischen Realis­ mus, in dem die uns vertraute Welt als Konsequenz aus dem meta­ physischen Grundprinzip der Kreativität entsteht und in dem Symbo­ lisierungen eine zentrale Rolle spielen. Die mesokosmische Welt der (überwiegend) klar und distinkt identifizierbaren Gegenstände einer­ seits sowie darauf aufbauend die Phänomene des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens andererseits entstehen in einer organistischen Welt aus Prozessen der Loslösung von der konkreten Wirklichkeit, durch den Blick mit einem gröberen Raster auf die Welt. Diese Abs­ traktionsprozesse werden initiiert durch eben jenes Streben, das den geistigen Pol betont, Neuerungen sucht und auf eine Vertiefung der Erlebensintensität abzielt. Erreicht wird diese Abstraktion durch das Arrangement von Erfahrungen auf eine Weise, die aus den Wirknet­ zen ausgewählter Regionen bestimmte darin verwirklichte Formen extrapoliert und beides in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander setzt. Ist das Verhältnis derart gestaltet, dass durch die Erfahrung die­

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6 Fazit

ser Formen auch die sie verwirklichenden ursprünglichen Kausalpro­ zesse spürbar gemacht werden, so nennt Whitehead die Ergebnisse dieser Abstraktionsprozesse Symbolisierungen – den Stuhl wie das Sinfoniekonzert, die Ampel wie die Friedenstaube, den Wald wie die Sprache.401 Symbolisierungen entstehen also als Verbindung zweier unterschiedlicher Weisen des Menschen, dieselbe Wirklichkeit zu erfassen: als Synthese der Wahrnehmung gegenwärtiger Formen und Strukturen und der Wahrnehmung kausal-emotionaler Wirkungen. Allen Symbolisierungen gemein ist: Sie resultieren aus dem Prozess des menschlichen Geistes, die Wirklichkeit zu strukturieren, sind aber keine rein geistigen Konstrukte. Es ist also sein Konzept der Symbolisierungen, das als Binde­ glied zwischen ontologischer Wirklichkeit, mesokosmischer Erfah­ rungswelt und Phänomenen der Kultur funktionieren soll. Wenn Whiteheads Symbolisierungen eine solch zentrale Funktion überneh­ men sollen, dann lastet auf ihnen eine größere Verantwortung für sein spekulatives Gedankenschema, als es in der Sekundärliteratur bisher ausgesprochen worden ist. Können sie dieser Verantwortung gerecht werden? Neben einem Blick auf die Konsistenz und Kohärenz seiner Ausführungen ist es auch der Versuch der Anwendung, der über diese Frage entscheidet. Whitehead war, wie es scheint, mehr daran gelegen, die metaphysischen Grundlagen auszuformulieren, als selbst Möglichkeiten der Anwendung im Detail darzustellen, denn er bringt relativ wenige und kaum konkret ausgearbeitete Beispiele, was den Eindruck erwecken mag, seine Ausführungen hängen etwas haltlos in der hohen Luft. Dennoch ist es das Kriterium der Anwendbarkeit, das Whiteheads Kosmologie gegen jene Kritik wappnen kann, die sich an dem spekulativen Moment seiner Thesen stößt. Popper bewertet Whitehead als eine der »einflussreichsten irra­ tionalistischen Autoritäten der Gegenwart« (Popper 1970:304) und seine Philosophie als gefährlich, weil sie sich – da Poppers Ansicht nach unmethodisch und weder argumentativ noch begründend – dem rationalen Diskurs entzieht. Obwohl Whitehead durchaus auch begründet (zum Beispiel die Entwicklung und Verwendung seiner Terminologie), wird sich doch auch am Gelingen der Anwendung auf konkrete Phänomene und Erfahrungen messen lassen, ob sein 401 Auch das Bewusstsein und Propositionen entstehen im Zuge von Abstraktions­ prozessen, diese fallen aber aus der Kategorisierung in gegenständliche und kulturelle Symbolisierungen heraus.

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philosophisches Unterfangen geglückt ist. Oder wie Wiehl es charak­ terisiert: »Whiteheads Philosophie ist eine ontologische Kosmologie, genauer: eine formale Ontologie in kosmologischer Anwendung. Anwendung ist ihr methodisches Prinzip im Gegensatz zu einer Grundlegung oder Begründung« (Wiehl 2007:34/35). Bleiben wir zuerst bei den inhaltlichen und formalen Aspek­ ten seines Konzepts. Oft werden Whiteheads Wahrnehmungen im Modus der symbolischen Referenz als realistisch und Symbol und Bedeutung als naturalistisch konzipiert ausgewiesen, indem mit Rückgriff auf die ontologische Ebene betont wird, dass sie dem orga­ nistisch-subjektivistischen Prinzip folgen und als (Selbst-)Schöp­ fungsprozesse entstehen, durch die sich auch der Wahrnehmende und die Welt selbst erst entwickeln, also aus der wirklichen Natur aller Dinge als Prozessen hervorgehen.402 Als Teil einer ausgehend von den Aktivitäten des menschlichen Geistes subjektiv erzeugten, aber gerade dadurch doch wirklichen Verbindung des Menschen mit der Welt verstanden, ermöglichen Symbolisierungsakte, unsere Er­ fahrungen der Welt philosophisch in einem moderaten Realismus zu verankern. Die Welt konstituiert sich und wird wirklich dadurch, dass Prozesse entstehen – hierzu gehören auch die Wahrnehmungspro­ zesse des Menschen als ein sich selbst und die Welt in diesen Prozes­ sen erzeugendes Subjekt. Diese Konzeption führt – im Gegensatz zum klassischen Subjektivismus – nun gerade nicht in einen epistemischen Skeptizismus: Wir können laut Whitehead davon ausgehen, dass es die Wand, die wir betrachten, in einem bestimmten Sinne wirklich gibt, denn die Wand dieses Raumes und wir selbst sind Protagonisten im gleichen Symbolisierungsprozess, in dem wir innerhalb speziel­ ler Regionen unseres Körpers die dort ablaufenden Ereignisse in Wechselbeziehung zu einem bestimmten Gebiet außerhalb unserer selbst als Wand erfahren. Der Prozess der Symbolisierung beginnt zwar in uns und abstrahiert in seinen Ergebnissen von der organis­ tischen Grundbeschaffenheit der Wirklichkeit, basiert aber in den allermeisten Fällen auf strukturellen Gemeinsamkeiten der beiden synthetisierten reinen Wahrnehmungsweisen und wir können daher davon ausgehen, dass er somit in der Wirklichkeit verankert ist. Diese soweit korrekte Charakterisierung reicht aber nicht aus, um Whiteheads eigene Anforderungen an Symbolisierungen abzu­ decken, er braucht eine Anbindung der Abstraktionen auf mesokos­ 402

Vgl. hierzu vor allem Rohmer 2017.

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mischer Ebene an die Wirklichkeit. Wenn wir, vereinfacht gesagt, alles für wirklich nehmen, so wie es in und mit uns entsteht, dann fehlt uns entweder der Zugang zu unserer Alltagswelt, oder wir landen erkenntnistheoretisch in einem naiven Realismus oder in einem Skeptizismus – und können keine Irrtümer erklären. Da Whitehead beide Positionen aber ausschließt und Symbolisierun­ gen Irrtumsanfälligkeit zuspricht, kommt er um die Formulierung von Wahrheitskriterien zur Überprüfung der Angemessenheit von Symbolisierungen nicht herum. Diese Wahrheitskriterien wiederum erschweren in einigen Punkten den konsistenten Bezug auf seine ontologischen Prämissen. Whitehead gibt ein pragmatisches und ein ›kohärenztheoretisches‹ Kriterium an, die uns beide auch faktisch eine Überprüfung von Symbolisierungen auf Irrtümer ermöglichen. Letztendlich aber definiert er (Irrtum und) Wahrheit doch auch als (fehlende) Übereinstimmung von »Erscheinung und Wirklichkeit«: Elemente aus den Symbolisierungen, so wie wir sie im Alltag wahr­ nehmen, müssen zum Wahrsein der Symbolisierung tatsächlich in der Wirklichkeit der wahrgenommenen Region vorhanden sein. Ist dieses Kriterium in seine Aussagen zu Symbolisierungen zu integrieren und wie sieht es mit der Anwendung aus? Bewundern wir beim Betrachten einer hölzernen Marienstatue die Kunstfertigkeit und Spiritualität, mit welcher der Schnitzer die Aura anmutiger Unschuld aus einem Holzklotz herausgearbeitet hat, obwohl wir ein beliebiges Exemplar industriell gefertigter Massenware aus einem Devotionalienladen in Altötting vor uns haben, so sind wir nicht Opfer unseres fehlerhaften direkten Wissens über die Welt geworden, denn unsere Kenntnis über das Material, die Formen und Farben der Statue sowie unsere Emotionen beim Betrachten derselben konstituieren sich in einer als Prozess verstandenen Welt in einem direkten und unvermittelten Erfahrungserleben. Sie können also nicht fehlerhaft sein. Der Irrtum entsteht dann, wenn wir ausgehend von unserem direkten Wissen eine fehlerhafte symbolische Referenz herstellen, indem wir zwei Wahrnehmungsweisen unpassend miteinander in Verbindung brin­ gen – in diesem Fall den Blick auf die Statue und die emotional geprägte Annahme kunstfertiger Handarbeit, die in dem Gebiet der Statue aber gar nicht zu finden ist. Selbiges geschieht zum Beispiel auch, wenn wir dem Wolf zum Opfer fallen, dem wir uns zu weit genähert haben, weil er im harmlos scheinenden Schafspelz steckte, oder vor der Lichtprojektion einer Wand stoppen, da wir Wände im Normalfall für undurchdringlich halten.

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Für Sinnesgegenstände ergibt sich kein Widerspruch und die Überprüfung einer Übereinstimmung von Symbolisierung und Wirk­ lichkeit ist (zumindest theoretisch oder asymptotisch) relativ unpro­ blematisch. Die Empirie hilft uns dabei, wie unsere Beispiele der vermeintlichen Freundin, die sich beim Näherkommen als ihre Zwil­ lingsschwester entpuppt, oder der vermeintlich kunstfertig herge­ stellten Marienstatue, die doch keinen Schnitzerschweiß an sich trägt, da sie sich als industriell produziert herausstellt, illustriert haben. Auch unsere Erfahrungen von kulturellen Symbolisierungen mit einem deutlich emotionalen Gehalt können Hinweise geben auf ihre Wahrheit. Das Hören von Musik, das Betrachten eines Gemäldes, das Anschauen einer Tanzaufführung erzeugen häufig eine relativ ähnliche Wirkung bei verschiedenen dafür empfänglichen Wahrnehmenden. Laut Whitehead resultiert dieser Effekt daher, dass die Anordnung ihrer Formen wirklich durchdrungen ist von den Emotionen und Werten, die diese Kunstwerke übermitteln. Es ist eben nicht beliebig, welche Töne, Farben oder Gesten wie arrangiert werden, um als Gesamtheit eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Zumindest aber für Sprache wird es schwierig, am Symbolisie­ rungskonzept und gleichzeitig an einer zumindest theoretisch mögli­ chen Überprüfbarkeit einer ›Wahrheit‹ festzuhalten, die sich nicht nur auf sprachlich formulierte Aussagen, sondern auch auf die einzelnen Wörter der Sprache beziehen muss. Es reicht nicht aus, ein mit der Wirklichkeit konformes Element finden zu wollen, das irgendwo in der Verkettung der Erfahrungsprozesse steckt, die zur Symbolisierung von Wörtern führen, denn das erklärt eben nicht, wieso dieses oder jenes Wort mehr oder weniger dazu taugt, eine bestimmte Bedeutung zutage zu fördern. Andererseits ist es zu viel, wenn wir annehmen, das Wort »Wald« erhalte die Bedeutung ›Wald‹ dadurch, dass jedes Mal, wenn jemand es hört oder verwendet, diese Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit verknüpft wird mit der Erinnerung an das, was jemand schon einmal als Wald erfahren hat; und wenn wir zudem annehmen, es komme zu einem gemeinsamen Gebiet der Wahrnehmungen dadurch, dass die Wirkungen der Erinnerung bis in den gegenwärtigen Moment reichen, in dem jemand das Wort »Wald« hört – dann nämlich wäre es hinfällig, die Wahrheit der Symbolisierung ›Wald‹ überprüfen zu wollen. Das führt uns zu der Frage, ob es tatsächlich sinnvoll ist, alle unterschiedlichen Abstraktionsphänomene, die Whitehead als Sym­ bolisierungen bezeichnet, unter diesem Begriff zu subsumieren. Ein

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Schluss dieser Arbeit ist es, dieses Vorgehen zumindest als ›taktisch‹ ungeschickt zu bewerten, aus folgenden Gründen: Erstens ist die Extension der »Symbolisierung« so groß, dass der Begriff (fast) alle mesokosmischen Phänomene umfasst und damit eigentlich obsolet wird. Zweitens unterscheidet Whitehead zwar nicht verschiedene Kategorien von Symbolisierungen voneinander, implizit aber nimmt er durch die Art seiner Thematisierung bestimmter Symbolisierungen dennoch Differenzierungen vor – und es bleibt unklar, warum er diese im Sinne einer stringenteren Strukturierung nicht expliziert. Drittens sieht man nicht zuletzt an Whiteheads Verwendung unter­ schiedlicher Wahrheitskriterien (Pragmatik, Kohärenz/Konvention, Korrespondenz), dass eigentlich eine weitere inhaltliche Ausdifferen­ zierung des Symbolisierungskonzeptes notwendig wäre. Dies ist auch der Grund, warum wir trotz Whiteheads Ansatz der durchaus systematischen Thematisierung von Symbolisierungen innerhalb sei­ ner Philosophie eigentlich eher von einem Symbolisierungskonzept als von einer Symboltheorie sprechen sollten. Warum aber wählt Whitehead dann diese weiten Begriffe »symbol«/»symbolism«? Eine Vermutung ist, dass auf diese Weise die gesamte mesokosmische Welt als Abstraktion umfasst werden soll und auch die kulturellen Dimensionen von Symbolisierungen durch die vertrauten Begriffe von Symbol und Bedeutung angemessen integriert werden. Indem Whitehead »Symbol« und »Bedeutung« auch auf die Prozesse der Wahrnehmung überträgt und gleichzeitig die Bedeutungsseite durch emotional-kausale Wirkungen charakterisiert, ist die ontologische Wirklichkeit auch in den Dingen unserer Alltagswelt spürbar. So knüpfen sich die Maschen zwischen den Strängen der einzelnen Ebenen zu einem Gesamtnetz organistischen Strebens. Dennoch wäre eine terminologische Fixierung der implizit vorhandenen Diffe­ renzierung dem Verständnis von Whiteheads Anliegen zuträglich gewesen. Ein Ansatz wäre es zum Beispiel, »Zeichen« oder einen anderen Terminus als Gattungsbegriff für Abstraktionen allgemein zu verwenden und zu unterscheiden zwischen Symbolisierungen erster Stufe mit einer konkreten Bedeutung (Alltagsgegenstände) und Symbolisierungen zweiter Stufe mit einer Nebenbedeutung, die auf denen erster Stufe aufbauen (kulturelle Symbolisierungen). Nicht ganz zu Unrecht stellt Berve fest, dass der Begriff des Sym­ bols bezogen auf Whiteheads Ontologie »keine integrale Funktion innerhalb des in Prozess und Realität formulierten Gesamtkonzepts aus[übt]«, da sich »der grundlegende allgemeine Prozesszusammen­

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hang des Universums [...] ohne Rückgriff auf Symbolisierungsakte im Sinne von Whiteheads Begriffsverständnis beschreiben« (2015:164) lässt. Blickt man im Prozesszusammenhang nur auf die unmittelbar wirklichen, da ontologisch primären Ereignisse, so sind »die elemen­ taren Tatsachen der unmittelbar wirklichen Erfahrung [...] wirkliche Einzelwesen, erfasste Informationen und Nexūs. Alles andere ist für unsere Erfahrung nur abgeleitete Abstraktion« (PR 60). Symbolisie­ rungen sind zwar in der Wirklichkeit verankert, bleiben aber ein sehr abstraktes und in ihrer engeren Definition anthropologisches Phänomen, daher könnte man sie in einer Hierarchie der Elemente in Whiteheads Metaphysik tatsächlich als Randphänomen ansehen. Das allerdings, was die ontologisch primären Ereignisse im Prozess des (Selbst-)Werdens zur Vollendung eben dieses Prozesses antreibt, ist das analog konzipierte Urprinzip der Kreativität als Schöpfungskraft, die nur wirklich wird in ihren Geschöpfen – und dies führt über eine verstärkte Betonung des geistigen Pols, das Herausstellen von Formen und das Streben nach Freiheit in einem gewissen Sinne notwendigerweise zu Symbolisierungen, vor allem auch zu menschli­ chen Symbolisierungen. Eine interessante Frage im Zusammenhang mit der Exemplifizie­ rung und Ausgestaltung der Urprinzipien Kreativität und Rationalität insbesondere durch den Menschen ist jene nach der Notwendigkeit bestimmter Entäußerungen der metaphysischen Prinzipien. Kann man Whitehead auch so lesen, dass die Entwicklung des Menschen und der menschlichen Zivilisation nicht nur eine exemplarische, aber kontingente Entäußerung des Kreativitätsprinzips darstellt, sondern sich als notwendige Konsequenz aus den ontologischen Prämissen ergibt? Eine solche Interpretation wäre jedenfalls sehr weitreichend: Sie würde Whiteheads Ansatz, anthropomorphe Begriffe zu allge­ mein philosophischen Termini zu erweitern, noch einmal in ein besonderes Licht rücken und könnte dem Menschen eine sehr zentrale Funktion in Whiteheads Kosmologie einräumen. An dieser Stelle noch einmal ein kleiner Exkurs: Man kann Whitehead durchaus einen terminologischen Anthropomorphismus zuschreiben – als Vorwurf des Anthropozentrismus und Hinweis auf eine mögliche Eindimensionalität seiner Kosmologie greift die Zuschreibung allerdings zu kurz. Bezüglich seiner Terminologie ist dieser Anthropomorphismus unter anderem in Whiteheads Überle­ gungen zur Sprache begründet. Sprache als eine wesentliche Sym­ bolisierung abstrahiert von den wirklichen Prozessen der Welt und

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kann dadurch (besonders in Bezug auf den Ausdruck metaphysischer Wahrheiten) nur unvollkommen und elliptisch sein. Es muss deshalb, so Whitehead, »ein Überspringen der Phantasie hinzukommen […], um ihre Bedeutung in ihrer Relevanz für die unmittelbare Erfah­ rung zu verstehen« (PR 49). Dieses fantasievolle »Aufblitzen von Einsichten, die die bereits in der Etymologie und der Grammatik stabilisierten Bedeutungen überschreiten« (AI 402/403) und die Ahnung einer möglichen tieferen Bedeutung aufkommen lassen, sieht Whitehead erleichtert durch die Verwendung und Erweiterung vertrauter Begriffe. Die mannigfache Kritik an Whiteheads philoso­ phischer Terminologie als schwer verständlich mag als Indiz für das Scheitern seines Vorhabens gesehen werden – inhaltlich aber ist sein Anthropomorphismus eigentlich ein auf den Kopf gestellter und zeugt eher für eine Erweiterung als für eine Verengung des philosophischen Horizonts. Schließlich lässt er nicht das Universum als Abbild des Menschen entstehen, sondern ganz im Gegenteil. Es bietet sich auch deshalb an, das Universum mit Begrifflichkeiten zu beschreiben, die uns vertraut sind, weil darin zum Ausdruck kommt: Der Mensch und seine Sprache entstehen aus den gleichen ontologischen Grundprin­ zipien wie das Universum, in dessen Entwicklung die Entwicklung des Menschen inbegriffen ist. Am Ende könnte man Whitehead in diesem Punkt Schützen­ hilfe ausgerechnet von Peirce geben, der – zumindest zeitweise – Metaphysik für ein Thema hält, das »vielmehr kurios als nützlich ist« (Peirce 1991:208). Peirces Rechtfertigung eines pragmatischen Anthopomorphismus mit dem Hinweis »it is well to remember that every single truth of science is due to the affinity of the human soul to the soul of the universe, imperfect as that affinity no doubt is« (Peirce 1976:34) erinnert an Whiteheads Erklärung einer Übereinstimmung von menschlichen und natürlichen Prozessen mit der Annahme, dass »eine Analogie zwischen dem menschlichen Erleben und den Vorgän­ gen in der Natur besteht« (AI 341), es »innerhalb der Natur selbst eine Tendenz zum Gleichklang gibt« (AI 441) und Mensch und Universum sich miteinander weiterentwickeln. Wenn auch von unterschiedlichen Ausgangspositionen aus, so sehen Peirce wie Whitehead doch beide den Menschen als Element des Universums und die Entwicklung von Kunst, Kultur und Zivilisation als Beitrag des Menschen zur Entwicklung des (zivilisierten) Universums an. Pape interpretiert Peirce in diesem Sinne wie folgt: »Durch die historische Tatsache der Evolution des Lebens sind wir Teil der Realität, die wir verstehen

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wollen« (Pape 1986:56), und damit ist auch »dieses Universum [...] durch bewusst kontrollierte Zeichenprozesse auf eine evolutionär neue Weise veränderbar« (Pape 1986:58). Sowohl Whitehead als auch Peirce nehmen an, dass Pragmatismus auch deshalb funktioniert, weil der Mensch aus seiner kosmischen Beschaffenheit heraus das Univer­ sum als Universum erlebt und in seinem Erleben prägt und fortführt. Man kann es – ohne Whitehead deshalb klassischen Anthropo­ zentrismus vorwerfen zu müssen – auch so sehen: Die Idee der Welt als prozesshaft und organistisch, die Verankerung von Erfah­ rung bereits in den kleinsten Geschehnissen des Weltorganismus, die Integration physischer und psychischer Vorgänge in ebendiese Geschehnisse, die Etablierung von Kausalität, Wertungen und Sinn­ stiftung als grundlegende metaphysische Aktensowie das Urprinzip der Kreativität und damit verbunden das Prinzip des Strebens nach Harmonie erscheinen fast als menschliche Alltagswelt im Mikro­ kosmos. Und andersherum: Sobald das dem Universum ureigene Streben nach Neuem sich so weit manifestiert hat, dass durch eine ausgeprägte Komplexität in den Zusammenschlüssen von Ereignissen durch die Ausbildung eines starken geistigen Pols Ordnungsprozesse entstehen, die bis hin zum Bewusstsein reichen, taucht so etwas wie der Mensch tatsächlich mit einer gewissen Folgerichtigkeit auf. Dennoch ist und bleibt er eingebunden in das organische Ganze. Das liegt auch daran, dass die Phänomene der Welt bei Whitehead tat­ sächlich ineinandergreifen. Das Schwingen des Universums zwischen Einzelnem und Ganzem zeigt beides: Das Universum ist (auch) das Resultat menschlicher symbolischer Gestaltungskraft und gleichzei­ tig exemplifiziert die menschliche Gesellschaft die Grundprinzipien des Universums einer Harmonie zwischen Wandel und Ordnung. Es entsteht jedes Neue als ein Individuelles und gleichzeitig fügt es sich in das Ganze, das sich vermehrt um eins weiterentwickelt. In dem Moment, in dem Menschen auf der Bildfläche erscheinen und ihre Beziehungen zueinander und zu ihrer Umwelt den Fortgang des Universums wesentlich prägen, ist Symbolisierung trotz ihrer Abgeleitetheit und Oberflächlichkeit nicht mehr aus den kosmischen Gesamtprozessen, die nun eben wesentlich auch die menschlichen Gestaltungsprozesse einschließen, wegzudenken. Der Drang des Uni­ versums nach Neuem, das Streben nach Höherem, der Sinn für Abenteuer, die universale Kreativität, die das ontologisch primäre Einzelwesen genauso in seiner Entwicklung durchdringt wie den einzelnen Menschen oder eine ganze Zivilisation, der allen Prozes­

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sen immanente Eros – das sind alles Beschreibungen für das eine grundlegende Prinzip, aus dem die Welt sich erschafft. Whiteheads Symbolisierungen eine relevante Funktion für seine Kosmologie und für das Fortschreiten des zivilisierten Universums abzusprechen, bedeutet in diesem Sinne, das Prinzip der Kreativität zu negieren. Kommen wir vom großen Konzept noch einmal zurück auf eine stärker pragmatische Ebene: Trotz eingangs angesprochenen offenen Fragen im Detail bewährt sich Whiteheads Symbolisierungskonzept in seiner Anwendung. Zum einen ist das Konzept anwendbar als Erklärung vieler mesokosmischer Phänomene, zum anderen kann es auch dazu dienen, einen zukünftigen Nutzen zu generieren, der auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet ist und zur Verbesserung der Welt beitragen kann. Symbolisierungen dienen nicht nur dazu, das Alltags­ leben pragmatisch zu strukturieren, sondern auch dazu, es überhaupt zu ermöglichen und maßgeblich zu gestalten. Folgende Funktionen übernehmen Symbolisierungen dabei: Sie sorgen für Loslösung des Menschen aus primitiven Notwendigkeiten und ermöglichen die Schaffung einer abstrakten Ordnung – gleichzeitig bieten sie aber auch einen Zugang zur Emotionalität und Direktheit der hinter den Konstrukten der Zivilisation stehenden Wirklichkeit. Außerdem bieten sie die Möglichkeit zu einer relativ freien Selbstgestaltung des Individuums – gleichzeitig tragen sie aber auch zur Stärkung der Gemeinschaft einer Gruppe von Individuen bei. Einen sehr aufschlussreichen Beitrag leistet das Symbolisie­ rungskonzept auf jeden Fall zur Klärung der Frage, warum Symbole in unserer alltäglichen Erfahrung tatsächlich eine bestimmte Wirkung auf uns haben. Zudem erhält durch Whiteheads Symbolisierungen unsere immer wieder auftauchende Vermutung eine philosophische Untermauerung, dass auch artifizielle Symbole wie jene in der Kunst eben nicht nur auf Konventionalität beruhen, sondern in der Wirk­ mächtigkeit des Universums, dessen Teil wir sind, verankert liegen (auch wenn wir diese Ahnung vielleicht anderes formulieren würden). Mit der Synthese von präsentativer Unmittelbarkeit und kausaler Wirksamkeit vereinen sich für uns Mikro- und Mesokosmos, denn indem im Prozess der symbolischen Referenz die Symbole eine Abstraktion vom Kausalnetz der Wirklichkeit ermöglichen und diese gleichzeitig als ihre Bedeutung ans Licht bringen, verhelfen sie uns zu praktikablen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern im Alltag und gleichzeitig zu einer Ahnung der Welt in der Gesamtheit ihrer Formen und Kräfte. Die symbolisch vermittelte Bezugnahme auf die Umwelt

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birgt stets auch Kausalbeziehungen im Sinne emotional wirksamer Prozesse. Mag diese Idee bei der Wahrnehmung eines Tisches als Tisch im ersten Moment noch etwas fremd anmuten, so wird auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene aber kaum jemand von der Hand weisen mögen, dass die Begegnung mit Symbolen oder Symbol­ komplexen wie Nationalflaggen, Gedichten oder Musikstücken eine hochemotionale Angelegenheit sein kann. Die Wand in Pink Floyds Rock Opera The Wall können wir laut Whitehead als Zeichen der Trennung und Unterdrückung verstehen, da in ihrer Funktion als Symbol in diesem Kontext bestimmte negativ konnotierte Gefühls­ schwingungen wie Ausgrenzung, Blockade und Disharmonie betont und besonders wahrgenommen werden. Doch auch Gegenständen begegnen wir häufig ja nicht völlig neutral: Wir verbinden sie mit Abneigungen und Vorlieben, mit Ängsten, Sehnsüchten und Erinne­ rungen. Durch die Verankerung der emotionalen Wirkungskompo­ nente von Symbolisierungen in den Grundlagen seiner Metaphysik kann Whitehead nicht nur erklären, warum uns beim Betrachten von Picassos »Guernica« das Gefühl einer gewissen andächtigen Beklom­ menheit beschleicht, sondern uns mit diesem Gefühl auch in der Welt verankern: Wir, das Kunstwerk und die emotionalen Schwingungen zwischen dem Kunstwerk und uns sind Teil desselben Universums, das man sich als ein gesamtes Schwingungsnetz vorstellen kann. Aus Whiteheads naturalistischer Symbolphilosophie ergibt sich ein bestimmtes Menschenbild. Die Einbindung von Bedeutsamkeit und Wertungen in die ontologischen Grundlagen kultureller Symbo­ lisierung macht die Verantwortung für unseren Umgang miteinander und mit der Welt insgesamt zu einem essenziellen Element unseres Seins. Wir stehen in der Pflicht, eine Kritik der Kultur vorzuneh­ men und unsere Symbolisierungen auf die Angemessenheit ihrer Wirkungen für das Funktionieren der gegenwärtigen und der zukünf­ tigen Gesellschaft zu überprüfen – und, falls notwendig, diese auch umzustürzen, selbst wenn dies bisweilen ein schmerzhafter Prozess sein mag. Eine ähnliche Rolle der Symbolisierungen stellt auch Lachmann fest: Er sieht Whiteheads Symbolphilosophie zwar nicht primär als Kulturphilosophie, sondern »in der Tradition der Kritik an zen­ tralen Positionen der empiristischen Wahrnehmungstheorie« als alternative, durch einen organistischen Ansatz fundierte Wahrneh­ mungstheorie an – stellt aber gleichzeitig fest, »dass Whiteheads Symboltheorie, obwohl sie die Naturseite der menschlichen Existenz

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fokussiert, wichtige Konsequenzen für die kulturelle Existenz hat« (Lachmann 2000a:198). Auch Hampe sieht eine Verbindung von Symbolisierungen, Gesellschaftsentwicklung und Umsetzung des kosmologischen Urprinzips, die er wie folgt formuliert: »Die Fähigkeit des Geistes, abstrakte Ideale und Theorien zu erfassen, Symbolsys­ teme zu manipulieren und dadurch Möglichkeiten zu betrachten, ist die Bedingung für die Kreativität des menschlichen Handelns« (Hampe 1998:167). Auch wenn die Menschheitsgeschichte in vielen Phasen durch Zeiten von Umbrüchen, Hunger und Krieg oder sonstigen Unsi­ cherheiten wie Umweltverschmutzung, Ressourcenverbrauch oder Fremdenfeindlichkeit geprägt ist, so ist doch ihr – bisweilen gut ver­ borgenes, aber existentes – allgemeines Ziel die Vervollkommnung des Lebens in Harmonie miteinander und dem Universum. Dieses Ziel, trotz Auflösungserscheinungen eine Höherentwicklung durch die letztliche Integration von Dissonanzen in ein größeres Ganzes zu erreichen, ist in der metaphysischen Grundstruktur des Universums angelegt. Wir setzen auf der mesokosmischen Ebene unserer Welt nur um und fort, was auf ontologischer Basis im Kleinen geschieht, und sind ein Teil dessen, was der universale Eros im Großen anstrebt. Die zivilisatorischen Ideale Wahrheit, Schönheit, Sinn für Abenteuer und Frieden, die in Whiteheads Konzept ohne Symbolisierungen nicht denkbar sind, sind in dem Sinne unabdingbar, in dem sie einerseits auf den Bedingungen der metaphysischen Grundprozesse fußen und andererseits Exemplifizierungen der Triebkräfte des Universums sind. Wird die Menschheit verstanden als Entäußerung des Kreativi­ tätsprinzips und damit nun als integraler Bestandteil des kosmischen Gesamtorganismus, so gibt uns dies die Möglichkeit, über alle Rück­ schläge hinweg das Harmonieprinzip des Universums erfüllen zu können. Es ist daher nicht nur unsere Aufgabe, für das Fortbestehen der Menschheit und die Verfeinerung des Fühlens in der Zivilisation zu sorgen. Es ist unsere Aufgabe, unsere Symbolisierungen so zu überarbeiten und weiter zu entwickeln, dass wir als Individuen zur Umsetzung der zivilisatorischen und kosmischen Ideale beitragen und die Entfaltung des Universums beflügeln.

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abgeleitetes Wissen 187, 246, 247 Abstraktion 25, 26, 54, 65, 66, 130, 170, 171, 178, 184, 202, 212, 213, 226, 242, 274, 294, 326 Aktivität 59, 61, 67, 103, 104, 110, 111, 113, 115, 142, 144, 204, 207, 208, 248 Aktualität 111, 112 Alltagsverständnis 11, 46, 59, 62, 94, 156, 174, 183, 202, 245 Ästhetik 12, 32–34, 48, 92, 120, 234–236 ästhetische Erfahrung 92, 94, 233, 308, 310, 312 ästhetische Synthese 90, 92, 309 ästhetischer Genuss 34, 92, 181, 311, 312 Aufbruch 34, 267, 280, 308, 313 Bedeutsamkeit 37, 39, 46, 191, 214, 216, 222, 230, 254, 256, 263, 280, 310, 327 Bedeutung 30, 40–42, 44, 46, 49, 56–58, 61, 63, 201, 224, 226, 236, 249–261, 263–265, 272, 282, 291, 293, 297, 300, 322, 326 begriffliche Reproduktion 103, 142 begriffliche Wertung 92, 103, 114, 142 begriffliches Empfinden 90, 91, 103, 183, 206 begriffliches Erfassen 103–105, 143, 166, 168

Bewusstsein 56, 67, 74, 81, 104, 124, 144, 163, 164, 166, 169, 172, 174, 179–185, 228, 244–246, 249, 282, 325 Beziehung 80, 85, 95, 101, 110, 141, 182, 211, 212, 220, 250, 259, 296, 297, 309 Bifurkation 131, 132, 135, 183 Bipolarität 135, 142, 143 Common Sense 108, 174, 187, 231 Denken 81, 136, 246, 248, 270– 272, 274, 282 direkte Wahrnehmung 173, 174, 176, 177, 186, 193–195, 197, 199, 211, 212 direktes Wissen 187, 188, 246, 247, 281, 320 Dissonanz 92, 109, 289, 302, 305, 308, 309, 328 Embodied Cognition 222 Emotion 56, 58, 61, 89, 90, 94 Empfinden 86, 90, 93–95, 128, 173, 199, 262, 282, 293, 308 Empirismus 18, 87 Entwicklung 18, 26, 27, 72, 78, 84– 86, 109, 117, 139, 168, 179, 185, 189, 220, 241, 242, 267, 280, 296, 304, 307, 313, 323–325 Erfahrung 13–15, 22, 32, 39, 46, 56, 59, 62, 73, 81, 84, 90, 93, 99, 123, 124, 127, 131, 139, 143, 152, 155, 169, 171–178, 181, 186, 187, 195, 198, 199, 203, 211, 214,

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218, 224, 227, 250, 253, 255, 260, 263, 264, 287, 307, 308, 317, 324 Erfassen 78, 80–82, 85, 87, 88, 97 Eros 15, 109, 121, 302, 311, 313, 314, 326, 328 Erscheinung 207, 208, 212, 231, 285, 294–297, 299, 300, 309, 310 erste Substanz 66, 110, 113 ewige Idee 36, 54, 78, 81, 97, 98, 100, 101, 111, 112, 114, 116, 209, 211, 238, 305

Gesellschaft wirklicher Einzelwe­ sen 71, 74, 75, 81, 96, 97, 99, 144, 165, 168, 177, 235, 307 Gewohnheit 44, 87, 124, 133, 134, 145, 157, 158, 195, 196, 240, 258, 259, 263, 274, 310 Gewöhnung 260, 263, 272 Gleichzeitigkeit 203, 254

Form 36, 96–98, 100, 102, 103, 109, 111, 112, 114, 119, 120, 143, 165 Formbestimmung 36, 57, 102, 112, 114, 115, 165, 190, 201, 205– 207, 209, 215, 247, 295, 316 Fortschreiten 67, 87, 99, 109, 114, 116, 119–121, 169, 271, 280, 284, 304, 326 Fortschritt 24, 25, 38, 60, 105, 107, 109, 116, 120, 121, 168, 176, 179, 242, 243, 271, 273, 278, 281, 284, 304, 307, 311 Fortschritt der Zivilisation 243, 260, 265, 280, 285, 306 Frieden 23, 232, 234, 328 Fühlen 90, 93, 94, 140, 172, 237, 255, 300, 306

Ideal 86, 109, 166, 232, 305, 306, 310, 313, 328 Idealismus 18, 89, 128, 129, 141, 197, 316 Idee bei Hume 152–154, 159 Idee bei Locke 125, 146–150, 158 Individuation 274, 277 Individuum 120, 133, 139, 144, 154, 166, 174, 180, 218, 231, 232, 240, 242, 256, 261, 272, 275, 276, 278–280, 296, 303, 308, 309, 326 Innovation 27, 52, 56, 106, 107, 143, 144, 165, 169, 278 Instinkthandeln 267, 269, 274, 279 Intensität 198, 211, 212, 250, 289, 293, 299, 300, 317 Intensität des Fühlens 92, 121, 167, 234, 292, 300, 301, 308, 312 Intensitätssteigerung 167, 168, 273, 307, 308 intensiv 92, 199, 254, 292, 295, 299–301, 311, 316 intensive Erfahrung 34, 203, 236, 311, 312 Intensivierung 261, 289, 292

Gegenwart 78, 85, 193, 194, 196, 208, 258 Geist 14, 36, 54, 56, 61, 66, 67, 130, 132, 135, 137, 146, 147, 151–155, 159, 160, 163, 183, 215, 222, 271, 318, 319, 328 geistiger Pol 103, 142–144, 165, 166, 168, 172, 188, 206, 207, 248, 317, 323

Harmonie 18, 29, 32, 34, 35, 92, 94, 105, 120, 121, 235–238, 280, 289, 299, 301–310, 312, 314, 325, 328 hybrides Erfassen 103

340 https://doi.org/10.5771/9783495999714 .

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Intuition 67, 106, 111, 130, 186, 258 Irrtum 80, 161, 177, 178, 195, 218, 227, 281, 282, 284, 285, 294, 320 kausale Wirksamkeit 57, 145, 150, 161, 186, 187, 189, 192–195, 197, 199, 200, 205, 208, 212, 214, 216, 220, 221, 253, 254, 256, 264, 272, 275, 286 kausales Empfinden 98, 208, 273, 286 Kausalität 18, 46, 84, 87, 124, 129, 145, 195–197, 201, 203, 228, 261, 297, 316, 325 Konformation 194, 289, 290 Konkretion 76, 78, 86, 88, 129, 274, 276, 277 Kontrast 142, 165, 168, 180, 202, 205, 223, 295, 300, 306– 309, 311 Körper 104, 131, 137, 163, 167, 175, 177, 178, 188–190, 198, 199, 205, 210, 217, 220–223, 261, 263, 265, 281–284, 296 Körper-Geist-Dualismus 61, 104, 137, 138 Kosmologie 12, 13, 16, 22, 23, 33, 89, 100, 105, 126, 137, 194, 302, 304, 305, 316, 317, 319, 323, 326 Kraft 113, 125, 128, 129, 149, 150, 158, 159, 195 Kreativität 11, 15, 18, 26, 29, 60, 75, 76, 82, 86, 87, 92, 102, 105–113, 115, 116, 118–121, 143, 144, 172, 235, 248, 259, 267, 273, 278, 280, 284, 304, 325, 326, 328 Kreativität als Prinzip des Neuen 109, 116, 117, 121

Kreativität als Urprinzip 108, 110– 115, 117, 119, 280, 323 Kultur 11, 14, 15, 21, 24, 32, 38, 39, 48, 51–55, 121, 213, 218, 230– 232, 241, 318, 324, 327 Kunst 12, 18, 19, 23, 31–34, 45, 47, 52, 54, 59, 89, 106, 107, 140, 185, 213, 223, 232–237, 254, 280, 281, 292, 295, 301, 304, 310–312, 324, 326 Kunst der Zivilisation 234, 280, 310, 311 Kunstwerk 32–34, 106, 216, 223, 230, 233, 235, 251, 289, 292, 311, 312, 316, 321, 327 Leben 52, 121, 163, 164, 167–169, 278, 285, 306, 328 Lebewesen 32, 36, 43, 47, 52, 62, 74, 96, 104, 144, 164, 166, 168, 170, 174, 176, 177, 198, 205, 274, 278 Massivität 130, 185, 203, 236, 276, 300 Materialismus 26 Materie 26, 66, 70, 72, 77, 111, 127, 162, 166, 168, 198, 316 Mathematik 19, 23–25, 225, 226, 236, 238, 241, 271, 289 menschliche Gesellschaft 12, 15, 38, 47, 52, 55, 60, 62, 72, 229, 231, 234, 235, 262, 267, 268, 273, 275, 278, 279, 303, 305, 307, 309, 312, 313, 325 Musik 24, 45, 89, 131, 140, 189, 191, 233, 234, 236, 238, 261, 262, 276, 290, 296, 298, 299, 321, 327 Muster 71, 72, 86, 99, 104, 115, 164, 167, 169, 202, 211, 212, 214, 219, 236, 237, 269, 278, 310

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Natur 26, 31, 51, 52, 66, 67, 72, 87, 89, 95, 120, 121, 133–138, 141, 163, 169, 175, 194, 199, 223, 263, 296, 301, 302, 312, 324 Natur-Geist-Distinktion 131, 132, 137, 141, 155, 183, 197, 316 naturalistisch 35, 255, 263, 319 naturalistische Symboltheorie 13, 14, 35, 49, 58, 327 negatives Erfassen 93, 95 Nexus 71, 142, 165, 205, 206, 245, 247, 255, 264, 277 Objekt 85, 88, 103, 120, 127, 129, 135, 138, 139, 141, 147, 156– 160, 175, 223, 245, 270, 278 ontologisches Prinzip 82, 100– 102, 104, 110, 112, 113, 138, 150, 203, 238, 247, 267 Ordnung 15, 34, 88, 109, 110, 118, 119, 164, 169, 225, 233, 240, 248, 258, 265, 267, 274, 280, 281, 304, 305, 308–310, 312, 325, 326 Ordnungsprinzip 29, 118, 237 Organismus 25, 26, 71–73, 91, 144, 145, 168, 169, 177, 178, 184, 186, 198, 199, 204, 206, 209, 211, 269, 278, 281, 295, 302 physischer Pol 103, 142–144, 168 physisches Empfinden 142, 205, 223 physisches Erfassen 85, 90, 98, 102, 103, 143, 167, 176, 269 platonische Form 100 platonische Idee 100 poetisch 96, 254 Politik 39, 241, 306, 313 politisch 16, 37–39, 231, 241, 242, 283, 310 Potential 78, 98, 100–102, 105, 111, 116, 305

pragmatisch 57, 58, 60, 65, 89, 91, 194, 195, 253, 259, 287, 289– 293, 301, 320, 324, 326 Pragmatismus 49, 50, 287, 288, 290, 291, 325 präsentative Unmittelbarkeit 57, 124, 186, 193, 197, 201–203, 205, 206, 209–211, 213, 214, 219, 220, 247, 253, 254, 256, 263, 284, 295, 296, 321 Präzision 211, 220 Projektion 207, 208, 210, 294, 296 Proposition 33, 179, 233, 244, 250, 251, 281, 286, 294, 299, 318 Prozess 22, 26, 33, 36, 59, 61, 65– 71, 75–78, 82, 86, 87, 93, 94, 101, 103, 106, 116–120, 142, 165, 167, 173, 175, 181, 183, 192, 201, 210, 221, 226, 227, 255, 261, 280, 289, 299, 316, 319, 324 Prozesseinheit 26, 68, 69, 71, 74, 76, 78, 80, 96–101, 103, 121, 280 radikaler Empirismus 198 Rationalität 12, 15, 118, 119, 240, 259, 267, 280 Raum 139, 147, 163, 204, 208, 210, 211, 286 Realismus 49, 55, 61, 89, 128, 129, 136, 141, 302, 303, 317, 319, 320 Realität 37, 49, 68, 70, 71, 91, 100, 104, 124, 132, 133, 137, 140, 148, 166, 170, 171, 177, 181, 207, 255, 287, 288, 324 Reflexhandeln 57, 258, 267, 269, 271–274, 292 reformiertes subjektivistisches Prinzip 135, 139 Relation 30, 40, 57, 61, 72, 76, 77, 79–81, 83, 86, 88, 90, 101, 114,

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142, 171, 202, 204, 223, 249, 255, 294 Relationalität 26, 77, 87, 114, 143, 149, 150 Relativitätsprinzip 80, 82, 139 Schöne Künste 233–235, 304, 311, 312 Schönheit 23, 32, 33, 107, 232, 235, 241, 268, 289, 300, 301, 303, 304, 308, 309 Selbstgestaltung 76, 85–87, 90, 91, 113, 116, 143, 166, 305 Selbstwerdung 76, 84, 86, 88, 91– 93, 97, 98, 100, 168, 316 Semiotik 12, 30, 40–43, 48 Sensualismus 130, 137 Sinnes-Rezeption 173 Sinnesdaten 155, 161, 190, 194, 197, 198, 202, 204, 205, 207, 208, 221, 223, 225, 253, 259, 283 Sinnesorgan 36, 130, 135, 154, 177, 178, 184, 187, 193, 198, 202, 203, 205, 206, 209, 210, 217, 220–222, 227, 263, 296 Sinneswahrnehmung 36, 57–59, 81, 123, 124, 128, 130–132, 136, 145–147, 152, 154, 155, 157, 161, 170–174, 176–179, 181, 186, 187, 194, 195, 202–209, 211– 213, 253, 264, 272, 282, 294– 296, 300, 302 Skeptizismus 27, 35, 89, 141, 161, 197, 316, 319, 320 Solipsismus 123, 133, 166, 197, 316 Sprache 12, 19, 27, 28, 35, 43, 45, 48, 51, 54, 62, 66, 225, 226, 233, 236, 240, 241, 243, 244, 256– 260, 263, 265, 273, 279, 280, 298, 316, 321, 323, 324

Stabilität 98, 117–119, 169, 244, 269, 273, 274, 279 Streben 18, 34, 76, 86, 101, 104, 105, 107, 112–114, 116, 118, 143, 168, 182, 289, 302, 303, 306, 309, 311–313, 325 Streben nach Neuem 102, 118, 167, 168, 248, 317, 325 Subjekt 65, 68, 73, 89, 93, 95, 104, 127, 129, 135, 138–141, 155, 156, 173, 175, 177, 204, 206, 210, 220, 223, 319 subjektive Erfahrung 94, 138 subjektive Form 86, 90, 91, 93, 129, 166, 168, 179, 180, 217, 244, 245, 257, 261, 298, 307 subjektives Ziel 74, 76, 86, 88, 91, 92, 102, 104, 168, 182, 193, 203, 260, 268, 289, 291, 305, 307, 308 Subjektivismus 54, 128, 135, 137, 139, 140, 210, 319 Subjektivität 35, 127–129, 137, 138, 140 Substanz 65–68, 73, 77, 79, 110, 147, 148, 150, 157, 160, 161, 208, 316 Substanz-Akzidenz-Schema 30, 65, 66, 97, 123, 130, 132, 148, 302 Substanzdualismus 18, 26, 27, 123, 127, 132, 135, 155 Superjekt 73, 89, 140 Symbol 11, 13–15, 24, 27, 28, 30, 36, 39–41, 43–48, 51–53, 55–63, 89, 95, 144, 145, 228– 231, 238, 240–242, 244, 249– 258, 262–265, 269, 270, 273, 275, 276, 279, 287, 291, 294, 297, 298, 300, 301, 315, 322, 326, 327

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symbolisch konditioniertes Han­ deln 57, 246, 258, 267, 269–271, 273, 274, 292 symbolische Referenz (siehe auch symbolischer Bezug) 19, 27, 32, 33, 36, 58–61, 124, 165, 170, 179, 187, 195, 199, 201, 213– 219, 224, 226, 227, 247, 248, 250, 251, 255, 256, 261, 263, 266, 268, 270, 272, 281, 282, 296, 326 symbolische Wahrheit 296, 298 symbolischer Bezug (siehe auch symbolische Referenz) 27, 36, 46, 56, 60, 187, 214, 219, 224, 227, 253, 287, 292, 293 Symbolisierung 11–15, 17–19, 21– 23, 27–30, 32, 34, 37–39, 46, 49, 52–54, 58, 60–62, 89, 106, 121, 130, 185, 188, 213, 217, 218, 221–223, 225–227, 229–232, 234–242, 244, 248, 249, 251, 252, 256, 257, 260–263, 265 Symboltheorie 12, 17, 35, 37, 40, 46, 48, 49, 55, 61, 229, 246, 251, 294, 322, 327 Synthese 82, 83, 143, 184, 186, 187, 192, 199, 218, 248, 280, 283, 291, 309, 326 synthetische Aktivität 215, 218 Teleologie 84, 87, 88, 93, 280, 309 Übereinstimmung von Erschei­ nung und Wirklichkeit 200, 282, 300–302 Umkehrung 74 Umwandlung 74, 165, 206, 207 Umwelt 25, 29, 52, 60, 62, 78, 79, 85, 88, 93, 94, 107, 121, 139, 141, 144, 169–173, 177, 179, 194, 198, 201, 205, 208, 210–212, 215, 220, 223, 263, 264, 274–

277, 296, 302, 309, 313, 316, 317, 325, 326 Unabhängigkeit 159, 214, 278 Unabhängigkeit des Gleichzeiti­ gen 78, 84, 88, 203, 204, 278 ungeschminkte Wahrheit 301 Universum 79, 80, 84, 93, 96, 99, 100, 117–121, 139, 164, 165, 184, 198, 199, 212, 213, 229, 238, 268, 271, 288, 289, 301– 304, 307, 309, 312, 313, 323– 326, 328 Unvollkommenheit 304, 312 Urteil 32, 128, 153, 184, 195, 232, 286, 293, 294 Vagheit 170, 180, 198, 203, 211, 301 Veränderung 68, 73, 99, 117, 118, 144, 165, 306 Vererbung 142, 193 Verfeinerung des Fühlens 231, 309 Vergangenheit 78, 89, 120, 172, 189, 191, 193–197, 202, 204, 208, 214, 247, 255, 258–260, 264, 269, 275, 282, 285, 291, 305 Vernunft 29, 53, 54, 84, 94, 118, 128, 152, 169, 195, 228, 241, 243, 244, 248, 249, 256, 262, 266, 270, 271, 274, 280, 281, 304, 313 Wahrheit 107, 200, 217, 218, 227, 230, 232, 241, 281, 282, 284–287, 289, 291–303, 320– 322, 328 Wahrnehmung 11, 19, 26, 35, 47, 56, 57, 59, 123, 124, 129–131, 134–137, 146, 157, 166, 172, 174–177, 184, 185, 187, 193, 195, 198, 214, 216, 220, 246, 273, 286, 292, 297, 302, 322

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Wahrnehmungsart 58, 59, 61, 124, 186, 187, 215, 224, 245 Werden 26, 68, 70, 71, 73, 76–79, 85–88, 90, 93, 94, 96, 98, 101, 111, 112, 115, 116, 139, 142, 305, 308, 323 Wert 32, 90, 91, 94, 96, 120, 136–138, 234, 254, 273, 289, 291, 298, 304, 306–308, 311, 312, 321 Werterfahrung 174, 254, 280, 308 Wertung 34, 76, 88, 90–96, 102, 103, 118, 138, 142, 164, 174, 217, 257, 261, 262, 280, 291, 299, 305, 307, 325, 327 wirkliches Einzelwesen (siehe auch Prozesseinheit) 69–71, 73, 76, 79–82, 98, 99, 150, 268, 277 Wirklichkeit 26, 30, 32, 50, 51, 54, 65–68, 70, 71, 76, 77, 79, 82, 84–88, 91, 95, 96, 98, 100–102, 112–115, 119, 124, 127, 128, 130, 131, 138, 139, 141, 143, 160, 161, 163, 165, 166, 170, 171, 175, 180, 181, 193, 197, 207–209, 212– 214, 218, 226, 227, 231, 237, 238,

244, 250, 255, 261, 265, 272, 275, 285, 293–296, 298, 300, 301, 308, 309, 318, 319, 321 Wirkursache 76, 83–85, 87, 89, 107, 114, 120, 143, 197 Wissen 52, 146, 147, 151, 152, 154, 179, 183, 211, 245–248, 257, 282 Zeichen 24, 39–45, 49–52 Zivilisation 19, 21–23, 25, 28, 47, 60, 62, 89, 118, 121, 125, 184, 218, 229, 231, 232, 234, 244, 294, 303, 304, 306, 309–311, 323–325 zivilisierte Gesellschaft 106, 168, 225, 231, 239 zivilisiertes Universum 309, 314, 324, 326 Zukunft 78, 85, 89, 112, 116–118, 120, 197, 202, 204, 238, 274, 276, 290, 291, 304, 305, 309 Zusammenhalt 38, 277 Zweck 29, 32, 83, 86–88, 92 Zweckursache 76, 83–86, 88, 89, 107, 143

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