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German Pages 609 [612] Year 1969
BAYERN IM UMBRUCH Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen
Herausgegeben von KARL
BOSL
in Verbindung mit K A R L M Ö C K L , ULRICH LINSE, LUDWIG SCHNEIDER, A X E L SCHNORBUS, JOACHIM REIMANN, G E O R G KALMER, W I L L Y ALBRECHT, FRIEDRICH MÜNCH, KARI^LUDWIG A Y , F A L K WIESEMANN, PETER KRITZER, HEINRICH HILLMAYR, WOLFGANG BENZ, CHRISTOPH WEISZ
R. O L D E N B O U R G
MÜNCHEN
UND
WIEN
Personen- und Sachregister wurden erstellt von Gisela Hamm
© 1969 R. Oldenbourg, München Satz und Druck: Graphische Betriebe Dr. F. P. Datterer & Ge. Nachfolger Selüer OHG, Freising Bindearbeiten: R. Oldenbourg GmbH., Graphische Betriebe, München Umschlag- und Einbandgestaltung: Gerhard M. Hotop, München
Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Abkürzungen
VTI
Die Revolution 1918 in Bayern. Umbruch — Neuanfang — Frustration — Modell
x
Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution in Bayern
5
K A R L BOSL:
KARL MÖCKL:
ULRICH LINSE :
Die Anarchisten und die Münchner Novemberrevolution
37
Die russische Studentenkolonie und das Echo des revolutionären Rußland in München vor 1914
75
SCHNORBUS: Wirtschaft und Gesellschaft in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg (1890—1914)
97
LUDWIG SCHNEIDER:
AXEL
JOACHIM
REIMANN:
Revolution
Der politische Liberalismus in der Krise der
165
Beamtenschaft und Revolution. Eine sozialgeschichtliche Studie über Voraussetzungen und Wirklichkeit des Problems 201
GEORG KALMER:
ALBRECHT: Das Ende des monarchisch-konstitutionellen Regierungssystems in Bayern. König, Regierung und Landtag im Ersten Weltkrieg 263
WILLY
M Ü N C H : Die agitatorische Tätigkeit des Bauernfuhrers Heim. Zur Volksernährungsfrage aus der Sicht des Pressereferates des bayerischen Kriegsministeriums während des Ersten Weltkrieges
FRIEDRICH
301
A Y : Volksstimmung und Volksmeinung als Voraussetzung der Münchener Revolution von 1918 345
KARL-LUDWIG
F A L K WIESEMANN: PETER K R I T Z E R :
Kurt Eisner. Studie zu einer politischen Biographie 387
Die
SPD
in der bayerischen Revolution von 1918. . . 427
VI
Inhaltsverzeichnis
München und die Revolution von 1918/19. Ein Beitrag zur Strukturanalyse von München am Ende des Ersten Weltkrieges und seiner Funktion bei Entstehung und Ablauf der Revolution 453
HEINRICH HILLMAYR:
B E N Z : Bayern und seine süddeutschen Nachbarstaaten. Ansätze einer gemeinsamen Verfassungspolitik im November und Dezember 1918 507
WOLFGANG
Die Revolution von 1918 im historischen und politischen Denken Münchener Historiker der Weimarer Zeit (Konrad Beyerle, Max Buchner, Michael Doeberl, Erich Mareks, Karl Alexander von Müller, Hermann Oncken) 537
CHRISTOPH W E I S Z :
Die in diesem Band verwendete und bearbeitete Literatur zur Geschichte der Revolution von 1918 in Bayern zusammengestellt von Gisela Hamm Personenregister Sachregister
579
585
Verzeichnis der Abkürzungen a ) Archive
MGZ
AStAM (HStAM) = Allgemeines (Haupt-) Staatsarchiv München BA = Bundesarchiv DAKB = Deutsche Akademie der Künste Berlin-Ost (Abtl. LiteraturArchive) GLA = Generallandesarchiv Karlsruhe GStAM = Geheimes Staatsarchiv München KriegsAM = Kriegsarchiv München LCW = Library of Congress Washington (Manuscript Division) StAfObby (StAfO) = Staatsarchiv für Oberbayern StAP = Staatsarchiv Potsdam WHStA = Württembergisches Hauptstaatsarchiv
MNN
Münchener GemeindeZeitung Münchner Neueste Nachrichten Münchener Post Neue Deutsche Biographie Süddeutsche Monatshefte Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vossische Zeitung Wolfisches Telegraphen Bureau Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Rechtsgeschichte, germanistische Abteilung
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b) Zeitschriften und Periodika APZ BK BStZ (BSZ) BZG DBJ DGK GVB1 (GVB) GWU HZ Jb.d.B.A.d.W. KAIN MAAZ (MAA)
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Augsburger Postzeitung Bayerischer Kurier Bayerische Staatszeitung Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung = Deutsches Biographisches Jahrbuch = Deutscher Geschichtskalender = Gesetz- und Verordnungsblatt = Geschichte in Wissenschaft und Unterricht — Historische Zeitschrift — Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften = Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit = München-Augsburger Abendzeitung
c) Diverses ASR NL Pol Dir Prov.Nat. Rat RA St.BKdAbg
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St. G.K. I.b. AK.
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Sten. Ber.
-
StwMü
Arbeiter- und Soldatenrat Nachlaß Polizei-Direktion Provisorischer Nationalrat Regierungsakten Stenographische Berichte der Kammer der Abgeordneten Stellvertretendes Generalkommando I. bayerischen Armeekorps Stenographische Berichte Staatsanwaltschaft München
KARL BOSL Die Revolution 1918 in Bayern Umbruch - Neuanfang — Frustration — Modell Angefangen vom Investiturstreit, der das herrschaftlich-religiöse Gefüge des archaischen Deutschland und Europa grundlegend erschütterte, bis zur russischen Oktoberrevolution, die wie wenige ihresgleichen Wirtschaft, Gesellschaft, Staat eines riesigen Landes total verwandelte, sind rund ein Dutzend Revolutionen über unseren Kontinent hinweggegangen und haben sein Gesicht mitgestaltet. Eugen Rosenstock-Huessy hat es darum 1931 erstmals unternommen, die Geschichte Europas als Revolutionsgeschichte zu deuten.1 Das 19. Jahrhundert, in dem der nationale Machtstaat in ganz Europa sich ausformte und das Gesicht der Völker bestimmte, ging in die Geschichte als ein saeculum der revolutionären Bewegungen ein, ja der aufsteigende vierte Stand und seine ideologische wie parteipolitische Institutionalisierung im Marxismus und in der Sozialdemokratie aller Schattierungen sahen zunächst in der Revolution den Weg der Politik schlechthin.2 Die internationale Solidarität der Arbeiterklasse trat gegen das elitäre Gesellschaftsgefüge des Nationalstaates in die Schranken und nutzte den Aufwind, den die industriellen Revolutionen, der Sieg der technischen Kultur und der krisenhafte Übergang von der Handwerks- zur Industriekultur, der unaufhaltsame, meist wenig beachtete Wandel der Gesellschaftsstruktur haben hochkommen lassen. Man vergesse aber nicht, daß auch das nationale Bewußtsein in Europa und sogar die nationalen Königsherrschaften im Spätmittelalter eine revolutionäre Urständ gehabt haben. Die dynastische Politik nationaler Könige hat damals einen nationalen Widerstand hervorgerufen, der den Nationalgeist in Bewegung setzte. Die Nationalbewegungen kommen nicht von den größeren Mächten her, sondern von den in ihrer Selbständigkeit angegriffenen, wehrlosen kleinen Randstaaten. In Flandern, Schottland, Sizilien, Irland sehen wir die Wirkungen der Ausdehnungspolitik der Großen; die Sizilianische Vesper ist ein ragendes Ereignis. Diese vier Revolutionen führten erstmals mit Nachdruck das Nationalprinzip in die europäische Geschichte ein. Nach dem russischen Oktober, den man gewissermaßen als die erfolgreichste Modellrevolution des 19./20. Jahrhunderts ansprechen darf, und auch
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Bayern im Umbruch
in seinem Gefolge sind noch mehrere Umstürze, zum Teil bedeutenden Ausmaßes, über Europa und die Welt gegangen bis hin zu den uns alle aufrüttelnden, provozierenden und schockierenden Alarmaktionen einer Jugendinternationale mit nationalen Schwerpunktbildungen, vielleicht letztes Aufflackern eines alten Geistes der Freiheit vor dem Sieg des normierenden Zwanges der technischen Industriegesellschaft und einer neuen Herrschaftsordnung. Dem Gesellschaftshistoriker drängt sich die Vermutung auf, daß darin in extremer Form, in Verdünnung und Verzerrung, wesentliche gesellschaftliche, politische, geistige, moralische Entwicklungen und Trends Europas im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch einmal zum Ausdruck kommen. Die Nachfahren der Träger dieser Entwicklung, heute zum Teil Repräsentanten des sog. „establishment", sehen sich gezwungen, dieser Bewegung aus altem, vielfach ihrem einstigen Geist zu begegnen. Liberalismus, Marxismus, Sozialismus, Idealismus, selbst Konservativismus, Nationalismus, Integralismus, Darwinismus, Biologismus, Industrialismus, Kapitalismus, Kommunismus, Ideologie und Utopie sind alle in irgendeiner Form in das Gedankengut dieser Jugendbewegung in Zustimmung und A b lehnung zusammengeflossen, sind in ihr neu aufgerufen oder ad absurdum geführt. E s hat also schon einen, wenn auch tragischen Sinn, wenn diese Jugend auf die Väter deutet. Z u den unmittelbaren Nachfolgeereignissen der russischen Oktoberrevolution zählt vor allem die deutsche Revolution von 1918, die eingeleitet wurde durch den Sturz der Monarchie in Bayern und die Novemberrevolution in München 1918. In diesem Jahre jährt sich dieses umstürzende Geschehen, dem man den Vorwurf der Halbheit heute macht, zum 50. Male. Über die unmittelbaren Anlässe zu diesem Ereignis haben sich Meinungsklischees vor allem Vinter dem Eindruck der folgenden nationalen Reaktion gebildet, die bis heute gang und gäbe sind. Über die weiterreichenden Voraussetzungen dieser Revolution hat man sich in Bayern schon deshalb wenig Gedanken gemacht, weil noch kaum analysiert und untersucht die Prinzregentenzeit im milden, verklärenden Schimmer der letzten gesättigten Jahrzehnte vor dem Sturm stand und steht, der mit dem Ersten Weltkrieg losbrach, der Gesellschaft und Staat in die Krise stürzte, die in die Revolution mündete. Ich habe es mir darum zur Aufgabe gemacht, gerade die Epoche seit Tod und Entmündigung König Ludwigs IL (1886) gründlich und allseitig untersuchen und darstellen zu lassen, um so den für das alte Urteil unerwarteten Ausbruch der Revolution aus den Voraussetzungen umfassend deuten zu können. Ich habe darum das Gesamtproblem in einer einführenden Studie zu umreißen versucht; 3 im Anschluß daran haben sich an die jo Studenten entschlossen, Themen dieses
Die Revolution 1918 in Bayern
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Umkreises in ihren Dissertationen zu behandeln. Diejenigen, die ihre Arbeiten bereits abgeschlossen oder sehr weit gefördert hatten und deren Untersuchungen wertvolle Einsichten in die Problematik der Revolution von 1918 boten, habe ich aufgefordert, in einem Teamwork von verschiedensten Aspekten her Voraussetzungen, Verlauf und Folgen, Akteure und Menschen dieses Umsturzes auf Grund ihrer neuen Aktenstudien darzustellen. Wenn vielleicht deshalb die innere Abstimmung der Einzelbeiträge nicht ganz erreicht werden konnte, so entschädigt dafür reichlich die Gesamtheit der Aspekte, unter denen man diese Revolution sehen kann, und überdies die Vielheit neuer Einsichten, die über das Revolutionsbild des Amerikaners A. Mitchell4 weit hinausführen. Dieses Teamwork wollte sowohl eine tiefdringende Wegmarke bayerischer Geschichte im 20. Jahrhundert, deren Wirkungen bis in die Gegenwart reichen, bloßlegen, als auch den gesamtdeutschen Zusammenhang sichtbar machen und den Modellcharakter dieser Revolution, der ersten bayerischen von unten her, analysieren. Die großen Revolutionen haben sich immer gegen das herrschende Autoritätsgefüge vom Grunde an bis zur monarchischen Spitze gewendet und eine echte, vor allem gesellschaftliche Umwälzung herausgefordert; sie waren auch keineswegs einheitlich in ihrem ideellen Gefüge und verliefen zumeist in Phasen, in denen einzelne Revolutionsziele miteinander rivalisierten; sie mußten sich gegen das Alte auf ein neues Programm, auf das höhere Recht einer jeden Revolution berufen, auf das göttliche, menschliche, natürliche Recht, auf die reine Vernunft oder die exakte Wissenschaft. Politisches Urteil und politische Konsequenzen aus der bayerischen Revolution von 1918 sind dann erst richtig, wenn ihr Charakter, ihre Voraussetzungen und Folgen, die sie tragenden Kräfte und bestimmenden Ideen genau untersucht und geklärt sind. Darum bemüht sich diese Gemeinschaftsarbeit, die einen Anstoß zur Läuterung des Urteils geben möchte. Revolutionen können von oben oder von unten kommen. Montgelas war am Anfang des modernen bayerischen Staates Vollstrecker einer Revolution von oben; die Revolution von 1918 kam von unten; sie hob zum guten Teil auf, was 1 1 0 Jahre früher die Revolution von oben geschaffen hatte. Dem Verlag Oldenbourg und vor allem Dr. Karl von Cornides mit Dr. Thomas von Cornides danken Mitarbeiter und Herausgeber für ihre große Bereitschaft, diese Gemeinschaftsarbeit unter ihre verlegerische Obhut zu nehmen.
Bayern im Umbruch
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ANMERKUNGEN ZU: Karl Bosl, Die Revolution 1918 in Bayern 1
E. Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen ("1960). Tb. Scbieder, Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, HZ 170 (1950) 235-271; ferner in: Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit (München 1958). 3 K. Bosl, Gesellschaft und Politik in Bayern vor dem Ende der Monarchie. Beiträge zu einer sozialen und politischen Strukturanalyse, ZBLG 28 (1965) 1-31. * A. Mitchell, Revolution in Bavaria 1918-1919. The Eisner Regime and the Soviet Republic (Princeton 1965). Deutsche Übers, von K. H. Abshagen „Revolution in Bayern" 1918/19 (München 1967). 8
KARL
MÖCKL
Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold* — Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution in Bayern — Die Revolution in Bayern von 1918 ist in den letzten Jahren immer mehr in den Mittelpunkt der Geschichtsforschung gerückt. Trotzdem rührte letztere wenig an der fast tabuhaften These von der alleinigen Herleitung der revolutionären Vorgänge aus den Ereignissen des Weltkrieges. Allzu überraschend kommt diese Erkenntnis nicht, denn so leicht und tief ging diese vermeintliche Tatsache in das Bewußtsein ein, daß die folgenden zwei Generationen weitgehend annahmen, Anlaß und Ursachen dieser Revolution seien in den Jahren jenes unglücklichen Krieges beschlossen. Ist und war doch die Zeit vor diesem Krieg für jene Menschen, die sie noch erlebt hatten, die „gute alte Zeit", die Zeit des Friedens, des Wohlstandes, der Stabilität und des relativen Glücks. Auch die wissenschaftliche Forschung stand sichtlich unter diesem Eindruck. Sie suchte die Ursachen allein im Verlauf des Krieges und sparte die Epoche vorher weitgehend aus.1 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß erst gesellschaftswissenschafitliche Sehweisen und sozialgeschichtliche Methoden die Voraussetzungen für entsprechende Analysen liefern. Die epochale Bedeutung der revolutionären Umwälzungen von 1918 kündigte sich auch im Bewußtsein der Menschen des Kaiserreiches an. Für sie war der Gedanke an eine die staatliche Ordnung erschütternde Revolution nicht fremd.2 In der Tat liegt hier der Beginn einer „revolutionären Zeitenwende", die das nationalstaatliche Prinzip hemmend werden läßt, sofern es nicht zu Gunsten der „revolutionären Forderungen der Zeit" aufgegeben wird.3 Die Verbindung von Krieg und Revolution ist nicht neu, wohl aber deren weltweite Wirkung und ihre globale Ausartung in Schrecken und Terror.4 Dieses Phänomen ist wesentlich für den revolutionären Charakter eines Krieges. Die Maxime der Notwendigkeit des Krieges wandelt sich zur Maxime der Freiheit oder Emanzipation der revolutionären Bewegung, wie Hannah Arendt überzeugend nachgewiesen hat.5 Die Sphäre des Gesellschaftlichen tritt in engste Verbindung mit dem Bereich des Politischen und gestaltet —
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Bayern im Umbruch
meistens durch das Medium der Gewalt — die politischen Verhältnisse. Den Ursachen einer Revolution ist also am ehesten durch Untersuchung des Spannungsverhältnisses der politischen und gesellschaftlichen Struktur der vorausgehenden Epoche nahe zu kommen.8 Die symptomatische Einordnung der Münchner Revolution von 1918 mit ihren Ursachen in diese übergreifenden Vorgänge ist um so gerechtfertigter, als unter einer nicht provokatorischen Regierungspolitik sich ein gesellschaftlicher Egalisierungsprozeß vollzog, der im Widerspruch stand zur politischen und verfassungsmäßigen Wirklichkeit. Die staatsrechtliche Forschung Bayerns verzeichnet die Verfassung von 1818 als einen entscheidenden Einschnitt. „Bayern war ein moderner Staat geworden." 7 Dies ist insofern richtig, als überhaupt eine Verfassung erlassen wurde und darin rheinbündisches, französisch-napoleonisches staatsrechtliches Gedankengut zum Tragen kam. Trotzdem wollte, zieht man die weitere staatliche Entwicklung in Betracht, dieses Kleid für Volk und Dynastie Bayerns nicht so recht passen. Entsprechend der Verfassung ist der König nicht Organ, sondern „Oberhaupt des Staates".8 Alle Staatsgewalt ist streng nach dem monarchischen Prinzip in seiner Hand vereinigt.9 Der Landtag war stark ständisch geprägt und galt nicht als Repräsentant des Staates, sondern vertrat die Interessen des Volkes gegenüber dem Monarchen.10 Letztere Auffassung von der Volksvertretung bestand nicht nur als Verfassungsnorm. Sie kam auch in der politischen Haltung der Regierung trotz aller sozialen Umschichtungen bis 1918 zum Ausdruck. Diese Verfassungskonstruktion ermöglichte einem energischen Herrscher, wie es Ludwig I. war, ein streng absolutistisch-autokratisches Regiment. Zumal Maximilian von Montgelas durch Beseitigung der historischen Landschaften mit ihren Sonderrechten und durch Ermöglichung einer absoluten Staatssouveränität mit Hilfe eines zentralistisch-bürokratischen Verwaltungssystems die reale Basis einer soliden Herrschaft geschaffen hatte.11 Montgelas hatte Verwaltung und Untertannenverband so weit vereinheitlicht, daß eine absolute Regierung erst möglich werden konnte; insofern besteht durchaus eine Parallele zu Mazzarin. Allerdings folgte Ludwig dem Grafen Montgelas nicht in seiner rationalabsolutistischen Staatsauffassung, sondern modifizierte sie unter dem Einfluß romantischen Gedankengutes zu einem patrimonialen Königtum, was auch für die damalige Zeit eine raktionäre Einstellung bedeutete. Freilich gelang dies nur mit einer entsprechend interpretierten Verfassung und dem Mittel des königlichen Kabinetts.12 Damit war der Weg zur konstitutionellen Monarchie im westeuropäischen Sinn einer zweifach gleich-
Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold
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berechtigten Repräsentation der staatlichen Einheit durch König und Volksvertretung — beide als Organe des Staates —, wie ihn Montesquieu und die französische Verfassung von 1791 vorgezeichnet hatten und ihn das System Montgelas noch zugelassen hätte, endgültig abgeschnitten.13 Das monarchische Prinzip im Sinne eines loi préexistante diente Ludwig I. als Legitimation. Der altständische Dualismus lebte auf, indem der Monarch die Abgeordneten als Interessenvertreter des Volkes betrachtete. Der nicht verfassungsmäßige Einfluß des königlichen Kabinetts und die Zurückdrängung des Einflusses der Minister, die „durchaus nur beratend sind", 14 erhärtete diese Entwicklung. Ludwigs Regierungszeit ist „für die bayerische Verfassungsentwicklung ... das letzte Aufflackern einer durch die moderne Entwicklung, zeitfremden Regierungsform...". 16 Für die Epoche bis 1848 ist dies als Feststellung zutreffend. Bedeutsam aber für die kommende Entwicklung ist, daß in dieser Zeit jene Traditionen von Königtum, Regierung und Landtag entstanden, die eine Anpassung der Verfassung an die modernen gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso unmöglich machten, wie zu jener Zeit. Dabei wirkte der Eintritt Bayerns in das Deutsche Reich stabilisierend für das institutionelle Skelett, nicht aber auf die innere soziale Schichtung. Im Jahre 1829, ein Jahr nach dem Umzug der Universität nach München, wurde an ihr Friedrich Julius Stahl16 als Privatdozent zugelassen. Als überzeugter Protestant verfolgte er die Auseinandersetzung und den Kampf des Königs gegen Volkssouveränität, Aufklärung und Liberalismus, fasziniert von der Ausstrahlungskraft Münchens als einem Mittelpunkt konservativen Denkens.17 Dabei war er sich aber zugleich der Kraft der modernen Ideen bewußt. So versuchte er eine Synthese, die ihn zum Theoretiker konservativen Staatsdenkens werden ließ. Stahl18 führt Staat und Recht auf göttlichen Ursprung zurück und sieht beide nur im Staat als „sittlichem Reich" verwirklicht, wodurch er auch den Widerspruch von Freiheit und Ordnung zu lösen glaubte. Den Staat sieht er auf das monarchische Prinzip in einem konstitionellen System gegründet.19 Der dadurch entstehende Dualismus lagert sich zu Gunsten einer starken monarchischen Spitze20 und einer schwächeren Volksrepräsentation, die nur das Recht hat den Gesetzen ihre Zustimmung zu erteilen und Petitionen einzubringen.21 Das altständische Vertretungsprinzip überwindet Stahl, indem er im Unterschied zu den alten Ständen im Repräsentativsystem, in der „Volksvertretung" nicht nur die „Glieder der Volksexistenz, sondern auch die nationale Einheit", nicht nur die „sächlichen Lagen und Interessen, sondern auch die in denselben befindlichen Menschen" sieht.22 Die Brücke zu den modernen Staatsideen glaubte er damit geschlagen zu haben. Auch die Administration23 und das Heer sollten allein dem Willen des
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Bayern im Umbruch
Monarchen unterworfen sein.24 Knüpft das Herrscherbewußtsein Ludwigs I. an absolutistisch-patrimoniale und altständisch-dualistische Vorstellungen an, so kann dies von der Staatslehre Stahls nicht gesagt werden. Die Wirkung der Religion auf den staatsrechtlichen Bereich sollte davon nicht ablenken. Waren es doch weitgehend säkularisierte theologisch-kanonistische Begriffe, die das moderne Staatsdenken bestimmten.26 Die Tiefe der philosophischtheologischen Vorstellungen des Mitgliedes des Oberkirchenrates Stahl mag vielen unbequem gewesen sein. Darin lag sicher auch ein Teil seiner geringen theoretischen Wirksamkeit.26 Aber um so stärker wirkten die praktisch-staatsrechtlichen Folgen seiner Lehre auf die Politik, denn sie förderten eine reaktionär-konservative Interpretation der Verfassungen, ohne deren Buchstaben zu ändern. Das Mitglied der preußischen Abgeordnetenkammer Otto Bähr stellte dies 1864 bereits für seine Zeit, aber auch für die Zukunft fest: „Seine Lehren haben das gleißende Gewand gebildet, mit welchem zwei Jahrzehnte hindurch die Gegner des Rechtsstaates ihre absolutistischen Bestrebungen bekleidet haben."27 Im ganzen gesehen ruhte das konservative Staatsgebäude Stahls auf einer starken monarchischen Gewalt, die allein den Staat repräsentiert, und einer Volksvertretung, die ein festes, aber eng begrenztes Maß an Rechten besitzt. In dieser Konsequenz beeinflußte die Lehre Stahls die bayerischen Staatsrechtslehrer Seydel28 und Piloty.29 Dies wurde erleichtert, da unter dem Eindruck des Jahres 1848 die bayerische Verfassung in Bezug auf die Zusammensetzung der Abgeordnetenkammer, der eingeschränkten Gesetzesinitiative30 und der Ministergegenzeichnung in ihren am stärksten kritisierten Bestimmungen modernisiert worden war.31 Die konstitionelle Monarchie ist eine Mischung aus aristokratischen und demokratischen Elementen. Aus diesem Grund gilt sie vielfach als eine Form des Übergangs. Die staatliche Entwicklung der westeuropäischen Länder zeigt, daß dies nur dann der Fall war, wenn sich der entsprechende Dualismus im Sinne Montesquieus oder im Sinne der französischen Verfassung von 1791 ausprägte; wenn also Monarch und Volksvertretung gleichberechtigte Organe des souveränen Staates waren. In diesem Falle entwickelte sich in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, je nach Stärke oder Schwäche des einen oder anderen Pols, eine absolutistische bzw. parlamentarische Staatsform. Im Dualismus des konservativen Systems Stahls, wie auch nach der bayerischen Verfassung, ist der Monarch alleiniger Repräsentant des Staates, er besitzt alle Staatsgewalt,32 und der Landtag ist Organ „der konstitutionellen Regierung des verfassungsmäßig herrschenden Königs". 33 Instrumente dieser monarchischen Spitze sind Bürokratie und Militär.34 Die Schwäche eines so
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geordneten Staatswesens liegt im möglichen Versagen des Monarchen, aber auch schon darin, daß im Zuge gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse das monarchische Prinzip seines Gottesgnadentums entkleidet wurde. In beiden Fällen verschieben sich die Gewichte auf Grund der gezeigten Verfassungsstruktur nicht zugunsten einer Parlamentarisierung, sondern zugunsten von Regierungsbürokratie und Nebenregierungen. Im Reich treten diese Tendenzen zutage35 und in Bayern führen sie zum Widerspruch von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit, von politischer und gesellschaftlicher Struktur, letztlich zur Stagnation des staatlichen Lebens, die im i. Weltkrieg krisenhaft zum Durchbruch kam. Die Königskatastrophe, die im Juni 1886 über Bayern hereinbrach, bedeutete — trotz ihrer Dramatik und belletristischen Anziehungskraft — im eigentlichen Sinn für die staatliche Entwicklung keine Zäsur, auch wenn man in der Einsetzung der Regentschaft durch den Prinzen Luitpold Grund genug dafür erblicken wollte. Eine Einschränkung ist insofern zu machen, als Tendenzen der Verfassungsentwicklung in der folgenden Epoche in ihrer staats- und gesellschaftspolitischen Ausmündung hier ihre Verdichtung fanden. Die Überbetonung des monarchischen Prinzips mit dem Gottesgnadentum als ideologische Untermauerung machte, nachdem mit der Einsetzung der Regentschaft nicht nur die starke Herrscherfigur, sondern auch der sichtbare König fehlte,36 deren „Substanzlosigkeit"37 erst voll sichtbar. Der starken Herrschergewalt, wie sie die Verfassung vorsah und die bayerische Staatsrechtslehre noch 1913 aufrechterhielt, standen die Monarchen selbst am meisten im Wege. Waren die Symptome dafür bereits unter Ludwig I. latent vorhanden, besonders in der Machtstellung des nicht verfassungsmäßigen Kabinettsekretariates,38 so wurden sie unter Max II. stärker, kamen unter Ludwig II. voll zum Ausbruch und waren unter Prinzregent Luitpold kaum mehr lösbar.40 In der öffentlichen Meinung lag im Einfluß nicht verfassungsmäßiger Institutionen, wie des Kabinettsekretariates und später auch der Geheimkanzlei, ein wichtiges Kriterium der Schwächung des monarchischen Prinzips, denn die ständigen Angriffsflächen, die sie boten, mußten indirekt den Monarchen bzw. den Regenten treffen. Es erhebt sich die Frage, ob nach der Einsetzung der Regentschaft die Autorität der Krone wiederhergestellt hätte werden können.41 Der geisteskranke König Otto I. — dessen Vermögenskuratel bereits seit 1878 datierte — war, als er Ludwig II. auf den Thron nachfolgte, 3 8 Jahre alt und körperlich völlig gesund.42 Die Dauer der Regentschaft war also zunächst nicht abzusehen und damit eines Provisoriums, das den Regenten in seiner Herrschergewalt
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Bayern im Umbruch
nach Tit. II § 18 der Verfassung beschränkte.43 Es war sofort klar, daß der Regent diese Beschränkungen allein im Hinblick auf die Reichsgesetzgebung nicht würde einhalten können. Finanzminister von Riedel brachte daher bereits in der Staatsratssitzung vom 12. Juni 188644 einen diesbezüglich verfassungsändernden Antrag ein, der aber im Ausschuß der Kammer der Abgeordneten am 28. Juni x 886 keine Mehrheit fand und daher am jo. Juni vom Gesamtstaatsministerium zurückgezogen wurde.46 Am 25. Juni bereits legte von Riedel im Staatsrat einen weiteren Gesetzentwurf vor,46 der zwar formal nur eine Interpretation des Tit. II § 18 der Verfassung darstellte, faktisch aber auf dessen Aufhebung hinauslief. Diese Vorlage wurde am 27. Oktober 1887 Gesetz.47 Das rasche Handeln v. Riedels ließ mehr auf das Motiv schließen, in der Beamtenschaft keine Unruhe aufkommen zu lassen, als auf die Notwendigkeit irgendwelcher landes- oder reichsgesetzlicher Maßnahmen.48 Letztere hätten sich zunächst verschieben lassen. Abgesehen von ihrer gemeinsamen Tradition, ihrer gemeinsamen Gesinnung, ihrem Ethos und ihrer politischen Überzeugung war in der Beamtenschaft und deren stärkstem Exponenten, der Ministerialbürokratie, unter heftigen Angriffen der Öffentlichkeit und der Opposition des Zentrums um Entmündigung und Tod Ludwigs II. ein starker Solidarisierungsprozeß zu beobachten, der erst nach der Jahrhundertwende wieder gegenläufig verlief. Die Regierungsbürokratie, nationalliberal, aufgeklärt, weitgehend fränkisch-protestantisch, seit dem straffen Regiment Montgelas und dem Kulturkampf in ständigem Gegensatz zum größten Teil der Bevölkerung, war weder beliebt, noch im Volk verwurzelt.49 Trotzdem war sie politisch der entscheidende Faktor. Durch das Gesetz vom 27. Oktober 1887, das eine materiell verfassungsändernde Interpretation des Tit. II § 18 zuließ, begab sich der Regent in starke Abhängigkeit vom Ministerium; denn wie konnte er auf der einen Seite als Wahrer der Verfassung auftreten, wenn er auf der anderen Seite deren Aufweichung ohne klare prinzipielle Entscheidung zuließ. Die Folge war, daß während der gesamten Ära des Regenten die Erörterungen um die Frage, ob während der Regentschaft Verfassungsänderungen zulässig seien oder nicht, die öffentliche und staatsrechtliche Diskussion beherrschten.50 Die Staatsrechtslehrer lösten diese Frage nicht. Ihre Auffassungen waren zu unterschiedlich und extrem, als daß eine Meinung sich hätte durchsetzen können. Selbst der anerkannte Professor Max von Seydel behauptete zweimal den gegenteiligen Standpunkt von vorher.51 Nachdem weder Regent noch Staatsrechtler sich eindeutig erklärten, wurde die Frage der Änderung der Verfassung während der Regentschaft zum Deckmantel der Interessen und politischen Motive der Parteien. Je nachdem, ob man ein ver-
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fassungsänderndes Gesetz, wie zehn Jahre lang das Wahlgesetz, verhindern wollte, betonte man den legitimistischen Standpunkt oder, ob man es herbeiführen wollte, den des Staatsnotstandes oder des öffentlichen Wohls. Die Regierung, besonders Innenminister von Feilitzsch, wollte Verfassungsänderungen während der Regentschaft nur dann zulassen, „wenn die salus publica in Frage steht" und dessen „Notwendigkeit... im einzelnen Fall" entscheiden.52 Damit wurde eines der vornehmsten Rechte der Krone, nämlich das der Verfassungsinitiative, zum Handelsobjekt zwischen Ministerium und Interessenvertretern einerseits und den Parteien des Landtags andererseits. Der Regent trat somit als politisch entscheidender Faktor zurück. Zwar wäre im Jahre 1887 der Versuch, die Regentschaft aufzuheben, politisch unklug gewesen, aber in der Frage einer möglichen Verfassungsänderung hätte der Landtag Prinz Luitpold bei persönlich starkem Auftreten die Gefolgschaft nicht versagt; nicht allein deswegen, weil er in allen Fragen der Einsetzung der Regentschaft seine Zustimmung nicht verweigert hatte, sondern weil der gemäßigte Flügel des Zentrums in seiner monarchischen Gesinnung einer Brüskierung des Regenten nie zugestimmt hätte.53 Bei dieser Entwicklung der politischen Verhältnisse ist weiter zu überlegen, welche Rücksichten der Regent zu nehmen hatte und welche Einflüsse auf ihn wirkten. Dem nationalliberalen Ministerium von Lutz war es durch einen aus mannigfachen Gründen politisch nicht willensfähigen König gelungen, Bayern reibungslos ins Deutsche Reich einzufügen.54 Von diesem Weg abzuweichen, bestand für Lutz kein Anlaß, wäre nicht durch die zunehmende Krankheit Ludwigs II. und die wachsende Verschuldung der Kabinettskasse Bayern seit Beginn der 80-er Jahre einer inneren Krise entgegengegangen. Nachdem 1884 der Versuch Finanzministers von Riedel und des Reichstags- und Landtagsabgeordneten und Direktors der Süddeutschen Boden- und Creditbank Dr. Friedrich von Schauß55 durch eine Siebeneinhalb-Millionen-Anleihe die Geldwünsche Ludwigs zu befriedigen insofern mißlungen war, als diese nur ermöglichte, die Krise hinauszuschieben, nicht aber zu lössen, trat das Miniestrium — 1885 waren bereits wieder viereinhalb Millionen weitere Schulden vorhanden — dem Gedanken einer Regentschaft des Prinzen Luitpold nahe.56 Zwei Hauptaufgaben galt es dabei für das Ministerium zu erfüllen: kontinuierliche Weiterfiihrung der Politik gegenüber dem Reich und Beseitigung der Schulden Ludwigs II. ohne Einschaltung des Landtags. Zur Beseitigung letzterer erarbeitete Finanzminister von Riedel durch weitere Anleihen mit Hilfe der Süddeutschen Boden- und Creditbank und der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank einen Tilgungsplan, nach dem dann bis 1901 auch
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Bayern im Umbruch
sämtliche Schulden beglichen wurden.87 Die Sicherung der Integrationspolitik ins Reich war schwieriger. Prinz Luitpold galt als katholisch-überzeugt, kirchenfreundlich und durch seine weitläufige Verwandtschaft zum Hause Habsburg als „österreichisch". Es bestand also die Gefahr, daß mit Einsetzung der Regentschaft das Ministerium Lutz durch ein Ministerium des Zentrumsführers Freiherr von Franckenstein ersetzt werde. Die Fortführung einer positiven Reichspolitik war für die nationalliberale Partei, das liberale Bürgertum und die preußische Gesandtschaft in München nur im Weiterbestand des Ministeriums Lutz gewährleistet.58 Es gelang, Prinz Luitpold von der Notwendigkeit der Kontinuität der Regierungspolitik und damit der Beibehaltung des Ministeriums zu überzeugen. Philipp zu Eulenburg, preußischer Gesandtschaftssekretär in München, berichtete am 5. Februar 18 8 6 an Herbert von Bismarck: „ . . . Er (Lutz) hat sehr geschickt agiert, und seine bestimmte Äußerung, daß Prinz Luitpold im Falle einer Regentschaft mit dem jetzigen Ministerium weiter arbeiten würde, läßt auf ein Einverständnis der beiden alten Jagdfreunde, Luitpold und Lutz, schließen."59 Ähnlich berichtet er am 6. Juni 1886: „ . . . Lutz sagte mir, daß ihn Prinz Luitpold sechsmal die bündigste Versicherung habe aussprechen lassen, daß er bei einem Wechsel das jetzige Ministerium beibehalten wolle. Ein liberales Ministerium — vor allem das Ministerium Lutz — aber bedeutet hier: unzweideutige Gemeinschaft mit dem Reiche."60 Starken Einfluß auf den Prinzen Luitpold übten seine liberalen, reichstreuen Adjutanten Karl von Wolflfskeel und Ignaz von Freyschlag aus.61 Letzterer wurde später der erste Chef der Geheimkanzlei des Regenten; für ihn wurde Peter von Wiedemann Adjutant, der dann 1900 ebenfalls die Geheimkanzlei übernahm. Auch Graf Holnstein besann sich nach seiner vorübergehenden Annäherung an ultramontane Kreise seiner Reichstreue und brachte dem Regenten den Gedanken einer Reise zum Kaiser nahe. In kirchenpolitischer Hinsicht betonte Lutz dem Regenten gegenüber die verschiedentliche Äußerung des Papstes, daß er mit der Lage der katholischen Kirche in Bayern vollkommen zufrieden sei.62 Allerdings rief diese Äußerung, als sie durch das Handschreiben des Regenten vom 6. Juni 1886 an das Gesamtstaatsministerium an die Öffentlichkeit kam, unter den Katholiken Bayerns lebhaften Protest hervor. Am 16. Juni bestätigte der Vatikan diese Feststellung teilweise, indem er darauf hinwies, daß der Hl. Vater dies relativ gemeint habe.63 Mit der Proklamation der Regentschaft am 10. Juni 1886 waren damit im Grunde die Weichen für die kommende Politik Bayerns gestellt. Der Tod Ludwigs II. am 13. Juni wühlte zwar die öffentliche Meinung auf und rief scharfe Reaktionen der politischen Parteien gegen das Ministerium hervor, bewirkte aber letztlich eine Festigung von dessen Position, da Prinzregent Luit-
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pold das Entlassungsgesuch des Ministeriums vom 5. Juli ablehnte.64 Der Verdacht liegt nahe, daß damit nur eine öffentliche Demonstration des Regenten fiir das Ministerium Lutz vollzogen werden sollte.65 Die Vorgänge von Januar bis Juli 1886 im Überblick betrachtet, zeigen, daß mit dem Tod Ludwigs II. und der Einsetzung der Regentschaft durch Prinz Luitpold keine Veränderung des politisch-gesellschaftlichen Machtgefüges eingetreten war. Die monarchische Spitze, vertreten durch den Regenten, erfuhr keine Stärkung. Sie wurde insofern sogar geschwächt, als durch gesetzliche und politische Maßnahmen die Stellung des Ministeriums zementiert wurde. Auf diesem Hintergrund erklärt sich auch die Haltung Bismarcks in der Regentschaftsfrage. In einem Gespräch mit dem bayerischen Gesandten Graf Lerchenfeld am 23-/24. Mai 1886 in Friedrichsruh66 legt Bismarck seine Auffassung dar. Einen Monat später, also nach den Ereignissen, am 16. Juni betont er wiederum Lerchenfeld gegenüber, daß er an seiner geäußerten Auffassung festhalte.67 Bismarck war einerseits konservativem Denken verhaftet und fest von der Verwurzelung des monarchischen Gedankens im bayerischen Volk überzeugt, andererseits war er Realpolitiker genug, um zu wissen, daß die monarchische Spitze eines Staates nur dann wirksam werden konnte, wenn sie reale Macht und politische Handlungsfreiheit besaß. Bismarck schlug Lerchenfeld daher vor, die Schulden Ludwigs II. vor dem Landtag zu verhandeln, zu erklären, man handle auf allerhöchsten Befehl, um damit den Stein vom Landtag aus ins Rollen zu bringen. Der Kanzler betonte dabei, daß er allein die Interessen Luitpolds im Auge habe. Lerchenfeld widersprach vom Standpunkt des monarchischen Prinzips aus und zeigte damit, daß er den Kanzler nicht verstanden hatte oder nicht verstehen wollte; denn dessen Vorschlag beinhaltete tatsächlich die für die monarchische Gewalt beste Lösung. Die Diskussion der Finanzfrage vor dem Landtag und das sicher daraus resultierende Verlangen nach einer Regentschaft Luitpold hätte zwar dem Scheine nach dem monarchischen Prinzip widersprochen, aber zugleich Luitpold vom Odium des „Ohm Gloster" freigehalten, ihm die Möglichkeit eröffnet, seine Forderungen zu stellen und als Ergebnis dem Regenten die politische Basis unabhängiger Entscheidungen gegeben. So lag im Vorschlag Bismarcks wohl die einzige praktisch-politische Möglichkeit, eine Stärkung der monarchischen Spitze des Staates herbeizufuhren. Mit einiger Sicherheit wäre damit das Ministerium Lutz gestürzt worden. Dies aber war für die nationalliberale Partei, das liberale Bürgertum, die Beamtenbürokratie, den preußischen Gesandten und „Kirchenhasser" Graf Werthern69 und den gesellschaftlich einflußreichen preußischen Gesandtschaftssekretär Fürst Philipp zu Eulenburg-Hertefeld undenkbar. Die
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gesellschaftlichen Verhältnisse, die politischen Interessen und soziale Vorurteile standen im Wege. Das Zentrum galt nicht als regierungsfähig.70 Die Ereignisse um die Einsetzung der Regentschaft zeigen deutlich, wie die Ministerialbürokratie, gestützt auf weite Kreise des liberalenBürgertums und die preußische Gesandtschaft, ihre vorherrschende Position zu behaupten wußte, sowohl gegen die Krone als auch gegenüber dem Landtag. Darüber hinaus, das Ministerium war mächtiger geworden, da es ihm gelang, zunächst den überstarken Einfluß des Kabinettsekretariates auszuschalten und die Geheimkanzlei sich den eigenen Zielen dienstbar zu machen. Die gesellschaftlichen Kräfte außerhalb des Liberalismus waren noch zu schwach, um sich entscheidend durchsetzen zu können, zumal der Regent durch mangelnde Initiative, falsch verstandenem Konstitutionalismus und persönlichen Rücksichten verfassungsmäßige Rechte zugunsten der Regierungsbürokratie unter dem Verständnis eines pseudo-monarchischen Prinzips aufgab. E t glaubte über den Parteien zu stehen, stand in Wirklichkeit aber neben ihnen. Die oppositionelle Mehrheit des Volkes fühlte sich durch die Regierung nicht vertreten. In ihrer königstreuen Gesinnung, die sich als entscheidende Kraft auf Grund divergierender parteipolitischer Interessen während der Regentschaft Luitpolds nie artikulierte, glaubte sie in der Aufhebung der Regentschaft durch eine auch äußerlich sichtbare Stärkung der monarchischen Spitze eine Eindämmung der Ministerherrschaft zu erreichen. So wurde auf diesem Grundgedanken mit unterschiedlichsten Motiven von Zeit zu Zeit eine Beendigung der Regentschaft angestrebt.71 Ihren Ausgang nahmen diese Bestrebungen bereits im Jahre 1891 . , 2 Sie kamen aber nur in Initiativen zum Ausdruck, soweit sie in der breiten Öffentlichkeit Raum griffen und von Presse,73 Parteiführern,74 Parteien76 oder Rechtsgelehrten76 artikuliert wurden. 77 Zwei Wege erwiesen sich dabei als grundsätzlich gangbar: entweder Proklamation eines neuen Königs, was die strengen Monarchisten befürworteten, oder Änderung der Verfassung durch Zusatz bei Tit. II § 2 1 , der eine Aufhebung der Regentschaft ermöglichen sollte, falls sich der König als unheilbar krank herausstellte, wodurch dann die legale Erbfolge einzusetzen habe. Faktisch kam es während der Regentschaft des Prinzen Luitpold zu keiner Lösung, trotz aller Diskussionen und Anregungen. E s fehlte am entschiedenen Wollen sowohl des Regenten, als auch des Ministeriums und der Parteien. Zwischen dem Willen des Volkes und den Parteien bestanden insofern divergierende Tendenzen, als die Parteiführungen dessen Anhänglichkeit an die Dynastie und dessen Zustimmung zur Staatsform zum politischen Interessenspiel herabwürdigten. Das Ministerium sah keinen Grund, seine
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Machtposition und ein wirksames politisches Argument 78 aufzugeben. Außerdem konnte es ohne weiteres die Haltung des Regenten als Vorwand benutzen; denn er wolle „an den bestehenden Verhältnissen nichts geändert wissen". 79 Welche Motive hatte der Regent auf diesem Standpunkt zu verharren ? Auch er mußte erkennen, daß die lange Dauer des Provisoriums Regentschaft dem monarchischen Prinzip abträglich sein mußte. Sein Ansehen in der öffentlichen Meinung war gestiegen; sein Alter konnte bei seiner Gesundheit nicht allein entscheidend sein; andere Widerstände sind denkbar, aber nicht zu greifen. Anhaltspunkte für Motive im persönlich-dynastischen Bereich gibt Professor Noll von der Nahmer.80 Die Gerüchte um die Frage, inwieweit Ludwig II. und sein Oberststallmeister Graf Holnstein aus dem Reptilienfonds Bismarcks Zuwendungen erhielten und welche Rolle diese Zuwendungen bei der Absendung des Kaiserbriefes 1870 spielten, sind zur Zeit des Regenten nie verstummt und wurden auch von der neueren Forschung nur teilweise geklärt.81 Vertraut man den jüngsten Veröffentlichungen Noll von der Nahmers aus den Geheimakten Preußens und des Deutschen Reiches, dann scheint sich jene „großartige Schmiererei"82 von 1870 und der in den Jahren bis 1886 erfolgten Zuwendungen von etwa fünf Millionen Mark aus dem Reptilienfonds an Ludwig II. zu bewahrheiten.83 Der Regent erfahr erst im März 1892 von diesen Vorgängen durch Ministerpräsident von Crailsheim.84 Allerdings gab er „den Gedanken einer Wiedererstattung" an den Erben des Weifenfonds Herzog Ernst August von Cumberland „vorläufig nicht zu erkennen".85 Z u dieser Haltung mögen die noch bis 1901 zurückzuzahlenden Schulden Ludwigs II. beigetragen haben. Die aus diesen Offenbarungen resultierende ständige Gefahr eines Skandals über dem Haus Wittelsbach und die nicht abzusehenden politischen Konsequenzen können Grund genug für Prinz Luitpold gewesen sein, die „Königsfrage" nicht aufzugreifen. Die aufgezeigten Vorgänge machen deutlich, daß die Interessen des Staates und des Volkes weitgehend nicht mehr mit den politischen Maßnahmen der Regierung übereinstimmten. Das Aufrechterhalten von wesentlichen Elementen einer alten staatlichen Struktur drängte den liberalen Fortschritt in eine konservativ-reaktionäre Haltung. Die neuen Kräfte waren sich ihrer Macht noch nicht bewußt geworden. Bei ihnen herrschte noch das Streben nach Sicherung der materiellen Existenz vor. So kamen diese Spannungen noch nicht zum Durchbruch. Bis zur Jahrhundertwende stand das Ministerium im Zeichen dreier Männer — Minister von Lutz war 1890 ausgeschieden —: Ministerpräsident von Crailsheim, Finanzminister von Riedel und Innenminister von Feilitzsch. Sie stamm-
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ten aus Franken und hatten die damals für Beamte typische juristische Laufbahn hinter sich. Ihr Schicksal,86 ihre aufgeklärt-protestantische Weltanschauung, ihre nationalliberale Gesinnung und ihre reichstreue Politik waren ihnen gemeinsam. Sie beherrschten in homogener Kollegialität das Ministerium und bestimmten die bayerische Politik. Auch gelang es ihnen für längere Zeit, den Einfluß der Geheimkanzlei, die als Kabinettsekretariat unter Ludwig II. so großen Einfluß ausgeübt hatte, zurückzudrängen.87 Zu einem guten Teil lag dies aber am Eindruck, den die Auswüchse Vinter Ludwig II. gemacht hatten, und am mangelnden Ehrgeiz der ersten beiden Chefs der Geheimkanzlei, Freiherr Ignaz Freyschlag von Freyenstein88 und Freiherr Friedrich von Zoller,89 eigene Politik zu machen.90 Die Stärke des Ministeriums, die Kollegialität, sollte zugleich seine Schwäche werden. Mit der Berufung Robert von Landmanns 1895 zum Minister des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten trat ein Mann von gemäßigter Gesinnung ins Ministerium ein. Er suchte vor allem den personellen und kirchenpolitischen Ausgleich mit dem katholischen Teil der Bevölkerung zu fördern. In beiden Bemühungen stieß er auf den heftigsten Widerstand liberaler Kreise und der Ministerkollegen. Der Gegensatz zu letzteren verdichtete sich 1902 zur Krise. Zunächst aber ließ sich Landmann wenig beirren. Er pochte auf die kollegiale Struktur des Ministeriums, in dem kein Ressortminister an die Weisung eines anderen Ministers, auch nicht des Vorsitzenden im Ministerrate gebunden sei.91 In der Tat gingen die Bestimmungen über den Ministerrat von 1821 und 1849 davon aus, daß der Ministerrat nur auf allerhöchste Anordnung zusammentrete und der Monarch selbst den Vorsitz führe, um dadurch für eine einheitliche Regierungspolitik zu sorgen.92 Seit Ludwig II., teilweise schon bei Max II., war davon kein Gebrauch mehr gemacht worden, so daß die Entwicklung — wie bereits gezeigt — zu einer Regierungsoligarchie oder „Ministerrepublik"93 führte. Dem Vorsitzenden im Ministerrat kam nur die Verhandlungsführung zu. Von Amts wegen hatte er kein Übergewicht, höchstens auf Grund seiner persönlich-beherrschenden politischen Stellung, wie etwa Lutz. Bei der Beratung des Schulbedarfsgesetzes im Frühjahr 1902 drohte die Krisis im Gesamtstaatsministerium auf den Landtag überzugreifen, als sich Minister von Crailsheim gezwungen sah, die von Landmann in den Ausschußberatungen eingenommene Position im Plenum zu revidieren. In den folgenden heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen verschärfte ein weiterer Vorfall die Lage.94 Zwischen Senat und Professor Chroust der Universität Würzburg kam es zu gerichtlicher Auseinandersetzung. Minister von Landmann kritisierte in der Kammerverhandlung vom 26. Juni 1902 den Senatsbericht.95 Daraufhin (28. Juni) wirft der Senat Minister von Landmann in öffentlicher Erklärung
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vor, Anklagen erhoben zu haben, die in direktem Widerspruch zur Aktenlage stehen und reichte seine Entlassung ein.96 Dieses „ungehörige" Vorgehen veranlaßte Landmann — teilweise im Recht — an den Ministerrat seinerseits den Antrag auf sofortige disziplinarische Amtsenthebung des Senates der Universität Würzburg zu stellen.97 A m 4. Juli teilte der Chef der Geheimkanzlei Peter von Wiedenmann Minister von Crailsheim mit, daß der Regent mit dem Vorschlag — den „k. Ministerialrat Dr. von Wehner als Nachfolger des derzeitigen Kultusministers in Aussicht zu nehmen" — im Schreiben vom x. des Monats einverstanden sei. Zugleich wünsche der Regent, daß vor Abschluß der Kammerverhandlungen ohne zwingende Verhältnisse ein Wechsel in der Leitung des Kultusministeriums vermieden werde. Sollte von Landmann nach Schluß der Kammerverhandlungen nicht von selbst zurücktreten, „so wollen E . Exc. demselben in geeigneter Weise mitteilen, daß er das Vertrauen S. K . H. nicht mehr in dem Maße besitze, um das ... schwierige Ressort des Kultusministers fernerhin mit Erfolg zu verwalten". 98 Unter dem j. Juli teilte von Wiedenmann von Crailsheim mit, daß der Minister des Inneren von Feilitzsch Wiedenmann ersuchte, von Landmann nach seinem Rücktritt anderweitig, z.B. als Regierungspräsident von Niederbayern, zu verwenden. Prinzregent Luitpold „glauben sich den von Exc. Dr. Frhr. v. Feilitzsch hierfür vorgebrachten Gründen, welche E . Exc. wohl bekannt sein dürften,99 nicht vollständig verschließen zu sollen und würden sich,... gegenüber einem bezüglichem ... Antrage auf Ernennung Dr. v. Landmanns zum Regierungspräsidenten von Niederbayern nicht ablehnend verhalten".100 Ob dies Landmann zu eröffnen sei, bleibt von Crailsheim überlassen. Zwei Tage danach, am 7. Juli, teilte Landmann Craislheim mit, daß er dem Regenten sein Gesuch um Amtsenthebung schickte und daß er es vorerst geheim halten wolle.101 A m gleichen Tag fand eine Ministerratssitzung statt, in der der Antrag Landmanns auf Amtsenthebung des Senates der Universität Würzburg abgelehnt wurde. Dies sollte dann der Öffentlichkeit und — wie noch zu zeigen sein wird — auch dem Regenten gegenüber als Rücktrittsgrund dienen. In seinem Brief vom 8. Juli 1902 lehnte von Wehner die Berufung ins Kultusministerium ab, indem er sich mit den inneren Verhältnissen des Ministerrates und dessen Beziehungen zum Landtag nicht einverstanden erklärte.102 Schließlich nahm am 15. Juli der bayerische Gesandte in Wien, Freiherr von Podewils-Dürnitz,103 „der Liebling des Prinz-Regenten",104 die Berufung zum Kultusminister an. Der offizielle Erlaß der Entlassung Landmanns und der Berufung von Podewils erging dann am 10. August 1902. 106
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Entscheidend nun für die Klärung der Beziehung Regent — Geheimkanzlei — Ministerium ist in einem Nachspiel die direkte Einschaltung des Regenten. Die hektischen Kammerverhandlungen im Sommer 1902 und die unabhängige Politik des Ministers von Landmann veranlaßten den Regenten in einem Handschreiben vom 22. Oktober 1902106 zu verlangen, daß künftig alle wichtigen Angelegenheiten — nicht nur jene, die alle Ministerien betreffen — vor dem Ministerrat zu verhandeln seien. Der Vorsitzende im Ministerrat solle ermächtigt werden, alle Ressortangelegenheiten zur Kenntnis zu bekommen, von denen er auch jene beraten lassen können, deren Verhandlung vom Ressortminister nicht beantragt worden sei. In einem Begleitschreiben vom gleichen Tag schwächt der Chef der Geheimkanzlei diese klaren Anordnungen erheblich ab. Im Grunde bleibt nur die Forderung nach regelmäßiger Tagung des Ministerrates und die Beratung von Gegenständen „von irgend weittragender Bedeutung". Sonst solle durch „die angeordnete Maßregel der Selbständigkeit der einzelnen Minister in keiner Weise" zu nahe getreten werden. Außerdem übersendet von Wiedenmann am 31. Oktober 1902 dem Minister von Crailsheim „zur vertraulichen und persönlichen Einsichtnahme", „meines die Grundlage zur Entstehung des ah. Handschreibens an das Gesamtministerium ... den 22. Oktober ... bildenden Antrages an S. K . H. den Prinzregenten .. ," 107 Nach Verhandlung des Handschreibens des Regenten am 3. November im Ministerrat berichtet Crailsheim am 4. November an den Regenten. Dabei umriß er die politische Entwicklung des vergangenen Sommers. Er warf Landmann Illoyalität und Eigenmächtigkeit vor, ebenso Heraustreten aus der Regierungspolitik und „einseitige Berücksichtigung der Zentrumspartei", verteidigte die liberale Partei und beschuldigte das Zentrum, einen Keil in das Gesamtstaatsministerium treiben zu wollen. Weiter führt Crailsheim die Einreichung des Entlassungsgesuches Landmanxis auf eine „an sich unbedeutende Frage des taktischen Vorgehens, bei welcher man sich nur wundern kann, daß überhaupt eine Meinungsverschiedenheit auftauchen konnte (ob nämlich der Senat der Universität Würzburg zuerst zu disziplinieren und dann mit seiner Rechtfertigung zu hören oder ob das umgekehrte Verfahren einzuhalten sei)" zurück.108 Aus dieser Darstellung Crailsheims ergeben sich zu den tatsächlichen Vorgängen Widersprüche. Der Bericht erweckt den Anschein, als ob Landmann auf der entscheidenden Ministerratssitzung (am 7. Juli) anwesend gewesen sei, was nicht der Fall war. Außerdem ging es Landmann bei seinem Antrag im Ministerrat nicht um formale Dinge, sondern um Ahndung einer nach Form und Inhalt unzulänglichen politischen Erklärung des Senates der Universität Würzburg. Hinzu kommt, daß zum Zeitpunkt besagter Ministerratssitzung das Rücktrittsgesuch Landmanns bereits Crailsheim und der
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Geheimkanzlei vorlag, was auch die Tatsache erhärtet, daß bereits am i. Juli dem Regenten Wehner als Nachfolger Landmanns vorgeschlagen wurde. Diese Widersprüche um die Entlassung Landsmanns im Sommer 1902 lösen sich nur, wenn man annimmt, daß der Regent nicht, nicht zutreffend oder einseitig109 informiert wurde. 110 Eine bestimmende Rolle kann hierbei dem Chef der Geheimkanzlei Peter von Wiedenmann nicht abgesprochen werden. 111 In seinem Bericht an den Regenten vom 4. November 1902 fährt von Crailsheim fort und sagt, daß nur die „politischen Elemente des Zentrums ... ein Agitationsmittel suchten", obwohl „die ganze Sachlage durch die Presse und in Unterredungen mit einflußreichen Abgeordneten der Rechten vollständig klar gestellt wurde". Konsequenzen aus dem Handschreiben des Regenten vom 22. Oktober 1902 kündigt Crailsheim nicht an, hat auch der Ministerrat nicht beschlossen. In einem Begleitschreiben112 an Wiedenmann spricht es Crailsheim deutlich aus. Unter Hinweis auf seinen Bericht über die Ministerratssitzung schreibt er: „Eine weitere Regelung des Gegenstandes dürfte . . . unterbleiben können . . . , weil, wie es in einer Note des Staatsministers von Ringelmann vom 21. Januar 1850 heißt, es in allen zur Kompetenz des Ministerates gehörigen Punkten immer nur darauf anzukommen scheint, daß die Sache zum Abschluß gebracht werde, nicht aber darauf, daß man sich ängstlich an eine im voraus bestimmte, wenn gleich in kritischen Augenblicken doch nicht einhaltbare Form binde'. Indem das ah. Handschreiben den Ministerrat zu lebhafter Tätigkeit mahnt, stärkt es den Einfluß des Vorsitzenden auf den Gang der Staatsgeschäfte." Die Entlassung von Landmanns stellt den ersten erzwungenen Ministerrücktritt während der Regentschaft dar. Ablauf und Methode sind beispielhaft für den Regierungsstil bis 1912. Die Initiative zu diesem Schritt ging nicht vom Regenten aus. Für ihn war die vermeintlich unbeugsame Haltung Landmanns im Würzburger Professorenstreit der Grund seines Ausscheidens. Die Ursache lag tiefer. Die Bemühungen Landmanns galten in erster Linie dem gesellschaftlichen Ausgleich; darauf stimmte er seine politischen Maßnahmen ab. Zwangsläufig traf er dadurch die herrschenden liberalen Kreise an ihrer empfindlichsten Stelle. Die Opposition gegen seine Personalpolitik wurde dadurch zum tieferen Grund für das gute Zusammenspiel von Ministerrat, Geheimkanzlei und Würzburger Professoren, das ihn aus dem Amt drängte. Der Regent, überzeugt von der Argumentation Crailsheims, daß Strukturmängel am Ministerrat die Haltung Landmanns erst ermöglichte, regte in seinem Handschreiben die Stärkung der Position des Ministerpräsidenten, Geschäftsverteilung unter den Ressorts und eine Geschäftsordnung für die Verhandlungsführung an. Wiedenmann und Crailsheim verhinderten aber —
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wie gezeigt wurde — jede praktische Konsequenz. Die Vorgänge um Landmann fanden eben nicht in diesen Fragen ihren Kristallisationspunkt. Und, was entscheidend war, die Geheimkanzlei hatte kein Interesse an einer Stärkung des Ministerrates, dessen Position durch die unabhängige Politik Landmanns und die ständigen Angriffe der Parteien soweit erschüttet worden war, daß sich die politischen Gewichte zugunsten der Geheimkanzlei verschoben. Für das nächste Jahrzehnt sollte der Ministerrat gleichsam als Filter gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Kräften der Parteien und des Volkes fungieren. Die Geheimkanzlei andererseits war für beweiskräftige Kritik nicht leicht faßbar. Sie stand im Schatten des Regenten, um so mehr als dieser im Volk persönlich in hohem Ansehen stand. Sein fortgeschrittenes Alter, seine volkstümliche ,Gradheit', seine Lauterkeit und seine Güte ließen ihn schon zu Lebzeiten zum Mythos werden.113 Aber seine starke verfassungsmäßige Stellung als Verweser der obersten Staatsgewalt verlangten die Ausübung der Herrschaft oder die Änderung der Verfassungsstruktur. Beides geschah nicht. Der Kern der Regierungsgewalt ließ sich auf dieser Basis durch den ehrgeizigen Peter von Wiedenmann zugunsten der Geheimkanzlei verschieben. Diese Entwicklung bedeutete trotzdem keinen Ausgleich politischer oder gesellschaftlicher Kräfte. Auf den Druck des Zentrums hin war lediglich eine Änderung des Machtgefuges innerhalb der führenden Schicht erfolgt. Die Anhänglichkeit des Volkes an den Regenten, die Verteidigung der Staatsform der Monarchie und die Sicherung der Verfassung bildeten für Geheimkanzlei und Ministerium den Schutzschild für die Ausübung ihres Regiments. Diese intensive Verquickung von Interessen der fuhrenden Schicht mit den Grundlagen des Staates förderten in weiten Kreisen des Volkes und in Parteigruppierungen das Bewußtsein einer weitgehenden Identität zwischen den Institutionen und deren Inhabern, so daß die Auffassung Raum griff, nur durch Infragestellen der Staatsstruktur sei ein Ausgleich der gesellschaftlichen Spannungen und Interessen zu erzielen. Wesentlich zur Verstärkung dieser Tendenzen trug das immer schärfere Eingreifen der Geheimkanzlei in die Regierungsgeschäfte bei. Ihr Chef Peter von Wiedenmann erwies sich dabei oft als der entscheidende, alles in kürzester Frist umstürzende Faktor. Auf dem Gautage der katholischen Arbeitervereine in Immenstadt im Sommer 1909 hielt Ministerialdirektor von Geith eine zentrumsfreundliche Rede.U4 Dies war für einen hohen Ministerialbeamten ein ungewöhnliches Verhalten. Über die Bestrebungen der Geheimkanzlei, den zuständigen Ressortminister von Frauendorfer zu einer Maßregelung von Geiths zu bewegen, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit. Wiedenmann verlangte von Graf Podewils, u5 daß er diesen Angriffen
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gegen die Geheimkanzlei in Presse und Landtag entgegentrete. Podewils tat dies — aus guten Gründen — zur Verstimmung Wiedenmanns nicht entschieden genug. Bei der Auflösung des Landtags 191 x sollte sich diese Zurückhaltung des Ministers noch auswirken. Franz von Stockhammern, Legationssekretär I. Klasse und persönlicher „Hilfsarbeiter" des Ministerpräsidenten von Podewils notiert am 4. Februar 1912 zur Frage der Kabinettsumbildung anläßlich der Landtags-Neuwahlen:116 „ . . . D i e Ursache der Entfremdung zwischen beiden117 geht auf die Erklärung Podewils in der Kammer der Abgeordneten vom 19. November 1909 zurück, in der Wiedenmann sich nicht genügend in Schutz genommen glaubte. Sein Schutzbedürfnis war immer groß ..." U 8 Dazu ist die Notiz, ebenfalls von Stockhammern, vom 30. Januar 1912 zu beachten. „Podewils beim Regenten. Regent legt Grf. Podewils Hand auf die Schulter: Wir bleiben zusammen."119 Trotzdem wird auf Grund der Initiative Wiedenmanns unter Mithilfe des II. Präsidenten der Kammer der Reichsräte von Auer Freiherr von Hertling am 9. Februar 1912 zum Ministerpräsidenten berufen. Vergleicht man diese Funktion der Geheimkanzlei mit jener des Kabinettsekretariates unter Max II. und Ludwig II., so ist ein wesentlicher Unterschied festzustellen. Das Kabinettsekretariat war ein Mittel des Königs, um Regierungsgeschäfte von sich fernzuhalten. Die Kabinettsekretäre hatten den faktischen Einfluß der weitgehenden Vermittlung zwischen Monarch und Regierung. Aber selbst zu Zeiten Ludwigs II. regierten nicht die Kabinettsekretäre, sondern Minister von Lutz und das Ministerium. Die öffentliche Kritik richtete sich gegen die Auswüchse und die unverantwortlichen Ratgeber. Hingegen war die Funktion der Geheimkanzlei unter Peter von Wiedenmann120 eine Art Nebenregierung mit umfangreichem Mitarbeiterstab.121 Leicht angreifbare Auswüchse wie zur Zeit des Kabinettsekretariats gab es nicht. Die Handlungen der befähigten Männer122 zielten auf Wahrung der Interessen der führenden Schicht und der politischen Macht. Ihr Einfluß stieg, je mehr der Regent als politisch direkt einflußreicher Faktor zurücktrat und das Ministerium seine Kräfte in der Auseinandersetzung mit den Parteien verbrauchte. Die Unangefochtenheit der Geheimkanzlei lag im Geschick, mit dem sie die Fäden des politischen Kräftespiels zog, und an der Abschirmung des Regenten von ungünstigen, den eigenen Interessen divergierenden Einflüssen.123 Diese Institutionalisierung der staatlichen Gewalt außerhalb der Verfassungsnorm ist nur möglich, wenn sie von einer starken gesellschaftlichen Schicht getragen wird. Der Hintergrund letzterer sind gesellschaftlich-wirtschaftliche Integrationsfaktoren, die ihre Ausmündung im kulturellen und politischen Leben finden. Diese führende Schicht ist verschieden zu der im
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Reich. Sie ist während der Prinzregenten-Ära durchaus einheitlich und zwar deshalb, weil keine ihrer Gruppierungen dominierte und so eine Vereinheitlichung, sogar Verschmelzung eintrat. Mindestens bis zum i. Weltkrieg erhielt sie eine gewisse Konstanz und Stabilität durch eine ausreichende vertikale Mobilität aufrecht. Das Vorherrschen eines Standes in dieser Oberschicht konnte sich auf die Dauer nicht durchsetzen. Die Pluralität ihrer Interessen fanden in verbindenden Gemeinsamkeiten ihren Ausgleich. Die Gruppierungen, die dieser Schicht das Gepräge gaben, waren das hohe meist fränkisch-, schwäbisch-, pfälzisch-protestantische Beamtentum,124 die bürgerlich pfälzischen und die standesherrlich-rechtsrheinischen Großgrundbesitzer, die Vertreter des Großkapitals, der hohe Klerus, das gebildete Bürgertum in Kunst und Wissenschaft und bedingt das Offizierkorps. Gemeinsam war ihnen ein aufgeklärtes liberales Elitebewußtsein. Liberal ist hier mehr im Sinne einer verbindenden gemeinsamen Form zu verstehen, denn politisch war diese Oberschicht eher konservativ. Zweifellos galt dies bereits für den Beginn der Regentschaft, mehr aber füir deren Ende, als durch die immer stärker werdende Etablierung ausgesprochen reaktionäre Tendenzen zum Tragen kamen.125 Ihren sichtbarsten, aber nicht ganz zutreffenden Ausdruck fand diese führende Schicht in der Kammer der Reichsräte. Stabilisierende Elemente waren ihr Unangefochtensein, d. h. sie wurde als Elite anerkannt und es galt als erstrebenswert, ihr anzugehören, und ihre Offenheit gegenüber dem Aufsteigenden, der sich genügend weit aus seiner sozialen Schicht erhoben hatte. Dies galt nicht nur für Wirtschaftler, Künstler und Wissenschaftler, sondern auch für das hohe Beamtentum, das Offizierkorps126 und den Dienst in der Umgebung des Regenten, wie das Beispiel Wiedenmanns selbst am besten zeigt. Überhaupt ist der Hoftitel oder das Adelsprädikat weitgehend das sichtbare Zeichen der Zugehörigkeit zu dieser Oberschicht. Selbst dem alten Geburtsadel bleibt, abgesehen von einigen traditionellen Hofchargen, kein eigentliches Reservat, wie dies in Preußen vielfach der Fall war. Entscheidend für die politische Festigung der Oberschicht war der gesellschaftliche und berufliche Aufstieg führender Zentrumsabgeordneter, wie Dr. v. Dalier, Dr. v. Orterer, Dr. v. Pichler, und die vermittelnde Rolle, die Freiherr von Hertling, Graf Konrad von Preysing, Fürst Aloys und Fürst Karl zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg und andere als Führer der Katholikenbewegung spielten. Wesentlich zur Stabilisierung trug der Vereinheitlichungsprozeß innerhalb dieser Führungsschicht bei. Wirtschaftliche Führung traf sich hier mit dem Streben nach Sozialprestige in Standeserhebung. Die Verbindung der Familie Faber mit dem Geschlecht der Castell ist hier zu nennen, dann die Berufung des Großfinanziers Buhl,127 des Chemieindustriellen undEisenbahn-
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direktors Clemm, der Fabrikanten Maffei und Cramer-Klett,128 des Hüttenwerksbesitzers Kraemer, des Direktors der Bayerischen Hypotheken- und WechselBank Auer, des Baumwollindustriellen Hassler und des Bankiers Finck in den Reichsrat. Die Minister Grf. Podewils bei der Deutschen Bank, Graf Crailsheim bei der Bayerischen Yereinsbank und der Badischen Anilin- und Sodafabrik, von Landmann bei den Amperwerken, von Pfaff bei der Bayerischen Handelsbank, von Miltner bei der Münchner Rückversicherung nahmen Aufsichtsratsstellen ein; selbst der in der Presse als „roter Heinrich" bezeichnete von Frauendorfer war Aufsichtsratsmitglied.129 Als Integrationsfaktor dieser Führungsschicht ist ohne Zweifel Prinzregent Luitpold selbst anzusehen. Die bürgerliche Haltung in seiner Lebensführung und die bürgerliche Zusammensetzung seiner Umgebung lassen ihn wesentlich profilierter hervortreten als in seiner Rolle als politisch Handelnder oder Monarch. Diese Umgebung des Regenten ist nicht schwer zu fassen; ihre Mitglieder trafen sich im Sommer auf ausgedehnten Jagdreisen und im Winter in München in einem allabendlichen Zirkel „Der Sumpf". Genannt sollen hier nur jene Personen werden, die ab der Jahrhundertwende eine größere Anzahl von Jahren zur Runde des Regenten zählten und von den Hofchargen nur jene, mit denen Prinz Luitpold in enger Beziehung stand. Von den Hofbeamten zählten Oberststallmeister Garf Karl von Wolffskeel, Hofjagddirektor von Hörmann und Leibarzt Dr. von Kastner zu diesem Kreis; von der Geheimkanzlei Freiherr von Wiedenmann und Oberregierungsrat Dandl; von den Ministern Ministerpräsident Graf Podewils, Justizminister v. Miltner und Kriegsminister Graf Horn. Ständige Begleiter waren neben Reichsrat Graf Quadt zu Wykradt und Isny, den der Regent 1901 in den Fürstenstand erhob, die Professoren von Angerer, von Bauer, der Direktor der Pfalzbahnen von Lavale, der Stiftsprobst von Türk und der Direktor der Akademie von Kaulbach. Diese Umgebung des Regenten könnte als Spiegelbild für die führende Gesellschaftsschicht gelten. Innerhalb ihrer Reihen kamen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen zum Ausgleich. Nach außen war sie zwar offen, aber nicht in einem ausgleichenden, sondern in einem abschließenden Sinn, d. h. sie erkannte Aufstiegsmöglichkeiten an, schloß sich aber hauptsächlich in Hinblick auf polirische und wirtschaftliche Interessen ab. Dem Integrationsprozeß in Bayerns gesellschaftlicher Oberschicht standen starke soziale und politische Strömungen in der Unterschicht und dem Mittelstand gegenüber. Direkten Einfluß auf die Regierungspolitik gewannen diese Bewegungen spät und wenn, dann erst, nachdem deren Führer den Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs beschritten hatten.
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Dies galt in erster Linie für die Patriotenpartei, ab 1887 unter dem Namen Zentrum, die als Mehrheit im bayerischen Landtag seit 1869 die Opposition vertrat. Die Sozialdemokratische Partei kam erst 1893 in den Landtag und erreichte ihre stärkste Bedeutung durch ihr Bündnis mit dem Zentrum von 1899 bis 1905, mußte aber noch bis zum ersten Weltkrieg um die Regierungsbestätigung der Bürgermeister kämpfen, die sich zu ihr bekannten. Die liberale Partei war nicht eigentlich Regierungspartei. Ihr Einfluß auf die Politik beruhte auch nicht auf ihrer Stellung als Partei, sondern weil sie in ihrer politischen Willensbildung Ausdruck der Grundüberzeugung einer führenden Gesellschaftsschicht war. Insofern unterstützte sie ständig die Regierungspolitik bis zum Sturz des letzten prononciert nationalliberalen Ministerpräsidenten von Crailsheim 1903. Selbstverständlich kann im bayerischen Landtag bis 19x8 nicht von Oppositions- und Regierungspartei im modernen Sinn gesprochen werden. Das bayerische Staatsrecht betont ausdrücklich, daß Regierung und Landtag Organe der Regierung des Monarchen sind.130 Parteien erfüllen ihre Funktion also nicht gegenüber dem Monarchen, sondern nur gegenüber dem Wähler zur Mehrheitsbildung. Fraktionen kennt die Geschäftsordnung des Landtags erst nach 1918. Die Gepflogenheit der profilierten Gegenüberstellung von Regierungs- und Oppositionsstandpunkt und die scheinbare Zunahme einer Parlamentarisierung lag nicht an den normativen Vorschriften, sondern daran, daß der Regent kein entscheidender politischer Faktor war. Der mehr auf juristischer Ebene geführte Kulturkampf des Ministers von Lutz 131 hatte zur Folge, daß eine tiefergreifende Entfremdung zwischen den führenden katholischen und liberalen Kreisen nie eingetreten ist. Der Regent mit seiner Umgebung und die Reichsratskammer bildeten dabei vielfach die verbindende Brücke. Als Reaktion entstand besonders in mittel- und kleinbäuerlichen Kreisen132 in der Organisationsform von Bauernvereinen eine radikal-klerikale, bayerisch-partikularistische, zum Teil antisemitische133 Bewegung unter Führung von Leuten wie dem fränkischen Baron Thüngen-Roßbach, des katholischen Geistlichen und Gründers der Kampfzeitschrift „Die katholische Fahne" Dr. theol. Aloys Rittler und des Herausgebers und Redakteurs des klerikalen, bayerisch-patriotischen „Bayerischen Vaterlands" Dr. Sigl mit den ,guten Beziehungen' zum Hofe. 134 Diese Strömung artikulierte sich einheitlich in ihrem Kampf gegen Adel und Bürokratie. Politisch traten Sigl und Rittler135 als Abgeordnete auf die Seite der Patrioten, konnten sich aber mit ihren reaktionären kulturkämpferischen Tendenzen, wie Herabsetzung der Schulpflicht von sieben auf sechs Jahre, Trennung des Geschichtsunterrichts nach Konfessionen und weitergehende Authebung der von Lutz
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geschaffenen Simultanschule,13® nicht durchsetzen. Ihnen gegenüber standen die Vertreter der gemäßigten kirchlichen Ausrichtung, Freiherr von Frankkenstein, Graf Preysing, Freiherr von Hertling, Fürst Löwenstein-Wertheim-Rosenberg und innerhalb des Landtags die Abgeordneten Dr. Dalier, Dr. Orterer, Freiherr von Ow, Walter, u.a. Diese beiden Flügel beobachteten sich weitgehend mit Abneigung137. So war es auch verständlich, daß mit der Proklamation der Regentschaft 1886 eine einheitliche Aktion des Zentrums nicht zustande kommen konnte. Der rechte Flügel der Patrioten sah sogar als Fehler an, zu diesem Zeitpunkt gegen das Ministerium Lutz vorzugehen.138 Die Krise der bayerischen Patrioten in den 80-er Jahren, die hier zum Ausdruck kommt, hat zweifellos recht weitläufige Ursachen. Das in Bayern ohnehin nie besonders starke kulturkämpferische Band löste sich mit zunehmendem Abbau der kirchenpolitischen Gesetze immer mehr. Die sozialen Unterschiede vom adeligen Standesherrn zum Kleinbauern, Handwerker und Arbeiter waren zu groß. Hertling machte sich über den kleinbürgerlichen Flügel lustig, wenn er sagte: „In Bayern laute das Zentrumsprogramm: Kornzölle und obligatorische Innungen". 139 Das politische Motiv eines stärkeren Föderalismus hatte durch die Regierungspolitik im Laufe der Jahre immer mehr an Zugkraft verloren. Wie stark letzteres der Fall war, zeigte der Eintritt der bayerischen Patriotenpartei ins Zentrum 1887. Von diesem Schritt erhofften sich die Gemäßigten eine Stabilisierung der Verhältnisse in der Partei. In der Tat konnte sich der radikale Flügel noch nicht durchsetzen, nicht zuletzt deswegen, weil geeignete Führungspersönlichkeiten bei den Extremen fehlten.140 Auch aus der Ablehnung des Zusammentretens des Deutschen Katholikentages 1890 in München durch Prinzregent Luitpold ist dies ersichtlich. Der Regent und Crailsheim hielten nicht prinzipiell an diesem Entschluß fest, vielmehr gab die zustimmende Haltung Hertlings und Preysings den Ausschlag, die sich übergangen fühlten und Leute, wie einen „gewissen Konrad Fischer" ... „nicht als geeigneten Vertreter der katholischen Sache ansehen konnten". 141 Die Zentrumspartei als Opposition gegen die Regierungspolitik im Landtag zerfiel während der ersten Jahre der Regentschaft bis 1890 in zwei Flügel, die auf Grund ihrer politischen und sozialen Gegensätze zu keiner einheitlichen Politik fähig waren. Als Strukturmangel trat dabei zutage, daß durch größtenteils fehlende Organisation und Politisierung des Volkes auf der Basis such zwar auflösender, aber noch bestehender alter Sozialstrukturen eine einheitliche politische Bewußtseinsbildung vom Wähler bis zum Abgeordneten nicht möglich war. Die Handlungsunabhängigkeit des Abgeordneten lag hier begründet. Sie wurde gefördert durch das indirekte und nicht allge-
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meine Wahlsystem in der Zwischenschaltung der Wahlmänner und der geringen Wahlbeteiligung.142 Die Zeit zu Beginn der 90-er Jahre sollte nicht in allem erneuernd wirken, trotzdem traten hier zum ersten Mal jene Phänomene auf, die auch für den modernen Parlamentarismus bedeutsam sind. Dies gilt auf jeden Fall für den sozialen und wirtschaftlichen, nicht aber für den staatsrechtlichen und politischen Bereich. Die großen Gesetzeswerke in Bayern, wie das Wahlgesetz, waren bei ihrer endlichen Entstehung oft bereits überholt und erfüllten gesellschaftspolitisch nicht ihre Funktion, weil sie nicht das Ergebnis eines Interessenausgleiches in gesellschaftlich integrierter Willensbildung waren. Der Eintritt der Masse in das öffentliche Leben veränderte die soziologische Struktur des Untertanenverbandes. Zunehmende Verstädterung, Verkehrsausbau, das Telephon als Vorläufer der Massenmedien u. a.m. kennzeichneten den Umbruch zur Moderne. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes förderte Gewerkschaftsbewegung und sozialdemokratische Parteiorganisationen einerseits; Zollsenkung und Handelsverträge verursachten Existenzangst in der bäuerlichen Mittelschicht und vermehrten die Proletarisierung der bäuerlichen Unterschicht andererseits. Die Folge des letzteren war die endgültige Abspaltung des radikal-bäuerlichen Flügels vom Zentrum143 und die Gründung des Bayerischen Bauernbundes in Gegnerschaft zu Adel, hohem Klerus und Großbauerntum. In dessen Sog geriet das Zentrum in ländlichen Kreisen. Die Landtags wählen von 1893 bestätigten diese Tendenzen. Zentrum und Liberale verloren Mandate an Bauernbund und Sozialdemokraten. Der Adel brachte keinen Kandidaten durch; auch der Präsident der Kammer der Abgeordneten, Freiherr von Ow, verlor sein Mandat. Das Zentrum fühlte sich durch den Bauernbund in seinen ländlichen Interessen tödlich verletzt. Hinzu kam die Gefahr, durch die sozialdemokratische Agitation in der Arbeiterschaft noch mehr Boden zu verlieren. Diese bevorstehenden Auseinandersetzungen verhalfen dem linken und gemäßigten Flügel zum Durchbruch, in Männern, wie Dr. Heim, Schirmer, Dr. Dalier, Dr. Orterer. Fast fünfzehn Jahre sollten sie die Entwicklung des Zentrums entscheidend gestalten. Carl Schirmer, ein Führer der katholischen Arbeiterbewegung, arbeitete mit Heim seit 1892 in München zusammen, bis letzterer in die Oberpfalz versetzt wurde und dort durch seine ausgleichende und helfende Rolle im Fuchsmühler Bauernaufstand145 zu seinem eigentlichen Betätigungsfeld fand, das ihm den Namen „Bauerndoktor" eintrug. Bereits aber als Mitarbeiter des Organs der katholischen Arbeitervereine „Der Arbeiter" erwarb sich Heim den Ruf „als ,Mann mit dem Loch im Ärmel' fanatischen Gegnern der Arbeiterbewegung wirkungsvoll Abfuhren zu bereiten".144 Tendenz und Absicht der
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Arbeitsweise Heims und seiner Anhänger kommt in diesem Zitat zum Ausdruck. Aufklärungsarbeit am Wähler und soziale Besserstellung bedrohter Volksschichten in Zusammenarbeit mit allen Kräften, die die gleichen Ziele verfolgten: dem niederen Klerus,146 der katholischen Arbeiterbewegung,147 dem Bauernbund148 und den Sozialdemokraten. Diese Tätigkeit Heims, die er auf das bäuerliche Genossenschaftswesen ausdehnte, trug entscheidend zur Festigung und zu den kommenden Wahlsiegen des Zentrums bei. Zwei weitergreifende Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang noch hervorzuheben. Einmal das Bündnis mit den Sozialdemokraten im Jahre 1899, wodurch diese gleichsam „salonfähig" im Bewußtsein der Wähler wurden, was zu einem Integrations- und Egalisierungsprozeß führte. Freilich trug wesentlich dazu der pragmatische Führungsstill von Vollmars bei, den er in seinen berühmten „Eldoradoreden" von 1891 propagierte.149 Zum anderen wurde mit dem Wahlsieg von 1899 — aufbauend darauf der von 1905 — und dem Bündnis mit den Sozialdemokraten die Basis für die verhältnismäßig fortschrittliche Landtagswahlgesetzgebung vom 9. April 1906 geschaffen. Betrachtet man die Entwicklung des linken Flügels der Zentrumspartei von 1892 bis zur Jahrhundertwende, dann könnte man die Frage stellen, welchen Einfluß dieser auf die Regierung und das Machtgefiige innerhalb des Staates hatte. Die stark demokratischen Tendenzen der Heimschen Arbeit fanden in der führenden Schicht allgemein kein Verständis. Er und seine Anhänger wurden als Radikale abgestempelt, obwohl man ihrem Druck in verschiedenen Gesetzen, wie dem Wahlgesetz, weitgehend nachgeben mußte. Die Regierung vermied es aber, solange er der „starke Mann" des Zentrums war, sich offen mit ihm anzulegen.150 Vielmehr wartete man auf die Gegenbewegung aus den eigenen Reihen des Zentrums. Diese setzte auch sofort nach Wiedererstarken des rechten Flügels nach den Wahlen von 1899 ein. Die höhere Geistlichkeit, geführt vom Passauer Domprobst Dr. Pichler, und der adelige Flügel unter Hertling und Graf Preysing hatten sich zum Ziele gesetzt, die Zentrumspartei hoffähig, regierungsfähig zu machen. Heim und seine Anhänger unter den bäuerlichen Abgeordneten und niederen Geistlichen standen diesem Vorhaben im Wege. Im einzelnen ist hier diese Auseinandersetzung nicht zu erörtern. Sie dauerte im Grunde bis 1907. In endlosen Beleidigungsklagen und Pressefehden, an denen Heim freilich nicht immer unschuldig war, wurde er zermürbt.161 Langsam und vorsichtig gingen seine Gegner zu Werk; denn sein Einfluß in bäuerlichen Kreisen war groß. Letztlich mußte er sich aber doch zurückziehen, da ein ebenbürtiger Führer, der ihm hätte beistehen oder sein Erbe antreten können, fehlte, wenn man von Heinrich Held absieht, der aber damals erst im Kommen war und auch als
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kluger Taktiker sich nicht auf Heim festlegen wollte, obwohl er dessen politischen Vorstellungen zweifellos am nächsten stand. Der entscheidende und tiefere Unterschied zwischen beiden Parteiflügeln war die Vorstellung vom Wesen des Zentrums und die daraus resultierende Haltung gegenüber der Führungsschicht. Heim hat das Problem der Masse erkannt und das der Parlamentarisierung geahnt. Seine Vorstellung von der Funktion einer Partei war, daß die Willensbildung vom einzelnen Glied des Volkes ausgehen muß und daß dort die politische Macht sich befindet, wo die größere Anzahl Gleichgesinnter entscheidet.152 Im Gegensatz dazu sprach Hertling davon, „daß soziale Schichtung der natürliche und ursprüngliche Faktor politischer Parteibildung ist", daß diese Schichtung um der „höheren religiösen Interessen" willen überwunden werden müsse und daß man besonders die Einseitigkeit einer einzelnen Schicht fernhalten müsse.163 In ähnlicher Weise äußerte sich Graf Max Emanuel Preysing, der Sohn des bekannten Konrad Preysing in einem Brief vom 12. September 1904. Er bezeichnete Heim als „hervorstechendsten Vertreter der Demagogie" im Zentrum und sprach die Hoffnung aus, daß es wieder in konservative Bahnen zurückkehre.154 Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen. Aus den Landtagswahlen von 1907 kehrten nur noch wenige Anhänger Heims als Abgeordnete zurück. Kurz darauf wurde Heim aus allen wichtigen Positionen, z. B. dem Finanzausschuß, gedrängt. Der konservativ-reaktionäre Flügel hatte sich durchgesezt, jene Schicht also innerhalb der Partei, die auf die Konsolidierung des herrschenden politischen und gesellschaftlichen Gefüges drängte. Ihr Führer, Freiherr von Hertling, wurde nicht mehr überraschend 1912 zum Ministerpräsidenten berufen und vergrößerte durch seine konsequent-konservative Politik die Kluft zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und politischer Machtverteilung. Zusammenfassend ist hervorzuheben: Die Struktur des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Bayern während der Prinzregenten-Ära weist auseinanderstrebende Tendenzen auf. Die Verfassung erfuhr in ihrem Kern, der Prärogative des Monarchen, seit Ludwig II. und Prinzregent Luitpold ihre entscheidende Aushöhlung. Das durch das Auseinandertreten von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit entstehende Vakuum wurde nicht durch Reform der Verfassung sondern zunächst durch eine nicht verantwortliche Ministeroligarchie, dann durch die Nebenregierung der Geheimkanzlei ausgefüllt. Der Regent trat als politisch Handelnder faktisch in eine rein repräsentative Rolle zurück und wurde zum Integrationsfaktor für eine gesellschaftliche Oberschicht, die durch Interessenausgleich von hohem Be-
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amtentum, Großkapital und Großgrundbesitz in Adel und Großbürgertum und hohem Klerus so weit gehende Vereinheitlichung und Stabilität erlangte, daß ihre Exponenten in Regierung, Reichsrat, Parteien und Interessenverbänden weitgehend die politische Gewalt in Händen hielten. Parallel dazu lief in Unter- und Mittelschicht ein Egalisierungs- und Demokratisierungsprozeß, dem durch großzügige Gesetzgebung soviel Raum gegeben wurde, daß die Bewußtseinsschwelle des Verlangens nach Ausübung staatlicher Gewalt bis zum Weltkrieg nicht erreicht wurde. Stabilisierend auf dieses gesellschaftliche Gefüge wirkte dabei die Einbettung Bayerns ins Reich und die soziale Mobilität durch Aufstiegsmöglichkeiten, besonders für Parteiführer, aber ohne die eigentliche Machtstruktur und den politischen Willensbildungsprozeß zu verändern. Diese vermittelnde Zwischenschicht bildete Filter und Spannungsausgleich. Weitgehend verlagerten sich politische Strukturauseinandersetzungen wie die zwischen Heim und Hertling oder Heim und Pichler, auf diese Ebene. Entscheidend dabei war, daß die führende Schicht noch als elitär galt, daß es erstrebenswert war, in sie aufzusteigen, daß sie durch ihre Erfolge auf wirtschaftlichem, kulturellem und politischem Gebiet, in Krieg und Frieden ihre Stellung erfolgreich bewahrte, daß sie den Nymbus der Stabilität an sich trug und noch in keinem Spannungsfall entscheidend versagt hatte. Dabei wurde nicht beachtet, daß durch die lange Friedensperiode die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Verfassungsstruktur und politisches Machtgefüge überholt hatte, wodurch im Falle einer Krise dessen Träger in Frage gestellt werden mußten.
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ANMERKUNGEN ZU:
Karl Möckl, Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold 1 Auf diese Mängel verwiesen hat Karl Bosl, Gesellschaft und Politik in Bayern vor dem Ende der Monarchie, in: Gesellschaft, Staat, Kultur in Bayerns Geschichte. (1965) 1-31. 2 Vgl. Otto Hintue, Staat und Verfassung. Ges. Abhandlungen. (2I9Ö2), bes. S. 379f. 3 Gerbard Leibholz, Die Zukunft der nationalstaatlichen Souveränität im 20. Jahrhundert, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates (1967) 384. Wobei Leibholz den Hauptakzent auf die völkerrechtliche Problematik legt. 4 Hannah Arendt, Uber die Revolution. (1968). Einleitung. Krieg und Revolution. s Ebd. S. 3 9 ff. 6 Karl Bosl, Pluralismus und pluralistische Gesellschaft. (1967). Werner Cons>e, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. (1967). Zur Frage des Auseinandertretens von Staat und Gesellschaft. 7 Michael Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns. (1931) HI, 4. 8 Tit. in, § 1. • Max von Seydel, Robert Piloty, Bayerisches Staatsrecht. (1913) I , 7 7 f . Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. (1967) 133f. 10 Seydel-Piloty, Bayerisches Staatsrecht. (1913) 215 ff. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Monarchie und Volkssouveränität. (1964) 169 fr. 11 Ludwig Doeberl, Maximilian von Montgelas und sein Prinzip der Staatssouveränität beim Neubau des .Reiches Bayern', in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. (1967) 273-290. 12 Max Spindler, Das Kabinett unter König Ludwig I., in: Erbe und Verpflichtung. (1966) 252-263. 13 Fran%_ Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Monarchie und Volkssouveränität. (1964) 172. 14 BernhardZittel, Der bayerische Ministerrat und seine Protokolle, in: Mitteilungen f.d. Archivpflege in Bayern 3. (1957). 16 Max Spindler, Das Kabinett unter König Ludwig I., in: Erbe und Verpflichtung. (1966) 263. 16 G. Masur, Friedrich Julius Stahl. (1933). F. J. Stahl wurde 1802 in Würzburg geboren, trat vom Judentum zum Protestantismus über, wurde 1832 Professor f. Staatsrecht an der Universität in Würzburg, 1834 in Erlangen und 1840 in Berlin. 17 Max Spindler, Die politische Wendung von 1847/48 in Bayern, in: Erbe und Verpflichtung. (1966) 306 f. 18 Philosophie des Rechts. (1830-37) 2 Bde. 19 Das moralische Prinzip. (1845). Staatsrecht (1910). 20 „Die Gewalt des Königs ist ,von Gottes Gnaden', ist ein .göttliches Recht'." Staatsrecht (1910) 100. 21 Das monarchische Prinzip. (1845) 25. 22 Staatsrecht. (1910) 155. 23 Staatsrecht. (1910) 211 f. 24 Staatsrecht. (1910) 97 fr. 26 Sergio Mochi Onory, Fonti canonistiche dell'idea moderna dello Stato. Milano 1951. Carl Schmitt, Politische Theologie. (1922).
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Otto Hintue, Staat und Verfassung, Gesammelte Abhandlungen, (2I9Ó2) 385f. Otto Heinrieb von der GablentMacht, Gestaltung und Recht. Die drei Wurzeln des politischen Denkens, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. (1967) 64. 27 Der Reichsstaat. (1864) 77. 28 Max von Sey del, Bayerisches Staatsrecht. (1884-1893) 3 Bde. 29 Seydel-Piloty, Bayerisches Staatsrecht. (1913) 2 Bde. 30 Wenn hier über den Bereich, den Stahl der Volksvertretung zugestanden hatte, hinausgegangen wurde, so sollte dies in Bayern den Politisierungsprozeß der Parteien fördern, hatte aber nur geringen Einfluß auf die Verfassungpolitik. Das gleiche galt für weitere Zugeständnisse. 81 Im einzelnen kann hier der Einfluß Stahls auf die bayerische Staatsrechtslehre nicht dargestellt werden. Einer eigenen Abhandlung muß dies vorbehalten bleiben. 32 Zur Frage inwieweit die Lehre von der einheitlichen Staatsgewalt eine Rolle spielt: Thomas Ellwein, Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise (1954). 33 Seidel-Piloty, Bayerisches Staatsrecht. (1913) I, 215 f. 34 Otto Hintue, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, in: Gesammelte Abhandlungen. (2i9Ó2) 359-389. 35 Fritz Hortung, Verantwortliche Regierung, Kabinette und Nebenregierungen im konstitutionellen Preußen 1848-1919, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. (1932) 44, 1-45, 302-373. 36 Abgesehen vom völlig in geistiger Umnachtung in Fürstenried dahindämmernden Otto I. 87 Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. (1967) 134. 88 Max Spindler, Das Kabinett unter König Ludwig I. und Bernhard Grandaur, Kabinettsekretär und Staatsrat unter Ludwig I., in: Erbe und Verpflichtung. (1966) 252-279. 39 Michael Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns. (1931) DI, 179-180. Eugen Franz, König Max IL, u n d seine geheimen politischen Berater, in: Zeitschr. f. bay. Landesgesch. (1932) 219-242. 40 Am 29. 7. 1886 verfügte Prinzregent Luitpold zwar die Auflösung des Kabinettsekretariates und setzte seine Geheimkanzlei an dessen Stelle, aber von der Aufgabenstellung her bedeutete dies nur eine Namensänderung. Michael Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns. (1931) HI, 552k Zur Diskussion des Kabinettsekretariates in der Öffentlichkeit vgl. unter vielen die 7 teilige Fortsetzung „Das kgl. Kabinettsekretariat" in den „Münchner Neuesten Nachrichten" Nr. 125, 129, 1 3°. I53> 135, 141. 142 vom 5., 9., 10., 13., 15., 21., 22. Mai 1886. Im Übrigen sei bemerkt, daß das Problem der Nebenregierung für Bayern noch nicht monographisch dargestellt wurde, wie es Fritz Härtung für Preußen und das Reich getan hat. 41 Wie sehr die Autorität der Krone gelitten hatte vgl.: AStAM MInn 46 755, MInn 65 722, GStAM M A 99 838, Brief des preuß. Gesandtschaftssekretärs in München Fürst Philipp Eulenburg-Hertefeld an Graf Herbert Bismarck im Bismarckarchiv Friedrichsruh, weitere zahlreiche Literatur bei Rupert Hacker, Ludwig II. von Bayern in Augenzeugenberichten. 42 StBKdAbg. 1886, VI, 753 und PKdRR. 1886, V, 891. 43 Tit. II § 18 besagt, daß während der Reichsverwesung alle erledigten Ämter, mit Ausnahme der Justizstellen, nur provisorisch besetzt, daß keine neuen Ämter eingeführt, keine Krongüter veräußert und keine heimgefallenen Lehen verliehen werden können. 44 AStAM. Staatsrat 1316. 46 StBKdAbg. 1886, VI, 801; PKdRR. 1886, V, 946. 46 AStAM. Staatsrat 1318. 47 GVB1. 39, z. November 1887. 48 GStAM. GB 902. 48 Vgl. die Landtagswahlberichte in den Akten des AStAM MInn 47 327-329. 50 AStAM MInn 46 755. Hier besonders auch im Zusammenhang mit der Frage der Beendigung der Regentschaft. 26
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S1 E. v. Mqy, Staatsrecht des Kgr. Bayern. (1840/46) steht auf dem Standpunkt, daß während der Regentschaft die Verfassung unabänderlich ist. /. v. Po'zi, Lehrbuch des bay. Verfassungsrechts. ('1877) § 146, glaubt, daß die Verfassung während der Regentschaft geändert werden könne. Max von Seydel, Bayerisches Staatsrecht. (1884) 479, erklärt, gestützt auf das Staatsratsprotokoll vom 23. Mai 1818, daß die Verfassung während der Regentschaft unabänderlich sei. Ders., Staatsrecht des Kgr. Bayern. (1888) 42: „Die Staatsgewalt aber erträgt wohl eine Selbstbeschränkung, dagegen keine Selbstverstümmelung. Sie kann also der Möglichkeit zu keiner Zeit beraubt sein, im Interesse des Staates das bestehende Recht zu ändern. Macht ein Regent aus Gründen des Staatswohles von dieser Möglichkeit Gebrauch, so handelt er nicht bloß rechtlich unanfechtbar, sondern auch politisch tadelfrei." Ders., Bayerisches Staatsrecht. (2i89Ö) I, 246, fragt, ob das Verbot der Verfassungsänderung in jedem Fall bestehe und antwortet: „Die Frage ist nach dem, was oben gesagt wurde, zu verneinen, wenn der Gesetzgeber durch Vornahme von Verfassungsänderungen während der Reichsverwesung bekundet hat, daß er sich an das Verbot nicht bindet. Denn damit hat er erklärt, daß das Verbot für ihn nicht vorhanden ist." Seydel-Piloty, Bayerisches Staatsrecht. (1913) I, 125: „Unabänderlich ist die eigentliche Verfassung, die Verfassving im materiellen Sinne, die Staatsform, während das formelle Verfassungsgesetz diesem Verbot nur insoweit unterliegt als es nur Ausdruck und Norm dieser materiellen Verfassung ist." 62 StBKdAbg. v. 26. Oktober 1895, ähnlich: StBKdAbg. v. 12. Oktober 1893 und Ministerpräs. v. Crailsheim StBKdAbg. v. 21. Oktober 1897. 83 Die Frage der Haltung der Parteien wird im folgenden Abschnitt genauer behandelt. 54 Irmgard von Siedmann, Die preußische Gesandtschaft in München als Instrument der Reichspolitik in Bayern von den Anfangen der Reichsgründung bis zu Bismarcks Entlassung. Diss. München. 1967. 56 Schauß war einer der Führer der nationalliberalen Partei im Reichstag und gehörte zur bismarcktreuen schutzzöllnerischen Gruppe. 66 Zur Frage der Verschuldung der Kabinettskasse GStAM MA 99 946. 57 Dsgl. 58 Vgl. Brf. Philipp Eulenburg-Hertefelds an Herbert von Bismarck am 5. Februar 1886; „Ein Ministerium Franckenstein aber bedeutet im Lande Bayern nichts anderes als: Sieg reichtsfeindlicher Interessen." Brf. v. 6. Juni 1886; Bismarckarchiv Friedrichsruh. 58 Bismarckarchiv Friedrichsruh. 60 Im gleichen Sinn: Fürst von Eulenburg-Hertefeld, Das Ende Ludwigs II. (1934) 31 und Georg von Hertling, Erinnerungen. (1920) II, 50. 61 Vgl. Philipp von Eulenburg am 14. Juni 1886 an Herbert von Bismarck. Ebenso am 17. Juni 1886: „Später wird es notwendig werden durch Werthern auf den alten Freyschlag einzuwirken, an dem der Regent mit zärtlicher Liebe hängt. Werthern ist gut mit Freyschlag bekannt und letzterer schenkt ihm volles Vertrauen. Sehr wichtig ist Holnstein, der sofort im Regenten den Gedanken einer Reise zum Kaiser erweckte." Bismarckarchiv Friedrichsruh. 82 Vgl. Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei. (1928) IV, 324, 340 und (1931) VHI, 2. 83 GStAM. MA 99718. 84 Dsgl. 68 Formulierungen wie „volle Anerkennung" und „volles Vertrauen" sprechen dafür, sowie der rasche zeitliche Ablauf: die „Allgemeine Zeitung" vom 9. Juli 1886 berichtet, daß das Demissionsgesuch am 5. Juli nachmittags in der Geheimkanzlei einlief und daß es bereits am nächsten Tag um 9 Uhr wieder in Händen des Ministers Lutz war. 64 Bericht des Grafen Lerchenfeld an Minister von Crailsheim am 26. Mai 1886, zitiert nach Ludwig Schrott, Der Prinzregent. (1962) 85-87. « GStAM. GB 902.
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68 Was auf jeden Fall hätte sein können, die Übernahme der Schulden Ludwigs durch das Land und Schaffung einer vernünftigen verfassungsmäßigen Grundlage (Tit. H § 18 der Verf.). 69 Vielleicht lag hier für Bismarck neben dem persönlichen ein sachlicher Grund, die Abberufung Wertherns zu betreiben. 70 Diese Meinung äußerte noch König Ludwig HI. am 17. Januar 1913 v. Orterer gegenüber, indem er als Grund für die liberalen Angriffe auf das Ministerium Hertling angibt, daß nach bisher verbreiteter Meinung „ein Ultramontaner nicht geeignet zur Führung der Staatsgeschäfte" sei. GStAM. MAI 962. 71 AStAM. MInn 46755. 72 AStAM. MInn 74451, Brf. des Präs. d. Versicherungskammer Dr. v. Englert vom 14. Oktober 1912 an den Min. d. Innern. 73 Ein breites Echo auslösend der Artikel im „Pfalzer Volksboten" vom 24. Oktober 1896. 74 Rede des Zentrumsführers Lerno im Verein „Concordia" in Amberg Ende Juli 1896. 76 Antrag der Freien Vereinigung im Landtag vom 22. Juni 1904. 76 Anton Dyroff, Die Beendigung der Regentschaft in Bayern bei Lebzeiten des Königs, in: Annalen des Deutschen Reiches. (1904) I. 77 Darstellung der Regentschaftsbeendigung, Verena von Arnswaldt, Die Beendigung der Regentschaft in Bayern 1912/13, in: Zeitschrift ff. bay. Landesgesch. (1967) 860-893. 78 Nämlich, daß während der Regentschaft die Verfassung nicht geändert werden könne. Vgl. die Diskussion um das Landtagswahlgesetz, AStAM. MInn 47272-275. 78 Ministerpräs, von Crailsheim in der Kammer der Abgeordneten am 9. November 1897. 80 Robert Noll von der Nabmer, Bismarcks Reptilienfonds. Aus dem Geheimakten Preußens und des Deutschen Reiches. 1968. 81 Hans Pbilippi, König Ludwig II. v. Bayern und der Weifenfonds, in: Z B L G 23 (i960) 66ff. Ders., Zur Geschichte des Weifenfonds, in: Jb. f. niedersächs. Landesgesch. 31 (1959) 190fr. Hans Rall, Bismarcks Reichsgründung und die Geldwünsche aus Bayern, in: Z B L G 22 (1959) 396ff. Gottfried von Böbm, Ludwig II., König v. Bayern, sein Leben und seine Zeit. 2 I924. 82 Äußerung f. Min. v. Lutz nach Tagebuchaufzeichnungen Fürst Philipps zu Eulenburg-Hertefeld. Noll von der Nahmer, 150. 83 Ebd. 158/9. 84 Ebd. 153/4. 85 Ebd. 154. 84 Sie wurden noch unter Ludwig II. berufen und führten zusammen mit Lutz die Entmündigung Ludwigs durch und bereiteten die Regentschaft vor. 87 Durch Erlaß vom 29. Juli 1886 löste der Regent das Kabinettsekretariat auf und richtete eine Geheimkanzlei ein. Im wesentlichen bedeutete dies aber nur eine Namensänderung. Auch der Personalbestand war etwa der gleiche geblieben. 88 Bis zu seinem Tod 1891 Chef der Geheimkanzlei. 88 Ebenfalls bis zu seinem Tod 1900 Chef der Geheimkanzlei. 90 Beide waren Generäle, mit dem Prinzen Luitpold seit den 60er Jahren befreundet, aber politisch ohne größere Erfahrung. 81 Dem stimmt Crailsheim in einem Antrag an den Regenten vom 4. November 1902 zu. GStAM. MA 99705. 92 Seydel-Piloty, Bayerisches Staatsrecht. (1913) I, 329fr. 93 Begriff, besonders seit den 80er Jahren gebraucht; vgl. Nürnberger Anzeiger vom 28. September 1885. 91 GStAM. MA 99960. 96 Aus den Akten geht hervor, daß beide Kontrahenten sich schuldig gemacht hatten. 96 Der Senat erhob diese öffentliche Anklage, obwohl er teilweise im Unrecht war, und ohne den Beschwerdeweg einzuhalten. 97 GStAM. MA 99 960.
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GStAM. MA 99956. Aus dem Zusammenhang kann man schließen, daß die Gründe waren, Landmann den Rücktritt und dessen bestimmten Zeitpunkt schmackhaft zu machen. Es ist sehr zweifelhaft, ob der Regent von diesem Vorgehen informiert war. In den eingesehenen Akten weist kein von ihm gegengezeichnetes Schriftstück darauf hin. Sie wurden sämtliche von Wiedenmann unterschrieben. 100 GStAM. MA 99956. 101 Dsgl. 102 Dsgl. 108 Dsgl. 104 Pester Lloyd v. 12. August 1902; GStAM. MA 94118. 106 GStAM. MA 99956. 104 GStAM. MA 99705. 107 GStAM. MA 99705; Dieses Schreiben zeigt auch, daß die Initiative bei Wiedenmann lag und nicht beim verfassungsmäßig verantwortlichen Berater Crailsheim. 108 GStAM. MA 99705. 109 Der Bericht des Innenministers v. Feilitzsch an den Regenten vom 2. November 1902 über die Volksstimmung zeigt dies besonders deutlich, da der Regent ganze Sätze in sein Handschreiben vom 3. November 1902, betr. den Rücktritt des Justizministers von Leonrod, übernahm: Zu der in der Zentrumspresse und von Zentrumsparteiführern behaupteten tiefgehenden Unzufriedenheit und Mißstimmung im Volk gegen das gegenwärtige Regierungssystem ist zu sagen: Nach Auskunft „objektiv denkender Personen" sind „derartige Äußerungen vollständig unbegründet". In weiten Kreisen erkenne man an, „wie die Regierung unparteiisch, objektiv und gerecht bei ihren Regierungshandlungen vorgehe". „Dem Volk seien solche Agitationen und Hetzereien im Allgemeinen zuwider, die meisten derartigen Versammlungen wurden von Geistlichen direkt oder indirekt einberufen und die Bauern mußten Teil nehmen, um sich nicht Vorwürfen der Gleichgültigkeit usw. auszusetzen. Der Zweck sei lediglich Parteiagitation zu treiben und die bäuerliche Bevölkerung für politische Zwecke und für künftige Wahlen zu gewinnen." GStAM. MA 99705. M
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Die in Frage kommenden Schriftstücke tragen sämtliche nur die Unterschrift von Wiedenmann. Vgl. auch H. Scbultbess, Europäischer Geschichtskalender. Jg. 1902 (1903) 130: „Nach der Zentrumspresse ist der Minister (v. Landmann) unverantwortlichen Ratgebern zum Opfer gefallen; sie greift die Geheimkanzlei des Regenten an, weil sie dem liberalen Professorenklüngel und den Logen in die Hand arbeitet." Der „Bayerischer Kurier" vom 5. August 1902 meldet, daß Freiherr von Wiedenmann in Würzburg mit Senat und Professoren verhandelt habe. Diese Meldung wird durch das Süddeutsche Korrespondenzbüro dementiert. 112 GStAM. MA 99705. 113 Der Vergleich mit der Gestalt des „Papa Heuß" ist nicht abwegig. 114 GStAM. MA 99959. us Seit dem 1. März 1903 Ministetpräsident. 116 GStMA. MA 99957. 117 v. Podewils und v. Wiedenmann. 118 Auf die Richtigkeit dieser Auffassung weist auch eine undatierte Aufzeichnung von Wiedenmanns von Ende November 1911 hin, in der er sich gegen seine Einmischung bei der Kammerauflösung verteidigt, wobei er Podewils die Schuld zuspricht und die Münchner Neuesten Nachrichten verteidigt. GHAM. L. HI. 1. 119 GStAM. MA 99957. 120 Peter Wiedenmann wurde 1847 als Sohn eines Schneidermeisters geboren, stieg nach dem Besuch der Gewerbeschule und des ersten polytechnischen Kurses vom Freiwilligen beim ersten Art. Regiment bis zum General auf, wurde im Dienst des Regenten 1886 Adjutant, 1895 erbl. Frhr., 1900 Chef der Geheimkanzlei. 121 Neben Wiedenmann acht weitere Mitarbeiter im Jahr 1906 nach dem Hof- und Staatshandbuch des Kgrs. Bayern. (1907) 140. 111
Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold 122
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Oberregierungsrat Dandl, der zweite Mann nach Wiedenmann, wurde 1917 bay. Ministerpräs. Das Münchner Fremdenblatt vom 20. Dezember 1912 spricht von einer „chinesischen Mauer" um den Regenten. 124 Wobei dem fränkischen eine dominierende Rolle zukam. 128 Vgl. die Denkschrift „Zur inneren Entwicklung Deutschlands" von K. v. Gebsattel vom Oktober 1913. AStAM. MTnn 47379. 126 Karl Demeter, Das Deutsche Offizierkorps. (4i9Ö5) 35 ff. 127 Hermann Kalkoff, Nationalliberale Parlamentarier 1867-1917 des Reichstages und der Einzellandtage. (19x7) 265. 128 Lebensläufe aus Franken, (i960) VI. 126 GStAM. MA 99118. 180 Seydel-Piloty, Bayer. Staatsrecht. (1913) I, 21J. m Walter Grosser, Johann Frhr. v. Lutz. (1967). 132 Der frühe Rückgang der Leibeigenschaft in Bayern im 17. Jh., dann die Einsetzung der Ablösung der Grunddienste durch Geld im 18. Jh. verhinderten bei restlichem Wegfall der bäuerlichen Abhängigkeiten zu Beginn des 19. Jh.s die Bildung neuen Großgrundbesitzes und schufen damit eine Basis der dargestellten Entwicklung. 188 Aus dem Programm des von Frhr. v. Thüngen-Roßbach gegründeten Bauernvereins: „unsere Börsen sind jüdische Räuberhöhlen". Zitiert nach Schulthess, H., Europäischer Geschichtskalender Jg. 1883 (1884) 17. 134 Über Stiftsprobst v. Türk. 188 Nach seiner Ernennung zum Rektor des Lyceums in Regensburg 1884 wird er entschieden gemäßigter. Georg v. Hertling zeigt in seinen „Erinnerungen". (1920) II, 54/55 starke Abneigung gegen Rittler. 188 Nach Schulsprengelverordnung vom 29. August 1873. 137 Yg] Ceorgp. Hertling, Erinnerungen (1920) II, 54. 188 Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei 1815-1914. (1928) IV, 342. 189 Georg v. Hertling, Erinnerungen. (1920) II, 54. 140 Karl Bachem, Vorgeschichte. Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei 1815-1914. (1928) IV, 346. 141 Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei 1815-1914. (1931) VHI, 13-17. 142 1881; 32,6%; 1887: 23,4%; 1893: 31,2%; in: Zeitschrift des K . Bay. Statistischen Bureaus. (1893) 99. 141 Zeigt sich auch darin, daß die ehemaligen Zentrumsabgeordneten Sigl, Rittler, Ratzinger Bauernbundsfiihrer wurden. 144 Carl Schirmer, Msgr. Lorenz Huber und seine Zeit. (1931) 167. 146 Im Fuchsmühler Bauernaufstand ließ Freiherr von Zoller, der Chef der Geheimkanzlei des Regenten, auf seinem Gut ansässigen Bauern 1894 Holzrechte verweigern und als diese sich mit Gewalt ihr Recht zu erzwingen suchten, mit Militärgewalt blutig eingreifen. Heim verteidigte aufopfernd und erfolgreich viele der betroffenen Bauern. Hermann Renner, Georg Heim. (i960). Heim wurde erst 1897 in einer Nachwahl in den Landtag gewählt. 146 Dessen demokratische Neigungen hat bereits von Tandmann 1895 in einem Brief an Crailsheim erwähnt. GStAM. MA 70392 a. Hermann Renner, Georg Heim, (i960) 99. Vgl. auch Anm. 147. 147 Ludwig Anderl, Die roten Kapläne. ( ^ ö j ) . Schirmer, Carl, Msgr. Lorenz Huber und seine Zeit. (1931). Gasteiger, M. Die christliche Arbeiterbewegung in Süddeutschland. (1908). 148 Dr. Sigl und Pfarrer Dr. Ratzinger, zwei Führer des Bauernbundes, waren Heim immer gewogen. 149 Reinhard Jansen, Georg von Vollmar. (1958). 150 Sie zahlte z.B. lange Jahre Heims Gehalt als Realschullehrer weiter, obwohl er durch seine 128
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politische Tätigkeit faktisch seinen Beruf nicht mehr ausübte und das Kultusministerium nicht in jedem Fall dazu verpflichtet war. 151 AStAM. MInn 47 397/8. 152 Hermann Renner, Georg Heim. (i960). 163 Freiherr von Hertling, Politische Parteibildung und soziale Schichtung, in: Hochland II (1905) 47-57In diesem Aufsatz kommt auch die Stelle vor, wo Hertling vom „Hausknecht" spricht und das die Presse auf Heim münzte, was zu einer längeren Kontroverse zwischen Heim und Hertling führte. 1M GStAM. GB 998. * Das vorliegende Thema wird demnächst in größerem Umfang behandelt werden. In bezug auf Präzisierung der vorgetragenen Gedanken verweise ich auf diese Arbeit.
ULRICH LINSE
Die Anarchisten und die Münchner Novemberrevolution I . D E R M Ü N C H N E R A N A R C H I S M U S IM K A I S E R R E I C H
Der deutsche Anarchismus1 entstand als eine Reaktion insbesondere der deutschen Arbeiterschaft auf die Bismarcksche Reichsgründung und die politische Verfolgung der organisierten Arbeiterbewegung durch den ersten Reichskanzler; er ist also ein Ergebnis der mit der Schaffung des deutschen Nationalstaates durch die preußische Hegemonialmacht einsetzenden Trennung zwischen Arbeiterschaft und Staat bzw. Nation.2 Konnte der in der Sozialdemokratie zusammengefaßte Teil der Arbeiter bis 1914 den Weg zum Staat zurückfinden,3 so blieben die in den deutschen anarchistischen Bewegungen organisierten Arbeiter in fortdauernder Opposition zu diesem Staat, dessen obrigkeitsstaatliche Struktur sie in ihrem Schrifttum anprangerten und durch die Utopie einer staatslosen und dem Individuum wie der Gruppe den weitest möglichen Spielraum gewährenden Gesellschaftsordnung zu überwinden trachteten. Es scheint demnach nur konsequent zu sein, wenn der Anarchist Erich Mühsam (1878-1934) für sich in Anspruch nimmt, bei den Münchner Revolutionsvorgängen am 7. November nachmittags gegen 17.45 Uhr als erster Mensch Deutschlands „die Absetzung der Dynastien und die Errichtung einer freien bayerischen Räterepublik" proklamiert zu haben4 und sein väterlicher Freund Gustav Landauer (1870-1919) im Provisorischen Nationalrat des Volksstaates Bayern triumphierend ausrief: „Das deutsche Reich . . . , dieses Flickwerk der Gewalttätigkeit, ist tot." 6 Aber die hier zu vermutende Verknüpfung zwischen einer Ablehnung des zweiten deutschen Kaiserreiches und der aktiven Beteiligung der Anarchisten an der deutschen Novemberrevolution ist doch nur für wenige Personen gültig. Denn der deutsche Anarchismus als Gesamtbewegung hatte schon 1914 seinen Höhepunkt überschritten, da seine Anziehungskraft mit der Nichterneuerung des Sozialistengesetzes 1890 schwand und die alten ideologischen Vorbehalte gegenüber überindividuellen Entscheidungsinstanzen einer Anpassung der Bewegung an die neuen, den Boden legaler politischer Betätigungsmöglichkeiten eröffnenden Verhältnisse
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(durch die Gründung einer eigenen politischen .Partei* links von der Sozialdemokratie) im Wege standen und zu einer Zerreibung der Bewegung in endlosen Prinzipiendiskussionen führten. Die Anhänger der neuen parteiähnlichen Organisation, deren Schwerpunkt in Berlin lag, vermochten wiederum nicht, ihre mühsam errungenen Organisationsansätze während des Weltkriegs aufzuheben zugunsten einer durch die Notwendigkeit diktierten illegalen und konspirativen Organisationsstruktur, wie sie ja vor der ,Partei'bildung bereits unter dem Sozialistengesetz bestanden hatte. So war der deutsche Anarchismus kein aktiv die Revolutionierung Deutschlands vorantreibender Faktor mehr, als im November 1918 die Revolution ausbrach. Insbesondere in München spielte der Anarchismus schon vor 19x4 kaum eine Rolle. E s gab hier vor 1900 lediglich ganz vorübergehende Kleinstgruppen anarchistisch gesinnter Arbeiter, die keine größere Agitationskraft nach außen entfalteten. Als einer der ersten anarchistischen Vereine in Deutschland entstand hier durch Anregung deutscher Anarchistengruppen in der Schweiz 1878 der Sozialpolitische Verein ,Gleichheit'.6 Lediglich der radikale Sozialdemokrat, dann Anarchist Johann Most, ein in Augsburg geborener Buchbinder, „der Sohn eines strammen, dabei allerdings sehr dummen, .Patrioten'", 7 fand hier von 1879 bis zu seiner Verstoßung aus der sozialdemokratischen Partei 1880 (Wydener Kongreß) einen Anhang unter extremeren sozialdemokratischen Handwerker-Arbeitern.8 Eine Gruppenbildung scheint aber in München erst wieder nach Erlöschen des Sozialistengesetzes zustande gekommen zu sein: 1894 der Diskutierklub ,Frei-Wort', 9 1896 bis 1898 die Freie anarchistisch-sozialistische Vereinigung,10 unter deren Mitgliedern der Maler Max Hermann besondere Beachtung verdient, da er die überörtlichen Kontakte pflegte und damit auch in der Geschichte der deutschen anarchistischen Föderation eine profilierte Figur wurde. 1899 geriet wohl auch der zunächst sozialdemokratische Verein ,Nord-West' ins anarchistische Fahrwasser; 11 für seine anarchistische Tendenz spräche auch, daß 1910 ein anarchistischer Lese- und Diskutierklub ,Nordwest' bestand,12 dessen Mitglieder sich teilweise aus dem 1907 bis 1909 zusammengetretenen anarcho-sozialistischen Diskutierklub13 und unzufriedenen Arbeitermitgliedern aus E . Mühsams Münchner Gruppenbildungen von 1909, der Gruppe .Anarchist' und ,Tat' des Sozialistischen Bundes (S.B.) unter G . Landauer rekrutierten. Der Vollständigkeit halber ist unter den Vereinsbildungen noch der 1904 bis 1906 durch Anarchisten geführte Wissenschaftliche Diskutierklub .Sokrates' zu erwähnen.14 Die Propaganda Mösts in München war von kurzer Wirkung, da den Sozialdemokraten die Einheit der Partei vor radikalen Parolen ging. Die spätere anarchistische Föderation (gegründet 1900 als Deutsche Föderation Revolu-
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tionärer Arbeiter, ab 1903 Anarchistische Föderation Deutschlands (A.F.D.) und ab 1914 Föderation der Kommunistischen Anarchisten Deutschlands (F.K.A.D.) hatte ihr Zentrum in Berlin und konnte auf München lediglich durch ihre Presse und gelegentliche Vortragsreisen einwirken; ein Einbruch in die Arbeiterschaft gelang ihr jedoch nicht. München entwickelte sich auch nicht zum Mittelpunkt einer Regionalföderation, wie sie anderwärts als Reaktion der ,Provinz' gegen die zentralisierenden Bestrebungen der Berliner Föderation entstanden waren. Denn die Voraussetzungen solcher Regionalföderationen, eine umfangreiche Anhängerschaft in einer Industriegroßstadt (wie etwa in Leipzig) oder eine kleinere Anhängerschaft in einem zusammenhängenden Industriegebiet (wie etwa im Ruhrgebiet) fehlten in Bayern; neben München und abgesehen von der Pfalz gab es nur noch temporäre anarchistische Kleingruppen in den Industrieorten Augsburg und Nürnberg-Fürth. Auch der Versuch Mühsams, ab 1909 die Münchner Arbeiterschaft für Landauers 1908 ins Leben gerufenen S.B. zu gewinnen, der im Gegensatz zur Übernahme der marxistischen Klassenkampfideologie und einer materialistischen Weltanschauung durch die A.F.D. mehr kleinbürgerlich antikapitalistische Wirtschaftsvorstellungen (besonders Siedlungsbestrebungen) und einen religiös gefärbten Idealismus vertrat,18 scheiterten, da die Münchner Arbeiter an der Sozialdemokratie festhielten.16 Auch den folgenden Bemühungen Mühsams, die unterproletarische Schicht Münchens, das .Lumpenproletariat', für die Münchner Bundesgruppen zu gewinnen, war kein Erfolg beschieden, da bei diesem .Fünften Stand' die Voraussetzung einer ideologischen Indoktrination, nämlich eine gewisse Fundamentalbildung, nicht vorhanden war. Auch eine Heranziehung der Künstler- und Studentenschaft schlug insgesamt fehl, da die Studenten gegen antistaatliche Parolen immun waren, die Künstlerbohfeme aber auf eine Verkleidung ihrer schon praktizierten Freiheit mit einem ideologischen Mäntelchen keinen Wert legte. Die Tagebücher Mühsams zeigen auch mit Deutlichkeit, daß sein im Weltkrieg unternommener Versuch, Münchner Künstler und Professoren für ein pazifistisches bzw. revolutionäres Handeln zu gewinnen, von keinem Erfolg gekrönt war. E s gelang ihm lediglich nach der Verhaftung Kurt Eisners als Folge des Januarstreiks auf dessen Münchner USPD-Gruppe einen gewissen Einfluß auszuüben. Eine eigene anarchistische Vereinigung bestand jedenfalls in München seit dem Eingehen der Gruppe ,Tat' des S.B. im Jahre 1912 nicht mehr. Damit kommen wir auf eine gewisse Eigenart der Münchner politischideologischen Situation zu sprechen: anarchistisches Gedankengut war zwar vor 1 9 1 4 in dieser Stadt vorhanden, es schlug sich aber nur zum geringeren Teil in genuin anarchistischen Gruppenbildungen nieder. Vielmehr fand es
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eine Heimstatt bei einigen Freidenkergruppen und bei den anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsvereinigungen. Die Freidenkerbewegung hatte in der Hauptstadt des Wittelsbacherstaates mit dessen starker Kirchenherrschaft eine besondere politische Bedeutung. Dies erhellt sich etwa schon aus der Tatsache, daß hier vom 31. August bis 4. September 1912 der erste Internationale Freidenkerkongreß auf deutschem Boden stattfand; aber auch daraus, daß ein Teil der hier ansässigen Freidenkervereine revolutionäre Elemente stellten - hier sei zunächst nur an den Freidenker und das USPD-Mitglied Hans Bulach (Bankbeamter) erinnert.17 Mitte 19x6 existierten in München folgende freidenkerischen bzw. freireligiösen Gruppen: 18 der Deutsche Monistenbund mit seinem Hauptsitz und einer Ortsgruppe in München; die Freidenkervereinigung München; der Freidenkerverein ,Darwin'; der Zentralverband der proletarischen Freidenker Deutschlands mit dem Hauptsitz in Dresden und einer Ortsgruppe in München; schließlich die Freireligiöse Gemeinde. 1907 hatte sich die Freireligiöse Gemeinde in München, die Ortsgruppe München des Deutschen Monistenbundes sowie die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur in München und der Jungdeutsche Kulturbund in München unter Wahrung ihrer Selbständigkeit zu einem Kartell der freiheitlichen Vereine Münchens zusammengeschlossen, das wiederum dem Weimarer Kartell von 1909, einer Verbindung der bürgerlichen deutschen Freidenkerbewegung, beitrat. An die Spitze des Münchner Kartells trat mit Beginn des Jahres 1909 Dr. Ernst Horneffer; mit ihm blühte das Kartell und die freireligiöse Gemeinde, bei der Horneffer einen konfessionslosen Moralunterricht einrichtete,19 auf. In einem Bericht von 1914 wird Horneffer als „Reorganisator und Führer der hiesigen bürgerlichen Freidenkerbewegung" bezeichnet. Horneffer bewährte sich im Krieg durch seine stramme patriotische bis chauvinistische Gesinnung20 und wurde deshalb von der bayerischen Regierung in der Armee beim »Vaterländischen Unterricht' eingesetzt.21 Einer anarchistisch-revolutionären Gesinnung wurde dagegen teilweise in der Freidenkervereinigung München und im Freidenkerverein,Darwin' gehuldigt; die Unabhängigkeit beider Vereine von irgend einer Zentralstelle mag dafür eine Voraussetzung gewesen sein. Die selbständige Freidenkervereinigung München wurde am 17. Juli 1895 gegründet; von 1899 bis 1901 stand an ihrer Spitze der Schriftsteller Philipp August Rüdt,22 zunächst Sozialdemokrat, dann ab 1895 ,Freier Sozialist' - aus dieser Bewegung der ,Freien Sozialisten' mit dem Zentrum in Mannheim ging auch der Bürstenmacher Wilhelm Hugo Klink hervor, der ab 1899 von Bietigheim in Württemberg aus die erste feste Organisation der deutschen Anarchisten ins Leben rief. Rüdt wurde dann aus
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der Vereinigung mit einem kleinen Anhang durch den Kassenbeamten bzw. Kaufmann Josef Sontheimer verdrängt, der bis zur Revolution - allerdings mit Unterbrechungen durch Gefängnisaufenthalte - den Vorsitz der Freidenkervereinigung inne hatte.23 Obwohl Sontheimer mindestens bis 1901 24 Mitglied des Demokratischen Vereins in München unter Leitung Ludwig Quiddes25 war, bekannte er sich seit 1891 zum Anarchismus.26 Die Freidenkerbewegung setzte sich, wenn man die Listen des Vorstands durchgeht, aus Akademikern wie Angehörigen der höheren technischen Berufe zusammen - hier sei auch gleich Sontheimers Freund August Richter, eines Ingenieurs aus Nürnberg, gedacht.27 Aber auch Arbeiter und Handwerker sind im Vorstand wie unter den Besuchern der Versammlungen nicht selten.28 Besonders zahlreich sind im Vorstand als Vertreter des Mittelstandes Kaufmänner. Unter den Versammlungsbesuchern, oft über 500, sind außerdem mehrfach Juden und Studenten genannt. Insgesamt hatte die Vereinigung wohl einen überwiegend bürgerlichen Charakter;29 hierin mag vor allem der Grund dafür liegen, daß die Mitglieder der Vereinigung es ablehnten, sich zum Anarchismus hinüberziehen zu lassen;30 im Sinne seines Auditorium äußerte Sontheimer dann auch: „ein Freidenker kann monarchistisch sein und kann auch Republikaner sein" 31 und: „gleichviel ob liberal, Sozialdemokrat, Anarchist oder ganz konfessionslos, Freidenker können sie [ = die Leute] sein".32 Der Vorwurf der APZ, 3 3 in München werde durch Sontheimer eine „anarchistische Garde herangezogen..., die schon in wenigen Jahren höchst gefährlich werden kann", war jedenfalls übertrieben. Freilich gab es auch im Vereinsvorstand Anarchisten34 und Sontheimer stand mit dem kleinen Kreis anarchistischer Arbeiter in München in Kontakt. 35 Schwerwiegender war wohl, daß er durch seine Agitation in der Freidenkervereinigung unbedingt ein negatives Staatsbewußtsein in seine nicht geringe Zuhörerschaft einpflanzte, richtete sich doch seine Agitation nicht nur gegen die Kirche, sondern ebenso gegen den mit ihr verbundenen Staat: „Kirche und Staat gehören unbedingt zusammen. Wenn wir diesen Pfaffenstaat nicht hätten, dann hätten wir auch diesen weltlichen Staat nicht." „Der heutige Staat sei ein Konglomerat von Fürsten von Gottesgnaden und von Pfaffen, die von Teufelsrechten sind ... Wir müssen den Herren von Gottesgnaden die Kronen herunterreißen."38 Gerade vor Weltkriegsbeginn hielt Sontheimer zahlreiche Versammlungen, in denen er gegen Militarismus und Patriotismus sprach, die Arbeiter zum Generalstreik und die Frauen zum Gebärstreik (um dem Militär Menschen zu entziehen!) aufforderte. In einer Gedächtnisfeier am 19. Mai 1914 zum „100. Geburtstag des russischen Revolutionärs und Freiheitshelden Michael Bakunin" faßte er sein revolutionäres Credo dahin zusammen: „Unser Dasein habe überhaupt nur einen Wert durch
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die Erwartung der Revolution. Dieser Glaube allein kann uns ermutigen, uns zu versammeln und eine Idee zu besprechen. So wie der gläubige Christ festhält am Glauben an eine Auferstehung, so müssen wir festhalten am Glauben an die Revolution. Vom Patriotismus hoffen wir nichts. Wir hoffen auf einen Weltkrieg. Noch nie standen sich die Völker so gerüstet gegenüber, bereit Millionen auf der Schlachtbank zu opfern füir den Kapitalismus! Wehe den Herrschern und ihren Nachfolgern, wenn die revolutionären Ideen in die Köpfe gepflanzt sind und die kommende Generation, der Rächer, herangewachsen ist, wenn die Repetiergewehre zu denken gelernt haben. Dann wird es außerordentlich gefährlich für die Machthaber, wenn die Soldaten sagen, sie mögen nicht mehr. Wer will sie treiben, wenn es Millionen sind ? ... Es ist nur schade, daß wir es nicht mehr erleben, wenn wir das Joch der Kronen, Paläste und Kirchen von uns abschütteln. Kronen hören dann auf, auf den Häuptern der Fürsten zu glänzen."37 Ehe Sontheimer 1918 an den Versammlungen der USPD teilnahm,38 ehe er in der Revolutionszeit agitierte und sich der Roten Armee anschloß39 (er wurde von den »Weißen4 im Mai 1919 ermordet), hatte er es so verstanden, bei seinen Zuhörern die Staatsloyalität zu untergraben. Scheint in der Freidenkervereinigung mehr der Mittelstand vertreten gewesen zu sein, so traf sich im Freidenkerverein ,Darwin', der unter Anregung des Maurers Johann Koch durch den schon genannten Ph. A. Rüdt 1907/08 reaktiviert wurde, das der Sozialdemokratie nahestehende proletarische Element.40 Trotzdem scheint im Verein auch anarchistisches Gedankengut verbreitet worden zu sein. So bezog J . Koch, 1. Kassier des Vereins, größere Mengen des Berliner anarchistischen Blattes ,Der freie Arbeiter'; obwohl er Kontrolleur der unter starkem sozialdemokratischen Einfluß stehenden Münchner Ortskrankenkasse war, stand er auch in persönlichem Verkehr mit Anarchisten aus den Münchner Gruppen des S.B. 41 Auch Rüdt war nicht ganz ohne revolutionären Einschlag. E r referierte in einer öffentlichen Protestversammlung des Freidenkervereins ,Darwin' am 21. Oktober 1909 „gegen den Justizmord an dem Märtyrer der Wahrheit, Francesco Ferrer", einem bekannten anarchistischen Pädagogen aus Spanien, und führte als Programm für die Gegenwart aus: „ E s handle sich nun darum, einen neuen Staat, eine neue Gesellschaft zu schaffen, welche durchdrungen sei von den Prinzipien der modernen Zeit, der modernen Wissenschaft, der modernen Humanität. Kein vernünftiger Mensch werde bestreiten können, daß die heutige Gesellschaft krank sei und nur durch Volksaufklärung, Volksbildung und Erziehung des Volkes zur politischen (und) geistigen Freiheit geheilt werden könne." Der spanische Justizmord müsse für die Völker Europas der Anlaß sein, daß die „Pfaffen und Tyrannenherrschaft zum Einsturz gebracht wird" und zur
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Schaffung einer Bewegung „zur Erlangung einer größeren Freiheit und größeren Menschenrechten".42 Von der Durchsetzung Münchner Freidenkerkreise mit anarchistischem Gedankengut gibt auch das Blatt ,Der rote Reiter' (München 1913) bzw. ,Der freie Reiter' (München 1914) einen Eindruck. In ihm kommen Vertreter der verschiedenen Münchner Freidenkergruppen zu Wort, auffallend sind aber besonders Annoncen und Versammlungsberichte des Freidenkervereins ,Darwin'; daneben finden sich Artikel mit anarchistischer Tendenz.43 Insgesamt kann man also feststellen, daß vor 1914 bei einem Teil der nicht spezifisch bürgerlichen und staatsbejahenden Münchner Freidenkergruppen die antikirchliche Propaganda auch eine stark antistaatliche Spitze hatte. Die syndikalistischen Gruppen Münchens stehen nicht ohne personelle Verbindung neben den freidenkerischen. Auch ,Der rote' bzw. ,freie Reiter' annoncierte für die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Gewerkschaftskartell München und Umgebung. Der Vorstand dieses Kartells, der Schreiner Alois Sirch, verkehrte in Sontheimers Freidenkervereinigung.44 In dem genannten syndikalistischen Kartell waren die anarchosozialistischen Freien Vereinigungen der Holzarbeiter (Zimmerer), - die vermutlich in dem erfolglosen und vom Zentralverband der deutschen Zimmerer (Hamburg) abgelehnten Münchner Zimmererstreik vom Sommer 1900 ihre sozialpsychologischen Wurzeln hatte -j 45 der Fliesenleger, - die Vereinigung wurde um 1906 gegründet -, 46 und der Schlosser zusammengeschlossen, zusammen etwa 90 Mann.47 Ein größerer Teil der nach München verschickten Exemplare des Berliner Anarchistenblattes ,Der freie Arbeiter' ging an Mitglieder dieser syndikalistischen Gruppen.48 Nachdem bereits 1901 der Maurer Ferdinand Huber, der sich vom Sozialdemokraten zum Anarchisten gewandelt hatte, radikale Propaganda unter den Münchner Maurern betrieben49 und neben dem Vorstand des genannten Klubs ,Frei-Wort' auch den eines Maurerbunds München innegehabt hatte,60 bestand vom 27. Oktober 1905 bis 2. Februar 1908 auch ein Ortsverein München und Umgegend der Freien Vereinigung der Maurer Deutschlands; seineAuflösung erfolgte erst,nachdem sich auf einer Berliner Konferenz am 27-/28. Dezember 1907 die Freie Vereinigung der Maurer dem Zentralverband der Maurer und verwandter Berufsgenossen Deutschlands angeschlossen hatte.51 Der Vorstand der Münchner Ortsgruppe war Josef Schrödl, den bereits 1893 die Sozialdemokratie wegen anarchistischer Gesinnung ausgeschlossen hatte.52 Auch in der Münchner Freien Arbeiter- und Arbeiterinnen-Vereinigung zeigten sich um 1906 „anarchistische", d.h. wohl syndikalistische Bestrebungen.58
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Während sich in München ein reiner, d.h. primär politischer Anarchismus unter den Arbeitern nicht durchsetzen konnte, fand die anarchistische Propaganda Eingang in die syndikalistischen Gewerkschaftsgruppen. Der deutsche Anarchismus und Syndikalismus haben verschiedene Wurzeln. Die syndikalistische Bewegung entstand als zunächst der Sozialdemokratie angeschlossene Gewerkschaftsgruppe der lokalorganisierten und durch Vertrauensmänner zentralisierten Gewerkschaften Deutschlands im Mai 1897; diese, später Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften Deutschlands genannte Gruppierung, wurde auf dem sozialdemokratischen Parteitag zu Nürnberg 1908 aus der Partei wegen ihrer anarchistischen Tendenzen ausgestoßen; sie konstituierte sich 1912 als Freie Arbeiterunion (Anarchosyndikalisten) und gewann besonders in der Weimarer Zeit unter der Führung Rudolf Rockers eine nicht geringe Bedeutung. Eine Verschmelzung von Syndikalismus und Anarchismus im Anarchosozialismus, wie sie ab 1903 der Berliner Arzt Raphael Friedeberg verfocht,54 gewann aber keine Bedeutung. Friedeberg hatte auch in München in zwei großen Versammlungen am 4. und 7. Dezember 1905, - übrigens unter Beteiligung einer größeren Zahl (etwa ^ der Teilnehmer) russischer Studenten und Studentinnen55 und der Freidenker Sontheimer und Richter - , für seine Anschauungen agitiert; er wurde dabei von Puttlitz-Berlin unterstützt, der als Referent in einer öffentlichen Versammlung der Fliesenleger am 2. Dezember 1905 bereits für die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften Propaganda gemacht hatte.58 Die 4 Thesen Friedebergs, „antimilitärisch, gesetzlos, vaterlandslos und religionslos", wurden auch auf einer Bayrischen Kartellkonferenz der in der Freien Vereinigung organisierten Vereine am 19./20. Mai 1907 in München als Programm der Freien Vereinigung bejaht; bei der Konferenz waren fast nur Vertreter Nürnbergs und Münchens anwesend.57 Gleichzeitig bedauerte man hier aber die Distanzierung der Sozialdemokratie von der Freien Vereinigung auf dem Mannheimer Parteitag 1906 und lehnte die Bezeichnung der Freien Vereinigung mit „anarcho-sozialistisch" als falsch ab, da diese nichts mit dem Anarchismus zu tun habe. Ein Nürnberger Delegierter führte aus: „Die Grundsätze des Anarchismus seien so phantastisch, daß es ihm unmöglich erscheine, diese Grundsätze zu einer Gesellschaftsordnung zu füigen." Ein Münchner Redner, der Metallarbeiter (Schlosser) Wilhelm Weinreich äußerte, „sie würden in München als Anarchisten verrufen [sein]. Der Anarchismus sei keine politische, sondern eine geistige Bewegung." Der gleiche Weinreich war aber Vorstand des Münchner Anarchosozialistischen Diskutierklubs vom Februar 1907,58 nachdem er bereits 1904 als Kassier des Wissenschaftlichen Dikutierklubs ,Sokrates' fungiert hatte.59 Hier zeigt sich also, daß der Münchner Arbeiter-
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anarchismus und insbesondere der Syndikalismus nach der Jahrhundertwende nicht politisch, sondern primär gewerkschaftlich eingestellt war und den Anarchismus lediglich als geistige Bewegung verstand. Eine Verschmelzung von Anarchismus und Syndikalismus war aber auch deshalb erfolglos, weil sich die Berliner Führungsspitze der A.F.D. für ein Verbleiben in den Zentralgewerkschaften und gegen eine Gleichsetzung von Anarchismus und Syndikalismus (Gewerkschaftskampf nur ein Teilaspekt des Anarchismus) aussprach, so daß nur teilweise die anarchistischen Regionalföderationen, insbesondere die Anarchistische Föderation für RheinlandWestfalen, zu einer Zusammenarbeit mit der Freien Vereinigung bereit waren. Erst nach der Novemberrevolution kam es zwischen dem einen Flügel des überlebenden, wenn auch zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen politischen Anarchismus, nämlich der Anarchistischen Vereinigung um Erich Mühsams Berliner Blatt ,Fanal' und der Freien Arbeiter-Union Deutschlands unter Rudolf Rocker zur Verständigung. Der Führer der F.K. A.D., Rudolf Oestreich, hatte sich dagegen auf dem Föderationskongreß am 30./31. März 1923 zu Berlin wiederum gegen eine theoretische Gleichsetzung und praktische Zusammenarbeit von Anarchismus und Syndikalismus ausgesprochen, ohne sich freilich gegen die Mehrheit der eine „Interessengemeinschaft" bejahenden, aber auch eine Stärkung der selbständigen anarchistischen Organisation fordernden Delegierten ganz durchsetzen zu können.60 Entsprechend der allgemeinen Tendenz eines Aufsaugens des kommunistischen Anarchismus durch den Syndikalismus in der Weimarer Zeit, aber auch in Fortsetzung der spezifisch Münchner Situation einer Bedeutungslosigkeit rein anarchistischer Gruppen gegenüber den syndikalistischen, waren es nach 1918 in München die Föderationen der Freien Arbeiter Union Deutschlands (Föderation der Bauarbeiter, der Metallarbeiter und der Fliesenleger; am 1. November 1925 schloß sich wegen Mitgliederschwund die Föderation der Metallarbeiter der Föderation aller Berufe an, in die wohl gleichzeitig die Föderation der Fliesenleger umgewandelt worden war61), welche das Erbe Mühsams und Landauers in München pflegten. Gerade die jüngere Generation der Münchner Syndikalisten verehrte Mühsam als den Märtyrer von 1918; der Plan zur Errichtung und die Finanzierung eines Landauerdenkmals auf dessen Grabstätte im Waldfriedhof ging ebenfalls von den Münchner Syndikalisten aus,62 die, sowohl was die Personen wie die Berufszugehörigkeit betrifft, in deutlicher Kontinuität zum Münchner Vorkriegsanarchismus standen.63 So war in München nach der Jahrhundertwende bis in die Weimarer Zeit der Syndikalismus ein Träger anarchistischer Tradition; kennzeichnend ist,
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daß ab der Jahrhundertwende eine gewerkschaftliche Ausrichtung und damit eine gewisse apolitische Haltung in München den politischen Anarchismus überflügelte. Hier liegt wohl auch ein Grund dafür, daß die Syndikalisten bei der Münchner Novemberrevolution und ihrer Vorbereitung kaum eine Rolle gespielt haben.64 Damit entfällt also der reine Anarchismus, das Freidenkertum und der Syndikalismus in organisierter Form als Träger anarchistischen Handelns bei der Münchner Revolution. Übrig bleiben lediglich ein paar Einzelpersonen: „zwei oder drei Arbeiter" im Revolutionären Arbeiterrat, die sich zum Anarchismus bekannten;65 der Lithograph Fritz Oerter-Fürth, Vertreter Mittelfrankens im Provisorischen Nationalrat, der beim Januarstreik und der folgenden Revolutionierung Nürnberg-Fürths eine gewisse Rolle gespielt hatte,66 in München aber nicht weiter hervortrat; dann der Schriftsteller und Schauspieler Ret Marut alias Ben Traven,67 der während der ersten Räterepublik Mitglied des Propagandaausschusses bzw. der Aufklärungskommission war88 und die Pressezensur der MNN in Händen hatte.69 Marut verkörperte aber mehr einen individualistischen Anarchisten, dagegen finden sich in seiner Ideologie kaum spezifische Elemente eines politischen Anarchismus.70 Eine maßgebliche Funktion, insbesondere bei der ersten Münchner Räterepublik vom 6.jj. bis 13./i4April 1919, - die wiederum in Überschätzung der Rolle der beiden Anarchisten auch als „anarchistische" Räterepublik bezeichnet wurde71 -, hatten aber lediglich Gustav Landauer und Erich Mühsam inne. Gerade in dem von uns konstatierten Fehlen einer lenkenden anarchistischen Vereinigung in München lag eine Grundvoraussetzung für ihre undogmatische, stark individuell gefärbte Politik in der Revolutionszeit. Es ist symptomatisch, daß in Deutschland kein Vertreter der anarchistischen Arbeiterschaft und ihrer politischen Organisation den Weg zu anarchistischem Handeln fand, sondern zwei befreundete Schriftsteller bürgerlicher Herkunft, ehemals führend im S.B. Der Arbeiteranarchismus zeigte damit, daß er nicht nur in völliger Isolation von Staat und Nation stand, sondern darüber hinaus eine auf sich selbst konzentrierte Sekte geworden war, unfähig und Unwillens zu jedem politischen Handeln. Mühsam kritisierte später mit Recht, die Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands zeige „kaum ein höheres Interesse als das der anarchistischen Selbstgenügsamkeit, das sich in der Kritik an denjenigen Anarchisten erschöpfte, die sich aktiv an der Revolution beteiligt hatten. Es herrschte der Geist der Passivität, die sich darauf beschränkte aufzupassen, ob nicht die Aktivität eines Genossen irgendwo ein Prinzip verletzt hätte."72 Um so mehr Interesse verdient Mühsams und Landauers poli-
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tische Konzeption während der Revolution, ergibt sich doch hier die Möglichkeit, nach den utopischen und realpolitischen Gehalten ihres Anarchismus zu fragen. I L ERICH
MÜHSAM
UND
GUSTAV
LANDAUER
ZWISCHEN
„REVOLUTION"
UND „POLITIK" 7 3
Mühsam und Landauer trieben, etwas überspitzt formuliert, bei der Münchner Novemberrevolution nicht weil, sondern obwohl sie Anarchisten waren, eine revolutionäre Politik. Sie verkörperten nicht den typischen deutschen Anarchismus. Freilich war auch ihr Verhalten während der Revolution dadurch charakterisiert, daß sie radikal und utopisch über die einer revolutionären Politik von Eisner gesetzten Grenzen hinausdrängten und beide sich zunehmend von der ihnen zu kompromißbereit erscheinenden Politik Eisners abwandten. Mühsam schrieb zunächst in einem an J. Knief gerichteten Brief vom i. Dezember 1918, man dürfe, schon mit Rücksicht auf Eisners Popularität, nicht gegen diesen arbeiten, sondern müsse versuchen, über den Arbeiterrat sein „Temperament revolutionär anzukurbeln".74 Am 12. Dezember 1918 kritisierte er Eisners Ablehnung, die Revolution sofort durchzufuhren, wollte aber trotzdem keine grundsätzliche Opposition treiben und sprach davon, daß Eisners „Verdienste um die Revolution unermeßlich groß" seien und er „in den ersten Wochen der Präsidentschaft die besten Führungseigenschaften bestätigt hat, die möglich sind, Charakter, Entschlossenheit und Wahrhaftigkeit". Freilich war er, gegen Eisners Politik, willens, „die gegenwärtige Umwälzung bis zur Verwirklichung des Sozialismus auf internationaler Grundlage durchzuführen"75 und das programmatische erste Flugblatt von Mühsams .Vereinigung revolutionärer Internationalisten Bayerns' (V.R.I.)76 brachte deutlich als Ziel die Weiterführung der Revolution über das bisher vom Ministerium Eisner Getane hinaus zum Ausdruck: „Nicht alle Volksgenossen sind mit dem bisherigen Verlauf der Revolution einverstanden. Wir sind nicht zufrieden mit der Beschränkung der revolutionären Forderungen auf politische Angelegenheiten. Wir verlangen die Verwirklichung des Sozialismus als Krönung der gegenwärtigen Volksbewegung." Einen Monat später zählte er Eisner bereits zur „Reaktion" und stürzte den von ihm selbst gefeierten Revolutionsfiihrer vom Podest: „Herr Eisner glaubt also, daß die Revolution damit beendet ist, daß er, seine Dürftigkeit Kurt Eisner, bayerischer Ministerpräsident geworden sei. Nein, Verehrter, damit hat die Revolution ihren Zweck nicht erfüllt. Die Revolution geht weiter, und
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ihr Verlauf muß darüber entscheiden, ob Sie von dem durch Ihre .freiheitliche* Regierungskunst wieder mächtig gewordenen Pfaffen- und Regierungsklüngel vom Postament gestoßen werden oder von uns, der wir Sie als lächerlichen, unfähigen und obendrein gewissenlosen Phrasendrescher erkannt haben."77 In einem Gedächtnisartikel reduzierte Mühsam seine Kritik an Eisner ausdrücklich auf dessen mangelnden Radikalismus: „Hier [ = im Kain] sind dem Ermordeten harte, bittere Worte gesagt worden. Wer aber lesen kann wird finden, daß sie aus verschmähter Liebe kamen, aus enttäuschter Hoffnung, aus Angst für den Getadelten selbst. Der Mann, der an der Novemberrevolution stärksten Anteil hatte, der sich vor der Geschichte den Ruhm des Erneuerers wie wenige andere erworben hatte, war kein Radikaler. Er war ein aufrechter, tapferer Revolutionsanzünder, ein fanatischer Kämpfer für sein eigenes Werk, aber kein Grundmauerneinreißer."78 Diesen mangelnden Radikalismus sah Mühsam bei Eisner auch in seiner Westorientierung: „Mein Kampf", so schrieb er im Herbst 1919, 79 „galt Eisner, der den proletarischen Charakter der Revolution nicht erkennen wollte und den furchtbaren Fehler beging, seine Orientierung im Westen zu suchen, statt in innigster Gemeinschaft mit Rußland den Weg zum Kommunismus einzuschlagen". Weniger scharf, aber in der Sache gleich, äußerte sich Landauer, der im Gegensatz zu Mühsam ein gutes persönliches Verhältnis zu Eisner und seiner Familie gewonnen hatte. Ende November 1918 noch feierte er Eisner: „Ein Mann, der ein kümmerliches, reines, ehrenhaftes Leben als hungernder Schriftsteller bisher geführt hat, Kurt Eisner, steht mit einem Mal, bloß weil er ein Mann des Geistes ist, dieser tapfere Jude, moralisch als Haupt Deutschlands da .. .". 80 Bereits Anfang Dezember tadelte er ihn aber wegen seiner Konzession der Landtagseinberufung, mit der er „bei allen Revolutionären, auch bei mir, sehr böses Blut gemacht [hat]".81 Immer mehr verstärken sich in den Briefen Landauers Vorwürfe gegen Eisners Kompromißlertum,82 bis hin zu dem Urteil: „Kurt Eisner hat reinen Geist, reinste Ziele; aber er hat, aus Vorsicht, Klugheit, Humanität und Optimismus, seinen eigenen Weg verlassen und den der Klugheitspolitik gewählt; es hat ihm vor der revolutionären Energie gegraust; zwischen Spartakus und Kompromiß hat er seinen eigenen Weg, den er nicht mit solcher Klarheit erkannte wie ich, verloren, vertagen zu müssen geglaubt. Es rächt sich, daß er so lange Sozialdemokrat gewesen ist; es rächt sich an der ganzen deutschen Revolution, daß die Sozialdemokratie ihr Träger sein muß."83 Der Kampf gegen Berlin schien Landauer von Eisner nicht kräftig genug geführt zu werden, und auch von seiner inneren Politik sagte er, daß er sie „je länger, je weniger mitmachen" könne.84 Erst die Ermordung Eisners brachte eine innere Aussöhnung zuwege.86
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Die unpolitische Bedeutung einer rein geistigen Erneuerung, die sowohl Landauer wie Mühsam der Revolution primär zusprachen,86 mußte ihre Unzufriedenheit mit jedem politisch realen Ergebnis der Revolution erwecken; dazu kam ihr irrationaler Radikalismus, der sich erst zufrieden geben wollte, wenn sich ihr eigener utopischer „Geist" und der gesellschaftliche Zustand deckten.87 Da sich dieser Sprung aus der politischen Wirklichkeit nicht ereignete, mündete zwangsweise das Handeln Mühsams und Landauers in einen Zustand permanenter Revolution88; ihre Tätigkeit in München läßt sich unter diesem Gesichtspunkt als immer weiteres irrationales Vorwärtstreiben der Revolution beschreiben. Freilich wurde ihnen die Kluft zwischen ihrer Utopie und der politischen Wirklichkeit durchaus bewußt. Im März 1919 erwähnte Mühsam: „Noch glaubt uns die Mitwelt unsere Revolution nicht, und wir selbst haben Grund, vorerst an ihr zu zweifeln. Denn von einer veränderten Mentalität ist bei den Deutschen so gut wie nichts zu spüren."89 Und Landauer schrieb bereits Ende November 1918, daß man in der vorliegenden Situation „nicht zwischen gestern und heute einen Strich machen kann, sondern von Tag zu Tag Aushilfen suchen muß,um weiterzuleben.... Kurz, ich sehe jetzt nur die Möglichkeit, von Tag zu Tag sich der jeweiligen Situation anzupassen und das Schiff mit größter Behutsamkeit vor dem Scheitern zu retten. Bei diesem Weiterfristen wird man immer das und jenes schon in der Richtung unserer Bestrebungen einfügen können; aber nach einem festen, bestimmten Programm kann man zunächst nicht im großen umgestalten; von allen Seiten häufen sich solche Gefahren, die völlige Vernichtung drohen, daß man zunächst froh sein muß, daß der alte Kriegswirtschafts- und Beamtenapparat weiter funktioniert."90 So war es nicht ein freiwilliger Verzicht Mühsams und Landauers auf den utopisch-irrationalen Gehalt ihres Anarchismus, sondern der nackte Zwang der politischen Tatsachen, der sie zu einer Anerkennung und zu einem Eingehen auf die widerstrebende politische Realität führte. Vorbereitet waren beide freilich durch den revisionistischen Kurs des S.B., auf dessen geistigem Boden auch Mühsam, trotz der gegensätzlichen Haltung zu Landauer während des Krieges, zu Beginn der Revolution stand.91 Der Revisionismus des S.B. machte ihnen eine Beteiligung an dem Unternehmen erst möglich. Ihre eigentliche politische Praxis dagegen, die sich, um überhaupt wirksam sein zu können, weit von der Ideologie entfernen mußte, war eben aus diesem Grunde individuell, undogmatisch, jedoch nicht neu; sie griff vielmehr nur Bestrebungen aus der Zeit vor und während des Krieges wieder auf. Nicht wegen der weiterhin verfochtenen utopischen Ziele, sondern wegen der Um-
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Wandlung der anarchistischen Ideologie in politisches Handeln kommt der Beteiligung von Mühsam und Landauer an der Münchner Revolution eine exzeptionelle Bedeutung zu. Ihre politische Tätigkeit während der Revolution stellt den Höhepunkt der im deutschen Anarchismus ungefähr ab der Jahrhundertwende wirkenden Tendenz nach größerer Nähe zur politischen Praxis dar. I I I . D I E V O R B E R E I T U N G DURCH D E N S O Z I A L I S T I S C H E N B U N D
I. Das Rätesystem Die Vertretung Mühsams und Landauers im .Revolutionären Arbeiterrat' und damit im .Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat', ferner die Vertretung Landauers im ,Provisorischen Nationalrat* Bayerns war für die Geschichte des deutschen Anarchismus eines der hervorragendsten Ereignisse. Damit wurde zum ersten und letzten Mal die politische Isoliertheit, in welche der deutsche Anarchismus durch seinen Antiparlamentarismus (der selbstverständlich auch von Mühsam und Landauer voll geteilt wurde) und die Unwirksamkeit seiner außerparlamentarischen Opposition geraten war, durchbrochen und eine aktive Beteiligung am politischen Leben ermöglicht. Sahen auch beide Anarchisten im Rätesystem ein geeignetes Instrument zur Durchführung revolutionärer Beschlüsse, so war ihre Bejahung dieses Systems doch nicht einfach eine logische Folge ihres Radikalismus, sondern vielmehr der Höhepunkt des vom S.B. eingeleiteten Revisionismus, eine erste realistische Alternative zu dem von den Anarchisten abgelehnten parlamentarischen System. Das Rätesystem wurde von beiden nicht einfach vorbereitungslos vom russischen Vorbild übernommen, es war bereits von Landauer lange vorher, freilich ohne die spätere Bezeichnung, entwickelt worden. Schon 1909 legte er in der Auseinandersetzung mit der A.F.D. die Bedeutung des imperativen Mandats dar und wies auf das Vorbild der Vertreterversammlungen zur Zeit der französischen Revolution hin: „Da tagten die Wählerversammlungen in Permanenz, da war der Abgeordnete notgedrungen in ständiger Verbindung mit seinen Auftraggebern, da entsandten die Wählerversammlungen noch außerordentliche Botschaften an ihre Abgeordneten, um ihren Beschlüssen Nachdruck zu geben, und da konnten die Wähler jederzeit ihre Vertreter abberufen und andere entsenden."92 Der Gedanke einer aus den verschiedenen „Berufsgruppen" herauswachsenden Versammlung von Delegierten mit imperativem Mandat wurde dann von Landauer 1911 im Plan eines Freien Arbeitertags voll ausgebaut. Dieser nie
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realisierte Arbeitertag sollte den konkreten Zweck haben, dem Kapital im Falle eines drohenden Krieges die Arbeit aufzusagen und in den „Massenstreik" zu treten. Der weiterführende Gedanke aber war, die Arbeiterschaft solle zum ersten Mal ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen und ihre Vertretung nicht mehr der sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften überlassen; ferner wird bereits die Vorstellung sichtbar, der „Arbeitertag" könne an die Stelle des vorhandenen Regierungssystems treten: „Die Arbeiter werden nur dann zu eigenen und wirkungsmächtigen Aktionen kommen, wenn sie das System der permanenten Vertretung, das den Staaten nachgebildete System der Regierung und des Parlamentarismus aufgeben und an Stelle dessen nach Berufen und Ortsgemeinden in permanent tagenden Gruppen und Bünden zusammentreten. Zu praktischen Zwecken werden da immer Vertretungen nötig sein; aber diese Vertreter sollen nur für bestimmte Zwecke ernannt werden und sollen nie aus der lebendigen Verbindung mit ihren Auftraggebern herausoder emportreten."93 Die Entstehung des Arbeitertages wurde von Landauer im Sinne einer von unten, d.h. den Betrieben, nach oben sich aufbauenden Rätedemokratie verstanden: „Die Ausschüsse, wie sie jetzt teils da, teils in Vorbereitung sind, sind nur vorläufige Propagandagruppen für den allerersten Beginn; diese Ortsgruppen sollen späterhin aus Bezirksausschüssen zusammengesetzt sein, die ihrerseits sich wieder aus selbständigen Berufsgruppen bilden, die selbst wieder aus Werkstatt- und Fabrikorganisationen aufsteigen."94 1913 äußerte Landauer bereits, ein für die übrigen deutschen Anarchisten undenkbares Unterfangen, Gedanken zu einem „sozialistischen Landtag" mit imperativen Mandaten: „Denn für den sozialistischen Landtag wird die Wahl allgemein sein; sie wird ungleich sein und wird indirekt sein, weil die Provinzen, Kreise und Gemeinden, die ungleich sind, ihre Mandatare entsprechend entsenden; und sie wird öffentlich sein. Es werden Urwählerversammlungen in Öffentlichkeit tagen, wo nicht bloß gewählt, sondern beschlossen wird; es werden dann die erkorenen Wahlmänner zusammentreten und ihren Boten ihre festen Beschlüsse mit auf den Weg geben; diese werden sich mit ihnen und dem organisierten Volk in beständiger Verbindung halten; und wenn sie nicht tun, was ihres Amtes ist, werden sie heimgerufen und durch andere ersetzt."95 Eisners Konzept einer „neuen Demokratie", welche den alten Parlamentarismus verwarf und auf den Arbeiter-, Bauern- und Soldaten-Räten aufbauen wollte, konnte auf Grund der geschilderten Vorbereitungen durch den S.B. von Landauer als „anarchistisch" begrüßt werden96, und nicht zu Unrecht konnte er von „dem neuen Delegationsparlamentarismus" sprechen, „wie ich ihn immer propagiert habe und wie ihn ähnlich auch Eisner im Sinn hat".97
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Das System der Delegation nach Berufsgruppen und des imperativen Mandats nahm Landauer von seinen erwähnten Vorkriegsentwürfen in die Münchner Novemberrevolution hinüber: Die Delegierten der deutschen Republiken sollen „aus den Korporationen hervorgehen. Dieses sind da: Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. . . . Den verflossenen Zuständen der Unterdrückung entsprach die direkte (atomisierte) und geheime Wahl; in der Freiheit brauchen wir die korporative (also indirekte) und öffentliche Wahl, das fortwährende Einvernehmen, das imperative Mandat, die Möglichkeit sofortiger Abberufung des Delegierten, der nicht ,Volksvertreter' ist, sondern Beauftragter einer permanent tagenden Korporation." 98 Gerade weil Mühsam und Landauer im Rätesystem der Revolutionszeit ihre alten anarchistischen Ideen verwirklicht sahen, wurden sie die überzeugtesten Vertreter dieses Systems; war es dann gerade Mühsam, der am 28. Februar und am 7. und 8. März 1919 den Antrag auf Übernahme der vollen exekutiven und legislativen Gewalt durch den Rätekongreß einbrachte" und dem Parlamentarismus, der „zur Ausschließung des eigenen Urteils und des eigenen Willens" führe, das Rätesystem als Verkörperung des Prinzips der „Selbstverantwortung" entgegenstellte;100 deshalb setzten sich auch beide in den entscheidenden Besprechungen, welche der Begründung der 1. Räterepublik vorausgingen, für ihre Ausrufung ein. Aus diesem Grunde betonte zunächst Landauer, dann nach Abwendung vom Bolschewismus auch Mühsam, den vorbolschewistischen Ursprung des Rätesystems.101 Schließlich nahm Mühsam in seiner letzten theoretischen Schrift102 „die bisher noch nirgends versuchte Darstellung des Rätewesens als Erfüllung anarchistischer Verwaltungsgrundsätze" als einen „selbständigen Beitrag zur Ideenwelt des freiheitlichen Sozialismus" für sich in Anspruch.103 Freilich war das, was 1918/19x9 noch ein gangbarer Weg zur politischen Mitgestaltung schien, auch und gerade für die Anarchisten, mit der erneuten Einführung des Weimarer Parlamentarismus selbst eine Utopie geworden. Die Entscheidung gegen das Rätesystem drängte den deutschen Anarchismus wieder in sein Ghetto zurück, aus dem er eben erst in seinen fortschrittlichsten Geistern herausgefunden hatte. 2. Föderalismus Die Tatsache, daß sich Mühsam und Landauer gerade an der Münchner Revolution beteiligten, scheint zunächst mehr zufälligen Charakter zu tragen zufällig zumindest wenn man die Geschichte des Anarchismus in München betrachtet und die privaten Motive: Mühsam hatte sich schon vor dem Kriege in München niedergelassen, weil er sich hier „leidlich wohl" fühlte104, und
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Landauer hielt sich aus familiären Rücksichten bei den Verwandten seiner verstorbenen Frau in Krumbach auf und wurde dann von Eisner nach München berufen.105 Aber es waren doch tiefere Gründe, die beide gerade mit Bayern und der Politik Eisners verbanden. Denn sie beide waren gegen das ,zentralistische' deutsche Bismarckreich eingestellt, Mühsam mehr in separatistischem, Landauer in föderalistischem Sinne. Mühsam hatte am 9. September 1916 die bayerische Staatsangehörigkeit erworben, da er nach verlorenem Krieg ein Zerbrechen des Reiches in seine Teilstaaten erwartete und in diesem Falle in München bleiben wollte.106 Gegenüber dem spartakistischen Programm einer einheitlichen, zentralistischen Räterepublik für ganz Deutschland äußerte er starke Bedenken, da es die kräftigen partikularistischen Tendenzen in Bayern außer acht ließe.107 Von Eisner verlangte er im Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat, er „solle sofort, ohne Rücksicht auf Berlin", diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufnehmen.108 Der Einführung des Rätesystems in Bayern maß er weltgeschichtliche Bedeutung bei, da hier der Ausgangspunkt einer Revolutionierung ganz Mittel- und Westeuropas liegen könne;109 Rücksichten auf Berlin spielten bei diesen Hoffnungen keine Rolle mehr: „Eine Gemeinschaft zwischen dem sozialistischen Bayern und dem Kaiserdeutschland mit dem republikanischen Aushängeschild kann nicht mehr sein." uo Pläne für eine föderalistische Gestaltung Deutschlands sind bei Landauer stark ausgeprägt. Sie leiten sich zweifellos aus den Tagen des S.B. ab, als Landauer eine völlige Dezentralisierung der preußischen Legislative und Exekutive durch Übertragung zentraler Rechte an die Gemeinden vorsah, in denen er die geeigneten Institutionen für eine positive politische Betätigung erblickte.111 Bereits 1910 hatte er eine Art Verfassungsentwurf für Preußen publiziert112 - wieder ein völliges Novum im deutschen Anarchismus - der auf der anarchistischen Ideologie der Autonomie der Einzelperson und Gruppe (Gemeinde) aufbaute. Er dachte auch zu dieser Zeit bereits daran, dieses dezentralisierte System auf ganz Deutschland anzuwenden; seine Lektüre von Constantin Frantz, von dem er Proben im .Sozialist' gab, bestätigte ihn darin.113 Das Ereignis der Münchner Revolution aktivierte diese Gedanken: Immer wieder äußerte sich Landauer schriftlich über das Verhältnis Bayern - Preußen (er hatte sogar den Wunsch, als bayerischer Gesandter nach Berlin zu gehen114) und darüber hinaus über eine neue Ordnung Deutschlands. Von Beginn der Revolution an war Landauer mit dem wenig radikalen Gang der Ereignisse in Berlin unzufrieden und setzte seine ganze Hoffnung auf Bayern und Eisner. us Denn dieser verkündete eine neue föderative Ordnung Deutschlands ein-
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schließlich Österreichs in den „Vereinigten Staaten von Deutschland",118 lehnte die Vorherrschaft eines Staates (Preußens)117 und die vorläufige Zusammenarbeit mit Berlin, dem Hort der Konterrevolution, ab113 und sah bis auf weiteres München in der Funktion eines „Vororts von Deutschland".119 Obwohl Landauer zum Teil bis in die Formulierungen mit dieser Konzeption übereinstimmte, - und er war hier sicher nicht nur der Nehmende -, vermochte er doch wiederum Eisner nicht so weit zu folgen, daß er die Widerstände gegen dessen Programm würdigen konnte und kritisierte später, genau wie Mühsam, daß Eisner „im Kampfe gegen [die Berliner] Zentralregierung nicht weit genug" ginge.120 Berlin und Preußen verkörperten für ihn, wie er es in seiner Schrift ,Die vereinigten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung' (welche das Resumé seiner verfassungspolitischen Ideen aus der Rätezeit enthält) ausdrückt, „das alte Reich", die „preußisch-caesarische Zentralregierung", das „öde Parteiwesen". Die neue föderative Struktur Deutschlands hatte demnach als Voraussetzung die Auflösung Preußens, dessen Verfall in seine natürlichen Bestandteile er voraussah: Schleswig werde sich abtrennen, ebenso die Gebiete an der Wasserkante, Hannover und der ostdeutsch-polnische Teil; aus Rheinhessen, Kurhessen, Frankfurt, Nassau, der übrigen preußischen Rheinprovinz, Westfalen und Lippe-Detmold werde sich eine neue westdeutsche Provinz bilden.121 Restpreußen, Nordwestdeutschland, Westdeutschland, Süddeutschland (dessen Zentrum München sein werde)122 und Österreich sollen als „autonome Republiken" weiterbestehen, untereinander aber wieder als „vereinigte Republiken Deutschlands" einen „Bund" mit einem „Bundesrat" bilden, dessen Sitz aber nicht mehr Berlin sein soll, das nur noch Hauptstadt Brandenburg-Preußens bleiben wird, sondern Wetzlar oder Jena.123 Auf diese Weise hoffte er die Einheit Deutschlands sicherer herzustellen als es der Gewaltweg Bismarcks vermocht hatte.124 „Das ist kein Separatismus oder Partikularismus", betonte er, „sondern Föderalismus, wo die Kultur von unten nach oben wächst, nicht zur Spitze, sondern zum Bunde";125 aber Landauer ließ auch keinen Zweifel, daß diese „Föderation autonomer Republiken"126 zur Vorbedingung hatte, daß Preußen nicht mehr „ein Haupt mit Vormacht", sondern ein „Glied unter Gliedern" werde; würde sich Preußen dem nicht anschließen, dann müsse der Bund ohne es zustande kommen.227 Als historische Quellen für diesen Föderalismus wies er zu dieser Zeit erneut auf Proudhon und Constantin Frantz hin.128 Der Föderalismus soll das grundlegende Prinzip der neuen politischen Ordnung sein: „Was nur die Gemeinden angeht, ordnen die Gemeinden für sich, in Selbstverwaltung, der nie-
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mand hineinredet, und so weiter zum Bezirk, zum Kreis, zur Landschaft, zur Provinz, zur autonomen Republik, zum Bund deutscher Republiken und zum Völkerbund." 129 Dezentralisation und Föderation waren die beiden anarchistischen Grundideen, die Landauer bereits vor dem Weltkrieg für die Verfassungsstruktur der Staaten angewandt hatte und denen er nun zusammen mit Mühsam in der Vorstellung einer Föderation autonomer Republiken und einem ebenfalls das „dezentralistische Prinzip" verkörpernden Rätesystem130 Ausdruck verlieh. Wenn auch der Weimarer Staat einen gegensätzlichen Weg ging, kann dieser anarchistischen Konzeption der Rang einer echten politischen Alternative nicht abgesprochen werden.
Gewalt Zeigten sich vor dem Weltkrieg innerhalb der A . F . D . sehr gegensätzliche Positionen in der Gewaltfrage, so bei Mühsam und Landauer ein ebenso typisches sowohl-als-auch. Sie vertraten zwar einerseits die tolstojanische Gewaltlosigkeit, andererseits äußerte Landauer, er sei nicht absolut gegen jede Gewaltanwendung, „Gewalt im Falle der Not" empfehle auch er. 131 Ebenso bejahte Mühsam trotz seiner Gleichsetzung von Anarchie und Gewaltlosigkeit132 den gewaltsamen Charakter der Revolution.133 Trotz seiner Neigung zur friedsamen Idylle hatte also auch der S. B. in der Gewaltfrage alles offen gelassen. Die praktischen Erfordernisse der Revolution konnten deshalb ohne quietistische Gewissensbisse erfüllt werden - ein kleines Bild aus der Münchner Revolution vermag dies schlagend zu illustrieren: Am 7. April 1919 nachmittags ging das Gerücht, Soldaten und Studenten, Gegner der soeben ausgerufenen 1. Räterepublik, würden bewaffnet gegen das Wittelsbacher Palais vorgehen; dort brach daraufhin eine Panik aus - ausgenommen bei Mühsam und Landauer: „Im Verein mit etlichen Arbeitern holten sie aus Schränken Maschinengewehre, Handgranaten und andere Waffen hervor und machten alles gefechtsbereit. Sie waren entschlossen, den Angriff abzuschlagen oder sich bis zum Alleräußersten zu verteidigen." 134 Auch andere Beispiele zeigen, wie die pazifistische Ideologie gegenüber der politischen Notwendigkeit in der Revolutionszeit den kürzeren zog.136 Zudem waren die Genannten zwar nicht beim Militär gewesen - aber sie hatten dafür Geschichte studiert und waren sich bewußt, was eine Revolution von ihren Kindern erwarten konnte. In diesem Sinne war auch beiden sehr an der Festnahme von Geiseln gelegen. So wandte sich Mühsam am 6. März 1919 im Rätekongreß gegen einen
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»Antrag Süßheim', der die sofortige Freilassung aller Geiseln verlangte, wenn gegen sie keine nachweisbaren Verdachtsmomente vorlägen und entgegnete: „Süßheim verkennt den Sinn des Geiselsystems. Man nimmt Geiseln nicht um Schuldige zu treffen, sondern um Sicherheit zu erhalten, um die Kreise, die in ihrer Gesamtheit, nicht in Einzelpersonen, im Verdacht stehen, bestimmte gegenrevolutionäre Handlungen zu planen, einzuschüchtern. Ich spreche das ohne weiteres aus. Es soll die Einschüchterung einer ganzen Gesellschaft durchgeführt werden." 136 Auch während der i. Räterepublik setzte er sich in der Zentralratssitzung vom 12. April 1919 für die Verhaftung von Geiseln und die Bewaffnung des Proletariats ein.137 Dem stand Landauer unter dem Eindruck der Ermordung Eisners am 21. Februar 1919 nicht nach: Datiert vom 23. Februar 1919 sind zwei Anträge erhalten: „Eine Deputation von 3 Mann soll sich sofort zum Zentralrat begeben, um die Festnahme von Geiseln, die noch heute zu erfolgen hat, zu verlangen. Landauer." Und: „Von der Festnahme der Geiseln ist die Bevölkerung sofort durch alle geeigneten Mittel zu benachrichtigen. Landauer." 138 ,Edelanarchismus' und Terror ließen sich also durchaus verbinden. Die Münchner Revolution machte die Anarchisten mit der gewaltsamen Seite der Politik vertraut und lehrte sie, daß politische Gewalt nur wieder mit Gewalt beantwortet werden konnte. 1920 zog Mühsam bereits diese Lehre aus den Revolutionsgeschehnissen: „Ich bin nicht im geringsten blutgierig, und ich wüßte mir keinen schöneren Traum, als mit lauter friedlichen Mitteln die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung herbeifuhren zu sehen. Aber mir scheint es doch sehr unwahrscheinlich, daß die Schutzwehren des Kapitals nicht ihrerseits in Funktion treten werden, wenn die Arbeiter zur Besitzergreifung der Produktionsmittel schreiten sollten. Unsere Erfahrungen berechtigen doch wohl kaum zu dieser hübschen Illusion." 139 Mit dieser Lehre stand Mühsam nicht allein; zurecht betonte er, daß die „Anarchisten fast in ihrer Gesamtzahl die tolstojanische Abirrung überwunden haben".140 Auch Rudolf Oestreich von der F . K . A . D . , Redakteur des ,Freien Arbeiters', hatte 1919 den Tolstojanismus abgelehnt und geäußert: „Als Anarchist erstrebe ich eine Gesellschaftsordnung, in der die Gewalt ausgeschaltet sein soll. Zur Beseitigung der alten Herrschaftsformen - und wenn diese ganz beseitigt sind - zur Sicherung der neuen Ordnung halte ich die Anwendung von Gewalt für notwendig. Auch der Waffengewalt." 141 Die Revolution und ihre gewaltsame Niederschlagung machte auch die Anarchisten mit der Macht der Waffen vertraut und zeitigte bei ihnen ein Klima der Gewaltsamkeit, wie es überhaupt zum Signum des Weimarer Staates wurde.
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P O L I T I S C H E H A N D E L N M Ü H S A M S UND L A N D A U E R S W Ä H R E N D DER MÜNCHNER REVOLUTION
Im vorigen Kapitel zeigten wir die gedanklichen Voraussetzungen, die Landauer mit der revisionistischen Ideologie des S. B. geschaffen hatte, für die maßgebliche Beteiligung von Anarchisten an der Münchner Revolution. Als Höhepunkt der Annäherung des Anarchismus an die politische Realität ist die tatsächlich verfolgte Politik von Mühsam und Landauer während der Münchner Revolution (insbesondere der i. Räterepublik) anzusehen. Auch hier gilt, daß beide keine grundsätzlich neuen Ideen verfochten, sondern lediglich ihre Bestrebungen aus der Kriegs- und Vorkriegszeit fortsetzten. Bemerkenswert ist aber das Zurücktreten der anarchistischen Ideologie bei diesem Handeln, demzufolge ein hohes Maß individueller Zielsetzungen. Praktisches politisches Handeln von Anarchisten erreichte hier die größtmöglichste Ferne von anarchistischem Dogma. i. Die Kulturpolitik Landauers Die Kontinuität in Landauers politischen Plänen vom S.B. bis zur Revolution ist deutlich: Der Aufbau der sozialistischen Siedlung schien ihm immer noch die Hauptaufgabe zu sein;142 es ist symptomatisch, daß er auch erneut den .Sozialist' herausbringen wollte.143 Nach dem Ende der i. Räterepublik dachte er auch an eine Fortsetzung des S.B. unter dem Namen eines Sozialistischen Freiheitsbundes; wie sich der alte Bund gegen die marxistische Ideologie der Sozialdemokratie gerichtet hatte, so sollte der neue Bund eine Alternative zur Politik der Kommunistischen Partei unter der 2. Münchner Räterepublik bieten.144 Zunächst freilich fehlten Landauer die Grundlagen für ein weitgreifendes Handeln. Eisner sah für ihn einen bescheidenen Platz während der Revolution vor: Er sollte als Redner „an der Umbildung der Seelen mitarbeiten"145 und er bot ihm schließlich eine Stelle als Redakteur an (Landauer lehnte jedoch ab).146 Landauers eigentlichstes politisches Anliegen kam zum Ausdruck, als er auf seinen eigenen Vorschlag hin und empfohlen von Erich Mühsam in der 1. Räterepublik Kultusminister, im Rätejargon ,Volksbeauftragter für Volksaufklärung' wurde; 147 schon im November 1918 hatte er bei Eisner die Schaffung eines „Dezernats für Volksaufklärung" angeregt.148 Landauer war für diese Stelle nicht unvorbereitet; bereits vor und während des Weltkrieges hatte er sich mit Plänen zur Umgestaltung von Schule und Hochschule beschäftigt; dazu kam seine Beteiligung an der ,Freien Volks-
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bühne', dann .Neuen freien Volksbühne' in Berlin, einer Schöpfung der »Unabhängigen*. 1918, kurz vor Ausbruch der Revolution, hatte er eine Stelle als Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus, das unter der Leitung von Gustav Lindemann und Louise Dumont-Lindemann stand, übernommen,148 ohne die Stellung wegen der Münchner Ereignisse und des Wegganges der alten Leitung des Schauspielhauses noch einnehmen zu können. Der Schule und dem Theater galt auch sein Bemühen während der Revolutionszeit. Sein Leitgedanke war, Geist und Proletariat miteinander zu versöhnen, eine Demokratisierung des Geistes in die Wege zu leiten.180 Dieser politisch zukunftsträchtige Gedanke war eine gelungene Umsetzung von Landauers utopischer Identifikation von religiösem Geist und Politik in politisches Handeln. Vor den bayerischen Arbeiterräten hatte Landauer bereits über die Forderungen der vom Revolutionären Arbeiterrat' eingesetzten Schulkommission berichtet; wahrscheinlich hatte er an der Ausarbeitung des Programms neben E. Toller maßgeblichen Anteil.151 Auch vor dem Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat äußerte er mehrfach Ideen für eine Umgestaltung des Kulturwesens.152 Daß er mit dem Widerstand der alten Einrichtungen und einer gewaltsamen Umgestaltung rechnete, zeigt folgender Antrag: „An den Zentralrat: Die Universität, technische Hochschule und andere Brutstätten akademischer Gegenrevolution sind zu besetzen; die Studenten sind an Ort und Stelle und in ihren Wohnungen nach Waffen zu durchsuchen; Verdächtige sind festzunehmen. Landauer."158 Ansätze zur Realisierung seiner Ideen unternahm er während der 1. Räterepublik. Er dachte offensichtlich an eine umfassende Neuorientierung des Schulwesens. Ein Ausschuß sollte berufen werden und sich mit der Umgestaltung des gesamten Volksschulwesens befassen.154 Ansätze zur tatsächlichen Reform kamen aber nur an den Hochschulen zustande. Besonders der Universität München galt die Betätigung Landauers für eine „erneuerte Hochschule".155 Gemäß seiner Konzeption dezentralisierten Handelns scheint er bei seiner Kulturpolitik direkte Eingriffe vermieden und die Umgestaltung eigenen Räten in die Hand gegeben zu haben. Dieses Programm hatte er auch in einem Brief ,An die Herren Referenten und Mithilfsarbeiter im bisherigen Ministerium' ausgedrückt: „Durch eine völlige Dezentralisation wird in Zukunft dafür gesorgt werden müssen, daß die Staatsgehilfen, die berufen sind, das Ganze im Auge zu haben, sich nicht in Einzelheiten des Bezirkes, der Stadt und des Dorfes verlieren. Kommt so vielleicht manchmal die Einheitlichkeit der Geschäftsgebahrung zu kurz, so gewinnen wir andrerseits dadurch, daß die Entscheidungen von jenen gefallt werden, die die
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tatsächlichen Verhältnisse kennen, und Buntheit ist kein Fehler, für den, dem nicht juristisches und legislatives Denken das Höchste ist." 166 So beschränkte sich seine Politik gegenüber der Universität darauf, dem ,Revolutionären Hochschulrat' die Vollmacht zur Durchführung von dessen Hochschulprogramm zu geben.157 Der Widerstand der Universität gegen die Neuordnung war wohl auch der Grund dafür, daß Landauer den Lehrkörper der Universität nicht vollständig in die neue Hochschule übernehmen wollte.168 Das Programm für die Umgestaltung der Hochschule fußte aber nicht auf Vorschlägen Landauers, sondern war von Professor Schmidt-Noerr, dem Referenten der ,Gesellschaft für neue Erziehung', entworfen worden. 189 Auch die »Akademie der bildenden Künste' sollte umgestaltet werden; wie bei der Universität überließ auch hier Landauer die Angelegenheit dem ,Rat der bildenden Künstler'.160 Ob Landauer auch für die Technische Hochschule zuständig war, ist unklar.161 Obwohl Erich Mühsam Landauers „radikale Maßnahmen" an den Münchner Hochschulen zu den wenigen positiven Leistungen der i. Räterepublik zählte,162 ist überdeutlich, daß während des einwöchigen Bestehens der Räterepublik noch nicht einmal der Widerstand der Selbstverwaltungsbehörden der Hochschulen gegen eine Umgestaltung gebrochen war, viel weniger diese selbst in Angriff genommen werden konnte.163 Der zweite Wirkungskreis während seiner Tätigkeit als Volksbeauftragter war das Theater. Fechenbach berichtet in seinem Tagebuch unter dem 8. April 1919, wie Landauer im Wittelsbacher Palais mit den Schauspielern über die Selbstverwaltung des Theaters durch die Künstler verhandelte.164 Offenbar wollte Landauer die Selbstverwaltungsidee, die Lindemann-Dumont für das Düsseldorfer Schauspielhaus vorgesehen hatte,165 in die Praxis umsetzen. Auch bezüglich des Theaters überließ Landauer die aufbauende Tätigkeit dem ,Aktionsausschuß bildender Künstler'; stärker als bei der Hochschule scheint sich hier aber sein eigenes Programm durchgesetzt zu haben: Hatte Landauer am 4. November 1919 geschrieben: „ E s wäre schon was für diese Zeit: das Prinzregententheater fürs Volk", 1 6 6 so teilte der .Aktionsausschuß revolutionärer Künstler' unter Berufung auf Landauers Unterstützung am 10. April 1919 mit, bald werde das bisherige Prinz-Regenten-Theater „als erstes wahres Theater des Volkes in Bayern" eröffnet werden.167 Unklar ist, ob Landauer auch die Presse unterstellt war. Auch zu diesem Thema hatte er sich bereits vor der 1. Räterepublik geäußert und besonders unter dem Eindruck der Kriegshetze der Presse im Weltkrieg wie viele andere - etwa auch Ret Marut und Mühsam - die Sozialisierung der Presse verlangt: „Wir brauchen ein völlig neues Zeitungswesen und ich würde keine Gewalt-
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tat scheuen, um die alte Presse zu vernichten."168 Die Übernahme der MNN auf Grund ihrer Weigerung, sich der Zensur zu unterstellen, durch die ,Presseabteilung des provisorischen Zentralrats' ist auf jeden Fall allein durch Landauer gezeichnet;169 Landauer könnte auch die Einsetzung Ret Maruts als Zensor der MNN bewirkt haben. Landauers geistiges Reformprogramm wird durch seine Tätigkeit als Kultusminister nur bruchstückhaft faßbar; sicher ist, daß er die „völlige Umgestaltung aller dem Geiste dienenden Einrichtungen des Gemeinwesens"170 erstrebte und dazu ein grobes Konzept besaß. Dieses Kulturprogramm legte er, durch einen kommunistischen Mitverfasser modifiziert, der 2. Kommunistischen Räterepublik vor. 171 Es handelte in drei großen Komplexen von dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche, von der Kunst (Architektur, Malerei, Plastik und Theater) und von der Schule. Das Grundprinzip ist die geistig-religiöse Belebung des Volkes; in der Ausführung sah Landauer eine dezentralisierte Form und korporative Selbstverwaltung vor. Das Programm wurde von den Kommunisten abgelehnt, Landauer seinerseits distanzierte sich von der 2. Räterepublik, da er die kommunistische Bevorzugung der Machtfrage an Stelle der Kulturfrage nicht akzeptieren konnte.172 Denn er sah bis zu seinem Ende Geist und Politik als Einheit. Trotz dieses letzten Utopismus konnte Landauers Programm, losgelöst von der Ungunst der Umstände, durch seine ,anarchistische' Dezentralisation und Demokratisierung zukunftsträchtig sein. Von großer Bedeutung für diese letzte Entwicklungsstufe des deutschen Anarchismus war, daß Landauer immer mehr auf eine umstürzende Neuordnung vorläufig zu verzichten wußte und, „um die Fragen praktisch vorwärts zu bringen, zu Kompromissen bereit war". 173 2. Mübsams Bemühen um eine Einheitsfront aller Revolutionäre Lag Landauers individuelle politische Leistung bei der Novemberrevolution in seinem schöpferischen Kulturprogramm, so die Mühsams in der Erkenntnis, daß die Revolution als Umsturz der bestehenden Verhältnisse nur von einer tragfähigen Machtbasis aus durchzufuhren war.174 Während Landauer als Prophet zu der Masse sprechen und seine Legitimation allein auf seinem religiös-revolutionären Geist beruhte, suchte Mühsam in Weiterfuhrung seines schon im Weltkrieg sichtbaren Konzepts eine Einheitsfront der Revolutionäre als Machtorganisation zu schaffen. Dies war um so dringlicher, als die beiden Anarchisten keine gesellschaftlichen oder politischen Gruppen hinter sich hatten und in der Revolutionszeit lediglich durch das herrschende Machtvakuum hochgekommen waren.
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Zunächst gründete Mühsam als eigene Machtbasis und gleichzeitig als Partei der Zusammenarbeit am 30. November 1918 eine ,Vereinigung revolutionärer Internationalisten Bayerns' (V.R.I.). Sie sollte nicht die Anarchisten sammeln,175 sondern den Anarchisten Mühsam aus dem Ghetto der Selbstisolierung hinausfuhren und die von ihm bereits im Krieg entwickelte revolutionäre anarchistisch-sozialistische Internationale verwirklichen helfen: „Der Sinn der Sache ist der", so schreibt Mühsam in dem schon genannten Brief an Knief, „einen Zusammenschluß aller wirklich radikalen Elemente ohne Rücksicht auf ihre Berufung auf Marx oder Bakunin zu ermöglichen. Es soll also jeder kommunistische Sozialist (wie immer man diesen Begriff im Einzelnen definieren will) zugehören können, sofern er der Ansicht ist, daß diese Revolution bis zur Verwirklichung des Ideals durchgeführt werden muß und zwar mit den Mitteln der Revolution und gerichtet auf die Weltrevolution einer Internationale, die diesen Namen verdient. Die Zugehörigkeit zur Spartakuspartei oder zu der Bremer Kommunistengruppe soll nicht vom Anschluß an uns zurückhalten. Sie wollen keine Partei sein, sondern eine weitumfassende Organisation, die nach links keine Grenzen zieht und die den Anarchisten die Möglichkeit zur Mitarbeit in Gemeinschaft verwandter Energien schafft, ohne sie zur Verleugnung eigener oder zur Anerkennung fremder akademischer Formeln zu nötigen. Meine persönlichen Erfahrungen durch 20 Jahre haben mich belehrt, wie nötig das ist, um sehr brauchbare agitatorische Kräfte dem gemeinsamen Kampf zu sichern. Wir wollen uns nun zunächst mit allen verwandten Gruppen in direkte Beziehung setzen. .. ." 1 7 6 Die ,Vereinigung' sollte also die überparteiliche Zusammenarbeit aller revolutionären Kräfte sichern, deshalb war ihr Programm177 revolutionär, keinesfalls aber anarchistisch. Die ,Vereinigung' erwies sich als Fehlschlag: Sie gewann offenbar nur eine kleine Mitgliederzahl; die Schaffung eines eigenen Zeitungsorgans178 durch den Zeitungsputsch in der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 1919 179 scheiterte noch in derselben Nacht am Widerstand Eisners.180 Am schwerwiegendsten aber war, daß sie nicht über den Parteiungen stehen konnte (vermutlich deshalb, weil ihre Mitglieder sich aus jüngeren bisher ideologisch und parteimäßig noch nicht erfaßten und darum anlehnungsbedürftigen Personen zusammensetzte181), sondern einen Anschluß entweder an die Bremer Linke (ab Ende 1918 Internationale Kommunisten Deutschlands (I.K.D.) genannt) oder an den Spartakusbund suchte. Es kam zunächst zum Anschluß an die I.K.D., 1 8 2 dann nach der Verschmelzung der Bremer mit dem Spartakusbund zur Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) zum Zusammenschluß mit der Münchner Ortsgruppe der K.P.D. 1 8 3 Diese organisa-
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torischen Verschmelzungen stimmten aber nicht mehr mit Mühsams ursprünglichen Intentionen überein und führten zu seinem Rücktritt als Vertrauensmann der V.R.I., um seinen anarchistischen Parteistandpunkt weiter aufrechthalten zu können.184 Mühsam war aber ebenfalls zumindest zu einer Zusammenarbeit mit der größten radikalen Gruppe Münchens, den Kommunisten, bereit. Hierin stand er in starkem Gegensatz zu Landauer, der sich gegen Kommunismus und Bolschewismus aussprach.186 Mühsam trat für die Kommunisten als Redner auf, 186 ohne aber (ebenso wie einst bei der U.S.P.D.) zunächst Parteimitglied zu werden. Diese Periode der Zusammenarbeit von Februar bis März 1919 hörte auf, als die Berliner K.P.D.-Zentrale in München einen neuen eigenständigen Kurs ohne Anlehnung an die U.S.P.D. oder andere revolutionäre Gruppen durchsetzte. Es folgte während der 1. Räterepublik, in der Mühsam glücklos das Referat Ungarn und Rußland im Auswärtdgen-Kommissariat verwaltete,187 nachdem Landauer selbst die Bewerbung Mühsams für das Amt des Volksbeauftragten des Auswärtigen mit Hinweis auf das Fehlen von „Erfahrung", „Beherrschung des Apparats" und „Sicherheit des diplomatischen Verkehrs" zu Fall gebracht hatte,188 eine dritte Stufe von Mühsams Einheitspolitik: Er ging zunächst von einer Mitarbeit der Kommunisten an der Räterepublik aus,189 als diese ausblieb, suchte er einmal die Münchner K.P.D.-Führung doch noch für eine Mitarbeit zu gewinnen,190 zum anderen deren Parteimitgliedschaft über die Köpfe der Führer hinweg auf den Boden der 1. Räterepublik zu ziehen und sie einer revolutionären Einheitspartei zuzuführen. 191 Mühsam scheiterte mit seinem Bemühen, ohne daß er den Grund zur Verweigerung der Mitarbeit der Kommunisten, nämlich deren Macht- und Führungsanspruch, durchschaute. Die mit der Weltkriegs- und Revolutionserfahrung in Mühsam angeregte progressive Entwicklung über die bisher von den Anarchisten verfolgte Politik hinaus war damit noch nicht zuende. Vielmehr tat er noch im Zuchthaus einen letzten Schritt aus dem anarchistischen Ghetto heraus und trat derK. P.D. bei; freilich erfolgte wegen der Verpflichtung der Parteimitglieder auf eine einheitliche Linie bald wieder der Austritt, dem sich schließlich auch der aus der kommunistischen Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe anschloß. Denn Mühsam hatte nie seine anarchistische, in diesem Fall antizentralistische und revolutionäre Position preisgeben wollen, nur hatte er, solange das irgendwie möglich war, die ideologischen Positionen der Machtfrage, also der Einigung des organisierten revolutionären Proletariats, untergeordnet. Freilich war seine undogmatische, anarchistische Öffnungspolitik auch
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ein deutliches Eingeständnis der Bedeutungslosigkeit der noch bestehenden anarchistischen Organisationen. Mit der gewaltsamen Beseitigung der 1. Münchner Räterepublik durch einen Putsch, mit der Liquidierung der 2. Räterepublik und in ihrem Gefolge der Ermordung Landauers war in Deutschland die Möglichkeit einer anarchistisch beeinflußten politischen Aktion endgültig aus dem Bereich der Möglichkeit entschwunden.
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ANMERKUNGEN ZU:
Ulrich Linse, Die Anarchisten und die Münchner Novemberrevolution 1 Vgl. U. Linse, Organisierter Anarchismus im deutschen Kaiserreich von 1870. Zur Struktur einer außerparlamentarischen Opposition. Diss. phil. München 1968 (ungedruckt). Der hier vorgelegte Aufsatz stellt ein erweitertes Kapitel aus dieser Arbeit dar. 2 Siehe Werner Conze und Dieter Grob, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Stuttgart 1966. 3 Guenther Roth, The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working-Class Isolation and National Integration, Totowa 1963, S. 310 u. passim. 4 LCW, Rehse-Collection, Cont. 422: Brief Erich Mühsams an Johann Knief v. 1. Dezember 1918. 6 Verh. d. ProvNatRats d. Volksstaats Bayern im Jahre 1918/19. München o . J . (zit. als Verh. d. ProvNatRats), S. m . Vgl. G. Landauer, Die vereinigten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung. Frankfurt 1918, S. 2: „Nun ist wieder ein deutsches Reich gestorben, das in der Geschichte als vorübergehende Schöpfung der Gewalttat leben wird; der kriegerisch roh zurechtgehauene und zugleich diplomatisch klug gesponnene Fürstenbund mit scheindemokratischem Einschlag, den der Realpolitiker Bismarck den 48 er Ideen entgegensetzte, ist tot, ist von der Revolution zertrümmert worden. Das alte Deutsche Reich, 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , existiert nicht mehr; es ist in Schmach zusammengebrochen; Schmach tritt da zu Tage, wo eine Scheinmacht in Staub verweht, weil niemand da ist, der zu ihr steht und sie hält." 8
StAfObby, R A Fase. 3784 Nr. 16803; AStAM, MInn 66312. ' A S t A M , MInn 66310. 8 StAfObby, StwMü I, Fase. 27 Nr. 78 und AStAM, MInn 66311. 8 StAfObby, R A Fase. 3784 Nr. 16803 und 16804; AStAM, MInn 66308; GStAM, M A 76512 und 76538. 10 StAfObby, R A Fase. 3784 Nr. 16803 und 16804; Fase. 3785 Nr. 16808, Fase. 3789 Nr. 16835; AStAM, MInn 66308. 11 StAfObby, R A Fase. 3783 Nr. 16798; Fase. 3784 Nr. 16805; AStAM, MInn 66308. 12 StAP, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Polizeiprädidium, Tit. 95 Sekt. 6 Lit. B Nr. 5 = 15655. 13 StAP, wie oben, Tit. 94 Lit. B Nr. 923 Vol. 9 und 10 = 9011 und 9012. 14 StAfObby, PolDirMü Verz. 24a I Fase. 87 Nr. 4424. 16 G. Landauer, Aufruf zum Sozialismus. Köln 2 i925 ( 1 i923). Neudruck Frankfurt-Wien 1967 (Hrsg. und eingel. von Heinz Joachim Heydorn). Vgl. auch: Wolfgang Hock, Deutscher Antikapitalismus. Frankfurt a.M. i960. 16 MP 24. Jg. Nr. 144 v. 24. Juni 1910. 17 StAfObby, R A Fase. 3785 Nr. 16808; KriegsAM, M K r 1 1 529. 18 Nach einer Liste der Polizeidirektion München v. 1 1 . Juli 1916: StAfObby, PolDirMü 24b Fase. 17 Nr. 102. 18 E. Horneffer, Konfessionsloser Moralunterricht bei der freireligiösen Gemeinde in München. Leipzig o . J . [ 1 9 1 1 ] . 20 AStAM, MInn 7 3 5 5 1 . Vgl. auch die Rede ,Der Krieg' in: E. Horneffer, Am Webstuhl der Zeit. Leipzig 1914, S. 403-415. 21 E. Horneffer, Soldaten-Erziehung. München-Berlin 2 i 9 i 8 ( 1 i9i8), S. 24f. 22 U . a . Verfasser der Broschüre: Klöster und Möncherei. Protest gegen Geistesknechtschaft und Volksverdummung. Bamberg 2 i902. 23 Vorstandslisten: StAfObby, PolDirMü 24b Fase. 17 Nr. 102. 24 Polizeibericht über eine Versammlung des Demokratischen Vereins am 24. Oktober 1901: „Wie ich privaten Gesprächen entnehmen konnte, wird demnächst der bekannte Freidenker und
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Demokrat Sontheimer wegen seines illoyalen Verhaltens dem demokratischen Verein gegenüber in einer Vereinssitzung zur Rechenschaft gezogen werden." (StAObby, RA Fase. 3794 Nr. 16855). 26 Siehe Utz-Friedebert Taube, Ludwig Quidde. Kallmünz 1963. 28 LCW, Rehse-Collection, Cont. 420. 27 Er verfaßte die autobiographische Broschüre: Ein Ketzerprozeß im Jahre 1903. Mit einem Anhang: Monate in Stadelheim. München 1904. 28 Siehe auch das Flugblatt der Vereinigung .Der schamlose Betrug', das sich speziell an die Arbeiter wendet (teilweise abgedruckt B K Nr. 347 v. 1 1 . Dezember 1908); nach dem B K verteilte Sontheimer das Flugblatt persönlich an jugendliche Arbeiter in der Wagnerbrauerei. 29 So heißt es in der A P Z v. 24. Februar 1900 über eine Giordano-Bruno-Feier der Vereinigung unter Leitung Rüdts am 19. Februar 1900: „Wer waren die Leute, welche bei der Giordano-BrunoFeier im Bürgerbräukeller den Tiraden des bekannten Gottesleugners Prof. Rüdt zujauchzten? Waren es nur die Sozialdemokraten und Demokraten? Nein, der .aufgeklärte Liberalismus' und vor allem die .alldeutschen' und .deutschvölkischen' Elemente stellten ein wesentliches Kontingent der Versammlung." 30 In einer Versammlung am 23. April 1902 versuchte der anarchistische Schriftsteller Christian Ommerborn für seine 1898 gegründete halbanarchistische Sozial-aesthetische Vereinigung für Deutschland (Sitz Barmen) zu werben; der überwachende Beamte gibt an: „Über das Auftreten der Anarchisten [Ommerborn, Max Hermann u.a.] war das Auditorium geteilter Ansicht, die überwiegende Mehrzahl war sicher der Anschauung, daß für die Vertreter des reinen Anarchismus kein Platz im Freidenkerverein sei." (AStAM, MInn 73 551). 81 AStAM, MInn 73 551. 82 StAfObby, PolDirMü 24b Fase. 17 Nr. 103. 83 Nr. 231 v. 14. Oktober 1910. 84 Der Mechaniker Joseph Trickl, v. 9. Februar 1903 - 28. Januar 1904 1. Schriftführer und v. 28. Januar 1904-7. Februari907 Kassier (StAfObby, PolDirMü 24b Fase. 17 Nr. 102); der Student an der Kunstakademie Rudolf Böhm, v. 1. April 1910 an 2. Vorsitzender (StAP, wie oben, Tit. 95 Sekt. 8 Lit. B Nr. 72 = 16078). 86 Besonders eng mit dem Wissenschaftlichen Diskutierklub .Sokrates': StAfObby, PolDirMü 24a I Fase. 87 Nr. 4424. 86 Versammlungen am 18. und 26. Juni 1902: AStAM, MInn 73551. 87 StAfObby, PolDirMü 24b Fase. 17 Nr. 102. 88 StAfObby, R A Fase. 3785 Nr. 16808; AStAM MInn 66283 und 66284. 89 Ericb Gollenberg, Als Rotarmist vor München, Berlin 1929, S. 28. 40 Rüdt führte in einer von Koch einberufenen Versammlung am 19. November 1907 aus: „ E r trage nicht die größte Schuld an dieser Versammlung. Vor 8 Tagen sei ein Delegierter der Arbeiterpartei zu ihm gekommen. Seit 3 1 / 2 Jahren sei er leider erkrankt.... Als er aberhörte, daß eine große Zahl von Arbeitern den Vortrag wünsche, hätte er es für eine Feigheit gehalten, wenn er zurückgetreten wäre." (StAfObby, PolDirMü 24a I Fase. 59 Nr. 28). 1909 hielt Rüdt auch in den Sektionen .Schwabing Ost' und,West* des Sozialdemokratischen Vereins Vorträge (a.a.O.). 1910 referierte im Verein .Darwin' der Sozialdemokrat Adolf Hoffmann aus Berlin, der 1918/19 durch seine Politik der Trennung von Kirche und Staat notorisch wurde (AStAM, MInn 73 551). 41 StAP, wie oben, Tit. 95 Sekt. 6 Lit. B Nr. 5 = 15655. 42 StAfObby, PolDirMü 24a I Fase. 59 Nr. 28. 48 F. O. [ = der Anarchist Fritz Oerter], Kultur (a.a.O. I, 3); Die Notwendigkeit des Anarchismus (a.a.O. I, 8). 44 StAfObby, PolDirMü 24b Fase. 17 Nr. 102. 45 Über den Streik: StAfObby, PolDirMü 24b Fase. 14 Nr. 27. Siehe auch die nachträgliche Beurteilung durch den damaligen Obmann der Lohnkommission, Dietrich Kuhlmann, auf einer
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öffentlichen Zimmererversammlung am 23. Junii>••• was will einer mehr, der sein Werk noch gar nicht begonnen hat und immer noch in der Vorbereitung istl Ob es aber über diese Vorbereitung hinausgeht, ob ich ans Werk komme, ist unsicher." 91 Vgl. etwa Mühsams Verständnis der Revolution als einer geistigen Erneuerung oder den Brief an Knief v. 1. Dezember 1918: Er ist hier gegen eine Überbetonung des Proletariats, dieses solle sich vielmehr selbst überwinden; er erwartet von der Revolution nicht nur „materielle Vorteile", sondern einen „erhöhten Kulturstand"; er will schließlich die Gewalt nur als ultima ratio gelten lassen. 92 Organisationsfragen, SOZ I, 10 v. I. Juli 1909. 93 Ab., Vom freien Arbeitertag, SOZ IQ, 19 v. 1. Oktober 1911. 94 SOZ HI, 22 v. 15. November 1 9 1 1 . Vgl. auch den Schlußteil der für den .Freien Arbeitertag' werbenden Flugschrift ,Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes. Fragen an die deutschen Arbeiter' (in Auszügen SOZ IV, 19 v. 1. Oktober 1912, vollständig in G. Landauer, Rechenschaft, Berlin 1919, S. 39-57): „Bisher war immer zwischen den Arbeitern und ihrem Ziel etwas anderes eingeschoben, war's eine Partei oder eine Gewerkschaft oder ein Reichstag. ..." Anders soll es beim Arbeitertag sein: „Da sind Arbeiter, wie sie in der Werkstatt, in der Fabrik, auf dem Bauplatz beisammen sind. So sollen sie sich besprechen, sollen ihre Einigkeit feststellen, die ganz ohne Zweifel vorhanden ist, sollen alle Erfordernisse des Plans erwägen, ganz bestimmte, ins Einzelne gehende Fragen beantworten, sollen einander erst von Gruppe zu Gruppe, dann von Branche zu Branche, dann von Ort zu Ort Boten senden, bis die Klarheit so scharf und bestimmt hergestellt ist, daß in allen Provinzen an einem und dem nämlichen Tag in großen Versammlungen der Beauftragten festgestellt wird, ob im gegebenen Fall die große Aufkündigung [der Arbeit] erfolgen soll" (in der Fassung des SOZ). Als historische Parallele zu diesem System ist erneut die Gliederung der Distrikte und Sektionen von Paris während der Revolution genannt (G. Landauer, Rechenschaft, S. 56). 96
xyz, Die preußischen Wahlen, SOZ V, 10 v. 25. Mai 1913. G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 300. 97 A.a.O. H, S. 301; Verh. d. ProvNatRats, S. 107fr. 98 G.Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 315f. Identisch präzisierte Landauer seine Gegnerschaft zum Parlamentarismus vor dem bayerischen Arbeiterrat (Sten. Ber. bayer. A.-Räte S. 187): „Ich bin nicht unpraktisch, ich meine nicht, daß das Volk in Massen immer alles selber erledigen kann, ich bin durchaus, wie sich das von selbst versteht, fürs Delegationswesen; aber ich bin nicht für das Vertretersystem in dem Sinne, daß das Volk abdankt, nachdem es seine Vertreter gewählt hat. Ich bin dafür, daß die, die das Mandat bekommen, und die, die das Mandat erteilt haben, in dauernder Verbindung bleiben müssen. Ich bin dafür, daß das Mandat erteilt wird zu bestimmten Gesetzesvorlagen, die dem Volk vorher bekannt sein müssen. Ich bin dafür, daß, wenn die entsandten Delegierten etwas tun, was gegen das Interesse und gegen den Wunsch derer ist, die sie entsandt haben, sie sofort zurückgezogen und durch andere ersetzt werden können. Ich bin dafür, daß Geistige und Volk miteinander in einer Körperschaft arbeiten, ich bin dafür, daß nicht die Wähler einen Vertreter wählen und sich dann zurückziehen, sondern daß die Versammlung derer, die Aufträge erteilen, dauernd beisammen sind und die Geschicke des Volkes beraten. Ich bin für das korporative System, ich bin auf deutsch gesagt und kurz in unserer Sprache gesagt, für das System der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte." Ferner: Die vereinigten Republiken Deutschlands, S. 3 f. 96
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StenBer ABSRäte S. 71 ff. und 177 ff.
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A.a.O. S. 183. Landauer führte vor dem bayerischen Arbeiterrat aus (StenBer Verh ARäte, S. 135): Die Behauptung, die Räte seien nach russischem Muster in Deutschland eingeführt worden, sei wahr und wieder nicht wahr; auch in den permanent tagenden Sektionen der Französischen Revolution seien Räte zu sehen. Es sei überhaupt eine typische Revolutionsform, „daß nach der Herrschaft der Privilegien sich die arbeitenden Mächte und Elemente des Volkes wie von selbst organisiert und ihre Geschicke in die eigene Hand genommen haben". Rätesystem und Bolschewismus in Rußland seien nicht identisch. Die Herrschaft der Bolschewiki in Rußland sei vorübergehender Natur; das System der Räte werde dort aber bleiben. In seiner Schrift .Die vereinigten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung' nannte er als weiteres historisches Vorbild die „Gemeinde- und Landesversammlungen der mittelalterlichen Verfassungen, Norwegens und der Schweiz" (S. 3). Mühsam führte in F A N A L 1 , 1 1 v. August 1927 in Anlehnung an Max Nettlau {Max Nettlau, Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880, Berlin 1927, S. i32f.) das Rätesystem auf den belgischen Anarchisten Hins (1869) zurück. 102 Erich Mühsam, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat .Was ist kommunistischer Anarchismus? (FANAL-Sonderheft), Berlin 1933. 103 A.a.O.: aus dem Vorwort; das Rätewesen selbst dargestellt S. 40ff. 104 F A N A L 1 , 4 v. Januar 1927. 106 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 295 f. 106 Bayern, F A N A L 1 , 4 v. Januar 1927. 107 E. Mühsam, Von Eisner bis Levini, S. 16. 108 A.a.O. S. 24. 109 A.a.O. S. 46 und StenBer ABSRäte, S. 179. 110 Aufruf Mühsams .Proletarier aller Länder, vereinigt Euch*. In: MNN, Jg. 72, Nr. 160 v. 8. April 1919, S. 2. 111 Die preußischen Wahlen, SOZ V, 10 v. 25. Mai 1913; Der europäische Krieg, SOZ VI, 13 v. 10. August 1914. 112 gl. [Gustav Landauer], Preußen, SOZ II, 4 v. 15. Februar 1910: „ 1 . Jeder erwachsene Mann und jede erwachsene Frau ist selbständig in den eigenen Angelegenheiten. 2. Die Gemeinde erkennt an, welches die eigenen, unanriihrbaren Angelegenheiten des Einzelnen in dieser Gemeinschaft sind. 3. Jede Gemeinde ordnet ihre eigenen Angelegenheiten selbständig. 4. Die Träger der Gemeindepolitik sind die permanent tagenden Berufsverbände, die zeitweilig in Gesamtheit zu allgemeinen Volksversammlungen zusammentreten. Diese Gemeindeversammlungen ernennen Beauftragte zu selbständigem Handeln im Dienste der Gemeinde und ersetzen sie auf Grund souveräner Beschlüsse durch andere. 5. In den Angelegenheiten der Gemeinschaft zwischen den Gemeinden treten die Gemeinden zu Kreisverbänden, Provinzen und Landtagen zusammen. 6. Die Abgeordneten zu diesen Tagungen haben lediglich den Willen der Gemeinden auszuführen. Sie haben imperatives Mandat, stehen unter der ständigen Kontrolle der Gemeinde und können jederzeit abberufen und durch andere ersetzt werden. 7. Zum Vollzug der Anordnungen, die durch diese Verbände im Interesse der engeren und weiteren Gemeinschaften getroffen werden, werden Amtsleute ernannt, die dem Volk, das ihnen den Auftrag gegeben hat, verantwortlich sind. 8. Die Gemeinden und die engeren und weiteren Gemeinschaften setzen jeweils die Art fest, wie ihre Beschlüsse zu Stande kommen sollen. 9. Es bleibt der Entscheidung der Gemeinden überlassen, ob sie an den Beschlüssen und Betätigungen der engeren und weiteren Gemeinschaften teilnehmen wollen oder nicht. 10. Es gibt keine öffentlichen Gewalten, als die von den Gemeinden eingesetzten und anerkannten." 113 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 143. 101
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A.a.O. II, S. 298. A.a.O. II, S. 295f., 299, 301 f., 510. 116 Kurt Eisner, Die neue Zeit. München 1919, S. 22f., S. 60, S. 96. 117 A.a.O. S. 23. 118 A.a.O. S. 47f., S. 57, S. 88, S. 97. 119 A.a.O. S. 53 und 98. 120 A.a.O. II, S. 364. 121 S. 3. m G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 303. 128 G. Landauer, Die vereinigten Republiken Deutschlands, S. 3; G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 300, 302, 305-310, 314, 337f. 124 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 323 f. 126 A.a.O. n, S. 338. 126 Etwa a.a.O. II, S. 302. 125 G. Landauer, Die vereinigten Republiken Deutschlands, S. 3. 128 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 377. Frantz bringt Landauer auch mit dem Rätesystem in Zusammenhang, indem er auf dessen Kritik am bisherigen Wahlsystem hinweist: Verh d. ProvNatRats, S. 110. 129 G. Landauer, Die vereinigten Republiken Deutschlands S. 4. Ähnlich Verh d. ProvNatRats, S. 111. Auch die Völkerbunds-Konzeption Landauers stammte bereits aus der Kriegszeit. Datiert v. Weihnachten 1916 hatte er nämlich einen Brief an Woodrow Wilson gerichtet (abgedruckt in: G. Landauer, Rechenschaft, S. 199-205), in dem er vorschlug, ein „internationaler Staatenkongreß" solle das Rüstungswesen und die Überwachung der Verfassung der einzelnen Staaten auf ihre demokratische Grundlage hin „als gemeinsame Sache aller Völker unter seine Jurisdiktion bringen" (a.a.O. S. 202). 130 So Mühsam in: StenBer ABSRäte, S. 178. 131 SOZ IV, 23 v. 1. Dezember 1912. 132 KAIN I, 9 v. Dezember 1911, S. 137; II, 1 v. April 1912, S. 3 und 7; III, 3 v. Juni 1913, S. 46. 133 KAIN II, 1 v. April 1912, S. 6; vgl. auch 1,5 v. August 1911, S. 79: „Revolutionen kennen keine Toleranz". 134 Emst Niekisch, Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln-Berlin 1958, S. 72. Im Tagebuch von Eisners Sekretär Fechenbach (LCW, Rehse-Collection, Gant. 421) werden unter dem 7. April 1919 Demonstrationen von Studenten und Offizieren gegen die Räterepublik vor dem Wittelsbacher Palais erwähnt. - Die Legende von „Landauer, der bis zum Ende an der Gewaltlosigkeit festhielt", findet sich jetzt wieder in Hein^-Joacbim Heydorns Einleitung zu G. Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Frankfurt a.M. 1967, S. 46. 135 So wird von Kurt Sontheimers Rolle beim Vorstoß der Münchner Roten Armee am 15. April 1919 gegen Dachau berichtet: „Der alte tapfere Sontheimer ist wieder dabei. Er, der Nichtsoldat, dem bis zu seiner Ermordung die Geheimnisse des Zielens ein Buch mit sieben Siegeln geblieben sind, trägt die Knarre in der Faust und hat ein halb dutzend Patronengurte um die Schulter gehängt. Unentwegt feuert er die Arbeiter an." (Erich Wollenberg, Als Rotarmist vor München, S. 28). 136 StenBer ABSRäte, S. 135. 137 GStAM, MA 99910. 138 DAKB, NL Mühsam III 5342. 139 E. Mühsam, Anarchismus und Revolution. In: Die Aktion X, 43/44 (1920), Sp. 6oof. Das Problem Gewalt - Gewaltlosigkeit behandelte Mühsam auch in seinem Drama ,Judas' (geschrieben April 1920, Berlin2 1924) in den Hauptfiguren Raffael Schenk und Mathias Seebald. 140 FANAL II, 5 v. Februar 1929, S. 109. 141 R. Oestreich, Haltet die Waffen bereit!, FA XII, 4 v. Mai 1919. Dieser Artikel war gegen das Referat Rudolf Rockers ,Wie stellen wir uns zur Herstellung von Heeresgerät' (gehalten auf der .Reichskonferenz der deutschen Rüstungsarbeiter' v. 18.-21. März 1919; Bericht FA XU, 1 v. April 1919) gerichtet. Rocker entwortete Oestreich mit ,Die Waffe der Kritik und die Kritik der Waffen', FA XII, 7 v. Juli 1919; Oestreichs .Erwiderung' FA XII, 8 v. Juli 1919. 114
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142 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 349, 368, 576, 399, 4o8f. Bestätigt durch E. Mühsam, Gustav Landauer. In: Das Forum, hrsg. v. Wilhelm Herzog, IV, 7 v. April 1920, S-JJif143 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 338, 344, 349, 370, 377, 4iof. 144 Th. Christen, Aus den Münchner Revolutionstagen. Zürich 1919, S. 14. 145 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 296 Anm. 1. 146 A.a.O. n , S. 332 und 335. 147 E. Niekisch, a.a.O. S. 68f. 148 G. Landauer, a.a.O. II, S. 304. 149 G. Landauer, a.a.O. II, S. 290. 160 StenBer ABSRäte, S. 137^; G. Landauer, a.a.O. II, S. 289 und 35if.; G. Landauer, Eine Ansprache an die Dichter. In: Die Erhebung, Berlin 1919, S. 296fr., im Auszug abgedruckt bei Paul Raabe (Hrsg.), Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923 (Sonderausstellungen des SchillerNationalmuseums Marbach, Katalog Nr. 7), S. 244f. 161 StenBer ABSRäte, S. 134; der Inhalt der Vorschläge Zusammengefaßt: G.Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 366 Anm. 1. 162 StenBer ABSRäte, S. 143 und 190. 168 DAKB, N L Mühsam HI 5341. Der Antrag ist datiert v. 23. Februar 1919. Siehe auch Text zu Anm. 138). 164 Die Universität München während der dritten Revolution 5. April bis 1. Mai 1919, o.O. und o.J., S. 16. 165 A.a.O. S. 14. 166 Dieses wichtigste Zeugnis Landauers während seiner Zeit als Volksbeauftragter in: G. Landauer, a.a.O. II, S. 415f. 167 Vollmacht v. 6. oder 7. April 1919: Die Universität München... S. 16; Vollmacht v. 9. April 1919: a.a.O. S. 14 Beilage I X ; Vollmacht v. 10. oder 11. April 1919: a.a.O. S. 16; Vollmacht v. 12. April 1919: a.a.O. S. 19 Beilage XVHIa. 168 A.a.O. S. 15. 159 MNN, Jg. 72, Nr. 161 v. 9. April 1919, S. 2; das Programm a.a.O. Nr. 165 v. 1 1 . April 1919, S. 3. 180 MP, Jg. 33, Nr. 84 v. 10. April 1919, S. 5 und a.a.O. Nr. 86 v. 12./13. April 1919, S. 1. 1,1 Nach MP, Jg. 33, Nr. 83 v. 9. April 1919 existierte ein »Volksbeauftragter für die Technische Hochschule von der sozialistischen Republik Bayern' namens Beck. 182 E. Mühsam, Von Eisner bis Levin6, S. 60. 163 Der sprechendste Beweis sind die wiederholten Vollmachten Landauers für den .Revolutionären Hochschulrat'. 184 LCW, Rehse - Collection, Cont. 421. 188 G. Landauer, a.a.O. II, S. 352 Anm. 1. 188 A.a.O. H, S. 290. 187 MNN, Jg. 72, Nr. 164 v. 10. April 1919. 188 G. Landauer, a.a.O. II, S. 298, auch ebda Anm. 1. In Verh. d. ProvNatRats, S. 199 spricht sich Landauer auf Grund der konterrevolutionären Einstellung der Presse gegen die „sogenannte Preßfreiheit" aus. 188 MNN Jg. 72, Nr. 161 v. 9. April 1919. Für Landauers Einflußnahme auf die Presse spricht auch die Veröffentlichung eines Artikels .Stimmen' von Ludwig Berndl durch Landauer (a.a.O. Nr. 160 v. 8. April 1919) und der auszugsweise Abdruck von Landauers Flugschrift ,An die vereinigten Republiken Deutschlands..." (a.a.O. Nr. 167 v. 12. April 1919). 170 G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 415. 171 Fidelis, Gustav Landauers Kulturprogramm. In: Das Forum, hrsg. v. Wilhelm Herzog IV, 8 v. Mai 1920, S. 577-599. Einzelheiten des Programms erübrigen sich hier, weil der Mitautor sicher stark Landauers Konzeption in kommunistischem Sinne abänderte und staatliche Lenkung und Konformität Landauers gegensätzlichem Programm aufzwängte.
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G. Landauer, a.a.O. II, S. 420f. Fidelis, a.a.O. S. 599. 174 Siehe zu diesem Gegensatz: E. Mühsam, Gustav Landauer. In: Das Forum IV, 7 v. April 1920, S. 53if.: „Ich will hier nicht verschweigen, daß in dieser Zeit... eine gewisse Gegensätzlichkeit in der Erfassung der Situation zwischen ihm und mir bemerkbar wurde. Landauer sah mit dem Zusammenbruch des alten Staates und der Labilität des neuen Zustandes schon die Möglichkeit gegeben, sofort mit dem Aufbau ... Zu beginnen.... Mir lag der destruktive Teil, den ich noch zu leisten sah, näher, und ich kann den Gegensatz zwischen uns nicht besser klar machen, als ich es in einem der letzten Gespräche mit ihm tat. ,Ich erkenne jetzt deutlich die innere Verschiedenheit zwischen Proudhon und Bakunin an uns beiden. Dich führt die Revolution immer stärker zu Proudhon hin, mich zu Bakunin'. Landauer gab mit recht." 175 Die These von der Beteiligung zahlreicher Anarchisten an der Münchner Revolution hält sich allen Tatsachen zum Trotz auch noch in der neuesten Literatur, etwa bei Raatjes, The Role of Communism during the Munich Revolutionary Period, November 1918 - May 1919. Diss. RooseveltUniversity 1952 (Masch, sehr.), S. 50. Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919, Düsseldorf 1962, S. 337^ vermutet diese Anarchisten gerade in der V.R.I. 176 LCW, Rehse-Collection Cont. 422. Vgl. auch KAIN V, 1 v. 10. Dezember 1918: „Am 30. November haben sich eine Anzahl Revolutionäre zusammengeschlossen, die gewillt sind, die gegenwärtige Umwälzung bis zur Verwirklichung des Sozialismus auf internationaler Grundlage durchzuführen; sie stellen sich nicht in Gegensatz zur Spartakuspartei oder zu den Bremer Linksradikalen, sondern wollen allen kommunistisch-sozialistisch gesinnten Revolutionären Gelegenheit geben, ohne Rücksicht auf akademische Programmlehren miteinander in Verbindung zu treten. Die einigende Formel heißt: Weltrevolution und Verwirklichung der konzessionslosen sozialistisch-kommunistischen Internationale." - Mühsam, Von Eisner bis Levini, S. 15 berichtet, die Volkstümlichkeit der .Vereinigung* sei vor allem gegründet gewesen „in dem von mir als Prinzip aufgestellten Verzicht auf parteimäßige Konstituierung. Ich pflege den Arbeitern zu sagen: Klebt Marken, wo ihr wollt und soviel ihr wollt, oder laßt es auch bleiben. Wir wollen hier keinen Zank um Organisationsfragen. Die V.R.I. will alle sammeln, die mit dem Wunsch, die Revolution zum Kommunismus vorzutreiben, erfahren wollen, was das revolutionäre Proletariat dazu zu tun hat. Werbt für unsere Ideen in eurer Partei, in eurer Gewerkschaft, in eurem Betrieb, in eurem Privatkreis." 173
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Abgedruckt K A I N V, 1 v. 10. Dezember 1918 und E. Mtibsam, Von Eisner bis Levind, S. 14. Als Programm schon im Brief an Knief. 179 Durch eine Rede Mühsams „gegen die Gemeinheit und Prostitution der Presse" eingeleitet (Mühsam, Von Eisner bis Levine, S. 15); als Urheber von der Polizei (StAfObby, StwMü I, Nr. 2131/ III) auch das Mitglied der V.R.I. Ferdinand Mairgünther verdächtigt. 180 Siehe auch: Kurt Eisner, Die neue Zeit. Zweite Folge. München 1919, S. 43f. 181 Vgl. Brief des Kommunisten Hans Kain an Karl Römer v. 16. Juli 1919 (StAfObby StwMü I, Nr. 1949): „Dann kam unsere Vereinigung mit den internationalen Kommunisten [ = V.R.I. nach Anschluß an I.K.D.] ... Das war der ganze Fraß der politisch indifferenten Massen, welche noch nie einer Klassenorganisation angehörten. Es fehlte ihnen jede politische Klassendisziplin, jede sozialistische Schule...." Mitglieder der V.R.I. waren u.a.: der Installateur Ferdinand Mairgünther (geb. 1895, U.S.P.D.-Mitglied), die Sekretärin Hildegard Kramer (geb. 1890), der Liftjunge bzw. Kellner Josef Merl (geb. 1897), der Kaufmann Friedrich Albert Fister (geb. 1889); ferner der Kunstmaler Walter Wenz, der Ingenieur Viktor Baumann und der Architekt Hermann Pessat. Für Informationen und Materialhinweise über die V.R.I. bin ich William L. Bischoff/Cambridge,. Mass. zu Dank verpflichtet. 182 Material über die Verhandlungen der Vertreter der V.R.I. auf der Reichskonferenz der I.K.D. Mitte Dezember 1918 und den vollzogenen Anschluß: StAfObby, StwMü I, Nr. 2119,2131/1 und III, 2476 und 2677. 183 Material über die Teilnahme der Vertreter der V.R.I. an dem Berliner Vereinigungskongreß Jahreswende 1918/19 und der endgültigen Verschmelzung von V . R . I . und Münchner K.P.D.Gruppe Anfang Februar 1919: StAObby, StwMü I Nr. 1949, 2119, 2131/HI, 2476. 178
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E. Mühsam, Von Eisner bis Levini, S. 16. G. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen II, S. 291, }}6f., 359, 363, 370, 377 und 394; er entschuldigte lediglich die fehlgeleiteten Anhänger des Spartakusbundes: a.a.O. n , S. 336, 355, 360 Anm. 1. Nach H.BiUber, Werke und Tage. München 1953, S. 398 begründete Landauer seinen Entschluß, nach München zu gehen, mit den Worten: „Aber ich kann nicht zusehen, wie das Volk von der Reaktion auf der einen und vom Spartakusbund auf der anderen Seite zerrieben wird. Der Geist muß siegen." Und Mühsam schreibt: „Landauer, mit dem ich sonst in fast allen Dingen einig ging, stand der Kommunistischen Partei ganz anders gegenüber als ich. Ihn verband nicht mit ihr die lange gemeinsame Arbeit, und er glaubte nicht, daß hinter der Partei wirklich starke Schichten des revolutionären Proletariats ständen." (Mühsam, a.a.O. S. 57). Vgl. auch Peter Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903-1910, Berlin 1967, S. 276-279. 186 Mühsam wurde von der K.P.D. etwa als auswärtiger Redner eingesetzt: Mühsam, Von Eisner bis LevinÄ, S. 17. In StAOB, Staatsanwaltschaft München I Nr. 2131/II eine Ankündigung der K.P. Mannheim über eine Versammlung Mühsams am 21. Februar 1919 m Mannheim über ,Am Vorabend der Weltrevolution'. 187 Er war an der Kontaktnahme der 1. Räterepublik mit Rußland und Ungarn beteiligt, der Verkehr mit Moskau scheint aber weitgehend über seinen Kopf geführt worden zu sein; vgl. E. Mühsam, Lenin und die .Scheinräterepublik'. In: Die Weltbühne X X V H I (1), 18 v. 3. Mai 1932, S. 68iff. mit Telegramm-Material bei Neubauer, a.a.O. S. 56ff. 188 Niekiscb, a.a.O. S. 67f. Bei einem geplanten Putsch in München im Frühjahr/Sommer 1920 stand auf der Mitgliederliste der neuen Räteregierung Mühsam für Justiz und Äußeres, seine Frau für Flüchtlingswesen (Liste, Mitte April bei einem Gefangenen in Niederschönenfeld gefunden: LCW, Rehse-Archiv, Cont. 420). Die Verbindung zwischen Münchner Putschistenkreisen und den politischen Gefangenen in Niederschönenfeld im Juni bestätigt durch AStAM, MInn 66282. 188 „Wir mußten bis zur letzten Stunde annehmen, daß sie [ = die Münchner K.P.D.-Ortsgruppe] durchaus mit uns einverstanden war; ihre Weigerung kam erst, als es für uns kein zurück mehr gab. Hätte ich am 4. April nachmittags eine Ahnung gehabt, daß die Partei nicht mittun würde, dann hätte ich den .Revolutionären Arbeiterrat' mit Leichtigkeit von der Mitwirkung [an der 1. Räterepublik] abbringen können, und alles wäre anders gekommen...." (DAKB, NLAndersen-Nexö: Brief Mühsams an Andersen-Nexö v. 23. Juni 1920). 1,0 E. Mühsam, Von Eisner bis Levini, S. 56ff. E. Mühsam, In eigner Sache. In: MNN, Jg. 72, Nr. 165 v. 1 1 . April 1919; ferner Erklärung v. 9. April 1919 in: K A I N V, 9 v. 25. April 1919 und E. Mühsam, Von Eisner bis Levini, S. 62 f. m Schon gegenüber den bei der Abendsitzung am 4. April 1919 im Kriegsministerium erschienenen Kommunisten argumentierte er bezüglich der M.S.P.D.: Es gehe ihm „nicht um die Führer, sondern vor allem um die Einigung der Massen und Uberwindung der Parteien über die Köpfe der Führer hinweg" (Protokoll eines Mühsam-Verhörs v. 2 3. April 1919 in StAfObby, StwMü I Nr. 213 i/I.) Den Gedanken der Auflösung der alten Parteien und der Schaffung einer revolutionären Einheitspartei, die ja schon in der V.R.I. vorgeprägt war, äußerte Mühsam in einem Plakatentwurf, der vermutlich in die Zeit der Proklamation der Räterepublik fällt: „An die Bevölkerung Bayerns. Bevor leidige Parteistreitigkeiten zu unerträglicher Erbitterung und zum Bürgerkrieg führen, haben sich die revolutionären Sozialisten aller Richtungen in der Überzeugung geeinigt, daß der Zwang der Ereignisse, der Wille des Volkes und das Glück der Menschen die Errichtung der Räterepublik und die Durchfuhrung des Sozialismus verlangt. Die Parteien haben aufgehört zu existieren. Es gibt nur noch eine einzige Sozialistisch-Kommunistische Partei." (A.a.O. Nr. 2131/II). In einem weiteren Entwurf forderte er: „Die Einigung der Volksmassen wird an den Parteiansprüchen nicht scheitern. Wir fordern die Proletarier Bayerns auf, sich dem Beispiel der ungarischen Genossen... [unleserlich] der einzigen revolutionär-sozialistischen Partei der Räterepublik anzuschließen, zumal die Forderungen der Kommunistischen Partei in der Neuordnung der Gesellschaft in Bayern ausnahmslos erfüllt werden." (A.a.O.). 185
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SCHNEIDER
Die russische Studentenkolonie und das Echo des revolutionären Rußland in München vor 1914 I Die Unvermitteltheit, mit welcher die bayerische Revolution von 1918 über eine anscheinend gefestigte monarchische Gesellschaft hereinbrach, stellt die Forschung vor die Aufgabe zu zeigen, inwieweit auch dieses Ereignis in die Kontinuität eines geschichtlichen Prozesses eingebettet ist und nicht isoliert von anderen Erscheinungen der neueren bayerischen Geschichte betrachtet werden kann.1 Es soll hier versucht werden, einige Aspekte zum Verständnis des Sozialrevolutionären Klimas in München herauszuarbeiten. Welche Ansätze für eine Radikalisierung lassen sich schon vor dem Ausbruch des x. Weltkrieges nachweisen? Inwieweit trägt die gesellschaftliche Struktur Münchens zu einer Radikalisierung der Bevölkerung bei ? Welche Bedeutung kommt den berühmten land- und volksfremden Elementen zu, denen man die Revolution in die Schuhe schob ? 2 Welche Rolle spielt die Intelligenz ? Die Fragen müssen gestellt werden, selbst auf die Gefahr hin, daß viele nur sehr unzureichend beantwortet werden können; man begibt sich auf nur schwer zugängliches Neuland. München bot um die Jahrhundertwende in gesellschaftlicher Hinsicht ein sehr vielfaltiges Bild, in dem das „Klüngel- und Cliquenwesen" reich entfaltet war. 3 So schildert uns der bekannte Literat und Anarchist Erich Mühsam die Münchner Verhältnisse. Aber anders als in Wien, so betont er, gab es in München keine unübersteigbaren Abgrenzungen. Alle Zentren des geistigen Lebens strahlten in benachbarte und verwandte Zirkel aus und waren untereinander vielfältig verknüpft. Es entstand so ein Netz zahlreicher persönlicher Verbindungen und Interessenverwebungen, das, „die Selbständigkeit von Wirkungsart und Daseinszweck jedes Zusammenschlusses wahrend, dennoch die Gemeinsamkeit all derer, die das Vorkriegsmünchen trotz Grillparzer mehr als Wien zum Capua der Geister machten, zu schöner Geltung brachte." Die Ausnahmestellung, welche München in der Vorkriegszeit in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht unter den deutschen Städten einnahm,
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war mit dem Stadtteil, bzw. „Zustand" Schwabing aufs engste verknüpft. Schwabing war nicht nur das fortschrittliche geistige Zentrum Münchens, es war „der Vorort einer neuen Welt". 4 E s hatte internationale Anziehungskraft. Auch hier spielte das gesellschaftliche Leben sich in den verschiedensten Kreisen ab, die sich gegenseitig über- und durchkreuzten, „wie die Wellenkreise auf einer durch Steinwurf aufgeregten Wasseroberfläche, und in denen Juden und Jüdinnen, Russen und Russinnen stets das fanatisierende, die Amerikaner das abwartende, seltene Engländer das gleichgültige Element waren. In allen diesen Kreisen wirkte man an kühnen Brückenbauten, die den Abgrund, in dem die technisch-materialistische, kapitalistisch-militaristische, kultur- und kunstfremde Welt das damalige Europa versinken sah, überspannen und die Verbindung mit einer aus dem Geistigen heraus schöpferischen, sozial wie kulturell gleich verwandelten Welt herstellen würde." 5 Schwabing war also keineswegs eine unpolitische Erscheinung. Die Ideen, die hier diskutiert und z.T. auch praktiziert wurden, griffen radikal auf soziales und politisches Gebiet über. Wer sich also um ein Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in München vor der Revolution bemüht, wird an Schwabing kaum vorbeigehen können. E r sieht sich vor die Aufgabe gestellt, in einem nahezu unübersehbaren Netz gesellschaftlicher Gruppierungen Akzente zu setzen. Für unsere Fragestellung kommt es darauf an, die relevanten revolutionären Ansätze sichtbar zu machen. II Georg Fuchs hat neben Juden und Jüdinnen auch Russen und Russinnen als fanatisierende Elemente in Schwabing herausgestellt.6 Das damalige München hat auf den gesamten europäischen Osten eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Man hat sogar von einem Beitrag Münchens zur Schaffung einer „staatstragenden Schicht in Südosteuropa" gesprochen.7 München war Treffpunkt der fortschrittlichen Intelligenz. E s soll im folgenden versucht werden, den Einfluß des revolutionären russischen (und damit z.T. auch polnischen und jüdischen) Elements in München sichtbar zu machen, wobei hauptsächlich der Charakter der russischen Studentenkolonie herausgearbeitet werden soll. Schwabing war ja nicht nur die bevorzugte Wohngegend der Künstler und Literaten, sondern gleichzeitig auch das beliebteste Wohnviertel der Studenten. Im Jahre 1910 wohnten in Bayern 4 1 1 6 Russen.8 Fast die Hälfte wohnte in München und davon waren mehr als % (619) Studenten der Münchner Hochschulen. Die Statistik von 1896 an zeigt, daß die russische Studenten-
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kolonie von 1902/03 an die österreichische zahlenmäßig übertrifft und somit bis zum Jahre 1914 die stärkste ausländische Studentenschaft in München stellt.9 Mit Ausbruch des Weltkrieges geht die Zahl der ausländischen Studenten - und damit auch die der russischen Studenten - aus naheliegenden Gründen stark zurück.10 Für die Münchner Polizeibehörden waren die russischen Studenten gefährlich genug, um regelmäßig überwacht zu werden. Es liegen uns drei ausführliche Berichte des Polizeikommissars Göhler vor aus den Jahren 1894, 1899 und 1911. 11 Daneben stehen uns als Quelle Akten über die verschiedenen ausländischen Vereine zur Verfugung mit Versammlungsberichten, Mitgliederverzeichnissen und Vereinssatzungen. Es lag offenbar nicht nur an den Studienverhältnissen, daß sich die Russen so zahlreich in München einfanden.13 Auch das politische Klima war ein entscheidender Faktor. Das Vorkriegsmünchen scheint sich im Gegensatz zum München der zwanziger Jahre in einer gewissen Rivalität von Berlin abgesetzt zu haben.13 München gab sich liberaler, demokratischer und weniger kommerziell. Diejenigen Studenten, die aus politischen Gründen das Zarenreich verlassen mußten - ihre Zahl war nicht gering - wollten meist nicht direkt an den russischen Grenzpfählen wohnen. München war aus diesem Grunde geeigneter als Berlin oder Leipzig. Wenn Göhler in seinem Bericht von 1894 den Russen eine große Zurückhaltung bei Gesprächen über die politischen Verhältnisse ihres Vaterlandes bestätigt - die Polen wären in dieser Hinsicht weit gesprächiger und leidenschaftlicher - läßt er keinen Zweifel an der politischen Gesinnung dieser Emigrantengruppe.14 Sie alle seien wenigstens in der Theorie Anhänger des Nihilismus,16 so betont er. Dies schließt er im wesentlichen aus Informationen von verschiedenen Russen und Polen über deren Studienzeit an russischen Mittelschulen und Universitäten. Es gäbe in der Tat bei keinem der von ihm besuchten Studenten das Bestreben, ihre Sympathien für die nihilistischen Lehren abzuleugnen, sobald er auf die nihilistischen Umtriebe in Rußland und in der Schweiz zu sprechen käme." Im Gegenteil scheint bei den Russen und Polen das Bestreben vorzuherrschen, in möglichst grellen Farben von der niedrigen Gesinnung und Brutalität russischer Beamter und von der Willkür und Grausamkeit der russischen Polizei zu erzählen. Gewöhnlich tragen sie dabei eine derartige Wut und sittliche Entrüstung zur Schau, daß ihre Zuhörer dem Eindruck dieser Gefuhlsausbrüche nicht widerstehen können." Göhler stellt fest, Erzählungen über den Terror des Zarismus fänden besondere Verbreitung unter Studenten und Künstlern in München. Aber nicht nur diese Bevölkerungsgruppen sind es, bei welchen die Russen auf große
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Sympathie stoßen, auch in der übrigen Bevölkerung Münchens beobachtet der Komissar „mehr Wohlwollen als Abneigung gegen nihilistische Bestrebungen, soweit sie gegen Rußland sich richten."16 Es ist bezeichnend, daß er den ihm bekannten Mietgebern russischer Studenten die Verläßlichkeit abspricht, um von ihm ins Vertrauen gezogen zu werden. Göhler glaubt jedoch, die politischen Bestrebungen dieser Studenten richteten sich in erster Linie auf die Verhältnisse ihres Heimatlandes. Es sei deshalb eine Bedrohung „der russischen und sonstigen Staatseinrichtungen" nicht zu befürchten.17 Die russischen Studenten entwickelten in München eine rege Vereinstätigkeit. Göhlers Bericht von 1894 kennt bereits vier studentische Organisationen: den Akademischen Slawischen Gesangsverein, den Polnischen Lesezirkel, die Russische Studentenkasse und den Russischen Leseverein. Beim Besuch des letzteren fallen dem Polizeibeamten an der Wand die Bilder Turgenjews und Tolstois auf und unter den herumliegenden Zeitschriften das sozialdemokratische Blatt „Vorwärts". 18 1898 erwähnt Göhler neben dem bereits angeführten Russischen Leseverein und der Russischen Studentenkasse auch das inzwischen gegründete Studentenkasino (später -küche). Die drei russischen Studentenvereine waren jetzt in einem Hause, in der Görresstraße 7/I, untergebracht. Es hatte sich auf diese Weise ein richtiges russisches Studentenzentrum gebildet.19 Im Jahre 1907 wurde erstmals ein russischer Studentenverein von der Münchner Polizei aufgelöst; es handelte sich um die Russische Studentenkasse. Man warf ihr „enge Beziehungen zu den revolutionären russischen Parteien" vor.20 Wegen der gleichen Anschuldigung sollte auch der Russische Leseverein geschlossen werden, welcher der polizeilichen Verfügung jedoch durch Selbstauflösung zuvorkam. Schon bald folgte eine Neugründung unter der Bezeichnung Akademische Russische Lesehalle. Der Verein wurde aber so stark überwacht, daß er sich abermals auflösen mußte. Seine Bibliothek von 2-3000 Bänden, die Räume und das gesamte Inventar übernahm der im Jahre 191 x gegründete Polytechnische Verein Rußland. Seine sog. Bibliotheksabteilung betrachtete die Polizei als nichts anderes als eine „Firmenänderung" der früheren Lesehalle. Die polizeiliche Überwachung wurde dem Polytechnischen Verein mit der Zeit unangenehm; 1912 schied deshalb die Bibliotheksabteilung aus und trug nun die Bezeichnung „Russischer Leseverein", den gleichen Namen wie der Verein, welcher sich unter polizeilichem Druck bereits aufgelöst hatte. Neben diesen Vereinen gab es noch den Russischen Akademischen Club,21 dem auch Körperschaften angehören konnten. Einen Monat nach seiner Gründung umfaßte der Club bereits folgende Organisationen: den Russischen
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Akademischen Nikolai-Pirgow Verein, den Russischen Verein für Kunst und Wissenschaft, den Akademisch-polytechnischen Verein Rußland und die Russische Gesellige Vereinigung. Bis zum Ausbruch des Weltkriegs hatten die Russen ein verhältnismäßig reges und zählebiges Vereinsleben organisiert. Es war der Polizei nicht gelungen, die vielfältige Entfaltung dieser Vereinigungen wesentlich zu beeinträchtigen. Die Vereine hatten meist sehr ähnliche Zielsetzungen. Sie suchten ihre Mitglieder kulturell und wissenschaftlich zu fördern und sie auch finanziell zu unterstützen. Auch in der politischen Gesinnung der Mitglieder dieser Vereine darf man Göhler zufolge eine große Ähnlichkeit annehmen.22 Wie die politische Ideenwelt dieser Russen aussah, veranschaulichen die Bestände der russischen Studentenkasse, Bücher die 1907 der Polizei ausgeliefert werden mußten und z.T. als verloren angegeben wurden. Es handelt sich dabei im wesentlichen um Bücher ökonomischer sozialistischer und gesellschaftskritischer Natur; Bebel, Bakunin, Kropotkin, Lenin, Brake und Akselrod finden sich als Verfasser. Es überrascht nicht, daß die Polizei hinter diesen Organisationen eine revolutionäre, politische Agitation vermutete. Aber sie hatte es sehr schwer, hier einzugreifen, da diese Tätigkeit nur zum geringsten Teil in öffentlichen Zusammenkünften sichtbar wurde. Die intensive politische Arbeit konnte sich nur in privaten Zirkeln entfalten. Für Zentren solcher „Privatclubs" führt der Bericht von 1894 einen gewissen Ladislaus Heinrich und Stanislaus Berent an.23 Ersterer soll sich anfänglich als Anarchist verdächtig gemacht haben und „huldigte offenkundig der negativsten Richtung". Er hatte in Zürich promoviert und sich durch sein autoritäres Auftreten eine dominierende Stellung unter den Studenten geschaffen. Er soll wiederholt im Russischen Leseverein und im Verein Polnischer Studierender Vorträge sozialpolitischen Inhalts gehalten haben. Eine ähnliche Stellung nahm Berent ein. Auch pflegte er Beziehungen zur Schweiz, dem Eldorado europäischer Revolutionäre. Leo Umanski,24 der unter den russischen Studenten eine ähnliche führende Stellung hatte, war in der Schweiz in eine Bombenaffäre verwickelt. Zu dem Kreis um ihn und Berent gehörte auch Karl Leopold Lübeck,26 der Sohn des sozialdemokratischen Schriftstellers Karl Wilhelm Lübeck. Leopold Lübeck „war in russischen und polnischen Kreisen wohl bekannt und unterhielt mit denselben lebhaften Verkehr." 1899 taucht Julius Marchlewski26 in dem Göhlerschen Bericht auf. Er hatte lange Zeit in Paris gelebt und trieb besonders eifrige sozialdemokratische Propaganda unter den Polen. Er stand mit Rosa Luxemburg in Verbindung und hatte aktiv an den internationalen Arbeiterkongressen in Zürich und London teilgenommen.
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Besonders rege war Israel Helphand mit dem Pseudonym Parvus. Er kam am 23. Januar 1899 in München an, nachdem er aus Sachsen wegen seiner schriftstellerischen Tätigkeit für Arbeiterblätter ausgewiesen worden war. Er verkehrte hier in München mit dem bekannten Sozialdemokraten Max Ernst.27 Schon bald beschäftigte sich Helphand auch in München wieder schriftstellerisch.28 Den Revisionismus Vollmars und Bernsteins hat er entschieden verurteilt. Auf einem Parteitag in Dresden (1903) soll ihn Bebel als einen der radikalsten Sozialisten bezeichnet haben. Dieser Zug prägte auch seine Tätigkeit in den russischen Studentenkreisen Münchens. In seinem Besitz fand die Polizei ein hektographiertes, in jüdischem Dialekt verfaßtes Lied, das zum Kampf der Arbeiter gegen die Besitzenden auffordert und nebst anderen Liedern für Veranstaltungen der Studentenvereine bestimmt war. Helphand betrieb in den Jahren 1903/04 in seiner Münchner Wohnung eine geheime Druckerei, in der acht Nummern der revolutionären russischen Zeitung „Iskra", an der auch Lenin mitarbeitete, gefertigt wurden. Helphand war in ganz Deutschland einer der entschiedensten Kämpfer gegen den Zarismus.29 Seit 1914 bezeichnete er sich mit Stolz als deutscher Sozialist. Seine große politische Rolle spielte er vor allem auch während des Weltkriegs, indem er als Verbindungsmann zwischen dem deutschen Auswärtigen Amt in Berlin und den russischen Sozialisten fungierte. Von der deutschen Regierung bekam er in dieser Funktion im März 1915 etwa eine Million Mark zur Unterstützung der revolutionären Bestrebungen in Rußland. Sein Ziel blieb die Revolutionierung ganz Europas. Infolge seines ständigen Lavierens zwischen den verschiedenen Gruppen blieb er jedoch äußerst umstritten. Bei Helphand wird deutlich, daß sich seine politische Tätigkeit nicht auf außerdeutsche Angelegenheiten beschränkt. Auch zu führenden Kreisen in der deutschen Sozialdemokratie sind offenbar Beziehungen vorhanden. Man kann also festhalten, daß viele russische und polnische Studentenvereine nur im Zusammenhang mit den Zielsetzungen politisch aktiver, revolutionär-sozialistisch gesinnter Personen ganz erfaßt werden können. Über diese Personen laufen Kontakte zu russischen und deutschen Sozialisten und politisch ähnlich orientierten Kreisen. Die Münchner Vereine waren nicht isoliert. Es ist der Polizei schließlich auch gelungen, eine internationale Organisation aufzudecken. Einen ersten Einblick erhielt die Polizei erst im Jahre 1905 aus einem beschlagnahmten Brief, obwohl man bereits 1880 Verbindungen der Russen und Slawen mit auswärtigen sozialistischen Organen an „gewissen Korrespondenzen mit auswärtigen Blättern" immer wieder zu erkennen glaubte.30 In dem erwähnten Brief 31 geht es um die Aufteilung von Geldern aus Veranstaltungen. Es wird gefordert, „daß die Hälfte der Reineinnahmen
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der revolutionären Selbstverteidigung der Organisation zufließen solle." Sowohl die örtliche Gruppe „zur Mitwirkung bei der zionistisch-sozialdemokratischen Arbeiterpartei" sowie die „Münchner Gruppe zur Mitwirkung bei der Partei der Revolutionären Sozialisten" verlangen ihren Anteil. Zwischen der Kasse der russischen Studenten und der „Organisation" (jener der „Mehrheit" sowie der „Minderheit" und des „Bundes") war ein Übereinkommen geschlossen worden, im akademischen Jahr zusammen vier Veranstaltungen zu organisieren. Auch mit der Berliner Gruppe „Vorwärts" (Wprydd) wurde eine Zusammenarbeit geplant. Diese Veranstaltungen, meist Lieder- und Vortragsabende, hatten in erster Linie den Zweck, Geld für politische Arbeit zu beschaffen. Auch im sog. „Tomaschewskischen Zirkular" 32 aus dem Jahre 1907 geht es um die Verteilung von Geldern. Es handelt sich bei diesem beschlagnahmten Dokument um einen Aufruf der Münchner Gruppen der R. S.D.R.P. (der Russischen Sozialdemokratischen Revolutionären Partei) an die Münchner Kolonie, die Einnahmen aus den Veranstaltungen der Kasse trotz der Not unter den Studierenden, für den russischen Revolutionskampf bereitzustellen. Als weitere politische Organisationen in München werden neben der R. S.D.R.P. die Studentenkasse (wohl Russische Partei der Sozialrevolutionäre) und der „Bund" (russisches Fremdwort aus dem Deutschen mit der Bedeutung Aufstand, Empörung) aufgeführt. Hinter den harmlosen Studentenvereinen verbergen sich also häufig revolutionäre, politische Organisationen. Die Münchner Emigrantenkasse empfing ihre Korrespondenz über die Akademische Lesehalle mit dem Einsatz E. K . ; es wurden dort sogar täglich Sprechstunden abgehalten, stellt die Polizei in einem Schreiben an das Rektorat der Universität fest.33 Der gesamte Betrieb der Akademischen Lesehalle zeige nicht den Charakter einer studentischen Vereinigung. Außer den ordentlichen Mitgliedern - im SS 1909 waren es 29 seien nahezu ebensoviele außerordentliche Mitglieder vorhanden, „darunter Privatiers, Maler, Photographen, Ingenieure usw." Die Studentenkasse war offenbar eine Art revolutionäres Zentrum geworden; die außerordentlichen Mitglieder passen gut in das Schwabinger Milieu. Jede Person russischer Nationalität verkehrte ungehindert als „Gast". Es zeige der Augenschein, daß sich darunter sehr fragwürdige Personen befänden. Als im Februar 1911 der russische Student Owtschinnikow vor der Polizei erschien, verfugte diese über eine neue, unerwartete Informationsquelle.34 Owtschinnikow war angeblich aus Protest aus der Lesehalle ausgetreten. Er bestätigte den revolutionären Charakter des Russischen Akademischen Vereins für Kunst und Wissenschaft und der Akademischen Lesehalle. Bei den geheimen Versammlungen hätten nur Mitglieder und Eingeweihte Zutritt. Es
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fänden sich auch immer Leute ein, die nicht offizielle Mitglieder seien, aber stets der revolutionären Partei beistimmten. Die Mitgliederverzeichnisse gäben nie den tatsächlichen Stand an. Während im polizeilichen Verzeichnis nur 43 angegeben wären, umfasse die Lesehalle mehr als 130 Personen. Man wechsele häufig den Vorstand, um von der Polizei nicht „für die alten Geschichten" verantwortlich gemacht werden zu können. Owschjnnikows Angaben führten zu einer stärkeren Überwachung der Lesehalle durch die Polizei. Durch Selbstauflösung kam der Verein dem polizeilichen Zugriff zuvor. ni Wurde bisher versucht, den revolutionären Charakter der russischen Studentenorganisationen in München zu beleuchten, so soll jetzt der revolutionäre Einflußbereich im Hinblick auf die Münchner Verhältnisse abgesteckt werden. Es hat sich bereits gezeigt, daß die Bevölkerung Münchens den russischen Emigranten verhältnismäßig gut gesinnt war. Offenbar hatte ein nicht geringer Teil der Bevölkerung, besonders jene, die in Studenten- und Künstlerkreisen verkehrten, im Umgang mit diesen Emigranten entsprechende Vorstellungen von den zaristischen Zuständen gewonnen. In Schwabing gehörten die Slawen so sehr zum gewohnten Umgang, daß man sie mit dem liebevollen Namen „Schlawiner" bezeichnete. Sogar im Witz tauchen sie auf. „Nördlich von München und südlich von Berlin" hörte Richard Seewald: „Wißt ihr schon, unser Freund Iwan ist pervers geworden. Er hat sich gestern ein Taschentuch gekauft." 35 Vom Malschlawiner im Karneval erzählt Karl Arnold: „Hob ich alles versätzt bis auf Nachthemd geh ich immer als griechischer Knabe auf Künstlerfest l" 36 Wie wohl sich die Russen in Schwabing fühlten, zeigt auch eine Geschichte in den SüddeutschenMonatsheften,37 eine Geschichte, die ein Mitarbeiter des Heftes „mit photographischer Treue aufgenommen" hatte, nur die Namen wurden geändert: Der politisch verfolgte Maxim Fiüppowitsch war auf dem Wege nach Paris, als er in München übernachtete. „Komme da abends in eine Bar", erzählt Fiüppowitsch, „unterhalte mich ganz gut, der Champagner kostet nur 11 Mark die Flasche; bei uns in Kineschma kostet er aber i z Rubel, da sage ich mir: Was sollst du weiter reisen? Bleibe in MünchenI" An seinem Namenstag, dem alljährlichen Höhepunkt in Filippowitschs Leben, bewegt er sich in einer sehr bunten Gesellschaft: „Die Braut mit ihren Eltern und einer alten Großmutter, die nur Englisch sprach, dafür aber den russischen Schnaps aus Wassergläsern soff; ein paar russisch-jüdische Studenten, eine russische Kaufmannstochter aus Wjatka, die nach München gekommen war, um Deutsch zu lernen, meine Wenigkeit und schließlich eine Münchner Spießerfamilie
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namens Nudelmayer oder so ähnlich." Obwohl Filippowitsch „selbstverständlich" Antisemit war, verkehrte er mit russischen Juden, wenn er sich auch von der russischen Kolonie etwas zurückhielt, da diese sich hauptsächlich aus Juden zusammensetzte. Kurz vor seiner Abreise kaufte sich Filippowitsch eine oberbayerische Leinenjoppe, um sie später in Kineschma als Zeichen europäischer Bildung zu tragen. Unser Russe hatte also sofort Anschluß in einem Münchner Lokal gefunden, was ihn unter anderem bewog, nicht weiterzureisen. Lokale als Treffpunkte für die verschiedensten Personenkreise gab es in Schwabing genug, den Simpl, die Dichtelei, das Café Luitpold, das Café Stephanie und viele andere. Dem Café Stephanie bezeugt Mühsam38 einen „massenhaften Besuch von Malern, Schriftstellern und Genieanwärtern jeder Art, auch viele ausländische Künstler, Russen, Ungarn und Balkanslawen . . . " Daß die russischen Studenten in einem solchen Milieu sich wohl fühlten, daß sie zu einem nicht unwesentlichen Faktor des gesellschaftlichen Lebens werden konnten, hier sogar Leute fanden, welche Verständnis, wenn nicht gar Begeisterung, zeigten für ihre revolutionären Ideen, dürfte keine überraschende Folgerung sein. Hatten doch die Russen seit der ersten Revolution in ihrem Lande sich den Nimbus erworben, nicht nur zu palavern, sondern zur praktischen revolutionären Tat bereit zu sein; sie besaßen überdies eine Art messianisches Sendungsbewußtsein, ein Faktum, welches alle diejenigen, die das revolutionäre Getue der Sozialdemokraten satt hatten, anziehen mußte. Daß Schwabing einen günstigen Boden für Revolutionäre abgab, dafür dürfte auch die Tatsache sprechen, daß sogar Lenin hier wohnte; in der Wohnung Helphands traf er zum erstenmal Rosa Luxemburg.39 Ein Handbuch für Schwabinger Spaziergänger kommt auf Grund von Adreßbuchstudien dazu, die Kaiserstraße in Schwabing als für Sozialisten und Revolutionäre besonders anziehend zu charakterisieren.40 Man kann also vom gesellschaftlichen Leben her einen gewissen Spielraum für den Einfluß russischer und meist revolutionär gesinnter Emigranten in München sichtbar machen. Vor allem aber zeigt das Echo, welches die erste russische Revolution in der bayerischen Hauptstadt findet, daß es möglich ist, breite Bevölkerungsgruppen zum Protest gegen den Zarismus mobil zu machen. Schon bald nach dem Petersburger Blutsonntag des Jahres 1905 erging an die Münchner Bevölkerving ein Aufruf, 41 sich im großen Saal des Münchner Kindlkellers zu versammeln „zu einer Kundgebung der Sympathie mit den Bestrebungen der vortrefflichen Männer aller Stände, welche ihrem Volk die Freiheit erkämpfen wollen, und zu einer Kundgebung des Abscheus gegenüber den geistigen Vergewaltigungen, die sie erfahren." Die Unterzeichner
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des Aufrufs fühlen sich als die „Vertreter nahezu aller Volksschichten und Parteienrichtungen".42 Es finden sich darunter nicht nur prominente Sozialdemokraten wie von Vollmar, sondern auch eine große Anzahl von Künstlern, Schriftstellern und Professoren. Luijo Brentano, Max Haushofer, Josef Ruederer, Max Halbe, Franz Stuck, Franz Defregger und andere. Der Erfolg dieses Aufrufes war sehr groß. Gegen y Uhr schon war der mächtige Saal besetzt, darunter ein starkes Kontingent der Arbeiterschaft, auch russische Studenten drängten Kopf an Kopf. Um 8 Uhr war der Zustand im Saale schon besorgniserregend. Die Kette der noch Einlaß fordernden setzte sich über die Treppe auf die Straße fort. Doch wehrten ganare Ketten von Schutzleuten, deren Aufgebot auf telephonische Requisition verstärkt worden war, den Andrängenden den Zutritt. Wer um 8 Uhr, der Stunde des Beginns der Versammlung kam, stand vor einer undurchdringlichen Menschenmauer. Da kam das Komitee auf den Gedanken, einige der Referenten im gegenüberliegenden Bürgerbräukeller sprechen lassen. Als verkündet wurde, daß dort Professor Quidde und Landtagsabgeordneter Müller referieren würden, schwenkte der größte Teil der Wartenden dorthin ab, andere folgten und bald war auch dieser Riesensaal gefüllt.43 Das breite Echo, das der Aufruf hervorgerufen hatte, war selbst von den Veranstaltern nicht erwartet worden. Im Münchner Kindl sprach einleitend der Führer der bayerischen Sozialdemokraten, von Vollmar. Nach einer kurzen Schilderung der Vorgänge betonte er vor allem den überparteilichen Charakter der Veranstaltung. „Die Sache des russischen Volkes sei eine Sache der Menscheit und damit unsere eigene." Das Referat hielt der DeutschRusse S. v. Schewitzsch. Einleitend bekannte er, er schäme sich, in Rußland geboren zu sein, und sei doch auch wieder stolz, ein Sohn dieses Volkes zu sein, das sich endlich aufgerafft, seine Freiheit zu erringen. Er zitierte die Worte eines russischen Gelehrten, den Aufruf an die Völker Europas in der Petersburger Zeitung. „Ihr Völker Europas ... reicht uns, die wir für das Wohl des Volkes sterben, die Bruderhand! Das ist der letzte Schrei der russischen Gesellschaft vor der Revolution." Schewitzsch schilderte dann „unglaubliche Roheiten", die nach Zeugenberichten sich abgespielt hätten. Als er auf die unter Trepow, dem Gouverneur von Petersburg, zum Zaren geführte Arbeiterdemonstration zu sprechen kam mit der Bemerkung, man wisse auch anderwärts, wie solche Arbeiterdemonstrationen zustande kämen, erhob sich zustimmender Beifall. Man sieht, daß hier die außenpolitische Demonstration unmerklich auf innenpolitisches Gebiet gerät. Schewitzsch gab nun einen kurzen Überblick über die Leistungen der russischen Freiheitsbewegung seit Nikolaus I. Die mit ungeheueren Opfern verbundene aufklärerische Tätigkeit der Sozialdemokratie, der Dichter und Schriftsteller aller Art, so betonte
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der Referent, stünden im Kampf mit einer korrupten und bankrotten Autokratie. Das moderne Staatsleben ist kompliziert für ein patriarchalisches Väterchenregiment. ... Sollten Kultur und Freiheit nur leere Worte sein? Die zivilisierten Völker bilden immer mehr eine Familie und darum eine Interessengemeinschaft. Die öffentliche Meinung gehört den Imponderabilien wie die Luft, die man nicht sieht, die aber doch einmal den Sturm entfacht, uralte Bäume mit der Wurzel auszureißen vermag. Dieser Sturm wird kommen, der Sturm des Geistes, der Sturm der Freiheit.44 Es folgte langanhaltender Beifall. Dann wies der Vortragende darauf hin, daß die „Herren Mendlsohn und Rotschild" den Kampf um die Freiheit beenden könnten, „wenn sie ihre Taschen zuhalten würden" zur Stützung des zaristischen Regimes. „Wohlan denn", so schließt von Schewitzsch, „starkes freies Volk, reiche deine Freundes-, deine Menschenhand, den erwachenden, den erstarkenden Brüdern im Osten." Mit den Ausfuhrungen des Justizrats Dr. Bernstein gerät die Kundgebung wieder auf innenpolitisches Gebiet. Er prangert die Tatsache an, daß Bayern außer Preußen der einzige Bundesstaat sei, der mit Rußland einen Auslieferungsvertrag über politisch Verfolgte abgeschlossen habe und zwar seit 1885. Es sei am Platze, „daß ein anständiges Volk, wie die Bayern, gegen so unanständige polizeiliche Dienstleistungen protestiert." Damit entfesselte Bernstein großen Beifall. Auch Dr. Quidde geriet in seiner Rede stark auf bayerisches Gebiet, indem er Parallelen mit Rußland zog. Er wurde dabei vom anwesenden Polizeikommissar unter zustimmenden Rufen aus der Menge unterbrochen. Schließlich wurde folgende Resolution angenommen: Am 22. Januar ist in den Straßen Petersburgs auf Geheiß der Regierung unter einer aus wehrlosen Männern, Frauen und Kindern bestehenden Volksmenge, die voller Vertrauen %u ihrem Herrscher ihm eine Petition überbringen wollte, ein Blutbad angerichtet worden, dem nach Feststellung der Vertreter sämtlicher Petersburger Zeitungen über ijoo Menschenleben %um Opfer fielen. Gegen eine solche in der Geschichte der Regierungsmllkürakte aller Länder beispiellos dastehende Gewalttat erhebt die heute tagende, von tausend Personen aller Stände und Parteien besuchte Versammlung im Namen der Solidarität aller zivilisierten Völker lauten, flammenden Protest. Wir fordern die Vertreter des deutschen Volkes im Reichstag auf, ihrerseits ihre Stimme zu erheben und von der deutschen Regierung zu verlangen, daß den russischen Freiheitskämpfern auf deutschem Boden volles, ungeschmälertes Asylrecht gewährt werde. Den für die heiligsten Menschenrechte, für die elementarsten Vorbedingungen einer Zivilisierten Existenz mit grenzenloser Aufopferung kämpfenden russischen Arbeitern, Schrifstellern, Gelehrten, der studierenden Jugend, dem gesamten, zu neuem Leben
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erwachenden russischen Volke bringen wir aus tiefstem Herten unsere unbegrenzte Sympathie und Bewunderung entgegen. Wir fordern die Bevölkerung aller übrigen Großstädte auf, ähnliche Kundgebungen veranstalten, und beauftragen den Vorstand der heutigen Versammlung, Abschriften dieser Resolution den Fraktionsvorständen sämtlicher Parteien im deutschen Reichstage, wie auch dem Reichskanzler %u übermittelnd Die gleichzeitige Versammlung im Bürgerbräukeller verlief ähnlich. Dr. Quidde trug hier ein Gedicht von Karl Scholl vor, der Redakteur Bayer protestierte gegen die Verhaftung Maxim Gorkis „und 20g Parallelen mit unseren Zuständen". Der Russe Hermann Wöhner betete vor der Versammlung für den Untergang des Zarismus. Auch von Schewitzsch sprach. E r betonte, „20000 Menschen hätten sich in München für die, dem Münchner scheinbar fernliegende Gelegenheit begeistert und seien gekommen dem russischen Volk ihre Sympathie zu bezeugen". E r danke den Münchnern im Namen des russischen Volkes und wandte sich vor allem gegen diejenigen, „welche von Sympathiekundgebungen bzw. Protesten aus politischen Erwägungen abraten". Am Ende beider Veranstaltungen wurde an den Ausgängen für die Witwen und Waisen der Opfer des Petersburger Aufstandes gesammelt. A m 2. Februar rief die Münchner Sozialdemokratie im Saal des Hackerkellers auf der Theresienhöhe die Münchner Bevölkerung zu einer Protestkundgebung auf. 47 Die Werbung hatte mit mehr als 3000 Leuten einen großen Erfolg aufzuweisen. Das Publikum war international zusammengesetzt, vor allem waren die „östlichen Völker stark vertreten". Landtagsabgeordneter Müller brachte eine Resolution ein, in der die russischen Ereignisse „als ein in der Weltgeschichte beispielloses, die Menschheit schändendes Massenverbrechen" bezeichnet wurden. Die Versammlung „begrüßt aus tiefstem Herzen die Kämpfer und Märtyrer der Russischen Revolution aller Stände, vor allem unsere Brüder und Gesinnungsgenossen, die russische Sozialdemokratie". Die Schergendienste der deutschen Regierung sollten aufhören, der bayerischrussische Auslieferungsvertrag gekündigt werden. Die Versammlung endet mit einem Hoch auf die „revolutionäre, völkerbefreiende Sozialdemokratie" und auf die „freiheitlichen Bestrebungen des russischen Volkes". Das revolutionäre Pathos, das in diesen Versammlungen die Sozialdemokratie anschlägt, läßt kaum den Schluß zu, daß der revisionistische, auf praktische parlamentarische Tätigkeit ausgerichtete Kurs der Partei, wie er in Bayern unter der Führung von Vollmars in den Neunzigerjahren eingeschlagen worden war, das Bewußtsein der Partei wesentlich veränderte. Dies zeigte sich auch auf der Versammlung, welche die Sozialdemokratie am 18. März im Münchner Kindlkeller abhielt; es sprach dort der bekannte norddeutsche Sozialdemokrat Wilhelm Bios.48
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Neben 2ahlreichen Protestkundgebungen fanden auch mehrere kulturelle Veranstaltungen zugunsten der russischen Revolutionsopfer statt.49 Am 20. März wurde im Konzertsaal der Vier Jahreszeiten ein musikalisch-literarischer Abend veranstaltet, welcher lediglich von russischen Dichtern und Schriftstellern bestritten wurde, mit Ausnahme des Prologs, den Ludwig Thoma schrieb. Seine „Petersburger Schießgeschichte" erntete großen Beifall. Veranstaltungen dieser Art waren offenbar sehr gefragt, auch bei Leuten, die sonst nicht ins Konzert gingen. Auch hier war das Publikum international. Nicht nur die meisten der in München lebenden Nordrussen waren anwesend, „sondern auch die Söhne des Südens, deren schwarze Locken und blitzenden Augen auffielen. Selbst Kinder der heißen Zone Indiens waren erschienen, und dieser Internationalität entsprachen auch die Vorträge."50 Anläßlich einer Aufführung von Gorkis „Nachtasyl" im Münchner Schauspielhaus am 9. Juli wurde auf Anregung von Schewitzschs an den Dichter, der sich wieder in Freiheit befand, ein Grußtelegramm gesandt.61 Neben derartigen Wohltätigkeitsveranstaltungen kam auch aus organisierten Sammlungen Geld für die russischen Opfer. Die Sammlung der Neuesten Nachrichten hatte es bis zum 30. November auf eine Summe von 9939 Mark gebracht.62 Aus dem bisher ausgebreiteten Material geht hervor, daß die russischen Studenten und andere russische Emigranten an den Veranstaltungen zugunsten der revolutionären Bewegung regen Anteil nahmen. Möglicherweise ist diesen Kreisen sogar die eigentliche Initiative zuzuschreiben. Jedenfalls ist der große Erfolg der Veranstaltungen nur dann ganz verständlich, wenn man vor allem bei den die Veranstaltungen tragenden intellektuellen und sozialdemokratischen Kreisen einen längeren Kontakt mit den Russen voraussetzt. Der bereits zitierte Bericht des Polizeikommissärs Bittinger vom 30. August 1905 über die Tätigkeit Helphands und Marchlewskis gibt Aufschluß über die aktive Rolle der russischen bzw. polnischen Revolutionäre anläßlich der Sympathiekundgebungen zur russischen Revolution in München.63 Bittinger registrierte in diesem Zusammenhang eine bedenkliche Entwicklung, wie sie nur in München sich bemerkbar machte:54 Seine Beziehungen russischen Studentenkreisen einerseits und %ur hiesigen Sozialdemokratie andererseits nützt Helphand geflissentlich aus, sowohl zur Werbung von Sympathien für die revolutionäre Bewegung in Rußland, als auch zu einer systematischen Verquickung der einheimischen gewerkschaftlichen und sozialistischen Sache mit den revolutionären Strömungen im Ausland, eine Verbindung, die infolge der Stetigkeit, mit welcher sie seit Anfang dieses Jahres bei den verschiedensten Gelegenheiten in den Vordergrund gerückt wird, für die Öffentlichkeit bereits lästig geworden ist und für das allgemeine Wohl zum mindesten nicht förderlich erscheint. Es dürfte in dieser
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Hinsicht an das mißliche Zusammentreffen der großen Sympathiekundgebungen für die russischen Revolutionäre und den hartnäckigen Arbeitslosendemonstrationen, an die unveranlaßte Hereinziehung des bayerischen Staatsrechts bzw. der auswärtigen Politik Bayerns, an die unerlaubten Sammlungen für die bei den Petersburger Vorgängen gefallenen einer Zeit, wo hier ohnehin bedeutende finanzielle Opfer für Arbeitslosenunterstützung gebracht werden mußten, an die Veranstaltung eines russischen Studentenballes im demonstrativen zeitlichen Anschluß an die Ermordung des Großfürsten Sergius erinnert werden, um zu erweisen, daß Verhältnisse, wie sie unter dem sichtlichen Einflüsse der agitatorischen Tätigkeit von Männern wie Helphand gezeitigt werden, sicherlich jeglichen Vorteil für die öffentliche Wohlfahrt des Landes oder der Stadt vermissen lassen. Bittinger glaubt, daß mit dieser Propaganda Helphands Tätigkeit anläßlich des Sommerfestes im gleichen Jahr in engstem Zusammenhang steht: Am i ß . August dieses Jahres waren im Herzogparke die russischen Studenten, an die sich italienische Sozialisten angereiht hatten, als eine eigene Sektion neben jenen des ,Gewerkschaftsvereins1 und des Sozialdemokratischen Vereins' untergebracht. Sie hatten eine besondere Bühne aufgeschlagen, trugen russische Arbeiter- und Revolutionslieder vor und verkauften Druckschriften, welche die deutschen Übersetzungen jener Lieder enthielten. Das Arrangement dieser Russenveranstaltungen hatte nach Mitteilungdes Arbeitersekretariats Dr. Helphand besorgt, der auch die Übersetzungen lieferte und zu ¿em Programm für die russische Aufführung das Geleitwort verfaßte. Es scheint, daß München für die von der russischen Revolutionsbewegung ausgehende Wirkung besonders empfänglich war, wie kaum eine andere Stadt in Deutschland. „Die öffentlichen Sympathiekundgebungen für die revolutionären Kämpfe in Rußland sind gerade hier besonders intensiv und andauernd", berichtet Bittinger; „auch wird von sozialistischer Seite bei keiner Gelegenheit versäumt, die Gleichheitlichkeit der Interessen zu betonen. Durch eine konsequente Propaganda, wie die Helphands, wird ohne Zweifel die Gefahr näher gerückt, daß nicht nur im allgemeinen die hiesige Sozialdemokratie und die neuerdings mit einigem Erfolg anarcho-sozialistische Bewegung eine engere Angliederung und allmähliche Durchsetzung mit ausländischen Sozialrevolutionären erfahrt, sondern auch im besonderen die hiesigen Arbeiterfeste eine ungünstige Veränderung ihres bisherigen, friedlichen Charakters erfahren." Hier ist es also deutlich genug ausgesprochen: Radikalisierung des politischen Klimas in München unter dem Einfluß ausländischer, im wesentlichen russischer Kreise. Wir stehen also vor der Tatsache, daß eine verhältnismäßig kleine, aber besonders aktive ausländische Gruppe sich in einer Stadt so stark etabliert hat, daß es ihr möglich ist, das Verhalten einheimischer, politisch engagierter Gruppen in radikalisierendem Sinne zu beeinflussen.
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Gegen Ende des Jahres 1905 trafen in München sehr viele fliehende russische Revolutionäre ein.55 Auf den Straßen Münchens war die graublaue Uniform der russischen Studenten mit deren breiter Schildmütze keine seltene Erscheinung mehr. Es waren auch viele Livländer darunter, die München noch aus ihrer Studienzeit kannten. Ihre Schilderung der zaristischen Zustände überträfe „alles bisher in der Presse mitgeteilte." Man kann sich vorstellen wie die Stimmung unter der Bevölkerung auf solche Berichte reagierte. Die Reaktion auf die russischen Revolutionsereignisse war zwar in München besonders stark, aber nicht auf München beschränkt. In ganz Deutschland hatte die Revolution bei den Massen der Arbeiter, bei der Sozialdemokratie und bei den Gewerkschaften Begeisterung für die antizaristische Bewegung entfacht. Überall in Deutschland wurden von der sozialdemokratischen Partei Sympathiekundgebungen und Geldsammlungen veranstaltet.66 Die russischen Verhältnisse waren von der deutschen Sozialdemokratie etwa seit der Jahrhundertwende stärker beachtet worden; in der Parteipresse wurde regelmäßig über die Schandtaten des Zarismus berichtet und der heldenhafte Kampf der russischen Sozialdemokraten gewürdigt. Die russischen Emigranten hatten nicht nur in München, sondern auch in Leipzig und Berlin Aufnahme und Hilfe bei den Sozialdemokraten gefunden.67 Obwohl man nach 1905/06 unter deutschen Sozialdemokraten den russischen Sozialisten ihre große Uneinigkeit stark anlastete, hielt die Sympathie auch in der Zeit der russischen Reaktion an.58 Die Sympathie für die russischen Revolutionäre war auch in München offenbar keine vorübergehende Erscheinung. Im Rahmen einer Veranstaltung des „Deutschen Hilfsvereins für die politischen Gefangenen und Verbannten Rußlands" ist es auch im Mai 1 9 1 4 noch möglich, „eine gewaltige Menschenmenge" anzusprechen.69 Das Komitee, das zu dieser Kundgebung aufrief, setzte sich aus ähnlichen prominenten Kreisen zusammen wie jenes, das im Januar 1905 sich an die Bevölkerung wandte. Amira, Thomas Mann und Thoma waren darunter. Letzterer betont in seiner Ansprache, daß es sich bei dem Protest nicht um eine rein russische Angelegenheit handele; „wenn Recht und Menschlichkeit in einem Teil Europas aufgehört haben, die notwendige Grundlage des Staates zu bilden, so ist es eine Ungeheuerlichkeit, die ihre Schatten weit über die Grenzpfähle Europas wirft." Thoma weist die Bemerkung einer klerikalen Zeitung Münchens zurück, worin kein Verständnis dafür gezeigt wird, „warum nur immer Versammlungen sind, wenn Verbrecher und Revolutionäre zur Sprache kommen." E r meint, man hätte auch in München zu reden, „obwohl wir der Herd antichristlicher Agi-
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tation geworden sind." Nach Thoma sprach der Berliner Rauscher. Er zeigte Lichtbilder, die die Grausamkeit des zaristischen Rußland veranschaulichen sollten. Er schloß seine Ausführungen mit dem Hinweis, es wäre Pflicht, „den Kreuzzug zu predigen, gegen die Henkersknechte in Kutten, Talaren und Uniformen". Die Anspielung auf einheimische Verhältnisse war nicht zu übersehen, besonders wenn man an die Auslieferungsverträge dachte. Als dann der nächste Redner die Mitschuldigen auch unter den Deutschen zu finden glaubte, gab es Zwischenrufe „Wilhelm". Auch als Dr. Süßheim die Bayerische Reichsratskammer beschuldigte, sie hätte die Kündigung des Auslieferungsvertrags unmöglich gemacht, fallen Zwischenrufe: „Die gehören alle nach Sibirien." Süßheim glaubt, daß in dem Augenblicke, in dem der deutsche Kaiser sich an die Spitze der antizaristischen Kulturbewegung stellen würde, er die breite Masse des Volkes hinter sich hätte. Auch Dr. Quidde wies auf deutsche Zustände hin und sprach von „einem Balken, dick genug im eigenen Auge". Man dürfe es nicht beim bißchen Moralisieren belassen, sondern praktischen Einfluß nehmen. Zeigt sich auf der einen Seite eine große Sympathie gegenüber den revolutionären russischen Bestrebungen und damit auch gegenüber den russischen Emigranten in der bayerischen Hauptstadt, so fehlt es verständlicherweise auch nicht an einer ablehnenden und sogar feindlichen Haltung;60 ein Artikel aus dem „Bayerischen Vaterland" ist charakteristisch: In Folge der Vorgänge in Rußland hat sich zahlreiches russisch-jüdisches Gesindel nach Deutschland verlogen und vornehmlich im judengesegneten gastlichen München Aufenthalt genommen. Die Polizei ist dieser Bande hart auf die Nerven gefallen. Sie nimmt stramm Haussuchungen vor und macht auch vor den russischen Studenten nicht Halt. Daß dabei mancher Unschuldige in Mitleidenschaft gebogen wird, läßt sich kaum vermeiden. Dafür muß man aber nicht die Polizei, sondern die Leiter der russischen Revolution verantwortlich machen.61 Die antirussische Haltung war zum Teil schon vor den Revolutionsereignissen in Erscheinung getreten. An den deutschen Universitäten spricht man von einer Russeninvasion. Im Jahre 1907 wird der Polizei eine „ausgedehnte Russenhatz" vorgeworfen.62 Eine allgemeine und gefährliche Stimmung gegen die Slawen in München sollte sich jedoch erst mit dem Attentat von Sarajewo und dem Ausbruch des Krieges bemerkbar machen. Selbst auf der Straße kam es wiederholt zu Tätlichkeiten. Ein Münchner Glasmaler, der einen tiefschwarzen Vollbart trug, wurde wiederholt belästigt, ebenso ein Bulgare, welcher dann auf eine Polizeiwache flüchtete, wo man ihm den guten Rat gab, „sich eine etwas zeitgemäßere Frisur zuzulegen".63 Die Mobilmachung hatte ein ungeahntes Kriegsfieber entfacht. Viele mochten auch der
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Überzeugung gewesen sein, es ginge jetzt gegen den Zarismus, von dessen Greueltaten man genug gehört hatte. IV Das Echo, welches die russischen Revolutionsbestrebungen in München fanden, hat gezeigt, daß es möglich war, eine verhältnismäßig breite, sich radikal gebende Front zu bilden, und daß man sich dabei nicht scheute, auch auf innenpolitische Angelegenheiten einzugehen. Inwieweit lassen sich nun direkte, organisierte politische Kontakte zwischen den revolutionären Russen und einheimischen Gruppen nachweisen? Um welche politischen Kreise handelte es sich vornehmlich? Ganz offenkundig fanden die Russen lebhafteste Sympathie bei den Münchner Sozialdemokraten. Es scheint so, als hätten die russischen Revolutionsereignisse einen willkommenen Anlaß geboten, um den revolutionären Dampf, der sich angesammelt hatte, abzulassen. Man sollte sich von der starken Führung des „Königlich-Bayerischen Sozialdemokraten" von Vollmars nicht dazu verleiten lassen, die Partei als monolithischen Block aufzufassen. Auch auf bayerischer Ebene dürfte es notwendig sein, die politische Infrastruktur dieser Partei näher zu durchleuchten, um zu sehen, wo die Radikalisierung noch breite Angriffsflächen besaß. Es ist bisher nicht möglich gewesen, umfangreichere, organisierte politische Kontakte zu den russischen Revolutionären in der Sozialdemokratie Münchens festzustellen, wenn es auch offenbar zu häufigeren persönlichen Kontakten kam. So wohnte Helphand längere Zeit bei Maxim Ernst;64 auch Heinrich wohnte bei Sozialdemokraten.65 Die Russen nahmen auch bei verschiedenen Veranstaltungen der Partei, etwa bei Maifeiern, teil.66 Inwieweit tatsächlich von einer Durchsetzung der Partei mit ausländischen Elementen zu rechnen ist,67 müßte noch genauer untersucht werden. Daß auch anarchistische Kreise sich für die russische Revolution erhitzten, kann nicht überraschen.68 Die Bedeutung dieser Gruppe dürfte der Zahl der Mitglieder nach verhältnismäßig gering sein, als fanatisierendes Element sollte man sie jedoch nicht unterschätzen. Bereits 1902 hatte man in allen Städten Westdeutschlands, so auch in München, geheime Anarchistengruppen festgestellt.69 1909 hatte sich hier eine Anarchistengesellschaft unter dem Namen „Gruppe Tat" gebildet, die dann aus zwei erfolglosen Gerichtsverfahren gegen sie bekannt geworden war. Eine besondere Rolle als Anarchist, vor allem in literarischen Zirkeln, spielt Erich Mühsam. Seine Zeitschrift „Kain" war nach dem Zeugnis Wedekinds besonders bei den Studenten beliebt.70 Daß es zu Kontakten mit den Russen kam, ist anzunehmen, da schon von der anarchistischen Idee her der russische Beitrag einen entscheidenden
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Einfluß auf diese radikale Gruppe ausübte. Neben Landauers „Aufruf zum Sozialismus" waren auch Tolstois „Sklaverei unserer Zeit" und die Schriften Kropotkins von nachhaltiger Wirkung auf die Anarchisten. Mühsam selbst weist auf persönliche Verbindungen mit russischen Revolutionären hin, was ihm im Antico Castello in Locarno eine kurze Haft einbrachte.71 Die Tatsache, daß sich Anarchisten z. T. wieder in der U. S. P. D. finden, dürfte dafür sprechen, ihre politische Rolle nicht zu gering zu veranschlagen. Max Halbes Tochter hat die literarischen Zirkel in dieser Stadt als „eine echt Münchner Form der Geselligkeit bezeichnet."72 Es soll nun am Beispiel der „Gesellschaft für Modernes Leben", der ersten bedeutenden Vereinigung dieser Art, gezeigt werden, welche politischen Akzente hier gesetzt werden müssen. Die Gesellschaft war 1890 gegründet worden.73 Gründungsmitglieder waren Dr. Conrad, Rudolf Maison, Freiherr von Lilienkron, Hanns von Gumppenberg und Georg Schaumberg. Die Gesellschaft bekennt sich in erster Linie zu einem sozialen, nicht zu einem ästhetischen Engagement. „Der Trieb nach Wahrheit", so formulierte es von Gumppenberg in bezug auf Henckel, Lilienkron, Mackay, Arno Holz und Schaumberg, „und die Gewalt des Mitleidens, das nach besserem ruft, ist es, welche diese Dichter drängt, hinabzusteigen in die lichtlosen Quartiere der harten Not, und es ist die dumpfe Stimme der Zeit, welche sie bewegt, das zu künden, was sie unten sahen. Die Zeiten sind nicht mehr, da es nur galt ,zu singen von Lenz und Liebe, von seliger goldener Zeit'". Eine solche, auf die harte Wirklichkeit gerichtete Betrachtolgsweise konnte an den politischen Gegebenheiten nicht vorbeigehen. Schon in der ersten Versammlung der Gesellschaft äußert sich der Vorsitzende Conrad:74 „ . . . Denn wie die Dinge geworden sind in den großen Militär- und Kapitalistenreichen Europas und namentlich in Deutschland, dürfen wir nicht vom Staate erwarten, daß er die Moderne von selbst auf den Leuchter stellt.... Wir wollen mit der Theorie selbst die Praxis verbinden und alle Werke und Unternehmungen fördern helfen, welche auf Verbesserung der Lebensführung der Armen und Notleidenden jeder Art und Herbeiführung vernünftiger Lebensgestaltung abzielen." Es handelt sich also bei dieser Vereinigung um eine politisch stark engagierte Gruppe, welche sich mit der Autorität des Staates und der sozialen Frage neu auseinandersetzte. Es überrascht deshalb nicht, wenn bereits die dritte öffentliche Veranstaltung dieser Gesellschaft, am 27. April 1891, von Gumppenberg zwei Monate Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung einbrachte.75 Die Parallelen zur Sozialdemokratie sind deutlich. Andererseits ist es typisch für die gesellschaftliche Zusammensetzung der Sozialdemokratie in München nach Aufhebung des Soziali-
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stengesetzes, daß sie sich „einer Belebung durch wissenschaftlich gebildete Elemente" erfreut.76 Als Ergebnis der Untersuchungen läßt sich festhalten, daß im München der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Weltkriegs sich in verschiedenen, der Sozialdemokratie nahestehenden Kreisen Ansatzpunkte für eine Radikalisierung des politischen Klimas aufzeigen lassen. Die russische Studentenkolonie und die Reaktion auf die erste Revolution in Rußland können nicht unabhängig von innenpolitischen Vorgängen betrachtet werden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung scheint auch die gesellschaftliche Struktur dieser Stadt zu sein, die in ihrem „Klüngel- und Cliquenwesen", vor allem aber in dem katalytisch wirkenden Schwabing, den geeigneten Nährboden abgab. Auf die gespannte wirtschaftliche und soziale Lage, die sich in ganz Deutschland seit der Jahrhundertwende allgemein verschärfte - Preise und Löhne entwickelten sich in einer Scherenbewegung auseinander - und auf den sich radikalisierenden Arbeitskampf, nachdem 1903/04 die Waffe der Aussperrung zum ersten Mal eingesetzt worden war,77 müßte in bezug auf Bayern noch eingegangen werden, um ein abgerundetes Bild zu bekommen, das die Revolution in ihren historischen Wurzeln verständlich macht. Was Thomas Hobbes78 vom Krieg behauptet, das läßt sich auch auf das Phänomen der Revolution anwenden, auf eine spezielle Form des Krieges: „For War consisteth not in Battie only, or the act of fighting; but in a tract of time, wherin the Will to contend by Battie is sufficiently known."
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ANMERKUNGEN ZU:
Ludwig Schneider, Die russische Studentenkolonie und das Echo des revolutionären Rußland in München vor 1914 1 KarlBosl, Gesellschaft und Politik in Bayern vor dem Ende der Monarchie, Beiträge zu einer sozialen und politischen Strukturanalyse; in: Z B L G 28 (1965), H. 1/2, 1 - 3 1 . 2 Josef Hofmiller, Revolutionstagebuch 1918/19, Leipzig 1959, 104. s Erich Milbsam, Unpolitische Erinnerungen, Düsseldorf 1961, 213. 4 Georg Fuchs, Sturm und Drang um die Jahrhundertwende, München 1936, 79. s Fuchs, 100 f. • Fuchs, 100 f. ' Emanuel Trucs^ynski, München und Südosteuropa, Gedenkschrift für W. Gütlich, München 1961, 321. 9 Bevölkerung nach Heimatstaaten; in: Statistisches Jahrbuch für das Königreich Bayern, München 1913, 26. Ergebnisse der Volkszählung v. 1. Dezember 1910, Mitteilungen des Statistischen Amts der Stadt München, Bd. 24, H. 1, 1. Teil, München 1912. 9 Heimat der Studierenden an den Hochschulen; in: Statistisches Jahrbuch für das Königteich Bayern, München 1905, 251; 1909, 284; 1911, 309; 1913, 330. 10 Bei Kriegsbeginn wurden nur die russischen, serbischen und montenegrischen Studenten von den Universitäten gewiesen, dagegen nicht englische oder französische mit der Begründung, daß diese sich nicht so lästig gemacht hätten, wie dies bei Russen und Serben der Fall gewesen sei. (StadtAMü, Chronik der Stadt München - in folgendem zitiert „Chronik" - Bd. 410 (1914), 23 4 6f.). Die Ausweisung erfolgte durch eine Verfügung des K. Bay. Staatsministeriums für Kirchen- u. Schulangelegenheiten v. 7. August 1914 (StAfObby, R A 3187/400). 11 Vom 10. April 1894, v. 1. März 1899 (StAfObby, AR 3194/898), v. 16. August 1911 (StAfObby, AR 3198/1029) - im folgenden zitiert „Göhler 1894, 1899 u. 1 9 1 1 " . 12 Zum Ruf der deutschen Wissenschaft, bes. der Naturwissenschaften, in Rußland vergleiche man: Turgenjew, Väter und Söhne (Ges. Werke, Bd. HI), Berlin 1952, 232. 13 DavidBaumgardt, Student in München vor 50 Jahren; in: Hans Lamm, Von Juden in München, München 1958, 122. 14 Göhler, 1894, 4f. 15 Der Begriff „Nihilismus" wird oft synonym für „Anarchismus" verwendet. Er beinhaltet für die damaligen Regierungen radikale, staatsgefabrdende Strömungen. Göhler stellt Turgenjews Basarow in „Väter und Söhne" als den Typus des in München vertretenen nihilistisch orientierten russischen Studenten dar und verwendet den Begriff „Nihilismus" im weitesten Sinne, „insofern es sich bei einer Mehrzahl dieser Leute mehr um eine Übereinstimmung mit dessen Theorien und seiner Verurteilung der inneren russischen Staats- und Rechtsverhältnisse handelt als um ihre aktive Betheiligung ... Zur Erreichung des Endziels." (Göhler 1899, 6). 18 Göbler 1894, 1. 17 Göhler 1894, 14. 18 Göhler 1894, 8. 19 Göhler 1899, 23. 20 Bericht vom 31. Mai 1912 (StAfObby, AR 3199/1034); Göhler 1911, 2. 21 StAfObby, A R 3199/1034. 22 Daß es auch hier oft beträchtliche Unterschiede in der politischen Auffassung gab, soll nicht bestritten werden, doch dürfte es sich meist nur um Richtungskämpfe gehandelt haben. Der sich
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unpolitisch gebende, aber im wesentlichen konservativ orientierte Russische Kulturverein kam in dem einen Jahr seines Bestehens (1910/11) nicht über 5 Mitglieder hinaus. (StAfObby, AR 5196/954). 28 Gebler 1894, lof. 24 Göhler 1894, 11 f. 28 Göhler 1894, lof. 28 Göbler 1899, 18. 27 Göbler 1899, 18. 28 Bericht des Bezirksamtsassessors Bittinger von der Polizeidirektion München an die Regierung von Obby., v. 30. August 1905; in: Die Auswirkungen der 1. Russischen Revolution von 19051907 auf Deutschland, hersg. v. Leo Stern, Bd. 2/n, Berlin 1956, 39fr. 28 Peter Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie, Veröffentlichung der Historischen Kommission in Berlin, Bd. 29 (Publikationen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 1), Berlin 1967, 7of. 30 StAfObby, RA 3787/16814 (2. Quartalsbericht r . 17. Juni 1880). 31 StAfObby, AR 3194/898. 32 StAfObby, AR 3194/898 (v. 30. Januar 1907). 88 StAfObby, AR 3186/365 (v. 16. Juli 1909). 84 StAfObby, AR 3186/365 (Bericht Owtschinnikows v. 6. Februar 1911). 36 L. Hollweck, Die Schlawiner in Schwabing; in: Münchner Leben, Jg. 9 (1964), H. 9, 28-29. 88 Hollweck, 28 f. 87 Ein Russe in München, o. Verf. (Juni 1918), 144 f. 18 Unpolitische Erinnerungen, 144. 19 Lösche, 28. 40 Kristian Bätbe, Wer wohnte wo in Schwabing?, München 1967, 8. 41 Chronik, Bd. 293 (1905), 368ff. 42 Chronik, Bd. 293 (1905), 368 ff. 48 Chronik, Bd. 293 (1905), 368ff. 44 Chronik, Bd. 293 (1905), 368ff. 48 Chronik, Bd. 293 (1905), 368ff. 48 Chronik, Bd. 293 (1905), 368E 47 Chronik, Bd. 293 (1905), 368 ff. 48 Interessant sind seine „Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten", München 1914. 48 Chronik, Bd. 293 (1905), 918 f. 48 Chronik, Bd. 293 (1905), 918 f. 80 Chronik, Bd. 293 (1905), 9i8f. 61 Chronik, Bd. 294 (1905), 2285 f. 52 Chronik, Bd. 294 (1905), 3649. 68 Stern, 43 f. 84 Stern, 41 f. 88 Chronik, Bd. 294 (1905), 3897. 88 Lösche, 3 5 f. 87 Lösche, 2 2 f. 88 Lösche, 48 f. 88 StAfObby, RA 3794/16856 (Polizeibericht über eine Versammlung vom 2. Mai 1914). 80 StAfObby, RA 3194/16856 (Rede des Redakteurs Wanng - Sonderabdruck im Deutschen Volksblatt). 8X Das bayerische Vaterland, Nr. 80 (9. April 1907). 82 Artikel des Vorstands der Russischen Studentenkasse, veröffentlicht in der MP (Nr. 77) und anderen sozialdemokratischen Blättern. 88 Chronik Bd. 410 (1914), 2751. 84 GSbler 1899, 18. 88 Göbler 1894, 10.
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Chronik, Bd. 293 (1905), 1 4 1 1 . Stern, 42. 68 Über den Anarchismus in Bayern verweise ich auf den Beitrag von Herrn Linse und seine demnächst erscheinende Dissertation. 68 GStAM, M A 76545 (Randnote v. 2. Juli 1902). 70 Frank Wedekind, Weihnachtsgedenken (1913), Ges. Werke, Bd. I X , München 1921, 405. In seinen Erinnerungen deutet Mühsam auf Beziehungen zu russischen Revolutionären hin (Mühsam, 161 f.). 71 Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene, München 1926, 95 u. 97. 72 Literatische Revolution am Stammtisch; in: Münchner Stadtanzeiger, Nr. 26 (1958). 73 StAfObby, R A 3186/383. 74 StAfObby, R A 3186/383 75 StAfObby, R A 3186/383. 78 StAfObby, R A 3784/16807. 77 Leviathan, Parti, Chap. X I I I (1. Ausg. 1651). 67
AXEL
SCHNORBUS
Wirtschaft und Gesellschaft in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg (1890 — 1 9 1 4 ) Das 19. Jahrhundert wird entscheidend mitbestimmt durch den Siegeszug eines neuen Wirtschaftssystems: den Kapitalismus. Er hat in einem sich immer dynamischer vollziehenden Prozeß die alte Wirtschafte- und Gesellschaftsordnung aufgelöst und den Aufbau einer neuen Ordnung menschlichen Zusammenlebens notwendig gemacht, deren Umrisse am Ende des Jahrhunderts sichtbar werden. Dieser Aufbau vollzieht sich in Deutschland nicht gleichmäßig, einzelne Teile wirken mit unterschiedlicher Intensität an diesem Vorgang mit; es gibt auch Kräfte, die daran überhaupt keinen Anteil haben, sondern als überwundene Daseinsform und gleichsam in Ruhelage befindlich neben dem Neuen bestehen bleiben. Das letzte Vierteljahrhundert vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschleunigt diesen Umformungsprozeß zum modernen Industriestaat hin. Kennzeichnend für ihn sind zahlreiche, einander bedingende und in ihrem Zusammenspiel nicht leicht erklärbare Faktoren. Eine maßgebende Rolle spielen dabei die technischen Fortschritte und die damit im Zusammenhang stehende erneute Industrialisierungswelle. Technik beruht nun nicht mehr auf Erfahrung, sondern wird Inbegriff der mit Hilfe von naturwissenschaftlicher Forschung bewußt entwickelten Methoden, deren sich der Mensch bedient. Technik bleibt auch nicht beschränkt auf die Produktion und das Verkehrswesen, sondern erfaßt alle Bereiche des menschlichen Daseins. Wir können daher genauso gut - und für unseren Zeitraum im verstärkten Maße - von Fortschritten in der Handels- und Organisationstechnik und im gesellschaftlichen Bereich, der Gesellschaftsorganisation, der Erziehung und Menschenbeeinflussung auch von der „Sozialtechnik" sprechen.1 Auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Organisation sehen wir die Zusammenfassung der vielen kleinen Einheiten zu größeren, so den Übergang vom Klein- zum Großbetrieb, die Bildung von Kartellen zur Absatzkontrolle und monopolistischen Beherrschung des Marktes oder die Kapitalverflechtung,
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die Konzentration des Wirtschaftspotentials. Damit verbunden ist die Verflechtung der nationalen Wirtschaft in die Weltwirtschaft; eine internationale Arbeitsteilung rationalisiert und organisiert das Wirtschaftsleben bis ins einzelne und schafft somit neue Abhängigkeiten, die ihren spürbaren Ausdruck in Krisenzeiten finden. Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Organisation geht die Organisation der Arbeit, ihre Zerlegung und Verteilung und ihre zweckmäßige Zusammenfassung zur planvollen Zusammenarbeit. Dadurch verändert die Arbeit ihren Charakter. Die moderne Organisation versachlicht und entpersönlicht den Arbeitsprozeß, sie setzt einen anderen Menschen voraus als den meist in ländlicher Umwelt aufgewachsenen. Der Übergang von agrarischer zu industrieller Daseinsform, das Überwiegen des Ökonomischen im Leben verlangt neue Denk- und Verhaltensweisen des Menschen, fordert eine rationale „Beherrschung" der gewandelten Lebens- und Erfahrenswelt, zumindest eine Bereitschaft zur Anpassung. Auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Organisation hat der Abbau der rechtlichen Bindungen und die Zerschlagung der wirtschaftlichen Fesseln durch den Kapitalismus dem Menschen nicht die unbeschränkte Freiheit in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht gebracht, er hat ihn vielmehr in neue Bindungen hineingeführt, in Organisationen großen Stils, die nun, am Ende des 19. Jahrhunderts, das Interesse ihrer „Massen" zu vertreten oder besser gesagt durchzusetzen versuchen. Indem sie zu gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen Stellung beziehen, an der bestehenden Ordnung Kritik üben und dem im Gang befindlichen Umformungsprozeß eine ihnen entsprechende Richtung geben wollen, tasten sie die führende Stellung des Staats innerhalb der Gesellschaft an. Sie zwingen ihn, sich zu „öffnen" und in eine Auseinandersetzung um Richtung und Ziel einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung mit den Interessengruppen einzutreten, selber am Umbau der Gesellschaft tätig zu werden und in sie ordnend und reglementierend einzugreifen. Allerdings vollzieht sich diese Tätigkeit jetzt im steten Ringen mit den gesellschaftlichen Kräften der Zeit; jeder Schritt wird argwöhnisch verfolgt, jede Handlung löst Reaktionen aus, zumal wenn „wohlberechtigte Interessen" verletzt werden; staatliches Wirken geht jetzt in aller Öffentlichkeit vor sich, muß begründet sein, um nicht Gegenkräfte auf den Plan zu rufen. Eine moderne, den technischen und organisatorischen Fortschritten angepaßte Wirtschafts- und Sozialordnung setzt jedoch auch eine Gesellschaft voraus, die sich der neuen Entwicklung aufgeschlossen zeigt und sie bejaht. Daß sich dies nicht so schnell verwirklichen läßt, daß die neue Entwicklung vielfach innerlich nicht bewältigt wurde, auf Ablehnung stieß und Gegenwehr
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auslöste, liegt in der Natur der menschlichen Gesellschaft begründet, in ihrer Neigung, sich neuen Möglichkeiten und Wegen nur langsam zu öffnen, wenn sie nicht gewaltsam und unter Schmerzen aus ihrer Ruhelage herausgerissen wird. Technik, Forschung und Wirtschaftsorganisation sind in ihrer Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation vorangeeilt, und der Abstand zwischen beiden Entwicklungsprozessen wird wohl eher größer als geringer werden.
BEVÖLKERUNG
Die bayerische Bevölkerung weist in ihrer Entfaltung im Gegensatz zur deutschen einen etwas ungünstigeren Verlauf auf. Während Mitte des 19. Jahrhunderts der Anteil Bayerns an der Reichsbevölkerung 12,5% betrug, zur Reichsgründungszeit immerhin noch 11,8%, ist er bis zum Jahre 1910 auf 10,6% gesunken.2 Dieser Eindruck wird sich noch verstärken; denn die Bevölkerung befindet sich nicht mehr wie vormals in einer Ruhelage, sondern ist in ununterbrochener Bewegung begriffen. Die tatsächliche Entwicklung der einzelnen Gemeinden und Gebiete steht nämlich jetzt vielfach im Gegensatz zu ihrer natürlichen Entwicklung. Nicht mehr die Häufigkeit von Geburten und Todesfällen, sondern die fortschrittliche Wirtschaftsstruktur bedingt jetzt die stärkere Bevölkerungsvermehrung. In Bayern ist die Bevölkerungsentwicklung von 1855-1905 sehr unterschiedlich verlaufen. Geht man von den kleinsten Verwaltungseinheiten, den Gemeinden aus, so weisen nur 63,3% eine Zunahme der Einwohnerzahl auf, während 36,1% der Gemeinden sogar eine Bevölkerungsabnahme verzeichnen.3 Diese ungünstige Entwicklung betrifft die Landgemeinden, die unmittelbaren Städte zeigen dagegen einen beträchtlichen Zuwachs (Schaubild 1). Viele können ihre Bevölkerving verdoppeln, verdreifachen, Ludwigshafen zählt 1905 sogar 3omal so viele Einwohner als vor jo Jahren.6 Die Zunahme in den Regierungsbezirken verdeutlicht die regionale Entwicklung: das Hervortreten von noch überwiegend agrarischen und schon mehr industrialisierten Gebieten. (Schaubild 2) Der unterschiedliche Verlauf der Bevölkerungsentwicklung läßt sich also nicht vom natürlichen Wachstum der Bevölkerung herleiten, sondern beruht auf territorialen Verschiebungen, auf Wanderungsbewegungen, die eine bleibende Umformung in den Siedelungsverhältnissen herbeiführen. Sie hängen in erster Linie von wirtschaftlichen Gegebenheiten ab. Ihren Ausgang nehmen sie in Bezirken mit agrarischer Struktur, die ihre Bevölkerungsüberschüsse mangels ausreichender Arbeitsgelegenheit teilweise
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Schaubild i Bevölkerungsentwicklung in den unmittelbaren Städten und Bezirksämtern 1855-1905 (1855 = ioo%) 4
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Schaubild 2 Bevölkerungsentwicklung in den bayerischen Regierungsbezirken 1855-1905. 6
Unterfranken
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iiii!riri : "iiiiiii ::! iiit!l
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weitergeben müssen; ihr Ziel finden sie in den industriellen Ballungszentren. Hier erreichen sie nach einer wellenförmigen Fortbewegung von der kleinsten über die kleinere und mittlere zur Großstadtgemeinde ihren Endpunkt; denn die großstädtische Bevölkerung erweist sich als sehr seßhaft. Betrachten wir zuerst die bayerische Binnenwanderung. An ihr nehmen im Jahre 1900 rd. 2,4 Millionen oder 40,5 % der bayerischen Geburtsbevölkerung teil. Davon verbleibt natürlich ein großer Teil in der Nähe der Heimatgemeinde, immerhin zogen die meisten, nämlich 1,6 Millionen, in ein anderes Bezirksamt weiter, 630000 in einen anderen Regierungsbezirk.7 Die Richtung der örtlichen Verschiebungen wird vor allem durch den Zug in die Stadt, sowie von den nördlich der Donau gelegenen Gebieten in den Süden, charakterisiert. Hier ist die Wanderhäufigkeit, besonders der ländlichen Gebiete untereinander, größer, was zum Teil mit der Siedlungsform und den Erbrechtsverhältnissen zusammenhängt.8 Beim Bevölkerungsaustausch mit dem übrigen Reichsgebiet und dem Ausland bilden bis zur Reichsgründung die Vereinigten Staaten das weitaus wichtigste Ziel; mehr als vier Fünftel - die Pfalz weist einen noch größeren Anteil auf - aller Auswanderer suchen dort eine neue Heimat. Nach 1871 wendet sich die bayerische Wanderungsbewegung immer mehr dem übrigen Reichsgebiet zu, um die Jahrhunderwende beträgt der Prozentsatz der nach Amerika Ausgewanderten kaum mehr als 2%.9 Das Ergebnis aller Zu- und Abwanderungen schlägt sich in der Wanderungsbilanz nieder. Sie ist ein guter Gradmesser für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Von einem Wanderungsverlust sind die überwiegend landwirtschaftlichen Gebietsteile Deutschlands betroffen. Von 1840-1905 verlor Bayern fast 700000, Posen über 800000, Württemberg 585000 und Baden immerhin noch 300000 Menschen durch Wanderungsverlust, während Sachsen und das Rheinland über 300000 und Berlin über 1 Million Einwohner durch die Wanderungsbewegung gewannen.10 Bayern weist also eine negative Wanderungsbilanz auf. Die Pfalz hat den stärksten Wanderungsverlust, gefolgt von Ober- und Unterfranken, Niederbayern und der Oberpfalz. Gering ist die Einbuße Schwabens. Mittelfranken, besonders jedoch Oberbayern verzeichnen im Durchschnitt einen Wanderungsgewinn. 11 Am erfolgreichsten schneiden bei der Bilanzierung der Wanderungsergebnisse die Städte ab. Hier ist die Zunahme durch Wanderungen größer als das natürliche Bevölkerungswachstum. Dies gilt besonders für das Vierteljahrhundert vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.12 In dieser Zeit erhalten die bayerischen Städte einen bedeutenden Bevölkerungszuwachs und bilden so-
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mit als Wirtschaftsmittelpunkte das wichtigste Auffangbecken für die Wanderflut der Landbevölkerung.
BERUFS- UND SOZIALSTRUKTUR
Betrachten wir die berufliche und soziale Gliederung des bayerischen Volkes, so wird sich die eben wahrgenommene Umschichtung der Bevölkerung, die Verlagerung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwergewichts vom Land zur Stadt bestätigen (Schaubild 3). Auffallend ist zunächst eine Intensivierung der Erwerbstätigkeit: die berufstätige Bevölkerung wächst im Verhältnis schneller als die Gesamtbevölkerung. 1882 waren rd. 2,73 Millionen Bayern erwerbstätig oder 51,8% der Gesamtbevölkerung, 1907 sind es schon über 3,72 Millionen oder 56,4%.13 Die Zunahme der Berufsbevölkerung vollzog sich vorwiegend im gewerblichen Sektor, im Handel und im Verkehr. Immerhin ersehen wir aus einer Gegenüberstellung mit den vergleichbaren Zahlen der anderen Bundesstaaten die große Bedeutung, die der Landwirtschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts im Leben Bayerns zukommt. Bei der regionalen Aufschlüsselung der bayerischen Berufsbevölkerung fällt der noch überwiegend agrarische Charakter der Oberpfalz und Niederbayerns ins Auge, auch in Unterfranken überwiegt die landwirtschaftliche Berufsarbeit. Die Pfalz und Mittelfranken sind industriell am stärksten durchsetzt. Die bemerkenswerteste Erscheinung ist die Ausdehnung des Frauenerwerbs. Der Anteil der Frauenarbeit nimmt unverhältnismäßig schneller zu als die Erwerbstätigkeit der Männer. Nach der Reichskrankenstatistik kamen 1885 auf 100 männliche Mitglieder 22,2 weibliche, 1914 sind es schon 58,6.15 Ihre Haupterwerbsquellen waren 1907 die Landwirtschaft, in der 51,4% der BerufstätigenFrauen waren, die Industriell,2%), Handel undVerkehr(4o,7%), häusliche Dienste (73,3%) und der öffentliche Dienst (2o%).16 Die soziale Umschichtung der Berufsbevölkerung ist gekennzeichnet durch Abnahme der Selbständigen, rasches Anwachsen der Arbeiterklasse, vor allem der verheirateten Arbeiter, Entstehung und sprunghafter Anstieg einer neuen Angestelltenschicht, vermehrte Beteiligung der Frau am Erwerb, insbesondere am Lohnerwerb und ausgedehnte Heranziehung von Jugendlichen, vor allem als Arbeiter. Industrie, Handel und Verkehr beschäftigten 1907 - ausschließlich der Alleinbetriebe - 15,4% Selbständige, 7,2% Angestellte und 77,4% Arbeiter.17 Die Angestelltenschicht wächst relativ am schnellsten; von 1882 bis 1895 stieg die Zahl der Angestellten um 136,3%, in den nächsten zwölf
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Schaubild 3 Entwicklung der Berufsbevölkerung in Bayern und im Reich 1882-1907. (Gesamte Berufsbevölkerung = ioo%) 1 4
I I I I I I
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F o r s t - und
Landwirtschaft
Gewerbe und .Industrie
Niederbayern
Oberpfalz
Oberfranken
Schwaben
Unterfranken
Oberbayern
Mittelfranken
Bayern
Württemberg
Preußen
Sachsen
= = = |
11
j
Handel und Verkehr Sonstige
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Jahren um weitere 144%, während die Vergleichswerte für die Arbeiter 87,5 %und 46,2% sind.18 Bemerkenswert ist der Rückgang der Selbständigen, die 1882 noch fast gleich stark vertreten sind wie die in abhängigen Stellungen befindliche Schicht. 25 Jahre später ist die Lohn- und Gehaltsempfängergruppe beinahe dreimal so groß.19 Wie schichten sich nun die Arbeitnehmer nach der Betriebsgröße? Die Gruppe der Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen nimmt mit zunehmender Größe des Betriebes ab und tritt numerisch weit hinter die der Arbeiter zurück; diese sind in Kleinbetrieben mit 37,6%, in Mittelbetrieben mit 78,7% und in Großbetrieben mit 90% vertreten.20 Da in Bayern noch immer der Kleinbetrieb eine bedeutsame Stellung einnimmt, wächst in den übrigen Bundesstaaten die Arbeitnehmerschicht schneller; sie steigt zwischen 1895 und 1907 in Bayern um 36,1%, in Württemberg um 42,7% und in Preußen um 46,2%. 21 Die Landwirtschaft beschäftigte 1907 22,8% Betriebsleiter, 55,7% mithelfende Familienangehörige und 21,5% fremde Arbeitskräfte.22 Die Arbeitsverfassung der bayerischen Landwirtschaft ist also der sozialen Gliederung in Industrie, Handel und Verkehr entgegengesetzt und weist einen ausgesprochen familienhaften Charakter auf; nur ein rundes Fünftel aller in der Landwirtschaft Beschäftigten sind familienfremde Arbeitskräfte, nämlich Dienstboten, Tagelöhner und Wanderarbeiter. Die Dienstboten überwiegen in Gebieten, wo der bäuerliche Besitz die vorherrschende Betriebsform ist, also im südlichen Bayern und der Oberpfalz. Tagelöhner werden hauptsächlich auf Klein- oder parzelliertem Besitz beschäftigt, in Gegenden mit Wein- und Obstbaukultur (Unterfranken, Pfalz), insbesondere jedoch auf den wenigen in Bayern befindlichen Gutsbetrieben. Die Zahl der Wanderarbeiter ist demnach beschränkt; sie strömen vornehmlich zur Erntezeit (Hopfenernte) aus der Rhön, dem Spessart oder aus dem östlichen Europa ein. Den Hauptanteil der fremden Arbeitskräfte stellen die Dienstboten; ihre Zahl geht aber von Jahr zu Jahr zurück und kann nur durch Einbeziehung weiterer Familienangehörigen in den Arbeitsprozeß ausgeglichen werden. Die Abwanderung der fremden Hilfskräfte wird verursacht durch schlechte Berufsaussichten, mangelnde Rechtsgleichheit, außerdem durch den Rhythmus der landwirtschaftlichen Arbeit, die verstärkte Verwendung von Maschinen, welche zahlreiche Arbeitskräfte im Winter freisetzt und damit noch deutlicher den saisonalen Charakter der landwirtschaftlichen Arbeit unterstreicht. Von den übrigen Berufsschichten fällt besonders die Zunahme der in staatlichem und gemeindlichem Dienst tätigen Beamten und Bediensteten ins Auge,
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erklärlich durch die wachsende Tendenz des Staates, wirtschaftlich tätig zu werden und in die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung einzugreifen. Die Unterscheidung der bayerischen Bevölkerung lediglich nach ihrer Stellung innerhalb der Betriebsorganisation, nach der betriebstechnischen Unter- und Überordnung der Berufstätigen im Arbeitsprozeß, ist jedoch eine mehr schematische, denn die einzelnen Schichten wie die der Arbeiter oder noch mehr der Angestellten bergen so verschiedenartige Elemente in sich, daß für die soziale Schichtung Besitz und Einkommen größere Aufschlüsse bieten. Eine Einkommensuntersuchung verdeutlicht in jeder Hinsicht viel besser die Wirtschaftslage der einzelnen Bevölkerungsgruppen und die Wohlstandsverteilung innerhalb der Gesellschaft. Aber auch sie ist problematisch. Zunächst ist der subjektive Geldwert für die einzelnen Einkommensschichten nicht der gleiche; er nimmt mit wachsender Einkommenshöhe ab. Auch stehen dem Konsumenten in der modernen Wirtschaft in steigendem Maße Leistungen der öffentlichen Hand zur Verfügung; diese sind jedoch nicht unentgeltlich, kommen aber mehr den unteren Einkommensstufen zugute. Die Steuerstatistik enthält die Einkommen in der steuerrechtiichen Abgrenzung, die steuerlich erfaßten Einkommen liegen also wesentlich unter den Gesamteinkommen, so daß die Aufstellung ungünstiger erscheint, als sie tatsächlich ist.23 Für Bayern konnte nur die Einkommensstatistik für 1911 benutzt werden, während die herangezogenen Vergleichswerte der übrigen Bundesstaaten aus den Jahren 1912 und 1913 stammen. Hinzu kommt, daß die bayerische Statistik juristische Personen nicht von natürlichen trennt, was jedoch nur für die oberen Einkommensstufen von Bedeutung ist (Tabelle 1). 7 5 % der unberichtigten Jahreseinkommen liegen in Bayern unter 15 00 Mark, bringen aber nur 41 % des gesamten Einkommensvolumens auf. Im übrigen Deutschland herrschen ähnliche Verhältnisse, nur in Baden liegen sie günstiger (62%), während in Ostdeutschland fast 90% aller Einkommen 1500 Mark nicht erreichen. Die Einkommen zwischen 1500-6000 Mark umfassen 23,2% aller Pflichtigen, denen 37,8% des Gesamteinkommens zufallen. Diese Mittelschicht ist in den übrigen Bundesstaaten ähnlich gegliedert. Die weiteren Gruppen sind nur noch mit Prozentbruchteilen vertreten. In der Einkommensstufe 6000-12 000 Mark liegt Bayern noch im Reichsdurchschnitt, Spitzeneinkommen sind hier jedoch nur schwach vertreten. Ungefähr 24000 Reichsbürger versteuern ein Einkommen über 50000 Mark. In Bayern gehören dieser Gruppe - einschließlich juristischer Personen - 1700 Einkommen an. In Baden,
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Tabelle 1
Bayern
2 0 0 0 N
SS 0 0 0 0
über 50000 M
1500-6000 M
Einkommenstufen
bis 1500 M
Die Einkommensverhältnisse in Bayern im Jahre 1 9 1 1 und die einiger anderer deutscher Gebiete im Jahre 1913 M
1O
10 0
75.00 23,20 37,8o
1,22 6,50
0,5I
0,06
7.20
7,5°
O \D
N
Pflichtige unberichtigte Einkommen
41,00
Baden
Pflichtige unberichtigte Einkommen
62,40 30,00
35.50 45.10
1.34 7,00
0,62 8,00
0,12 9.9°
Preußen
Pflichtige unberichtigte Einkommen
79.90 48,20
18,40 30,20
1,04 6,00
o,53 7,60
0,09 8,00
Pflichtige unberichtigte Einkommen
83,20 52,80
15,20
28,20
1,04 6,10
0,49 7,10
0,07 5,80
Hamburg
Pflichtige unberichtigte Einkommen
68,io
24,90
27.40 29,00
1.99 6,20
17,50
2,09
0,42 22,40
Berlin-Brandenburg
Pflichtige unberichtigte Einkommen
73.7° 37.90
23,80 32.70
7.30
Mi
0,83 10,50
Ii,60
Rheinprovinz
Pflichtige unberichtigte Einkommen
45,10
76,10
22,20 3 2 .30
5.40
1.05
o,57 7,60
0,10 9,60
Ostpreußen
Pflichtige unberichtigte Einkommen
89,60 64,40
9.50
0,62
0,28
22,40
5.3°
5,30
0,02 2,60
Sachsen
0,16
% der Gesamtzahl der Pflichtigen % der Gesamtsumme der unberichtigten Einkommen
besonders jedoch in den Industriegebieten, ist diese Schicht absolut und relativ stärker vertreten, in Berlin mit 1800 Pflichtigen und einem i4%igen Anteil am Gesamteinkommen, in Hamburg sogar mit 2000 Einkommen, die 22,4% des steuerpflichtigen Einkommens aufbringen. Die bayerische Einkommensschichtung weicht also in großen Zügen nicht vom Reichsdurchschnitt ab. Viele Gebiete, wie Baden, das Rheinland und Teile Norddeutschlands weisen sogar eine ausgesprochen günstigere Verteilung des Wohlstands auf. Daß hohe Einkommen in Industriegebieten häufiger
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Bayern im Umbruch
anzutreffen sind, ist erklärlich; man kann aus dieser Tatsache jedoch schwerlich folgern, in Bayern wäre die Einkommensbildung langsamer, dafür aber um so ausgeglichener, „gesünder" verlaufen. Fehlen hier die großen Einkommen, gab es doch immerhin fast zwei Millionen Pflichtige mit einem geringeren Jahreseinkommen als 1500 Mark. Bisher war von der Bevölkerung die Rede, von ihrer Entwicklung im Laufe der Zeit, ihrer Mobilität und Schichtung; nun werden die wichtigen Wirtschaftszweige untersucht in Hinblick auf ihre Stellung innerhalb der bayerischen und deutschen Volkswirtschaft.
LANDWIRTSCHAFT
In der Landwirtschaft vollzogen sich im 19. Jahrhundert grundlegende Änderungen. Sie erstrecken sich auf die Agrarverfassung, den landwirtschaftlichen Betrieb und auf das Verhältnis der Landwirte zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, d.h. ihre Beziehungen zum Markt. Was die Agrarverfassung betrifft, so erfolgte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Aufhebung des geteilten Eigentums und der Spanndienste. Die Besitzstruktur der deutschen Landwirtschaft hat dagegen keine nennenswerten Änderungen erfahren; sie gliedert sich in drei voneinander verschiedene Gebiete. Im Osten herrscht der Großgrundbesitz vor, in Nordwest-, Mitteldeutschland und Bayern überwiegt der bäuerliche Besitz, im Südwesten der Kleinbesitz. Die vorherrschende Betriebsgröße in der bayerischen Landwirtschaft ist der mittelbäuerliche Besitz von 5-20 ha. Etwa ein Drittel aller Betriebe gehört zu dieser Gruppe. Es folgen ihrem Flächenumfang nach die großbäuerlichen Wirtschaften mit 20-50 ha landwirtschaftlich genutzter Fläche. Daneben ist der kleine Besitz, namentlich der kleinbäuerliche (2-5 ha), ziemlich stark vertreten. In Bayern gibt es nur wenige Großbetriebe, seine landwirtschaftlich genutzte Fläche ist in Sachsen 6 mal, im Reichsdurchschnitt 10 mal und in Preußen fast 13 mal so groß.25 Allerdings ist der Großgrundbesitz umfangreicher als die Zahl der Großbetriebe vermuten läßt; denn oft wird nur der Forstbetrieb in eigener Regie geführt und das übrige Land an kleinere Grundbesitzer verpachtet.26 Wir treffen in Bayern unterschiedliche Betriebsgrößen an. In Ober-, Niederbayern, der Oberpfalz und Schwaben überwiegt das Bauerngut, in Mittel- und Oberfranken fällt der durchschnittliche Grundbesitz eines Betriebes auf 5-6 ha, in Unterfranken auf 4,65 ha und der Pfalz schließlich auf 2,87 ha.27 Als Gründe für die unterschiedlichen Besitzverhältnisse können wir die Güte des Bodens,
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seine Bearbeitungsweise, dann aber auch die Besiedelung der einzelnen Landesteile und endlich die Erbrechtsformen anführen. Auch die Industrialisierung hat Einfluß auf die Betriebsgröße genommen. Neben der starken Vertretung des Bauerngutes ist die große Ausdehnung der Eigenwirtschaft charakteristisch für die bayerische Landwirtschaft. 66,4% aller Betriebe sind ausschließlich Eigenwirtschaften, 95,1% der Gesamtfläche sind Eigenland.28 Gibt es somit in Bayern keinen eigentlichen Pächterstand, ist doch die Zupachtung stärker vertreten; immerhin beträgt die gesamte Pachtfläche nur 3,3% des landwirtschaftlich genutzten Bodens. In Württemberg ist sie 2 mal, in Sachsen 3 mal und in Preußen 41ml so groß.29 Unter dem Einfluß der Landwirtschaftswissenschaft vollzog sich ein grundlegender Wandel der landwirtschaftlichen Betriebsweise. Schon früh erfolgte der Übergang von Dreifelder- zur Fruchtwechselwirtschaft, die Aufhebung der gemeinschaftlichen Nutzungsrechte am Boden, Flurbereinigungen und Bodenmeliorationen. Die rationelle Bewirtschaftung, die Anwendung von Kunstdünger und der Einsatz von Maschinen bewirkten eine enorme Produktivitätssteigerung. Die intensive Bodenbewirtschaftung schlug sich im stärkeren Verbrauch künstlicher Düngemittel nieder. Der durchschnittliche Kaliverbrauch pro 100 ha landwirtschaftlich nutzbarer Fläche betrug z.B. in Bayern 1890 2 1 k g , 1900 schon i n kg und 1908 gar 276 kg. An arbeitssparenden Maschinen setzten sich im bayerischen Raum besonders die Dresch-, Mäh- und Säemaschinen durch. Hatten 1882 erst 3,2% aller Betriebe eine Dampfdreschmaschine, waren 1907 schon 17,7% - von den Großbetrieben 67,1% - mit Dreschern ausgerüstet.30 Auch die Elektrizität hält Einzug auf dem Bauernhof. Jede fünfte in der bayerischen Landwirtschaft eingesetzte Kraftmaschine wird 1907 mit elektrischem Strom angetrieben.31 Die Anwendung der agrartechnischen Fortschritte setzt jedoch beim Landwirt ein gewisses Bildungsniveau, eine Arbeitsschulung voraus, ohne die er seinen Hof nach rationellen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht fuhren kann. Anfangs waren es nur wenige, meistens Großbetriebe, die kaufmännische Ordnung, Buchführung und Kostenrechnung einführten; die meisten bewegten sich noch in überlieferten Gleisen. Über „altväterliche" Betriebsweise werden in dieser Zeit viele Klagen laut. Geldwirtschaftliche Vorstellung und Rentabilitätsrechnung sind dem Bauern noch fremd, er lebt in der Naturalwirtschaft, bleibt am Grund und Boden haften, auch wenn dieser schon lange nicht mehr die Quelle eines angemessenen Erwerbs darstellt. Daß sich im Laufe der Zeit doch ein Wandel vollzog und der Geist der Wirtschaftlichkeit in die Bauernhöfe einzog, muß den Auswirkungen der großen Agrarkrise am Ende des 19. Jahrhunderts zugeschrieben werden. Die
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Bayern im Umbruch
Not, der Zwang zur Selbsthilfe und zur Zusammenfassung aller Kräfte führte die Mobilisierung und Politisierung der bäuerlichen Massen herbei; die Krise bildet gleichsam die Antriebskraft für den Sprung in eine neue Zeit, der wohl ohne äußere Einwirkungen viel später erfolgt wäre. Wie kam es zu dieser Krise? Die wirtschaftliche Lage der Landwirte war nach der Grundentlastung 1848 günstig verlaufen. Nicht nur die Produktivität konnte erhöht werden, auch die Absatzverhältnisse gestalteten sich vorteilhaft. Die Folge war ein rasches Ansteigen der Güterpreise. Die Freiheit des Grundeigentums gestattete Erwerb und Verkauf, hypothekarische Belastung und führte somit auch zu häufigem Besitzwechsel, zur Überwertung der Grundrente und einer zunehmenden Verschuldung. Ende der 70 er Jahre tritt nun die überseeische Konkurrenz landwirtschaftlicher Erzeugnisse ihren Siegeszug auf dem europäischen Markt an. Nordamerika und Argentinien können in dieser Zeit ihre fruchtbaren Gebiete durch Eisenbahnen erschließen; die Verbesserung im Verkehrswesen, der Bau großer und schneller Schiffe ermöglichen jetzt die von Jahr zu Jahr wachsenden Getreideüberschüsse in Europa abzusetzen. Die Folge ist ein Verfall der Getreidepreise; denn die Landwirtschaft kann zwar durch Intensivierung die Produktion steigern, auch verbilligen sich die Betriebsmittel wie Dünger, Maschinen und Geräte im Laufe der Zeit, auf der anderen Seite aber steigen die Arbeitslöhne, die Soziallasten und Steuern. Die Landwirtschaft ist auch nicht wie die gewerbliche Wirtschaft in der Lage, durch Konzentration der Betriebseinheiten die Kosten zu senken und somit der Konkurrenz zu begegnen. Die große Krise erreicht zu Beginn der 90 er Jahre ihren Höhepunkt. Die Rente sinkt, Grundstücks- und Pachtpreise verfallen, während Schuldenlast und Vergantungen gewaltig anwachsen.32 Drei Hebel werden zur Überwindung der Krise in Bewegung gesetzt: die Selbsthilfe, die politische Mobilisierung der Bauernmassen zur Einflußnahme auf Verwaltung und Gesetzgebung und der Eingriff des Staats selber. Der Gedanke, durch Selbsthilfe, durch Zusammenschluß vieler die Lage des einzelnen und des ganzen Standes zu heben ist eigentlich älter. Aber der Funke, der den genossenschaftlichen Gedanken in breite Kreise hineintrug, zündete erst in der Zeit der Not, als der Zwang den Zusammenschluß gebieterisch forderte. 1893 entsteht der bayerische Landesverband landwirtschaftlicher Genossenschaften. Seine Gründung gibt den Anstoß für weitere Zusammenschlüsse. 1911 ist im rechtsrheinischen Bayern das Genossenschaftswesen in vier großen Verbänden zusammengefaßt: in dem bayerischen Landesverband München mit ca. 2800 Genossenschaften, in dem landwirtschaftlichen Revi-
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111
sionsverband des Bayerischen Bauernvereins in Regensburg mit 1100 Genossenschaften, in der Raiffeisenschen Organisation, Verband Nürnberg mit 700 Genossenschaften und in dem bayerischen Genossenschaftsverband Ansbach mit ca. 300 Genossenschaften.33 Das Genossenschaftswesen hat das wirtschaftliche Fachwissen und die allgemeine intellektuelle Bildung namentlich des kleinen Landwirts gehoben, hat die Solidarität, das Zusammengehörigkeitsgefühl in den kleinen Gemeindeverbänden gestärkt und dem Bauern schließlich Selbstbewußtsein gegeben und zugleich die Gewißheit, bei seinem Handeln nicht allein zu stehen, sondern hinter sich die geballte Kraft einer wirtschaftlich starken Organisation zu spüren. Die agrarischen Interessenverbände - wir sprechen noch später von ihnen weckten das wirtschafte- und sozialpolitische Interesse der Bauern. Auch Bauernvereine bestanden schon seit den 60 er und 70 er Jahren, aber erst jetzt unter der Einwirkung der Krise und den drohenden Caprivischen Handelsverträgen erhalten sie Zuspruch und damit die Stoßkraft für die Durchsetzung ihrer Forderungen. Der Eintritt des Landvolks in das politische Leben war in mehrfacher Hinsicht vom Erfolg begleitet: eine protektionistische Handelspolitik verfestigte das Preisgefüge des Agrarmarktes wieder, gleichzeitig begann der Staat Förderungsprogramme für die Landwirtschaft zu entwickeln, oft unter Vernachlässigung anderer Aufgabenbereiche. Zur Unterstützung und als Bindeglied zwischen sich und den Landwirten erfuhren die halbstaatlichen landwirtschaftlichen Standesvertretungen eine Umgestaltung. Der 1810 gegründete bayerische Landwirtschaftsverein wurde 1894 den Erfordernissen der Zeit angepaßt; als Bayerischer Landwirtschaftsrat trug er ähnlich den preußischen Landwirtschaftskammern viel zur Hebung der Landwirtschaft bei.34 Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verläuft für die bayerische Landwirtschaft dann äußerst günstig, die Verkaufspreise sind mehr als kostendeckend, der Bülowtarif ermöglicht sogar die Bezahlung höherer Arbeitslöhne.35 Sie produziert für einen Markt, der ständig im Wachsen begriffen ist, doch kann sie die Produktivität anderer Erwerbszweige nicht erreichen; ihr Anteil am Sozialprodukt und am gesamten Steueraufkommen sinkt Jahr für Jahr.
GEWERBE
Das Bild der gewerblichen Wirtschaft Bayerns wird geprägt durch eine große Zahl kleiner und mittlerer Betriebe. Das Schwergewicht bei den Großbetrieben ruht auf dem Investitions- und Verbrauchsgütersektor. Grundstoff- und
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Bayern im Umbruch
Schwerindustrie sind in Ermangelung entsprechender Bodenschätze wenig vertreten. Sie befinden sich im oberbayerischen Pechkohlengebiet, in der Oberpfalz bei Amberg und St. Ingbert/Pfalz. Der natürliche Reichtum an Gesteinen und Erden dagegen wird von einer umfangreichen Industrie der gebirgigen Randgebiete ausgenutzt. Eine hochqualifizierte Metall- und Maschinenindustrie arbeitet in Augsburg, Nürnberg, München und dem mittelfränkischen Raum, die Textilindustrie konzentriert sich auf Schwaben und Oberfranken, die chemische auf Ludwigshafen und München, die elektrotechnische auf Nürnberg. Das Bekleidungsgewerbe ist in München und besonders um Aschaffenburg herum stark vertreten, während die Nahrungsmittelindustrie (Brauereien, Brotfabriken) Schwerpunkte in den größeren Städten bildet, oder aber durch Anbau und Standort gebunden ist, so die Zuckerfabriken in Frankenthal und Regensburg und die Großmühlen in Ludwigshafen am Rhein. Der Zeitraum von 1890-1914 wird gekennzeichnet durch die großartige Fortbildung von Technik und Organisation. Die Volkswirtschaft wird gleichsam intensiviert, ihr Volumen dehnt sich, ihr Kreislauf wird beschleunigt. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität fuhrt zur Ausweitung der Erzeugung, zur Massenproduktion; die Verbesserving des Verkehrswesens begünstigt den Massenabsatz. Man denke nur an die damals aufsehenerregende Neuerung in der Flaschenherstellung. Mit der neuen Flaschenblasemaschine, System Owen, konnten jetzt bei Einmannbedienung in 10 Stunden 3000-4400 Litergläser ausgestoßen werden, während beim Handbetrieb drei Arbeiter in der gleichen Zeit nur 600 Gläser herzustellen vermochten. Die Kostenersparnis betrug fast 400%. Die Verbilligung der Produktion, die Mehrung der Konkurrenz steigert gleichzeitig den Konsum, der seinerseits wiederum einen Mehrbedarf an Gütern und damit an Arbeit zur Folge hat. Dieser Marktschematismus zwingt die Industrie praktisch zu immer neuer Rationalisierung, zu Investitionen, kurz, zum technischen Fortschritt. Eng damit verbunden ist die Verschiebung innerhalb der Berufsgruppen. Neue Erwerbszweige entstehen und verdrängen alte oder dringen in Bereiche vor, die bisher noch nicht in die moderne Wirtschaft einbezogen waren, so z.B. werden der Hauswirtschaft in immer stärkerem Maße Leistungen abgenommen. Große Zuwachsraten zeigen vor allem jene Produktionszweige, die Produktionsmittel für die Gütererzeugung herstellen oder dieser in anderer Weise dienen, wie die Maschinenindustrie, die chemische und elektrotechnische Industrie, das Verkehrswesen, das Baugewerbe; denn der Anteil der Konsumgütererzeugung an der Wertschöpfung wird immer geringer zugunsten der Investitionsgüterproduktion und der Erstellung von Dienstleistungen.
Wirtschaft und Gesellschaft In Bayern vor dem Ersten Weltkrieg (1890-1914)
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Die Verbesserung und Erweiterung des Verkehrswesens, die stürmische Entwicklung der Technik, der eine Umwälzung gan2er Industriezweige folgt und sie vor neue Aufgaben stellt, verlangt gebieterisch nach einer anderen Organisationsform, die den Anforderungen der sich nun ausbildenden Industriewirtschaft gewachsen ist. Eine Zusammenfassung, Konzentration aller wirtschaftlichen Kräfte wird eingeleitet, die sich auf alle Bereiche erstreckt: Betriebskonzentration, Besitz- und Kapitalkonzentration, endlich eine kaufmännische Konzentration, d.h. die Zusammenfassung vieler Unternehmen zur gemeinsamen Organisation einzelner Teile der kaufmännischen Betriebsführung, so z.B. des Einkaufs, Vertriebs oder der Festlegung der Preise.38 In Bayern ist die großbetriebliche Organisation geringer ausgebildet als in anderen, gewerbekräftigeren Bundesstaaten.87 63,4% aller Arbeitnehmer sind 1907 in Betrieben tätig, die unter 50 Arbeitnehmer beschäftigen; in Sachsen sind es nur noch 5 3,5 % , in Preußen 5 2,5 % und in Baden 5 2,1 %. 3 8 Bemerkenswert ist jedoch die raschere Zunahme der Konzentrationsbewegung in Bayern zwischen 1895 und 1907 als im Reichsdurchschnitt;39 ein Zeichen, daß die bayerische Industrie verstärkte Anstrengungen unternommen hat, den Anschluß an gewerbekräftigere Gebiete zu finden. Der Handwerksbetrieb wird durch die Konzentrationsbewegung immer weiter zurückgedrängt. In einigen Bereichen zeigt er noch Widerstandskraft, viele Handwerksarten sterben jedoch aus. Andererseits eröffnet die technische Entwicklung dem Handwerk neue Tätigkeitsbereiche, wie z.B. in der Elektroindustrie, im Kraftfahrzeughandwerk oder als Zulieferbetrieb für Großunternehmen. Daneben verlagern viele Handwerker ihre Haupttätigkeit in den Handel hinein. Als rückständige Betriebsform ist die Heimarbeit anzusprechen. Sie behauptet sich mit zäher Beharrlichkeit, gewinnt sogar an Boden; 1907 waren rund 100000 Personen mehr oder minder von der Hausindustrie abhängig, um ein Drittel mehr als 1882. 40 Die Heimarbeit konzentriert sich mit der Konfektion um die großen Städte herum, alle sonstigen hausindustriellen Tätigkeiten werden in den wirtschaftsschwachen Gebieten Bayerns ausgeübt. Hervorzuheben sind die Haus-Weberei und -Näherei sowie die Korbflechterei in den oberfränkischen Gebirgsgegenden, im Fichtelgebirge und Frankenwald, die Spitzenklöppelei im Böhmerwald, die Kleiderkonfektion im Spessart und Odenwald, die Schuhmacherei im Berggebiet der Hardt, die Strohhutnäherei im Allgäu, die Holzschnitzerei im Berchtesgadener Land. 41 Diese Gebiete können die ständig wachsende Bevölkerung nicht mehr tragen; sie muß weichen oder neben der Landwirtschaft Heimarbeit annehmen.
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Bayern im Umbruch
Da es ihr jedoch an Betriebsmitteln, an Kapital und der nötigen Geschäftskundigkeit fehlt, die industrielle Konkurrenz zudem auch billiger liefert, befindet sich die kaufmännische Organisation der Heimarbeit meistens in den Händen sogenannter Zwischenmeister, „Faktoren", die Einkaufs- und Verkaufspreise festsetzen und damit die Heimarbeiterschaft: in steter Abhängigkeit halten. Die Berliner Heimarbeiterausstellung 1906 hat hier erschütternde Zustände aufgedeckt, besonders in der Konfektion mit ihrem „Sweatingsystem". Die großbetriebliche Organisation beschränkt sich vornehmlich auf wenige Gewerbezweige; zu ihnen zählen der Bergbau, das Hütten- und Salinenwesen, die Textil-, Maschinen- und Papierindustrie, sodann auch die Industrie der Steine und Erden. Freilich dürfen die Großbetriebe der Betriebszählung von 1907 nicht mit denen heutiger Zeit verglichen werden. Betriebe mit über 1000 Arbeitnehmern gab es in größerem Umfang im Ruhrgebiet und der Berliner Gegend, so beschäftigte Krupp 1910 rund 70000 Personen.42 In Bayern wurden 1907 39 „Riesenbetriebe" gezählt, darunter die größten die B A S F mit über 8000, die MAN mit fast 7000, die Siemens-Schuckertwerke Nürnberg mit 5000 und die Mechanische Baumwollspinnerei und Weberei Augsburg mit fast 3000 Arbeitern und Angestellten.43 Mit dem Eintritt in die moderne Industriewirtschaft vollzogen sich in allen ihren Bereichen technische und organisatorische Umwälzungen. Beispielhaft und gleichsam am ausgeprägtesten verlief dieser Entwicklungsprozeß auf dem Gebiet der Nutzbarmachung der elektrischen Energie für die Wirtschaft. Als im Jahre 1891 auf der Frankfurter Elektrizitätsausstellung die von Oskar von Miller angeregte erste Drehstrom-Kraftübertragung von Laufen am Neckar nach Frankfurt auf eine Entfernung von 175 km gelang, war ein erster Ansatzpunkt für die „Elektrifizierung" des wirtschaftlichen Lebens geschaffen; denn während sich die Verwendung der Dampfkraft in der Erzeugung von mechanischer Kraft erschöpft, eröffnet die elektrische Energie durch die Vielheit ihrer Verwendung der Industrie ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten. Der Aufbau der Elektrizitätswirtschaft und der Elektroindustrie nahm einen stürmischen Verlauf; immer weitere Anwendungsbereiche wurden erschlossen und damit auch der übrigen Wirtschaftstätigkeit entscheidende Impulse vermittelt. Wie kein anderer wurde gerade dieser Industriezweig von der Konzentrationsbewegung erfaßt. Viele Anfang der 90 er Jahre gegründete Firmen verschwanden bald wieder oder verschmolzen mit anderen. Nach der Jahrhundertwende besaßen zwei große Gruppen einen entscheidenden Marktanteil, die A E G und die Siemens-Schuckert-Gruppe, die 1903 aus den Firmen Siemens & Halske, Berlin und Schuckert, Nürnberg gebildet worden war.
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Die Versorgung der Wirtschaft und der Haushaltungen mit Strom lag vorerst in den Händen privater Unternehmer. Erst 1910 richtete der bayerische Staat sein Augenmerk auf energiewirtschaftliche Fragen. Bis dahin waren außer einer Reihe von örtlichen Elektrizitätswerken und kleineren Überlandwerken acht größere Elektrizitätsgesellschaften gegründet worden, darunter die Lech-, Amper- und Isarwerke; letzteres errichtete das erste bayerische Überlandwerk zwischen 1889 und 1894 bei Höllriegelskreuth zur Versorgung der näheren Umgebung Münchens. Die Koordinierung der bayerischen Energiewirtschaft durch den Staat, um die Entwicklung nach einheitlichen technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten durchzuführen, machte jetzt zwar den Bau größerer Werke möglich, so der Pfalzwerke (1912), der Salzachkraftwerke (1913) und der von privater Hand gebauten Leitzachwerke (1914), 44 aber die Elektrizität konnte den anderen Energieträger, die Kohle bei weitem nicht ersetzen. Die Revierferne stellte für die Wirtschaft des Landes ein ernstes Problem dar. Lange Frachtwege steigerten die Kosten und gefährdeten die Wettbewerbsfähigkeit. Der bayerische Bergbau förderte 1913 nur 0,4% der deutschen Steinkohlen- und 2,2% der Braunkohlenproduktion;45 er konnte damit nicht einmal den Gesamtkohlenverbrauch der Städte München, Nürnberg und Augsburg befriedigen.46 Zu dieser verkehrsgeographisch und energiewirtschaftlich ungünstigen Lage treten noch andere Behinderungen für die bayerische Wirtschaft, vor allem eine rigorose Staffeltarifpolitik der preußischhessischen Eisenbahngemeinschaft und, was die Metallindustrie schwer beeinträchtigte, die Kartellierung der deutschen Schwerindustrie. Der 1904 gegründete Stahlwerksverband legte nämlich die Fracht seiner Mitglieder fest. Nicht mehr die tatsächliche Entfernung vom Produzenten zum Käufer, sondern diejenige von einer vorgeschriebenen Frachtbasis zum Käufer war ausschlaggebend. Für die süddeutsche eisenschaffende Industrie wurde Diedenhofen in Lothringen als Frachtbasis bestimmt. Es war somit für die Nürnberger metallverarbeitende Industrie z. B. völlig gleichgültig, ob der syndizierte Stahl aus der benachbarten Maximilianshütte oder dem entfernten Lothringen kam; in jedem Falle wurde sie mit der Fracht Diedenhofen-Nürnberg belastet, also dem fünffachen Betrag, der normalerweise für die Fracht Amberg-Nürnberg aufzuwenden gewesen wäre.47 Die Metallindustrie Bayerns hat sich daher immer mehr der arbeitsintensiven Fertigung zugewandt. Gerade die Ingenieurleistungen der bayerischen Maschinenfabriken, die Entwicklung und Herstellung von hochempfindsamen, leistungsfähigen Motoren und Maschinen, trugen entscheidend zur Industrialisierung des Landes bei. Der Dieselmotor, die Kältetechnik, der Bau moderner
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Bayern i m Umbruch
Textilmaschinen, elektrischer Nähmaschinen, von Falzmaschinen, Dampfziegelpressen und Kugelläger veränderten den Produktionsprozeß, gestalteten ihn grundlegend um. Beeinflußt wurde diese sich immer rascher und in kürzeren Abständen vollziehende Rationalisierung durch die fortschrittlichere amerikanische Technologie. In die Pirmasenser Schuhindustrie z.B. fanden 1903 die amerikanischen Zwick- und Levelingmaschinen Eingang. Schon zwei Jahrzehnte vorher war die Setzmaschine, eine Erfindung des Deutschamerikaners Mergenthaler, nach Bayern gelangt und hatte bahnbrechende Neuerungen im graphischen Gewerbe hervorgerufen. Auf dem Gebiet der Chemie gelang der Forschergruppe der BASF die Indigosynthese und kurz vor dem Weltkriegsausbruch die Synthese des Ammoniaks - ihre ökonomische Ausnutzung sollte während des Weltkrieges die Wirtschaftsstruktur der Pfalz stark beeinflussen. Der Papierherstellung brachte die Erfindung des Sulfit-Zellstoffs in den 80 er Jahren den Anstoß zur großindustriellen Entwicklung, die Verwendung von Eisenbeton veränderte die bisher noch kleinbetriebliche Organisation des Baugewerbes. Schließlich noch ein Blick auf die technischen Umwälzungen im Braugewerbe, einem der wichtigsten Gewerbezweige Bayerns: 19x3 betrug der Anteil am gesamten deutschen Bierausstoß 27,6%.4S Hier wird der Brauprozeß seit den 70 er Jahren grundlegend umgestaltet. Die Kältetechnik erlaubt eine von Witterungseinflüssen unabhängige Produktion und Lagerung, die Fortschritte der Gärungschemie erweitern die Kenntnisse über die Vorgänge, die sich bei der Bereitung des Bieres abspielen.49
VERKEHR UND HANDEL
Unterstützt wird die Entfaltung der Industriewirtschaft durch den Ausbau des Verkehrswesens. Bei allen Verkehrsträgern können wir eine bedeutende Vermehrung, Verbesserung und Verbilligung der Einrichtungen feststellen. Das Transportvolumen wird bedeutend erweitert durch die Vergrößerung der Transporteinheiten und die Steigerung der Verkehrsgeschwindigkeit. Das deutsche Eisenbahnnetz wächst von 1880-1910 auf fast den doppelten Umfang an, das Gütertransportaufkommen ist rund 4 mal, der Personenverkehr 6 mal so groß.50 Im neuen Jahrhundert gewinnt im steigenden Maße das Kraftfahrzeug als neues Verkehrsmittel an Bedeutung. Allein zwischen 1904 und 1911 verdreifacht sich sein Bestand in Deutschland auf 57000.61 Auch das Nachrichtenwesen wird weiter ausgestaltet und, was besonders wichtig ist, verbilligt.
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Zu der Paket- und Briefpost, der drahtlosen Telegraphie tritt 1882 als dritter Zweig der modernen Postverwaltung das Telefon. 1908 besitzt das bayerische Telefonnetz bereits 80000 Anschlüsse.82 Das moderne Verkehrs- und Nachrichtenwesen überwindet die bisher durch große Entfernungen gezogenen Barrieren zwischen den einzelnen Volkswirtschaften und Märkten und gliedert sie in eine immer mehr zusammenwachsende Weltwirtschaft ein. Der Kreislauf zwischen Produktion und Verbrauch pulsiert schneller, und der Austausch zwischen beiden über die Gütermärkte nimmt einen immer größeren Raum ein. Auch hier vollzieht sich, was Karl Bücher als Arbeitsverschiebung bezeichnet hat, nämlich die Veränderung des bisherigen Produktionsablaufes durch Neuverteilung der Leistungen. Handel und Verkehr wachsen schneller als andere Wirtschaftsbereiche. Die Vervollkommnung der Verkehrseinrichtungen ermöglicht dem Handel neue Organisationsformen und Techniken auszuprägen; denn der Massenkonsum und die Erweiterung des Warenangebots machen das Tätigkeitsgebiet des Handels vielgestaltiger, und je umfassender sein Wirkungskreis wird, desto mehr gliedern sich in ihm die Arbeitszweige auf.83 Aber die Zersplitterung des alten Handelsgeschäfts in viele Spezialbranchen ist nur ein Teil der Neuorganisation. Der Handel entkleidet sich auch immer mehr aller Funktionen, die nicht mit seinem unmittelbaren Tätigkeitsbereich in Berührung stehen, so der Lagerung, der Spedition, der Kreditvermittlung. Daneben läßt sich ein anderer Vorgang beobachten: die Ausschaltung des Handels. Auch andere Wirtschaftszweige bedienen sich nämlich der Vorzüge des modernen Verkehrs. Produzenten treten mit ihren Abnehmern direkt in Verbindung, der Kommissionshandel versucht, den Eigenhandel zu verdrängen, die Konsumenten vereinigen sich, um die Deckung ihres Bedarfs beim Großhändler oder direkt beim Produzenten vorzunehmen. Überhaupt erfahren Handel und Vertrieb eine Bereicherung durch neue, originelle Techniken und Methoden. Große Firmen gründen Filialen, richten Warenlager ein, senden Handlungsreisende aus; Versand- und Auktionshäuser entstehen, Abzahlungsgeschäft und Ausverkauf bürgern sich ein, und die Werbung schließlich wird ein unentbehrlicher Bestandteil kaufmännischer Betriebsfiihrung. In den 80 er Jahren halten dann die Warenhäuser, die in den angelsächsischen Ländern und Frankreich schon eine lange Geschichte haben, Einzug in Deutschland. Ihren Siegeslauf konnten weder Proteste und Boykottdrohungen des aufgebrachten Mittelstandes, noch staatliche Beschränkungen mit hohen Steuerauflagen ernsthaft aufhalten. 1906 zählt das Warenhaus Hermann Tietz in München bereits über 1000 Mitarbeiter.54
118
Bayern im Umbruch
So hat auch im Handel die Konzentrationsbewegung eingesetzt. Sie darf jedoch nicht mit der gewerblichen verglichen werden; denn an der gesamten Mehrung der im Handel und Verkehr Beschäftigten ist der Kleinbetrieb mit 6 1 , 1 % beteiligt.85 Dem Einzelhandel fehlen qualifizierte Kräfte, nicht jedoch solche, „die zwar auf dem Handelstheater aufmarschieren und sich ins Handelsregister eintragen lassen, aber weder Warenkunde noch Geschäftskunde mitbringen, weil sie einfach den Handel für eine ungelernte Arbeit ansehen, zu der jeder ausreicht, der einen Lagerbestand auf Vorschuß nehmen und ein Ladenfenster mieten kann".66 Diese Elemente diskreditieren den Berufsstand. Der Detailhandel ist nicht mehr in der Lage, seine Verteilungsfunktion ordnungsgemäß ausführen zu können. Nur aus diesem Grunde erklärt sich der gewaltige Aufschwung, den die Konsumvereinsbewegung in diesen Jahren erfahrt. Sie verkörpert kurz vor dem Weltkrieg eine bedeutende Wirtschaftskraft. Neben den Vertriebsund Einkaufsorganisationen betreibt sie im wachsenden Umfang die Eigenproduktion, vornehmlich Brot- und Fleischfabriken. Eindrucksvoll verlief die Konsumvereinsbewegung in München. Um die Jahrhundertwende waren rund 3 % der Münchener Gesamtbevölkerung konsumgenossenschaftlich versorgt, 1915 sollte es fast ein Drittel sein.57
KREDITWESEN UND KAPITALVERFLECHTUNG
Die gewaltige Steigerung der gesamten Wirtschaftstätigkeit setzt die Ausbildung eines leistungsfähigen Geld- und Kreditwesens voraus. Hierzu war die Anspannung aller Kräfte notwendig, die Ausschöpfung auch der letzten ungenutzten Geldquellen und ihre Bereitstellung für die ständig steigende Nachfrage, kurz, die Mobilisierung des Kapitalmarktes. Weite Kreise wurden von ihr erfaßt. Kreditgenossenschaften und Sparkassen griffen bis ins letzte Dorf aus, um brachliegende Mittel der Wirtschaft zuzuführen. Gleichzeitig zogen sie damit die unteren Volksschichten mit in die Geldwirtschaft ein. Die Spartätigkeit zeugt dafür. Von 1875-1910 wuchs die Höhe der Spareinlagen bei den öffentlichen und nichtöffentlichen Sparkassen Deutschlands von 1,87 auf über 15 Milliarden Mark an.58 Diese Mobilisierung war um so notwendiger, da der deutschen Wirtschaft in weit geringerem Maße Kapitalien und Umlaufmittel zur Verfügung standen als etwa der englischen oder französischen. Das Zinsniveau lag daher stets höher als in den beiden erwähnten Ländern.
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Der große Kapitalbedarf für die Investitionen von Industrie, Handel, Verkehr und die schnell wachsenden Bedürfnisse der öffentlichen Hand machten auch Änderungen in der Organisationsform des Kreditgewerbes notwendig. Um den Anforderungen gerecht zu werden, auch um selbst Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung nehmen zu können, verstärkten die Banken in den 90 er Jahren ihre Kapitalbasis. Eine Konzentration wird eingeleitet, bei der das mobilisierte Kapital an wenigen Punkten zusammenläuft, sich staut und wieder in viele aufnahmebereite Arme zurückfließt. Sie wird eröffnet mit Kapitalerhöhungen, Aufnahme kleinerer Banken und führt über den Zusammenschluß größerer Kreditinstitute, der Bildung von Interessengemeinschaften, Tochtergesellschaften, Ausdehnung des Filialnetzes und Eröffnung von Zweigstellen zu einer zunehmenden Macht- und Kapitalkonzentration auf der einen und einer zahlenmäßigen Abnahme der Banken auf der anderen Seite. Vor allem verliert der kleine Privatbankier an Bedeutung, obwohl er sich auf Grund seiner Vertrautheit mit speziellen örtlichen Verhältnissen und einer auf den Kunden besser abgestimmten individuellen Bedienung noch überraschend lange halten kann, so vor allem als Finanzier der schwäbischen Textilindustrie. Aber nicht der äußere Zusammenschluß allein, die Kapitalanballung, auch die Form, die Technik mit der das Bankgeschäft jetzt abgewickelt wird, wirkt konzentrationsfördernd. So der Kontokorrentkredit, das Emissionsgeschäft, das die Mittel vieler kleinerer Privatbanken übersteigt oder der Zahlungsverkehr, der um so rationeller verläuft, je mehr Kunden daran teilnehmen. Die bargeldlose Zahlung bürgert sich in Deutschland aber nur zögernd ein. Noch 1902 wurde zur Abwicklung des Geschäftsverkehrs 9-15 mal so viel Bargeld benötigt wie in Großbritannien.59 Vor dem Ersten Weltkrieg hat die Konzentrationsbewegung fünf mächtige, in Berlin ansässige Bankgruppen herausgeschält, die mit weiteren 41 Konzernbanken teils in lockerer, bald in fester Interessengemeinschaft verbunden waren. Hierzu zählten die Deutsche Bank (Aktienkapital 1 9 1 1 : 220 Millionen), die Dresdner Bank (180), die Diskonto-Gesellschaft (170), die Darmstädter Bank (154) und der SchaafFhausensche Bankverein (145). Die Berliner Banken zogen ein über ganz Deutschland verzweigtes Netz von Filialen und Depositenkassen auf. 1889 errichtete die Deutsche Bank in München ihre erste bayerische Filiale, 1906 die erste Depositenkasse durch Übernahme eines Münchener Bankhauses.60 Die bayerischen Banken dürfen als regionale Großbanken bezeichnet werden. Zu ihnen gehören die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (60), die Pfälzische Bank (50), die Bayerische Vereinsbank (45) und die Bayerische Handelsbank (35). Auch sie greifen über ihre engere Heimat aus und saugen
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Bayern im Umbruch
allmählich die vielen kleinen Bankgeschäfte, besonders die der Provinz, auf.61 Das Kollektivunternehmen ist die bevorzugte Betriebsform der modernen Industrie-wirtschaft. Hier werden 1907 35,7% aller Arbeitnehmer beschäftigt.62 Eine bedeutende Stellung nehmen darunter die Aktiengesellschaften ein. Fast alle größeren, über den örtlichen Bereich herausragenden Unternehmen gehören dieser Betriebsform an. Die Statistik vom Jahre 1909 zählte in Bayern 405 (im Reich: 5222) Aktiengesellschaften mit einem Nominalkapital von 1023 Millionen Mark (im Reich: 14737 Mill.).63 Die Vergesellschaftung der Betriebe hat seit den 90 er Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Über die Hälfte aller bayerischen Aktiengesellschaften ist nach 1891 gegründet worden.64 Damit wächst auch die Bedeutung der Banken. Durch ihre vermittelnden Hände läuft das Kapital für Neugründungen, Kapitalerhöhungen und Obligationen. Sie selbst betreiben planmäßige Industriepolitik, nehmen Beteiligtingen auf und gewinnen somit im wachsenden Maße Einfluß auf die Entscheidungen der Unternehmen. Der Konzentrationsbewegung der Banken folgt eine enge Verflechtung und Verzahnung des Kapitals. Einfluß und Macht ballen sich in wenigen Händen. Das Handbuch der Süddeutschen Aktiengesellschaften erlaubt einen Einblick in die Kapitalverflechtung der wichtigsten bayerischen Unternehmen.65 Damals kann der Aufsichtsrat als das getreue Spiegelbild der in den einzelnen Firmen bestehenden Machtverhältnisse und Beteiligungen angesehen werden. Jedes Aufsichtsratmitglied verkörpert einen Besitzanteil. Leider ist dieser Anteil nicht aufgeschlüsselt. Wir müssen uns damit begnügen, die Verteilung der Aufsichtsratsmandate zu analysieren, auch damit lassen sich einige wichtige Feststellungen treffen. Im Jahre 1912 gab es in Bayern 202 Unternehmen mit einem Aktienkapital (AK) von über x Million Mark; davon besaßen 165 Unternehmungen ein A K zwischen 1 - 5 Millionen 29 5- 20 »
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5 20— 5 o 3 50-100 Ein A K über 20 Millionen besitzen die Banken, Versicherungen und die Nürnberger Elektrokonzerne. Der Gruppe zwischen 5-20 Millionen A K gehören die Elektrizitätswerke, die großen Maschinenfabriken, die Chemie, schließlich die Werke der Berufsgruppe Bergbau und Verhüttung an. Das Kapital aller anderen Firmen und Industriezweige liegt mit verschwindenden Ausnahmen unter 5 Millionen.
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Die 1164 Aufsichtsratposten dieser Aktiengesellschaften werden 770 Mitgliedern eingenommen, davon sind 602 in 86 in 35 in in 9 in 9 in 3 in
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(Rudolf Gscheidlen, Augsburg; Fabrikant Otto Steinbeis, Brannenburg/Obb.; Justizrat Eduard Brinz, München) (Fabrikant Gustav Riedinger, Augsburg; Bankier Paul von Schmid, Augsburg; CarlBrauser, München, Direktor der Bay. Hypotheken- u. Wechselbank) Karl Eswein, Ludwigshafen, Generaldirektor der Pfälz. Bank Hugo Ritter von Maffei, München, Reichsrat und Fabrikant Max Schwarz, Augsburg, Bankier Albert Gaenssler, München, Justizrat
Die Machtanballung ist zwar nicht mit heutigen Maßstäben vergleichbar, immerhin nimmt sie zu dieser Zeit schon erstaunliche Ausmaße an. Der Anteil der Banken läßt sich nur schwer abschätzen, denn sie vertreten im Aufsichtsrat nicht nur ihre eigenen Besitzanteile, sondern üben auch mit den Anteilen ihrer Kunden über das Depotrecht Einfluß aus. Etwa jedes achte Aufsichtsratmitglied wird von einer Bank gestellt. Was läßt sich über die regionale Verteilung aussagen ? Wo haben die Aufsichtsratmitglieder ihren Wohnsitz, ihren Wirkungskreis (Tabelle 2) ? Das heimische Kapital überwiegt in Bayern also noch erheblich, sein Anteil ist seit 1896 nur geringfügig zurückgegangen, um ca. 5%. 66 Die Stellung Münchens als bayerischer Hauptfinanzplatz fallt ins Auge, auch Augsburg besitzt einige Bedeutung, Nürnberg dagegen nur geringe, obwohl die Gewerbedichtigkeit hier sehr hoch ist. Auffallend ist der Einfluß einiger weniger Bankenund Börsenplätze, so vor allem der von Berlin, Frankfurt, Dresden und Mannheim. Das außerbayerische Kapital ist an den einzelnen Industriezweigen sehr unterschiedlich beteiligt; hoch ist dieser Anteil bei Industrien, die viel Kapital
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Bayern im Umbruch Tabelle z
Regionale Verteilung (in % ) der 1164 Aufsichtsratsposten bayerischer Aktiengesellschaften mit einem Aktienkapital von über 1 Million Mark Bayern Oberbayern davon München Niederbayern Pfalz Oberpfalz Oberfranken Mittelfianken davon Nürnberg Unterfranken Schwaben davon Augsburg
78,0 32,4 30,0 0,2 7,9 2,9 5,6 9,7 7,9 0,9 18,7 16,7
Übriges Reich Frankfurt mit Hessen Baden Württemberg Westdeutschland Norddeutschland Dresden und Mitteldeutschland . . . . Berlin Ostdeutschland
20,3 4,0 2,9 1,5 2,4 0,9 3,5 4,7 0,4
Ausland
1,7
erfordern oder in jungen, zukunftsträchtigen Branchen, wie der Elektro- und chemischen Industrie, ein Zeichen, daß der außerbayerische Einfluß sich noch verstärken wird: Anteil des außerbayerischen Kapitals
Textilindustrie Banken Metallverarbeitung Brauereien Steine-Erden Chemie Verhüttung Elektroindustrie u. Elektrizitätswerke
12,7% 14,8% 22,3% 25,5% 27,0% 36,8% 41,7% 41,8%
Eine regionale Aufschlüsselung innerhalb Bayerns ergibt folgendes Bild: In Oberbayern ruht das Kapital relativ geschlossen in einheimischen Händen. Einbrüche können bei den Terraingesellschaften (Berlin, Frankfurt), in der
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Maschinenindustrie (Berlin, Stuttgart), zum Teil auch im Braugewerbe festgestellt werden. Die wenigen niederbayerischen Aktiengesellschaften werden ausschließlich von München und Regensburg aus kontrolliert. Ähnliche Verhältnisse treffen wir in der Oberpfalz an. Die Maximilianshütte befindet sich zum großen Teil in belgischem, die Braunkohlenwerke ruhen in westdeutschem Besitz. In Oberfranken wird das Kapital der wichtigen Textilindustrie überwiegend von einheimischen Geldgebern aufgebracht, die Industrie der Steine und Erden und die Brauereien werden von Berlin und Dresden aus kontrolliert. Die Aktienmehrheit der Porzellanfabriken (z.B. Rosenthal) und der Kulmbacher Brauereien liegt in Dresden. Die mittelfränkische Textilindustrie befindet sich fast ausschließlich in Berliner und Stuttgarter Händen. Auch in der Elektroindustrie wird nur ein kleiner Kapitalanteil von Nürnberg aus vertreten, größere Aktienpakete liegen in München und Berlin. Die unterfränkische Industrie der Steine und Erden befindet sich größtenteils in Frankfurter Besitz. Das Kapital der schwäbischen Industrie ruht mit geradezu imponierender Geschlossenheit in heimischen Händen. Die traditionelle Textilindustrie z.B. wird von einigen wenigen Augsburger Familien kontrolliert, den von Schmid, von Stetten, Riedinger, Forster, Dubois, Diesel, Schwarz und Martini. Die Pfalz ist schon ihrer geographischen Lage nach wirtschaftlich aber auch kapitalmäßig mit dem Südwesten Deutschlands verbunden. Rechtsrheinische Besitzanteile lassen sich überhaupt nicht feststellen; der überwiegende Teil des Kapitals befindet sich im Rhein-Main-Dreieck. Bisher beobachteten wir die Entwicklung der verschiedenen Produktionsfaktoren der bayerischen Volkswirtschaft. Stellen wir nun noch die Frage nach dem gesamtwirtschaftlichen Erfolg. Als Maßstab hierfür dient uns das Volkseinkommen, oder Sozialprodukt, also die Gesamtheit der geldwerten Güter und Dienstleistungen, die der Volkswirtschaft nach Erhaltung des anfänglichen Vermögenstandes jährlich für Verbrauch und Kapitalbildung zur Verfügung stehen.67 Im Volkseinkommen spiegeln sich praktisch alle Vorgänge des Wirtschaftskreislaufes wider: die Wertschöpfung oder Nettoproduktion, der Übergang des Produktionsertrages in Form der Einkommensbildung an die Haushalte und endlich in deren Verfügungsgewalt über dieses Einkommen durch Verbrauch und Kapitalbildung. Aus der regionalen Gliederung des Volkseinkommens, die uns für das letzte Friedensjahr zur Verfügung steht, läßt sich die Bedeutung der einzelnen Bundesstaaten im Rahmen der deutschen Gesamtwirtschaft ablesen:
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Bayern im Umbruch
Volkseinkommen 19 iß je Kopf der Bevölkerung:^ Hamburg 1346 Mark Berlin-Brandenburg 1064 Mark Sachsen 896 Mark Rheinland 855 Mark Preußen 752 Mark Deutsches Reich 748 Mark Baden 725 Mark Württemberg 681 Mark 62 j Mark Bayern 478 Mark Ostpreußen Auch dieser Vergleich zeigt augenfällig die noch gering ausgebildete Wirtschaftskraft Bayerns gegenüber anderen Gebietsteilen. Leider läßt sich die Entwicklung des Volksvermögens über einen längeren Zeitraum für Bayern nicht verfolgen, weil eine genaue Statistik erst 1912 einsetzt.69 Die Frage, ob Bayern im Laufe der letzten 2j Jahre in verstärktem Maße an der Wirtschaftsentfaltung Deutschlands teilnahm, die ja bei der Analyse der Berufsstatistik teilweise bejaht werden konnte, muß also unbeantwortet bleiben. Betrachten wir daher das deutsche Volkseinkommen, das sich über einen längeren Zeitraum verfolgen läßt. Es ist seit Beginn der 90 er Jahre bis zum Ausbruch des Weltkrieges von rund 25 auf über jo Milliarden, je Kopf der Bevölkerung von etwa joo auf 750 Mark gestiegen. Dieser Anstieg ist jedoch lediglich Ausdruck des gesunkenen Geldwertes. Gemessen am Realeinkommen der Bevölkerung, an der Kaufkraft des Geldes, ist das Volkseinkommen jedoch nur um 10% gewachsen.70 Wie verteilt sich nun das Volkseinkommen auf die einzelnen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital? Hierzu gibt wiederum die Statistik von 1913 Auskunft, wobei unter Grundvermögen die Einkünfte aus der Landund Forstwirtschaft, Vermietung und Verpachtung zusammengefaßt werden (Schaubild 4). Deutlich werden die unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen sichtbar. Das landwirtschaftliche Einkommen behauptet in Bayern noch seine dominierende Stellung mit einem guten Viertel der Gesamtsumme; ihm kommt etwa die doppelte Bedeutung zu wie in dem industriellen Sachsen, während Württemberg und Baden, ihrer gemischten Wirtschaftsstruktur entsprechend, mit reichlich einem Fünftel zwischen beiden stehen. Umgekehrt entfallt auf Handel und Gewerbe in Sachsen mehr als ein Viertel, in Bayern dagegen knapp ein Fünftel
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Schaubild 4: Der Anteil der Produktivfaktoren am Volkseinkommen in Bayern (1911), Sachsen Württemberg (1915) und Baden (1913) 7 1
, •\ •\ •\ \• V •
Grundvermögen
Handel und
Kapitalvermögen
Arbeit
I
Sachsen Württemberg
1 1 1 '1 i * i
Bayern Baden
.v.v.v.v
Schaubild 5: Reichsbankdiskont 1888-1910 im Jahresdurchschnitt7*
Gewerbe
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der Gesamtsumme. Der Anteil des Arbeitseinkommens schwankt in allen vier Bundesstaaten um die Hälfte der Gesamtsumme. Es weist ein überdurchschnittliches, Jahr um Jahr sich beschleunigendes Wachstum auf. Damit bestätigt sich, was wir schon bei der Berufsschichtung feststellen konnten, nämlich ein immer stärkeres Einströmen der Berufstätigen in die Arbeitnehmerstellungen, die Umschichtung von selbständiger zu abhängiger Tätigkeit. Im menschlichen Leben nimmt die Wirtschaft einen ständig wachsenden Raum ein, immer weitere Bereiche und Bevölkerungsschichten werden „ökonomisiert", durch den Mechanismus der Wirtschaft im Handeln bestimmt, ob nun als Produzent oder Verbraucher, Käufer oder Verkäufer, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, Schuldner oder Gläubiger, alle haben sich irgendwie in diesem Räderwerk verfangen, das jetzt nicht nur auf die heimischen, sondern auch auf die geringsten Außenstörungen reagiert. Wir können diese Wechselwirkungen, die Konjunkturschwankungen im Wirtschaftsleben, am besten an der Höhe des Reichsbankdiskonts ablesen. Der Diskontsatz steigt zu dieser Zeit bei wirtschaftlicher Depression, bei Verknappung und Verteuerung des Geldes, er fällt in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwunges (Schaubild 5).
INDUSTRIELLE A R B E I T S W E L T
Die Tätigkeit des einzelnen, sein Denken und Handeln, seine Umwelt und seine Beziehungen zum Mitmenschen werden nun durch die wirtschaftliche Entwicklung grundlegend umgestaltet. Ein neues Verhältnis zu einer sich ständig wandelnden Welt und ein Verständnis für die sich in ihr vollziehenden Vorgänge sind erforderlich. Allerdings wird die technische und wirtschaftliche Entwicklung stürmischer vorangetrieben als die gesellschaftliche; sie kann auch nicht gleich verlaufen: das Leben des Menschen wird von so vielen verschiedenartigen Einflüssen bestimmt; bald fördern sie diese Entwicklung, bald stehen sie ihr hindernd im Wege. Verfall und Aufbau, beides läuft nebeneinander her. Neben den schon sichtbar werdenden Strukturen einer neuen Gesellschaft stehen Überreste der alten; und es gibt Gebiete, in denen dieser Vorgang weniger und andere, so die großen Industriezentren, wo der Umformungsprozeß bedeutend weiter vorangeschritten ist. Betrachten wir die Arbeit des Menschen. Sie verliert ihren ursprünglichen Charakter besonders schnell in den hochindustrialisierten Gebieten. Die Aufhebung der alten ständischen und zünftlerischen Bindungen hat dem Menschen zwar die freie und ungehemmte Entfaltung seiner wirtschaftlichen Fähigkeiten gebracht, aber doch nur wenige können sie nutzen. Den meisten werden
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die •wirtschaftlich nutzbaren Fähigkeiten auf ein Mindestmaß beschnitten. Die Ausdehnung der Großbetriebe, der Übergang von handwerklicher zu industrieller Fertigung erfaßt immer weitere Schichten der Bevölkerung, ihren Lebensstil und Arbeitsrhythmus bestimmend. In der alten Ordnung besaß der einzelne einen wohlumschriebenen Aufgabenbereich, den er überblickte und der ihm seinen Lebensinhalt gewährte. In der Industrie dagegen wird die Arbeit in viele Einzelleistungen zerlegt; nurmehr einige Handgriffe und Fertigkeiten werden dem einzelnen abverlangt. Diese Tätigkeit wirkt sinnentleerend, weil sie nicht mehr die Zusammenhänge, das Ineinandergreifen verschiedener Arbeitsgänge überschaubar werden läßt. Sie erfordert weder den Einsatz der vollen Persönlichkeit des Menschen, noch entspricht sie im entferntesten seiner tatsächlichen Eignung. Der Beruf füllt den Menschen nicht mehr aus; der Verlust des alten Arbeits- und Lebensrhythmus wird zum Massenschicksal. Eine neue Zweiteilung bestimmt das Leben vieler: die eine Hälfte dient dem Broterwerb, während in die andere, die Freizeit, nunmehr die Entfaltung der Persönlichkeit gelegt wird. Von dieser Entwicklung wird auch sein Verhältnis zum Arbeitsplatz, zum Vorgesetzten bestimmt. Wenn der Betrieb nicht mehr wie vordem die überschaubare Einheit darstellt, in der zwischen Meister und Geselle familiäre Beziehungen bestehen, in der jener am leiblichen und seelischen Schicksal seines Mitarbeiters Anteil nimmt und sich für ihn mitverantwortlich fühlt, dann lockern sich auch die Bindungen zum Arbeitsplatz, die patriarchalische Arbeitsverfassung verliert an Boden. Der moderne Großbetrieb, dessen Herstellungsprozeß in allen seinen Teilen immer feiner durchgestaltet wird, immer genauer der eine in den anderen Teil übergreifen muß, um die Intensität der Arbeit weiter zu steigern, verlangt von dem einzelnen unbedingte Anpassung und Einordnung, setzt zur Durchfuhrung des Betriebswillens auf der einen Seite Disziplin, auf der anderen Autorität voraus. Die innerbetrieblichen Beziehungen verlieren das Persönliche, sie versachlichen sich um so mehr, je größer der Betrieb wird, je weiter in ihm Bürokratisierung und Hierarchisierung vorangeschritten sind.73 Das Verwachsen mit der industriellen Daseinsform bedeutet nun für die vielen, die die Wanderungsflut in die industriellen Zentren geschwemmt hat, nicht nur die Aufgabe der landwirtschaftlichen Arbeit, die Umstellung auf die neue Tätigkeit, sie bedeutet vielmehr den gänzlichen Bruch mit der bisherigen Lebensform, die Trennung von der Heimat, vom überlieferten Brauchtum, die Zerschneidung aller familiärer Bindungen. Die Anpassung fällt dieser Generation doch schon leichter, als den früheren. Denn Verhaltens-
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und Denkformen einer industriellen Massengesellschaft greifen nun in das Leben des letzten Bergdorfes ein und verwischen damit allmählich die kulturellen Eigenheiten der einzelnen Landschaften. Die Bevölkerung gerät jedoch nicht nur durch den Wohnortwechsel in Bewegung. Seit den 90 er Jahren gewinnen mit der Weiterentwicklung von Technik und Verkehr die periodischen, in kleineren oder größeren Zwischenräumen sich vollziehenden Wanderungen an Bedeutung. Der Arbeitnehmer ist durch die Verbilligung und Verdichtung des Verkehrsnetzes nicht mehr wie früher auf den örtlichen Arbeitsmarkt angewiesen, er kann auf einen anderen, entfernteren ausweichen, ohne den Wohnsitz wechseln zu müssen. Der moderne Pendelverkehr fuhrt nun nicht nur aus den ländlichen Gemeinden den Industriezentren Arbeitskräfte zu, sondern auch aus der Stadt selber, aus den Vororten in die „City". Denn seit den 90 er Jahren entwickeln sich die Großstadtkerne zu reinen Geschäftsvierteln; die städtische Siedlung lockert sich auf, die Wohnbevölkerung weicht in die Vororte aus, die nun sprunghaft zu wachsen beginnen, während der Stadtkern langsam an Einwohnerdichte verliert.74 Auch die Saisonarbeit unterstreicht die mobilisierende Wirkung der modernen Industriearbeit. Der große Bedarf an Arbeitskräften kann jetzt nämlich zu Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur und während des Sommers, zur Erntezeit, nicht mehr vom heimischen Arbeitsmarkt allein befriedigt werden. In einigen Wirtschaftszweigen drängt sich die Haupttätigkeit auf bestimmte Jahreszeiten zusammen, vor allem im Baugewerbe, der Ziegelei, der Zuckerfabrikation, der Konfektion und besonders in der Landwirtschaft. Diese Arbeit wird teilweise von ausländischen Saisonkräften, die nur vorübergehend ihren ursprünglichen Wohnsitz aufgeben, ausgeführt. Ihre wachsende Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft spiegeln folgende Angaben wider, die sämtliche im Reich befindlichen Ausländer umfassen, von denen der überwiegende Teil sich zur Arbeitsaufnahme hier aufhält: 75 1880: 276057 1890: 4 3 3 2 5 4 1900: 778698 1910: 1 2 5 9 8 7 3 Viele finden im Bergbau, vor allem jedoch in der Landwirtschaft Beschäftigung. In Bayern sind nur 9 % der rund 125000 Ausländer (1907) landwirtschaftlich tätig,76 die meisten dagegen in der Industrie. Der Arbeitsmarkt weitet sich mit fortlaufender Industrialisierung aus, und die Schwankungen, denen er unterworfen ist, nehmen an Intensität zu.
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Bei gutem Geschäftsgang und während der Saison zieht die Industrie die Massen an, die sie bei abflauender Konjunktur und im Winter teilweise wieder abstoßen muß. Damit wird die Arbeit der Unsicherheit preisgegeben; die Abhängigkeit der vielen, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen, vom Produktionserfolg ist erdrückend. Die Arbeitslosigkeit wird das Problem der modernen Wirtschaft und seine Lösung die Hauptaufgabe der Industriegesellschaft. Eng verflochten mit Mobilität und Arbeitslosigkeit ist ein weiteres Kriterium der modernen Arbeit, nämlich der häufige Stellenwechsel innerhalb des Berufs, aber auch der Wechsel des Berufs selber. Vielen bedeutet der Eintritt ins Berufsleben nicht mehr den tiefen bestimmenden Einschnitt. Bei der ständig durch die Fortschritte der Technik sich wandelnden Arbeitswelt entstehen laufend neue Arbeitsbereiche, andere werden umgestaltet oder verschwinden vollständig. Eine wesentliche Folgeerscheinung ist die bedeutende Zunahme der Berufslosigkeit. Zwischen 1895 und 1907 wächst die Zahl der ungelernten Arbeitskräfte um 77,7%, die der gelernten nur um 10,8%, so daß zu diesem Zeitpunkt fast zwei Fünftel aller Gewerbetätigen Hilfsarbeiter sind.77 Gerade die Tätigkeit der Frau, die nun im steigenden Maße am industriellen Arbeitsprozeß teilnimmt, erweist sich überwiegend als ungelernt. Sie wird notwendig durch die Bedarfsverschiebung, die Steigerung des Konsums, andererseits aber auch durch die unbefriedigende Entwicklung des Realeinkommens. Die weibliche Arbeitskraft wird schlecht entlohnt und bleibt infolge fehlender Ausbildungsmöglichkeiten überwiegend ungeschult. Daher wechseln Frauen häufiger als ihre männlichen Berufskollegen den Arbeitsplatz, besitzen nur eine oberflächliche, lose Bindung an den Beruf; denn noch ist die bürgerliche Gesellschaft nicht bereit, der Frauenarbeit die ihr gebührende Anerkennung zu zollen, sie als sozial wertvoll zu betrachten und produktiv in die arbeitsteilige Wirtschaft einzuordnen. Man mutet der Frau neben ihrer Berufstätigkeit noch Eigenleistungen (Haushalt, Kleidernähen usw.) zu und schmälert ihr um diesen Betrag das Arbeitseinkommen im Gegensatz zum Mann, der seinen Konsum ohne weitere Leistungen zu decken vermag.78 Die Tätigkeit der Frau wird dennoch allmählich in die moderne Wirtschaftsorganisation eingegliedert. Beobachten läßt sich dieser Vorgang an der langsamen Verkleinerung der Haushaltungen, die den Charakter von Arbeits- und Produktionsgemeinschaften verlieren und zu reinen Konsumgemeinschaften werden. Die bisher noch hauswirtschaftlich organisierten Leistungen übernimmt dabei größtenteils die Erwerbswirtschaft. Der Wandel von der alten Großfamilie zur modernen Kleinfamilie vollzieht sich zuerst in den durch die Industriearbeit geprägten werktätigen Schich-
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ten. Diese moderne Industriefamilie unterscheidet sich von der überwiegend noch auf Autorität beruhenden bürgerlichen Familie dadurch, daß in ihr das Maß an Verantwortung bei der Ausgestaltung des Familienlebens und im Existenzkampf auf beiden Schultern gleichmäßig verteilt ruht, die Frau daher eine gleichberechtigtere und mit größeren Kompetenzen ausgestattete Stellung einnimmt.79 GESELLSCHAFT UND STAAT
So lockern sich allmählich die Bindungen, in die der Mensch vormals verflochten war; sie werden von immer weiteren, immer größeren Teilen der Bevölkerung abgestreift, die nun, mit neuen Freiheiten und Rechten versehen, ihr Leben nicht mehr „erleiden", sondern daran mitgestalten. Doch der einzelne, bisher gewohnt auf vorgeschriebenen Bahnen einem von der Obrigkeit und den sozialen Institutionen gesicherten „angemessenen" Erwerb nachzugehen, kann sich allein nicht gegen die negativen Folgen der industriellen Entwicklung, wie Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und die Willkür des Stärkeren behaupten. Die neu gewonnene Freiheit ist somit für die Masse der Bevölkerung ein höchst problematisches Gut, sie bildet nur den Anfang zur weiteren Emanzipierung und Selbstbehauptung gegenüber der neuen Wirtschaft und den in ihr etablierten Mächten. Ein Mitspracherecht der Massen bei der Ausgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung läßt sich nur verwirklichen durch ihre Organisierung und Mobilisierung, die Überwindung der Ohnmacht des einzelnen bedeutet somit zugleich die Einengung seiner persönlichen Verfügungsfreiheit; er tritt aus den alten Bindungen in die Freiheit heraus, die er jedoch nur realisieren kann durch den Eintritt in neue Bindungen, in Zusammenschlüsse großen Stils, in Massenorganisationen. Neben den Staat treten autonome Machtgebilde, die für ihre Mandanten das Mitspracherecht wahrnehmen und die Tätigkeit des Staats in eine je nach Interessenlage bedingte Richtung lenken wollen. Die Einengung der staatlichen Machtsphäre vollzieht sich dabei auf drei Ebenen: die politischen Parteien versuchen auf direktem Wege, in den Parlamenten, Einfluß auf die Gesetzgebung zu erlangen, aber auch, wie nun im verstärktem Maße die Interessenvertretungen, durch Mobilisierung der öffentlichen Meinung und Beeinflussung des Regierungsapparats, also auf indirektem Wege. Schließlich bilden die großen, auf dem Prinzip der Selbsthilfe aufgebauten Genossenschaften staatsfreie Machtsphären heraus. Der Bereich des kollektiven Lebens gleitet somit allmählich aus den Händen des Staats. Immer häufiger muß er auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen, immer gebieterischer fordern
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Parteien und Verbände von ihm Eingriffe in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung und wälzen damit große Teile der persönlichen Verantwortung auf den Staat ab, zumal die Einsicht des einzelnen in die Entwicklung von Wirtschaft, Verwaltung und Gesetzgebung bei ihrer zunehmenden Komplizierung und Unübersichtlichkeit schwindet. So verliert der Staat zwar durch die Massenorganisationen und die Demokratisierung des Parlaments an Selbständigkeit auf dem Gebiet der Gesetzgebung, andererseits stärken die ihm abverlangten Eingriffe, also die Zunahme der Verwaltungstätigkeit, ebenso die Schiedsrichterrolle, in die ihn die widerstreitenden Interessenpartner nun häufig drängen, seine Stellung. Die staatliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird nun nicht nur durch den Druck der Parteien, Interessenverbände oder durch die wirtschaftliche Entwicklung schlechthin notwendig, sie wird auch begründet von der Wissenschaft dieser Zeit, die ihre Überzeugungen, nämlich die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe, in die Öffentlichkeit hineinträgt und damit auf Gesetzgebung und Verwaltungspraxis nachhaltig einwirkt. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts stand der Staat Vinter dem Einfluß der individualistischen, von der klassischen englischen Nationalökonomie beeinflußten deutschen Freihandelsschule, dessen Wortführer John PrinceSmith das Wesen der volkswirtschaftlichen Organisation charakterisierte als eine Gemeinde, der jegliche Solidarität grundsätzlich fremd sei und die nur den freien Zutritt zum Markte gewähren könne, da der Markt das einzig Gemeinschaftliche sei, was sie besitze. „Alles im.Markt ist Einzeleigentum."80 Da von dieser Auffassung einer idealen Volkswirtschaft, die aus lauter Individuen besteht, von denen jedes nur nach seinem Vorteil strebt, da von dieser Auffassung aus veraltete Einrichtungen und persönliche Abhängigkeiten einer vergangenen Epoche, für welche keine innere Rechtfertigung mehr gegeben war, bekämpft wurden, trat ihre Unzulänglichkeit erst allmählich hervor, bot sie doch keine Mittel gegen Schädigungen und Notstände, die die industrielle Entwicklung hervorrief. Bei der absolut ungebundenen Willkür des einzelnen wurde der Stärkere nur immer stärker, der Schwächere immer schwächer. Daher vermochten viele Nationalökonomen die rein optimistische Auffassung einer fortschrittlichen Entwicklung, wie sie von der liberalen Volkswirtschaftslehre vertreten wurde, nämlich in der Idee der Gewerbefreiheit ausschließlich das Heilmittel für alle Übelstände zu sehen,81 nicht länger zu teilen. Die Pflicht des Staates, in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung einzugreifen, wird jetzt betont. Das Los vieler Millionen stehe im Widerspruch zu den Minimalforderungen der heutigen Ethik. Der Staat habe die Aufgabe, „sittliche Schranken gegen den egoistischen unsittlichen
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Einzelwillen" zu errichten, vor allem ergebe sich aber aus seiner Natur als Kulturorgan die Berechtigung aktiver, positiver Staatshilfe.82 Verschiedene Richtungen setzten sich gegen die Manchesterschule zur Wehr, die sozialkonservative eines Viktor Aimé Huber, die staatssozialistische eines Rodbertus oder Adolph Wagner, und die ethische Nationalökonomie, die Kathedersozialisten. 1872 wird der „Verein für Sozialpolitik" gegründet, der bis zum Weltkrieg eine fruchtbare Tätigkeit auf dem Gebiet sozialer Reform entfaltet und durch Veröffentlichungen wie Tagungen nachhaltig öffentliche Meinung, Parlamente und Regierungen zu beeinflussen versteht. Mit der Umbildung des in manchesterlichen Anschauungen verharrenden Staatsapparats zum modernen „Kulturstaat", der die rechtliche Regelung aller Gebiete des Volkslebens übernimmt und ein gänzlich neues soziales Arbeitsrecht schafft, steigen die Aufgaben des Staats sprunghaft an und damit auch sein finanzieller Bedarf. Das Finanzwesen, das Problem der Steuerbeschaffung wird im Laufe der Zeit einen immer größeren Einfluß auf die wirtschaflichen und politischen Entscheidungen gewinnen. So schwellen die Verwaltungsausgaben des bayerischen Staats pro Kopf der Bevölkerung seit 1870/71 von 12,47 Mark auf 34,48 Mark im Jahre 1914/15 an.83 Damit wächst gleichzeitig die steuerliche Belastung der Bevölkerung. Zwischen 1901 und 1914 sind die direkten Steuern, die Haupteinnahmequellen der Bundesstaaten, in Bayern um 107,1%, in Sachsen gar um 134% gestiegen.84 Die indirekten Steuern werden neben Ausgleichungs- und Wehrbeiträgen vom Reich eingezogen. Man kann nicht unbedingt sagen, daß dieses System auf den „Interessen der herrschenden Klassen" beruhte;85 vielmehr wäre der Zugriff des Reichs auf die direkten Steuern einer finanziellen Mediatisierung der Einzelstaaten gleichgekommen, die doch nur dann ihre noch verbliebene Unabhängigkeit wahren konnten, wenn ihnen das Verfügungsrecht über die direkten Steuern nicht genommen wurde. Ohnehin wurden im Reichstag die wichtigsten sozialund wirtschaftspolitischen Gesetze beschlossen, so daß die Einzelstaaten lediglich als ausfïihrende Organe mitwirken konnten. Bayern verblieb in der Sozialpolitik nur ein schmaler Spielraum, der sich auf die Staatsarbeiter und das Bergwesen beschränkte, dessen Regelung im Gegensatz zum sonstigen Gewerbe den Bundesstaaten überlassen war. Die ständig wachsenden öffentlichen Aufgaben wurden nun mit einer Verwaltung durchgeführt, die noch größtenteils nach den Bestimmungen und Vorschriften aus dem Jahre 1818 arbeitete. Sie war der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung nur zögernd nachgekommen, schwerfällig und dazu schwerhörig, so daß die Interessenten erst „schreien" mußten, um überhaupt gehört zu werden. Obwohl die Wirtschaft und die sozialen Probleme das
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öffentliche Leben immer stärker beherrschten, gab es bis 1918 weder ein Wirtschafts- noch ein Arbeitsministerium. Nach einer Reorganisation der Ministerien wurde 1904/05 ein Verkehrsressort geschaffen, das aus dem Aufgabenbereich des Außenministeriums ausgegliedert wurde. Dieses erhielt zum Ausgleich die Abteilungen Handel und Gewerbe mit sozialer Fürsorge vom Innenministerium, in dem die landwirtschaftlichen Belange weiterhin verblieben. Besonders schwierige und vielgestaltige Aufgaben erwächst den Gemeindeverwaltungen. Auf sie strömen zuerst - noch bevor sich der Staat damit zu beschäftigen beginnt - die Probleme der Industrialisierung wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Energieversorgung, verkehrsmäßige und sanitäre Aufschließung, ein und legen ihnen Lasten auf, die sie schon weit vor dem Ersten Weltkrieg an den Rand der Leistungsfähigkeit treiben.86 Zwar bringen die Stadtgemeinden die meisten Steuern auf, allein München beinahe ein Drittel des direkten Steueraufkommens Bayerns,87 zwar liegen die Steuerumlagen hier höher als auf dem Lande und steigen ständig, und doch verschulden die Städte weiter, weil das bestehende Steuersystem die wachsenden Aufgaben der Städte nicht entsprechend berücksichtigt. In den 90 er Jahren verblassen auch in den Stadtverwaltungen die manchesterlichen Anschauungen, und die eigene Wirtschaftstätigkeit beginnt. Die bisher in privater Hand befindlichen Versorgungs- und Verkehrseinrichtungen gehen in städtische Verwaltung über. Die Stadt wird allmählich neben dem Staat zum größten Auftrag- und Arbeitgeber. Wenn wir nun die einzelnen Gesellschaftsschichten Vorkriegsbayerns betrachten, dann soll die Betonung vornehmlich auf die politisch und wirtschaftlich gestaltenden Kräfte gelegt und ihr Verhältnis zur industriellen Entwicklung untersucht werden.
KULTUR UND LIBERALES BÜRGERTUM
Lebensform und Kultur dieser Zeit sind noch liberalistisch-bürgerlich geprägt, doch die nach oben drängenden Massen verwischen allmählich ihre individualistischen Züge; allgemeine Wehrpflicht, Schulpflicht, modernes Verkehrswesen, soziale und berufliche Mobilität ebnen den alten Gesellschaftsaufbau ein und führen zur Demokratisierung aller Lebensbereiche. Ein Widerspruch durchzieht diese bürgerliche Kultur. Einerseits begeistert man sich für die moderne Wirtschaft und Technik, fährt mit der Eisenbahn, dem Automobil, besucht Ausstellungen, arbeitet im Betrieb an bahnbrechen-
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den Erfindungen mit, andererseits ruht der geistige Standort vieler Menschen, ihr Denken, ihr Familienleben noch in einer vorindustriellen Zeit. Das bürgerliche Bildungsideal wurzelt im Klassizismus, und die jungen Menschen, die das humanistische Gymnasium verlassen, sind nur in Einzelfällen ausreichend mit dem bestehenden Rechts- und Wirtschaftssystem vertraut gemacht, besitzen zudem wenig Einblick in die Verhältnisse anderer Volksschichten, ein Umstand, auf den schon einer der ersten Kritiker des Bürgerlichen Gesetzbuches, Anton Menger, 1889 hingewiesen hat.88 Konkrete Vorstellungen, wie sich die industrielle Wirklichkeit in die Erziehung, die Ausbildung einordnen läßt, gibt es nur wenige, und die Jugendbewegung ist wohl nicht nur eine Flucht aus bürgerlicher Beschränktheit, sondern auch aus der neuen Umwelt, vor der sie die Augen schließt, mit der sie sich nicht auseinandersetzen will; als bestes Beispiel dafür sei auf die Landerziehungsheime eines Hermann Uetz hingewiesen. Demgegenüber steht das Fortbildungsschulwesen, die Arbeitsschule. Nicht ohne Grund besitzt gerade München vor dem Weltkrieg ein vorzüglich ausgestaltetes Berufs- und Volksschulwesen. Ausbau und Reform sind größtenteils das Werk des Münchener Stadtschulrats Georg Kerschensteiner, dem Schöpfer einer umfassenden Theorie der Bildung und der Bildungsorganisation. Von der modernen Bildung verlangt er Weite und Mannigfaltigkeit des geistigen Horizonts, Lebendigkeit und Aufgeschlossenheit für neue Werte; die Erziehung soll die Ganzheit des heutigen Lebens umfassen, soll den jungen Menschen zum Bürger eines modernen Staats heranbilden. Der Stileklektizismus der bildenden Kunst wurde um die Jahrhundertwende zuerst von der Malerei überwunden, dann auch - mit Abstand - in der Baukunst. 1907 wird der Werkbund gegründet. Die industrielle Formgebung, eine neue Industriearchitektux, die sich die neuen Baustoffe dieser Zeit, Eisen und Beton, nutzbar macht, entsteht. Hier sei nur an Namen wie Hans Poelzig, Peter Behrends oder auch an Walter Gropius erinnert. Überhaupt befinden sich die Kräfte, die die neue Zeit gestalten wollen, sich mit ihr auseinandersetzen und um eine neue Daseinsform ringen, zum großen Teil in der Bildungsschicht, die - auf eine einfache Formel gebracht innenpolitisch links orientiert ist, außenpolitisch jedoch imperialistisch denkt, für ein starkes Deutschland sich begeistert, das im Innern seinen Bürgern die freieste Betätigung gestattet. Diese Reformbestrebungen zielen nach Gertrud Bäumer darauf hin, daß die neue Lebensform und durch sie die Persönlichkeit wieder zu ihrem Recht gelange. Dazu sei eine Weiterentwicklung der Demokratie, die Stärkung des staatsbürgerlichen Sinnes, die Lösung des Arbeitszeitproblems, die Lohntarifbewegung, die Erhöhung des Niveaus der
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industriellen Arbeit zur Qualitätsarbeit, sowie die soziale und künstlerische Erziehung des Konsumenten notwendig.89 Von dieser Bürgerschicht sind starke Impulse für die Umformung zum modernen Industriestaat, für die soziale Reform ausgegangen. Es ist ihr bleibendes Verdienst, sich der Arbeiterbewegung ritterlich angenommen, für ihre Gleichberechtigung gestritten zu haben, oft sogar in sehr leidenschaftlicher Form. Wenn man einen Ausgangspunkt für diese soziale Strömung suchen will, dann das Jahr 1890 mit der Entlassung Bismarcks und der Aufhebung des Sozialistengesetzes. Fragen und Probleme taten sich urplötzlich auf, die bisher angestaut waren und jetzt, wie nach einem Dammbruch, in eine aufnahmebereite Gesellschaftsschicht strömten. Eine Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und der marxistischen Geschichtsphilosophie setzte ein, die sozialpolitische Literatur „wuchs wie Pilze aus dem Boden".90 In diesen Jahren entstand eine Unzahl von sozialpolitischen Zeitschriften und Vereinigungen, die einem wissensdurstigen Publikum Statistiken, Enqueten, Zustandsschilderungen, „Sozialreportagen"91 mit Momentaufnahmen aus dem Leben des Arbeiters übermittelten, und die noch junge Wissenschaft der Soziologie begann sich mit dem Problem der Industriearbeit, des Betriebs und der Anpassung des Menschen an die Technik auseinanderzusetzen. Eine lebhafte Agitation entfaltete die Boden- und Wohnungsreformbewegung, die sich mit Fragen des Erwerbs und der Verwertung kommunalen Grundeigentums, der Einfuhrung der Wertzuwachssteuer, der Besteuerung nach dem gemeinen Wert und der Ausgestaltung der Bauordnungen beschäftigte und einen nachdrücklichen Widerhall auch in staatlichen und gemeindlichen Kreisen fand. In München standen die Hygieniker Max von Gruber und Hans Buchner sowie der Nationalökonom Lujo Brentano an der Spitze der Wohnungsreform; in Forstenried bei München war nach dem Dresdner Vorbild Hellerau eine Gartenstadt geplant. Ein leidenschaftlicher, kompromißloser Kämpfer für die Rechte der Arbeiter war Lujo Brentano. Ein ganzes Leben lang, seit seinen Studien über die englischen Gewerkvereine Ende der 60 er Jahre, beschäftigte ihn die soziale Reform, die er nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch in höchst brisanter Weise vortrug, so daß besonders ihm der Unwille der Unternehmer und ihrer Verbände galt. Zahlreiche Kampfschriften sind zwischen beiden Parteien gewechselt worden, die Auseinandersetzung endete häufig sogar vor dem Gericht. Nach einer erfolgreich ausgefochtenen Beleidigungsklage bereiteten Münchener Studenten ihrem Lehrer stürmische Ovationen und richteten eine Dankadresse an ihn: „Man ist dazu übergegangen, die Studenten
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mittelbar vor dem Besuch Ihrer Vorlesungen zu warnen.. . Man hat ferner die angebliche Staatsgefahrlichkeit Ihrer Lehren den Unterrichtsverwaltungen in deutlicher Weise zur Beachtung empfohlen . . . Trotzdem halten wir uns für verpflichtet, Ihnen zu versichern, daß derartige Umtriebe auch niemals geeignet sein können, das Vertrauen und die Dankbarkeit Ihrer Schüler irgendwie zu mindern".92 Viele Nationalökonomen waren gleich Brentano ausgesprochen politisch engagiert. Wenn Mitte des 19. Jahrhunderts die Dahlmann, Treitschke, Sybel, Droysen als Historiker für die nationale Einigung fochten, so kämpften am Ende dieses Jahrhunderts die Nationalökonomen, die Schmoller, Brentano, Herkner, Weber, Sombart für die Fortentwicklung des gesellschaftlichen Lebens.93 Allerdings wurden sich viele ihrer oft subjektiven Weltanschauung nicht bewußt und stellten das, was sie für richtig und moralisch wertvoll hielten, als objektive Erkenntnis exakter Forschung hin. Gegen diesen Wissenschaftsbetrieb der Kathedersozialisten haben sich seit 1900 Stimmen erhoben, unter anderen auch Max Weber.94 Die Liberalen im bayerischen Landtag haben sich erst langsam, unter dem Einfluß der jungliberalen Strömung, der Soziakeform aufgeschlossen gezeigt. 1887 waren sie noch mit 71 Abgeordneten in den Landtag gezogen, mit nur 4 Mandaten geringer vertreten als das Zentrum; 1905 verblieben ihnen nurmehr 22 Sitze. Auch ihr einstmals überwältigender Einfluß in den Stadtparlamenten wurde ihnen, besonders nach Abänderung des Gemeindewahlrechts, von anderen Parteien streitig gemacht; denn die Liberalen konnten sich weder auf eine Volksbewegung stützen, noch stärkte ihnen eine mächtige Interessengruppe den Rücken. A R B E I T E R B E W E G U N G UND SOZIALPOLITIK
Mit der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 lebt die sozialdemokratische Arbeiterbewegung wieder auf und wächst im kommenden Vierteljahrhundert zur stärksten Massenbewegung heran. Ein stetig steigender Teil der mündigen Bevölkerung gerät damit - wenigstens der Ideologie nach - in Gegensatz zur kapitalistischen bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ; denn der Sozialismus glaubt, daß die Entwicklung über den Kapitalismus hinaus nur zur Aufhebung des Eigentums an den Produktionsmitteln fuhren kann, womit dann, da alle wirtschaftlichen Reibflächen und Spannungen wegfallen, der Zustand der klassenlosen Gesellschaft eintritt, somit das wirtschaftliche Einzelinteresse als Antriebskraft sozialen Handelns wegfällt und die soziale Ordnung ausschließlich mit idealen, ethischen Kräften verwirk-
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licht wird. Nach marxistischer Entwicklungstheorie gestaltet sich dieser Vorgang durch die wirtschaftliche Entwicklung selbst, d.h., die ökonomische Struktur der Gesellschaft wandelt sich und mit ihr gleich2eitig ihr juristischer und politischer Überbau.95 Die Ideologie, aus der sich Aufschlüsse für die gegenwärtigen wirtschaftsund sozialpolitischen Ziele nicht ergeben, wird mit der Wirklichkeit konkonfrontiert, und Zielsetzungen enstehen nun dadurch, daß der Sozialismus die Interessen der Arbeiter als Klasseninteressen vertritt, daß er die demokratischen Grundsätze auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Organisation verwirklichen will. Er muß daher die bestehende Ordnung hinnehmen, sie voraussetzen und mit den anderen Kräften um eine Neuorganisation der Gesellschaft ringen. Sie vollzieht sich unter immer größerer Beteiligung der Arbeiterbewegung. Die Berührungspunkte zu den übrigen Bevölkerungsschichten verstärken sich, die Arbeiterbewegung tritt aus ihrer Isolierung heraus und beginnt allmählich mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordung zu verwachsen. Im Reichstag, den süddeutschen Landtagen, den kommunalen Parlamenten und in den von der Sozialpolitik neu geschaffenen Vertretungskörperschaften kommt diese Mitarbeit und Mitverantwortung auf die Arbeitervertreter zu. Dann wirkt die Arbeiterbewegung auch durch Selbsthilfe in staatsfreier Sphäre, so bei der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern um bessere Arbeitsbedingungen, im Unterstützungswesen und Rechtsschutz, in den Konsumgenossenschaften, im Bildungswesen, in der Jugendarbeit. Es geht diesem pragmatischen Sozialismus also nicht mehr um revolutionäre Umgestaltung, sondern vornehmlich um Macht und Einfluß, um die Verbesserung der Lebensbedingungen und des Bildimgsstands der Arbeiter, um sie so fähig zu machen, an dieser industriellen Welt als gleichberechtigte, mündige Mitglieder teilzunehmen, die Macht und Einfluß auszuüben vermögen und schließlich, um mit den erworbenen Rechten und Fähigkeiten diese Welt in ihrem Sinne allmählich verändern zu können, wobei sich ihnen zugleich die Grenzen aufzeigen werden, wo Wirklichkeit endet, Utopie beginnt. Das ist das von der Realität gezeichnete Programm der deutschen Arbeiterbewegung; viele gerieten dadurch in einen Zwiespalt, nämlich zwischen Ideologie, die sich in der Gegenwart nicht verwirklichen läßt, und pragmatischer Einstellung zum Heute und damit möglicher Mitgestaltung der Zukunft scheiden zu müssen. Je weiter die anderen Kräfte entgegenkamen, desto williger wurde an der Gegenwart mitgearbeitet, je schroffer eine Beteiligung abgelehnt wurde, um so stärker herrschte das Wunschdenken vor. So erklärt sich die positivere Einstellung der süddeutschen Sozialdemokraten zu Staat und Wirtschaft. Hier war eine demokratische Gesinnung aus der
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März- und Vormärzzeit noch lebendig, hier gab es relativ liberale Wahlrechte, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter maßgeblicher Beteiligung der Sozialdemokratie zu volldemokratischen Wahlrechten umgestaltet wurden. Lange bevor das Wort Revisionismus fiel, hatte die bayerische Sozialdemokratie ihre Haltung der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt. Sie sah keinen „Zusammenbruch" in absehbarer Zeit voraus und hielt es daher taktisch und politisch für unklug, mit einer politischen Katastrophe zu spekulieren. Vielmehr sollte die Arbeiterorganisation ausgebaut und für alle Reformen gekämpft werden, die geeignet waren, die Arbeiterschaft zu heben und das Staatswesen im Geiste der Demokratie auszubilden: Nicht Diktatur des Proletariats, sondern Erweiterung der politischen und wirtschaftlichen Rechte des Volkes. Schon Georg von Vollmar sprach sich in seiner berühmten Eldoradorede 1891 in diesem Sinne aus: „ E s wird sehr viel vom Vorgehen der Sozialdemokratie, von ihrer Kraft und Entschiedenheit, wie von ihrer geschickten folgerichtigen Benutzung der tatsächlichen Verhältnisse abhängen, daß dieser Gedanke [das Allgemeinwohl als das wahre Staatsinteresse] in erster Reihe in der Arbeiterwelt, aber auch darüber hinaus bei den Einsichtigen in allen Schichten immer mehr Wurzel faßt und sich Geltung verschafft. Je friedlicher, geordneter, organischer diese Entwicklung vor sich geht, desto besser für uns und das Gemeinwesen".98 1893 ziehen zum erstenmal j Sozialdemokraten in die bayerische Abgeordnetenkammer ein. Damit nehmen sie eine überaus fruchtbare parlamentarische Tätigkeit auf, die sich keineswegs nur auf Arbeiterfragen beschränkt, sondern alle Bereiche umfaßt. Vollmar wollte die Sozialdemokratie Bayerns nicht auf den engen Rahmen einer einseitigen Industriearbeiterpartei beschränkt wissen, sondern sie allmählich zu einer alle werktätigen Schichten umgreifenden Volkspartei ausweiten.97 Im Oktober 1893 fordert der Sozialdemokrat Grillenberger die Regierung auf, eine Wahlrechtsreform vorzubereiten. Aber es bleibt nicht bei Forderungen oder Anträgen, die Mitarbeit geht weiter, sie mündet in die Zustimmung zum Budget, ein Verhalten, das innerhalb der Gesamtpartei teilweise auf schroffe Ablehung stößt und eine über mehrere Parteitage sich hinziehende erbitterte Auseinandersetzung auslöst. Die Sozialdemokraten versuchen im Landtag auch Einfluß auf die Reichspolitik zu gewinnen, indem sie die bayerische Regierung zu einer fortschrittlicheren Haltung im Bundesrat zu bewegen versuchen,98 oder sie ergreifen im Landtag selbst die Initiative und fordern eine vom Reich unabhängige Politik, meistens jedoch vergebens; sie scheitern an der vorsichtigen Haltung der Regierung, die es stets ängstlich vermied, durch eigene Wege den preußischen Unwillen auf sich zu lenken. Hier vermochte nicht einmal der Appell an die
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bayerische Selbständigkeit etwas auszurichten. Die bayerischen Sozialdemokraten waren nämlich im Gegensatz zu den Zentralisten im Norden föderalistisch eingestellt; oft klingen auch nationale und militärfreundliche Töne an." 1893 zieht der Münchener Druckereibesitzer Birk als erster Sozialdemokrat in das Gemeindekollegium ein. Als nachteilig für eine ausschlaggebende städtische Vertretung erwies sich nicht so sehr das Gemeindewahlrecht, das 1908 reformiert worden war, sondern vielmehr das Bürgerrecht, das nicht automatisch mit dem Heimatrecht zusammen erworben wird, sondern eigener Verleihung bedarf, die teilweise mit hohen Gebühren verbunden ist. Fast durchweg ist daher die Zahl der Bürger im Vergleich zur Bevölkerungszahl und auch zur Zahl der nach der Gemeindeordnung zur Wahl befähigten Personen eine sehr geringe, so betrug die Zahl der Wahlberechtigten 1914 in München rund 47000 bei einer Einwohnerzahl von über y 2 Million.100 Immerhinwar 1908 schon jeder achte Gemeindebevollmächtigte Sozialdemokrat.101 Die Gewerkschaften nehmen nach der Jahrhundertwende durch ihr äußeres Wachstum, den Ausbau und die Umstrukturierung der inneren Verfassung der Verbände, einen immer größeren Raum innerhalb der Arbeiterbewegung ein. Ein Vergleich mit den anderen zwei Organisationen zeigt das außergewöhnliche Wachstum der Freien Gewerkschaften (Schaubild 6). Innerhalb der Gewerkschaften läßt sich eine Konzentrationsbewegung feststellen, viele Branchenverbände gehen in den großen Industrieverbänden auf. 1906 wurden noch 66 verschiedene Organisationen gezählt, 1913 nur noch 49.103 Der Anteil der weiblichen Mitglieder wächst auf Grund der verstärkten Beteiligung der Frauen am Wirtschaftsleben schneller als der der männlichen. 1892 waren erst 1,8% der Organisierten Frauen, 1913 bereits 8,9%.104 Rund ein Fünftel aller bayerischen Arbeiter ist 1912 m einer Gewerkschaft organisiert, davon wohnt allein die Hälfte in den großen Städten München, Nürnberg und Augsburg.106 In Industriegebieten liegt der Anteil der Organisierten an der Gesamtarbeiterschaft allerdings höher, so beträgt er in Sachsen 35,5%, in Groß-Berlin 54,2% und in Bremen sogar 88,2%.106 Die Gewerkschaften erblicken ihre Hauptfunktion in der Erhöhung der Löhne. Bei guter Konjunktur üben sie einen Druck auf die Unternehmer aus, damit die Löhne den verbesserten Bedingungen angepaßt werden. Nur dadurch kann der Lebensstandard des Arbeiters - wenn auch mit Abstand - der in der Industriewirtschaft stetig wachsenden Produktivität der Arbeit angeglichen werden. In Krisenzeiten verhindern die Gewerkschaften mit ihren Unterstützungseinrichtungen das Absinken der Arbeiterschaft in Not und Elend. „Die Gewerkschaften wirken daher im Grunde genommen insofern als konser-
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Bayern im Umbruch Schaubild 8: Entwicklung der Gewerkschaften im Reich i89j-i9i3 1 0 *
Mitglieder
2000 000
1 500000
1 000000
500000
1893
1900
1907
1913
vatives Element, als ohne sie gerade durch die Krise eine weit tiefgehendere Erregung der Massen gefolgt wäre".107 Lohnerhöhungen lassen sich nun meistens auf friedlichem Wege nicht erzielen, sondern nur mit Streiks, die den Arbeitgeber unter Druck setzen. Ein Streikrecht, ein Recht auf die Bildung von Koalitionen, ist den Arbeitern im § 152 Reichsgewerbeordnung ausdrücklich zugebilligt, sein objektiver Umfang bezieht sich jedoch nur auf wirtschaftliche Ziele, wie die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Dieses Koalitionsrecht wird nicht wie in der Weimarer Verfassung oder dem Bonner Grundgesetz garantiert, sondern
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lediglich geduldet. Dient der § 1 5 2 zur Anerkennung der Koalitionsfreiheit, so stellt § 15 3 einen Schutz vor der Koalition dar. Damit will der Gesetzgeber dem Nichtorganisierten einen verstärkten Schutz geben.108 Es werden hier bestimmte, an sich nicht strafbare Handlungen für strafbar erklärt, wenn sie sich gegen Nichtorganisierte wenden. Damit kann die Tätigkeit der Gewerkschaften sehr eingeschränkt werden, denn für die erfolgreiche Abwicklung eines Streiks ist die Solidarität aller Streikenden erforderlich, Streikbrecher gefährden den Erfolg, zumal die Arbeitgeber häufig auswärtige Arbeitswillige heranziehen. Bei genauer Betrachtung der bayerischen Streikgeschichte zwischen 1890 und 1914 fallen einige typische Merkmale ins Auge, die bei allen Streiks wiederkehren: der Streik wird von den Gewerkschaften eingeleitet, der Arbeitgeber zieht Arbeitswillige heran, es kommt zu Übergriffen der Streikenden, die die Fabrik kontrollieren und Streikbrecher behindern; die Arbeitgeber rufen nun die Behörden um Hilfe an, Polizei besetzt das Unternehmen, begleitet die Arbeitswilligen nach Hause, verhaftet Streikposten, ahndet Übergriffe und Verletzungen des § 153. Das letzte Kapitel spielt sich dann oft in den Gerichtsälen ab; denn Verletzungen des § 153 ziehen strafrechtliche Konsequenzen nach sich. Nicht immer sind die Streikenden schuldlos gewesen, aber sie kommen sich ungleich behandelt vor, in ihren Augen ist es häufig der Klassenstaat, der mit seinem Machtapparat die Interessen der Gegner schützt. Diese Parteilichkeit ist jedoch mehr instinktiv; der Beamte oder Richter wird sich seiner Subjektivität gar nicht bewußt, er besitzt überhaupt kein Verhältnis zum Leben der unteren Schichten. Es muß eine „Chinesische Mauer" 109 die verschiedenen Zweige der Staatsverwaltung durchzogen haben, denn andere Behörden, wie die Gewerbeinspektion oder die Gewerbegerichte bringen sehr viel mehr Verständnis für die Belange der Arbeiterbewegung auf. Die öffentliche Meinung stand jedoch meistens auf Seiten der Streikenden und lehnte mit Entrüstung Versuche ab, die bestehenden Strafbestimmungen des § 15 3 zu verschärfen. Sowohl die Umsturzvorlage 1894 als auch die Zuchthausvorlage 1899 scheiterten an ihrem Widerstand und dem der Parlamente. Aber auch das Vereins- und Versammlungsrecht legt der Arbeiterbewegung Beschränkungen auf. Wann nämlich die Gewerkschaften das Gebiet des wirtschaftlichen Lebens mit seinen konkreten Interessen verlassen und auf das staatliche übergreifen, ihren Charakter also wandeln, nicht mehr gewerbliche Koalitionen, sondern politische Vereine sind und somit den Beschränkungen des landesgesetzlich geregelten Vereins- und Versammlungsrechts unterliegen, dies festzustellen liegt im Ermessen des Richters. Die gewerk-
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schaftliche Arbeit, die ja ganz anders als die Maßnahmen der Unternehmer auf die breite Öffentlichkeit angewiesen ist, wird so praktisch gezwungen, die engen Schranken des § 15 2 zu durchbrechen, und es ist nun eine Auslegungsfrage der Behörden, die von Fall zu Fall entscheiden, ob sie dies dulden, oder eingreifen wollen. Denn politische Vereine müssen behördlich angemeldet werden, Mitgliederlisten einreichen, Minderjährige und Frauen dürfen an Versammlungen, die übrigens staatlicherseits überwacht werden, nicht teilnehmen. Bis 1899 bestand außerdem ein Verbot für politische Vereine, sich überregional zu verbinden. Erst das Reichsvereinsgesetz 1908, das die Buntscheckigkeit landesgesetzlicher Bestimmungen ablöste, schuf der Arbeiterbewegung größere Bewegungsfreiheit. Im großen und ganzen wird das Koalitionsrecht unter dem Druck der öffentlichen Meinung allmählich freiheitlicher gehandhabt; andererseits werden aber auch Gegenströmungen spürbar. Die großen Verkehrsstreiks 1909-19x1 in Schweden, Italien, Frankreich und Großbritannien, die das wirtschaftliche Leben dieser Länder praktisch stillegten, weckten in Deutschland Stimmen, die das Streikrecht in öffentlichen Betrieben beschneiden wollen. In Bayern machte sich das Zentrum - wohl nicht aus uneigennützigen Gründen - zum Wortführer dieser Bestrebungen. In einer Ministerialentschließung, die der Verkehrsminister von Frauendorfer 1911 unter dem Druck des Zentrums erließ, wurde zum erstenmal die Einbeziehung der Werkstättenarbeiter in die Reichsgewerbeordnung verneint, ihre Beteiligung an Gewerbegerichtswahlen verweigert.110 Weiterreichend waren die Pläne seines Nachfolgers von Seidlein, der kurz vor dem Weltkrieg in einer Untersuchung das Koalitionsrecht für Verbände aufheben wollte, die ein Streikrecht bejahten.111 Die vielfach künstliche Empörung über den „Terrorismus" der Gewerkschaften und das Bemühen der Unternehmer, den Streik als ein Mittel der Arbeiterschaft hinzustellen, mit dem nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Ziele durchgesetzt werden sollten, trifft nur in den geringsten Fällen zu. Die deutsche Arbeiterbewegung war viel staatstreuer, viel loyaler gegenüber der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, als viele glaubten oder aus taktischen Gründen zu glauben gewillt waren. Wenn der politische Streik vor dem Weltkrieg Bedeutung hatte, dann in den europäischen Staaten, in denen der Arbeiterschaft nicht wie in Deutschland ein demokratisches Reichstagswahlrecht „in den Schoß gefallen war", 112 sondern in denen der Arbeiter erst um seine Rechte kämpfen mußte, unter anderem auch mit Hilfe des Streiks. Bis zur Gründung von Arbeitgeberverbänden hatten sich die Gewerkschaften - trotz rechtlicher Behinderungen - bei Streiks überwiegend als die stärkeren erwiesen. Denn der einzelne Unternehmer stand den großen Arbeit-
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nehmerorganisationen viel hilfloser gegenüber, als starke Arbeitgeberverbände, die über genügend Mittel verfugen. Dieser Notwendigkeit, die Arbeitgeberinteressen zu organisieren, wurde man sich allmählich bewußt, und es bedurfte nur eines äußeren Anlasses, um einen Zusammenschluß herbeizuführen. Als im Winter 1903/04 im sächsischen Industriestädtchen Crimmitschau ein erbitterter Streik ausbrach, der für beide Seiten zur Prinzipienfrage wurde, erklärten sich die deutschen Unternehmer mit ihren sächsischen Kollegen solidarisch und gründeten in der Folgezeit eine große Anzahl von Arbeitgeberverbänden. Es ist nun eine bei allen Interessenverbänden wahrnehmbare Erscheinung, daß nach einer gewissen Konsolidierung das Bedürfnis entsteht, die eigene Tätigkeit aus der Gesamtheit heraus zu begründen, das eigene Interesse als dem Gesamtinteresse dienlich hinzustellen, dem täglichen Alltag der Auseinandersetzung mit dem Gegner einen ideologischen „Überbau" zu verleihen. Das haben auch die Unternehmerverbände versucht; sie verfolgen dabei, und hier besonders die Großindustriellen, konservatives Gedankengut. Sie sind für die Beibehaltung einer autoritativen Betriebsverfassung, gegen die durchgreifende Demokratisierung des öffentlichen Lebens, gegen eine erweiterte Mitbestimmung der Massen. So empfindet der Syndikus des Bayerischen Industriellenverbandes, Alfred Kuhlo, den man wohl mit Briefs als den Idealtypus der „polemischen Figur" u 3 hinstellen kann, den heutigen Zug zur Demokratisierung aller maßgeblichen Einrichtungen als den industriellen Interessen nachteilig und erschwerend für ihre weitere Entwicklung; 114 oder der Bamberger Textilindustrielle Heinrich Semlinger wendet sich gegen die preußische Wahlrechtsreform,116 während von dem MAN Direktor Anton von Rieppel die Ansicht vertreten wird, daß das Volk systematisch vom wirtschaftlichen Denken durch das Haschen nach der Gunst der Massen abgelenkt werde.116 Das Bild der Streikbewegung wird nun durch die Arbeitgeberverbände entscheidend verändert. Anstelle der vielen kleinen Streiks treten die großen überregionalen, ganze Industriezweige erfassenden Ausstände. Oft gehen die Unternehmer jetzt zum Angriff über und versuchen mit Aussperrungen drohenden Streiks zu begegnen oder die Arbeitsbedingungen zu ihren Gunsten zu verändern; denn die finanzielle Kraft der Gewerkschaften wird durch eine Aussperrung schnell erschüttert. Mit dieser Taktik setzten sich auch die Bayerischen Metallindustriellen im Sommer 1905 gegen die Forderungen ihrer Arbeiter erfolgreich zur Wehr; hier sind zum erstenmal auf bayerischen Boden über 20000 Arbeitnehmer gleichzeitig ausgesperrt gewesen. Die Arbeitskämpfe verlieren zwar nicht an Heftigkeit, sie werden aber gleichsam übersichtlicher und in bestimmte Bahnen gelenkt. Eine große
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Bedeutung gewinnt dabei das Tarifvertragswesen, die kollektive Regelung des Arbeitsvertrages. Das Buchdruckgewerbe blickt schon seit den 70 er Jahren auf ein gut funktionierendes Tarifsystem zurück; allmählich gewinnt es auch in Handwerks-, kleineren und mittleren Industriebetrieben an Boden, in der Großindustrie setzt es sich allerdings erst nach dem Weltkrieg durch. Ein schnelleres Vordringen des Tarifvertragswesens hätte auch eines größeren Entgegenkommens der Arbeitgeber gegenüber den Gewerkschaften bedurft. „Solange freilich das Unternehmertum in jedweder Betätigung der organisierten Arbeiterschaft nur ein auf den Umsturz „der bestehenden Gesellschaftsordnung" gerichtetes Betreben erblickt", bemerkt der Deutsche Metallarbeiterverband, „solange wird freilich auf ein größeres Verständnis des Wesens und der Bedeutung der Arbeiterbewegung nicht zu hoffen sein". 117 Dagegen vermehren sich die Beziehungen und Berührungspunkte zwischen staatlichen Stellen und noch mehr zwischen den einzelnen Stadtverwaltungen und den Gewerkschaften. E s ist vor dem Weltkriege keine Seltenheit mehr, daß Arbeiterführer mit bayerischen Ministern konferieren, eine Tatsache, die den Generaldirektor der M A N , Heinrich von Buz, zu der erbitterten Feststellung veranlaßt: „ M i t solchen vaterlandslosen Leuten wird fast allseitig in entgegenkommendster Weise verkehrt, gerade als wenn sie auch gute Staatsbürger wären". 1 1 ® Eine weitere Aufgabe sehen die Gewerkschaften in der Überwachung des Arbeitsschutzes. Hier stehen sie in ständiger und überaus fruchtbarer Verbindung mit den Beamten der Gewerbeinspektion, einer Einrichtung, die am Anfang der staatlichen Arbeiterschutzgesetzgebung steht. A u f Bundesratsbeschluß 1878 auch in Bayern eingeführt, umfaßte sie zuerst nur größere Betriebe, griff aber schon bald in immer weitere Bereiche des gewerblichen Lebens aufsichtsführend ein. In diesem Zusammenhang sehen wir auch einen neuen Zweig der Medizin entstehen, die Arbeitsmedizin, die jetzt systematisch die Berufskrankheiten zu untersuchen beginnt. Das Interesse für den Arbeitsschutz wurde erst allmählich bei den Arbeitern geweckt, die ihm anfangs sogar mißtrauisch gegenüberstanden. Bei den Unternehmern, besonders in Handwerkerkreisen, war die Abneigung dagegen auch noch später weit verbreitet. 1894 bezeichnet z.B. die Handels- und Gewerbekammer für Unterfranken die Fabrikinspektion als Eingriff in das Hausrecht des Unternehmers und wertete es als ein demagogisches Verfahren, die Arbeitnehmer im eigenen Geschäft des Arbeitgebers aufzufordern, Denunziationen vorzutragen. 119 Der Grundgedanke der 1891 eingeführten Gewerbegerichte beruht auf der sozialen Gleichberechtigung beider Arbeitsvertragsparteien. In verschiedener Hinsicht kamen die Arbeiter mit der Praxis dieser Sondergerichte in Berührung,
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als gewählte Beisitzer, als Zeugen oder Beteiligte bei Streitigkeiten aus dem Arbeitsvertrag oder als Vertragspartner bei Tarifverhandlungen; denn die Gewerbegerichte wirkten hier häufig als Einigungsämter. Auch bei Streiks griffen sie schlichtend ein, falls dies von einer der beiden Parteien gewünscht wurde. Das Krankenversicherungsgesetz von 1883, im Laufe der Zeit durch mehrere Novellen weiter ausgestaltet und 191 x mit den anderen Versicherungsgesetzen zur Reichsversicherungsordnung zusammengefaßt, sicherte den Arbeitern in der Kassenform der Ortskrankenkassen den größten Spielraum innerhalb aller Selbstverwaltungseinrichtungen zu. Sie fußt auf genossenschaftlichem Prinzip. Die Generalversammlung, die den Vorstand bestellt, setzt sich, entsprechend der tatsächlichen Beitragsleistung, zu 2 / 3 aus Arbeitnehmern und 1 / 3 aus Arbeigebervertretern zusammen. Dadurch liegt die Verwaltung vornehmlich in den Händen der Arbeiter, und da bei den Wahlen das Mehrheitswahlrecht zur Anwendung gelangt, fällt den Vertretern der Freien Gewerkschaften der ausschlaggebende Einfluß zu. Die Vorherrschaft der Sozialdemokraten in den Ortskrankenkassen nun, in denen 1907 mehr als die Hälfte der Versicherungspflichtigen war - in anderen Kassenarten ist der Einfluß der Arbeiter unerheblich - hat schon bald Gegenkräfte wachgerufen, die das Selbstverwaltungsrecht der Kassen empfindlich einzuschränken versuchten. Dies geschah nicht nur von staatlicher Seite. „Neutralisierung der sozialpolitischen Einrichtungen" wird ein Schlagwort des Zentrums, die „Kölnische Zeitung" spricht von den Ortskrankenkassen als von „Nebenorganisationen" der Sozialdemokratie, die hier auf Kosten der Versicherten ihren Parteigenossen einbringliche Posten verschaffe.120 Die Selbstverwaltung besaß aber auch Freunde. So beschwor die „Frankfurter Zeitung" anläßlich der Krankenkassennovelle 1903 die Sozialdemokratie, nicht für „Kanonen Volksrechte einzutauschen". Sie habe auch hier Gelegenheit zu zeigen, „ob sie für die Wahrung demokratischer Rechte auch dann genügende Energie zu entfalten weiß, wenn der demokratische Standpunkt mit materiellen Interessen der Arbeiter in Widerspruch gerät". 121 Die Wahlen zur OrtskrankenkasseMünchen bringen uns mit einem Phänomen dieser Zeit in Berührung, den „Sozialwahlen", die Fieber und Erregung unter die Wählerschaft trugen und Leidenschaften weckten, die heute unverständlich bleiben, wenn wir nicht bedenken, daß Macht und Einfluß der verschiedenen sozialen Kräfte noch nicht etabliert waren und erst um ihren Anteil gekämpft werden mußte. Bei den Ortskrankenkassenwahlen ging die christliche Arbeiterbewegung nach 1900 zum Angriff über, scheiterte aber am Mehrheitswahlrecht, bis 1913 zum erstenmal nach den Bestimmungen der Reichsversicherungs-
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Ordnung gewählt wurde, die den Minderheitsgruppen größeren Einfluß gewährte. Der Kampf um diese Wahl, die fast iooooo Arbeitnehmer mobilisierte, wurde mit unbeschreiblicher Schärfe gefuhrt, bei der beiden Seiten jedes Mittel recht war, den Gegner zu diskreditieren, ihn moralisch unglaubwürdig zu machen. Dem Zentrum gelang es mit Hilfe der Antisemiten den bestimmenden Einfluß der Sozialdemokraten zu brechen; sie waren jedoch nicht stark genug, um über die Besetzung des i. Vorsitzenden allein verfugen zu können; daß hier keine Einigung zustande kam und auf Grund der Reichsversicherungsordnung ein staatlicher Kommissär eingesetzt werden mußte, deckt die Kompromißmüdigkeit auf, die schon weite politische Kreise erfaßt hatte. 1884 und 1889 entstanden die beiden anderen Sozialversicherungsgesetze, das Unfall- und das Invaliden- und Altersversicherungsgesetz. In den Berufsgenossenschaften und Landesversicherungsanstalten als den beiden Versicherungsträgern war den Arbeitnehmern nur wenig Mitspracherecht eingeräumt, da das Prinzip vertreten wurde, den Einfluß innerhalb der Sozialversicherung von der Leistung der Sozialpartner abhängig zu machen. Die Arbeiter besaßen daher keine Einwirkungsmöglichkeit bei der Festsetzung der Renten, in den Berufungsinstanzen dagegen wurde ihnen eine Mitwirkung eingeräumt, auf der vinteren Ebene in den Schiedsgerichten für Arbeiterversicherung, auf Landesebene bei der Landesversicherungsanstalt in München und endlich in der höchsten Instanz, beim Reichsversicherungsamt in Berlin. Die Sozialpolitik hat neues Recht geschaffen, sie hat damit unsere Arbeitswelt im Recht verankert. Andererseits vergrößerte die Gesetzesflut, die ja auch von anderen Gebieten auf den Menschen einströmte, so z. B. das B G B oder H G B , die Rechtsunkenntnis. Der einzelne, besonders aus den unteren Schichten, stand dieser Rechtswelt hilflos gegenüber, er fühlte sich ihr restlos ausgeliefert, zumal die Gewichte ungleich verteilt lagen; denn wer Besitz und Bildung in die Waagschale werfen konnte, besaß einen großen Vorsprung bei der Wahrnehmung seiner Rechte. Die Arbeitersekretariate der Freien Gewerkschaften stellen daher den großartigen Versuch dar, auf Grund des Selbsthilfeprinzips den Arbeitermassen Rechtsschutz zu gewähren, und das Volk mit dem bestehenden Rechtssystem vertraut zu machen. Das erste dieser Sekretariate geht auf eine Anregung Grillenbergers zurück und wurde 1894 in Nürnberg ins Leben gerufen; weitere Gründungen folgten bald in ganz Deutschland. Ihre Leiter waren in den wenigsten Fällen Juristen, gehörten vielmehr der Arbeiterschicht an und hatten in der Praxis und durch eigene Studien die notwendigen Kenntnisse erworben. 1909 gab es bereits 121 dieser Sekretäre, insgesamt beschäftigen die Freien Gewerkschaften fast 1600 Beamte.122
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Das Problem der Arbeitslosigkeit, das seit der Industrialisierung die Menschen zunehmend zu beschäftigen beginnt, griffen zuerst praktisch die Gewerkschaften auf mit ihren Unterstützungseinrichtungen. Von dieser Seite wurde auch energisch eine gesamtstaatliche Regelung des Arbeitsmarktes gefordert, wohl erkennend, daß mit wachsender Intensivierung der Wirtschaft eine individuelle Lösung unmöglich wurde. Reichsarbeitsamt und Reichsarbeitslosenversicherung sindjedoch erst nach demWeltkriegverwirklicht worden; immerhin finden wir vorher schon Ansätze, Teillösungen, bei denen die Gewerkschaften entscheidend mitgewirkt haben. So treffen wir Arbeitervertreter in den Aufsichtsorganen der gemeindlichen Arbeitsämter an. Die bayerischen Städte zogen hier ein engmaschiges Netz von Arbeitsnachweisen auf, die zur Kontrolle von Angebot und Nachfrage untereinander verbunden waren und eine zentrale Vermittlungsstelle in München besaßen - zu dieser Zeit wohl das bestorganisierteste Arbeitsvermittlungssystem in Deutschland.123 Die gemeindlichen Arbeitsämter besaßen jedoch kein Vermittlungsmonopol; das Übergewicht hatten noch immer gewerbliche Stellenvermittler, Innungsnachweise und die Nachweise der Arbeitgeberverbände, die besonders im Ruhrgebiet und Norddeutschland den Unternehmern als Mittel zur Beherrschung des Arbeitsmarktes dienten.124 Die Arbeitslosigkeit, ausnahmslos ein städtisches Problem, ließ sich auf dem Wege der Armenfürsorge schwerlich lösen, auch Notstandsarbeiten linderten nur die größte Not und waren zudem unproduktiv. Immer wieder wurde daher die staatliche Arbeitslosenversicherung gefordert. Praktische Versuche zur Einfuhrung einer solchen Versicherung beschränkten sich in Deutschland auf die Städte Köln und Straßburg. Bayern unternahm 1909 den Versuch, eine gemeindliche Arbeitslosenversicherung einzuführen. Die auf Grund eines Beschlusses der Abgeordnetenkammer von der Regierung ausgearbeitete Mustersatzung, die den Gemeinden zur Einfuhrung empfohlen wurde, blieb jedoch wirkungslos, da staatliche Mittel dafür nicht zur Verfügung gestellt wurden. Erst 1913 arbeitete die Regierung eine neue Vorlage aus, die eine jährliche Unterstützung von 7 5 000 Mark für die Gemeinden vorsah, allein die Mehrheit des Plenums der Reichsratskammer erklärte sich gegen diese Vorlage. Bezeichnend für den geistigen Standort nicht nur vieler Reichsräte sondern auch anderer Zeitgenossen sind die Argumente, die der Referent der Reichsratkammer, Freiherr von Cramer-Klett vortrug: Der Zwang, sich um Brot und Unterhalt bemühen zu müssen, gehöre zu den elementaren Kräften, die das wirtschaftliche und gesellige Leben beherrschten. Ein Recht auf Arbeit könne es nur in einem kommunistisch eingerichteten Staatswesen geben. Die Fürsorge für den Arbeiterstand zeige überhaupt eine starke Einseitigkeit, die
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Regierung müsse sich bewußt sein, daß sie mit der Arbeitslosenversicherung die Organisation stärke, deren Lebenszweck es sei, die Existenz des Staates zu vernichten.126 Die Bildungseinrichtungen der Gewerkschaften dienten unter anderem dem Zweck, den Arbeiter in die industrielle Welt einzugliedern. Und in der Tat steht der Arbeiter im Gegensatz zu anderen Bevölkerungskreisen auf dem Boden der neuen industriellen Gesellschaft, bejaht sie als Lebensform. Man darf die Bestrebungen der Arbeiterbewegung, die geistige und materielle Lage des einzelnen zu heben, jedoch nicht als den Versuch zur Begründung einer eigenständigen Kultur und Lebensform, sozusagen einer „proletarischen Kultur", werten; ihr Bemühen richtete sich vielmehr nach bürgerlichen Vorbildern aus, wie ja auch der einzelne Arbeiter bestrebt war, ins Kleinbürgertum aufzusteigen. Betrachten wir die Tätigkeit der Gewerkschaften noch einmal im Zusammenhang, so wird verständlich, wie viel stärker und unmittelbarer sie das Leben des einzelnen berührt als es je die politische Partei vermocht hätte. Aber auch die Parteipolitik wird von der Gewerkschaftspolitik beeinflußt, die nun allmählich alle lebensunwichtigen, schädlichen Bestandteile der offiziellen Ideologie ausscheidet. Man lernt im Alltag den Gegenwartserfolg schätzen, man weiß, wie viel Mühe auch ein noch so kleiner Erfolg, der dem Gegner abgerungen wurde, kostet, und damit steigt die Einsicht der Arbeiter, weiterhin selbst an den Aufgaben dieser Zeit in den Parlamenten und Gemeinden mitzuwirken.128 „Aus der alten Sekte der Utopisten, Revolutionäre und Prinzipienreiter", so schreibt Werner Sombart, „ist die große Partei der Opportunisten und Akkomodisten geworden".127
ADEL
Wir treffen in Bayern einen reich gegliederten Adel an: Standesherren, reichsritterschaftlichen Adel in Franken und Schwaben, landsässigen in Altbayern, das Patriziat der großen Reichsstädte, vor allem Nürnbergs und Augsburgs, daneben natürlich den Offiziers-, Beamten- und Wirtschaftsadel. Im ganzen zählen wir 1918 715 Familien, von denen etwas über ein Fünftel, nämlich 156 dem „Uradel" angehören.128 Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Stellung des bayerischen Adels ist nicht mit der des preußischen vergleichbar. Während das Junkertum seinen Lebensstil zu behaupten vermochte, der dazu noch für große Teile des Bürgertums als Vorbild und erstrebenswert galt, verbürgerlichte der Adel Bayerns.
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Politisch tritt er seltener hervor als der preußische, auch in der bäuerlichen Bewegung, in der die Junker führend tätig waren, hat eigentlich nur der fränkische Baron von Thüngen-Roßbach eine bedeutende Rolle gespielt; denn der adelige Landwirt ist in Bayern geringer vertreten. Ein politisches Gewicht gewinnt der Adel durch seine Vertretung in der Reichsratskammer, die sich jedoch auf die legislative Tätigkeit von Regierung und Abgeordnetenkammer, besonders in der Sozialpolitik, eher hemmend als fördernd auswirkte; denn in dieser Vertretung besaß nicht der Uradel, sondern die nobilitierten Unternehmer, die Finck, Auer, Buhl, Cramer-Klett, Faber und Maffei das Übergewicht. Es ist eine interessante Feststellung, daß diese geadelten Wirtschaftsführer ein geringeres Verständnis für die Probleme einer modernen Industriegesellschaft aufbrachten, als z.B. Prinz Ludwig oder der dem altbayerischen Uradel angehörende Hans Graf Toerring-Jettenbach, wohl die interessanteste und profilierteste Erscheinung des bayerischen Adels dieser Zeit. ToerringJettenbach nahm die Münchener „Sezession" gegen Angriffe im Reichsrat in Schutz,129 setzte sich für die Bestätigung sozialdemokratischer Bürgermeister ein130 und forderte als einer der wenigen Reichsräte die staatliche Arbeitslosenunterstützung. Sein hochkonservativer Antipode in der Reichsratskammer, der Freiherr von Würtzburg, war gleichzeitig bayerischer Landesvorsitzender des Flottenvereins, zu dessen Gönnern in Deutschland die höchsten Gesellschaftskreise, in Bayern unter anderem Prinzen des königlichen Hauses, Standesherren wie der Fürst Castell-Castell, hohe Richter, Ministerialbeamte, Universitätsprofessoren zählten.181 Eine bedeutende Gestalt des bayerischen Adels und gleichzeitig des deutschen Katholizismus verkörpert der Fürst Karl zu Löwenstein. Dieser bayerische Standesherr, an entscheidender Stelle im Kommissariat der Katholikentage tätig, ist Pazifist, Präsident der Anti-Duelliga und christlicher Sozialpolitiker. In seiner Gesellschaftsauffassung tritt der ständische Aufbau der Gesellschaft in den Vordergrund: sie dürfe nicht einem losen Sandhaufen gleichen, sondern müsse sich aufbauen auf der Familie, um sich den einzelnen Berufsstellen entsprechend weiterzugliedern zum Schutze und zur Förderung der Interessen aller, insbesondere der wirtschaftlich Schwachen.132 ZENTRUM UND CHRISTLICHE ARBEITERBEWEGUNG
Der Katholizismus hat sich seit den 90 er Jahren zu einer Volks- und Massenbewegung entwickelt. Vom Westen ausgehend, wo 1890 die Gründung des Volksvereins für das katholische Deutschland erfolgte, erfaßte sie bald das
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ganze Reich und übte auf große, alle Schichten umspannende Teile des Volkes entscheidenden Einfluß aus, dem sich nur die Wirkung der anderen Massenbewegung zur Seite stellen läßt, der sozialistischen Arbeiterbewegung. Beide sind zugleich in allen Bereichen des menschlichen Lebens wirksam geworden mit fest umrissenen, gedanklich abgerundeten Programmen, die sich besonders den unteren Schichten verständlich machen wollten. Im Katholizismus wirken neben der politischen Bewegung, dem Zentrum, die Laienbewegung, die Arbeitervereine und Gewerkschaften. Der zitierte Ausspruch des Fürsten Löwenstein ließ schon ein wesentliches Element der katholischen Gesellschaftslehre anklingen, nämlich die Auffassung, die politische Vertretung an die Stände anzuknüpfen: der Mensch soll in Gesellschaft und Staat nirgends als einzelner auftreten, sondern immer als Glied einer Gemeinschaft, die sich in verschieden abgestufte Ränge unterteilt. A u s diesem Grund muß das Verhältnis zum Kapitalismus überaus kritisch sein. Antikapitalistische Strömungen bleiben eigentlich immer wach, auch wenn seit den 80 er Jahren mehr der Gedanke einer Sozialpolitik auf dem Boden der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sich durchzusetzen beginnt. Besonders lange hielt sich dieser doch häufig irrationale Antikapitalismus, mit dem ein Antisemitismus einhergeht, in Bayern. So sieht der Herausgeber der „Historisch-Politischen Blätter", Joerg, das Wesen des Kapitals im Wucher mit der Arbeitskraft der Besitzlosen liegen, oder Kempel, ein anderer Autor, verdammt den Kapitalismus als gottlos, während für Ratzinger die Merkmale dieses Wirtschaftssystems Ausbeutung und Wucher sind.133 Doch der überwiegende Teil der katholischen Soziallehrer und Zentrumspolitiker, wie Franz Hitze oder Georg von Hertling, aber auch aus Leos XIII. „Rerum Novarum" wird dies spürbar, wendet sich einer mehr positiven Betrachtung des Kapitalismus zu, er wird nicht mehr im ganzen verworfen, sondern nur noch einige seiner Erscheinungen, die zu groben Schädigungen geführt haben.134 Dem wachsenden politischen Einfluß, den die katholische Bevölkerung durch die Ballung ihrer Kräfte erzielt hatte und der ihr Selbstvertrauen stärkte, entsprach jedoch nicht der Raum, den sie im wirtschaftlichen und kulturellen Leben einnahm. In den Jahren kurz vor dem Weltkrieg setzt nun eine Neuorientierung ihres Verhältnisses zur Wirtschaft ein. Der Redakteur der „Augsburger Postzeitung", Hans Rost, zieht in einem vielbeachteten Buch eine katholische Kulturbilanz. Darin fordert er seine Glaubensgenossen auf, den Kapitalismus zu bejahen und sich aktiv in das Wirtschaftsleben einzuschalten, denn „der Reichtum macht frei für die edlen und höheren Kulturbestrebungen". 136 Der Katholizismus soll sich nicht allein, wie bisher, nur auf die
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unteren und mittleren Schichten stützen müssen, ein größerer Anteil am Kapital und der Unternehmensführung bedeutet zugleich die Erhöhung der Wirtschaftskraft und überwindet damit die engen Grenzen, die dem Katholizismus als bedeutender Kultur- und Wirtschaftsfaktor noch gesteckt sind. Rost führt vor, daß überall dort, wo höhere Bildung und intensiverer Wirtschaftsbetrieb erforderlich, wo stärkerer Unternehmungsgeist und Wagemut notwendig seien, die Katholiken im allgemeinen hinter den Vertretern anderer Konfessionen zurückstünden.136 Der Katholizismus umfaßte in Bayern rund 7 0 % , in Altbayern über 90% der Bevölkerung. Überwiegend wurde demnach die bayerische Politik vom Zentrum bestimmt, das vor dem Kriege durchschnittlich die Hälfte aller Landtagsabgeordneten stellte. Die soziale Zusammensetzung seiner Volksvertreter spiegelt anschaulich die bayerischen Verhältnisse wider: das Zentrum wurde getragen vom Bauerntum und den unteren und mittleren städtischen Schichten. Gering vertreten war die städtische Intelligenz und das Unternehmertum. Im kommunalen Bereich war sein Einfluß daher weniger spürbar, denn nur jeder fünfte Gemeindebevollmächtigte gehörte dem Zentrum an. 137 In den 90 er Jahren wird die bis dahin unangefochtene Stellung des politischen Katholizismus zum erstenmal in Frage gestellt. Von mehreren Seiten dringen neue Gruppenbildungen in seine Stellungen ein. Die erstarkte sozialistische Arbeiterbewegung entzieht dem Zentrum viele städtische Wählerstimmen, während von der anderen Seite her ein Teil des schwer um seine Existenz ringenden Mittelstandes und die bäuerliche Bevölkerung, die die Agrarkrise und die Caprivischen Handelsverträge aus ihrer Unbeweglichkeit weckten, eigene politische Vorstellungen zu entwickeln beginnen. Erst die aktiven Gegenmaßnahmen des Zentrums: eine auf dem Gewerkschaftsgedanken fußende christliche Arbeiterbewegung und die Wiedererweckung der Bauernvereine machten schon verlorengegangenen Boden wieder gut. Um die Mitte der 90 er Jahre beginnt die christliche Gewerkschaftsbewegung, vom Westen ausgehend, wo 1894 ein Bergarbeiterverband gegründet worden war, in Bayern um sich zu greifen. Den ersten örtlichen Sektionen für „Arbeiterschutz" folgen bald weiter Zusammenschlüsse, die 1900 zu einem bayerischen Gewerkschaftskartell zusammengefaßt werden.138 1904 reicht die Mitgliederzahl aller christlichen Verbände Deutschlands schon mit über 100000 an die der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine heran, 1906 wird das zweite, 1911 das dritte Hunderttausend überschritten. Diesem erstaunlichen Aufschwung liegen folgende Ursachen zugrunde. Die katholische Soziallehre mit ihrem konservativen traditionellen Gedanken-
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element139 bietet gerade den Arbeitermassen eine verständliche Lösung der sozialen Probleme im kapitalistischen Zeitalter an, ist somit die einzige Alternative zum Sozialismus. Dann gewinnt die christliche Arbeiterbewegung vor allem durch ihre Interkonfessionalität, die oft nur gegen den ausdrücklichen Willen höchster kirchlicher Autoritäten erkämpft werden kann, an Schlagkraft, ebenso durch strikte Interessenpolitik und Befolgung des gewerkschaftlichen Gedankens, also aktive Streikpolitik und Betonung des Klassencharakters, so daß sie sich häufig nur noch in der Staatsauffassung von den Freien Gewerkschaften unterscheidet. In Bayern zieht zum erstenmal 1899 ein aus der Arbeiterschaft gewählter Vertreter, der christliche Gewerkschaftsführer Schirmer, in den Landtag ein, ihm folgen in den kommenden Legislaturperioden weitere Arbeitervertreter. Sie gewinnen im Laufe der Zeit großen Einfluß auf die Sozialpolitik des Zentrums, teilweise setzen sie ihre Fraktion sogar unter Druck, um ihren Forderungen die nötige Resonanz zu verleihen, so wenn der Arbeitersekretär Oswald (Aschaffenburg) auf dem Breslauer Gewerkschaftskongreß 1906 erklärt: „Wir sind gewillt, treu mitzuarbeiten... Wenn man aber glaubt, man müsse die unteren Klassen vom Parlament ausschließen, dann muß der beste Arbeiter dazu getrieben werden, auch einmal einen Zettel abzugeben, der nicht mit seiner Überzeugung übereinstimmt".140 Allerdings unterscheidet sich die vom Zentrum vertretene Sozialpolitik nur in unwesentlichen Einzelheiten von der Tätigkeit, die die Sozialdemokratie seit 1893 erfolgreich und propagandistisch wirksam auf diesem Gebiet entfeitet hat. Konkurrenten jedoch, die die gleichen Forderungen vertreten, müssen, um ihrer Politik die nötige eigenständige Farbe zu verleihen, den Kampf mit dem Gegner auf andere Gebiete ausdehnen, was der eigentlichen Sache nicht dienlich sein kann, sondern nur zur Vergröberung des politischen Tones und zur Versteifung der Fronten fuhrt. So wird die steigende Aggressivität der Sozialdemokratie gegenüber verständlich, mit der man noch um die Jahrhundertwende Wahlbündnisse gegen die Liberalen abgeschlossen hatte. Das Zentrum kämpft jetzt, auch mit Hilfe außenstehender Kräfte, hauptsächlich der Christlich-Sozialen (Antisemiten) und verschiedener Mittelstandsgruppen, um die Eindämmung des sozialdemokratischen Einflusses in den Gemeindeparlamenten, den Gewerbegerichten, Arbeiterausschüssen oder in den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherung. Man muß eine Zentrumspolitik als demagogisch bezeichnen, die wider besseres Wissen gerade der bayerischen Sozialdemokratie Staatsfeindlichkeit vorwirft und so von der Regierung verlangt, den sozialdemokratischen Bürgermeistern die Bestätigung zu verweigern oder - aus nacktem Eigeninteresse - gegen den sozialistisch gefärbten Süddeutschen Eisenbahnerverband vorzugehen, angeblich weil er mit seiner
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Forderung nach Streikrecht die Staatssicherheit gefährde, in Wahrheit jedoch, um den von der Regierung wohlgelittenen, den christlichen Gewerkschaften nahestehenden Bayerischen Eisenbahnerverband vor einer unnötigen Konkurrenz zu bewahren.141 Die bayerische Regierung versuchte zwar immer eine eigenständige Politik zu betreiben, hat jedoch stets vermieden, gegen den ausdrücklichen Willen der Mehrheit des Parlaments zu regieren. Auch aus diesem Grund erfolgte die Ablösung des Kabinetts Podewils 1912, das mit seiner Politik, besonders der des Verkehrsministers von Frauendorfer, den Unwillen des Zentrums geweckt hatte. Mit dem neuen Ministerpräsidenten, dem Professor der Philosophie an der Universität München sowie Reichsrat der Krone Bayerns, Freiherrn von Hertling, gelangte ein Mann an die Spitze der bayerischen Regierung, der sich schon im Reichstag bei der Begründung einer christlichen Sozialpolitik Verdienste als Zentrumspolitiker erworben hatte. Hertling gehörte jedoch nie zu den Politikern, die auf die Massen zu wirken verstanden, auch besaß er keine Fühlung mit den Vertretern des bayerischen Zentrums, den mehr hemdsärmeligen und robusten Naturen vom Schlage eines Schädler, Lerno, Irl oder Heim. „ E r kam", so schreibt die „Frankfurter Zeitung" in einer Würdigung zu seinem 70. Geburtstag, „vom Westen in den Süden des Reichs; er hatte in den Zirkeln der rheinischen und westfälischen katholischen Gesellschaft die Beziehungen des alteingesessenen Adels zu Rom genau kennengelernt, war in die ganz großen Ziele einer deutschen katholischen Partei eingeweiht und kam nach Bayern, wo eine im Verhältnis zur Weltstellung des Klerikalismus äußerst bescheidene, aber nichtsdestoweniger furchtbar lärmende Gewaltpolitik betrieben wurde .. ." 142 LANDVOLK
Die Auflehnung der ländlichen Bevölkerung gegenüber dem Staat und der bisher vom Zentrum wahrgenommenen bäuerlichen Interessenvertretung entzündete sich an der Handelspolitik des Reiches. Die lang schon schwelende Mißstimmung innerhalb des Bauerntums brach nun offen aus, und weil die Landwirte ihre Interessen nicht mehr ausreichend vertreten glaubten, schufen sie sich eigene Organisationen: in Norddeutschland den Bund der Landwirte, in Bayern den Bayerischen Bauernbund. Während sich nun im Norden und Osten der Bund der Landwirte rasch auszudehnen vermochte, bald auch nach Mittel- und Süddeutschland ausgrifF und von Jahr zu Jahr ein politisch, wirtschaftlich und organisatorisch strafferes Netz über ganz Deutschland spannte,
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nahm die Entwicklung des Bayerischen Bauernbundes einen anderen Verlauf. Anfangs setzte eine überaus stürmische Entwicklung, besonders in Niederbayern, ein, die später jedoch unter Absplitterungen und Richtungskämpfen einzelner Landesgruppen zu leiden hatte und schließlich nach 1900 langsam wieder abebbte, bis sie abermals kurz vor dem Weltkrieg unter Führung Karl Gandorfers anschwoll und in der bayerischen Revolution einen neuen Höhepunkt erreichte und dem Bayerischen Bauernbund hier eine gewisse Bedeutung zuerkannte.143 Die Programme beider Agrarverbände sind unterschiedlich. Man vermißt beim Bayerischen Bauernbund die großen Richtlinien staats- und wirtschaftspolitischer Natur; Forderungen werden zwar aufgeworfen, aber sie bleiben zu vage, zu allgemein gehalten, nicht näher begründet; außerdem unterliegt das Programm ständigen Änderungen, so wie es der Tageskampf verlangt. E s ist radikaldemokratisch, wenn z.B. die A b schaffung der Reichsratskammer, die vollständige Öffentlichkeit der Beratung aller gesetzlichen Vertretungskörper, volle Vereins-, Versammlungs- und Preßfreiheit, ein volldemokratisches Wahlrecht verlangt werden, antiklerikal, wenn die Forderung nach Verstaatlichung des gesamten Schulwesens und strenger Trennung zwischen Religion und Politik erhoben wird, aber auch sozialistische Gedanken tauchen auf. E s wird die Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und die Zuziehung des Laienelements verlangt. E s wird die Beseitigung aller Bodenzinse gefordert und gegen die „ausbeutende Macht des Kapitalismus" zu Felde gezogen, ebenso gegen die Juden, denen besonders Ratzinger mehrere Bücher widmet, die wohl zu den schmählichsten antisemitischen Ausfällen dieser Zeit zu zählen sind. Doch vermag die bündlerische Bewegung die bäuerlichen Massen auf die Dauer nicht zu binden; sie lassen sich wohl anfangs durch die radikalen Forderungen begeistern, dann aber fallen sie scharenweise ab, als der weniger politische, dafür aber mit einer überlegenden Wirtschaftsmacht, nämlich den angeschlossenen Genossenschaften, ausgestattete christliche Bauernverein unter Führung Georg Heims zum Gegenangriff überging, und dann gewannen auch allmählich die Schutzollzpolitik und die staatlichen Förderungsmaßnahmen der Regierung das Vertrauen der Bauern zurück. Der größere Teil des bayerischen Bauerntums und mit ihm wohl breite Schichten der Bevölkerung sind von einer Agrarideologie beeinflußt worden, die in dem Programm des politisch so überaus einflußreichen und durchschlagskräftigen Bundes der Landwirte Aufnahme gefunden hat. Hier wird die Herauslösung der nationalen Wirtschaft aus der Weltwirtschaft mit ihren verderblichen Konjunktur- und Krisenrückwirkungen auf den heimischen Markt verlangt. Der Staat soll möglichst unabhängig von der auswärtigen
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Zufuhr gehalten werden, vornehmlich durch eine den eigenen Bedarf deckende Landwirtschaft und eine für den Binnenmarkt arbeitende Industrie. Die starke politische Position, die die agrarischen Parteien in Deutschland und auch in Bayern besaßen, darf deshalb, wie Heinrich Herkner treffend bemerkt, nicht ausschließlich auf das traditionelle Ubergewicht des ostelbischen Grundadels zurückgeführt werden.144 Die agrarischen Sympathien waren ebenso stark in Bayern verteilt, nicht nur auf dem Lande, überraschend häufig auch in den Städten, in der Intelligenz, der Beamtenschaft, dem Mittelstand.
MITTELSTAND
Das Zentrum mußte seine Politik als Volkspartei auf die verschiedenen in ihm vorhandenen, oft einander entgegengesetzten Strömungen abzustimmen versuchen. Ein großer Teil seiner Wähler gehörte dem Mittelstand an, der sich nach einer Definition Gustav Schmollers, aus dem alten Mittelstand, d.h. den Inhabern von Kleinbetrieben auf gewerblicher, kaufmännischer und landwirtschaftlicher Grundlage, also Selbständigen, und dem neuen Mittelstand, den in abhängiger Stellung befindlichen Angestellten und Beamten zusammensetzt.145 In wirtschaftspolitischer Hinsicht gehen die Ansichten und Vorstellungen dieser beiden Gruppen weit auseinander. Während eine breite Beamtenund Angestelltenschicht erst durch die moderne Entwicklung und die Erweiterung der staatlichen Tätigkeit entstehen konnte, wird die Bedeutung des alten Mittelstandes durch eben diese Entwicklung immer weiter eingeengt. In der Angestelltenschicht machen sich seit 1890 verstärkt Bestrebungen bemerkbar, den wirtschaftspolitischen Zielsetzungen durch Gründung neuer oder Umstrukturierung alter Organisationen Geltung zu verschaffen. Später als bei den Arbeitern, bedingt durch langsameres Einsetzen der Konzentration im Handel, tritt die Interessenvertretung ein und wird niemals die Wucht und Durchschlagskraft der Arbeiterbewegung erreichen; denn zu viele verschiedenartige Elemente mit oft einander widerstreitenden Anschauungen sind in ihr enthalten. E s kommt ihr jedoch das Verdienst zu, mit Nachdruck auf die Mißstände innerhalb ihres Standes aufmerksam gemacht, auf Lehrlingszüchtung, Arbeitslosigkeit, mangelnde Ausbildung, überlange Arbeitszeiten, kurze Kündigungsfristen und schlechte Gehälter verwiesen zu haben. Regierung, Parlamente und Öffentlichkeit beschäftigt seit Mitte der 90 er Jahre die „Angestelltenfrage", und rund zwanzig Jahre nach Verabschiedung der ersten Arbeiterschutzgesetze werden auch sozialpolitische Maßnahmen für die Angestellten beschlossen.
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Die Berufsvereine, deren Haupttätigkeit in der Unterrichtung der öffentlichen Meinung über Standesprobleme, in der Arbeitsvermittlung und im Unterstützungswesen liegen, überwiegen, während gewerkschaftlich orientierte Organisationen in der Minderheit bleiben. A n dem Verhalten eines dieser Verbände, dem Bund der technisch-industriellen Beamten, entzündete sich wiederholt die Gegenwehr der Arbeitgeber. Im Jahre 1908 gelangte eine vom Bayerischen Metallindustriellenverband für seine Mitglieder entworfene, vertrauliche Mitteilung, in der empfohlen wurde, die organisierten Angestellten unter Druck und mit finanzieller Nachhilfe aus ihren Organisationen zu drängen, an die Öffentlichkeit und löste einen Sturm der Entrüstung aus, dem die Industriellen durch Rücknahme des Reverses Rechnung trugen. Mit einer für diese Zeit noch erstaunlichen Einmütigkeit verurteilte die Bayerische Abgeordnetenkammer dieses „frevle Spiel".146 Im Gegensatz zu den meisten Verbänden, ein Paradoxon an moderner Interessenvertretung und darum vielleicht charakteristisch für diese Zeit, steht die größte Angestelltenorganisation Deutschlands, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband. Er vertritt eine in sich widersprüchliche Ideologie, die besonders auf untere Angestelltenränge anziehend wirkte. Er fordert eine Gliederung der Bevölkerung in Stände, Verbot der Frauenarbeit, Eindämmung des jüdischen Einflusses im Wirtschaftsleben, Erhaltung möglichst vieler selbständiger mittelständischer Existenzen, dann ein Verbot der Konsumvereine, deren Ausbreitung zur „plattesten Gleichmacherei" innerhalb des Handels führe und die „Entfaltung der Persönlichkeit" hemme.147 Wenn man in jenen Tagen im politischen Sinne vom „Mittelstand" und seinen Bestrebungen spricht, dann werden darunter jene, von der wirtschaftlichen Entwicklung bedrohten Existenzen verstanden, die in rückständigen oder bereits überwundenen Betriebsformen wirtschaften oder deren Leistungen durch moderne Organisationstechniken im wirtschaftlichen Kreislauf nicht mehr benötigt und daher ausgeschaltet werden. Dazu zählen vor allem Teile des Handwerks, Kleinhandels und die mit beiden z. T. verbundene Vertretung des Haus- und Grundbesitzes, nicht jedoch die ländliche Mittelschicht, in der zwar ähnliche Ansichten hochkommen, aber nicht zu einer einheitlichen wirtschaftspolitischen Ausrichtung koordiniert werden können, weil zwischen ländlichem und städtischem Mittelstand das bäuerliche Genossenschaftswesen mit seiner Tendenz zur Ausschaltung des Zwischenhandels steht. Nun sind Handwerk und Kleinhandel nicht ohne weiteres generell vom Untergang bedroht, nur werden Beweglichkeit und Aufgeschlossenheit vorausgesetzt, um beide Betriebsformen den Bedingungen der modernen Wirtschaft anpassen zu können; und diese Fähigkeit besitzen nur wenige; denn
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langsamer als Technik und Wirtschaftsformen ändern sich die Menschen und ihr Bewußtsein. Viele sehen sich, und das sollte man bedenken, durch die moderne Wirtschaftsentfaltung in neue Verhältnisse geschoben, während sie noch in den alten wurzeln. Die Mittelstandsbewegung ist ein Protest gegen Technik und Kapitalismus, ein Protest all derer, die den Industrialisierungsprozeß innerlich nicht bewältigen konnten, ein Aufbegehren, irrational und oft von den radikalsten Forderungen begleitet, denn sie ist gleichzeitig eine pressure group von großer Durchschlagskraft, mit der viele sympathisieren, die zwar in ihrer wirtschaftlichen Existenz nicht bedroht sind, jedoch auch uneins mit der modernen Zeit. Wogegen wenden sich ihre Bestrebungen ? Einmal gegen die kapitalistische Wirtschaftsweise selbst, gegen Konzentration und Aufsaugung der Kleinbetriebe, überhaupt gegen diese „fatalistische Kraft der sogenannten Entwicklung".148 Und weil man sie weder hinnehmen noch verstehen will, müssen neuentstandene Wirtschaftsformen als Sündenböcke für die eigene schwierige Lage dienen, so z.B. die „gemeingefährlichen großkapitalistischen" Warenhäuser149 oder der Getreideterminhandel, der den Untergang des Kleinmüllers verursachen soll;160 denn gerade die Funktion der Börse bleibt den meisten unerklärlich dunkel, sie kann daher nur negative Auswirkungen zeitigen. Andere Forderungen wenden sich gegen die Selbsthilfe der Konsumenten; in naiver Form wird hier ein „Recht auf die Kundschaft" verlangt. Schließlich werden die Maßnahmen des Staates selbst, das „überaus schädliche" Überhandnehmen der staatlichen Betriebe161 kritisiert, vor allem jedoch die „krankmachende, falsche" Sozialpolitik,162 zumal sie nur den gehalts- und lohnabhängigen Schichten zugute komme, während den „staatserhaltenen" selbständigen und seßhaften Leuten immer neue Lasten aufgebürdet würden. Der Zorn der Mittelstandspolitiker richtet sich aber auch auf einzelne Bevölkerungsteile. Für die Schädigungen durch Warenhäuser oder andere moderne Handelstechniken sind die Juden verantwortlich ebenso für den angeblichen durch „die Börse und den Coupon des Schlaumeiers" verursachten Schaden.153 Konstimvereine dagegen verfolgen sozialistische, auf den Umsturz des Staates hinzielende Tendenzen. Besonders im Handwerk treffen wir auf eine starke Abneigung, auf Haß gegenüber der Sozialdemokratie;164 denn die Meister hatten den ersten Anprall der modernen Arbeiterbewegung aufzufangen.156 Die Forderungen an den Staat sind vor allem darauf gerichtet, ihnen ein auskömmliches, angemessenes Einkommen zu sichern. Darauf erheben sie „Anspruch"; denn der Verlust der Selbständigkeit durch die großbetriebliche Entwicklung bedeute fiir den Staat zugleich einen Verlust an wertvollen, staatserhaltendenBürgern.166Daher habe die Regierung„jedes Gesetz, jede Ver-
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fügung, jede Maßregel daraufhin zu prüfen, ob sie stärkend und förderlich oder schwächend und schädigend auf den Mittelstand wirke". 157 Im letzten Fall habe sie zu unterbleiben, im ersten durchgeführt zu werden. Die angeregten Maßnahmen werden mit mehr als fragwürdigen Argumenten begründet, die oft haarsträubende volkswirtschaftliche Kenntnisse verraten und außerdem an den Grundlagen der bestehenden Rechtsordnung rütteln. Ein Verbot von Beamtenkonsumvereinen wird z.B. aus dem Grunde gefordert, weil die Beamten ihre Besoldung vom Staate erhielten und daher teilweise mit den Steuermitteln des Mittelstandes bezahlt würden.188 Es liegt dem der merkwürdige Gedanke zugrunde, daß die Steuergelder des Einzelhandels über die Bedarfsdeckung des Beamten unmittelbar wieder an den Detaillisten zurückfließen müßten. Mit ähnlichen Mitteln bekämpft man die Baugenossenschaften, deren Gemeinnützigkeit in den Augen der Hausbesitzer schweren Schaden auf dem Wohnungsmarkt anrichte.159 Die Forderungen der Mittelstandspolitiker verletzen das allgemeine Rechtsgefühl; für die eigenen Interessen werden weitgehende Eingriffe des Staates zuungunsten anderer Wirtschaftssubjekte verlangt, denen man das gleiche Recht auf Staatshilfe nicht zubilligen würde. Bestehende Rechte und gesetzliche Bestimmungen sollen für den doch „staatserhaltenden" Mittelstand außer Kraft treten, sollen beseitigt werden: diese Forderungen sind radikal, um nicht zu sagen, revolutionär.160 Die parlamentarische Vertretung dieser Forderungen konnte daher nur teilweise vom Zentrum und den wenigen Konservativen wahrgenommen werden. Seit der Jahrhunderwende stellt die Mittelstandsbewegung eigene Vertreter für die Wahl zu den Stadtparlamenten auf; 1908 fallen ihr immerhin 5% der Gemeindebevollmächtigten zu, ein Anteil, der auf fast 3 5 % anwüchse, würden die Bürgervereine, in denen man sicherlich mittelständische Sympathien vermuten darf, mitgezählt.161 Wirtschafts- und sozialpolitisch fand der Mittelstand schon früh eine Vertretung in den Allgemeinen Gewerbevereinen und später in den Organisationen des Haus- und Grundbesitzes und Kleinhandels. Sie haben ihren Mitgliedern häufig sogar einen Weg zur Selbsthilfe gewiesen. Dachverbände entstanden 1911 mit der Deutschen Mittelstandsvereinigung und dem mehr konservativen Reichsdeutschen Mittelstandsverband, mit dem der Bund der Landwirte und der Centraiverband Deutscher Industrieller 1913 eine Interessengemeinschaft eingingen;162 ein Zeichen dafür, daß die Spitzen der Mittelstandsbewegung - wenigstens aus taktischen Gründen - den Zweifrontenkrieg aufgaben und das Schwergewicht mehr auf die Bekämpfung der Arbeiterbewegung und ihrer sozialen Bestrebungen legten.
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Diese Mittelstandsbewegving, in der sich so viele, auch einander widerstreitende Elemente befanden, läßt sich am besten als Antibewegung deuten; sie ist gegen den Kapitalismus, die Großindustrie, die Warenhäuser, die technische Rationalisierung, sie ist gegen den Sozialismus, das Judentum, den Staat mit seiner modernen Wirtschafts- und Sozialpolitik, und schließlich ist sie antidemokratisch, soweit ihre Programme, mehr aber die Äußerungen ihrer Vertreter Auskunft geben. Man ist nicht in der Lage, oft auch nicht gewillt, die schwierigen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme, die die moderne Industrialisierung doch zweifellos nach sich zog, „auf rein rationaler Ebene zu lösen", man schließt vielmehr die Augen, 163 und daß man auch weniger denn je zu Kompromissen bereit war, verdeutlicht ein bezeichnendes Beispiel vom Internationalen Mittelstandskongreß München 1 9 1 1 . Als ein Referent in ausfallender Weise die Warenhäuser und Konsumvereine angriff, erntete er den Beifall fast des ganzen Kongresses, während Diskussionsredner, die nachher gegen diese Thesen aufbraten, niedergeschrien wurden.164
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Bayern im Umbruch
ANMERKUNGEN ZU: Axel Schnorbus, Wirtschaft und Gesellschaft in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg ( 1 8 9 0 — 1 9 1 4 ) 1
Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 19J8, 283. Bayerns Entwicklung nach den Ergebnissen der amtlichen Statistik seit 1840. Hrsg. vom K . Statistischen Landesamt. München 1915, 1. 3 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen während der letzten 50 Jahre. München 1912, 9. (Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern 69.) 4 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 11-33. 5 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 10. 8 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 11-33. 7 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 48. 8 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 289. 9 Wilhelm Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung. Ein Beitrag zur deutschen Wanderungsgeschichte. Jena 1912. 10 Friedrieb Zahn, Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Volkszählung 1905 sowie der Berufs- und der Betriebszählung. München und Berlin 1911, 414. 11 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 292. 12 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 294. 13 Bayerische Berufsstatistik 1907. Berufliche und soziale Gliederung. München 1908, 17. (Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern 80.) 11 Bayerische Berufsstatistik 1907, 17. Zahn, 435-36. 15 Statistik des Deutschen Reichs 289 (1921) 55-56. 16 Bayerische Berufsstatistik 1907, 19. 17 Gewerbe und Handel in Bayern. Nach der Betriebszählung von 1907. München 1911, 253. (Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern 82.) 18 Gewerbe und Handel in Bayern, 254. 18 Gewerbe und Handel in Bayern, 254. 20 Gewerbe und Handel in Bayern, 257. 21 Gewerbe und Handel in Bayern, 306. 22 Die Landwirtschaft in Bayern. Nach der Betriebszählung vom 12. Juni 1907. München 1910, 70. (Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern 81.) 23 Das deutsche Volkseinkommen vor und nach dem Kriege. Einzelschriften zur Statistik des Deutschen Reichs 24. Berlin 1932, 102. 24 Angaben nach: Das deutsche Volkseinkommen, 126. 25 Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 112, 416 ff. 26 Vgl. Handbuch des größeren Grundbesitzes in Bayern, bearbeitet und herausgegeben vom Bayerischen Landwirtschaftsrat. München 1907. 27 Die Landwirtschaft in Bayern, 33. 28 Die Landwirtschaft in Bayern, 38. 20 Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 112, 420-24; 432-39. 30 Die Landwirtschaft in Bayern, 168. 31 Die Landwirtschaft in Bayern, 185. 32 Franz Hörens^, Die Preisbewegung landwirtschaftlicher Güter im nördlichen Teil Oberbayerns 1900-1909. Dis. München 1911, 118. 33 Joseph Kamm, Der landwirtschaftliche Personalkredit. Dis. München 1934, 53—54. 2
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Jahresbericht des Bayerischen Landwirtschaftsrathes für das Jahr 1895, 1-4. Heinz Hausbofer, Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter. Stuttgart 1963, 222. (Deutsche Agrargeschichte 5.) 36 Robert Liefmann, Kartelle und Trusts und die Weiterbildung der volkswirtschaftlichen Organisation. 3. Aufl. Stuttgart 1918, 241. (Bücherei der Rechts- und Staatskunde 12.) 37 Nach der Betriebsstatistik von 1907 umfassen Kleinbetriebe 2-5 Personen, Mittelbetriebe 6-50, Großbetriebe über 51 Beschäftigte. Diese Einteilung weicht also von unserer heutigen beträchtlich ab. 88 Gewerbe und Handel in Bayern, 205. 89 Gewerbe und Handel in Bayern, 214. 40 Gewerbe und Handel in Bayern, 309-10. 41 Die Jahresberichte der Königlich Bayerischen Fabriken- und Gewerbe-Inspektoren dann der Königlich Bayerischen Bergbehörden für das Jahr 1906, mit einer Denkschrift über die Heimarbeit in Bayern. München 1907, Anhang, 4. 42 Zahn, 172. 43 Gewerbe und Handel in Bayern, 379. - Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in bayerischen Fabriken, Denkschrift bearbeitet und herausgegeben im Auftrage des K. Staatsministerium des kgl. Hauses u. d. Äußern vom K. Bayerischen Statistischen Bureau. München 1906, 1 1 . 44 Karl Hiibscbmann, Die Entwicklung der Wasserkraftausnützung in Bayern. In: Alfred Kublo, Geschichte der bayerischen Industrie. München 1926, 224. 45 Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts 50 (1918) 192. 44 Eugen Blasberg, Die Steinkohlenversorgung Bayerns. Diessen vor München 1911, 23. 47 Hermann Scbaumberger, Das Verhältnis der Produktionskosten der bayerischen Eisen-, Maschinen- und Metallindustrie zu denen des Rheinlandes. Dis. Erlangen 1915, 6}ff. 48 Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts 50 (1918) 192. 49 1815-1915. Hundert Jahre technische Erfindungen und Schöpfungen in Bayern. Jahrhundertschrift des Polytechnischen Vereins in Bayern. München und Berlin 1922, 314. 60 Zabn, 189. 51 Zabn, 193. 62 Rückblick auf das erste Jahrhundert der K . Bayer. Staatspost. Hrsg. vom K. B. Staatsministerium für Verkehrsangelegenheiten. München 1911, 167. 53 R. van der Borgbt, Das Verkehrswesen. Leipzig 1912, 41. 64 Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in bayerischen Fabriken, 1 1 - 1 2 . 66 Gewerbe und Handel in Bayern, 10. 68 Friedrieb Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik. Berlin-Schöneberg 1906, 123. 67 Hermann Beck, Die Konsumvereine Münchens. Ms.-Dis. Würzburg 1921, 35. 68 Zabn, 215. 69 facob Riesser, Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesamtwirtschaft in Deutschland. 4. Aufl. Jena 1912, 187. 60 Riesser, 718 fr. 81 Riesser, 513-14; 733. 82 Gewerbe und Handel in Bayern, 353. 83 Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Ergänzungsheft zu 1910, H, 52. 84 Gewerbe und Handel in Bayern, 356. 86 Handbuch der Süddeutschen Aktien-Gesellschaften. 29. Aufl. Berlin-Leipzig-Hamburg 1912. 88 Handbuch der Süddeutschen Actien-Gesellschaften. 14. Jahrg. München 1896. 87 Das deutsche Volkseinkommen, 1 1 . 88 Das deutsche Volkseinkommen, 30. 89 Das deutsche Volkseinkommen, 69. 70 Das deutsche Volkseinkommen, 67 ff. 71 Das deutsche Volkseinkommen, 95. '« Zabn, 208. 35
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73 Vgl. dazu: Götz Briefs: Betriebsführung und Betriebsleben in der Industrie. Stuttgart 1934, und L. H. Ad. Geck, Die sozialen Arbeitsverhältnisse im Wandel der Zeit. Eine geschichtliche Einführung in die Betriebssoziologie. Berlin 1931. (Schriftenreihe des Instituts fiir Betriebssoziologie und soziale Betriebslehre an der Technischen Hochschule zu Berlin 1.) 71 Eisenbahnwanderungen zwischen Wohn- und Arbeitsort im rechtsrheinischen Bayern während des Jahres 1907. Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts 41 (1909) 305-317. 76 Statistik des Deutschen Reichs 240 (1910) 153. 76 Bayern und seine Gemeinden unter dem Einfluß der Wanderungen, 261. 77 Gewerbe und Handel in Bayern, 259. 78 Rosa Kempf, Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München. Dis. München 1911, 194. vgl. auch: Elisabeth Hell, Jugendliche Schneiderinnen und Näherinnen in München. Eine Untersuchung ihrer wirtschaftlichen Lage mit besonderer Berücksichtigung der handwerksmäßigen Ausbildung. Stuttgart und Berlin 1911. (Münchener Volkswirtschaftliche Studien 115.) und Käthe Mende, Münchener jugendliche Ladnerinnen Zu Hause und im Beruf. Stuttgart und Berlin 1912. (Münchener Volkswirtschaftliche Studien 120.) 79 Wilhelm Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform dargestellt am Ruhrgebiet. Tübingen 1957, 294?. (Soziale Forschung 18.) 80 zitiert nach: Hans Gehrig, Die Begründung des Prinzips der Sozialreform. Eine literarhistorische Untersuchung über Manchestertum und Kathedersozialismus. Jena 1914, 108 ff. (Sozialwissenschaftliche Studien 2.) 81 Gehrig, 146. 82 Gustav Schönberg, Arbeitsämter. Eine Aufgabe des Deutschen Reichs. Berlin 1871, 12. 83 Friedrich Zahn, Der Bayerische Staatshaushalt. Allgemeines Statistisches Archiv 8 (1914) 98128, hier 101. 84 Die bayerischen Staatsfinanzen 1899-1919. Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts 50 (1918) 88. 86 So George W. F. Hallgarten, Imperialismus vor 1914. Soziologische Darstellung der Deutschen Außenpolitik bis zum ersten Weltkrieg. 2 Bde. München 1951, Bd. I, 188. 86 Vgl. dazu den Bericht über die Verhandlungen des sechsten Bayerischen Städtetages vom S.Oktober 1905 in Bamberg. 87 Zahn, Der Bayerische Staatshaushalt, 116. 88 Anton Menger, Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen. Archiv fiir soziale Gesetzgebung und Statistik 2 (1889) 1-73; 419-482; 3 (1890) 57-74. 89 Gertrud Bäumer, Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts. Grundzüge der modernen Sozial-Philosophie. Heilbronn 1910, 19. 90 Martin Wenck, Die Geschichte und Ziele der deutschen Sozialpolitik. Leipzig 1908, 140. (Die Politik des Deutschen Reichs in Einzeldarstellungen 2.) 91 Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. 2. Aufl. Stuttgart und Tübingen 1949, 70. 92 Frankfurter Zeitung Nr. 295, 2. Morgenblatt vom 24,Oktober 1912. 93 Ludwig Pohle, Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre. Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Politik und nationalökonomischer Wissenschaft. Leipzig 1911, X . Bei Pohle wird diese Formulierung allerdings in polemischer Absicht verwandt. 94 Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904) 24-87. 95 Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1859. 98 Zitiert nach: Heinrich Herkner, Die Arbeiterfrage. Eine Einfuhrung. 8. Aufl. Berlin und Leipzig 1922, IL, 377-79. 97 (Georg von Vollmar)-. Bauernfrage und Sozialdemokratie in Bayern (1893-1896). Nürnberg 1896, 8. 98 Vgl. die Anträge von Sozialdemokraten über die Einrichtung von Arbeitskammern, Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, Arbeitslosenversicherung, Arbeitsämter usw.
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99 Vgl. z.B. einzelne Reden Münchener Gewerkschaftssekretäre vor oberbayerischen Bergarbeitern 1899-1900. HSTAM, M ARB 74. 100 Die Gemeindewahlen in Bayern 1908 und 1911. Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts 47 (1915) 276-81. 101 Die Gemeindewahlen in Bayern, 280. 102 Zahlen nach: Die Verbände der Arbeitgeber, Angestellten und Arbeiter im Jahre 1913. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt Nr. 1 1 . Berlin 1915, 29; 32-35. 108 Die Verbände der Arbeitgeber, Angestellten und Arbeiter, 29. 104 Die Verbände der Arbeitgeber, Angestellten und Arbeiter, 30. 106 Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts 46 (1914) 267. 108 Die Verbände der Arbeitgeber, Angestellten und Arbeiter im Jahre 1912. Sonderheft Zum Reichsarbeitsblatt 1912 Nr. 8. Berlin 1914, 62. 107 Emil Lederer, Sozialpolitische Chronik. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 30 (1910) 532-566, hier 542. 108 Gunter Kern, Die Entwicklung des Koalitionsrechts im deutschen Staatsrecht seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Ms. Dis. Mainz 1953, 13. 109 Theodor Loewenfeld, Koalitionsrecht und Strafrecht. Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 14 (1899) 471-602, hier 570. 110 Soziale Praxis 21 (1911/12) Sp. 1369. 111 Vgl. HSTAM,MARB 238, Seidleins Abhandlung über Sozialdemokratie, freie Gewerkschaften u. Staatseisenbahndienst. 112 Gerhard A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890-1914. Berlin 1959, 104. (Studien Zur Europäischen Geschichte aus dem Friedrich-Meinecke Institut der Freien Universität Berlin 3.) 118 Goetz Briefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus. Die Gewerkschaften am Scheideweg. München 1952, 56. 114 Jahresbericht des Bayerischen Industriellen-Verbandes für das Geschäftsjahr 1 9 1 1 , 45. 116 Semlinger an Dr. Riesser, den Vorsitzenden des Hansabundes. 1 1 . Januar 1910. Archiv des Textilvereins Augsburg. Copirbuch Nr. 653. 116 Jahresbericht des Bayerischen Industriellen-Verbandes für das Geschäftsjahr 1907, 21. 117 Zur Frage des Arbeits-Tarifvertrags. Antwort auf die Eingabe des Verbandes Bayerischer Metallindustrieller an die bayerischen Staatsbehörden und den bayerischen Landtag vom Januar 1909. Hrsg. vom Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. Stuttgart 1909, 13. 118 Untersuchung der Maschinenfabrik Augsburg über den „Arbeiterverein von Werk Augsburg". Buz an Bay. Staatsmin. d. Äußern. 6. Januar 1906. HSTAM, M ARB 385. 119 Die Jahresberichte der Königlich Bayerischen Fabriken- und Gewerbe-Inspectoren für das Jahr 1894. München 1895, 269. 120 Kölnische Zeitung Nr. 417 vom 30. Mai 1900. m Frankfurter Zeitung Nr. 59 vom 28. Februar 1903. 122 Adolf Weber, Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Tübingen 1910, 389. m Vgl. Karl Hartmann, Die gemeindliche Arbeitsvermittlung in Bayern. Mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse bei dem städtischen Arbeitsamt München. München 1900. 124 vgl. Gerbard Kessler, Die Arbeitsnachweise der Arbeitgeberverbände. Leipzig 1911. 125 Soziale Praxis 23 (1913/14) Sp. 883-84. 128 Max Prager, Grenzen der Gewerkschaftsbewegung. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20 (1905) 229-300, hier 237. 127 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts. 5. Aufl. Berlin 1921, 454. 128 Emern von Aretin, Vom Adel in Bayern. Süddeutsche Monatshefte 23 (1925/26) 390. 129 Eugen Franz, München als deutsche Kulturstadt im 19. Jahrhundert. Berlin und Leipzig 1936,202. 180 Bayerischer Kurier Nr. 209 vom 27. Juli 1912. 181 Die Tagungen des Deutschen Flottenvereins in München vom 27.-29. März 1903. München 1903.
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132 Paul Siebert^, Karl Fürst zu Löwenstein. Ein Bild seines Lebens und Wirkens nach Briefen, Akten und Dokumenten. Kempten 1924, 131. 138 Götz Briefs, Die wirtschafts- und sozialpolitischen Ideen des Katholizismus. In: Die Wirtschaftswissenschaften nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag. München und Leipzig 1925. 2 Bde., hier Bd. I, 195-226, hier 212. 134 Briefs, 206. 185 Hans Rost, Die wirtschaftliche und kulturelle Lage der deutschen Katholiken. Köln 1911, 4. 188 Rost, 38. 187 Die Gemeindewahlen in Bayern 1908, 280. 138 Soziale Praxis 9 (1899/1900) Sp 695. 138 Briefs, 20j. 140 Zitiert nach August Erdmann, Die Christliche Arbeiterbewegung in Deutschland, 2. Aufl. Stuttgart 1909, 506. i«i Vgl. dazu Bayerischer Kurier Nr. 195 vom 14. Juli 1910 „Verkehrsminister und Sozialdemokratie" und Augsburger Postzeitung Nr. 206 vom 13. September 1911 „Rücktritt des Verkehrsministers ?". 142 Frankfurter Zeitung Nr. 241 vom 31. August 1913. 14a Vgl. Alois Hundhammer, Geschichte des Bayerischen Bauernbundes. Dis. München 1923. 144 Heinrich Herkner, Die Arbeiterfrage. Eine Einfuhrung. 8. Aufl. Berlin und Leipzig 1922, Bd. n, 42. 145 Gustav Schmoller, Was verstehen wir unter dem Mittelstande? Verhandlungen des 8. Evangelisch-sozialen Kongresses 1897. Göttingen 1897. 146 Sten. Ber. d. Verhandl. d. Kammer der Abg. 333. Sitzung vom 14. Juni 1910, S. 74iff. 147 Deutsche Handelswacht. 5. Juni 1913. Zitiert nach Emil Lederer-. Sozialpolitische Chronik. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 37 (1913) 316-358, hier 324. 148 Fränkische Handwerker-Wacht. Sonntagsblatt für den fränkischen Handwerksmeister. 16. April 1904. 148 Fränkische Handwerker-Wacht, 16. April 1904. 150 Robert Kustermann, Das Mühlengewerbe im rechtsrheinischen Bayern. Stuttgart 1899, 59. 161 Allgemeine Handwerker-Zeitung, 14. März 1902. 162 G. W. Schiele, Gedanken über die Stellung der Haus- und Grundbesitzer. München 1912, 8. (Schriften des Landes-Verbandes bayerischer Grund- und Hausbesitzer-Vereine e.V.) 158 Mitteilungen der Grund- und Hausbesitzer-Vereine, Augsburg, Lechhausen und Pfersee. November 1904. 154 Allgemeine Handwerker Zeitung, to. Januar 1902. 168 Naumann, 255. 168 Allgemeine Handwerker-Zeitung, 14. März 1902. 157 Fränkische Handwerker-Wacht, 16. April 1904. 168 K.Adlmaier,Fran^XaverZahnbrecher,Die Lage des bayerischen Kleinhandels. München 1909,14. 159 Kleinwohnungsbauten in München. Eine Ergänzung der Eingabe des Bayerischen Landesverbandes zur Förderung des Wohnungswesens des Grund- und Hausbesitzer-Vereins München e.V. München 1912. 160 Zuerst erkannt von Emil Lederer, Die wirtschaftlichen Organisationen. Leipzig 1913, 107. (Aus Natur und Geisteswelt 428.) 161 Die Gemeindewahlen in Bayern 1908, 280. 182 Emil Lederer, Sozialpolitische Chronik. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 37
( 1 9 1 3 ) 1018. 188 Nach einer schönen Formulierung von Bedrich Loewenstein, Zur Problematik des deutschen Antidemokratismus. Sozialpsychologische und ideologische Voraussetzungen für den Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland. Historica (Prag) 11 (1965) 168. 164 Besprechung des Verhandlungsprotokolles von /. Wernicke in: Archiv für Sozialwissenschaft
u n d S o z i a l p o l i t i k 37 (1913) 639-642.
JOACHIM
REIMANN
Der politische Liberalismus in der Krise der Revolution I „München war als Hauptstadt des Königreiches Bayern zu Bett gegangen, um als Hauptstadt des Bayerischen ,Volksstaats' wieder zu erwachen." So illustrierte Josef Hofmiller1 das scheinbar unglaubliche Ereignis, mit dem sich der Münchner Bürger am Morgen des 8. November 1918 konfrontiert sah: die Revolution. Der geistreiche und sonst so aufmerksame Beobachter Hofmiller hat durch diese Schilderung mit zu dem Klischee von der Ahnungslosigkeit des Bürgertums beigetragen, dessen Korrekturbedürftigkeit lange Zeit übersehen wurde. Mitchell und W. Albrecht haben daran inzwischen generelle Korrekturen angebracht, nachdem Speckner eine spezielle Untersuchung der Haltung der Bayerischen Volkspartei wenigstens ansatzweise unternommen hatte.2 Der folgende Beitrag über die Haltung des politischen Liberalismus, der sich in einigen Ergebnissen an eine Dissertation über „Ernst Müller-Meiningen senior und der Linksliberalismus in seiner Zeit" 3 anlehnt, geht wohl von der Prämisse aus, daß vom ahnungslosen Bürger keine Rede sein kann (und bringt dafür Belege), andererseits sollte der zum Verständnis gerade der bürgerlichen Politiker wichtige Faktor der Uberraschving und Bestürzung (der von Ahnungslosigkeit zu unterscheiden ist) nicht ganz außer acht gelassen werden. Denn: Trotz vorheriger Sturmwarnung, trotz des Feldgeschreies auf der Theresienwiese am 7. November, das u.a. der designierte Minister Müller-Meiningen unmittelbar vor seiner Haustür erlebte, auch trotz Vorahnungen - , trotz allem löste der „Kosakenritt" Kurt Eisners eine gewisse Fassungslosigkeit aus - , die Konsternation des ordnungsgewohnten Bürgers, der noch darauf vertraut hatte, daß die Regierung eine Schar revolutionärer Heißsporne würde niederhalten können. „Als wir am 8. November uns an den Frühstückstisch setzten, haben wir zu unserem Erstaunen erfahren, daß Bayern über Nacht Freistaat geworden sei", erinnerte sich später Lujo Brentano,4 von dem noch die Rede sein wird, und Müller-Meiningen, der per Telefon vom Umsturz erfuhr, mußte seine geplante Vortragsreise an die Front vom Terminkalender streichen.6
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Müller-Meiningens Erinnerungsbuch ist insgesamt ein beredtes Zeugnis dafür, daß man in Kreisen des liberalen Bürgertums zwar durchaus mit einem Umsturzversuch der Linksradikalen rechnete, vom Gelingen dieses Streiches aber doch überrascht und erschüttert wurde.6 Der daraus resultierende Vorwurf, daß Regierung und Militär versagt hätten, gipfelt bei Müller-Meiningen in der Kritik an den Ministern Brettreich und Hellingrath. Müller-Meiningen glaubte sich zu scharfer Kritik berechtigt; als Vorsitzender der Heereskommission im Reichstag und im Landtag hatte er wiederholt auf den Fatalismus und die Unzufriedenheit der heimkehrenden Soldaten hingewiesen; in München warnte er in der denkwürdigen Konferenz der „alten" mit den künftigen, schon designierten Ministern am 6. November vor einer Bagatellisierung der bevorstehenden Aktionen der Unabhängigen Sozialistischen Partei (USP). Kriegsminister Hellingrath bejahte die Frage, ob er die schon zersetzten Münchner Truppen noch in der Hand habe.7 Nicht zuletzt verschärfte das Gelingen des Umsturzes bei vielen Liberalen den vorhandenen Argwohn gegen die Mehrheitssozialdemokraten, deren Führer Erhard Auer Eisner am 6. November für „erledigt" erklärte8 und sich dann der Eisner-Regierung als Innenminister zur Verfügung stellte. MüllerMeiningen, der bei den letzten interfraktionellen Verhandlungen vor dem 7. November den Eindruck hatte, daß die Mehrheitssozialistische Partei Deutschlands (MSP) ein „merkwürdiges Spiel" trieb und die parlamentarische Regierungsbildung hinauszögerte, erhob zwar den direkten Vorwurf der Miturheberschaft der MSP an der Revolution nicht, war jedoch von der Mitwisserschaft der MSP überzeugt und glaubte, daß die MSP die Aktionen der Unabhängigen als willkommene Provokation betrachtete.9 Das zwiespältige Verhältnis der Liberalen, vor allem der Linksliberalen, zur Sozialdemokratie, das schon vor dem Krieg, seit Naumanns Auftreten, zu ihrer innerparteilichen Problematik gehörte und im parlamentarischen Kräftespiel stets ein unsicherer Faktor war, zeigte sich in der Revolution wieder deutlich. Einige Liberale wie Müller-Meiningen mißtrauten Auer und lehnten die Kooperation mit der Revolutionsregierung ab,10 andere wie der spätere Parteiführer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) in Bayern (also in gewisser Hinsicht Müller-Meiningens Nachfolger), Georg Hohmann, der, aus der nationalsozialen Bewegung kommend, ein positiveres Verhältnis zur SPD hatte, vertrauten auf Auer und rechneten damit, daß die MSP ihre linken Nachbarn werde besänftigen können.11 Hofmiller, dessen Informant der jungliberale Volksschullehrer Ambros Link, der wie Hohmann dem Provisorischen Nationalrat Eisners angehörte, gewesen sein muß, hielt Eisners
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Ministerpräsidentschaft nur für „Dekoration" und Auer für den starken, vertrauenswürdigen Mann.12 Die Einstellung zur Sozialdemokratie gehörte zu jenen Faktoren, die bei den Liberalen in der Revolutionszeit Uneinigkeit stifteten und, teilweise wie in Berlin, bei der Gründung der neuen Partei zu erbitterten Auseinandersetzungen führten: Einstellung zum „Freistaat" und zur Sozialisierung, nationalistischannexionistische Vorbelastung vieler Abgeordneter und nicht zuletzt die Einstellung zu den Kräften, die unter nationalsozialer und jungliberaler Vorhut schon seit langem die Einigung des politischen Liberalismus unter demokratischen Vorzeichen anstrebten, und die nun die Führung beanspruchten. Aus der früheren ideologischen Spannweite vor allem des Linksliberalismus, die das Nebeneinander von Nationalismus und Pazifismus, Monarchismus und Republikanismus ermöglichte, wurden in ein paar Wochen kritische Richtungskämpfe und Spannungen. Bei dem Prozeß der Anpassung an die „neue Zeit", den die Liberalen zwangsläufig durchmachten, spielten ideologische und emotionelle Faktoren eine erhebliche Rolle, wobei — eine besondere bayerische Erscheinung — mit der einfachen Unterscheidung von früheren Nationalliberalen und Freisinnigen die Situation nur halbwegs fixiert war.
II Der Bestürzung folgte Enttäuschung. Die Liberalen, die in Bayern seit Jahren auf zeitgemäße Verfassungsreformen gedrängt hatten, und denen das Reformziel, ¡die Parlamentarisierung des Staates, dicht vor Augen stand, sie sahen nun das evolutionäre Werk durch die Revolution bedroht bzw. überholt. Diese Enttäuschung drücken beispielsweise die „Lehren der Revolution" des alten freisinnigen Abgeordneten Professor Siegmund Günther aus.13 Günther verurteilte zwar die „Blindheit", „absolute Arglosigkeit" und „Vogelstraußpolitik" der alten Regierung, und er gehörte zu denjenigen Abgeordneten des Landtags, die seit 1911 am eindringlichsten vor den Folgen des antisozialdemokratischen Kurses der Regierving Hertling gewarnt hatten,14 aber der gewaltsame Umsturz war nach seiner Auffassung bar jeder Rechtfertigung in dem Augenblick, da die Reform vor der Tür stand.15 Freilich ist Günthers Ansicht von einer für Linksliberale seltenen Anhänglichkeit an die Monarchie gekennzeichnet. Aber auch von anderen Voraussetzungen her kamen Liberale wie der Würzburger Staatsrechtler Piloty zu der Auffassung, daß der Umsturz nicht vom „wirklichen Recht" der Revolution getragen wurde.16
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Zu der obrigkeitsfeindlichen Stimmung, welche die Revolution ermöglichte und den Widerstand gegen diese lähmte, hatten die Liberalen selbst mit ihrer oppositionellen Politik nicht wenig beigetragen. Auf ihrem linken Flügel hatte der monarchische Gedanke spätestens seit der Königserhebung Ludwigs HL erheblich an Rückhalt verloren, so daß auch im liberalen Lager bei Kriegsende antimonarchische Rufe ertönten. Tatsächlich fiel es auch, wie wir sehen werden, vielen nicht schwer, Republikaner zu werden. Doch den revolutionären Umsturz billigten sie nicht, weil er „verfassungswidrig" 17 und antibürgerlich auftrat. Die Revolution hat dem politischen Liberalismus zunächst den ihm gemäßen Boden für rechtmäßige Reformen entzogen. Sie bzw. die ihr folgende „rückläufige Bewegung" Bayerns, die über das „Kahr-Bayern" auf den Hitlerputsch zusteuerte, ist für die Liberalen in ganz besonderem Maß zur Krisenzeit geworden. In dieser Zeit der Radikalisierung rechts und links zerbröckelte die „Mitte", auf die sich der Liberalismus seit der ersten Landtagswahl vom Januar 1919 berief. In Bayern hatten die Liberalen, die einmal als „Regierungspartei" gelten konnten, seit dem Kulturkampf unaufhörlich an Mandaten verloren, während das katholische Zentrum einen einzigartigen Aufstieg erlebte. Sie versprachen sich ihre Wiederbelebung dann als entschiedene Oppositionspartei gegen den konservativen Kurs von Regierung und Zentrum kurz vor dem ersten Weltkrieg, und die bevorstehenden Reformen Ende Oktober/Anfang November 1918 konnten sie als Erfolg auch ihrer konsequenten Opposition ansehen. Der politische Liberalismus als Reformpartei schien zu diesem Zeitpunkt unvorhergesehenen Einfluß zu gewinnen, wie er ja auch in der Reichsregierung Max von Baden eine verhältnismäßig bedeutende Stellung einnahm. Otto Geßler, der erfahrene Kommunalpolitiker an der Spitze des so wichtigen Ernährungsbeirats, der am 5. November einen persönlichen Vorstoß bei der Regierung und beim König unternahm, um auf die Revolutionsgefahr hinzuweisen und auf raschen Vollzug der Parlamentarisierung Bayerns zu drängen, war als möglicher Nachfolger von Dandls im Amt des Ministerratsvorsitzenden im Gespräch. In der Abgeordnetenkammer des Landtags entfalteten die Liberalen zuletzt die größte Aktivität. Die letzten hier behandelten Anträge gingen von ihrer Fraktion aus und kennzeichnen ihre Besorgnis, ob der Staat der Probleme des Kriegsendes (Versorgung und geordnete Demobilisierung) Herr werden würde.18 Auch die vielfach als Kuriosum zitierte „Kartoffeldebatte" des Landtags am 7. November hatte durchaus ernste Ursache; als Symptom der Ahnungslosigkeit ihrer Antragsteller kann sie jedenfalls kaum gelten.
Der politische Liberalismus in der Krise der Revolution
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III A m 8. November war der Landtag von Arbeiter- und Soldatenräten besetzt, und Kurt Eisner veröffentlichte seine erste Proklamation. Das darin enthaltene Versprechen, Bayern habe die „moralische Kraft", für einen „guten Frieden" zu sorgen, ließ die Außenpolitik des als Pazifist bekannten Eisner ahnen, die auf die Liberalen wie ein rotes Tuch gewirkt hat. Die Auswirkungen des hier schon genährten Verdachts dürfen nicht übersehen werden. Der Historiker und spätere liberale DDP-Fraktionsführer im Landtag, Pius Dirr, 19 der im Frühjahr 1919 noch vor der Räteherrschaft vom Landtag mit einer Ausgabe der „Bayerischen Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch" als Entgegnung auf Eisners Kriegsschuld-Thesen beauftragt wurde, verwies in seiner Einleitung zu dem Dokumentenband ausdrücklich auf den Aufruf vom 8. November und meinte: „Zur Macht gelangt, nimmt Eisner seine Anschauungen sofort und unbedenklich zum Ausgangspunkt für sein praktisches politisches Handeln und macht sie zur Grundlage seiner Staatsfübrung. S. o. S. 349. 110 Wochenbericht der Regierung von Schwaben und Neuburg, 9. Oktober 1916, MAStA MInn 66327. 111 Wie Anm. 26. 112 In MAStA MInn 66446. 118 Hierfür und für das Folgende: bayer. Kultusministerium an die Oberhirten beider Bekenntnisse, 7. Juli 1916, MAStA MInn 66327. 114 Reg. v. Schwaben u. Nbg. an bayer. Innenministerium, 29. Januar 19x7, MAStA MInn 66 327. 115 Oberbürgermeister Dr. Matt von Aschaffenburg an Regierung von Unterfranken, 20. Juni 19x7, MAStA MInn 66328. 116 Monatsbericht der Garnison Regensburg, 26. September 19x6, MKrA MKr 12842. 117 Dotschen sind Futterrüben - hierfür und für das Folgende: D. Nebeck an Brettreich, 3. Mai 19x7, MAStA MInn 66328. 118 Septemberbericht des stellv. Generalkommandos I. bayer. Armeekorps, MKrA B. 1914/18 st. G. K. I. b. AK. Fasz. 370. 118 Wie Anm. 118. 120 Josef Vogel an bayer. Innenministerium, 4. September 1918, MAStA MInn 66332. 121 Kahr an Oberstleutnant von Freyschlag, 8. November 1916, MAStA MInn 66377. 122 Klammer in der Vorlage. 128 Auskunftstelle des Kriegspresseamtes, 15. August 1917, MAStA MInn 66329. 124 Ida Onnike an bayer. Kriegsministerium, 12. August 1918, MAStA MInn 66331. 125 Bericht vom 28. Juni 1917, übersandt vom bayer. Kriegsministerium ans Kultusministerium, 14. Juli 1917, MAStA MK 19288. 128 Bezirksamt Berchtesgaden an Regierung von Oberbayern, 20. März 1915, MAStA MInn 66326. 127 Hans Erhard an Garnisonskommando Regensburg, 1. August 1918, MAStA MInn 66331. 128 Vermerk vom 27. August 1918 auf einem Umlaufzettel, der mit diesem Brief am 22. August 1918 vom Innenminister zur Stellungnahme nach Straubing und Regensburg gesandt wurde. 128 Hierfür und für das Folgende: Bericht des Büros für Sozialpolitik vom 15. September 1917, S. 4, MKrA MKr 14029, Stück 67. 130 Der Beauftragte der Kriegsamtsstelle München in Augsburg beklagte sich am 15. August 19x7, daß die Gewerkschaft in den Gögginger Zwirnfabriken auch die belgischen Arbeiter in ihre Tätigkeit einzuspannen versuche, MKrA B. 19x4/18 st. G. K. I. b. AK. Fasz. 204. 181 K. bayer. Feldzeugmeisterei an bayer. Kriegsministerium, 25. Januar 1916, MKrA MKr 12823. 132 Patriot. Bauernverein Tuntenhausen an bayer. Kriegsministerium, 21. Januar 1916, MKrA MKr 12823. 188 Wie Anm. 132. 134 Landrat Linus Funke auf der Sitzung des Beirats für Ernährungswesen am 3. November 1917, Protokoll S. 18, MAStA MInn 66 329. 188 Aktenvermerk des Kriegsministeriums, 10. August 1915, MKrA MKr 12822. 188 Undatierter Volksstimmungsbericht des stellvertr. Generalkommandos HI. bayer. Armeekorps in Nürnberg für September 1916, MKrA MKr 12942.
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Volksstimmungsbericht Sonnenburgs für Oktober 1917, S. 2, MAStA MK 19289. In MAStA MInn 66331. 139 Aktennotiz Bezirksamtmann Geiger, 2. August 1918, MAStA MInn 66331. 140 Aktennotiz Zetelmeier, 14. Juni 1918, MAStA MInn 66284. 141 Volksstimmungsbericht Sonnenburgs für August 1918, S. 3, MAStA M K 19290. 142 Bei der 13. Sitzung des Beirats fur das Ernährungswesen, MAStA MInn 66327. 143 Timm auf der Sitzung des Beirats für Aufklärungsfragen, Niederschrift S. 7, MAStA MInn 66329. 144 Wie Anm. 134, im angebenenen Schriftstück S. 16. 146 Auszugsweise abgedruckter Artikel im Bericht des Büros für Sozialpolitik in Berlin vom 1. Oktober 1918, MKrA MKr 14029. 149 Diese Zusammenfassung bezieht sowohl die Ergebnisse meiner demnächst in Berlin erscheinenden Dissertation (s. o. S. 345) als auch Erkenntnisse der etwa gleichzeitig erscheinenden Dissertation von Willy Albrecht über Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918, Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912-1918, mit ein. Auf beide Arbeiten wurde im Text nicht hingeweisen. Nähere Erläuterungen und Belege sind dort leicht zu finden. 147 Schutzmannschaft für den 9. Bezirk an Polizeidirektion München, 24. August 1918, MInn 66284. 138
FALK
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Kurt Eisner Studie zu seiner politischen Biographie Bayerns erster republikanischer Ministerpräsident Kurt Eisner gehört zu den umstrittensten Persönlichkeiten der neueren bayerischen Geschichte. Ein bayerisches Staatsoberhaupt, das Jude, Preuße und überzeugter Sozialist zugleich war, ist unvereinbar mit dem Geschichtsbild vom königstreuen Bayernvolk, wie es Josef Hofmiller in seinem Revolutionstagebuch zeichnete: „Wir sind nicht für die Republik geschaffen. Das monarchische Gefühl sitzt uns im Blut seit vielen 100 Jahren. Wir sind gute Gefolgsmannen, und wenn wir einmal den Eindruck machen, schlechte zu sein, so liegt es nie am Gefolge, sondern immer am Herzog. ... Herrscherhaus und Volk sind bei uns seit 700 Jahren zusammengewachsen; das kann nicht von heut auf morgen durch noch so ideal gemeinte Sprüche eines Literaten beseitigt werden." 1
I Eisners Vorfahren stammten aus Böhmen. Sein Vater eröffnete schon in jungen Jahren als „Militäreffektenfabrikant" ein Geschäft Unter den Linden in Berlin. In Berlin wurde auch Kurt Eisner am 14. Mai 1867 geboren. Die lange hartnäckig verfochtene These, daß er in Wahrheit Galizier gewesen sei und den Namen Kurt Eisner erst als Journalist angenommen habe, während er ursprünglich Salomon Kosmanowsky geheißen habe, hat F. Schade endgültig in den Bereich der Geschichtslegende verwiesen.2 Nach dem Besuch des angesehenen Askanischen Gymnasiums begann er an der Berliner Universität Germanistik und Philosophie zu studieren. Nach acht Semestern gab er jedoch sein Studium zugunsten der Journalistik auf. Eine bereits begonnene Dissertation über Achim von Arnim blieb unvollendet. Im Alter von 25 Jahren verließ Eisner Berlin und übernahm eine Anstellung bei der „Frankfurter Zeitung". Schon ein Jahr später wechselte er nach Marburg über, um in die politische Redaktion der „Hessischen Landeszeitung" einzu-
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treten. Seine vorher schwer erfaßbare Haltung zum Sozialismus dürfte durch die freundschaftlichen Kontakte mit dem Neukantianer Hermann Cohen, Philosophieprofessor an der Universität Marburg, eine erste Formung erhalten haben. Cohen interpretierte die Philosophie Kants als eine essentiell politische. Kants Ethik und der Sozialismus seien wesensverwandt und auf Veränderung der Welt angelegt.3 Eisner ging aber über Cohens Lehrmeinung hinaus, indem er sich den Standpunkt zueigen machte, daß „Kants Ethik nur im Sozialismus sich zu verwirklichen vermag", wenn es auch feststehe, daß Kant selbst „keine sozialistischen, sondern liberale Folgerungen aus seiner Ethik zog". 4 Die Ethik Kants sei eine Notwendigkeit für das Proletariat, dessen Selbsterziehung zum Sozialismus durch die herrschenden Klassen aber systematisch verhindert werde.® Deswegen sei es notwendig, „die Synthese Marx-Hegel in die Verbindung Marx-Kant aufzulösen".8 Der Begriff vom ausschließlich „ethisch-ästhetischen" Sozialismus Eisners hat keine Berechtigung. Er taucht allenthalben in der Literatur auf und hat die Legendenbildung vom unpolitischen Dichter und Phantasten auf dem bayerischen Ministerpräsidentenstuhl nachhaltig beeinflußt. In Eisners politischer Praxis bestand ein eigenartiger, ihm selbst nie bewußter Zwiespalt, der es ermöglichte, die marxistischen Zielsetzungen, wie sie auf dem Erfurter Parteitag 1891 erneut formuliert wurden, mit sozialistischem Reformismus zu vereinen.7 An den Marxschen „Fundamentalsätzen" des Klassenkampfes und der „Erlösung" durch den Sozialismus dürfe nicht gerüttelt werden, ihre Verwirklichung könne aber nicht durch Leugnung, sondern nur durch Ausnutzung der bestehenden sozio-ökonomischen Verhältnisse vorangetrieben werden. Das brachte Eisner in den Jahren bis zum Weltkrieg immer wieder in die Nähe sowohl der Radikalen als auch der Revisionisten, ohne daß er einer der beiden Extreme der deutschen Sozialdemokratie ganz zugehörte. So wurde Kurt Eisner zu einem Outsider der Partei, der sich keiner Strömung innerhalb der SPD exakt zuordnen ließ. In den Marburger Jahren (1893-1897) waren Eisners gesellschafts- und parteipolitische Vorstellungen noch undifferenziert. Er hielt die Sozialdemokratie für die allein zur Führung und Repräsentation der Arbeiterschaft legitimierte Partei. Jeden Versuch einer anderen Partei, Verbindungen zur Industrie und Landarbeiterschaft aufzunehmen, unterzog Eisner scharfer Kritik. Den konservativen „Bund der Landwirte" bezeichnete er als „eine reaktionäre Parodie der sozialistischen Culturbewegung".8 Die ostelbischen Grundbesitzer und die Großindustriellen, „die Junker von der Dunggrube", 9 hätten allein die Absicht, die „berechtigten Forderungen der Nichtbesitzenden" für ihre Interessenpolitik zu annektieren,10 ebenso die „Talarsozialisten" der evange-
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lischen christlich-sozialen Partei.12 Von Friedrich Naumann, dem Gründer des Nationalsozialen Vereins, war Eisner jedoch tief beeindruckt, weil er ihn für einen der wenigen Geistlichen hielt, die ihre Zeit verstanden.13 Eisner befürchtete, daß aus dem Nationalsozialen Verein eine gefährliche Konkurrenz für die deutsche Sozialdemokratie erwachsen könnte. E r erkannte aber gleichzeitig die politische Schwäche der Nationalsozialen, die in der mangelnden Organisation einer Elitegruppe ohne die notwendige Massenunterstützung begründet war, und warf ihnen vor, der Sozialismus sei auch ihnen nur Vorwand für imperialistisches Machtstreben; Sozialismus und Macht nach außen seien aber niemals vereinbar.14 Im Jahr 1897 fand Eisners Aufenthalt in Marburg ein plötzliches Ende. Neben seiner Arbeit an der „Hessischen Landeszeitung" hatte er in unregelmäßiger Folge politische und literarische Kritiken, die „Provinzialbriefe", verfaßt, die in verschiedenen Zeitschriften, vor allem in der Berliner Wochenschrift „Kritik" zur Veröffentlichung kamen. Unter dem Titel „Ein undiplomatischer Neujahrsempfang" erschien in der Neujahrsnummer 1897 der „Kritik" ein Artikel, der pseudonym gezeichnet war. 15 Der Artikel wurde konfisziert, dem Verfasser machte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung anhängig. Nach Wochen erst gelang es der Polizei, Eisner als den Verfasser ausfindig zu machen. Vor Gericht rechtfertigte sich Eisner gegenüber der Anklage, indem er behauptete, das Problem des Monarchismus sei eigentlich ein anachronistisches. Es stehe in seinem Beitrag überhaupt nicht zur Debatte, da es mit den eigentlichen Lebensfragen der Gesellschaft nicht zusammenhänge und schon deshalb außerhalb der Schußlinie der Radikalen stehe. Bei einer Konfrontation der politischen Realität des Jahres 1897 mit dem Ideal eines Monarchen, „der die größte staatsrechtliche, historisch überkommene Machtvollkommenheit mit der gewaltigsten Genialität des Geistes und der Tat vereint", müsse man doch zu dem Schluß kommen, „daß dieser Herrscher ... nicht in der leisesten Andeutung auf den Monarchen hinweist, der uns am nächsten steht". 16 Das Gericht verhängte über den Angeklagten, der sich die Rolle des Anklägers zugelegt hatte, eine Gefängnisstrafe von neun Monaten, die Eisner von November 1897 bis August 1898 im preußischen Staatsgefängnis Plötzensee verbüßte. Der Prozeß war Ergebnis und Stimulans der lange vorbereiteten Entwicklung Eisners zum Kämpfer gegen das Preußentum. Sein ganzes Leben lang durchzog dieser Kampf wie ein roter Faden sein politisches Handeln und seine journalistischen und historischen Werke. 17 A m besten läßt sich Eisners Antipreußentum vielleicht von seinem Geschichtsbild her interpretieren. Danach vollzieht sich die Weltgeschichte in zwei voneinander völlig getrennten
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Bereichen, in der Welt der „feudal-dynastisch gegängelten Bourgeoisie" und in der Welt des Proletariats.18 Eisner war, wie A. Mitchell zutreffend feststellte, „von Natur unfähig, politische Probleme zu betrachten, ohne zunächst die Existenz des Deutschen Reiches als gegebene Tatsache anzunehmen".19 Daher schien ihm, in Abweichung von der marxistischen Tradition, weniger der moderne Industriekapitalismus als vielmehr das preußische Junkertum der direkte Antipode des Proletariats zu sein. Bismarck sei es gelungen, die Einheitssehnsucht des nationalliberalen Bürgertums auszunutzen, um die preußische Junkerschaft und den preußischen Militärstaat an die Macht zu bringen.20 Dank seines Konstrukteurs Bismarck gehe Deutschland „unter feudaler Leitung durch die Periode des Capitalismus ... Die Bourgeoisie erwarb die wirtschaftliche, der Feudaladel die gesellschaftliche Potenz ... Beide fanden sich im Militarismus".21 Angelpunkt und Symbol dieser Verbindung sei die Monarchie. Die Auseinandersetzung um eine sozial gerechte deutsche Staatsund Gesellschaftsordnung müsse sich daher notwendig im Kampf gegen die Hohenzollernsche Monarchie kristallisieren.22 Der Prozeß hatte die Parteileitung der SPD auf Eisner aufmerksam gemacht. Durch Vermittlung von Philipp Scheidemann berief der greise Wilhelm Liebknecht Kurt Eisner nach seiner Haftentlassung zusammen mit Heinrich Wetzker an Stelle zweier ausscheidender Redakteure an den Berliner „Vorwärts". Nach dem Tode seines Protektors Liebknecht übernahm Eisner die tatsächliche Leitung des Blattes, die offiziell in der Hand eines Gremiums von zehn gleichberechtigten Redakteuren lag. Der „Vorwärts" stand zu jener Zeit gerade im Kreuzfeuer der Kritik innerhalb der SPD. An Eduard Bernsteins Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" hatte sich die Diskussion um den Revisionismus neu entzündet.23 Als Sprachrohr ihrer radikalen Auffassungen beanspruchten nun die Berliner Sozialdemokraten den „Vorwärts", 24 während er aber zugleich auch das Zentralorgan der SPD war. In dieser schwierigen Situation versuchte Eisner, durch einen Mittlerkurs zwischen Radikalen und Revisionisten sich selbst und der Redaktion die Unabhängigkeit zu bewahren, manövrierte sich aber damit in eine gefährliche Isolation innerhalb der Partei.25 Auf dem Dresdener Parteitag der SPD 1903 konnte Eisner die Absicht August Bebels, den „Vorwärts" unter die Kontrolle des Parteivorstandes zu bringen, noch vereiteln.26 Aber im Jahre 1904 fiel eine Vorentscheidung über das Schicksal der „Vorwärts"Redaktion, als Eisner Karl Kautsky, den Theoretiker und Vertreter des Parteizentrums der SPD, zu einer Debatte über Theorie des Sozialismus und Taktik der Partei herausforderte.27 Die Diskussion nahm ihren Ausgang von den Einigungsbestrebungen der französischen Sozialisten auf dem Kongreß der
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II. Internationale in Amsterdam 1904. Einige Jahre zuvor hatte Jean Jaurès den Eintritt des Sozialisten Millerand in ein bürgerliches Kabinett befürwortet und damit einen „Methodenstreit" ausgelöst, der seitdem zwischen den reformfreudigen Jaurèsisten und den extremistischen Anhängern Jules Guesdes ausgetragen wurde. Im Vergleich zu Guesdes völligem Verzicht auf die Chance parlamentarischer Mitarbeit erachtete Eisner Jaurès' Blockpolitik für das geringere Übel. Kautsky und Bebel, die Hüter der Einheit der deutschen Sozialdemokratie, befürchteten, daß Eisner mit seinem Urteil den Revisionisten Auftrieb verschaffen könnte. Als Eisner in der Debatte sogar den Vorwurf erhob, Kautsky stehe den Monarchien aufgeschlossener gegenüber als den demokratischen Republiken,28 wurde er vom Parteizentrum fallengelassen. Im Oktober 1905 schied Eisner zusammen mit fünf weiteren Redakteuren, als „Revisionist" gebrandmarkt, aus dem „Vorwärts" aus. Die folgenden Jahre verbrachte er als freier Schriftsteller in Berlin. Die Verbindungen zur Partei wurden durch die Entlassung keineswegs völlig gelöst. Im Auftrag der Parteileitung besorgte er die zweite, erweiterte Ausgabe seiner im Jahre 1900 verfaßten Biographie Wilhelm Liebknechts.29 Außerdem fand er nun die Muße, eine Auswahl seiner journalistischen Aufsätze aus den Jahren 1899-1905 herauszugeben.30 Als ein Talent der sozialistischen Geschichtsschreibung erwies er sich mit einem umfangreichen Werk über die Geschichte Preußens im Zeitalter der französischen Revolution. Es erschien unter dem Titel „Das Ende des Reichs" trotz der alten Differenzen im „Vorwärts"Verlag. 31 Schon als „Vorwärts"-Redakteur hatte sich Eisner mit außenpolitischen Fragen beschäftigt. Auf dem Höhepunkt der Marokko-Krise lud die Berliner SPD auf seine Initiative hin Jean Jaurès zu einer Friedensdemonstration nach Berlin ein. Nachdem aber Bülow Jaurès mit Ausweisung gedroht hatte, wurde in Berlin lediglich eine Botschaft Jaurès' verlesen, die die Solidarität der französischen Sozialisten mit ihren deutschen Genossen bekundete.32 „Seit jenen erregenden Wochen", schrieb Eisner, „wußte ich, daß der Weltkrieg wie ein unentrinnbares Verhängnis sich heranwälzte.. .", 33 Aber seine Aufklärungsarbeit war, nachdem ihm der „Vorwärts" als Forum entzogen war, „ein hoffnungsloses Beginnen".34 So kam es, daß er zum ersten Mal in seinem Leben als Redner vor eine Massenversammlung trat.36 Anfang 1906 erschien seine Broschüre „Der Sultan des Weltkrieges"36. Die Lektüre des französichen Gelbbuches hatte Eisner in seinem Urteil bekräftigt, daß nur das besonnene Verhalten Frankreichs und Englands die „unmittelbare Gefahr eines Weltkrieges" gebannt hatte. Im Zusammenhang mit der Konferenz von Algeciras wandte er sich in der revisionistischen, von der offiziellen Parteiführung der
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SPD diskreditierten Wochenschrift „Neue Gesellschaft" gegen die Außenpolitik Wilhelms II. : 37 Die Konferenz stelle einen klaren Fall deutscher Erpressung nicht allein der Entente, sondern sogar der eigenen Verbündeten dar, und das sei nur ein weiterer Beleg der in der Geschichte so oft erwiesenen preußischen Treulosigkeit. „Die Internationale der europäischen Demokratie konsolidiert sich - das ist die erfreuliche, unverkennbare Entwicklung, deren notwendige Folge aber auch die Isolierung der alten verstaubten deutschen Kabinettspolitik ist." In der Folgezeit entwickelte Eisner ein demokratischrepublikanisches Frankreich als Gegenbild zum feudal-monarchischen Preußen, wie er es sah. Da das Echo auf Eisners warnende Stimme in der Marokko-Krise ausblieb, nahm er ohne Zögern das Angebot an, die Leitung der sozialdemokratischen „Fränkischen Tagespost" in Nürnberg zu übernehmen. So kam er 1907 nach Bayern. Als Delegierter der Nürnberger Sozialdemokraten erhielt Eisner wieder Gelegenheit, auf den Parteitagen der SPD zu erscheinen. Die Jungfernrede Noskes vor dem Reichstag hatte auf dem Parteitag 1907 zu einer Debatte über den Militarismus Anlaß gegeben. Man warf Noske vor, er habe die nationale Solidarität der SPD mit der Regierung im Verteidigungsfall zu stark betont. Eisner fand sich sogar mit den Radikalen Klara Zetkin und Karl Liebknecht zusammen, als er feststellte: „Wir verlangen nationale Autonomie. Unser Patriotismus besteht nicht darin, daß wir fremde Länder erobern wollen, sondern daß wir das eigene Vaterland für uns erobern." Eisner ging es aber weniger um das theoretische Problem des Militarismus in der Klassengesellschaft. Vielmehr hatte ihn die Rede Noskes, die er, ebenso wie Kautsky und Ledebour, auf die Marokko-Krise bezog, in der Befürchtung bestärkt, daß sich die deutsche Sozialdemokratie unter irgendwelchen Vorwänden zu einem Krieg gegen die westeuropäischen Mächte gebrauchen lassen könnte.38 Als Chefredakteur der „Fänkischen Tagespost" stellte es sich Eisner zur Aufgabe, aus seiner Zeitung „ein Organ weltpolitischer Aufklärungsarbeit zu machen".39 Angesichts der katastrophalen Bildungslage der Arbeiterschaft forderte er, Nordbayern müsse in den Bemühungen um die allgemeine und die sozialistische Arbeiterbildung im besonderen bahnbrechend vorangehen.40 Die Nürnberger Genossen gingen auf seinen Vorschlag ein und bewilligten ihm die Anstellung eines hauptamtlichen Lehrers für die Arbeiterbildung. Für dieses Amt wurde Max Maurenbrecher gewonnen, der ursprünglich der nationalsozialen Bewegung angehört hatte. Eisner und Maurenbrecher entwickelten Ansichten, die sich gegen die Konzeption der zentralen Parteischule
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in Berlin richteten: „Wir sollten darauf verzichten, durch Halbjahreskurse in Berlin eine ausgewählte Schar von Parteiführern heranzuziehen, sondern uns unmittelbar an die geistig begehrliche Masse der Partei wenden". 41 Die Auseinandersetzung Eisners mit der Parteischule42 bedeutete nur eine weitere Station in seiner Entwicklung zum Reformisten. Praktische Arbeit bedeutete ihm mehr als ein revolutionäres Lippenbekenntnis. Damit traf er sich auf einer Linie mit dem taktischen Vorgehen der bayerischen Sozialdemokratie. Nach dem Erlöschen der Sozialistengesetze 1890 hatte die bayerische Sozialdemokratie unter der Führung von Georg von Vollmar eine eigene politische Taktik eingeschlagen.43 Das Neue daran war, daß Vollmar den Sozialismus nicht mehr revolutionär, sondern durch aktive parlamentarische Mitarbeit zu verwirklichen beabsichtigte. Man könne sich nicht mehr „auf den Standpunkt der bloßen Verneinung beschränken". Diese Reform der politischen Taktik bedeutete, daß die bayerische Sozialdemokratie den Kompromiß, die Evolution, zur Grundlage ihres Weges zur Erlangung der politischen Macht erhoben hatte, wobei sich ihr auch die anderen süddeutschen Landesverbände anschlössen. Sie verstand ihre Politik als beispielgebend für die Gesamtpartei im Kampf gegen „den von Berlin ausgehenden Absolutismus und Zentralismus". Das evolutionär formulierte Gesamtkonzept der bayerischen Sozialdemokratie macht verständlich, warum Eisner hier in den Jahren bis zum Weltkrieg einen ihm gemäßen politischen Standort finden konnte. Er empfand ebenfalls „die alte Mainlinie als einen politischen Abgrund". 44 Folgerichtig setzte er sich deshalb auf dem bayerischen Landesparteitag 1908 für ein gemeinsames Vorgehen der süddeutschen Sozialdemokraten gegen die sozialpolitische Rückständigkeit Preußens ein: „Wir können die preußische Politik um so besser bekämpfen, wenn wir die preußische Regierung auf die wenn auch oft geringen Fortschritte im Süden verweisen können."45 Wie weitgehend Eisner mit dem reformistischen Programm der bayerischen Sozialdemokratie übereinstimmte, verdeutlicht sein Auftreten auf dem Gesamtparteitag in Leipzig 1909. Er stellte den radikalen Theoretikern seine Erkenntnis gegenüber: „Daran, daß wir Nein sagen, geht das System nicht zugrunde", und er forderte als Konsequenz „eine Radikalisierung der parlamentarischen Arbeit". Weiterhin meinte er in diesem Zusammenhang: „Darin beruht der Wert der parlamentarischen Arbeit, daß wir in jeder Situation uns nicht mit Protesten begnügen, sondern es möglich zu machen suchen, daß ein positives Programm durchgesetzt w i r d . . . Ich halte es für sehr wenig radikal, wenn man immer hinter den Regierungsentwürfen und bürgerlichen Entwürfen hinterherläuft, wenn man es diesen überläßt, unsere Arbeit zu tun. ... Der Parlamentarismus ist unser
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Programm. Wenn wir ihn wollen, so müssen wir ihn ganz wollen, und vor allem in Deutschland, wo wir noch gar keinen Parlamentarismus haben, den wir erst erobern müssen."46 Schon drei Jahre nach dem Eintritt in die „Fränkische Tagespost" mußte Eisner Nürnberg wieder verlassen. Man war seiner „Weltpolitikasterei und Kriegsprophetie" überdrüssig geworden; die Nürnberger Sozialdemokraten wollten den Lokalcharakter ihrer Zeitung gewahrt wissen.47 Wieder versuchte Eisner seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller zu verdienen - diesmal in München. Die sozialdemokratische „Münchener Post" übernahm ihn als freien Mitarbeiter in die politische Redaktion; bald wurde er auch als deren Theaterkritiker in der Münchener Öffentlichkeit bekannt. Fast die gesamte sozialistische Presse veröffentlichte sein schnell beliebt werdendes „Arbeiterfeuilleton". Außerdem gelang es ihm, im Auftrag des Landesvorstands der bayerischen Sozialdemokratie an den Sitzungen der Abgeordnetenkammer als parlamentarischer Berichterstatter teilzunehmen. Allgemein läßt sich feststellen, daß er in den Jahren vor dem Krieg in einem harmonischen Verhältnis zur bayerischen Sozialdemokratie stand. Seine politischen Artikel enthielten weiter die scharfe Spitze gegen Preußen.48 Was die bayerische Politik betraf, so plädierte er offen für die Abschaffung der Reichsratskammer49 und attakierte die „Regierungsphilosophie" des Ministerpräsidenten Hertling.50 In einem taktischen Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Liberalen sah er damals den einzig gangbaren Weg zur Beseitigung der bestehenden autoritären Staats- und Gesellschaftsordnung in Deutschland. Angeregt von dem Beispiel der bayerischen Landtagswahlen, schlug er deshalb den preußischen Sozialdemokraten vor, sie sollten bei den preußischen Landtagswahlen 1913 mit den Liberalen paktieren. Schon bei den Urwahlen sollte in Kreisen ohne Erfolgsaussichten der sozialdemokratischen Kandidaten für alles votiert werden, was nicht blau oder schwarz sei. Nach Eisners Überzeugung waren Mandate wichtiger als Wählerstimmen.51 In der von Ludwig Thoma und Albert Langen begründeten linksliberalen Zeitschrift „März" entwarf er im Februar 1913 ein „Militärprogramm der Linken" zur Demokratisierung Deutschlands, das von Sozialdemokraten und Liberalen gemeinsam ausgearbeitet und vorgetragen werden sollte: „Soll sich endlich auch in Deutschland die Demokratie entwickeln und zur herrschenden Macht werden, so kann das, wie sich bei uns die Parteiverhältnisse gestaltet haben, zunächst nur durch die gemeinsame Aktion des sozialistischen Proletariats und durch die gemeinsame Aktion des wahrhaft liberalen Bürgertums erreicht werden." Kritisch stellt er aber so geweckte Erwartungen in Frage, indem er fortfährt: „Die Widerstände, die aus beiden Lagern einem solchen Bündnis entgegenwirken, sind im Reich und
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in Preußen bisher so stark, daß es vielfach nur fiir den Traum utopischer Schwärmer gehalten wird." 52 II Seit den Balkankrisen 1912/13 verbreitete sich auch unter den Sozialdemokraten die Vorstellung, daß Deutschland unmittelbar vor einem bewaffneten Überfall durch Rußland stehe. Die Sozialdemokratie geriet dadurch in ein gefährliches Dilemma, denn einerseits erblickte sie im Zarismus den alten Erbfeind, gegen den sogar August Bebel bereit war, „noch in seinen alten Tagen die Flinte auf den Buckel zu nehmen", andererseits mußte sie sich darüber im klaren sein, daß, wenn die Sozialisten der beteiligten Nationen den Kriegsanleihen zustimmen würden, dies das Ende der II. Internationale bedeutete. Man versuchte sich aus dieser Zwangslage zu befreien, indem man für die Feststellung der Kriegsschuld das Kriterium des Angriffskrieges anwenden wollte. Aber schon 1907 hatte Karl Kautsky vor dieser Haltung gewarnt: „Die deutsche Regierung könnte ... eines Tages den deutschen Proletariern weismachen, daß sie die Angegriffenen seien, die französiche Regierung könnte das gleiche den Franzosen weismachen, und wir hätten dann einen Krieg, in dem deutsche und französiche Proletarier mit gleicher Begeisterung ihren Regierungen nachgehen und sich gegenseitig morden und die Hälse abschneiden. Das muß verhütet werden und das wird verhütet, wenn wir nicht das Kriterium des Angriffskrieges anlegen, sondern das der proletarischen Interessen, die gleichzeitig internationale Interessen sind." 53 Eisner war ein „überzeugter Anhänger des Grundsatzes der Vaterlandsverteidigung im Falle eines Verteidigungskrieges". 54 Von Verlautbarungen eingeweihter militärischer und politischer Kreise Münchens seit 1912 ließ er sich überzeugen, daß Deutschland von einem russischen Überfall bedroht war.55 Aber noch am 27. Juli 1914 hielt er auf einer Friedensversammlung in München eine Rede gegen den Krieg, in der er die Völker und Regierungen aufrief: „Wir sind bereit, den Angriff des Feindes abzuwehren und unser Vaterland zu schützen. Aber in allen Kulturländern muß in letzter Stunde das Volk aufstehen und erklären: Wir wollen Frieden 1 Und dieser Friede kann erhalten werden. Wenn Deutschland, Frankreich, England in dieser Stunde äußerster Gefahr Kulturgewissen haben, dann erwürgen sie die Kriegsfurie, dann ist Rußland ohnmächtig, und dann wird sich zwischen dem großen Österreich... und seinem kleinen Nachbarstaat noch ein Ausgleich finden lassen... Frankreich, England, Deutschland, rettet Europa !"56 A m 28. Juli gab Eisner eine Information, die Adolf Müller, der stellvertretende Landesvorsitzende der sozialdemokratischen Partei in Bayern, aus
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dem bayerischen Kriegsministerium erhalten hatte, an die Redaktion der „Volksstimme Chemnitz" zur Veröffentlichung weiter: „Wie wir aus absolut sicherer Quelle erfahren, steht das Eingreifen Rußlands in den österreichserbischen Konflikt unmittelbar bevor. Deutschlands Antwort wird die sofortige Kriegserklärung sein. Die Mobilmachung in Deutschland erfolgt wahrscheinlich schon morgen, ohne allen Zweifel noch im Laufe dieser Woche". 87 Immer noch von der Voraussetzung eines russischen Überfalls auf Deutschland ausgehend, schrieb Eisner, wieder auf Veranlassung Adolf Müllers, nach Chemnitz, man möge von dort aus auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion einwirken, daß sie die Kriegskredite bewilligen solle. Aber schon die Lektüre des deutschen Weißbuchs über den Kriegsausbruch vom 3. August machte ihn mißtrauisch, denn dort wurde behauptet, die Entscheidung über die deutsche Mobilmachung sei erst als Folge der russischen, die seit 29. Juli angelaufen war, getroffen worden, während Eisner ja schon am 28. Juli über ein unmittelbar bevorstehendes „Eingreifen" Rußlands unterrichtet war. Als er dann nach Einsicht in das belgische Graubuch von der deutschen NichtVeröffentlichung eines Telegramms vom 29. Juli erfuhr, in dem der Zar dem Kaiser die Einschaltung der Haager Friedenskonferenz empfohlen hatte, sah er seine Vermutung bekräftigt, daß von deutscher Seite ein russischer Überfall vorgetäuscht wurde als Vorwand für die Inszenierung des militärisch bereits beschlossenen Krieges. Noch konnte er aber nicht klar sehen und begann deshalb Material über den Kriegsausbruch zu sammeln, besonders Aktenmaterial der Alliierten. Im Dezember 1916 schrieb Eisner über sein Verhalten bei Kriegsausbruch: „Ich mußte sehr bald von Grund aus meine Meinung revidieren". Intensives Studium von Beweismaterial hatte ihn davon überzeugt, daß Rußland im Jahre 1914 keinen Angriff auf Österreich oder Deutschland geplant hatte und daß der Krieg gegen England und Frankreich die konsequente Fortsetzung der deutschen Marokko-Politik darstellte.58 Nun traten der Kampf gegen die Verantwortlichen am Kriege und die Friedensfrage ganz in den Vordergrund seines politischen Denkens und Handelns. E r trat dem pazifistischen „Bund Neues Vaterland" bei, der im Oktober 1914 als Gegengewicht zu dem annexionistischen Alldeutschen Verband gegründet worden war.59 Die fuhrenden Oppositionellen der SPD, Haase, Kautsky und Bernstein, beteiligten sich an den Aktionen des Bundes. Zu seinen Mitgliedern zählten so bekannte Pazifisten wie Ludwig Quidde, Lujo Brentano, Georg Graf Arco, Walther Schükking, der Naturwissenschaftler Albert Einstein und die Schriftsteller Wilhelm Herzog und Gustav Landauer. Sie alle versuchten vornehmlich publizistisch
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aufklärend zu wirken. Karl Kautsy stellte die von ihm herausgegebene Zeitschrift „Die neue Zeit" dem Bund für Veröffentlichungen zur Verfügung. Im April 1915 erschien dort ein Aufsatz Eisners, in dem er die „Alldeutschen" als die Hintermänner der deutschen Kriegszielpolitik und als die Verfechter eines verhängnisvollen völkisch-allgermanischen Weltmissionsgedankens bloßzustellen versuchte. Besonders verbitterte ihn die alldeutsche Strategie, nach der „der Weg zum größeren Deutschland über die Vernichtung Frankreichs führe". 60 Umso mehr mußte Eisner von der „nicht nur nationalen, sondern chauvinistischen" Begeisterung der deutschen Sozialdemokratie nach den militärischen Anfangserfolgen im Sommer und Herbst 1914 erschüttert sein.61 Die Verantwortlichen der „MünchenerPost" fanden kein Verständnis für seine Agitation gegen die deutsche Kriegspolitik und verzichteten daher auf seine Mitarbeit am politischen Teil der Zeitung. Trotz finanzieller Not wurde Eisner nicht zum Opportunisten, sondern er ergriff jede sich bietende Gelegenheit, aufklärerisch zu wirken. Er schloß sich deshalb einer weiteren Organisation der pazifistischen Bewegung an, der „Deutschen Friedensgesellschaft", in der der liberale bayerische Landtagsabgeordnete Ludwig Quidde den Vorsitz führte. Sie war ein Art Dachorganisation der deutschen Pazifisten und als solche dem Berner „Bureau International de la Paix" angegliedert. Wie aus einer Eingabe an den Reichstag hervorgeht,62 wollten die deutschen Pazifisten 1915 nicht einen „Frieden um jeden Preis", sondern einen Verständigungsfrieden. Sie verlangten die öffentliche Diskussion der Kriegsziele und traten für den völligen Verzicht auf Annexionen ein. In diesem Sinne sprach Eisner auf Versammlungen der „Friedensvereinigung München", einer Ortsgruppe der „Deutschen Friedensgesellschaft". Der bayerische Kriegsminister von Kreß erblickte bereits im November 1915 in der Werbetätigkeit der verschiedenen pazifistischen Gruppen in Bayern und namentlich in München eine ernsthafte Gefahr für die Autorität der Regierung. Besonders von einem zunehmenden Zusammenschluß der Gruppen, innerhalb derer auch der „Bayerische Verein für Frauenstimmrecht" eine nicht unerhebliche Rolle spielte, befürchtete von Kreß einen schädlichen Einfluß auf den Siegeswillen der Truppen und auf die Moral der Bevölkerung.63 Obwohl Eisner in der Note des Kriegsministers vom 2. November 1915 zweimal, als Autor eines Flugblatts für den „Bund Neues Vaterland" und als Versammlungsredner der „Friedensgesellschaft München", genannt wurde,64 entging er einem persönlichen Betätigungsverbot, wie es am 6. März 1916 gegen führende Münchner Pazifisten erlassen wurde.65 Mit seinen Artikeln hatte Eisner weniger Glück; sie wurden wiederholt unter Zensur gestellt.66 Eisner beschwerte sich darüber in einem mutigen Brief an die zuständige Zensurbehörde: „ E s wäre verächtliche Feigheit, zumal in Zei-
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ten dieser Weltkatastrophe, die mühsam und mit peinlicher Vorsicht erarbeitete Überzeugung zu verschweigen. Die Wahrheit ist das höchste aller nationalen Güter. Ein Staat, ein Volk, ein System, in dem die Wahrheit unterdrückt wird, oder sich nicht hervorwagt, ist wert, so rasch und so endgültig wie möglich zugrunde zu gehen". In dem Brief kommt auch zum Ausdruck, daß Eisner seine Tätigkeit durchaus als eine patriotische empfand: „Meine Arbeiten sind ... nicht derart, das Ausland ungünstig gegen das deutsche Volk zu beeinflussen, sie sind vielmehr im Gegenteil - wie jede ernste Tätigkeit im Dienste der Wahrheit - geeignet, den ... Welthaß gegen Deutschland zu mildern, also eine im tiefsten Sinne nationale Wirkung zugunsten der Landesund Volksverteidigung zu üben".67 Die Einstellung Eisners zur deutschen Sozialdemokratie war in den Kriegsjähren fast ausschließlich von der Friedensfrage bestimmt. Schon im Dezember 1915 setzte er sich in einem vertraulichen Brief an Karl Kautsky68 für eine „Friedensaction des deutschen Proletariats" ein, die „von der sozialdemokratischen Opposition" ausgehen müsse mit dem Ziel, „das friedliche Volk und den friedlichen Massenwillen gegen die herrschenden Kriegs- undAnnexionscliquen" aufzurufen. Bedeutsam in diesem Brief ist weiterhin, daß Eisner hier erstmalig seine Forderungen nach Feststellung der Verantwortlichkeit der bestehenden Regierung für den Krieg und deren Ersetzung durch eine „neue Regierung des Friedens" artikulierte. Obwohl von einer „Minderheitsaction" die Rede ist, kann dies nicht als Beleg dafür gelten, daß Eisner damals bereits auf eine Revolution hinarbeitete. Noch sah er die Möglichkeit gegeben, daß eine aus pazifistischen Kräften gebildete sozialdemokratische Opposition innerhalb der Gesamtpartei entscheidenden Einfluß auf die „Regierungssozialisten", die „Bonzen", gewinnen könnte. Als Eisner 1916 für die Abhaltung eines Kriegs-Parteitags der SPD eintrat,69 stand er der oppositionellen „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft" nahe. Diese war im März von Abgeordneten der SPD-Reichstagsfraktion auf der Grundlage der Aufhebung des Burgfriedens und mit dem Zweck der Erlangung eines baldigen Friedens gegründet worden, betrachtete sich jedoch als Teil der Sozialdemokratischen Partei. Auf der Tagung der Parteiopposition am 7. Januar 1917 in Berlin wurde die Politik des Parteivorstands von der gesamten Linken kritisiert. Eisner, der von der Münchener Parteiopposition entsandt wurde, spielte dort eine führende Rolle.70 In seinem Diskussionsbeitrag71 sprach er sich gegen eine Parteispaltung aus, da die Gefahr bestehe, daß man sich in Organisationsfragen verliere, statt den Kampfgeist der Massen zu beleben. Die deutsche Sozialdemokratie biete das beste Beispiel für die Erstar-
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rung einer Partei zu einer bloßen Organisation; sie sei dadurch zur „Karikatur des preußischen Staates" herabgesunken. Den revolutionären Vorstellungen des Spartakusbundes von Massenaktionen erteilte er eine deutliche Absage. „Diese Abstumpfung des Persönlichkeitsbewußtseins der einzelnen Parteigenossen, dieses Verkriechen hinter die Masse", hielt er für bedenklich; „Massenaktionen, das hört sich sehr schön an, aber ich vermisse, daß die Masse aus einzelnen besteht". Der Reichstag sei der geeignetste Ort, von dem aus die oppositionellen Abgeordneten Aktionen der vorläufig noch ziellosen Massen vorbereiten könnten. Eisner zog zwar auch einen „Waffenstreik" in Erwägung, aber unter Aktion verstand er damals noch eine von der parlamentarischen Opposition gelenkte, „gegen die verantwortliche Regierung gerichtete europäische, demokratische und sozialistische Friedenspropaganda".73 Vom 6. bis 8. April 1917 trafen sich in Gotha die sozialistischen Oppositionsgruppen erneut, um über einen organisatorischen Zusammenschluß zu beraten. Eisner wurde von der kleinen Münchener Schar Oppositioneller wiederum delegiert.74 Durch eine Sammlung mußten sie ihm das Fahrgeld nach Gotha in Höhe von 115 Mark zur Verfügung stellen, da er es von seinem dürftigen Einkommen als Theaterkritiker - das „Arbeiterfeuilleton" war 1916 eingegangen - nicht aufbringen konnte.75 Eisner versuchte auch in Gotha eine endgültige Parteispaltung zu verhindern. Da es ihm primär um die rasche Herbeiführung des Kriegsendes ging, polemisierte er gegen die ablehnende Haltung des Spartakusbundes hinsichtlich der Anrufung internationaler Schiedsgerichte. Er behauptete, das Programm dieser Gruppe diene nur dazu, die Arbeiterschaft noch mehr zu zersplittern. Im Hinblick auf die schwache Stellung der Opposition in Bayern schlug er ein Kartellverhältnis mit der Gesamtpartei zumindest an den Orten vor, wo selbständige Aktionen ohne Aussicht auf Erfolg seien: „Wir wollen die Münchner Organisation für uns gewinnen. Haben aber aus eigener Kraft kein Mittel, an die Massen heranzukommen und müssen die Mittel der Organisation benützen, die Massen aufzuklären".76 Nachdem die Konferenz jedoch die Abspaltung beschlossen hatte, bemühte er sich zusammen mit Luise Zietz, Bernstein, Kautsky und Haase vergeblich, der neugegründeten Partei wenigstens den alten Namen zu erhalten; die Mehrheit entschied sich aber für den Namen „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands".77 Die Spartakusgruppe trat der USPD nur unter dem Vorbehalt politisch-ideologischer Selbständigkeit bei. In der Diskussion über die Aufgaben der neuen Partei zeigte sich, daß Eisner die Zeit für eine Revolution nicht für reif hielt: „Massenaktionen ohne Massen sind ein Unding. Die Massen müssen erzogen werden".78 Nach seiner Rückkehr aus Gotha ging er sofort an den Aufbau einer Münchener Ortsgruppe der USP.
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Schon einige Monate vorher war Eisner in München bereits an die Durchfuhrung der parteipolitischen Aufgabe herangegangen, die er in Gotha als besonders dringlich darstellte, nämlich der Aufklärungsarbeit unter der Jugend.79 A m 7. Dezember 1916 fand in der Münchener Gastwirtschaft „Goldener Anker" der erste der sogenannten Diskussionsabende statt, die ab Januar 1917 regelmäßig abgehalten wurden.80 Hauptsächlich Mitglieder der ehemaligen sozialdemokratischen Jugendsektion, Arbeiter, Angestellte, Handwerker, Soldaten und einige, meist jugendliche Intellektuelle debattierten dort unter Eisners Leitung über Fragen des Krieges und des Sozialismus. Eisner hatte also schon einen kleinen persönlichen Anhang, als sich die USP-Ortsgruppe München im Mai 1917 ins Vereinsregister eintragen ließ.81 In den öffentlichen „Diskussionsabenden", die neben den Versammlungen der Unabhängigen weiterbestanden, schärfte Eisner das politische Bewußtsein der Teilnehmer anhand von deutschen und ausländischen Presseberichten. „Die Mißleitung der öffentlichen Meinung in Deutschland" durch die Presse, so behauptete er später, sei „die Hauptursache der furchtbarenKatastrophedes deutschen Volkes" gewesen.82 Im Mittelpunkt der Gespräche stand die Kriegsschuldfrage; es kursierten heimlich angefertigte, handschriftliche Vervielfältigungen des „Mühlon-Briefes", des Tagebuches des Fürsten Lichnowsky und andere veröffentlichte Dokumente, die die Legende vom deutschen Verteidigungskrieg zerstören helfen sollten.83 Eisner weigerte sich, den Vorsitz der Münchener USP zu übernehmen.84 Er hatte niemals ein Parteiamt inne. Diese Tatsache läßt darauf schließen, daß Eisner nichts gelegen war an einer Partei nach herkömmlichem Muster mit einem straff verwalteten Apparat, Mitgliederlisten usw., an einer Partei, die integriert würde in das herrschende „System". Er wurde sozusagen der ChefIdeologe der Münchener Unabhängigen. Darüber hinaus fiel ihm im Jahre 1918 auch die Führungsrolle in der parteimäßig nicht organisierten Friedensbewegung zu, die die kriegsmüde und ausgehungerte Bevölkerung immer stärker erfaßte. III Durch die Friedensresolution der Reichstagsmehrheit vom Juli 1917 hatten die Hoffnungen derer, die einen allgemeinen Frieden sehnlich herbeiwünschten, gewaltigen Auftrieb bekommen. Davon unbeeinträchtigt, setzte jedoch die deutsche Oberste Heeresleitung ihre Annexionspolitik fort. Das erwies sich in aller Deutlichkeit bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, wo die deutsche Delegation den Russen zu verstehen gab, daß Deutschland als die
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Siegermacht den Frieden nach seinen Vorstellungen diktieren werde. Als Anfang Januar 1918 diese deutschen Friedensbedingungen allgemein bekannt wurden, kam es zuerst in Österreich-Ungarn und dann im Reich zu Massenstreiks. Ziel der Ausstandsbewegung war die Durchsetzung politischer Forderungen, vorrangig nach Frieden und, damit verbunden, nach Demokratisierung des Staates und der Gesellschaft; der Ernährungsfrage kam in den Streikresolutionen eine nur untergeordnete Bedeutung zu.85 In Bayern versuchte die Mehrheitssozialdemokratie, nachdem die Streiks gegen ihren Willen von der USPD propagiert und teilweise durchgesetzt wurden, die Kontrolle über die Ausstandsbewegung zu erlangen. Erst kurz zuvor war im Dezember 1917 in der bayerischen Abgeordnetenkammer ein mehrheitssozialdemokratischer Antrag auf eine grundlegende Reform der bayerischen Verfassung am Widerstand der Regierung und der Zentrumspartei gescheitert. Dieser sogenannte Antrag Auer-Süßheim hatte auf eine Umwandlung des konstitutionellen Staates Bayern in eine parlamentarische Demokratie mit monarchischer Spitze abgezielt.86 Da der Antrag auf parlamentarischem Wege vor Kriegsende nicht wieder aufgenommen werden konnte - dieses war aber, wie man aufgrund der Berichte aus Brest-Litowsk annehmen mußte, in weite Ferne gerückt - , kam der Mehrheitssozialdemokratie ein Arbeiterausstand als Druckmittel auf die bayerische und die Reichsregierung nicht ungelegen. Die MSP setzte sich aber vor allem deshalb für den geordneten Verlauf und die rasche Beendigung der Streiks ein, weil sie eine Ausweitung der Ausstände verhindern wollte. Eine Revolution wäre zum damaligen Zeitpunkt weder im Sinne der MSP noch der USP gewesen - mit Ausnahme Eisners und seiner Gefolgschaft. So erhielt der Streik in Nürnberg, wo er in Bayern das größte Ausmaß erreichte, durch ein gemeinsames Handeln von MSP, USP und Freien Gewerkschaften die Form eines befristeten Demonstrations- und Warnstreiks, während er in München durch die Initiative Kurt Eisners eine andere Wendung nahm.87 Im Dezember 1917 hatte Eisner bereits in Berlin unter dem Hinweis, „in den Massen bestehe ein starkes Bedürfnis nach einem organisierten Vorstoß", zu einem Massenstreik gedrängt. Noch vor dem 19. Januar einigte sich die USPD-Führung bei einem erneuten Treffen in Berlin, an dem Eisner wiederum teilnahm, auf einen dreitägigen Demonstrationsstreik.88 Doch Eisners Absichten gingen, wie das folgende Zitat beweist, weit über die der USPD-Führung hinaus. Ein Polizeispitzel notierte sich bei einem „Diskussionsabend" am 21. Januar folgende Ausführung Eisners: „Die unabhängigen Sozialdemokraten hätten in erster Linie den Wunsch, unbedingt und rückhaltslos die Monarchie zu stürzen und nicht nur den preußischen, sondern
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den gesamten Militarismus niederzuringen. Dazu gäbe es nur ein Mittel, die heißersehnte, unausbleibliche und bald zu erwartende Revolution".89 Persönlich erarbeitete Erkenntnis und persönlich erlittene Erfahrung hatten Eisner davon überzeugt, daß allein durch die revolutionäre Aufhebung der gegebenen politischen Machtverhältnisse eine Chance für die Verwirklichung von Frieden und Demokratie bestand - Wertinhalte und Zielsetzungen, die sein politisches Denken prägten. Die Behörden betrachteten Eisner als „geistigen Leiter und Organisator der Ausstandsbewegung in München";90 er selbst wollte seine Funktion so verstanden wissen: „Ich habe nur das Interesse, diese Bewegung durchzuführen - und dann werde ich wieder verschwinden. Die Arbeiter sollen ihre Angelegenheiten selbst ordnen, sie brauchen keinen Führer". 91 Ab 27. Januar hielt er in drei Tagen sieben Hauptreden auf Massenversammlungen.92 Überall, wo er auftauchte, mißlang der Versuch der Mehrheitssozialdemokraten und der Gewerkschaftsvertreter, die Arbeiter unter ihre Kontrolle zu bringen. Am Vormittag des ersten Streiktages (31. Januar) mußten sie zusehen, wie auf einer Versammlung von Krupp-Arbeitern eine von Eisner verfaßte Resolution93 einstimmig angenommen wurde. Darin erklärten sich die streikenden Arbeiter Münchens mit den Arbeitern der feindlichen Nationen einig „in dem feierlichen Entschlüsse, dem Krieg des Wahnsinns und der Wahnsinnigen sofort ein Ende zu bereiten". Die Resolution gipfelte in einer Zusicherung, die offen die Aufforderung zur Beseitigung der bestehenden Regierung aussprach: „Wir deutschen Arbeiter werden unsere Herrschenden, die Verantwortlichen des Weltkrieges, zur Rechenschaft ziehen. Der Kampf um den Frieden hat begonnen. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!" Am Nachmittag gerieten im Mathäser vor versammelten Arbeitern der Rapp-Motorenwerke Auer und Eisner, die beiden Führer der sozialdemokratischen Bruderparteien, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit hart aneinander. Auer ermahnte die Streikwilligen, von ihren Vorhaben abzusehen, doch konnte Eisner sie auf seine Seite bringen. Felix Fechenbach schildert seinen Eindruck von Eisners Auftreten und Wirkung auf die Anwesenden: „In lautloser Stille lauschte die Versammlung, gebannt von Eisners mitreißender Rednergabe. Eisner stand auf dem Podium, mit knappen Gebärden seiner feinen Hände da und dort einen Satz unterstreichend. Auf seinen schmalen Schultern ein durchgeistigtes Gesicht mit kleinem, schon ins Graue spielenden Spitzbärtchen. Und über den von Enthusiasmus belebten Augen wölbte sich die hohe, fast durchsichtig klare Stirn."94 In der folgenden Nacht wurden Eisner und andere Streikführer der USP verhaftet. Erst jetzt erlangte die MSP die Kontrolle über den Ausstand. Während die bayerische Regierung zur Ver-
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hinderung oder zur Aufhebung des Streiks nichts tun konnte, obwohl sie schon am 27. Januar genau darüber informiert war, daß ein solcher bevorstand,95 zeigt das Verhalten der Mehrheitssozialdemokratie, daß sie als einzige Autorität wenigstens nach der Verhaftung Eisners in der Lage war, sich als Ordnungsfaktor im Staat durchzusetzen. Als Ergebnis des Münchener Streiks hält F. Schade fest: „ . . . die erbitterte Gegnerschaft zwischen SPD und USPD in München aber ist noch größer geworden - und hat eine persönliche Spitze erhalten, geknüpft an die Namen Auer und Eisner".96 Die Kontroverse zwischen den beiden Politikern verschärfte sich im Oktober weiter, flaute während der Revolutionstage etwas ab, um dann während der Regierungszeit Eisners in aller Schärfe wieder aufzuflammen. Diese persönliche Feindschaft überschattete auch den Tod Eisners im Februar 1919. Rückblickend urteilte Eisner über den Januarstreik in München in einer Wahlrede am 12. Dezember 1918: „Aber, Parteigenossen, die revolutionärste Revolution, das war doch die vom 31. Januar. Damals stand Deutschland scheinbar auf dem Gipfel seiner militärischen Macht, und wenn es uns damals gelungen wäre, die Massen aufzuregen und aufzurütteln zu jener Volksbewegung, wie sie uns damals schon vorschwebte, dann hätten wir noch einen Frieden haben können, in dem wir nicht auf Gnade und Ungnade dem Gegner ausgeliefert waren". 97 „Die Revolution", so führte er weiter aus, „war ja schon geplant im Januar."98 Der Plan bestand wohl einzig darin, daß Eisner hoffte, die Arbeiterschaft durch die Kraft seiner Argumentation zu einer nicht näher bestimmbaren revolutionären Aktion mitreißen zu können.99 Wenn diese Absicht auch durch die Verhaftung durchkreuzt wurde, hatte sich doch seine persönliche Einflußkraft auf die Massen erwiesen. Sein Ansehen bei der Arbeiterschaft war gestiegen, und jetzt waren auch breitere Schichten der Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam geworden. Im August 1918 gab Georg von Vollmar seinen Entschluß bekannt, seine Ämter niederzulegen, so daß unter anderem im Reichstagswahlkreis München II eine Nachwahl erforderlich wurde, die am 17. November stattfinden sollte. Von der MSP wurde Erhard Auer als Kandidat aufgestellt, während die Unabhängigen am 14. September Kurt Eisner nominierten.100 Da Eisner zu diesem Zeitpunkt noch in Untersuchungshaft war, versuchte die USP-München, beim zuständigen Reichsgericht in Leipzig seine sofortige Freilassung zu erwirken. Diese erfolgte am 14. Oktober, obwohl das bayerische Innenministerium dagegen interveniert hatte.101 Sofort nach der Haftentlassung benutzte Eisner den Wahlkampf zur Propagierung der Revolution.102 A m 23. Oktober hielt er die erste Wahlrede über
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das Thema: „Regierungssozialisten oder Sozialistenregierung". Der Inhalt der Rede läßt sich anhand der Zeitungsberichte und des Polizeiberichts rekonstruieren, wenn diese auch in manchen Punkten, wie etwa in den Äußerungen Eisners über die Landesverteidigung, erheblich differieren.103 Zuerst ging Eisner auf den Januarstreik ein, wobei er vor allem Auer beschuldigte, „den Streikenden in den Rücken gefallen" zu sein.104 Im weiteren Verlauf der Rede wurde deutlich, daß seine extreme Friedenspropaganda in eine Revolutionspropaganda umzuschlagen begann.105 Wichtig ist auch, daß sich hier bereits umrißhaft wesentliche Bestandteile seines späteren Regierungsprogramms abzeichneten. Um zum Frieden zu kommen, forderte er den Verzicht auf ElsaßLothringen und Posen mit Danzig, sowie wenigstens teilweise Reparationszahlungen Deutschlands für die Schäden im U-Bootkrieg und für die Schäden in Nordfrankreich und Belgien:106 „Deutschland muß zugeben, daß es schuldig ist, und muß auch die nötigen Opfer bringen."107 Als Konsequenz dieser Feststellung verlangte er, „mit dem Deutschen Kaiser müßten auch alle anderen Bundesfursten abtreten", die dann irgendwo „ein ganz schönes Dasein fuhren" könnten. Ferner forderte er die Entfernung sämtlicher, auch der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder aus ihren Ämtern. Gleichzeitig solle dem Volk „die Möglichkeit gegeben werden, in den Amtsstuben, Regierungsstuben und Parteiräumen Kontrolle zu üben, ob denn auch wirklich im richtig demokratischen Geist gearbeitet wird. Das Volk habe ein Recht darauf, denn es sei lange genug betrogen und belogen worden.... In der nächsten Zeit können gewaltige Ereignisse eintreten, um hiefür gewappnet zu sein, muß eine starke Opposition einsetzen; die Arbeiter müssen Vertrauensräte wählen, die sich wiederum zu einem Arbeiterrat zusammenschließen". Hier klingt vage die Vorstellung Eisners von Aufbau und Funktion der Räte an. Seine Überzeugung, daß nur Männer, die nicht durch eine Beteiligung an der deutschen Kriegspolitik „kompromittiert" seien, mit der Entente einen für Deutschland günstigen Frieden schließen könnten, läßt sich auch aus einer Äußerung interpretieren, die Eisner im Anschluß an einen Zwischenruf „Liebknecht" tat: „Wenn Deutschland eine Republik wäre und Liebknecht an ihrer Spitze stünde, würde der Friede innerhalb 24 Stunden geschlossen werden können".108 Über Eisners Zukunftsvorstellungen berichteten ferner die „Münchner Neuesten Nachrichten": „Als seinideal erklärte Eisner die Vereinigung Deutschlands mit Deutsch-Österreich zu einer sozialen Republik im Rahmen des Wilsonschen Völkerbundes. Im gleichen Rahmen müsse sich die Internationale zu einer mächtigen Organisation entwickeln. Dabei müsse aber in Deutschland mit mehr Besonnenheit, Ruhe und weniger Gewalttätigkeit verfahren werden, als dies die Bolschewisten in Rußland getan". 109 Das Prinzip der Gewaltlosig-
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keit taucht auch in den Schlußworten der Rede auf, wo Eisner laut Polizeibericht darauf hinwies, „daß man unter Umständen zur Revolution greifen müsse, diese Revolution soll jedoch keine blutige Revolution, sondern eine geistige Revolution werden. Bomben und Granaten überlassen wir dem Militär." 110 Bei seiner zweiten größeren Wahlversammlung am 30. Oktober wiederholte er die Forderung nach Beseitigung nicht nur des Kaisertums, sondern aller Monarchien, auch der bayerischen. Weiter drohte er in ultimativer Form der bayerischen und der Reichsregierung, falls sie nicht in kürzester Zeit einen Frieden erreichten, müßten sich die bayerischen Bauern und Arbeiter der Regierung bemächtigen, um den Krieg von den bayerischen Grenzen fernzuhalten.111 In der ersten Novemberwoche verschärfte sich die revolutionäre Stimmung der Bevölkerung. 112 Zu der Friedenssehnsucht, zu der Verärgerung über die völlig unzureichende Ernährungssituation und zu dem Preußenhaß, in den im Verlauf des Krieges auch der bayerische König und die bayerische Regierung miteinbezogen wurden, kam jetzt noch das Moment der Verzweiflung und der Ausweglosigkeit hinzu. Eisner wurde zum Exponenten dieser Stimmung, als er bei einer Friedensdemonstration der Unabhängigen am j.November die Anwesenden aufforderte, „wenn nicht anders, so durch Gewalt eine Volksregierung zu schaffen, die sofort Frieden schließe, damit das bayerische Volk nicht vernichtet werde. Es handle sich um die Rettung des Lebens aller. Die bayerischen Grenzen wären nicht allein bedroht durch den Einfall von Franzosen, Engländern und Amerikanern, sondern auch von dem auseinandergefallenen Österreich. Die Folge eines Einfalles sei eine Hungersnot, die wenigen Vorräte bei den Bauern seien in einigen Tagen aufgezehrt, die Zerstörung von Eisenbahnen und Fabrikanlagen bedingten eine Arbeitslosigkeit. Es drohe uns Vernichtung. Von der eingerosteten Regierung in Berlin seien Taten zur Herbeiführung des Friedens nicht zu erwarten, deshalb müsse eine Volksregierung in Bayern sofort Frieden schließen".113 In letzter Minute versuchte die bayerische Staatsregierung noch eine Verfassungsänderung durchzufuhren, die den Fordeningen der Sozialdemokraten und der Linksliberalen nach einer Demokratisierung des Staates in weitem Umfang gerecht werden sollte.114 Obwohl die Personalliste des vorgesehenen neuen Kabinetts schon am ¿.November feststand, wurden die Namen der designierten Minister öffentlich nicht bekanntgegeben. Durch die mangelnde Information der Öffentlichkeit erzielte die Reform nichts von der erhofften beruhigenden Wirkung auf die Bevölkerung. Sie kam zumindest um Monate zu spät; abgesehen davon, war man mit ihr einem baldigen Kriegsende nicht nähergekommen. Das Tempo, in dem die Verfassungsänderung durchge-
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drückt wurde, zeugt davon, daß König, Regierung und Zentrumspartei nicht aus innerer Überzeugung, sondern allein Vinter dem Druck der Ereignisse handelten. Am Nachmittag des 3. November weilte Eisner im niederbayerischen Pfaffenberg bei Ludwig Gandorfer, dem Bruder des radikalen Führers des Bayerischen Bauernbundes Karl Gandorfer, um sich die Unterstützung der Bauernschaft für die geplante revolutionäre Aktion zu sichern.116 Zwei Tage später fanden sich auf der Theresienwiese zu einer Massenversammlung der Unabhängigen mehrere tausend Menschen ein. Wie der Polizeibericht verzeichnete, wandten sich die Redner gegen die nationale Verteidigung, sprachen den Matrosen in Kiel die Sympathie des deutschen Volkes aus und begrüßten die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates in Stuttgart: „ähnliches müsse auch in München erreicht werden". Als Rufe laut wurden, man solle zur Residenz und zum Wittelsbacher Palais ziehen, „warnte Eisner vor jedem weiteren Unternehmen, damit nicht die Hoffnungen, welche auf die für Donnerstag angesetzte Aktion gehegt werden, vereitelt würden, denn zu dem guten Gelingen des Vorhabens bedürfte man nicht bloß Tausender, man bedürfe hierzu ganz Münchens, Hunderttausender und auch der Bauern; für kleinliche Reformen sei es viel zu spät, es müsse zunächst der Friede erzwungen werden und dann folge die soziale Republik". 116 Die Behörden wußten also nicht nur, daß ein Umsturz bevorstand, sie wußten sogar den genauen Termin: Donnerstag, den 7. November. Die Autorität der Regierung war aber schon so weit geschwunden, daß eine Weisung zum „nachdrücklichen Vorgehen gegen die Umtriebe Eisners", die der Innenminister von Brettreich ausgegeben haben will, nicht mehr zur Ausführung gelangte.117 Vor Pressevertretern gab der Sicherheitsreferent des Innenministeriums folgende hilflose Erklärung ab: Das Standrecht oder der Belagerungszustand könne erst verhängt werden, „wenn Eisner die Regierung absetzen und sich und seine Anhänger als Regierung aufstellen würde". 118 Mindestens seit Oktober waren auch die Mehrheitssozialdemokraten, unter ihnen besonders die Nürnberger, antimonarchistischer und radikaler eingestellt als etwa zur Zeit des Januarstreiks.119 Sämtliche Vertrauensleute der MSP, der Freien Gewerkschaften und der USP fanden sich am 4. November in Anwesenheit ihrer Führer Auer, Timm und Eisner zu einer internen Besprechung zusammen und bildeten eine vorbereitendeKommissionzur Einigung der beiden sozialistischen Parteien.120 Als von diesen drei politischen Gruppen für 7. November eine gemeinsame Friedensdemonstration angesetzt wurde, glaubte Auer, er werde Eisner und seinen Anhang unter Kontrolle halten können. Bei einer Besprechung der designierten Minister am Vorabend der Demonstration
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wurden gegen diese Bedenken laut. Doch Auer 2erstreute sie mit der Behauptung: „Eisner ist erledigt. Sie dürfen sich darauf verlassen. Wir haben unsere Leute in der Hand. Ich gehe selbst mit dem Zuge. Es geschieht gar nichts."121 Es sollte sich am 7. November erweisen, daß Auer die Loyalität der Massen unterschätzt hatte. Während der größere Teil der Demonstranten sich Auer zu einer Schlußkundgebung vor dem Friedensengel anschloß, formierte sich, angeführt von Eisner, dem Arbeiter Johann Baptist Unterleitner, dem Soldaten Felix Fechenbach und dem Bauern Ludwig Gandorfer ein weiterer Zug, von dem die revolutionäre Aktion ihren Ausgang nahm. Noch in der gleichen Nacht wurden ohne nennenswerten Widerstand sämtliche Kasernen und öffentlichen Gebäude der Stadt besetzt. Der Verlauf des Umsturzes und das Versagen der staatlichen Ordnungsorgane sind in der Literatur eingehend behandelt worden, so daß an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden soll.122 In den Arbeiten von F. Schade und A . Mitchell ist auch der Regierungsprozeß der „Hundert Tage Eisner" ausführlich dargestellt. Im folgenden werden daher vornehmlich die Beweggründe und Zielvorstellungen untersucht, die Eisners Politik während seiner kurzen Amtszeit als bayerischer Ministerpräsident kennzeichneten. IV Am Nachmittag des 8. November wählte ein Provisorischer Nationalrat, der sich aus den in der vergangenen Nacht gebildeten Arbeiter- und Soldatenräten, sowie sozialdemokratischen und linksliberalen Abgeordneten des ehemaligen Langtags zusammensetzte, Kurt Eisner auf eigenen Vorschlag hin zum Ministerpräsidenten und Minister für Auswärtige Angelegenheiten des Volksstaates Bayern. Erhard Auer übernahm das Innenministerium. Er war neben Eisner der wichtigste Mann der neuen Regierung. M. Doeberl urteilt wohl richtig, wenn er für die Zusammenarbeit von Eisner und Auer beiden opportunistische Gründe zuspricht: „Eisner bat ihn [Auer] um seinen Eintritt mit der Begründung, daß er Ordnung schaffen solle, weil ihm sonst die Anarchie über den Kopf wachse. Eisner glaubte wohl auf diesem Wege zugleich die Mehrheitspartei aus der Opposition auszuschalten und sich dienstbar machen zu können. Auer aber mochte sich der Hoffnung hingeben, durch seinen Eintritt die Bewegung in geordnete Bahnen lenken und zugleich den gefürchteten Abzug der Massen . . . von der Partei abwenden zu können."123 Die Amtsübernahme durch das Revolutionskabinett hatte viel gemeinsam mit einem Regierungswechsel. Die alten Minister wiesen die neuen in ihre Ressorts
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ein;124 der Beamtenapparat blieb in seiner überkommenen Gliederung und in seiner personellen Besetzung bestehen, von den Staatssekretären bis zu den niedrigsten Beamten - nur die Minister wechselten. Eisner versäumte es, der Revolution die entsprechende Unterstützung durch die Beamtenschaft zu verschaffen, er „lief sich gerade an dem zuverlässigen, staatstreuen Beamtentum . . . die Hörner sehr rasch ab." 126 Im alten Staatsapparat hatten die bürgerlichen Parteien, die sich im November und Dezember neuformierten, nach wie vor einen starken Rückhalt. Die Revolutionäre des 7-/8. November hatten es verstanden, die Friedenssehnsucht der Bevölkerung auszunützen. Nach der Absetzung der Wittels bacher, nach der Bildung einer sozialistischen Regierung und nach dem Waffenstillstand waren wesentliche Forderungen Eisners erfüllt. Die alten etablierten Herrschaftsträger und Herrschaftsinstitutionen, soweit sie nicht von der Revolution angetastet wurden, waren aber nicht gewillt, den von Eisner geforderten Weg zu sozialistischen Demokratie zu beschreiten. Mit Hilfe der „Ruhe und Ordnungs"-Ideologie versuchten sie, die radikalen revolutionären Elemente aus der bayerischen Politik auszuschalten. Eisner selbst hatte nur eine schmale Machtbasis. Im Kabinett standen nur der Minister für soziale Fürsorge Unterleitner und der parteilose Finanzminister EdgarJafK auf seiner Seite. Sein Ansehen bei denen, die die Revolution begrüßten, war darin begründet, daß er jahrelang einen einsamen Kampf gegen die deutsche Kriegspolitik geführt hatte, daß er sich an die Spitze der revolutionären Bewegung gestellt hatte und nun auch bereit war, die Verantwortung für die fast aussichtslose weitere Entwicklung in Bayern zu übernehmen. Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele verabscheute Eisner. Deshalb distanzierte sich die extreme Linke immer mehr von ihm und schloß sich dem Anarchisten Erich Mühsam und dem Spartakisten Max Levien an. Eisner mochte nach der unblutigen und fast widerstandslos durchgeführten Revolution, die er selbst als eine „moralische" betrachtete,126 glauben, daß er mit einer Politik der Verständigung und der Versöhnung auch weiterhin die Unterstützung der Bevölkerung finden würde. Der wichtigste Satz aus dem Aufruf „An die Bevölkerung Münchens" vom 8. November lautete: „Die demokratische und soziale Republik Bayern hat die moralische Kraft, fiir Deutschland einen Frieden zu erwirken, der es vor dem Schlimmsten bewahrt".127 Diese Behauptung rechtfertigte Eisner in der ersten Sitzung des Provisorischen Nationalrats mit dem Hinweis auf die an die deutsche Reichsregierung gerichtete amerikanische Antwortnote, in der Wilson - nach Eisners Worten - kundgab, „daß er nicht gesonnen sei,
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mit dem, was man heute in Berlin Volksregierung nennt, einen Verständigungsfrieden zu schließen". Weiter führte Eisner aus, daß die revolutionäre bayerische Regierung „bei dem amerikanischen Präsidenten einen anderen Eindruck erwecken und mildere Stimmung auslösen kann, als wenn er es zu tun hat mit einer Regierung, die alle Verantwortlichkeiten der Vergangenheit mitübernommen hat. . . . ich weiß, daß man uns, den treibenden Kräften der neuen Umwälzung, wenigstens Vertrauen schenkt."128 Nach dem Bekanntwerden der Waffenstillstandsbedingungen richtete Eisner am i o . / i i . November über den Berner Bundesrat einen eindringlichen Appell an die alliierten Regierungen. Darin heißt es: „Das bayerische Volk hat zuerst in Deutschland . . . alle und alles beseitigt, was schuldig und mitschuldig an dem Weltkrieg war.. . . Die demokratischen Völker dürfen nicht wollen, daß die revolutionäre Schöpfung der deutschen Demokratie durch die Schonungslosigkeit der Sieger vernichtet wird. Jetzt ist die Stunde gekommen, wo durch einen Akt weit ausblickender Großmut die Versöhnung der Völker herbeigeführt werden kann."129 Die bei den Alliierten erwartete Versöhnungsbereitschaft beabsichtigte Eisner durch ein aufrichtiges Bekenntnis der deutschen Schuld am Krieg zu fördern. Dazu ermunterten ihn einige Pazifisten in der Schweiz, vor allem aber der ehemalige Münchener Pädagogikprofessor Friedrich Wilhelm Foerster und der amerikanische Geistliche George D. Herron. Schon am 10. November schlug Foerster in einem Telegramm an Eisner den ehemaligen Krupp-Direktor Mühion als den geeigneten Sprecher für ein deutsches Schuldbekenntnis vor, ohne das es keine wahre Volksversöhnung geben könne.130 Eisner betraute Foerster mit der provisorischen bayerischen Gesandtschaft in Bern und beauftragte ihn, bei den Siegermächten zur Milderung der harten Waffenstillstandsbedingungen „die moralische Seite der bayerischen Revolution" zu vertreten.131 Die verheißungsvollen, in Wirklichkeit aber stark übertriebenen Berichte aus der Schweiz132 verleiteten Eisner dazu, in seinem Regierungsprogramm vom 15. November zu verkünden: „Unser Appell an das Weltgewissen blieb nicht ungehört. Die Waffenstillstandsbedingungen wurden erheblich gemildert." 133 In seinem Glauben, auf dem richtigen Weg zu sein, wurde er von Herron bestärkt, der unter anderem nach München telegraphierte: „Vor allem rate ich Ihnen dringend, möglichst viele deutsche Staaten zu überzeugen, Ihrer Führung zu folgen, zweitens die ersten Schritte zu einem vollen und offenen Bekenntnis der Schuld und Untaten der deutschen Regierung am Anfang des Krieges und an den Grausamkeiten der Kriegsfuhrung zu unternehmen. Die moralische Wirkung einer solchen Handlung wäre gewaltig und entscheidend."134
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In seiner absoluten Vertrauensseligkeit zu Wilson und zu der Versöhnungsbereitschaft der Entente hielt Eisner die neue Regierung in Berlin durch „kompromittierte Männer des alten Systems" wie Erzberger, Solf, David oder Scheidemann für belastet und darum für unfähig, Friedensverhandlungen für Deutschland zu führen. Auf den Rat des bayerischen Gesandten in Berlin Dr. Friedrich Mückle und des pazifistischen Schriftstellers Maximilian Harden135 setzte Eisner den bayerischen Alleingang fort. Er verfolgte damit einen doppelten Zweck, einmal, um die, wie er glaubte, von der Berliner Regierung drohende Konterrevolution im Keim zu ersticken,136 zum andern, um eindeutige Beweise für die Schuld der ehemaligen deutschen Reichsregierung am Ausbruch des Weltkrieges liefern zu können. Während seines Aufenthalts in Berlin bei der Reichskonferenz der deutschen Ministerpräsidenten veranlaßte er am 23. November die auszugsweise Veröffentlichung von Berichten, die der bayerische Gesandte in Berlin Graf Lerchenfeld und dessen Vertreter, der Legationsrat von Schoen, im Juli und Anfang August 1914 nach München übermittelt hatten.137 „Das ist das einzige Mittel", telegraphierte Eisner an Dr. Mückle, „um zu erreichen, daß Friedensverhandlungen im Gefühl gegenseitigen Vertrauens geführt werden." 138 Die Veröffentlichung wurde von der Konferenz, insbesondere von Ebert, schärfstens verurteilt.139 Daraufhin brach Eisner jeden Verkehr mit dem Auswärtigen Amt in Berlin ab.140 Die Beziehungen wurden jedoch nach der Entfernving Solfs aus dem Auswärtigen Amt stillschweigend wieder aufgenommen. Die Behauptung, Deutschland trage die Schuld am Krieg, und der Abbruch der Beziehungen zu Berlin brachten Eisner in den Verruf eines Ententechauvinisten und Partikularisten.141 Beide Bezeichnungen gehen aber an den Grundvorstellungen Eisners vorbei. Einem Privatmann ließ er im Dezember mitteilen, „daß es ausgeschlossen sei, einen Sonderfrieden für Bayern oder Süddeutschland abzuschließen. Die Friedensverhandlungen müssen das deutsche Volk einig und geschlossen sehen, und nur für das gesamte Reich kann der Frieden geschlossen werden." 142 Felix Fechenbach, Eisners Privatsekretär, faßte die Eisnersche Friedenspolitik vor den bayerischen Soldatenräten in der Formulierung zusammen: „. . . kein Sonderfriede für Bayern, aber der Friede über München für ein einiges Deutschland."143 Die von nationalsozialistischer Seite aufgestellte Behauptung, es seien zwischen Eisner und der tschechoslowakischen Regierung Verhandlungen über eine Loslösung Bayerns vom Reich geführt worden,144 ist falsch. Die Verhandlungen dienten in erster Linie dem Abschluß eines Handelsabkommens, das am 22. November 1918 zustandekam und vornehmlich einen Austausch von tschechischer Kohle gegen bayerische Chemikalien vorsah.145 Staatspräsident Masaryk hielt eine persönliche Begeg-
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nung mit Eisner im Augenblick für nicht opportun, stimmte jedoch einer inoffiziellen Fühlungsnahme zwischen den beiden Staaten zu.146 Über einen Anschluß Westböhmens an Bayern, so stellte Eisner in einem Telegramm an den außerordentlichen bayerischen Gesandten in Prag ausdrücklich fest, könne erst bei den Friedensverhandlungen entschieden werden.147 A u f dem Internationalen Sozialistenkongreß in Bern (3.-10. Februar 1919) wandte sich Eisner an die Sozialisten der Entente mit der eindringlichen Bitte, mäßigend auf ihre jeweiligen Regierungen einzuwirken. Nicht das deutsche Volk sei für diesen Krieg verantwortlich, sondern „eine kleine Horde preußischwahnsinniger Militärs in Deutschland".148 Eine von Eisner und dem französischen Sozialistenfiiihrer Pierre Renaundel gemeinsam unterzeichnete Resolution zur Erleichterung des Loses aller Kriegsgefangenen wurde von der Versammlung angenommen. In der Begründung der Resolution stellte Eisner die Forderung, „daß man auf die Gefühle der Rache verzichte und die Gefangenen großmütig freigebe." 149 Deutsche Arbeiter und Studenten rief er auf, freiwillig am Aufbau des zerstörten Nordfrankreich mitzuwirken. Dabei leitete ihn die Vorstellung, daß ein wahrer Friede in Europa und der Welt nur unter der Voraussetzung einer echten und dauerhaften inneren Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich eintreten werde.160 Er war ein Vorkämpfer einer deutschfranzösischen Freundschaft, verkannte aber die französische Entwicklung seit dem Tode seines großen Vorbildes Jaurès. Nach F. Schade ist es „Kurt Eisners tragisches Verhängnis, daß er nach der Umgestaltung des Obrigkeitsstaates in einen Volksstaat auf die Verwirklichung der Wilsonschen Ideale hofft und die gleiche Gesinnung auch bei den Politikern der Entente erwartet." 151 Fast die gesamte deutsche Tagespresse verfälschte oder entstellte Eisners Rede in Bern dahingehend, als sei er für eine Zwangsarbeit deutscher Kriegsgefangener in Frankreich eingetreten. Zwar dürfte die Veröffentlichung der Kriegsakten den Gang der Verhandlungen in Versailles kaum wesentlich beeinflußt haben, doch lieferte Eisners Schuldbekenntnis allen deutschnationalen und völkischen Kreisen ein willkommenes Propagandamaterial zur Zementierung der Dolchstoß-Legende. Die nationalpatriotischen, kriegsenttäuschten Liberalen hatten in Eisner einen Sündenbock, ja geradezu den „Vater des Versailler Schandfriedens" gefunden.152 Auch die Mehrheitssozialdemokratie und die konservative B V P kreideten ihm sein Vertrauen zu Clemenceau schwer an.153 F. W. Foerster sieht in der Ermordung Eisners „unverkennbar die deutschnationale Rache für jene Feststellungen".164 Der zweite Grund dafür, daß Eisner für das nationalistische Bewußtsein in Bayern und im Reich untragbar wurde, war seine Vorstellung von der
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staatlichen Neuordnung des Deutschen Reichs nach der Revolution. Eine förderalistische Haltung ist schon in seinen Marburger Jahren zu verzeichnen. Damals empörte er sich über die Aufhebung der kurhessischen Gemeindeordnung durch Preußen im Jahre 1897. Durch die Einführung des preußischen Wahlrechts sah er die „berechtigten Eigentümlichkeiten" Kurhessens beeinträchtigt und befürchtete die Nivellierung dieses Staates zu einem preußischen Regierungsbezirk.155 Abgestoßen von dem autoritären Verfassungsleben Preußens, begrüßte er die vergleichsweise progressive Entwicklung der demokratischen und parlamentarischen Tendenzen in Bayern. So schrieb er 1893: „Unten in Bayern scheint sich wieder in der allerletzten Zeit der alte bürgerlich-demokratische Idealismus zu regen, der politische Freiheit, wirtschaftliche Reform und culturelle Förderung erstrebt, ohne die Interessen eines Standes, einer Classe zu vertreten."156 Der Föderalismus Eisners leitete sich zunächst ganz vordergründig von seinem Antipreußentum ab, zum anderen aber ist er Ausdruck seiner Vorstellungen von Demokratie. Als er sich 1907 in Bayern niederließ, fand er auch als Parteipolitiker für diese Gesinnung Anknüpfungspunkte in der Tradition der bayerischen Sozialdemokratie. Zur besseren Bekämpfung der preußischen Poilitik und zur Unterstützung der Bemühungen der süddeutschen Regierungen, sich gegen Preußen zusammenzuschließen, trat er für eine Zusammenarbeit der süddeutschen sozialdemokratischen Landesparteien und für die Anstellung eines süddeutschen Parteisekretärs ein.157 Obwohl Eisner in Nürnberg die bayerische Staatsbürgerschaft erwarb, legte er es nie darauf an, ein spezielles Bayerntum zu entwickeln. Vor den bayerischen Soldatenräten erklärte Eisner später: „Ich selbst bin ein Preuße - nicht zu ändern - aber weil ich ein Preuße bin, und weil ich ein Historiker der Preußentums bin, und weil ich ein alter Hasser dieses alten Systems des Preußentums bin, führe ich diesen Kampf." 188 Eine betont antipreußische Stimmung war in Bayern erst während des Weltkrieges aufgekommen. Sie führte auch in Kreisen der bayerischen Zentrumspartei zu einem Neudurchdenken der förderalistischen Idee, die aber erst durch die Politik des Ministerpräsidenten Eisner in eine Phase praktischer Bewährungsprobe trat. In seinem Regierungsprogramm vom 15. November formulierte er seine Deutschlandkonzeption folgendermaßen: „Wenn wir auf das Vertrauen der feindlichen Mächte rechnen, so betrachten wir es um so mehr als unsere Aufgabe, auch innerhalb der deutschen Stämme eine innige Gemeinschaft vorzubereiten. Wir glauben und wollen, daß eine Vereinigung des Deutschen Reiches mit der deutsch-österreichischen Republik unaufschiebbar ist. Wir sind ferner der Meinung und entschlossen, diese nationale Politik mit fester Hand durchzuführen, daß die Selbstbestimmung Bayerns
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innerhalb des Ganzen erhalten und gesichert werden muß. Wenn wir das Ziel erreichen wollen, daß die Vereinigten Staaten von Deutschland, die Österreich einschließen, die einzig mögliche Lösung des nationalen Problems sind, so werden wir in nächster Zukunft eine zweckmäßigere Gliederung der deutschen Staaten durchzuführen haben, die ohne jede Vorherrschaft eines einzelnen Staates und ohne Antastung der Freiheit und Selbständigkeit Bayerns auch die notwendigen Maßnahmen vernünftiger Einheit trifft. So wird für das deutsche Volk auch in nationaler Hinsicht eine glücklichere Zukunft beginnen."169 Auch Eisners politischer Ratgeber in der Schweiz, Friedrich Wilhelm Foerster, vertrat ausgesprochen föderalistisches Gedankengut.160 Foerster regte bei Eisner die Errichtung einer bayerischen Außenhandelsstelle in der Schweiz an, die schon deshalb wünschenswert sei, „damit von da aus eine Handhabe gegeben würde, die Präsidialmacht Preußens ganz konkretpraktisch auszuschalten." Unverkennbar sprechen aus Foersters Vorschlag die schlechten Erfahrungen, die man in Bayern während des Krieges mit den Reichswirtschaftszentralstellen in Berlin gemacht hatte. Ferner sollten die anderen deutschen Staaten, schlug Foerster vor, ebenfalls derartige Einrichtungen schaffen, die in einer „Föderativzentrale" zusammenzufassen seien.161 Eine Eingliederung Deutsch-Österreichs in den deutschen Reichsverband hielt Foerster in einer Denkschrift wegen des zu erwartenden Einspruchs der Entente und wegen der wirtschaftlichen Orientierung Deutsch-Österreichs nach Südosten nicht für ratsam.162 Sein Einfluß auf Eisner war aber begrenzt. Das geht aus dem Antworttelegramm hervor, in dem Eisner Foerster bat, „gelegentlich in der Öffentlichkeit festzustellen, daß Ihre Anschauungen über den Anschluß Österreichs Ihre Privatansichten sind und sich nicht decken mit meinen Anschauungen und denen der bayerischen Regierung." 163 Eisner behielt seine eigene Konzeption aber auch gegenüber den gefühlsmäßigen Reaktionen des Gesandten in Berlin Dr. Mückle bei, der nach München schrieb: „Ich selbst halte natürlich eine Sprengung des Reiches für eine Tollheit, aber der Ruf: Los von Berlin! hat etwas verlockendes für mich." 164 ! Auf der Reichskonferenz am 25. November 1918 in Berlin, zu der der Rat der Volksbeauftragten die Ministerpräsidenten der Einzelstaaten eingeladen hatte, war Eisner mit seiner Ablehnung des Einheitsstaates weitgehend isoliert.166 Seine Forderung nach „unbelasteten" deutschen Vertretern bei den künftigen Friedensverhandlungen verband er mit einem allgemeinen Angriff auf die in seinen Augen zu wenig revolutionäre Berliner Regierung, die er durch einen vieldeutigen Hinweis auf separatistische Tendenzen im Reich einzuschüchtern versuchte: „Deutschland brauche ein provisorisches Präsi-
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dium, das an die Stelle des halb aufgelösten Bundesrats zu treten habe und aus neuen, unbelasteten Männern bestehen müsse. Dieses Präsidium müßte die Aufgabe haben, alle Verhandlungen mit der Entente zu fuhren. Nur auf diese Weise würden die separatistischen Strömungen verhindert, die sich jetzt stärker als je durchzusetzen versuchten. Nichts sei heute volkstümlicher als der Ruf: Los von Berlin! Los von PreußenI Er selbst stemme sich gegen diese Bestrebungen; aber die Loslösungsbestrebungen seien nicht nur in den süddeutschen Staaten vorhanden, sondern auch in den westlichen Gebieten Preußens." 166 Dann entwickelte er seine Theorie von den „Vereinigten Staaten von Deutschland", aber nur die beabsichtigte Hereinnahme Deutsch-Österreichs in den neu zu bildenden Staatenbund fand die Zustimmung der Versammlung. Durch die Aktenveröffentlichung war schon vor Beginn der Konferenz ein ungünstiges Klima für eine bereitwillige Aufnahme von Eisners Ausführungen geschaffen worden. Im Verlauf der beiden Sitzungen hatte es sich herausgestellt, daß es besonders den mehrheitsozialdemokratischen Konferenzteilnehmern primär um die möglichst baldige Einberufung der Nationalversammlung ging. Erst in dieser sollte die Frage der staatlichen Verfassung des Reiches erörtert und endgültig geregelt werden. Einen Monat später erhielt Eisner auf der Länderkonferenz der vier süddeutschen Staaten in Stuttgart (zj.jiS. Dezember 1918) Gelegenheit, seine Gedanken konkreter zu formulieren.167 Die Konferenz stand unter dem Eindruck der Spartakusunruhen in Berlin. Sie war sich über die Aktionsunfähigkeit der Berliner Regierung einig. Alle Ministerpräsidenten außer Eisner, bei dem die Frage der Friedensverhandlungen im Vordergrund stand, meinten, Berlin sei unfähig, sich gegen die Linksextremisten durchzusetzen. Als erster Diskussionsredner sprach Eisner über das Problem einer engeren Verbindung unter den süddeutschen Staaten: „Was wir tun können, w ä r e , . . . daß wir uns in den Einzelstaaten ähnliche Verfassungen geben, daß wir entschlossen sind, uns nicht eine Verfassung vom Reich oktroyieren zu lassen, sondern den neuen deutschen Bund entstehen zu lassen aus einem Vertrag der konstituierten Einzelstaaten, und daß wir vorher vielleicht einen Präliminarfrieden der süddeutschen Staaten schließen, an dem sich Deutsch-Österreich anschließen könnte, natürlich niemals im Gegensatz zum Reich, sondern daran anschließend die neue Reichsbildung".168 Ihm schwebte also die Neukonstituierung des Reiches von Süden her vor - durch die Schaffung eines Süddeutschen Bundes, etwa nach dem Muster des Norddeutschen Bundes von 1867. Als sich in der Versammlung die einhellige Auffassung abzeichnete, daß das Bismarcksche Reich in seiner vertragsmäßigen Form durch die Revolution in Deutschland nicht beseitigt worden sei, griff Eisner zu der eindeutigen Formu-
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lierung: „Der Bundesrat ist aufgehoben, das Reich besteht nur noch wirtschaftlich".169 Geheimrat Graßmann vom bayerischen Außenministerium versuchte diese auf die Versammlung schockierend wirkende Äußerung abzumildern, indem er sie so interpretierte, als habe Eisner nicht an eine Neuschöpfung, sondern vielmehr an eine veränderte Ausgestaltung des inneren Reichsaufbaus gedacht. Erhard Auer stellte sich teilweise hinter Eisner, betonte aber, daß die Erhaltung der süddeutschen Sonderrechte von der Reichsverfassungskommission, die vom Rat der Volksbeauftragten einberufen worden war, berücksichtigt werden müßte. Eisner war über den ausbleibenden Widerhall seiner Konzeption so verärgert, daß er noch am 27. Dezember nach München abreiste. Am zweiten Konferenztag wurde dann die Bildung einer staatsrechtlichen süddeutschen Kommission beschlossen, die aber nie in Aktion trat. Eisner hatte seinen Plan vom Abschluß eines neuen Bundesvertrages aufgeben müssen. Zum Verfassungsentwurf von Hugo Preuß, der die Zersplitterung Preußens in eine Vielzahl kleiner Territorien zugunsten einer einheitsstaatlichen Lösung vorsah, bemerkte Eisner zwei Tage vor dem Zusammentritt der 2. Reichskonferenz der Länder in Berlin (25. Januar 1919) in einem Privatbrief: „Ich fasse die Zerlegung Preußens, so wie sie in dem mir unmöglich scheinenden deutschen Verfassungsentwurf versucht wird, nicht als eine tatsächliche Aufteilung Preußens auf - sonst hätte man sich mit der natürlichen Dreiteilung begnügt - , sondern vielmehr als den Versuch, Deutschland zu unitarisieren und die Widerstände im Süden durch die scheinbare Aufteilung Preußens zu überwinden, die in Wirklichkeit nichts weiter ist als eine provinziale Gliederung unter Aufrechterhaltung der preußischen Einheit und Vormacht."170 Der Konferenz in Berlin legte Eisner im Namen Bayerns, Hessens und Sachsens einen Antrag zur Verabschiedung einer vorläufigen Reichsnotverfassung vor. 171 Dem Antrag lagen in abgeänderter Form die von Erhard Auer ausgearbeiteten „Richtlinien für das Reichsgrundgesetz"172 zugrunde, in denen sich Auer zur nationalstaatlichen Lösung nach dem Bismarkschen Modell des Bundesstaates bekannt und besonderen Wert auf die Wahrung der bayerischen Sonderrechte und auf die föderative Gestaltung des Reichs gelegt hatte. Der von Eisner eingebrachte Antrag wurde angenommen, obwohl Preuß und der Unterstaatssekretär im Berliner Auswärtigen Amt, David, heftig opponierten. An die Adresse der bayerischen Vertreter gerichtet war die Warnung Davids, daß die Nationalversammlung keine „Orgien des Partikularismus" feiern werde. Mit wenigen Ausnahmen bezeichneten die Autoren, die die bayerische Revolution behandeln, Eisner als Partikularisten.173 Erst die seit der Arbeit
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von F. Schade erschienene Literatur beginnt von dieser Fehleinschätzung abzurücken.175 Der extreme Föderalismus Eisners bildete paradoxerweise den Ausgangspunkt für den bayerischen Föderalismus der Weimarer Zeit, mit dem sich dann die rechten, nationalen und konservativen Kreise Kahr-Bayerns verbanden. Der Glaube an die Mission der „Ordnungszelle" Bayern, das Reich von München her „erneuern" zu können, wurde aber durch den 9. November 1923 zerstört. Mit der Konzeption einer „produktiven Demokratie" beabsichtigte Eisner ein völlig neues System zu schaffen, das den Interessen aller aufbauwilligen Volksschichten entsprechen sollte, nicht nur denen einer privilegierten Minderheit. Den so lange zurückgedrängten Ansprüchen der bisher von der Teilhabe an der Gewalt im Staate ausgeschalteten Schichten sollte in vollem Umfang Rechnung getragen werden.175 Dazu schien ihm weder das parlamentarische System in seiner bisherigen Form, noch das Rätesystem nach bolschewistischem Muster geeignet, sondern allein eine Kombination von Räten und Parlament.176 Doch Eisner mußte damit rechnen, daß er eine längere Periode der Auf klärungsarbeit benötigen würde, wenn sich diese Vorstellungen im Bewußtsein der öffentlichen Meinung durchsetzen sollten. Deshalb versuchte er auch, sein in der Revolutionsnacht spontan abgegebenes Versprechen: „Eine konstituierende Nationalversammlung ... wird so schnell wie möglich einberufen werden", 177 hinauszuzögern. Die Verfechter der reinen parlamentarischen Idee, zu denen auch die SPD zählte, beriefen sich jedoch immer wieder auf diese Zusage. Eine badische Sonderdelegation, die sich am 23. November 1918 zu informativen Gesprächen mit allen bayerischen Ministern (außer Eisner und Verkehr sminister von Frauendorfer) in München aufhielt, berichtete nach Karlsruhe, daß Auer und Justizminister Timm der Auffassung gewesen seien, daß die Wahlen möglichst bald nach der Demobilisierung stattfinden sollten. Der sozialdemokratische Kultusminister Hoffmann habe sich sogar für eine fünfbis sechsmonatige Verschiebung der Wahlen ausgesprochen, während Unterleitner nicht so lange damit warten wollte.178 Am 2. Dezember verlas Eisner vor der Versammlung der bayerischen Soldatenräte eine Kabinettserklärung, die ihm die Minister Auer, Timm und von Frauendorfer unter Androhung ihres Rücktritts abgerungen hatten: „Die Volksregierung Bayerns wird ihr Versprechen, eine Nationalversammlung so rasch wie möglich einzuberufen, einlösen."179 Vorausgegangen waren handfeste Drohungen seitens des Bayerischen Beamten- und Lehrerbundes und der vereinigten Verbände des bayerischen Verkehrspersonals.180 Drei Tage danach erzwang Auer die Festsetzung
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des Landtagswahltermins auf den 12. Januar 1919. 181 Nachdem die Mehrheitssozialdemokraten die Zusage für die Wahl erhalten hatten, zerbrach die sozialistische Einheitsfront an der Verfassungsfrage. Die Linksextremisten formierten sich in Erich Mühsams „Vereinigung revolutionärer Internationalisten Bayerns" und in dem unter der Leitung von Max Levien stehenden „Spartakusbund München". Ihre Aktionen gegen die bürgerliche Presse und gegen Erhard Auer bestärkten die Mehrheitssozialdemokratie in ihrer Neigung, enger mit den Bürgerlichen zusammenzugehen. Der von Auer und Timm unterzeichnete Aufruf zur Bildung einer Bürgerwehr, die offensichtlich gegen links gerichtet sein sollte, zeigt, wie groß die Spannungen zwischen den sozialistischen Gruppen geworden waren.182 Von da an war eine fruchtbare Zusammenarbeit auf allsozialistischer Basis nicht mehr möglich; die Gegensätze gingen über Eisner, der völlig isoliert war, hinweg. Der unsachliche Vorwurf, den Josef Hofmiller gegen Eisner erhebt: „wer gegen die Nationalversammlung agiert, ist ein Bolschewist",183 ist ein Beispiel dafür, daß sich die Bürgerlichen gar nicht die Mühe machten, auf Eisners Konzeption der Demokratie näher einzugehen. Sie assoziierten undifferenziert mit dem Begriff Rätesystem sofort den des Bolschewismus. In der Presse nutzten sie diese Simplifizierung und zugleich auch Verzerrung der Tatsachen weidlich zur Wahlpropaganda aus. Ein Flugblatt aus dem Wahlkreis WunsiedelBerneck, das für den dort aufgestellten DVP-Kandidaten Ernst Müller-Meiningen gedruckt wurde, nannte Eisner einen „Bolschewistenfiihrer".184 Sowohl die Rechte als auch die extreme Linke verkannten Eisners verfassungsrechtliche und innenpolitische Konzeption. Die denkbar konträrsten Fehlbeurteilungen waren die Michael Doeberls, Eisner habe sich „bewußt in den Bahnen des russischen Bolschewismus" bewegt, und die Erich Mühsams, „der bürgerliche Parlamentarismus [sei Eisner] A und O seiner politischen Einstellung" gewesen.185 Von der Untersuchung F. Schades ausgehend, hebt die neuere Literatur die antibolschewistische Gesinnung Eisners hervor.186 Nach den Angaben von F. Fechenbach soll Eisner im November 1917 in München eine Protestversammlung gegen den russischen Bolschewismus abgehalten haben.187 Erich Mühsam berichtet, daß es bei einem der „Diskussionsabende" im Frühjahr 1918 zwischen ihm und Eisner zum offenen Bruch wegen ihrer entgegengesetzten Meinungen über die russische Märzrevolution gekommen sei; Eisner sei als „ein begeisterter Lobredner Kerenskis" aufgetreten.188 Im Februar 1918 druckte eine Moskauer Zeitung einen Artikel Eisners ab, in dem er seinen Unwillen über die Beziehungen zwischen den Bolschewiki und der deutschen Obersten Heeresleitung während des Weltkriegs kundgab.189 Auch als bayerischer Ministerpräsident machte Eisner kein
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Hehl aus seiner Aversion gegen den Bolschewismus. Zu Beginn seiner Amtszeit verurteilte er im Ministerrat die Agitation Max Leviens und äußerte sich abfällig über „bolschewistische Treibereien".190 Eine wesentliche Rolle spielten dabei wahrscheinlich auch die Bedenken, die Foerster aus der Schweiz gegen einen gesteigerten bolschewistischen Einfluß in Deutschland geltend machte, daß nämlich unter derartigen Umständen die Entente keine versöhnliche Haltung gegenüber Deutschland einnehmen werde. 191 Als Mitte Januar der russische Revolutionär Tovia Axelrod in München auftauchte, bekam er nach einer Unterredung mit Eisner einen Sicherheitsaufenthalt in einem bayerischen Sanatorium zugewiesen.192 Vom Bolschewismus unterschied sich Eisner grundsätzlich in der Frage der Sozialisierung und in der Methode der Machtausübung. Dazu äußerte er sich in München vor den Soldatenräten folgendermaßen: „Die Industriellen kommen heute zu uns und wollen vergesellschaftet werden. Wir müssen das ablehenen, weil der wissenschaftliche Sozialismus davon ausgeht, ... daß die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in dem Augenblick vollzogen werden muß, wenn die Produktion sich so riesenhaft entwickelt hat, daß unter dem Kapitalismus diese Riesenkraft der Produktion sich nicht mehr entfalten kann, so daß auf dieser Höhe kapitalistischer Produktion die Produktion selbst den Kapitalismus sprengt. ... Wir können nicht sozialisieren, wo nichts mehr zu sozialisieren ist. . . . Das russische Beispiel lockt uns nicht, auch nicht die Methode. Ich bin der Meinung, daß wir genug Blutvergießen gehabt haben. .. ." 193 Eisner sah seine Politik jedoch mehr von rechts als von links gefährdet. „ E r sei ein Gegner der Bolschewiki", erklärte er auf der Reichskonferenz im November 1918, „er sei aber noch ein größerer Gegner derer, die aus den Bolschewiki einen Popanz machten, um die Konterrevolution vorzubereiten."194 Mit der Verbindung von Räten und Parlament wollte Eisner eine Demokratisierung der Gesellschaft von unten nach oben bewirken und so die Verselbständigung und Entfremdung der Volksvertreter von den Wählern verhindern. Um das Endziel „einer nicht nur formellen, sondern lebendig tätigen Demokratie" zu erreichen, sollte neben Regierung und Parlament ein berufständisch gegliedertes „Nebenparlament" treten.195 Dieses „Nebenparlament" plante er nicht als eine Institution, in der berufliche Sonderinteressen ausgehandelt werden sollten: „Wenn wir im Deutschland der alten Zeit unter irgendeiner Erscheinung litten, so war es die, daß, statt Politik zu treiben, die große Mehrheit des Volkes sich absonderte und verengte in seinen geschäftlichen und beruflichen Interessen.... Die beruflichen Organisationen vertraten durchaus nur die Interessen der Berufe; und das war der neue Gedanke, der uns
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beherrschte:... wir wollten die beruflichen Organisationen aus der Enge ihrer eigensten Interessen herausfuhren, wir wollten die beruflichen Organisationen politisieren. ... Der Anteil der Arbeit jeden Berufs an der Gesamtheit soll die demokratische Grundlage der Gesellschaft bilden."196 Im Provisorischen Nationalrat waren bereits Gewerkschaften, Beamten-, Lehrer- und Berufsvereinigungen und die verschiedensten Verbände vertreten und bildeten so ein ungefähres Muster des geplanten „Nebenparlaments".197 In den „Richtlinien für die künftige sozialistische Politik" räumte Eisner den Räten zum einen das Bestätigungsrecht der bayerischen Verfassung, die dem Landtag von der Regierung zur Annahme vorgelegt werden sollte, zum andern eine beratende und kontrollierende Funktion in der Steuer- und Finanzverwaltung und schließlich eine begrenzte Überwachung der Presse ein.198 Eine genaue Abgrenzung der Kompetenzen der Räte hat er jedoch nie gegeben. Die Mehrheitssozialdemokraten befürchteten daher, daß diese eine mehr oder minder deutliche Rätediktatur ausüben könnten.199 Sie arbeiteten aus diesem Grund systematisch auf die Entpolitisierung der Räte hin. Auf der Landeskonferenz der bayerischen Sozialdemokratie wurde zwei Tage vor Einberufung des Landtags ein Antrag angenommen, der den mehrheitssozialdemokratischen Mitgliedern des Zentralen Rätekongresses nahelegte, für dessen Selbstauflösung zu stimmen.200 In dem vorläufigen Staatsgrundgesetz, das von den liberalen Geheimräten Graßmann und Piloty ausgearbeitet und am 4. Januar von der Regierung erlassen wurde, fanden die Räte mit keinem Wort Erwähnung. Eisner hatte lediglich die zentrale Einbeziehung der Volksabstimmung in diese vorläufige Verfassung durchsetzen können.201 Nach der Ermordung Eisners am 21. Februar 1919 fand sich kein Fortsetzer seiner Rätekonzeption. Durch das Scheitern der anarchistischen und der kommunistischen Räterepubliken wurde der Rätegedanke in Bayern engültig in Mißkredit gebracht. Die bayerische Bevölkerung erteilte Eisner in den Januarwahlen 1919 eine vernichtende Absage. Er hatte geglaubt, sich mit den Methoden des Vertrauens und der Verständigung über Machtfragen hinwegsetzen zu können, aber im Endeffekt brachte seine äußerst aktive und ideenreiche Innen- und Außenpolitik kaum zählbare Erfolge; dazu war seine Amtszeit zu kurz bemessen und dazu war er viel zu sehr auf sich allein gestellt. Das Eisnerbild in der Wissenschaft weist in neuerer Zeit die Tendenz auf, die zweifellos idealistische Grundkonzeption Eisners nicht mehr in erster Linie nach dem Kriterium des Erfolgs zu bewerten, sondern in ihr eine pronocierte Alternative zur Politik der Berliner Regierung in der Revolutionszeit zu sehen.202
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ANMERKUNGEN
ZU:
Falk Wiesemann, Kurt Eisner 1 J. Hofmiller, Revolutionstagebuch 1918/19, Aus den Tagen der Münchener Revolution, Leipzig 1938, 58. 2 F. Schade, Kurt Eisner und die bayerische Sozialdemokratie, Hannover 1961, 104, Anm. 199, 3 A. Mitchell, Revolution in Bayern 1918/1919, Die Eisner-Regierung und die Räterepublik. München 1967, 35. 4 K. Eisner, Kant, in: K. Eisner, Gesammelte Schriften, 2 Bde., Berlin 1919, H, 165-186, 177; vgl. P. Kampffmeyer, Der Ethiker und Politiker Kurt Eisner, in: Sozialistische Monatshefte 35. Jg., Bd. 68 (1929), 119-126. 6 K. Eisner, Kommunismus des Geistes, in: Ges. Sehr. II, 15-26. 6 K. Eisner, Kant 177. 7 vgl. A. Mitchell, Revolution in Bayern 3 5 ff. 8 K. Eisner, Der tolle Junker (1897), in: K. Eisner, Taggeist, Berlin 1901, 159-170, 162. 9 Ebd. 170. 10 K. Eisner, Talarsocialismus (1893), in: Taggeist 171-177, 171. 12 Ebd. 171 ff. 13 Ebd. 175 f. 14 K. Eisner, Almela (1896), in: Taggeist 184-193; ders., Nationalsociale Grundirrtümer (1897), in: Taggeist 194-210. 15 Vgl. F. Schade, Kurt Eisner 105, Anm. 212. 16 K. Eisner, Gen Plötzensee, in: Taggeist 211-240. 17 Schon in seiner ersten politischen Broschüre setzte sich der 22 jährige Eisner für die Beteiligung der SPD an den preußischen Landtagswahlen und für die Beseitigung des preußischen Dreiklassenwahlrechts ein. K. Eisner, Eine Junkerrevolte, Drei Wochen preußischer Politik, Berlin 1889. 18 K. Eisner, Wilhelm Liebknecht, Sein Leben und Wirken, 2. Ausgabe Berlin 1906, 5 ff. 19 A. Mitchell, Revolution in Bayern 39. 20 K. Eisner, Raus! (1896), in: Taggeist 98-105. 21 K. Eisner, Eine Märzfeier (1897), in: Taggeist, 138-148, 141. 22 K. Eisner, Raus! 98ff. 23 Vgl. C. Schorske, German Social Democracy 1905-1917, Cambridge/Mass. 1955, 16-24. 24 Prot, über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (zit.: Prot. PT/SPD) Jena 1905, 179f. (Wels-Berlin). 25 A. Mitchell, Revolution in Bayern 41 ff.; vgl. auch K. Eisner im „Vorwärts", Ostern 1916, zit. bei K. Koszjk, Zwischen Kaiserreich und Diktatur, Die sozialdemokratische Presse von 1914 bis 1933, Heidelberg 1958, 82 f. 28 Prot. PT/SPD Dresden 1903, 264-272, 411 f., 4i6f. 27 K. Eisner, Sozialdemokratie und Staatsform, Eine öffentliche Diskussion zwischen Kurt Eisner und Karl Kautsky 1904, in: Ges. Sehr. I, 285-325; vgl. A. Mitchell, Revolution in Bayern 44f. 28 K. Eisner, Sozialdemokratie und Staatsform 285 fr. 29 Siehe Anm. 18. 30 K. Eisner, Feste der Festlosen, Ein Hausbuch weltlicher Predigtschwänke, Dresden 1906. 31 K. Eisner, Das Ende des Reichs, Deutschland und Preußen im Zeitalter der großen Revolution Berlin 1907. 32 Prot. PT/SPD Jena 1905, 35-37; K. Eisner, Der Sultan des Weltkrieges, in: Ges. Sehr. I, 326-341, 327.
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** Ebd. 81 Ebd. 35 Ebd. 329. 36 K. Eisner, Der Sultan des Weltkrieges, Ein marokkanisches Sittenbild deutscher Diplomatenpolitik, Berlin 1906; vgl. K. Eisner, Der Sultan des Weltkrieges, in: Ges. Sehr. I, 326-341 (Kurzfassung) ; vgl. auch F. Fecbenbach, Der Revolutionär Kurt Eisner, Aus persönlichen Erlebnissen, Berlin 1929, 7 f. 37 Abgedr. in MP, Nr. 96 v. 28. April 1906. 38 Prot. PT/SPD Essen 1907, 248-263. 39 K. Eisner, Der Sultan des Weltkrieges, in: Ges. Sehr. I, 330. 40 Eisner auf dem Gautag der Sozialdemokratie Nordbayerns in Würzburg am 25. April 1908, siehe MP, Nr. 98 v. 29. April 1908, 5. 41 K. Eisner im „Vorwärts" v. 22. August 1908, zit. bei D.Fricke, Die sozialdemokratische Parteischule (1906-1914), in: Z f G 5 (1957), 229-248, 243. 42 Prot. PT/SPD Nürnberg 1908, 217-221, 226-242; vgl. P. Nettl, Rosa Luxemburg, Köln-Berlin 1967. 374ff43 Siehe für das Folgende F. Schade, Kurt Eisner 19-33. 44 Eisner auf dem sozialdemokratischen Landesparteitag 1908 in München, in MP, Nr. 145 v. 1. Juli 1908, 5 f. 46 Ebd. 46 Prot. PT/SPD Leipzig 1909, 3 22 ff. 47 K. Eisner, Der Sultan des Weltkrieges, in: Ges. Sehr. I, 330. 48 K. Eisner, Chefredakteur Wilhelm (August 1910), Die Meineidslinie von Essen (Februar 1911), Dynastische Geschichtsauffassung (März 1911), Kabinettsorder von 1820 (Januar 1914), sämtliche
in: Ges. Sehr. I , 425-431, 421-424, 463-466, 509-520. 49
K. Eisner, Die hohen Stühle (1911), in: Ges. Sehr. I, 481-493. K. Eisner, Hertling (Januar/August 1913), in: Ges. Sehr. I, 494-508; siehe auch K. Eisner, Die Verstaatlichung der Köpfe, in: März 7. Jg. Heft 2 v. 1 1 . Januar 1913. 51 Prot, über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Preußens 6.-8. Januar 1913, Berlin 1913, 246f., 254, 266ff. 62 Zit. nach P. Kampffmeyer, Der Ethiker und Politiker Kurt Eisner I22f. 63 Prot. PT/SPD Essen 1907, 261. 54 F. Fecbenbach, Der Revolutionär Kurt Eisner 12. 55 K. Eisner, Unterdrücktes aus dem Weltkriege, München-Wien-Zürich 1919, i4f.; ders., Jaurès, in: Ges. Sch. I, 15-20; ders., Schuld und Sühne, in: Flugschriften des Bundes Neues Vaterland, Berlin 1919, 1 9 ? . ; F. Fecbenbach, Der Revolutionär Kurt Eisner 10ff.; F. Schade, Kurt Eisner 33fr. 58 MP, Nr. 173 v. 29. Juli 1914. 57 K. Eisner, Unterdrücktes aus dem Weltkriege 13 f. 68 Ebd. 20 f. 59 Siehe auch für das Folgende O. Lebmam-Rußbüldt, Der Kampf der deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden 1914-1927, Berlin 1927. 60 K. Eisner, Treibende Kräfte, in: Die Neue Zeit 33. Jg., Bd. 2, Nr. 4 v. 23. April 1915, 97-106, 60
105.
61
K. Eisner, Unterdrücktes aus dem Weltkriege 34fr. Eingabe an den Deutschen Reichstag betreffend Kriegsziele und deren Erörterung v. 1. Dezember 1915, KriegsAM MKr 13366, zu Nr. 82; für die pazifistische und die feministische (Frauenstimmrechts-) Bewegung siehe W. Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918, Berlin 1968 (im Druck), Kap. m , 5. 48 Note des Kriegsministers über die Friedensbewegung v. 2. November 1915, AStAM MInn 62
66132. 84
86
Ebd. 1 1 , 15. Verbote des Kriegsministeriums v. 6. März 1916, AStAM MInn 66132.
422 M
Bayern im Umbruch
F. Fechenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 14. Brief Eisners an das Generalkommando I. Bayr. Armeekorps München v. 14. Februar 1917, abgedr. in K. Eisner, Unterdrücktes aus dem Weltkriege 53-59. 88 Brief Eisners an Kautsky v. 3. Dezember 1915, abgedr. in A. Laschit^a, Kurt Eisner - Kriegsgegner und Feind der Reaktion, Zu seinem 100. Geburtstag, in: B Z G 9 (1967), 454-489, 464ff.; vgl. A. Mitchell, Revolution in Bayern 54. 89 F. Fechenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 15. 70 Siehe W. Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 4. 71 E. Eichhorn (Hrsg.), Prot, über die Verhandlungen des Gründungsparteitages der USPD v. 6.-8. April 1917 in Gotha, Mit einem Anhang: Bericht über die gemeinsame Konferenz der Arbeitsgemeinschaft und der Spartakusgruppe vom 7. Januar 1917 in Berlin, Berlin 1921, ioof. 73 Ebd. 118 f. (einstimmig angenommene Resolution Eisners). 74 Für Eisners Auftreten in Gotha siehe W. Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VI, 3a. 75 E. Auer im „Vorwärts" v. 29. April und 10. Mai 1917, zit. bei K. Kos^jk, Zwischen Kaiserreich und Diktatur 231, Anm. 43. 78 E. Eichhorn, Prot, über den Gründungsparteitag der USPD 25 f. 77 Ebd. 49 f. 78 Ebd. 72 f. 79 Ebd. 80 Teilnehmerberichte von F. Fechenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 16f.; E. Mühsam, Von Eisner bis Levini, Die Entstehung der bayerischen Räterepublik, Berlin-Britz 1929, 1 1 ; O. M. Graf, Wir sind Gefangene, München 1927, 274®. 81 Über Gründung, Ziele und Struktur der Münchener USP siehe K.-L. Ay, Die Entstehung einer Revolution, Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkriegs, Berlin 1968 (im Druck), Kap. B, I, 1 und 2. 82 Eisner über die Kriegspressekonferenzen des Generalstabs im Reichstag, in: Neue Zeitung, Nr. 1 v. 20. Dezember 1918. 83 Denkschrift des Fürsten Lichnowsky, Brief des Kruppdirektors Mühion, GStAM MA 97700; siehe auch den Brief des Privatmanns F. v. Buhl v. 31. Januar 1918, ebd. 84 Vorsitzender wurde der sonst politisch unbedeutende Schreinermeister Albert Winter sen. (vgl. F. Schade, Kurt Eisner 1 Iii., Anm. 51 und Anm. 61). Sein Nachfolger, der Tapezierer Ferdinand Luttner, schien den Behörden nur ein Strohmann zu sein (Ber. des Innenministers v. 13. September 1918, GStAM MA 92782). Vielleicht trifft dies auch für A. Winter sen. zu. 85 A. Rosenberg, Die Entstehung der Weimarer Republik, Frankfurt 1961, 178-189; B7. Boldt, Der Januarstreik 1918 in Bayern mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs, in: Jahrb. f. fränk. Landesforschung 25 (1965), 6f., iöff. 88 Zur Behandlung des Antrags im Landtag siehe W. Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VI, 6e. 1,7 Zum Januarstreik in Bayern siehe F. Fechenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 22-28; F. Schade, Kurt Eisner 45-50; W. Boldt, Der Januarstreik 1918 in Bayern 5-42; A.Mitchell, Revolution in Bayern 57 fr.; W. Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VI, 5; K.-L. Ay, Die Entstehung einer Revolution Kap. B, I, 3. 88 F. Fecbenbach, Der Revolutionär Kurt Eisner 21 f. 89 Bericht der Zentralpolizeistelle Bayern v. 24. Januar 1918, AStAM MInn 66283. 80 I.Staatsanwalt bei dem Landgericht München I an Justizministerium v. 2. Februar 1918, AStAM MInn 66283. 91 MP, Nr. 27 v. 1. Februar 1918, 5. 92 Siehe F. Schade, Kurt Eisner 46f.; F. Fechenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 22ff. 93 Abgedr. bei F. Fechenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 25. 94 Ebd. 27. 96 K.-L. Ay, Die Entstehung einer Revolution Kap. B, I, 3. 87
Kurt Eisner
423
** F. Schade, Kurt Eisner 48; vgl. Die Attentate im Bayerischen Landtag, Der Prozeß gegen Alois Lindner und Genossen vor dem Volksgerichte München, München 1919, 3. 87 K. Eisner, Die neue Zeit, Zweite Folge, München 1919, 15; siehe auch K . Eisner, Schuld und Sühne 2 9 f. 98 K. Eisner, Die neue Zeit, Zweite Folge 36. 98 Vgl. den Eintrag Eisners in sein Gefängnistagebuch v. 19. Februar 1918: „Hätte man mir noch zwei Tage Zeit gelassen, mit geistigen Waffen vor den Massen die Wahrheit zu erkämpfen, das ganze Proletariat Münchens wäre gewonnen worden." (Gefängnistagebuch Eisners abgedr. in A. Laschit^a, Kurt Eisner, 476-489, 489.) 100 Für das Landtagsmandat Vollmars bewarben sich Erhard Auer und Albert Winter sen. 101 W. Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 6 a; K. A. v. Müller, Mars und Venus, Erinnerungen 1914-1919, Stuttgart 1954, 260f. 102 Auf einer Wahlversammlung erklärte Eisner am 29. Oktober 1918 in Pasing, „er werde zwar nicht gewählt, aber tue seine Pflicht". (MP, Nr. 254 v. 30. Oktober 1918.) 103 Bayerische Staatszeitung, Nr. 250 v. 26. Oktober 1918 (danach F. Schade, Kurt Eisner 51 f.); MP, Nr. 249 v. 24. Oktober 1918 (danach W. Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 6a); MMN, Nr. 539 v. 24. Oktober 1918; Bericht der Pol. Dir. Mch. an MInn v. 25. Oktober 1918, AStAM MInn 66285 (danach K.-L. Ay, Die Entstehung einer Revolution Kap. B, II, 2). 104 Polizeibericht, Angabe siehe Anm. 104. los jjr Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern, Angabe siehe Anm. 104. 106 MNN, Angabe siehe Anm. 104. 107 Polizeibericht (auch für das Folgende), Angabe siehe Anm. 104. 108 Bayerische Staatszeitung, Angabe siehe Anm. 104. 109 MNN, Angabe siehe Anm. 104. 1 1 0 Polizeibericht, Angabe siehe Anm. 104. 111 F. Schade, Kurt Eisner 53; W. Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 6a. 1 1 2 Über die Stimmung der Bevölkerung siehe K.-L. Ay, Die Entstehung einer Revolution. 1 1 8 Ber. des Sicherheitskommissärs A. Fauß v. 3. November 1918, KtiegsAM Best. 1914/18, s t . G . K . I . b . A . K . Fasz. 203. 1 1 4 Siehe W. Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VH, 4. 115 Fecbenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 35ff.; vgl. F. Schade, Kurt Eisner 53; A. Mitchell, Revolution in Bayern 78. 1 1 8 Ber. des Bezirkskommissärs Micheler an Pol.-Dir. Mch. v. 6. November 1918, KriegsAM Best. 1914/18, s t . G . K . I . b . A . K . Fasz. 203; nach F. Fecbenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 57, mahnte Eisner zur Geduld: „Nur noch kurze Zeit. Aber ich setze meinen Kopf zum Pfände, ehe 48 Stunden verstreichen, steht München aufl"; ebenso K. Eisner, Die neue Zeit, München 1919, 82. 1 1 7 Zit. bei W. Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 6 a. 1 1 8 Prot, über die Besprechung im Innenministerium am 5. November 1918 über die politische Lage, GStAM M A 1 1 0 2 5 , Nr. 7; vgl. W. Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 6b. 1 1 9 Siehe F. Schade, Kurt Eisner 5of. 120 W. Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 6 b. 1 2 1 Zit. bei E. Müller-Meiningen, Aus Bayerns schwersten Tagen, Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin-Leipzig 1923, 3of. 182 F. Fecbenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 33ff.; F. Schade, Kurt Eisner 56ff.; Mitchell, Revolution in Bayern 80ff.; W. Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VH, 7. 123 M. Doeberl, Sozialismus, Soziale Revolution, Sozialer Volksstaat, München 1920, 37; vgl. F. Schade, Kurt Eisner 154, Anm. 123. 124 Vgl. Bayerische Staatszeitung, Nr. 262a v. 11. November 1918; K. Sendtner, Rupprecht von Wittelsbach, Kronprinz von Bayern, München 1954, 384; W. Albrecbt, Landtag und Regierung in Bayern Kap. VII, 7. 125 E. Müller-Meiningen, Aus Bayerns schwersten Tagen 35. 128 K. Eisner, Die neue Zeit, Zweite Folge 36.
424
Bayern im Umbruch
127
K. Eisner, Die neue Zeit 5. Ebd. Ii. 129 Abgedr. in: P. Dirr, Bayerische Dokumente Zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, 3., erweiterte Auflage München-Berlin 1925, 26f., Nr. 3. 130 Telegramm Foersters an Eisner v. 10. November 1918, GStAM MA I 1016, Nr. 2. 131 p [{7 Foerster, Erlebte Weltgeschichte 1869-1953, Memoiren, Berlin 1953, 2iiff. 132 P. Dirry Bayerische Dokumente 3of., Nr. 8 und 9. 133 K. Eisner, Die neue Zeit 22. 134 P. Dirr, Bayerische Dokumente 39f., Nr. 12. 135 P. Dirr, Bayerische Dokumente 43 ff., Nr. 20. 136 K. Eisner, Die neue Zeit 46. 137 Abgedr. in P. Dirr, Bayerische Dokumente 3-16. 138 P. Dirr, Bayerische Dokumente 46, Nr. 22. 138 Prot, der Reichskonferenz v. 25. November 1918 in Berlin, GStAM MA I 1015. 140 P. Dirr, Bayerische Dokumente 72, Nr. 3. 141 H. Beyer, Die bayerische Räterepublik, in: Z f G 2 (1954), 175-215, 177fr. 142 Brief Fechenbachs (i.A. Eisners) an den Lehrer G. Mager, Aschaffenburg-Pfaffenmühle v. 16. Dezember 1918, GStAM MA I 984. 143 Provisorischer Nationalrat, Sten. Ber., Beil. 2, 29. 144 Innenminister von Baden an Reichsinnenminister v. 27. Mai 1933, GStAM 102467 (Abi. I93I/33)145 GStAM MA 11007, Nr. 19; vgl. K. Eisner, Die neue Zeit 53. 146 Briefe des bayer. Gesandten in Prag Prof. Weiß an Eisner am 27. und 30. Dezember 1918, GStAM MA 11027. 147 Telegramm Eisners an Weiß v. 3. Dezember 1918, GStAM MA 11007, Nr. 46. 148 K. Eisner, Schuld und Sühne 22ff.; über den Kongreß siehe Schultheß' Europ. Geschichtskalender 1919, Bd. 2, i8off. 149 Resolution und Begründung Eisners abgedr. in F. Fechenbacb, Der Revolutionär Kurt Eisner 128
5
6ff.
150 R. Michels, Kurt Eisner (Unter Benützung von persönlichen Erinnerungen), in: Archiv für die Gesch. d. Sozialismus und d. Arbeiterbewegung 14 (1929), 564-391, 3 82 f. 151 F. Schade, Kurt Eisner 68. 162 E. Müller-Meiningen, Aus Bayerns schwersten Tagen 60 f. 153 Die Bayerische Sozialdemokratie v. 8. November 1918 bis 2. Juni 1920, München 1921, 12 f. und 34. im p w. Foerster, Erlebte Weltgeschichte 309. 155 K. Eisner, Provinzialbrief Nr. 37, in: Die Kritik, Berlin v. 24. April 1897 (zit. nach G. Schmolte, Kurt Eisner als bayerischer Politiker, in: Der Kochelbrief 18. Jg., Nr. 3/1967, 33fr.); vgl. für das Folgende G. Schmolte, Kurt Eisners Föderalismus, in: Politische Studien 19. Jg., Heft 177 (Januar/ Februar 1968), 46 fr. 156 K. Eisner, Sporen (1893), in: Taggeist 22-29, 157 Prot, des 9. Parteitages der bayer. Sozialdemokratie in München 1908, 93. 158 K. Eisner, Die neue Zeit 97. 159 Ebd. 22 f. 160 Vgl. den Angriff Foersters auf die Bismarcksche Reichskonzeption in seinem Aufsatz: Bismarcks Werk im Lichte der großdeutschen Kritik, Sonderdruck aus der „Friedenswarte" 18. Jg., Heft 1 (Januar 1916), Zürich. 161 Vorschläge der Bayer. Gesandtschaft in Bern (Ref. Lindner) v. 14. Dezember 1918 und das Begleitschreiben Foersters v. 22. Dezember 1918, GStAM MA I 1016, Nr. 2 und 4. 162 Denkschrift Foersters (undat.) GStAM MA I 1016, Nr. 39. i«s Telegramm Eisners an Foerster v. 21. Januar 1919, GStAM MA 1 1 0 1 6 , Nr. 64. 184 Brief Mückles an Eisner v. 17. November 1918, GStAM MA 11009, Nr. 8.
Kurt Eisner
425
i«5 p r o t - d e r Reichskonferenz v. 25. November 1918 in Berlin, GStAM MA I 1015. Ebd. 13. 167 Prot, der Konferenz der Vertreter der vier süddeutschen Staaten in Stuttgart am 27-/28. Dezember 1918, GStAM 103244; verwendet wurde dazu auch die noch ungedr. Münchener Diss. von W. Ben^, Die Politik der süddeutschen Staaten in den Anfängen der Weimarer Republik 1918-1920, Kap. n, 4. 168 p r o t, Stuttgart (Angabe siehe Anm. 168), 3. 189 Ebd. 7. 170 Brief Eisners an G. Wyneken, Ulm v. 23. Januar 1919, GStAM MA I 987, Nr. 78. 1,1 Aufzeichnung über die Besprechungen im Reichsamt des Inneren v. 25. Januar 1919 über den der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung vorzulegenden Verfassungsentwurf, GStAM MA I 994; verwendet wurde dazu auch die Diss. von W. Benz, Die Politik der süddeutschen Staaten Kap. III, 2. 172 Richtlinien für das Reichsgrundgesetz, GStAM MA 103 244. 173 H.Beyer, Von der Novemberrevolution zur Räterepublik in München, Berlin 1957, 33f.; Zusammenstellung einschlägiger Zitate bei F. Schade, Kurt Eisner 146f., Anm. 53. 174 -A. Mitchell, Revolution in Bayern 50; G. Schmolte, Kurt Eisners Föderalismus; dagegen vertritt/7. Maser, Die Frühgeschichte der NSDAP, Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt/M. - Bonn 1965, 2of. noch die Auffassung, daß Eisner für den bayerischen Separatismus eintrat. 176 Provisorischer Nationalrat, Sten. Ber., 8. 178 H. Neubauer, München und Moskau 1918/1919, Zur Geschichte der Rätebewegung in Bayern, München 1958, 26. 177 K. Eisner, Die neue Zeit 5. 178 Ber. Dr. Dietz' an den badischen Staatspräsidenten (undat.), GLA 233/25 690 (nach W. Benz> Die Politik der süddeutschen Staaten Kap. II, 1). 179 A. Mitchell, Revolution in Bayern 146 f. 180 F. Schade, Kurt Eisner 151, Anm. 85; F. A. Schmitt, Die Neue Zeit in Bayern (Sonderabdruck der „Politischen Zeitfragen" Nr. 5-9), München 1919, 37f. 181 Ausschreibung der Landtagswahlen, abgedr. in BK, Nr. 339 v. 6. Dezember 1918, 1. 182 Siehe die Interpellation Tollers im Provisorischen Nationalrat, Sten. Ber. 186ff.; vgl. A. Mitchel, Revolution in Bayern 172 ff. 183 /. Hof milier, Revolutionstagebuch 95. 184 Flugblatt, GStAM M A I 984. 185 M. Doeberl, Sozialismus 42 ff.; E. Milbsam, Von Eisner bis Levind 17; siehe auch die Zusammenstellung bei R. Kiibnl, Die Regierung Eisner in Bayern 1918/19, in: GWU 15 (1964), 398-410, 403f. 188 P. Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der Deutschen Sozialdemokratie 1903-1920, Berlin 1967, i84f.; E.Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919, Düsseldorf 1962, i4of., 3i4f.; F. Schade, Kurt Eisner 90. 187 Brief Fechenbachs an R. Kühnert, Marktredwitz vom 22. Januar 1919, GStAM M A I 984, Nr. 4. 188 E. Mühsam, Von Eisner bis Levin6 1 1 . 189 Abgedr. in K. Eisner, Die neue Zeit, Zweite Folge 47 fr. 190 F. Schade, Kurt Eisner 149, Anm. 80. 191 Brief- und Telegrammwechsel Foerster/Eisner, abgedr. in P. Dirr, Bayerische Dokumente 41, Nr. 16; 46, Nr. 23; 50, Nr. 25. 192 MNN, Nr. 292 v. 25. Juli 1919; siehe auch das Tagebuch von Iwan Slessarew (masch.), GStAM MA 102017, Bl. 683. 198 K. Eisner, Die neue Zeit iißff. 194 Prot, der Reichskonferenz v. 25. November 1918 in Berlin, GStAM MA 1 1 0 1 5 , 21. 198 K. Eisner, Die neue Zeit 23 ff. 198 Provisorischer Nationalrat, Sten. Ber., 8. 197 E. Kolb, Die Arbeiterräte 104 f. 188
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Bayern im Umbruch
Richtlinien für die künftige sozialistische Politik (undat.), GStAM M A 1 1 0 2 7 . Vgl. F. Schade, Kurt Eisner 7 4 E 200 Abgedr. in M. Doeberl, Sozialismus 15 3 ff. 801 Abgedr. in F. A. Schmitt, Die Neue Zeit in Bayern 46f.; siehe auch die Begründung Eisners, GStAM M A I 988, Nr. 66. 202 E. Nolte, Die faschistischen Bewegungen, Die Krise des liberalen Systems und die Entwicklung der Faschismen, München 1966 ( = dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts 4), 3of.; R. Kiibnl, Die Regierung Eisner 410; ähnlich schon früher H. Mann, Kurt Eisner, in H. Mann, Macht und Mensch, München 1919,170-175; A. Rotenberg, Die Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1961, 167. 1,8
189
PETER
KRITZER
Die SPD in der bayerischen Revolution von 1918 I. D I E VERSPÄTETE VERFASSUNGSREFORM
Im Oktober 1918, als der Krieg für Deutschland militärisch verloren war und unter dem Druck der Obersten Heeresleitung die Parlamentarisierung der Reichsverfassung vorbereitet wurde,1 nahm in Bayern die Sozialdemokratie2 ihre bisher gescheiterten Bemühungen um eine Reform der 100 Jahre alten bayerischen Verfassung wieder auf. Die Delegierten des Landesparteitages in München forderten Mitte Oktober die Beseitigung der Rückständigkeiten in Verfassung und Verwaltung, die Abschaffung der Kammer der Reichsräte, die Verhältniswahl, die Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament und die Aufhebung aller Vorrechte der Geburt und des Standes.3 Von Republik war nicht die Rede. Einen Schritt weiter ging allerdings der spätere bayerische Militärminister Ernst Schneppenhorst, indem er die gänzliche Abschaffung der Monarchien verlangte.4 Er drang jedoch nicht durch. Die München-Augsburger Abendzeitung legte den Ratgebern der Krone dringend nahe, den Sozialdemokraten entgegenzukommen.5 Aber noch waren Herrschende und Besitzende nicht bereit, ihre Rechte mit der für vaterlandslos gehaltenen, besitzlosen Unterschicht zu teilen.6 Nach der Revolution schrieb Dr. von Brettreich, der letzte königliche Innenminister, in einer vor allem für seine eigene Rechtfertiglang gedachten Denkschrift:7 „In der Zeit vor dem Zusammentritt des Landtags im Oktober 1918 war in Bayern die Lage für tief eingreifende innenpolitische Neugestaltungen, wie sie die Verhandlungen von Ende Oktober bringen sollten, noch nicht gereift. Für eine Demokratisierung und Parlamentarisierung der Regierung wären damals weder Krone mit Staatsregierung noch die große Mehrheit der Kammer der Abgeordneten und die Kammer der Reichsräte zu haben gewesen. Auch die große Mehrheit des bayerischen Volkes war damals noch sehr wenig von den Segnungen einer demokratischen und parlamentarischen Regierung überzeugt. Als Voraussetzung hierfür mußte erst die Umgestaltung im Reiche kommen."
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Versuche der Sozialdemokraten, die Reform zu beschleun'gen, schlugen fehl. In einer Sitzung des Finanzausschusses der Abgeordnetenkammer am 18. Oktober 1918 „drohte bei der Besprechung der innenpolitischen Reformen der sozialdemokratische Abgeordnete Hoffmann-Kaiserslautern direkt mit der Revolution, falls nicht schleunigst weitgehende Reformen bezeichneter Art in Angriff genommen würden." 8 Da Johannes HofEmann (Ministerpräsident von März 1919 bis zum KappPutsch im März 1920) kein Revoluzzer, wohl aber ein im Umgang schwieriger Mann war,9 wird man annehmen dürfen, er habe nicht mit der Revolution gedroht, sondern auf seine Weise vor ihr gewarnt. Dafür spricht vor allem die Tatsache, daß nach dem Zeugnis Brettreichs Erhard Auer und Johannes Timm dieselbe Warnung aussprachen, allerdings in ruhigerer Weise. Wollten HofFmann und seine Freunde wirklich die Revolution, so taten sie besser daran, den Mund zu halten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Die „Drohung" der Sozialdemokraten galt nach Brettreich vor allem dem Zentrum, das damals noch wenig von einer tiefer eingreifenden Umgestaltung, vor allem des Wahlrechts, habe wissen wollen. Die Zentrumsfuhrer, voran Dr. v. Pichler, seien sogar sehr unangenehm berührt gewesen, als die vom Ernst der Lage überzeugte Staatsregierung zum Nachgeben geraten habe.10 Presseberichte aus Versammlungen jener Tage beweisen in der Tat, daß das bayerische Zentrum noch fünf Minuten vor zwölf das Verhältniswahlrecht deswegen ablehnte, weil dadurch die bisher in der Abgeordnetenkammer unterrepräsentierten „roten" Großstädte besser zum Zuge gekommen wären. 11 War das Angebot der Regierung bei Eröffnung des Landtags ohnehin sachlich ebenso wie formal unzulänglich12 gewesen, so konnte es nicht wundernehmen, wenn die SPD angesichts der unzugänglichen Haltung des Zentrums nunmehr den interfraktionellen Besprechungen vom 25. Oktober fernblieb. Für die Vermutung, die Sozialdemokraten hätten damals schon gewußt, daß „etwas Großes komme", 13 gibt es keinen Beweis, im Gegenteil, das Verhalten der SPD-Politiker, auch die Warnungen im Finanzausschuß, deuten in die entgegengesetzte Richtung. Die SPD brachte lediglich ihre günstiger gewordene Position zur Geltung. Gewiß kann man darüber streiten, ob sie nicht klüger daran getan hätte, sich zunächst mit einem geringeren Erfolg zufriedenzugeben und im Lauf der Zeit auf weitere Verbesserungen zu dringen, umso mehr, als sie sich am Ende doch auf einen Kompromiß einließ - wie sogleich zu zeigen sein wird. Der schwerere Vorwurf trifft auf jeden Fall das Zentrum, das in seiner Einsichtslosigkeit wertvolle Wochen ungenutzt verstreichen Heß.
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Am 2. November endlich war die Vereinbarung14 unter Dach. Die wichtigsten Punkte lauteten sinngemäß: 1. Verhältniswahl zur Kammer der Abgeordneten 2. Demokratisierung der Reichsrätekammer, deren Veto gegen gesetzgeberische Beschlüsse von der Abgeordnetenkammer durch dreimalige Abstimmung gebrochen werden kann. 3. Einjährige Finanzperiode 4. Als Minister können nur Personen berufen werden, die das Vertrauen der Kammern des Landtags besitzen. Ein Ministerium für soziale Fürsorge wird neu gebildet und mit einem Sozialdemokraten besetzt. Ferner sollen vier Abgeordnete als Minister ohne Portefeuille berufen werden, einer von ihnen aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion. Mit der Unterschrift unter diese Vereinbarung hatte sich die SPD nun doch auf einen Kompromiß eingelassen: Die Kammer der Reichsräte blieb bestehen und erhielt dank der Parlamentarisierung institutionellen Einfluß auf die Zusammensetzung des Ministeriums; in Bezug auf Vorrechte des Standes und der Geburt war die Verfassung lediglich zu überprüfen. Das Mißtrauen gegen die Sozialdemokratie zeigte sich in der Bestimmung, daß der Staatsminister für soziale Fürsorge drei Abteilungsvorstände erhalten sollte, von denen ein Staatsrat als erster Vertreter des Ministers der Zentrumspartei, ein weiterer Staatsrat den Sozialdemokraten und ein Ministerialdirektor der liberalen Partei angehören sollte. Man hatte also dafür Sorge getragen, daß Martin Segitz als Minister nicht irgendwelchen sozialistischen Unfug anrichten konnte. Neben ihm sollte Johannes Hoffmann als Minister ohne Geschäftsbereich amtieren. Obwohl die Partei um einige Pflöcke zurückgesteckt hatte, freute sich die Münchener Post des Ergebnisses. Die Reform habe, so schrieb das Blatt, Bayern mit einem gewaltigen Ruck zu dem demokratischsten und freiesten Staat des Deutschen Reiches gemacht. Uber das Fortbestehen der Ersten Kammer tröstete die Zeitung ihre Leser mit dem Hinweis hinweg, daß das Oberhaus wie in England sein Erstgeburtsrecht verloren habe.16 Nachdem die Vereinbarung getroffen war, erging ein königlicher Erlaß an das Gesamtministerium über die Parlamentarisierung des bayerischen Staates.16 Dandl trat mit seinen Ministerkollegen zurück. Doch erst vier Tage darauf, am 6. November, hob die Abgeordnetenkammer die Bestimmung des Wahlgesetztes von 1906 auf, die der Berufung von Abgeordneten zu Ministern entgegenstand.17 Zwei Tage danach sollte die Novelle auch in der Kammer der Reichsräte verabschiedet werden.
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Bayern im Umbtuch II. EISNER MACHT REVOLUTION
Man fühlte sich sicher und glaubte, reichlich Zeit zu haben. Inzwischen war aber zeitlich parallel zu dem Tauziehen um die Parlamentarisierung ein anderer Prozeß verlaufen: Die Revolutionsvorbereitungen des Führers der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) in Bayern, Kurt Eisner. Er war seit dem Januarstreik der Münchener Rüstungsarbeiter in Untersuchungshaft gewesen. A m 14. Oktober 18 wurde er freigelassen, damit er sich als Konkurrent Auers um das Mandat des Reichstagswahlkreises München II bewerben könne, das der kranke Georg von Vollmar aufgegeben hatte. Den Wahlkampf führte er mitgroßer Heftigkeit gegen die „Regierungssozialisten".19 Zugleich aber erklärte er, zu der Nachwahl am 17. November werde es nicht mehr kommen, vorher komme die Revolution.20 Die vorbereitenden Treffs der Revolutionäre in Eisners Wohnung in Großhadern sind von Teilnehmern bezeugt.21 In zwei Kundgebungen forderte er seine Zuhörer auf, noch Geduld zu haben: A m 3. und am 5. November. 22 Vor bayerischen Soldatenräten rühmte er sich am 30. November, daß er den am 5. November gesetzten Termin von 48 Stunden beinahe mit der Uhr in der Hand eingehalten habe.23 Angesichts dieser Tatsachen kann man die Behauptung jedenfalls nicht unbewiesen aufstellen, Eisner habe den Aufstand nicht in allen Einzelheiten geplant und die Revolution nicht ganz bewußt ausgelöst, vielmehr sei er von der Revolution „überrollt" worden.24 Eisner selbst hätte es sich verbeten, die Verdienste um „seine" Revolution in dieser Weise verkleinert zu sehen. Ebensowenig kann die Rede davon sein, daß die Gefahr von Unruhen nicht gesehen wurde. Sie wurde bei der Regierung und bei den militärischen Stellen ebenso erkannt wie bei der sozialdemokratischen Partei.25 In diesem Beitrag ist jedoch vor allem das Verhalten der Sozialdemokraten angesichts der auf offenem Markt ausgerufenen Revolutionsabsichten Eisners von Belang. Und hier ist zunächst auf eine Unterredung zu verweisen, die am 5. November nachmittags im Staatsministerium des Innern stattfand, allerdings in Abwesenheit des Ministers von Brettreich.26 Teilnehmer waren Beamte des Innenministeriums, des Staatsministeriums des Königlichen Hauses und des Äußern, der Polizei, ein Vertreter des Generalkommandos und zehn Journalisten aus Münchener Zeitungen. Unter ihnen befand sich der verantwortliche Redakteur der sozialdemokratischen „Münchener Post", Max Kratzsch. Kratzsch war es, der die Versammelten als erster davor warnte, sich aufs Militär zu verlassen. Er sei sicher, daß man da schlechte Geschäfte machen und unangenehme Geschichten erleben würde. Andere Teilnehmer kamen inhaltlich zum gleichen Ergebnis. Kratzsch gab weiter zu verstehen, daß die
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Sozialdemokratie von unten her einem spürbaren radikalen Druck ausgesetzt sei. Dieser Druck und die Tendenzen zur Einigung zwischen den beiden Flügeln der Sozialdemokratie entstammten derselben Wurzel. Man wird wohl sagen dürfen, daß die Unterstützung der Kriegspolitik durch die Mehrheitssozialdemokratie und die partei- und fraktionsinternen Vorgänge, die zur Bildung der USPD führten, mit zunehmender Dauer des Krieges in der Mitgliedschaft ein tiefes Unbehagen auslösten. Man fühlte, daß die Gegner des Krieges wahrscheinlich doch die besseren Sozialdemokraten seien. Immer dann, wenn die Situation krisenhaft wurde, manifestierten sich diese Sentiments als Drang zur Einheit der Sozialdemokratie. So geschah es, daß nach einer Versammlung von Vertrauensleuten im Mathäser zu München am 4. November eine Einigungskommission eingesetzt wurde, die aus sieben Mitgliedern der SPD und sieben der USPD bestand. Sie sollte zwischen beiden Parteiflügeln eine Verständigung über die in nächster Zeit notwendigen Reformen herbeifuhren.27 Unter den gegebenen Umständen mußten solche emotional begründeten Vereinbarungen der USPD weit mehr als den Mehrheitssozialdemokraten zugutekommen, zumal Eisner gar nicht daran dachte, sich gegenüber der SPD zu mäßigen.28 Bereits am 6. November luden dann USPD und SPD für den Nachmittag des folgenden Tages gemeinsam zu einer Friedensdemonstration auf die Theresienwiese ein. Die Nachricht von der gemeinsamen Kundgebung erweckte Besorgnis. Am Abend des 6. November bemerkte Paul Nikolaus Cossmann zu Karl Alexander von Müller, Auer glaube wahrscheinlich noch, der Treiber zu sein, in Wirklichkeit sei er schon der Getriebene.29 Viktor Naumann gewann den - wie sich herausstellte, begründeten - Eindruck, daß Auer seinen Rivalen Eisner unterschätze.30 Die MSP, so notierte er, vergesse nur, daß in gewissen Augenblicken bei der kritiklosen Menge stets der Radikalere recht habe.31 Inzwischen hatte ja Eisner - am 5. November - versprochen, München werde sich binnen 48 Stunden erheben. Die hellhörig gewordenen Sozialdemokraten ließen sich daher von ihm versichern, er werde über das gemeinsam festgelegte Programm hinaus nichts unternehmen.32 Geplant war, von den Versammelten folgende Forderungen gutheißen zu lassen: 1. Den sofortigen Abgang des Kaisers und den Verzicht se;nes Thronfolgers. 2. Die Vereidigung des deutschen Heeres auf die Verfassung. 3. Die Beseitigung aller Verfassungsbestimmungen, die der Freiheit des gesamten deutschen Volkes entgegenstehen und den Ausbau Deutschlands zu einem demokratischen Staatswesen hemmen.
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4. Ausschaltung aller reaktionären Elemente aus der politischen Verwaltung und völlige Demokratisierung der Verwaltungsorganisation. 5. Annahme der Waffenstillstandsbedingungen; grundsätzliche Ablehnung des von den Alldeutschen propagierten Gedankens der nationalen Verteidigung. 6. Sofortige Ergreifung aller Maßregeln, welche die Ordnung, Sicherheit und Ruhe bei Abrüstung und Heimbeförderung der Truppen verbürgen. 7. Schaffung wirksamster Garantien für das Beschwerderecht der Soldaten. 8. Umfassende soziale Fürsorgemaßnahmen für die Notleidenden; Arbeitslosenversicherung; achtstündiger Arbeitstag.33 Die Forderungen decken sich wörtlich mit dem Wahlprogramm, das Auer am 6. November im Franziskanerkeller verkündete.34 Sie lagen außerdem auf der Linie der Beschlüsse, die der sozialdemokratische Landesparteitag Mitte Oktober gefaßt hatte: Erhaltung der Monarchie unter demokratischem Vorzeichen, keine spezifisch sozialistischen Programmpunkte wie Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Man kann also sagen, daß das Programm der Friedenskundgebung vom 7. November das Programm der MSP war. Eisner scheint keinen Wert darauf gelegt zu haben, es zu beeinflussen. Auer glaubte sich seiner Sache sicher. Am 6. November beruhigte er den besorgten Ministerkandidaten Dr. Ernst Müller-Meiningen: „Eisner ist erledigt. Sie dürfen sich darauf verlassen. Wir haben unsere Leute in der Hand. Ich gehe selbst mit dem Zuge. Es geschieht gar nichts."35 Er machte eine weitere Bemerkung, die dem beruhigenden Wort an die Adresse Müller-Meiningens zu widersprechen schien: Er hoffe, daß Eisner den friedlichen Verlauf der Demonstration nicht stören und „andere Pläne" verfolgen werde, wenigstens habe Eisner das zugesichert.36 Auer hielt a so eine Extratour Eisners für möglich, war aber überzeugt, daß sie mißlingen würde. Noch am Mittag des Revolutionstages versicherte Auer dem Minister Dr. von Brettreich, Eisner werde heute nachmittag an die Wand gedrückt werden. Brettreich gab diese Bemerkung telefonisch an Cossmann und Karl Alexander von Müller weiter, die auf Grund besorgniserregender Informationen den Minister angerufen hatten.37 In der Münchener Post allerdings war man nicht völlig sorglos. Max Kratzsch hatte schon am 5. November bei der Besprechung im Innenministerium - in sachlicher Übereinstimmung mit Eisner - geäußert, er rechne nicht damit, daß es noch zur Wahl kommen werde, vielmehr erwarte er eine Explosion. Naumann hörte am Vormittag des 7. November in der Redaktion, für Ruhe garantieren könne man leider nicht, irgendein Zwischenfall könne den Stein ins Rollen bringen.38
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Dann folgten die inzwischen oft geschilderten Vorgänge vom Nachmittag und Abend des 7. November. 39 Auer ging, wie er gesagt hatte, „selbst mit dem Zuge", und die SPD hatte tatsächlich „ihre Leute in der Hand", denn die weitaus meisten Kundgebungsteilnehmer marschierten mit Auer zum Friedensengel, wo sich der Zug auflöste. Nur die wenigen tausend Anhänger Eisners nahmen den entgegengesetzten Weg durchs Westend und über die Donnersbergerbrücke zu den Kasernen. Sie reichten aus, die bayerische Monarchie aus dem Sattel zu heben. Nirgends regte sich organisierter Widerstand.
I I I . D I E ROLLE AUERS
E s ist nun die Frage zu beantworten, ob Auer und die SPD sich einfach von Eisner hereinlegen ließen oder ob sie Eisner in ihr eigenes Kalkül eingesetzt hatten. Dazu seien zunächst die Hinweise auf Eisners wahre Absichten resümiert. Der USPD-Führer hat frühzeitig gesagt, zu der Nachwahl werde es nicht mehr kommen, vorher komme die Revolution. Mehrmals forderte er seine Anhänger auf, noch etwas Geduld zu haben. A m 6. November nachmittags unterrichtete die Polizeidirektion München den Innenminister, sie habe erfahren, daß die Unabhängigen für den 7. November „einen großen Schlag" planten.40 Man wird annehmen dürfen, daß auch Auer Vertrauensleute in der U S P D hatte. A n demselben Tag äußerte Müller-Meiningen im Gespräch mit Auer seine Bedenken wegen der für den nächsten Tag geplanten Kundgebung auf der Theresienwiese. A m Mittag des 7. November erhielten Paul Nikolaus Cossmann und Karl Alexander von Müller besorgniserregende Hinweise. Sie riefen beim Innenminister an und erfuhren, was Auer soeben gegenüber Dr. von Brettreich erklärt hatte: Eisner ist erledigt, Eisner wird heute nachmittag an die Wand gedrückt. Aber was heißt „er wird an die Wand gedrückt" ? Doch wohl, Eisner hat etwas vor, aber wir werden mit ihm fertig. Nur jemand, der kämpft oder zu kämpfen versucht, braucht an die Wand gedrückt zu werden. Auer hatte ja schon am 6. November bemerkt, er hoffe, Eisner werde keine eigenen Pläne verfolgen, wenigstens habe er das zugesagt. Damit war immerhin die Möglichkeit offengelassen, daß Eisner sein Wort brechen werde. E s ist also festzuhalten, daß sowohl die Regierung und das Militär als auch die SPD-Führung die Ankündigung der Revolution durch Eisner zur Kenntnis genommen hatten, wie es auch gar nicht anders möglich war. Wie ernst aber nahmen sie die Drohungen ? Man muß annehmen - ohne daß diese These quellenmäßig beweisbar wäre - daß Auer mit einem Putschversuch Eisners
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rechnete. So betrachtet bekommt auch die von Eisner verneinte Frage nach eigenen Absichten der Unabhängigen eine besondere, nämlich parteipolitischtaktische Bedeutung: Eisner würde seinen Revolutionsversuch unternehmen, er würde scheitern, „an die Wand gedrückt werden", wieder im Gefängnis sitzen und sein Rivale Auer würde anderntags in der Lage sein, ihn in der Wahlkampagne als wortbrüchigen Bankerotteur und Hochverräter hinzustellen. Gerade Auer verstand ja unter Politik die Kunst, „die eigenen Anhänger aufzupeitschen, den Gegner zu täuschen und hereinzulegen."41 Auer täuschte sich nicht so sehr über die Disziplin der sozialdemokratischen Massen - wie Viktor Naumann befürchtet hatte - denn diese Massen folgten wie immer der Führung. Er täuschte sich über den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit des monarchischen Staates. Militär und Polizeiverwaltung ihrerseits ließen sich nur zu gern von dem robusten Optimismus Auers überzeugen. Alle Beteiligten übersahen, daß die Zermürbung und die Friedenssehnsucht weitester Kreise eine der Revolution günstige Ausgangslage geschaffen hatten. Auer stammte aus kleinsten Verhältnissen in Niederbayern.42 Er wurde 1874 unehelich als Sohn einer Schwester des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Ignaz Auer geboren, der sich um seinen Neffen überhaupt nicht gekümmert zu haben scheint. Er war zunächst Landarbeiter, arbeitete sich mit Energie zum Kaufmann hoch, wurde Angestellter der Münchener Ortskrankenkasse, 1907 Landtagsabgeordneter und im Jahr darauf Sekretär des sozialdemokratischen Landesvorstandes. Bei bürgerlichen Schriftstellern und Historikern43 erfreut er sich bis in unsere Tage großer Wertschätzung, die allerdings von nicht wenigen älteren Sozialdemokraten - ebenfalls bis in unsere Tage - nicht geteilt wird.44 Hoegner bedauert Auers Neigung zu einer allzu hoffnungsfrohen Betrachtung der Dinge und zu Versprechungen, die er nachher nicht immer halten konnte. „ Z u dieser Eigenschaft mag seine Zuckerkrankheit beigetragen haben." 45 Der übermäßige Optimismus wird auch von Sendtner und MüllerMeiningen bemerkt,46 was Sendtner nicht hindert, von Auer als klarem Kopf und kühlem Rechner zu sprechen,47 während Müller-Meiningen den sozialdemokratischen Vorsitzenden für einen kühl und nüchtern denkenden Realpolitiker hielt.48 Müller-Meiningen zumindest scheint den Widerspruch zwischen beiden Urteilen nicht bemerkt zu haben. Nun steht „Realpolitiker" in diesen Urteilen konservativer und liberaler Autoren allerdings als Synonym für „Reformpolitiker". Auer war gegen den Umsturz, er wollte den Weg der allmählichen Entwicklung gehen, daher galt er ihnen als Realpolitiker. Analog angewendet, wird der Begriff immer
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einen Politiker bezeichnen, mit dessen Zielen der Urteilende zumindest teilweise einverstanden sein kann. Der Realpolitiker ist dann der politische Freund, womit diese Art des Urteilens ad absurdum geführt ist. Lenin war gewiß Revolutionär, aber in seiner Analyse der gegebenen Situation, in seiner Bereitschaft, unverantwortlich scheinende, aber schließlich doch reversible Zugeständnisse zu machen - Friede von Brest-Litowsk, Neue Ökonomische Politik - und damit das Sowjetregime zu retten, war er Realpolitiker von hohen Graden. Auer dagegen hat die für Eisner günstigen Stimmungen und die Schwäche des alten Regimes übersehen und daher zusammen mit diesem Regime sein Spiel verloren. Das Prädikat des Realpolitikers wird man ihm folglich nicht uneingeschränkt zusprechen können. Nach Auflösung des sozialdemokratischen Demonstrationszuges am Friedensengel ging Auer nach Hause.49 Eisners Revolutionsversuch war von den Mehrheitssozialdemokraten nicht bemerkt worden.60 Als dann am Erfolg des Eisner-Umsturzes kein Zweifel mehr bestehen konnte, bat Innenminister Dr. von Brettreich nachts zwischen zwölf und ein Uhr Auer zu sich. Der sozialdemokratische Parteiführer wies den königlichen Minister darauf hin, daß die Regierung nur noch in der Nacht Zeit habe, die Revolution zu unterdrücken, morgen sei es zu spät, da werde die sozialdemokratische Arbeiterschaft Mittel und Wege suchen müssen, wieder Ordnung zu schaffen. Brettreich erwiderte, es stünden ihm zur Zeit leider keine ausreichenden Machtmittel zur Verfügung, um den Umsturz niederwerfen zu können. Die Polizeimannschaft sei unzureichend und das Militär habe entgegen den Erwartungen und Zusagen der militärischen Stellen gänzlich versagt. Ob es dem Kriegsminister, der persönlich zu diesem Zwecke fort sei, gelingen werde, in der Nacht zuverlässige Truppen zu erreichen, „wisse er dermalen nicht, er hoffe es". 51 Tags darauf rief Minister von Brettreich Erhard Auer noch einmal zu sich. Bei dem Treffen gegen Mittag des 8. November waren außerdem die Minister von Dandl und Dr. von Knilling zugegen. Auer setzte die Herren in Kenntnis, daß Verhandlungen über die Bildung eines neuen Ministeriums für den Freien Volksstaat Bayern im Gange seien, die vermutlich zum Ziele führen würden. Für die Niederwerfung der Revolution durch die Regierung sei es zu spät.52 Die Denkschrift Brettreichs schweigt sich aus über die 500 Mann zuverlässiger Truppen, die Auer in der Revolutionsnacht erbeten oder nach denen er gefragt haben soll. Doeberl hat davon als erster gesprochen.53 Da er darauf bestehen blieb,64 obwohl Brettreich keinen schriftlichen Beleg liefert, bleibt nur die Schlußfolgerung, daß Doeberl die Information unmittelbar von Brettreich oder von einem möglichen dritten, nirgends erwähnten Gesprächsteil-
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nehmer erhalten hat. Wilhelm Hoegner ist der Ansicht, daß Auer die Frage nach den 500 Mann gestellt hat.56 Vermutlich hat sich die Sache etwa so abgespielt, daß Auer, sicherlich tief betroffen über den Fehlschlag seiner optimistischen Prognosen und Erwartungen, den Minister gefragt hat, ob denn um alles in der Welt nicht einmal mehr die 500 Mann aufzutreiben seien, die man brauche, um die Revolutionäre auszuheben und festzusetzen. Das Entscheidende an den Vorgängen ist, daß der führende sozialdemokratische Politiker in der Revolutionsnacht mit einem Minister der königlichen Regierung über Möglichkeiten sprach, den Umsturz doch noch zu vereiteln, daß er bis zum Mittag des 8. November mit den königlichen Ministern in Fühlung blieb und in die Regierung Eisner erst eintrat, nachdem er sich von dem sang- und klanglosen Abgang der alten Gewalten überzeugt hatte.66
I V . D I E S P D IN DER REVOLUTIONSREGIERUNG
Am Nachmittag trat der „provisorische Nationalrat des Volksstaates Bayern" zu seiner ersten Sitzung zusammen. Er rekrutierte sich zunächst aus dem in der vergangenen Nacht improvisiert gebildeten Münchener Arbeiter- und Soldatenrat, der sozialdemokratischen Landtagsfraktion, einigen Liberalen und einigen Bauernbündlern, darunter den mit Eisner befreundeten Brüdern Gandorfer. Der provisorische Nationalrat, mehr oder weniger eine Schöpfung Eisners, wählte Eisner zum Ministerpräsidenten.57 Von den Sozialdemokraten traten Johannes Hoffmann als stellvertretender Ministerpräsident und Kultusminister, Johannes Timm als Justizminister, Albert Roßhaupter als Minister für militärische Angelegenheiten und Auer als Innenminister in die Regierung ein. Bereits bei der Wahl der Regierungsmitglieder zeigten sich die divergierenden Kräfte, die später die Koalitionsregierung aus SPD und USPD an einer ersprießlichen Arbeit hinderten. Beim Vorschlag Eisners, Auer zum Innenminister zu machen, erhob sich Widerspruch. Eisner fing die Opposition geschickt ab mit dem Hinweis, die Wahl Auers solle zeigen, daß der Streit zwischen beiden Flügeln der sozialdemokratischen Partei der Vergangenheit angehöre. Anhänger Eisners haben später erklärt, Auer sei deshalb in die Regierung aufgenommen worden, weil er außerhalb für die Revolution gefährlicher gewesen wäre.68 Auer selbst nahm später ganz im Sinne seiner Freunde aus dem bürgerlichen Lager für sich in Anspruch, Chaos und Bürgerkrieg wären ohne seinen Eintritt unvermeidlich gewesen.69 Bei derselben Gelegenheit erinnerte er den radikalen Flügel der bayerischen Arbeiterräte daran,
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„was am 8. November vormittags vorgegangen ist". 60 E r spielte also auf seine Gespräche mit den königlichen Ministern an, die seinem Eintritt in die Regierung vorangegangen waren. Auf Eisners Seite war zweifelsohne für die Aufnahme der Mehrheitssozialdemokraten in die Regierung die politische Erkenntnis entscheidend, daß es ohne die SPD nicht gehen werde. Persönlich waren ihm Auer und Timm tief zuwider. Darüber gibt sein während der Untersuchungshaft 1918 entstandenes Gefängnistagebuch Aufschluß. 81 Über Timm schrieb er: „ E r war früher einer der mir liebsten Parteigenossen . . . ein durchaus zuverlässiger Charakter. Aber schon vor dem Krieg begann er sich ungünstig zu entwickeln. Dem Übermaß an zügellosem Alkoholgenuß konnte selbst seine robuste Natur auf die Dauer nicht mehr widerstehen. E r neigte zu Wutanfällen und nahm die komisch gespreizten Allüren eines Emporkömmlings an . . . und wurde immer unbedenklicher in seinen Mitteln. Ein Trauerspiel menschlichen Verfalls." 62 Über die Rolle Auers und Timms beim Januarstreik heißt es in derselben Quelle: „Die Herren Auer und Timm haben den Streik in geordnete Bahnen gelenkt, d.h. ins Leere. Der Herr v. Dandl hat ihnen mit Recht gedankt. Sie haben auch Forderungen gestellt. Das tun sie immer, tun aber zugleich alles, um zu verhindern, daß diese Forderungen durchgesetzt werden." 43 Aus einer Arbeiterversammlung am 21. Januar 1918 im Schwabingerbräu erinnerte sich Eisner: „Auer macht eifrig Notizen." 64 Dann verließen Auer und Timm das Versammlungslokal. Eisner zu seinen Anhängern: „Paßt auf, die gehen jetzt weg und hecken irgendeine Schiebung gegen uns aus; darauf verstehen sie sich. Ich kannte meine Pappenheimer." A m andern Tag sei der Mathäsersaal gefüllt gewesen, aber nicht von der Streikversammlung, die Eisner wünschte, sondern von einer Betriebsversammlung, zu der er nicht zugelassen war. 65 Seine Verhaftung führte Eisner auf die Machenschaften eines nicht namentlich genannten denunziatorischen, von der Polizei als glaubwürdig angesehenen Fälschers zurück, der seine Rede im Schwabingerbräu entstellt habe.66 „Ich wurde das Gefühl nicht los, als ob ich den schuftigen Denunzianten kennte und er mich." 67 Dem ganzen Zusammenhang nach kann kaum ein Zweifel bestehen, daß Eisner Auer für den Denunzianten hielt. E r war es ja auch gewesen, der im Schwabingerbräu „eifrig Notizen" gemacht hatte. Daß Auer erfolgreich bestrebt war, den Januarstreik so rasch wie möglich zu beenden, steht fest. Die Arbeitervertreter aus 36 Münchener Betrieben der Rüstungsindustrie faßten am 8. Februar 1918 einen Beschluß, in dem es unter anderem heißt: „Die Versammelten danken dem Landtagsabgeordneten Auer für sein entschlossenes Eingreifen beim Streik, wodurch es möglich wurde,
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wieder in geordnete Bahnen zu kommen."68 Dagegen gibt es keinen Beweis dafür, daß er Eisner gegenüber den Judas gespielt habe. Trotzdem wird in jüngster Zeit diese Ansicht etwas verklausuliert von Schade69 und SchulzeWilde70 vertreten. Was hier Wahrheit, was Irrtum ist, läßt sich nicht mehr aufklären. Wesentlich ist vor allem, daß Eisner jedenfalls der Meinung war, Auer habe ihn bei der Polizei denunziert, denn hier liegt eine der Ursachen für das fortwirkende Mißtrauen und die Abneigung, die er seinem späteren Ministerkollegen entgegenbrachte. Auer erwiderte Eisners Gefühle aufs herzlichste. Zwar erklärte er am 10. Dezember 1918, sein persönliches Verhältnis zu Eisner sei wieder so wie früher, „als wir Schulter an Schulter in der Partei gekämpft haben". 71 Und im Lindner-Prozeß bekundete er, eine persönliche Feindschaft habe bis zu den Auseinandersetzungen über den Rücktritt der Regierung im Februar 1919 nicht bestanden; trotz politischer Gegnerschaft sei eine gewisse gegenseitige Zuneigung vorhanden gewesen.72 Zeugnisse von Zeitgenossen sprechen indes eine andere Sprache. Max Peschel bekundet, Auer habe Eisner „gehaßt wie die Pest" 73 , nach den Worten Wilhelm Hoegners hegte Auer „grimmigen Haß" gegen Eisner, weil dieser die Evolution gestört habe.74 Solcher Art war die Atmosphäre in der revolutionären Regierung des Volksstaates Bayern in den vier Monaten von November 1918 bis Februar 1919.
V.
R E V O L U T I O N ODER R U H E UND O R D N U N G ?
Die Einstellung der Sozialdemokratie zur Revolution war von Anfang an zwiespältig. In weiten Kreisen der Mitgliedschaft hat es hochgespannte Erwartungen gegeben. Die Führung der Partei dagegen distanzierte sich sofort nach dem Erfolg des Eisner-Putsches von der Revolution. Auf Seite 1 der Münchener Post vom 8. November erschien in großer Aufmachung neben Eisners Aufruf an die Bevölkerung Münchens ein von Auer gezeichneter Aufruf der SPD Münchens an die organisierte Arbeiterschaft, wonach die gestrige Kundgebung sich „ohne unser Zutun" zu einem politischen Willensakt gesteigert habe, mit dem alle Teile der Bevölkerung rechnen müßten.75 Die Erklärung des späteren Münchener Oberbürgermeisters Eduard Schmid am 18. Dezember 1918, die Mehrheitspartei mit ihrer ganzen Kraft und die Gewerkschaften hätten sich hinter „die Sache" gestellt und sie mit herbeigeführt,76 ist dagegen als ein mißglückter Versuch zu werten, gegenüber der Mitgliedschaft nicht als bloße Revolutionsgewinnler und Mitläufer zu erscheinen.
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Was Eisner von den revolutionären Verdiensten der Sozialdemokraten hielt, hat er deutlich ausgesprochen. Ohnehin war ihm die SPD eine „riesige, unpolitisch ohnmächtige, öde, geistlose und verlogene Vereinsmeierei"," ein „grauenhaft aufgeblasenes, lärmendes Nichts, eine Karikatur des preußischen Kasernenstaates."78 Vor den Räten erklärte er, die Partei sei eigentlich seit jeher Gegner jeder revolutionären Aktion gewesen; er, Eisner, wundere sich gar nicht, wenn diejenigen, die innerlich Gegner der Revolution gewesen seien, auf der Grundlage der revolutionären Errungenschaften ihr altes Haus wieder aufbauen wollten.79 Bei anderer Gelegenheit warnte er vor Versuchen der Konterrevolution, sich wieder einzuschleichen und brandmarkte jene, die nichts gewagt und nichts geopfert hätten und heute dennoch versuchten, als Revolutionsgewinnler die alten Zustände wieder herzustellen.80 Auer ging auch in öffentlicher Rede nur soweit, die „geschichtliche Berechtigung" der Revolution anzuerkennen, in der sich die Massen den ihnen von den alten Gewalten verwehrten Anteil am staatlichen Geschehen selbst genommen hätten.81 Zugleich mahnte er aber, die Revolution sei nicht um ihrer selbst willen gemacht worden, „sondern um der besseren Zukunft willen, die wir schaffend aufbauen wollen. Hierzu bedarf es in erster Linie der Herstellung und Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in allen Teilen des Landes. Die Bande der staatlichen Ordnung dürfen nicht gelöst werden, soll nicht ein Chaos entstehen, in dem wir untergehen."82 Ruhe und Ordnung und Arbeit für den Wiederaufbau, das waren Auers ständig wiederholte Forderungen.83 Gustav Landauer rief in einer Auseinandersetzung mit Auer vor den bayerischen Arbeiterräten aus: „. . . Ruhe und Ordnung . . . jawohl, das wollt Ihr. Ihr habt eine Ahnung, was eine Revolution istl" 84 Landauer konnte von seinem Standpunkt aus mit Recht so sprechen, nur war eben Auer kein Revolutionär und er hat auch nicht behauptet, einer zu sein. Klassenhaß85 und Diktatur wollte er aus dem freien Volksstaat ausgeschlossen wissen, eine Diktatur, so sagte er, würde zum Verhängnis für das ganze Volk; mit demselben Recht, das die Diktatur der einen Seite für sich beanspruche, könnte sich, sobald die Voraussetzungen gegeben seien, dann wieder die Diktatur der anderen Seite in den Sattel setzen. Ohne Vertrauen könne keine Regierung wirken, Bajonette gingen unter Umständen auch durch die dickste Hose. Die früheren Herrschenden hätten sich auf Bajonette gestützt, in diesen Fehler sollten die Sozialisten nicht verfallen.86 Die Warnung Auers vor der Diktatur provozierte die gereizte Erwiderung Eisners, er wisse nicht, gegen wen sich diese Worte gerichtet hätten, ihm jedenfalls sei in Bayern keine Diktatur bekannt. Eisner unterstellte aber, Auer würde recht gern eine Diktatur seiner eigenen Richtung etablieren.87 Immerhin war es aber Eisner,
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der zehn Tage später vom „Terror der Wahrheit"88 sprach und von der Notwendigkeit, den bürgerlichen Geist aus der Politik auszuschließen.89 Das mußte nicht blutig ernst gemeint sein, es zeigte vielmehr, daß „Eisner had the sort of mind which conceived of political activity in terms of speeches and proclamations; this was to be characteristic of his entire Prime Ministry."90 Anders als er legte Auer das Hauptgewicht auf praktische Ergebnisse, gleichgültig, mit wem und wessen Hilfe sie erzielt wurden. In diesem Sinn war er doch Realpolitiker. So drückte er bereits in der ersten Sitzung des provisorischen Nationalrats am 8. November gegen die Opposition Karl Gandorfers durch, daß die christlichen Bauernführer Dr. Heim und Dr. Schlittenbauer zur Teilnahme eingeladen wurden.91 Ihnen traute er mehr als den Bauernbündlern erfolgreiche Bemühungen um die Ernährung der Städte zu. Er verlangte, daß mit der Arbeitskraft der landwirtschaftlichen Dienstboten pfleglich umgegangen werde,92 verschwieg aber nicht, (für die übrige Wirtschaft war der Achtstundentag inzwischen eingeführt) daß seines Erachtens der Achtstundentag in der Landwirtschaft „glattweg ein Ding der Unmöglichkeit" sei.93 In der Sozialversicherung dürften die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte nicht länger gegenüber den gewerblichen benachteiligt werden. Zur Förderung der Landwirtschaft im allgemeinen verlangte er, was heute Verbesserung der Infrastruktur heißt: Agrarwissenschaftliche Beratung, Ausbau der Verkehrswege, Zufuhrung von Wasser, Licht, Kraft 94 und außerdem den Ausbau des ländlichen Schulwesens von der guten Volksschule über die Fortbildungsund Fachschule bis zur landwirtschaftlichen Hochschule.96 Man wird sagen dürfen, daß der Sozialdemokrat mit manchen dieser Erkenntnisse anderen Politikern um Jahrzehnte, wenn nicht um ein halbes Jahrhundert voraus war.
V I . IM S T R E I T UM DIE R Ä T E UND M I T DEN R Ä T E N
Eisner hätte den Vorrang des geordneten Aufbaus vor der „Politik" nie in derselben Weise wie Auer absolut gesetzt. Er scheint gefühlt zu haben, daß eine rasche Stabilisierung der Verhältnisse, die Wiederherstellung des bürgerlichen Wunschbildes von Ruhe und Ordnung, den Weg zu einer neuen, lebendigen Demokratie,96 wie er sie verstand, abschneiden würde. Hier haben auch die Meinungsverschiedenheiten über das Thema Räte oder Nationalversammlung zwischen ihm und den führenden Politikern der MehrheitsSozialdemokraten ihre Ursache. In der ersten revolutionären Proklamation Eisners, dem Aufruf an die Bevölkerung Münchens in der Nacht vom 7. zum 8. November, ist der Satz
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enthalten: „Eine konstituierende Nationalversammlung, zu der alle mündigen Männer und Frauen das Wahlrecht haben, wird so schnell wie möglich einberufen werden." 97 Doch schon eine Woche später wurde in dem von Eisner verfaßten Regierungsprogramm der andere Ton angeschlagen, der von nun an Monate hindurch die Auseinandersetzungen begleitete. „In der inneren Politik Bayerns streben wir die rascheste Durchführung einer nicht nur formellen, sondern lebendig tätigen Demokratie an. Bevor noch die konstituierende Nationalversammlung, die so schnell wie möglich nach Erledigung der notwendigen Vorarbeiten einberufen werden soll, zusammentritt, muß diese Demokratisierung des öffentlichen Geistes wie der öffentlichen Einrichtung erreicht werden können." 98 Damit war die Erfüllung der Zusage aus der Revolutionsnacht mit so schweren Kautelen belastet, daß die herrschenden Träger der „lebendigen" Demokratie, die Räte-Organisationen, jederzeit erklären konnten, die Voraussetzungen seien noch nicht erfüllt. A m 17. November hörten die Teilnehmer der Revolutionsfeier im bisherigen Hof- und jetzigen Nationaltheater aus dem Munde des Ministerpräsidenten: „Wir verstehen unter Demokratie nicht, daß alle paar Jahre alle Bürger das Wahlrecht ausüben und die Welt regieren mit neuen Ministern und neuem Parlament. Wir, die wir eine neue Form der Revolution gefunden haben, wir versuchen auch eine neue Form der Demokratie zu verwirklichen. Wir wollen die ständige Mitarbeit aller Schaffenden in Stadt und Land." 99 Erste Auseinandersetzungen im Ministerrat über Räte und Parlament sind bereits fiir den 20. und den 27. November nachweisbar.100 A m 27. November erklärte sich Eisner gegen die sofortige Einberufung der Nationalversammlung. Die Räte seien jetzt eine vernünftige Einrichtung. Man könne sie nicht abschaffen, „sonst haben wir den Bolschewismus". Hier bereits wandte Eisner, wie in den kommenden Monaten noch häufig, die Methode an, „linke" Zugeständnisse unter der Drohung zu fordern, daß sonst der Radikalismus überhand nehmen werde. Ende des Monats bezog dann Eisner in zwei Ansprachen vor den Räten eindeutig Stellung gegen die Nationalversammlung. Von nun an galt ihm das Verlangen nach der Nationalversammlung als Gegenrevolution. „ . . . ich bin nicht im mindesten im Zweifel, daß es bereits heute weite Kreise gibt, die nur darauf warten, diese aus der Revolution geschaffenen Körperschaften des Volkes wieder zu beseitigen. Der Ruf nach der Nationalversammlung im Reiche wie in den Einzelstaaten ist nur dadurch diktiert, daß man hofft, durch die Nationalversammlung die unmittelbare lebendige Teilnahme der Massen wieder auszuschalten."101 Der Kampf gegen die aus den Volksmassen selbst herausgewachsenen revolutionären Organisationen manifestiere sich in dem Schrei nach der Nationalversammlung.102
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Dabei darf nicht übersehen werden, daß auch in Bayern - wie fast überall in Deutschland103 - die Mehrheits-Sozialdemokratie in der Rätebewegung dominierte.104 Ungeachtet dieses Sachverhalts war der Konflikt zwischen den führenden Leuten der SPD und der USPD im Kern nichts anderes als ein Streit um die Bewertung der Räte. Die Ansicht, die Gegensätze zwischen SPD und USPD seien „mehr taktischer als prinzipieller Art" gewesen,105 ist schon aus diesem Grunde irrig. Die Auseinandersetzung, ob die Räte - was der Meinung der Sozialdemokraten entsprach - beratende Körperschaften unter dem gewählten Parlament oder ob sie, wie Eisner dachte, „die Grundlage aller künftigen parlamentarischen Tätigkeit"106 sein sollten, ging doch wohl um eine grundsätzliche Entscheidung. Der bayerischen Sozialdemokratie war es - in Übereinstimmung mit der Gesamtpartei - darum zu tun, den Räten bestimmenden Einfluß auf die Exekutive zu verwehren. Diesen Standpunkt hat das Gesamtministerium geteilt. Die vorläufigen Richtlinien für Arbeiter- und für die Bauernräte vom 26. November 1918 107 bestimmen ebenso wie die Verordnung über Organisation und Befugnisse der Arbeiterräte vom 17. Dezember 1918, 108 daß den Räten Vollzugsgewalt nicht zustehe. Einen sinngleichen Beschluß faßte die sozialdemokratische Landeskonferenz vom 18./19. Februar 1919. 109 Im ganzen wird man sagen können, daß die sozialdemokratische Führung ihr Räteproblem zu lösen suchte, indem sie die Räte reichlich mit unwichtiger Arbeit eindeckte.110 So verfingen sich die Räte in Bayern - wie auch im übrigen Deutschland - in endlosem Kleinkram und hatten doch das Gefühl, revolutionäre Arbeit zu leisten. Aus den ersten Monaten der bayerischen Revolution liegen reichlich Klagen der Behörden über Eingriffe der örtlichen Räte vor, m solange aber vor der Ermordung Eisners eine Regierung bestand, hat sie darauf gesehen, daß Übergriffe alsbald korrigiert wurde. Die Behörden, des Rückhalts bei dem als Innenminister zuständigen Erhard Auer sicher, reagierten oft recht selbstbewußt. Vor den bayerischen Arbeiterräten erklärte Auer am 10. Dezember, er habe über 600 Telegramme hinausgehen lassen, in denen Beschlüsse von Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten aufgehoben wurden. Unter Äußerungen von Heiterkeit und Empörung beim größten Teil seiner Zuhörer nannte er einige Beispiele von Räteverfügungen, in denen entweder offensichtliche Mißwirtschaft vorlag oder privater Eigennutz örtlicher Rätevertreter befriedigt werden sollte.112 Nach der Festsetzung des Wahltermins traten die Gegensätze zwischen der Linken und den Männern um Auer offen zutage. Der Druck auf Eisner hatte während der letzten Tage ständig zugenommen.113 Auer drohte mit seinem Rücktritt.114 Eine für den 2. Dezember vormittag elf Uhr angekündigte Er-
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klärung des Ministerrats konnte nach zweimaliger Verschiebung erst um 17.20 Uhr vor den bayerischen Soldatenräten abgegeben werden. Darin stellte Eisner fest, die Volksregierung Bayerns werde ihr Versprechen einlösen, eine Nationalversammlung sobald wie möglich einzuberufen.115 Am 5. Dezember unterzeichneten dann alle Minister den Erlaß, der den Wahltermin auf den 12. Januar festlegte.116 Daß damit keine wirkliche Einigung erzielt war, zeigte sich an demselben Tag, als im Ministerrat ein Riesenkrach ausbrach. Er entzündete sich an einer Bemerkung Eisners, der Wahlausgang habe nicht mehr eine so große Bedeutung. Gegen den Münchner Arbeiterrat könne kaum noch agitiert werden. Das gäbe sonst eine zweite Revolution. Laut Protokoll erklärte daraufhin Timm: „Grundsätzlich anderer Meinung. Neben einer ordnungsgemäßen Vertretung kann nicht ein Arbeiterrat mit Maschinengewehren stehen. Das ist Anarchie ... Dann brauchen wir überhaupt keine Volksvertretung. Es gibt nur das eine oder das andere ... Unterliegen die freiheitlichen Geister, so müssen sie kraft ihrer Anschauung weiter wirken und zum Sieg bringen (sie). Die Minderheit mit Gewalt kann nicht herrschen..." Frauendorfer bezeichnete Eisner als Narren, Eisner beschuldigte seine Gegner, sie wollten die Räte abschaffen.117 Der Ministerpräsident blieb bei seiner Auffassung, daß es Aufgabe der Räte sei, die Nationalversammlung zu einer demokratischen und sozialistischen Politik zu zwingen.118 Die Argumente Eisners zeigen, daß er sich keine Hoffnungen auf einen günstigen Ausgang der Wahlen machte. Gegen eine Nationalversammlung, die sich zur Revolution positiv stellen würde, hätte er sich nicht zu wehren brauchen. Beyer sagt ganz unbefangen, Eisner habe sich bemüht, die Wahlen zur Nationalversammlung zu verhindern, weil er merkte, daß ihm die Massen entgegen seiner Erwartung nicht folgten. 119 Doch auch bei der SPD war man eher skeptisch, was den Ausgang der Wahlen vom 12. Januar betraf. Die Debatten in Ministerrat am 4. und 5. Dezember drehten sich unter anderem auch darum, ob man den Frauen das ihnen in der Nacht zum 8. November versprochene Wahlrecht geben solle, weil man voraussah, daß viele Wählerinnen unter klerikalem Einfluß entscheiden würden. Auer verlangte einen möglichst frühen Wahltermin, da jeder Tag ein Gewinn gegenüber dem Zentrum sei.120 Diese Auffassung spricht nicht gerade von Zuversicht darüber, wie die Wähler die Leistungen der Revolution honorieren würden. Auer wünschte, daß die geistliche Oberaufsicht über die Schulen noch vor den Wahlen aufgehoben werde. „Die Mehrheit ist dagegen, jedenfalls jetzt".121 Kultusminister Hoffmann hatte seine laizistische Kulturpolitik, die später seine
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Zusammenarbeit mit der Bayerischen Volkspartei so erschwerte, schon am 2. Dezember vor den Soldatenräten umrissen: Die Schule und der Staat müßten aus der Umstrickung durch die Kirche gelöst werden. Ohne etwas Gewalt werde es dabei nicht abgehen. „Die alte Schule wollte erziehen gehorsame Untertanen und fromme Christen. Die neue Schule soll erziehen freie Staatsbürger und gute Menschen." 122 Hier endlich einmal stimmten die Mehrheitssozialdemokraten mit Eisner überein.123 Die Verordnung, mit der die geistliche Schulaufsicht aufgehoben wurde, erging am 16. Dezember 1918. 1 2 4 Wären S P D und U S P D optimistisch gewesen, hätten sie bis nach den Wahlen warten können. Aber sie wollten nicht in die Lage kommen, als unterlegene Parteien einen so einschneidenden Schritt gegen den dann erklärten Mehrheitswillen zu tun. In der Nacht vom 6. zum 7. Dezember brach der aufgestaute Zorn der Linken gegen Auer durch. Ein Haufen Bewaffneter drang in seine Wohnung ein und erzwang unter vorgehaltener Waffe eine schriftliche Rücktrittserklärung, die anderntags mit Zustimmung Eisners widerrufen wurde. 125 Es war dieselbe Nacht, in der Radikale unter Führung Mühsams einige Zeitungsredaktionen in München besetzten. Weitere Hintergründe wurden am 10. Dezember deutlich, als August Hagemeister, der später in der Räterepublik eine Rolle spielte, vor den bayerischen Arbeiterräten Auer beschuldigte, er habe sich an einem Komplott zum Sturz Eisners beteiligt, deshalb sei man in seine Wohnung eingedrungen.126 Beweise wurden nicht beigebracht, die Angelegenheit erwies sich vielmehr als Windei voll revolutionärer Gerüchte,127 aber man konnte Auer wieder einmal seine Rolle beim Januarstreik und am 7. November vorhalten.128 Die Bedeutung jener Aussprache lag darin, daß sie ein weiteres Mal zeigte, wie die Stimmung gegen Auer im linksradikalen Lager war.
V I I . VERSCHÄRFTE GEGENSÄTZE
Ein Wahlbündnis zwischen der U S P D und der S P D kam nicht zustande.129 Eisner hätte es zweifellos gern gesehen. V o r dem provisorischen Nationalrat erklärte er am 18. Dezember, es wäre das Vernünftigste, wenn beide sozialistische Gruppen zusammengingen. Ein Angebot sei aber nicht gemacht worden, er hätte es sonst angenommen.130 Eduard Schmid hatte zuvor behauptet, Eisner habe ein Angebot Auers abgelehnt.131 Auer selbst stellte fest, andere USPD-Mitglieder hätten die Versuche zur Einigung vereitelt, zu der die Mehrheitssozialdemokraten und auch Eisner bereit gewesen seien.132 Seine Ausführungen haben einiges an Wahrscheinlichkeit für sich. E r konnte auf
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den Nürnberger Unabhängigen Schröder verweisen. Dieser hatte erklärt, die Nürnberger USPD wäre bereit gewesen, mit der MSP zusammenzugehen, wenn die „alte Partei" bekannt hätte, daß ihre Politik seit viereinhalb Jahren falsch gewesen sei und zum Zusammenbruch beigetragen habe. Schröder fügte hinzu, ihm selbst hätte auch das nicht genügt, er wäre mit einer Übereinkunft auf dieser Basis nicht einverstanden gewesen.133 Eisner jedenfalls versuchte, sich die Türen offenzuhalten, indem er darauf drang, im Wahlkampf auf Polemik gegen die Mehrheitspartei zu verzichten.134 In den beiden letzten Wochen vor den Wahlen folgte eine Krise der anderen. Die Bürgerwehr-AfFäre brachte den Zusammenhalt der Regierung Eisner in Gefahr. Das Ministerium war ohne verläßliche Truppen. „Was um die Jahreswende 1918/19 insgesamt in Bayern an staatlichen Machtmitteln bestand, läßt sich kaum klären." 135 Das Vakuum wurde von bürgerlichen Organisationen genutzt, die im Sinne Eisners unzweifelhaft konterrevolutionär waren. Schon am 20. November 1918 wandte sich Kommerzienrat Zentz, der dann während der Kahr-Zeit in den vaterländischen Verbänden eine Rolle spielte, zusammen mit einem Redakteur Baumgärtner an eine Reihe von Münchener bürgerlichen Vereinen.136 Ziel war es, einen „Ordnungsbund der Münchener Bürger" zu gründen. Zwei Wochen nach der Revolution war das Schreiben so vorsichtig geha'ten, daß die Initiatoren auf etwaige Vorwürfe hätten antworten können. Doch die Person des Kommerzienrates Zentz und die Zusammensetzung des geplanten „Ordnungsbundes" lassen wenig Zweifel daran, daß es sich hier um einen vermutlich ersten Versuch handelte, gegenrevolutionäre Kräfte überhaupt einmal zu organisieren und sie unter dem Firmenzeichen einer Hilfstruppe der Regierung ins Spiel zu bringen. Am 3. Dezember 1918 wurde ein „streng überparteilicher" Bayerischer Bürgerblock als Vertretung bürgerlicher Interessen aus der Taufe gehoben.137 Rudolf Kanzler ging noch in demselben Monat daran, Männer und Waffen für die Beseitigung der Revolution zu sammeln.138 Am 27. Dezember erschien ein Aufruf für die Bildung einer Bürgerwehr. Unter den Initiatoren waren Dr. Rudolf Buttmann, der sich später den Nationalsozialisten anschloß, ferner der alldeutsche Verleger Dr. Lehmann und der spätere völkische Justizminister Dr. Roth. Der Aufruf trug die Unterschriften Auers, Timms und des sozialdemokratischen Staatsrates Dr. Sigmund Freiherrn von Haller.139 In dem Text hieß es: „Zum Schutze von Leben und Eigentum gegen Gewalttätigkeit ist die hiesige Schutzmannschaft verstärkt und sind Sicherheitstruppen aufgestellt worden. In der Annahme jedoch, daß das Bürgertum im
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weitesten Sinne sich nicht nur von anderen in dieser drangvollen Zeit beschützen lassen will, sondern gemäß der Aufforderung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner zur freiwilligen Mitarbeit aller bereit ist, auch bei der Erfüllung dieser zur Zeit notwendigsten Aufgabe mitzuwirken und zu diesem Zwecke die jetzt bestehende Staatsform gegen jeden Angriff zu verteidigen, rufen die Unterzeichneten zur Schaffung einer Bürgerwehr auf.. ," 140 Es ist kaum anzunehmen, daß die drei sozialdemokratischen Unterzeichner des Aufrufs die politischen Ansichten und Ziele der Initiatoren nicht gekannt haben sollen. Immerhin war es Auer, der darauf bestand, auch den Schutz der gegenwärtigen Staatsform unter den Aufgaben der Bürgerwehr zu nennen.141 Er hatte also das Fehlen eines solchen Satzes bemerkt, und er wird sich seine Gedanken über die Gründe gemacht haben. In derselben Ministerratssitzung entschuldigte sich Auer etwas schwach, er sei von Buttmann über die geplante Stärke der Bürgerwehr getäuscht worden. Weiter wies er darauf hin, er werde seit längerer Zeit verfolgt und habe hauptsächlich dazu beitragen wollen, daß die Wahl ordnungsgemäß vor sich gehen könne. Er bot seinen Rücktritt an. Eisner, Finanzminister JafFe, Hoffinann und Timm waren dafür, daß die Regierung beieinander bleibe, der Sozialminister Unterleitner (USPD) dagegen forderte den Rücktritt von Auer und Timm. Er sagte, ein Arbeiter dürfe nicht zulassen, daß Bürger bewaffnet werden. Eisner warf Auer Handeln hinter dem Rücken der Regierung vor, forderte die öffentliche Zurückziehung der Unterschriften, erklärte sich aber bereit, Auer und Timm im provisorischen Nationalrat zu verteidigen. Daß Auer das Haupt der Gegenrevolution im Ministerium sei, diese Meinung bringe man allerdings aus den Leuten nicht mehr hinaus. Auf dieser Basis wurde die Regierung gerettet. Auer, Timm und Haller zogen ihre Unterschriften unter dem Vorwand zurück, daß sie den wahren Charakter der Bürgerwehr zu spät erkannt hätten.142 Als am 30. Dezember im provisorischen Nationalrat eine Interpellation Toller und Genossen143 wegen der Bürgerwehr-Angelegenheit erörtert wurde, stellte sich Eisner vor seine Ministerkollegen. Er erklärte, 1. der Ministerrat lehne die Schaffung einer Bürgerwehr ab, 2. er bedauere deshalb, daß einzelne Mitglieder unter irrigen Voraussetzungen ihre Unterschrift gegeben hätten, 3. seien die Minister einig, gegen jede Gefährdung der revolutionären Errungenschaften mit allen Mitteln einzuschreiten.144 Hatte er im Ministerrat gesagt, man werde die Ansicht, Auer sei das Haupt der Gegenrevolution in der Regierung, aus den Leuten nicht mehr hinausbringen, so versicherte er vor dem Nationalrat: es gebe nicht den Schatten eines Beweises, daß jemand im Ministerium Konterrevolution betreibe. „Wir sind Sozialisten, Demokraten, Revolutionäre, alle zusammen."145
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Auer selbst nannte vor dem Nationakat die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und die Sicherung der Wahl als seine Motive. Er habe an die Bedingung geglaubt, daß die Bürgerwehr keine konterrevolutionären Mitglieder haben und daß sie keine konterrevolutionäre Tätigkeit entfalten werde, er habe auch bei Leistung der Unterschrift nicht gewußt, daß die Bürgerwehr bereits tätig gewesen sei und bezeichnete sich schließlich als düpiert.146 Ein brillantes politisches Selbstzeugnis hat er sich damit jedenfalls nicht ausgestellt. Der Plan scheiterte nicht nur am Widerstand der Räte und der USPD, auch die Sozialdemokratie selbst war nicht bereit, Auer und Timm auf ihrem Weg zu folgen. Hoffmann stellte im Ministerrat am 29. Dezember fest, „die Partei" habe die Gründung der Bürgerwehr verworfen.147 Vor dem provisorischen Nationalrat distanzierte sich Militärminister Roßhaupten148 Eduard Schmid gab die entsprechende Erklärung namens der ganzen sozialdemokratischen Fraktion ab.149 War auch die SPD mit Eisner nicht einverstanden, so billigte sie doch nicht das Bündnis mit Revolutionsgegnern. Zu diesem Schritt fand sie sich erst bereit, als es dreieinhalb Monate später keine andere Möglichkeit mehr gab, die Münchener Räterepublik zu unterdrücken. Die Ausschreibung der Landtagswahl und die Bürgerwehr-Affäre verschärften die Frontstellung der radikalen Kräfte gegen die führenden Sozialdemokraten. Im Ministerrat beschwerte sich Timm, daß ein Matrose bei der Prüfung seiner Einlaßkarte zum Ministerium des Äußeren gesagt habe: „So, Sie sind der Timm". Auer erhielt die Bemerkung: „Sie werden erschossen, wir haben das schon beschlossen." Eisner erklärte sich bereit, mit den Soldaten darüber zu „verhandeln" und ihnen seine „Mißbilligung" auszusprechen.150 Anfang 1919 versuchte Eisner, sich der wachsenden radikalen Strömung entgegenzustellen. Zusammen mit dem Ministerrat beschloß er am 9. Januar, daß künftig alle vom Arbeiter- und Soldatenrat nicht vorher beratenen und beschlossenen Demonstrationen verboten sein sollten. Zugleich kam man überein, die Anführer einer für den nächsten Tag geplanten Demonstration gegen die Wahl der Nationalversammlung - darunter den Kommunisten Levien und die Anarchisten Landauer, Mühsam und Sontheimer - verhaften zu lassen.181 Gründe für die Maßnahmen waren die wachsende öffentliche Unsicherheit und eine Schießerei am 7. Januar, bei der es zwei Tote und vier Schwerverletzte gegeben hatte. Doch die Verhaftung endete mit einem Fiasko. Die Linke demonstrierte, die Sicherheitstruppen versagten kläglich. Eisner wurde gezwungen, der Freilassung der Verhafteten zuzustimmen, andernfalls hätte es, wie er behauptete, vor seinem Amtssitz 50 bis 60 Tote gegeben.152
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Die Wahl am 12. Januar 153 endete mit einer Niederlage für Eisner und die USPD, die in diesem Ausmaß wohl niemand vorausgesehen hatte. Sie brachte es mit rund 86000 Stimmen auf 2,5% und erhielt drei Sitze im Landtag. Die SPD erreichte mit 1,12 Millionen Stimmen 33% und 61 Mandate, der Bauernbund 310000 Stimmen ( = 9,1%) und 16 Sitze. Damit waren die Parteien, die die revolutionäre Bewegung unterstützt hatten, unter 45% geblieben. Im Landtag hielten sie 80 von 180 Mandaten. Die Bayerische Volkspartei gewann 35% der Stimmen und 66 Sitze, die Konservativen brachten es mit 5,8% auf neun Sitze und die Liberalen mit 1 4 % auf 25 Sitze. Die Opposition hatte zusammen 100 von 180 Sitzen und fast 5 5 % der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten.164 Hatten schon die Zwischenfälle vom 10. Januar die Stellung Eisners schwer erschüttert, so war sie nun hoffnungslos. Die Sozialdemokraten machten keine Miene mehr, ihm entgegenzukommen. Die erneuten Versuche einer Einigung beider sozialdemokratischer Richtungen wies sie ab.165 Auer ließ keinen Zweifel daran, daß Eisner einer parlamentarisch legitimierten Regierung nicht angehören werde, weder als Ministerpräsident, noch als Minister.156 Damit trieb er Eisner, der sich mit dem Ende seiner Führungsrolle nicht abfinden wollte, noch mehr an die Seite der Räte. Auer und die SPD erzwangen schließ ich das Einverständnis Eisners mit dem bedingungslosen Rücktritt sämtlicher Minister.167 Auer ersparte dem Ministerpräsidenten nicht eine letzte Demütigung, indem er ihm einen Gesandtenposten anbot.168 Wie die Räte auf ihre Entmachtung durch den Landtag und die parlamentarische Regierung schließlich reagiert hätten, ist eine offene Frage. Eine friedliche Lösung des Konfliks war noch immer möglich. Unmöglich wurde sie erst durch die Mordtat des Grafen Arco. Von ihr führt eine direkte Linie zu den Räterepubliken des April und weiter zur Gegenrevolution der Kahr-Zeit.
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ANMERKUNGEN
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ZU:
Peter Kritzer, D i e S P D in der bayerischen Revolution v o n 1918 Erdmann, Weltkriege, S. 75 ff. Unter „Sozialdemokratie" wird in diesem Beitrag immer die Mehrheits-Sozialdemokratie (SPD, MSPD, MSP) verstanden, im Gegensatz zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD, USP). 8 MP Nr. 240 v. 14. Oktober 1918; MNN Nr. 519 v. 14. Oktober 1918. * Schade, Eisner, S. 50; MP Nr. 241 v. 15. Oktober 1918. 6 Nr. 521/1918. 6 Vgl. Bosl, Gesellschaft und Politik in Bayern, S. 10. 7 AStAM MInn 66269, s 8 Ebd. S. 11. 9 Vgl. MUller{-Meinigen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 148. 10 Brettreich-Denkschrift, S. 11 f. 1 1 München-Augsburger Abendzeitung Nr. 538 v. 2}. Oktober 1918; Donau-Zeitung, Passau, Nr. 481 v. 21. Oktober 1918. 12 Doeberl, Sozialismus, S. 24; vgl. Mitchell, Revolution, S. 7 3 f. 13 Müller^Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 45. 14 Niederschrift im AStAM MInn 54199. 16 MP Nr. 257 v. 4. November 1918. 16 BSZ Nr. 256 v. 3. November 1918; Doeberl, Sozialismus, S. 142. 17 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten, Stenographische Berichte, X X . Band, Nr. 494, S. 95 f. 18 Schade, Eisner, S. 51; Mitchell, Revolution, S. 65. 18 Schade, Eisner, S. 51. 20 Müller^Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 27; Attentate, S. 6. 21 Fechenhach, Eisner, S. 39; Herzog, Menschen, S. 61. Herzog in Einzelheiten allerdings äußerst unzuverlässig. 22 Fechenbach, Eisner, S. 36; Attentate, S. 6; AfÄ//er(-Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 29. Wie Müller(-Meiningen) berichtet, hat Eisner eine derartige Bemerkung auch am 2. November im Löwenbräukeller gemacht. 28 Eisner, neue Zeit I, S. 82. 24 Schulze-Wilde, Ein Toter, S. 38ff., S. 41. Beweise für seine Thesen bietet der Verfasser nicht an. Er sucht vielmehr, die Revolutionsvorbereitungen Eisners wegzudiskutieren und alles Felix Fechenbach in die Schuhe zu schieben. Das Bild Fechenbachs als Eisners böser Geist hat eine nunmehr 50 J ahre alte, noch immer recht lebendige Tradition. 25 Dies zeigt unter anderem ein als „streng geheim" bezeichnetes Schreiben der Stadtkommandantur München an das Stellvertretende Generalkommando des I. Armeekorps v. 4. November 1918 übet „Maßnahmen bei Unruhen": StA f. Obby. Staatsanwaltschaft München I, Fase. 95 Nr. 1695. Sehr aufschlußreich in diesem Zusammenhang auch die Brettreich-Denkschrift. 26 Niederschrift im GStAM, MA 1025. 27 MP Nr. 258 v. 5. November 1918; MNN Nr. 560 v. 5. November 1918; Attentate, S. 6. 28 Attentate, S. 6. 29 Müller, Mars und Venus, S. 263. 30 Naumann, Dokumente, S. 411. 81 Ebd. S. 410. 82 Attentate, S. 7; Schade, Eisner, S. 57. 1
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MP Nr. 261 y. 8. November 1918; vgl. Attentate, S. 7f. MNN Nr. 563 v. 7. November 1918. 35 Af«!i//ir(-Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 31. 36 Brettreich-Denkschrift, S. 28. 37 Müller, Mars und Venus, S. 265. 38 Naumann, Dokumente, S. 41 x. 38 Genaue Darstellung der Abläufe bei Mitchell, Revolution, S. 80-87. 40 Brettreich-Denkschrift, S. 26. 41 Hoegner, Außenseiter, S. 17. 4a Biographische Daten bei: Zils, München in Selbstbiographien, S. 9f. Diese Biographie übernimmt Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 57fr.; leicht abgewandelt und in propagandistischer Absicht ergänzt, erscheint sie in: Auer, Das neue Bayern, S. 68 ff. 43 So Hofmiller, Revolutionstagebuch, S. 37; Thoma, Ein Leben in Briefen, S. 352; Müller, Mars und Venus, S. i 4 i f . ; Sendtner, Rupprecht, S. 393. 44 Gespräche mit dem ehemaligen Sekretär des SPD-Unterbezirks München, Herrn Rolf Reventlow, am 1. März 1966, Frau Else Reventlow am 14. Juni 1966 und mit dem ehemaligen Direktor der Landesversicherungsanstalt Oberbayern, Herrn MaxPeschel, am 10. Dezember 1966. Auers Rolle bei der Revolution wirkt hier ebenso nach wie die auch von Ministerpräsident a.D. Dr. Wilhelm Hoegner (Gespräch am 30. Januar 1967) verbürgte Tatsache, daß Auer, nach dem Attentat im Landtag verwundet in der Klinik des Professors Sauerbruch liegend, dem ebenfalls schwer verletzten Eisner-Attentäter Graf Arco einen Blumenstrauß übersandte. Peschel verübelt Auer den „absoluten Drang Zur Herrschaft in der Partei" und die Neigung, jede abweichende Meinung als kommunistisch zu verdächtigen. Von Auer eine Ansicht nicht nur in kleinen parteitaktischen, sondern auch in theoretischen Fragen zu hören, sei unmöglich gewesen. Der ehemalige Vorsitzende der bayerischen SPD, Waldemar von Knoeringen (Gespräch am 30. Januar 1967), beurteilt Auer positiver, räumt aber ebenfalls ein, daß er kein Theoretiker gewesen sei. 45 Hoegner, Außenseiter, S. 17. 46 Sendtner, Rupprecht, S. 393f.; Mti/ler(-Memingen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 31. 47 Rupprecht, S. 393. 48 Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 89. 49 Sendtner, Rupprecht, S. 376. 80 Dies geht aus Gesprächen hervor, die der Verfasser dieses Beitrags am 18. Juli 1966 und am 29. Januar 1967 mit Herrn Carl Dittrich, München, führte. Carl Dittrich war als jugendlicher Anhänger Eisners mit dem Zug der Revolutionäre gegangen, sein Vater Hermann Dittrich, Münchener SPD-Stadtrat, war mit zum Friedensengel marschiert. Als Vater und Sohn spät abends wieder zusammentrafen, glaubte Hermann Dittrich der Mitteilung seines Sohnes über den Ausbruch der Revolution nicht. Er, Hermann Dittrich, sei doch mit der Masse der Kundgebungsteilnehmer zum Friedensengel gezogen, man habe sich aufgelöst, und es sei weiter nichts geschehen. 61 Brettreich-Denkschrift, S. 34. 52 Ebd. S. 35. 53 BSZ Nr. 38 v. 8. Februar 1919. 84 Doeberl, Sozialismus, S. 170fr.; vgl. Doeberls Aussage im Lindner-Prozeß in: Attentate, S. 81 f. 58 Hoegner, Republik, S. 33. Vorsichtiger formuliert er im „Außenseiter", S. 17. In der Unterredung am 30. Januar 1967 bezeichnete er es als glaubhaft, daß Auer versucht habe, 500 Mann gegen Eisner aufzutreiben. 56 Naumann, Dokumente, S. 412, berichtet, Auer habe wenig Neigung gezeigt, mit den EisnerLeuten zu verhandeln; er, Naumann, habe ihm aber zugeredet, in die Regierung einzutreten, damit auch „geordnete Elemente" in ihr säßen. 57 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 1, S. 3 f. 58 Attentate, S. 48. 88 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 196. 60 Ebd. S. 196. 61 StA f. Obby., Staatsanwaltschaft München I 99 1720. 34
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Ebd. S. iof. Ebd. S. 26. 84 Ebd. S. 7. 18 Ebd. S. 8. 84 Ebd. S. 21. 8 ' Ebd. S. 22. 88 MP Nr. 34 v. 9. Februar 1918. 88 Eisner, S. 47 und Fußnoten 76 und 77 auf S. 119. 70 Ein Toter, S. 33. 71 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 196. 72 Attentate, S. 74. 78 Gespräch am 10. Dezember 1966. 74 Gespräch am 30. Januar 1967. 75 Nr. 261. 76 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 5, S. 127. 77 Gefängnis-Tagebuch, S. 7. 78 Ebd. S. 8. 78 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 132. 80 Eisner, neue Zeit I, S. 62. 81 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 2, S. 13. 88 Auer, Das neue Bayern, S. 41 f. 83 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 2, S. 12-22; Nr. 5, S. 144; Beilagenband, S. 25, S. 134. 84 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 198. 88 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 2, S. 14. 84 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 24f. 87 Ebd. S. 47. 88 Ebd. S. 133. 89 Ebd. S. 131. 90 Mitchell, Revolution in Bavaria (amerikanische Ausgabe), S. 154. 81 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 1 , S. 4f. 88 Ebd. Nr. 2, S. 17. 88 Ebd. S. 16. 84 Ebd. S. 18. 85 Ebd. S. 20. 88 Eisner, neue Zeit I, S. 29, 33, 118. 87 Ebd. S. 5; Huber, Dokumente HI, S. 16. 88 Eisner, neue Zeit I, S. 23. 89 Ebd. S. 3 3 f. 100 G S t A M , M A 99512. 101 Eisner, neue Zeit I, S. 41. 102 Ebd. S. 62 f. 108 Tormin, Rätediktatur, S. 57, 92f. 104 Beyer, Novemberrevolution, S. 50. Eisner verriet in einer Rede vor den bayerischen Soldatenräten seinen Ärger darüber: neue Zeit I, S. 71. 106 Schade, Eisner, S. 41; vgl. Tormin, Rätediktatur, S. 71. 104 Eisner, neue Zeit I, S. 41. 107 B S Z Nr. 267 v. 28. November 1918. 108 B S Z Nr. 29J v. 19. Dezember 1918. 108 MP Nr. 42 v. 20. Februar 1919; Attentate, S. 19. 110 Vgl. Mitchell, Revolution, S. 138. 111 AStAM, MInn 54190, 54199, 54202, 54203, 54208. m Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 196 f. 83
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Mitchell, Revolution, S. 144; Attentate, S. 10; Dirr, Auswärtige Politik, S. 25$. Mitchell, Revolution, S. 145. 115 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 88. 118 GVB. Nr. 84 vom 14. Dezember 1918, S. 1255t 117 GStAM, MA 99512. 118 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 133. 119 Beyer, Novemberrevolution, S. 27; ähnlich, aber weniger direkt, S. 28. 120 GStAM, MA 99512. 121 Ministerrat vom 9. Dezember, GStAM, MA 99512. 122 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 99 f. 123 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 2, S. 10. 124 GVB. Nr. 86 vom 21. Dezember 1918, S. 1275 f. 125 Mitchell, Revolution, S. i5of.; Attentate, S. 11 f. 128 Verhandlungen Nationalrat, Beilagenband, S. 185. 127 Ebd. S. 195-205. 128 Ebd. S. 203. 129 Schade, Eisner, S. 79. 130 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 5, S. 133. 181 Ebd. S. 131. 182 Ebd. S. 141. 188 Ebd. S. 135. 184 Ebd. S. 133; Brief Eisners an die Münchener USPD, Entwurf vom 21. Dezember, GStAM. M A I 986. 136 Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt, Die Niederwerfung, S. 4. 136 Das Rundschreiben liegt zusammen mit einer Visitenkarte von Zentz bei der persönlichen Korrespondenz Eisners im GStAM, MA I 987. Der Ordnungsbund sollte eine Organisation freiwilliger Hilfskräfte aufstellen, die auf Anforderung der Behörden und des Arbeiter- und Soldatenrats für Maßnahmen zu Gunsten von Ruhe und Ordnung tätig werden sollten. 187 Kanzler, Bayerns Kampf, S. 70 f. 188 Ebd. S. 10. 189 Einzelheiten bei Mitchell, Revolution, S. 172-178. 140 Zitiert nach Beyer, Novemberrevolution, S. 146. 141 Erklärung Auers im Ministerrat am 29. Dezember, GStAM, MA 99512. 142 Die bayerische Sozialdemokratie, S. 36. 148 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 7, Text der Interpellation mit Begründung S. 186-191. 144 Ebd. S. 224. 145 Ebd. S. 228. 148 Ebd. S. 193 f. 147 GStAM, MA 99512. 148 Verhandlungen Nationalrat, Stenographische Berichte Nr. 7, S. I94f. 149 Ebd. S. 20!. 160 Ministerrat vom 31. Dezember, GStAM, MA 99512. 161 GStAM, MA 99513. 162 Ministerrat vom 11. Januar, GStAM, MA 99513. 153 Die Pfalz wählte erst am 2. Februar, ihre Ergebnisse sind hier bereits berücksichtigt. 154 Zahlen zum Wahlausgang: Zeitschrift des Bayerischen Statistischen Landesamts, 53. Jahrgang, München 1921, S. 383f; Amtliches Handbuch des Bayerischen Landtags, München 1920, S. 17-27. 155 BSZNr. 16 v. 17. Januar 1919; MPNr. 14 v. 18. Januar i9i9;MNNNr. 26 v. 17. Januar 1919; Attentate, S. 15; Die bayerische Sozialdemokratie, S. 17 f. 158 Die bayerische Sozialdemokratie, S. 172 f. 157 Attentate, S. 73f.; Mitchell, Revolution, S. 236. 158 Attentate, S. 71, S. 73; Doeherl, Sozialismus, S. 52. 114
HEINRICH
HILLMAYR
München und die Revolution von 1918/1919* Ein Beitrag zur Strukturanalyse von München am Ende des Ersten Weltkrieges und seiner Funktion bei Entstehung und Ablauf der Revolution Der vorliegende Beitrag zur Geschichte der revolutionären Ereignisse in München 1918/19 soll keine Erweiterung sein der vielfältig erschienenen Literatur zum Problemkreis der politischen Vorgänge in Bayern. 1 Ich will vielmehr versuchen, die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Situation in München zu dieser Zeit aufzuzeigen und zugleich die Rolle der Landeshauptstadt beim Revolutionsgeschehen näher zu beleuchten. Um im Rahmen des vorliegenden Buches auch einen Abriß des politisch wichtigen Geschehens bis zum Umsturz zu geben, soll dazu ein knapper allgemeiner Überblick skizziert werden, aber nur bis zum 7-/8. November 1918 und ohne auf die einzelnen Vorgänge genauer einzugehen.2 Die Problemstellung bedingt natürlich, daß einzelne wesentliche Züge der Revolution, ihrer Entstehung und Entwicklung, wie z.B. die führenden Persönlichkeiten der Münchner Revolutions- und Rätezeit, der Ablauf der politischen Ereignisse, die einzelnen agierenden Gruppen und Parteien und deren politische Vorstellungen auf dem Gebiete der Innen- und Außenpolitik, die besondere Situation Bayerns bei Kriegsende mit den daraus sich ergebenden Schwierigkeiten nur unter den mir für die Themastellung wichtigen Gesichtspunkten behandelt werden. Ausgehend von den geographischen Bedingungen eines überschaubaren Wirtschafts- und Lebensraumes soll der wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Status Münchens in den turbulenten Monaten vor und nach dem Umsturz vom 7-/8. November als ein Hintergrund für den Ablauf der politischen Ereignisse3 dargestellt und zugleich die Funktion herausgehoben werden, die München innerhalb seines Einzugbereiches in diesem Zeitraum wahrnimmt. Um die Situation klar und eindringlich schildern zu können, läßt es sich leider nicht vermeiden, in dieser Untersuchung eine ganze Reihe von Details aus den bezeichneten Sachgebieten anzugeben.
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Die geographische Begrenzung des Themas auf München und seinen Einflußbereich ist, wie sich zeigen wird, für den Gesamtablauf der Revolution in Bayern nur von untergeordneter Bedeutung, denn nach der Umsturznacht durchlief Bayern eine weitgehend vom Reich isolierte Sonderentwicklung und innerhalb dieser spielte München für die Revolution die entscheidende Rolle.4 Die Beschränkung auf eine Kleinstruktur bringt zudem den Vorteil mit sich, daß unerwünschte Ungenauigkeiten und Verallgemeinerungen in der Beurteilung vermieden werden können und die wesentlich meinungsbildenden Faktoren für die einzelnen sozialen Gruppen, die ja mitunter gebietsmäßig stark differenziert sind, entsprechend deutlich hervortreten.5 Einer weiteren kurzen Klärung bedarf meiner Meinung nach noch der Gebrauch des Terminus Revolution für die Ereignisse vom November 1918 bis zum Mai 1919. Wenn man mit Th. Schieder® unter Revolution eine politisch-soziale Totalumwälzung7 verstehen will, dann wird man die Vorgänge vom 7-/8. Nobember in München nicht als Revolution bezeichnen können. Betrachtet man aber das Geschehen von Anfang November 1918 bis zur Niederwerfung der Räteherrschaft im Mai 1919 als Gesamtkomplex, dann ist für diese Zeitspanne der Begriff Revolution anwendbar, denn hier wird zumindest versucht, „die gewaltsame Erlangung der staatlichen Entscheidungsgewalt unter Einbeziehung einer Strukturveränderung der gegebenen Gesellschaftspyramide"8 zu verwirklichen. Für die Revolution ohne Blut und Tränen9 vom November 1918 dürfte der neuzeitliche Revolutionsberiff10 nicht sehr geeignet sein.u Mein Beitrag wird sich deshalb auf die gesamte Zeitspanne von November 1918 bis Mai 1919 beziehen,12 wie auch in der Rückschau auf die Revolutionsereignisse vielfach der Gesamtkomplex gesehen wird.13 In diesem Zusammenhang ist interessant, daß in den ersten Aufrufen von Auer, Eisner14 und der provisorischen Regierung15 nach dem Umsturz das Wort Revolution vermieden wird und nur Ausdrücke wie politischer Willensakt, elementare Bewegung, Umwälzung und unvermeidbare Umwandlung gebraucht werden.16 Neben der Bezeichnung „Weltstadt mit Herz" und „Deutschlands heimliche Hauptstadt" haben spitze Zungen in den letzten Jahren München17 das Attribut „Millionendorf" verliehen. Wenn dieser Ausdruck auch im Laufe der Jahre immer mehr seine Bedeutung für eine Charakterisierung Münchens verliert, so beinhaltet er doch gerade für die Zeit der Revolution zwei überaus wichtige Tatsachen, nämlich die Lage Münchens in einem zum Großteil agrarischen Umland und seine engen Beziehungen zu diesem. Die Besitzverteilung in diesem bäuerlichen Umland ist dabei, wie sich noch ergeben wird, von einiger Bedeutung. Von der landwirtschaftlich genutzten Fläche
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Bayerns werden 1907 etwa 6 5 % von Klein- und Mittelbauern bewirtschaftet, 28,9% von Großbauern, 3 , 9 % der Fläche nehmen die Parzellenbetriebe unter 2 ha ein und nur 2 , 2 % gehören zum Großgrundbesitz.18 Die Agrarstruktur Bayerns zeigt also vor dem ersten Weltkrieg ein Überwiegen des kleinen und mittleren Bauernstandes. Wenn zwar auch 5 5 % der Betriebe im rechtsrheinischen Bayern unter j ha Fläche besitzen, so sind in diesen Betrieben doch nur 1 7 , 4 % der landwirtschaftlich Erwerbstätigen. Alle übrigen haben neben diesem ihren Betrieb eine andere Erwerbsquelle und sind dadurch für ihren Lebensunterhalt nicht allein an den eigenen Besitz gebunden.19 Eine weitgehende Proletarisierung ist bei dieser Struktur der Besitzverhältnisse für den untersuchten Zeitraum kaum zu erwarten. Mit diesem ländlich-bäuerlichen Siedelraum, der es umgibt, ist München enger verbunden und verwachsen, als man das analog für irgendeine andere deutsche Großstadt sagen kann.20 Diese spezielle Eigenart Münchens ist nicht zuletzt das Ergebnis geschichtlicher, wirtschaftlicher und geographischer Eigentümlichkeit. Als Residenz- und Hauptstadt war München das Zentrum der wichtigsten politischen, verwaltungstechnischen und kulturellen Einrichtungen des Landes. Diese Tatsache hat für ihre wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nachhaltige Folgen, denn die Gehälter, Renten, Pensionen, Zinserträge und sonstigen Bezüge, die teilweise auch von außerhalb Bayerns nach München fließen und die hier von Militärpersonen, Reichs- und Staatsbeamten, Künstlern, Wissenschaftlern und Studenten, Rentnern und Pensionären aufgebraucht werden, betragen immerhin ein Fünftel der wirtschaftlichen Grundlagen der Stadt München nach den ursprünglichen Erwerbsquellen ihrer Bevölkerung. 21 Der Wirkungsbereich einer Hauptstadt ist aber von einer Reihe von Faktoren abhängig und nicht nur durch die verwaltungstechnischen und politischen Einrichtungen bestimmt. Ganz anders als etwa Essen und Köln ragt München in einsamer Größe als Riese aus einer großen Zahl von Zwergen empor,22 die einzigen Mittelstädte in einem Umkreis von etwa 50 km sind Freising und Dachau. Die Großstadt München liegt mit einer Isoliertheit im Raum, die unter den vergleichbaren westdeutschen Städten einmalig ist.23 Das bringt natürlich für München eine verstärkte Inanspruchnahme gerade der Institutionen mit sich, die in den sie umgebenden Gemeinden nicht oder nur in ganz beschränktem Ausmaß vorhanden sind. In dieser Hinsicht nimmt München wie keine andere Stadt im gesamtbayerischen Raum eine hervorragende Stellung ein.24 Die Verbindung mit der Hauptstadt wird innerhalb der Einflußsphäre Münchens für den bearbeiteten Zeitraum hauptsächlich durch den Eisenbahn-
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verkehr hergestellt und aufrechterhalten und weist natürlicherweise gerade in den Orten entlang der Bahnlinien ihre größte Intensität auf. Der Kraftfahrzeugverkehr spielt daneben eine noch untergeordnete Rolle. An Publikationsmitteln sind die von München aus herausgegebenen Zeitungen zu erwähnen, die allerdings im Februar 1919 kurzzeitig und im darauffolgenden April für drei Wochen ihr Erscheinen ganz einstellen müssen.25 Der Rundfunk hat noch keine Vermittlerstellung zwischen München und seinem Umland, denn er nimmt ja erst 1924 seinen Betrieb auf. Das Fernsprechnetz, das in München zusammenläuft, hat für die unmittelbare politische Agitation keine Bedeutung. In den letzten Wochen der Rätezeit war es außerdem unterbrochen. Der Träger der Verbindung Münchens mit seinem Einflußbereich ist also hauptsächlich der Eisenbahnverkehr. Hier wird besonders für die Ausbreitung der revolutionären Wellen von München aus die Funktion des Arbeiter-Pendelverkehrs zwischen München und seiner näheren und weiteren Umgebung26 wichtig, denn die in München tätigen Arbeiter sind es ja weitgehend, die das revolutionäre Ideengut auf das Land hinaustragen. Nachdem die geographischen Vorbedingungen im Umkreis von München eine zeit- und kostensparende Streckenlage und Beförderung ermöglichen, hat der Arbeiter-Pendelverkehr von und nach München bereits sehr früh durchaus erwähnenswerte Ausmaße angenommen.27 Für den Raum Oberbayern ist für die allermeisten Industrie- und Gewerbearten München und seine engere Umgebung Hauptstandort. Es vereinigt daher über die Hälfte aller in Oberbayern ausgeführten Pendelwanderungen auf sich.28 In München wird zudem eine Steigerung der Intensität des Pendelverkehrs durch das möglichst tiefe Eindringen des Lokalverkehrs in das Stadtzentrum ohne den Übergang von einem Verkehrsmittel zu einem anderen ermöglicht.29 Den geringsten Anteil an den Pendelwanderungen, die Herkommer für 1923 mit 6% vom allgemeinen Verkehr beziffert, haben in Oberbayern Garmisch, Wasserburg und Berchtesgaden. Mit München aufs engste verbunden ist Dachau, ihm folgen Wolfratshausen, Starnberg, Fürstenfeldbruck, Freising, Erding, Grafrath, Tutzing, Petershausen und Beuerberg. Neben diesen noch innerhalb der 45 km-Zone der Tagwanderer liegenden Orten kommen die Wochenwanderer aus einer Entfernung bis zu 120 km nach München. In der Zone von 91-120 km sind es immerhin ca. 7600 Arbeiter. Zu erwähnen sind dabei Bad Tölz, Miesbach, Dorfen, Kochel und Pfaffenhofen. Herkommer hebt als Orte mit einer hohen Zahl von Einpendlern aus der näheren und weiteren Umgebung noch Rosenheim, Miesbach, Bad Aibling, Alt- und Neu-Ötting, Friedberg, Burghausen und Mühldorf hervor. Gerade in diesen Gemeinden finden später die revolutionären Ideen aus München besonderen Widerhall. Damit wird Geipels Mei-
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nung30 bestätigt, daß die Gebiete ausgeprägter Pendelwanderung auch zugleich Ansatzpunkte einer gewissen Labilität und innerer sozialer Beweglichkeit sind. Während sich die Pendelwanderungen von und nach München nahezu ausschließlich auf das Einzugsgebiet Oberbayern beschränken, umfaßt der Zuzug nach München einen wesentlich weiteren Raum.31 Nach der Berufszählung vom Jahre 1907 sind unter den Münchener Erwerbstätigen die Herkunftsbezirke Oberbayern, Niederbayern und die Oberpfalz führend. Auf Schwaben, das an vierter Stelle liegt, folgen das Ausland, nach ihm Mittelfranken, Preußen und Baden, Württemberg und Hohenzollern und schließlich Ober- und Unterfranken.32 Ein entsprechendes Bild zeigt die Gebürtigkeit der Münchener Bevölkerung. Franken und Schwaben schicken also im Vergleich zum Ausland und zu Preußen ein verhältnismäßig kleines Kontingent an Arbeitskräften nach München, die perönlichen Bindungen zwischen diesen beiden Gebieten und München sind trotz ihrer geographischen Nähe gering. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die mehr als 12 Prozent aller Münchener Erwerbstätigen, die aus den Arbeitsgebieten Industrie, Bergbau und Baugewerbe bereits 1907 aus Preußen, Norddeutschland und dem Auslande kommen. Vor dem Versuch, seine Einflußsphäre geographisch festzulegen, will ich noch die wirtschaftliche Verbundenheit Münchens mit seinem Umland im bearbeiteten Zeitraum kurz beleuchten.33 Das wichtigste Bezugsgebiet von München für Rohstoffe, Lebensmittel, Halb- und Fertigfabrikate ist dabei Südbayern, aus dem mehr als ein Drittel des gesamten Güterempfanges stammt. Ihm folgen Nordbayern mit etwa zehn Prozent, dann das Ruhrgebiet, Oberschlesien und die Rheinprovinz. Von den ausländischen Hauptbezugsgebieten treten vor allem Italien, die Tschechoslowakei und Österreich in den Vordergrund. Dabei wirkt sich für München die Zerschlagung des großen Wirtschaftsgebietes der österreichisch-ungarischen Monarchie besonders nachteilig aus. Der Münchener Wirtschaftsverkehr erholt sich nur langsam und teilweise von den starken Schädigungen, die der plötzliche Rückgang der Handelsbeziehungen mit den geographisch nahe gelegenen Ländern im Osten und Südosten mit sich bringt. Dafür kommt es zu einer starken Steigerung besonders des Obst- und Gemüsehandels mit Italien, das seine Zufuhr bis zum Jahre 1926 gegenüber 1913 mehr als verdoppeln kann. Seinen Hauptbedarf an Getreide, Vieh und sonstigen Lebensmitteln,34 an Bau- und Nutzhölzern, Erden und Steinen deckt München aus dem süd- und nordostbayerischen Räume, einem Gebiet, das auch als ein guter Abnehmer auftritt für die in München hergestellten Gewerbeerzeugnisse aller Art. Mit der Errich-
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tung der Großmarkthalle im Jahr 1912 kann München seine Funktion als Umschlagplatz und Verteilungszentrum des aus Südosteuropa und Italien importierten Obstes und Gemüses bedeutend ausweiten und so seine Stellung als Handelsort festigen. Damit bahnt sich eine Entwicklung an, die München vom Umschlagplatz der bäuerlichen Erzeugnisse seiner Umgebung zu einem nahezu konkurrenzlosen, monopolartigen Verteilermarkt des ObstGemüse- und Südfrüchteimportes aus den südlichen und südöstlichen Ländern seiner Nachbarschaft werden läßt. Für die Versorgung der Fremdenverkehrsgemeinden spielt das sehr bald eine große Rolle. Die wachsende Bedeutung Münchens als Handelsplatz bringt natürlich eine Erweiterung der Verwaltungseinrichtungen, der Geldinstitute und der Transportunternehmungen mit sich, was wiederum die Berufsstruktur Münchens verändert. Betrachten wir neben dem Einzugsbereich der Arbeiterpendler, der Versorgung mit Lebensmitteln und der gegenseitigen wirtschaftlichen Verflechtung noch die Einzugsbereiche der Fahrschüler, Fahrstudenten, kulturellen Institutionen und der Münchener Heimatzeitungen,35 so kommen wir für die Einflußsphäre Münchens zu folgendem Ergebnis: Grundsätzlich ist München wesentlich stärker nach Osten und Süden hin orientiert, als nach Norden und Westen. Der Gesamteinflußraum gleicht in seiner Gestalt ungefähr einer Ellipse, deren größere Achse etwa von SW nach NO verläuft. Nach Norden verhindern so große Zentren wie Regensburg, Ulm und Nürnberg eine stärkere Einflußnahme von München aus. Im Westen wird Münchens Stellung durch Augsburg geschwächt, das als zentraler Arbeitsmarkt selbst der Zielpunkt vieler Pendler ist, im Süden schieben die Alpenkette und die Staatsgrenze einen Riegel vor. Letztere bewirkt natürlicherweise eine Orientierung der Bewohner des Alpenvorlandes nach Norden hin. Im Osten werden die Grenze zur Tschechoslowakei und der Bayerische Wald zum Hindernis. Die Trennung der Pendler in Tages- und Wochenpendler gibt uns die Möglichkeit, einen verstärkten Einflußbereich festzustellen, der etwa innerhalb eines Kreises mit dem Radius von 50 km rund um München liegt. In einem weiteren äußeren Einflußbereich gehen von München zwar noch Impulse aus, es ist aber nicht mehr das einzige Beziehungszentrum. Begrenzt wird diese Zone ungefähr durch eine Verbindungslinie zwischen den Orten Kempten - Schongau - Garmisch-Partenkirchen Rosenheim - Traunstein - Pfarrkirchen - Landshut - Ingolstadt - Augsburg. Zusammenfassend können wir jetzt also sagen, daß sich der Einflußbereich Münchens im wesentlichen auf den Raum südlich der Donau erstreckt und durch politische Grenzen und Zentren entsprechender Größe beschränkt wird.
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Als ein Faktor, der die enge Verbindung Münchens mit seinem Umlande fördert und der auch in den politischen Bereich nachhaltig mit hineingespielt hat, ist die starke Katholizität Münchens und seines engeren und weiteren Umlandes noch zu erwähnen.36 Die Stadt, die im 18. Jahrhundert das „deutsche Rom" genannt wurde, ist der Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Wallfahrten zu Orten der ländlichen Umgebung wie Tuntenhausen, Altötting, Andechs usw. und gerade hier zeigt sich noch stark ihr Charakter als Landstadt, obwohl sie geistiger Mittelpunkt des Landes und dessen wirtschaftliches Herz ist. Nachdem oben der Einflußbereich Münchens und die vielfältigen Beziehungen zu seinem Umland herausgestellt wurden, die, wie sich später zeigen wird, fiir Entstehung und Ablauf der revolutionären Ereignisse von besonderer Bedeutung sind, soll jetzt seine Sozial- und Wirtschaftsstruktur näher untersucht werden, also der Boden, auf dem sich die Revolution entwickeln konnte. Die nach Berlin, Köln und Hamburg viertgrößte Stadt des Reiches unterscheidet sich in ihrer Struktur wesentlich von diesen. Münchens industrielle Entwicklung ist äußerst erschwert durch seine fiiir eine Großindustrie ungünstige Lage. Ohne größere Rohstoflvorkommen in unmittelbarer Nähe, „an der äußersten Südostecke des Reiches gelegen, ohne ein aufnahmefähiges, kaufkräftiges Hinterland, in geringer Entfernung nach zwei Seiten von Zollgrenzen umgeben, ohne Wasserwegverbindungen hat München von allen Städten Deutschlands die höchsten Löhne und Transportkosten zu bezahlen sowohl fiir die von ihm benötigten Rohstoffe wie Kohle, Eisen, wie auch für seine zur Ausfuhr bestimmten Erzeugnisse".37 Durch den Mangel an Bodenschätzen kann sich zwar keine Schwerindustrie, wohl aber eine reichgegliederte Veredelungsindustrie entwickeln. Bis nach dem zweiten Weltkrieg bleibt Nürnberg Bayerns führende Industriestadt. Auf Industrie, Handel, Gewerbe und Verkehr entfallen in München nur wenig mehr als die Hälfte aller ursprünglichen und unmittelbaren Einkommensquellen. Die Verschiedenheit der breit aufgefächerten Erwerbsquellen38 und deren ausgewogenes Verhältnis untereinander sind bestimmend für die Wirtschaftsstruktur Münchens,39 die sich dadurch deutlich von den durch die Industrie geprägten Großstädten abhebt. Neben der Breite und Vielgestaltigkeit der wirtschaftlichen Grundlagen Münchens und der besonderen Stellung, die von der Veredelungs- und Qualitätsindustrie darin eingenommen wird, gilt als weiteres hervorstechendes Merkmal die Dominanz der Klein- und Mittelbetriebe auf dem Gebiet der Betriebsgrößen. 1907 haben wir erst drei Betriebe mit mehr als xooo, zwölf in der Größenklasse zwischen 500 und 1000 und 54 mit 200 bis
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joo Beschäftigten, dafür aber 20568 Alleinbetriebe und 17850 Betriebe mit bis zu füinf Beschäftigten. In den Betrieben dieser Größenklasse arbeiten mit 26,4% die meisten der Münchener Erwerbstätigen, dann folgen mit rund 20% die Größe mit 1 1 - 5 0 Beschäftigten und darauf die Alleinbetriebe mit rund 1 1 % . Nur circa 6% aller Arbeitnehmer arbeiten 1907 in Betrieben mit über 500 Beschäftigten. Eine Verschiebung dieser strukturellen Verhältnisse in der Betriebsgröße bringen die Kriegs- und Nachkriegsjahre mit der Verpflanzung der einzelnen Kriegs- und Rüstungsindustrien nach München und dem Ausbau der hiesigen Werke. Während 1914 die Betriebe mit zehn und mehr Arbeitern erst 10% aller Gewerbebetriebe ausmachen und von der gesamten Arbeiterschaft 68% auf diese Betriebsgröße entfallen, betragen diese Sätze im Jahre 1923 bereits über 1 3 % und 78%. Obwohl München vom Standort her gesehen für die Produktionszweige der Schwerindustrie durchaus ungünstig Hegt, werden die erstellten Fertigungsanlagen auch nach dem Kriege beibehalten und nur in der Produktion umgestellt. Für diese Neugründungen fehlen aber die entsprechend qualifizierten Arbeitskräfte und müssen daher aus Nordwestdeutschland, Sachsen und anderen Gebieten herangeholt werden. Diese halten sich dann über den Krieg hinaus in München auf, was nicht ohne Folgen für die politischen Verhältnisse bleibt. Die Gegenüberstellung der sechs hauptsächlichen Erwerbsgruppen zeigt die ansehnliche Stellung, die im wirtschaftlichen Geföge Münchens der Fremdenverkehr einnimmt. Als kultureller Mittelpunkt des deutschen Südens, begünstigt durch seine Lage im Schnittpunkt der Verbindungslinien zwischen Skandinavien und Italien und dem Westen und Südosten Europas, entwickelt es sich schon frühzeitig zu einem der führenden europäischen Sammelpunkte des Fremdenverkehrs. Seine günstige Verkehrslage macht es zum gerne gewählten Ausgangspunkt für Erholungsreisen in das bayerische Oberland. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg erlebte das in München sehr breit angelegte Hotel-, Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe einen erfreulichen Aufschwung, der dann in den Kriegsjahren und in den Monaten bis zur allgemeinen wirtschaftlichen Besserung jäh unterbrochen wurde, denn die Leistungsfähigkeit dieses Gewerbes hängt ja in besonderem Maße von der Zufuhr guter und billiger Nahrungsand Genußmittel ab. Die stetige Berührung mit den Fremden aus aller Welt und die Tatsache, daß München der Standort einer Vielzahl kultureller Einrichtungen und Bildungs- und Forschungsstätten aller Art ist, bringen eine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen mit sich und die Bereitschaft, fremde Anregungen aufzunehmen und zu verarbeiten.40 Diese Einstellung zeigt dann bei Entstehung und Ablauf der Revolution ihre Wirkung.
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Die Auswirkungen der eben skizzierten Wirtschaftsstruktur Münchens auf die berufliche und soziale Gliederung der Münchener Bevölkerung soll im folgenden angedeutet werden. Der relativ kleine Anteil von Industrie und Handwerk am gesamten Wirtschaftsleben wirkt sich hier natürlich entscheidend aus.41 Hinter einer breiten Schicht aus mittlerem und kleinerem Bürgertum tritt die Arbeiterklasse stärker zurück als anderwärts, obwohl die vorhandenen Gewerbe und Industrien an Ausdehnung und Leistungsfähigkeit nicht gering zu bewerten sind. Allerdings haben wir in München, außer den hochspezialisierten Veredelungsbetrieben, keine große Ausfuhrindustrie vor uns, sondern eine breite Streuung von Kleinund Mittelgewerbe, das auf die Versorgung der ansässigen Bevölkerung und ihrer Umgebung ausgerichtet ist. Es ist eine spezielle Eigenart der Münchener Sozialstruktur,42 daß keine Berufsgruppe absolut vorherrschend ist. Neben der Lohnarbeiterschicht behauptet sich eine Vielzahl mittelständischer Existenzen, sind die Beamten und freien Berufe, die Rentner und Pensionisten, aber auch die fremden Besucher in beachtenswertem Ausmaß vorhanden. Im Münchener Gewerbe hat die Führung das Baugewerbe, von dem natürlich eine ganze Anzahl weiterer Berufe abhängt, als Rentnerstadt steht es unter den Vergleichsstädten an zweiter Stelle in Deutschland,43 der Anteil der Rentner, Ruhegeldempfänger, von Unterstützungen Lebenden usw. steigt sogar von 1907 bis 1925 von 8,5 auf 10,7 Prozent. Zählt man zu dieser Gruppe die aus eigenem Vermögen lebenden Personen noch dazu, so kommt man auf 31000 Existenzen. Einschließlich ihrer häuslichen Dienstboten, Familienangehörigen usw. machen sie in ihrer Gesamtheit 58000 Menschen aus, das sind 10,9% der Bevölkerung ( 1 9 2 5 : I I , ! 0 / , ) . 4 4 Auch die Schicht der Angestellten und Beamten gewinnt in den Jahren von 1907 bis 1925 in München rasch an Bedeutung, hervorgerufen durch eine allgemeine berufliche Umstrukturierung und gefördert durch die sprunghafte Zunahme der Frauen- und Mädchenarbeit und die Funktion Münchens als Zentrum einer expansiven staatlichen und privatwirtschaftlichen Verwaltung, als Schul-, Militär- und Kunststadt. Der Anteil der Angestellten an der Gesamtbevölkerung steigt von circa 1 3 % auf etwa 30%. Diese Entwicklung wird gefördert durch den immer stärker werdenden Trend zum Großbetrieb und die mit wachsendem Nachdruck durchgeführte Betriebsrationalisierung. In der Zeit von 1907 bis 1925 vermindert sich der Anteil von den der Schicht der Selbständigen angehörenden Industriellen, Handwerkern, Kaufleuten usw. an der Gesamtbevölkerung von 17,6 auf 13,8 Prozent, ein Vorgang, der sich im politischen Leben in der Zeit der Weimarer Republik in München deutlich niederschlägt, wie ich in einer späteren Arbeit noch zeigen werde.
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Die von der Natur der Sache her leider etwas trockene, aber für fundierte Aussagen notwendige Schilderung der wirtschaftlichen Grundlagen Münchens und der Sozialstruktur seiner Bewohner macht die mannigfachen Eigentümlichkeiten dieser Stadt klar. Inmitten einer relativ großen bäuerlichen Einflußsphäre, mit der sie aufs engste verbunden ist, ist sie, trotz einer beachtenswerten Industrie, keine typische Industriestadt. Die Vielseitigkeit der Münchener Industrie, die innere Verflechtung eines Großteils des hauptsächlich auf Veredelung und Qualitätserzeugung ausgerichteten Münchener Industriekörpers mit dem Kulturleben der Stadt,46 das weitgehende Fehlen von Riesenbetrieben mit ihrer besonderen Atmosphäre, die Verwurzelung der Münchener Arbeiter in der altbayerischen Tradition und ihre starke Verbindung gerade mit dem niederbayerischen Räume, die Tatsache, daß diese an Zahl im Münchener Wirtschaftsleben nicht der bestimmende, sondern nur ein Faktor unter verschiedenen anderen sind, alle diese Gründe tragen dazu bei, daß sich in München eine Arbeiterschaft besonderer Ausprägung entwickelt hat. Die eigentümliche Lage, in der sich die Münchener Arbeiter befinden, läßt eine Verschärfung der politischen Verhältnisse nicht so klar und offenkundig hervortreten, wie dies in anderen deutschen Großstädten der Fall ist. Aber gerade diese außergewöhnliche Sozialstruktur erschwert in München die Eingliederung der Arbeiterschaft in den Gesamtkomplex der Bevölkerung. Die verschärfte Trennung der Arbeiter von dem Bürgertum, hervorgerufen durch Verlauf und Ausgang der Revolution in München, wird ein politisch bestimmender Faktor für die Jahre bis 1933. Eine Interpretation des politischen Geschehens in München zur Zeit der Weimarer Republik ist ohne die Kenntnis der Vorgänge und Hintergründe der Revolution nicht möglich. Die Ereignisse jener Monate sind eine schwere Hypothek für die kommenden Jahre, für eine Zeit, die nicht nur vor schier unlösbaren politischen und eng damit verbundenen wirtschaftlichen Problemen steht, sondern die in besonderem Maße in München eine fortschreitende Umstrukturierung des Wirtschaftskörpers mit sich bringt, verbunden mit einer nachhaltigen Umgruppierung des Sozialgefüges. Nachdem nun die wirtschaftliche und soziale Lage Münchens und seine Stellung zum Umland umrissen sind, soll jetzt Entstehung und Ablauf der Revolution vor diesem Hintergrund und mit der in der Einführung angedeuteten Blickrichtung näher betrachtet werden. Bereits im Herbst 1912 machen sich in München deutliche Anzeichen einer wirtschaftlichen Depression spürbar. Im November 1913 und in den Monaten Januar bis August 1914 erreicht der Beschäftigungsstand seinen Tiefstpunkt seit den letzten zehn Jahren. Am 12. Januar 1914 demonstrieren 1500 Arbeitslose vor dem Münchener Rathaus. Im Münchner-Kindl-Keller und im Eberl-
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bräukeller finden in den Faschingswochen Arbeitslosen-Massenversammlungen statt.46 Bunk47 nennt als Gründe für die Verschlechterung der Arbeitsmarktlage und den zunehmenden Umfang der Arbeitslosigkeit eine allmähliche Depression nach der Hochkonjunktur der Jahre 1911 und 1912, immer mehr um sich greifende Befürchtungen internationaler Verwicklungen auf Grund der Balkankonflikte48 und eine bereits 1912 beginnende Geldversteifung, die sich lähmend auf die wirtschaftliche Entwicklung legt. Diese Geldverteuerung macht sich vor allem auf dem Baumarkt fühlbar und trifft damit einen führenden Münchener Gewerbezweig, von dem viele andere Berufe abhängen.49 Der König stiftet im Winter 1913/14 10000 M zur Unterstützung der Arbeitslosen60 und die beiden städtischen Kollegien stellen die gleiche Summe für die wegen Arbeitsmangels in Bedrängnis geratenen Handwerksmeister und Gewerbetreibenden zur Verfügung. 61 München nimmt bereits 1912 und 1913 in der Höhe der Aufwendungen für die Arbeitslosenunterstützung die zweite Stelle unter den deutschen Städten ein.62 Ende April/Anfang Mai 1914 findet in München eine großangelegte Sammlung zugunsten der Arbeitslosen statt. Wahrscheinlich hätte eine fortschreitende allgemeine Verschlechterung der Wirtschaftslage den sozialen Problemen dieser Zeit große politische Sprengkraft verliehen und auch ohne die Kriegsereignisse und deren Folgen zu einer Umwälzung geführt, nur wäre der Ablauf der Ereignisse wohl langsamer gewesen. Auch das erste Jahr nach Kriegsbeginn bringt keine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt. Der Krieg bedingt vielmehr eine Steigerung der Arbeitslosigkeit, so daß sich die städtischen Kollegien gezwungen sehen, Ende Oktober 1914 einen Arbeitsausschuß für Arbeitslosenfursorge einzusetzen. Nachdem das Umland Münchens nicht als Käufer für die hochspezialisierten Erzeugnisse der Münchener Verfeinerungsindustrie auftreten kann, dieser Industriezweig nicht nur auf Deutschland, sondern auf den Weltmarkt angewiesen ist, macht sich die verhängte Exportsperre überaus nachteilig bemerkbar. Zu der Gruppe der Arbeitslosen stoßen Personen und Kreise, die noch nie unter Arbeitsmangel zu leiden hatten. Nach Angaben des Rechtsrates Grieser werden im November 19x4 50000 (!) Personen bzw. Familien vom Wohlfahrtsausschuß, von den Stiftungsverwaltungen und von der Armenpflege dauernd unterstützt. Er äußert, nicht zu Unrecht, wie sich später herausstellen wird, die schwersten Bedenken, ob es je wieder möglich sein wird, diesem Personenkreis nach dem Kriege ein dauerndes Fortkommen zu sichern.63 Nachdrücklich setzt sich die Münchener Stadtverwaltung für die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden ein, in deren Reihen besonders durch den rapiden Rückgang der Bautätigkeit der Auftragseingang beängstigend fällt. Neben dem Schreinergewerbe, der Porzellan- und Edelmetall-
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industrie leidet das in München hochentwickelte Kunstgewerbe erheblich. Eine Reihe von Arbeitgebern nützt die für sie günstige Lage am Arbeitsmarkt aus, um die Löhne zu drücken. Das geht so weit, daß das Generalkommando für solche Praktiken durch Bekanntmachung Strafen ankündigt.54 Großen Ärger bereitet den beiden Kollegien der Stadt, den Gewerkschaften sowie den einzelnen Standesorganisationen die Königlich-Bayerische Staatsregierung, die an Arbeitslosenunterstützung „noch keinen Hosenknopf gegeben hat, sondern nur Worte, nichts als schöne Worte".56 Schließlich kündigt sich im Frühjahr 1915 als weiteres Problem, das gerade in der Revolutionszeit für München noch zu einer schweren Belastung werden wird, der Zuzug von Erwerbslosen aus der näheren und weiteren Umgebung an.56 Ein bis zum Herbst 1918 andauernder Konjunkturaufschwung setzt endlich im Frühjahr 1915 ein. Die Arbeitgeber und Arbeitnehmer stellen sich, so gut es geht, auf die Kriegsproduktion um. Immer mehr junge Arbeiter werden eingezogen und an die Front geschickt. Besonders die Maschinenindustrie, die Eisen- und Metallverarbeitungsbetriebe und der Instrumente- und Apparatebau sind bald voll beschäftigt und schreiten zum Teil sogar zu Betriebserweiterungen. Dazu kommen Neugründungen, wie die der Kruppwerke in Freimann 1916, mit ihnen eine ganze Reihe von Facharbeitern aus dem außerbayerischen Räume, die ja München dank seiner Struktur nicht anbieten kann. Die immer weiter gehende Abkommandierung an die Kriegsschauplätze und der steigende Bedarf an Arbeitskräften fuhren zu einer Eingliederung weiblicher Arbeitnehmer in den Arbeitsprozeß in breitem Rahmen. Die Dringlichkeit des Arbeitsbedarfes und der einsetzende Mangel an Arbeitskräften bedingen bald verhältnismäßig große Lohnsteigerungen in der Rüstungsindustrie. Durch die Hochkonjunktur sind die einschlägigen Industriezweige in der Lage, diese zu bezahlen.57 Recht ungünstig wirkt sich dieser Umstand aber für alle diejenigen aus, die nicht irgendwie in der Kriegsindustrie tätig sind, was in München, wie wir aus seiner besonderen Struktur ersehen können, der größere Teil der Bevölkerung ist. Im Baugewerbe, in der Holzindustrie, in den freien Berufen und bei den Kleingewerbetreibenden herrscht Arbeitsmangel, der zwar durch eine immer weiter gehende Umschulung im Laufe der Kriegsjahre und durch Einberufungen ständig abnimmt, jedoch für die über 35-40 jährigen Arbeitnehmer, für die Gelegenheits- und Hilfsarbeiter deutlich spürbar bleibt. Die übertarifliche Bezahlung und die stets steigenden Löhne versetzen die Rüstungsarbeiter in die Lage, die sprunghaft nach oben kletternden Preise58 für Lebensmittel und sonstige Gegenstände des täglichen Gebrauchs im öffentlichen Verkauf und im immer stärker um sich greifenden Schleichhandel zu bezahlen und dadurch wiederum als preistreibendes Element zu wirken.
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Damit wurde eine Erscheinung berührt, die sich wohl in keiner deutschen Stadt so nachhaltig auswirken konnte, wie in München, - die mit Kriegsbeginn einsetzende Geldentwertung. Schon am Tage vor Kriegsausbruch löst die Reichsbank ihre Noten nicht mehr gegen Gold ein und weicht so vom ersten Grundsatz der klassischen Goldwährungspolitik ab. Und mit eben diesem Tage beginnt auch die schleichende Inflation, nicht erst in den Jahren 1921 und 1922. Der Magistratsrat Schmidt erklärt in einer Magistratsratssitzung am 13. April 1915, daß die Kriegerfrauen sich von Woche zu Woche in einer unangenehmeren Situation befinden, weil die Mittel, die ihnen zugewiesen werden, nicht mehr den Wert repräsentieren, den sie haben sollen, um kaufen zu können, was sie notwendig brauchen.69 Aber nicht nur die Frauen der im Felde stehenden Soldaten leiden unter der Geldentwertung. Die Vielzahl der Festbesoldeten, der Rentner, Pensionisten und von Unterstützungen Lebenden, die in München einen so großen Anteil an der Gesamtbevölkerung haben, sind die Leidtragenden dieser schon so früh einsetzenden Entwicklung, weil sie, wie kaum eine andere Wirtschaftsgruppe, anfällig sind gegenüber Währungs- und Wirtschaftskrisen. Dieser Umstand trägt mit zu einer befriedigenden Antwort auf die Frage bei, warum sich gerade in München der Umsturz so früh und so rasch und reibungslos vollziehen kann. Versucht man, die revolutionären Umwälzungen mit dem Anwachsen einer hauptsächlich von außen zugezogenen revolutionsfreundlichen Arbeiterschaft zu erklären und der Tatsache, daß man den Arbeitern zu lange politische und soziale Rechte vorenthält, so beleuchtet man damit nur einen Teil des zur Revolutionszeit gegebenen Sachverhalts. Außerdem war die Arbeiterschaft schon rein zahlenmäßig nicht so bedeutend, um entscheidend auftreten zu können. Wenn sich die oben genannte Bevölkerungsgruppe des Mittelstandes vielleicht bei den Ereignissen am 7. und 8. November auch nicht deutlich sichtbar in den Vordergrund stellt, so ist es doch eine stillschweigende Zustimmung zu diesen Vorgängen, die sich in der Haltung dieser Bevölkerungsschichten zu dem Umsturz in den darauffolgenden Wochen zeigt. Erst im März 1919 beginnt sich allmählich eine mehr oder minder starke Ablehnung der neuen revolutionären Regierung durch diese Kreise zu artikulieren, die aber aus verschiedenen, unten noch näher erläuterten Gründen nicht so stark wird, um mit Gewalt gegen die unerwünschten Machthaber vorzugehen. Der sich neu formierende Mittelstand aus einer immer umfangreicher werdenden Angestellten- und Beamtenschicht wird gerade für das politische Leben in der Weimarer Zeit in München eine bedeutende Rolle spielen. Ein wesentlicher Punkt, der zur Beunruhigung weiter Kreise beigetragen hat, ist die stürmisch ansteigende Wohnungsnot.60 Zu deren Ursachen, die in ganz Deutschland Geltung haben, wie das lawinenartige An-
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schwellen der Eheschließungsziffer61 vom Jahre 1918 an, das Verbot der Errichtung nicht kriegswichtiger Neubauten und die Rationierung der Baustoffe während der Kriegszeit, der fast vollständige Mangel an Baustoffen und die außerordentliche Verteuerung des Bauens nach dem Kriege, kommen in München noch Umstände rein örtlicher Art hinzu. Zunächst einmal ist schon, wie bereits erwähnt, ab dem Jahre 1912 ein starkes Nachlassen der Bautätigkeit zu verzeichnen, das auch ohne den Krieg zu einem Wohnungsmangel geführt hätte. Dazu kommt die Niederlassung neuer und die Vergrößerung vorhandener Fabrikbetriebe, die für die zuwandernden Arbeiterfamilien Wohnraum benötigen. Sie erwerben deshalb ganze Häuserblocks, kündigen den eingesessenen Familien und quartieren ihre eigenen Arbeiter ein oder bauen diese Gebäude zu Büro- und Fabrikräumen um. Die Wohnungsnot ist freilich nur ein Teil der Belastungen und Entbehrungen, die der Krieg der Bevölkerung Münchens bringt62 und die wesentlich verstärkt und vermehrt werden durch die äußerst mangelhafte Vorbereitung des ganzen Verwaltungs- und Behördenapparates sowohl im Reich, wie auch in den Ländern und Gemeinden. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfes macht deshalb ungeheuere Schwierigkeiten. Die dann in aller Eile getroffenen Maßnahmen bleiben Stückwerk und sind oft nur auf ein baldiges Ende des Krieges hin berechnet.63 Das Anwachsen des Hamsterwesens und des Schleichhandels ist wohl nicht zuletzt auf diese Tatsache zurückzuführen. Innerhalb von knapp zwei Jahren ist die Stimmung von Siegesfeiern und Ovationen für den König zu Demonstrationen und Protestversammlungen umgeschlagen. Die allgemeine Unzufriedenheit herrscht aber nicht nur unter den Schichten der Minderbemittelten, sondern erstreckt sich auf nahezu alle Kreise der Bevölkerung.64 Welches Ausmaß die Not in München im Laufe der Kriegsjahre annimmt, soll mit einigen Beispielen kurz veranschaulicht werden. Am 23. August 1914 beginnt man bereits mit der Herstellung von Kriegsbrot. Nacheinander werden nun alle wichtigen Lebens- und Gebrauchsmittel der Rationierung unterworfen. Im Sommer 1916 stellen sich die Leute die ganze Nacht über vor der Münchener Freibank um Fleisch an, in den 28 Suppenanstalten und 22 Volksküchen werden im Herbst des gleichen Jahres täglich 15-20000 Kinder und etwa 25 000 Erwachsene gespeist. Im Frühjahr 1917 zwingt die große Kohlennot die Theater aller Art, ihren Betrieb einzustellen, die städtischen Badeanstalten und höheren Lehranstalten werden gesperrt und die meisten Münchener Licht- und Wärmestuben geschlossen. Im Juli 1917 wird das letzte Vollbier ausgeschenkt, im August des gleichen Jahres Dachsfleisch auf dem Wildbretmarkt als Nahrungsmittel angeboten.65 In den Münchener Volksküchen werden 1917 insgesamt
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9979252 Essen ausgegeben. Im Februar 1918 soll eine „Münchener Windelwoche" die dringend benötigte Säuglingsbekleidung beschaffen, und im Mai wird eine Sammlung getragener Männeranzüge durchgeführt für die Arbeiter der kriegswichtigen Betriebe. Die enge Verbindung Münchens mit seinem agrarischen Umland erlaubt es natürlich einem Teil der Bevölkerung, ihre karge Ration bei Verwandten und Bekannten aufzubessern. Das ruft aber wieder den Zorn derer hervor, die dazu nicht die Möglichkeit haben. Die allgemeine wirtschaftliche Not ist wohl der wesentlichste Faktor, der mitgewirkt hat, die innere Einheitsfront zu zerbrechen und starke Strömungen entstehen zu lassen gegen alles, was dazu beitragen kann, diese Not noch zu verlängern. Bereits am 31. August 1916 muß in einer Sitzung des Gemeindebevollmächtigtenkollegiums der Vorstand einen Referenten eindringlich an den abgeschlossenen Burgfrieden erinnern. Dieser hatte sich in seinen Ausführungen energisch gegen diejenigen gewandt, die den Krieg gewollt haben und die jetzt auch die Not zu lindern hätten.66 Die wirtschaftliche Not trennt zwischen Anhängern des Krieges und Friedenswilligen. Die allgemeine Mißstimmung bricht erstmals im Sommer 1916 offen hervor. Nachdem sich in den Tagen vorher schon große Menschenansammlungen vor dem städtischen Lebensmittelamt gebildet hatten, kommt es am 17. und 18. Juni zu krawallartigen Hungerdemonstrationen auf dem Marienplatz. Fenster werden eingeworfen und der Platz kann nur durch die mit Militär verstärkte Schutzmannschaft geräumt werden. Den erschreckten Stadtvätern fällt dabei auf, daß neben den hauptsächlich randalierenden Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren auch Soldaten und Frauen an dem Krawall beteiligt waren. Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner, dem die mangelnde staatsbürgerliche Erziehung der gerade schulentlassenen Jugend vorgeworfen wird, erklärt das Vorgehen der Jugendlichen mit den katastrophalen Verhältnissen im Münchener Schulwesen, bedingt durch den weitgehenden Raum- und Personalmangel und spricht davon, daß die Schüler, wenn sich die Lage nicht baldigst ändern sollte, „sehr bedenklich der Gefahr ausgesetzt sind, zu verwildern". 6 ' Seit diesem Sommer kommt die Stadt nicht mehr recht zur Ruhe. Ob es aber nun kleinere Ausschreitungen in Volksküchen sind oder große Demonstrationsversammlungen, stets stehen Jugendliche und Soldaten mit im Vordergrund. In den Gremien der Stadtverwaltung macht man sich Gedanken, wie man bei der Verteilung der Lebensmittel weitgehend alle Ansammlungen vermeiden kann. Den Streikneigungen eines Teiles der Rüstungsarbeiter tritt das Kriegsministerium im April 1917 entschieden entgegen. Am 15. Mai 1917 werden Sonderstrafbestimmungen gegen die Verbreitung unwahrer Kriegsnachrichten erlassen.
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Der Streik der Arbeiter in Österreich-Ungarn vom 14. bis 20. Januar 1918 findet gerade in München ein starkes Echo, wie ja auch später der Zusammenbruch der österreichischen Donaumonarchie in München nachhaltige Wirkung hat, ganz im Gegensatz zu den Kieler Ereignissen. Dazu kommt noch die Haltung der deutschen Regierung in den Friedensverhandlungen von BrestLitowsk, durch welche die Aussicht auf ein baldiges Ende des Krieges wieder verschlechtert wird.68 Auf einer Mitgliederversammlung der USP am 27. Januar 1918 und auf mehreren Betriebsversammlungen in den folgenden Tagen gelingt es Eisner,69 seine Zuhörer von der Notwendigkeit des sofortigen Streiks zu überzeugen. Noch bevor aber eine wirkungsvolle gemeinsame Aktion einsetzen kann, wird Eisner mit mehreren seiner Genossen verhaftet. Nach einigen Demonstrationsversammlungen in den nächsten Tagen gelingt es den Sozialdemokraten,70 die Streikenden zur Wiederaufnahme der Arbeit am 4. Februar zu überreden. Eisner wird am 15. Oktober wieder aus Stadelheim entlassen, gerade rechtzeitig, um noch in den Reichstagswahlkampf um den durch den Rücktritt Georg von Vollmars erledigten Wahlkreis München II eingreifen zu können. Er tritt als Kandidat gegen den von den Sozialdemokraten aufgestellten Erhard Auer auf und fordert offen die Beseitigung der bestehenden Gewalten. Die Disziplin der in München stationierten Truppen verschlechtert sich nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive zusehends. Beim Abtransport der Einheiten ins Feld kommt es zu heftigen Zwischenfällen, die Autorität des Offizierskorps beginnt deutlich zu schwinden. Auch das Ansehen des Königs, seit seiner Thronbesteigung ohnehin angeschlagen, hat stark abgenommen. Zum Vorwurf wird ihm vor allem gemacht, Bayern an Preußen auszuliefern, nichts gegen die Lebensmittelpreissteigerungen und den allgemeinen Wucher zu unternehmen, gegen die in der Ablieferung säumigen Bauern nicht einzuschreiten, um den eigenen landwirtschaftlichen Betrieben nicht zu schaden,71 mit einer unvernünftigen Kriegszielpolitik den Krieg unnötig zu verlängern und den immer breiter hereindrängenden Fremdenstrom nicht einzudämmen. Nachdem er gegen diese Mißstände als Autorität nicht energisch einschreitet, hat er auch in breiten Schichten der Bevölkerung den Anspruch darauf verloren. Zwei kleine, bei Sailer72 erwähnte Episoden werfen ein Schlaglicht auf die Einstellung zum König. Im Oktober fährt einmal die köngliche Equipage mit einem hinten angehängten Milchkübel durch die Ludwigstraße. Am Wittelsbacher Palais hängt eines Morgens eine tote Katze mit einem Zettel, auf dem steht: „Ludwig schaffe Ordnung hier, sonst gehts Dir wie dem Katertier I". Die gespannte politische Atmosphäre in den Wochen vor dem Umsturz wird durch den Wahlkampf in München noch mehr als in anderen deutschen Städten
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angeheizt. Bei seiner Kandidatenrede am 25. Oktober fordert auch Auer die Beseitigung des herrschenden Systems vom Gipfel bis zur Wurzel, warnt aber zugleich vor einer gewaltsamen plötzlichen Umgestaltung der Gesellschaft.73 Interessant für die Haltung der Mittelschichten kurz vor dem Umsturz ist eine Protestversammlung des Bankbeamtenvereins München am 19. Oktober, bei der diese ihre Kritik an der herrschenden Regierung laut äußern, eine Gehaltserhöhung fordern und sich vor allen Dingen darüber beschweren, daß die Teuerungszulagen viel zu niedrig seien. Der Bericht der Münchener Post trägt die bezeichnende Überschrift „Proletarisierung der Bankbeamten".74 Die starke Verbindung Münchens mit seinem agrarischen Umland wurde bereits hervorgehoben. Wenn in München eine Revolution überhaupt Aussicht auf Erfolg haben wollte, dann nur mit Zustimmung und Unterstützung der Bevölkerung seiner engeren und weiteren Umgebung, die allgemein für konservativ, christlich und königstreu gehalten wurde. Aber auch hier hat sich bereits vor dem Kriege eine grundlegende Änderung angebahnt.75 In Oberund Niederbayern begann sich eine Radikalisierung auszubreiten, besonders in den Gebieten, in welchen der Bauernbund über größeren Rückhalt verfügte. Gefördert wurde diese Haltung durch neugeschaffene bzw. erhöhte Steuerlasten wie Wehrbeitrag und Vermögenszuwachssteuer und durch eine immer stärker anwachsende Abneigung gegen das herrschende System. Bei der Landtagsnachwahl im Juni 1913 im Wahlkreis Mallersdorf kann der Vertreter des immer stärker werdenden linken Flügels im Bauernbund,76 der Guts- und Ziegeleibesitzer Carl Gandorfer den Zentrumskandidaten Pfarrer Zeiler schlagen. Der Krieg bringt weitere Belastungen mit sich und verstärkt die alten partikularistischen und antipreussischen Tendenzen. Die Bauernschaft wendet sich aber nicht dem eigenen Königshause zu, denn es unternimmt ja offentsichtlich nichts, um seine Lage zu erleichtern. Der Einfluß der Geistlichkeit geht im Laufe der Kriegsjahre stark zurück, hat sie sich doch durch ihr allzu auffälliges Eintreten für einen zu erkämpfenden Sieg, für die Kriegsanleihen und durch die Verbreitung von Durchhalteparolen unglaubwürdig gemacht. Dem bayerischen Bauern, der es gewohnt ist, auf eigenem Grund als freier Herr nach seinem Gutdünken zu schalten und zu walten, sind staatliche Eingriffe wie Bebauungsvorschriften und Schlachtbeschränkungen, sind Viehkommissare und Milchkontrolleure höchst zuwider. Die zentrale, von Preußen aus gelenkte Kriegswirtschaft, der Ablieferungszwang und die Festsetzung von Höchstpreisen führen zu einer weitgehenden Verbitterung bäuerlicher Kreise. Die Entbehrungen und die teilweise recht schlimmen Erfahrungen mit dem Offizierskorps machen den Bauern an der Front, die übermäßige Arbeitsbelastung die Bäuerin in der Heimat für Umsturzgedanken aufgeschlossen.
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Allerdings sollen hier die materiellen Vorteile nicht unerwähnt bleiben, die von den Bauern, ähnlich wie nach dem letzten Kriege, aus der Notlage der Städte gezogen wurden.77 Wenn auch das Hamstern in einem Maße zunahm, daß es schließlich zu einer Plage für das flache Land wurde und mitunter einem Ausplündern nahe kam, so hatte der Krieg doch zu einer wenig verschuldeten, teilweise sogar vermögenden Bauernschaft geführt.78 Von Seiten der Bauern war also kein Widerstand revolutionären Umwälzungen gegenüber zu erwarten, ja eine Beseitigung der bestehenden Verhältnisse wurde von ihnen sogar begrüßt. Es ist bezeichnend, daß die entscheidenden vorbereitenden Gespräche zum Umsturz von 1918 nicht in irgendwelchen Lokalen Schwabings, sondern bei Carl Gandorfers Bruder Ludwig stattfinden, der ebenfalls in Pfaffenberg seinen Besitz hat. Den ganzen Sommer über sind dort schon Männer wie Eisner, Liebknecht, Süssheim, Unterleitner, Schneppenhorst und Nimmerfall bekannte Gäste.79 Noch am Tage vor der Revolution sagt Eisner: „Wenn die Bauern nicht mittun, ist die Revolution unmöglich". Daß diese Äußerung Eisners für ihn keine bloße Phrase ist, zeigen seine Reden in München vor dem Umsturz.80 München steht also in den Wochen vor der Umwälzung an revolutionärer Gesinnung und Bereitschaft nicht im Gegensatz zu seinem Umland. Wie bereits erwähnt, hat sich seit Sommer 1918 die allgemeine Situation in steigendem Maße verschärft. Mitte August wird die militärische Niederlage Gewißheit, die Verbitterung über die Regierung, die der Bevölkerung so lange die Aussicht auf einen glücklichen Ausgang vorgegaukelt hat, wächst sprunghaft. Die Münchener Post, auf deren erster Seite Artikel unter großen Überschriften wie „Fort mit dem Militarismus!", „Ein Systemwechsel notwendig!", „Eine neue Politik", „Für ein neues freies Vaterland" abgedruckt sind, kann allein vom 1. bis 15. Oktober eine Auflagesteigerung von 15 000 Exemplaren anzeigen.81 Die Lebensmittelversorgung der Stadt verschlechtert sich immer mehr,82 trotzdem verringert sich der stark angeschwollene Strom der Fremden nicht, der speziell aus dem bayerischen Raum83 durch München fließt. Dieses Anwachsen wird aber nicht durch zahlungskräftige Urlaubsreisende bedingt, sondern größerenteils durch die militärischen Erfordernisse. Die vom Fremdenverkehr abhängigen Betriebe beklagen schon seit langem ihre Notlage, eine für Münchens Wirtschaft empfindliche Einbuße. Dieser durch den Krieg verursachte starke Zustrom von Soldaten und Arbeitskräften nach München hilft mit dazu bei, die politischen Kräfteverhältnisse in der Stadt zu verändern und den Einfluß der Linken zu stärken. Zu den vielen Faktoren, die den Boden für einen grundlegenden Wandel bereit machen und die jede Widerstandskraft gegen eine Umwälzung schwä-
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chen, gehört ohne Zweifel auch die Grippeepidemie, von der Bayern in diesen Wochen heimgesucht wird. In München fordert sie bis zum ersten November 450 Todesopfer,84 in der ersten Novemberwoche sterben daran 176 Personen,85 am 5. November allein zählt man 34 Grippetote.86 Der Zusammenbruch der Donaumonarchie und die daraus sich ergebende Möglichkeit einer Besetzung Bayerns durch feindliche Truppen wird in den folgenden Wochen zur unmittelbaren Gefahr für Leben und Gut.87 Die Nachrichten über das Chaos in Österreich-Ungarn, die Ausrufung der Republik in Wien und Bukarest, die blutigen Ausschreitungen in Kroatien und Slowenien, der völlige Zerfall des verbündeten Frontheeres und die dadurch notwendige Sicherung der Süd- und Ostgrenze werden zum Hauptthema der Münchener Bevölkerung. Die Stimmung bei den fast täglich stattfindenden Versammlungen und Massendemonstrationen wird immer hektischer, die Forderungen werden immer radikaler. Am 2. November gibt der König seine Zustimmung zu den seit Wochen im Landtag vorbereiteten Abmachungen über die innere Neuordnung der Regierung auf parlamentarischer Grundlage. Am nächsten Tage fordert Eisner auf einer Versammlung auf der Theresienwiese auf zum Sturz der Monarchie und zur politischen Revolution und fährt noch am gleichen Tage nach Pfaffenberg, um sich die Unterstützung der Bauern durch Gandorfer und seinen Kreis zu sichern.88 Nach seiner Rückkehr bespricht er sich mit einer Reihe einflußreicher Persönlichkeiten.89 Seine Sondierungen verlaufen scheinbar so günstig, daß er am 5. November auf einer Versammlung auf der Theresienwiese seinen Zuhörern die feste Zusage machen kann, daß in München die Erhebung innerhalb von 48 Stunden stattfinden wird. Von den etwa 1000 Matrosen, die am 3. November auf der Durchreise von der bisherigen deutschen Werft in Pola nach Kiel und Wilhelmshafen in München vorübergehend in Massenquartieren untergebracht wurden, werden am gleichen Tage Beschwerden laut. Die Mannschaften, die das warme Klima gewöhnt sind, klagen über die kalte, ungemütliche Unterkunft und die schlechte Verpflegung. Der Truppenfahrer bemüht sich ohne Erfolg, den Transport weiterzuführen. Auch eine Umquartierung erfolgt nicht.90 Am 6. November rufen Eisner und Auer auf großen Plakaten zu einer FriedensdemonstrationfürdennächstenTagauf.ImBayerischenKuriervomgleichen Tage wird verwundert festgestellt, daß die Anhänger der staatlichen Ordnung wie vom Winde verweht scheinen, und gefragt, „ob denn die Männer, welche ihre Stimme zu erheben berufen sind, in die Ecken verkrochen sind".91 Ein Teil der bürgerlichen Kreise sieht in der Teilnahme der Sozialdemokraten an der Friedensdemonstration ein günstiges Zeichen. Er glaubt, die Sozialdemokratische Partei lasse sich die Führung der Massen nicht streitig machen durch
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die kleine radikale Gruppe der Unabhängigen und rechnet mit einem ruhigen Verlauf der Versammlung.92 Außerdem ist man „höheren Orts" überzeugt, für den Fall eines Putsches die nötige Vorsorge getroffen zu haben, allerdings ohne genauere Vorstellung davon, wie weit die Bereitschaft in die einzelnen Bevölkerungsgruppen eingedrungen ist, einen Putsch zu befürworten bzw. zu dulden. Der Magistrat Münchens gibt ab Mittag zur Teilnahme an der Demonstration auf der Theresenienwiese für seine Arbeiter und Angestellten dienstfrei. Die Münchener Geschäftswelt verfährt weitgehend ebenso, und so sammeln sich dort bis 15 Uhr etwa 50000 Personen.93 Nach einer kurzen Ansprache wird eine Resolution allgemein angenommen und dann formiert man sich zu einem gewaltigen Demonstrationszug durch die Stadt. An der nordwestlichen Seite hatte sich Eisner aufgestellt, um sich viele Soldaten und Matrosen. Eisner fordert zum Handeln auf, Ludwig Gandorfer verspricht in einer kurzen Rede nach ihm die Unterstützung der Revolution durch die Bauern, Fechenbach gibt das Signal zum Aufbruch, und ein zweiter Demonstrationszug zieht von Kaserne zu Kaserne, die alle, bis auf geringen Widerstand der Türkenkaserne, zur „Revolution" übergehen. Bis 21 Uhr sind alle Kasernen, bis 2 Uhr alle wichtigen öffentlichen Gebäude der Stadt besetzt. Der Münchener Putsch ist reibungslos und ohne Blutvergießen abgelaufen. Ein Teil des „Eroberungszuges" mit Eisner zieht gegen Abend zum Franziskanerkeller, wo für den gleichen Tag eine Versammlung der Unabhängigen angesetzt ist. Sie wird abgesagt und man zieht weiter zum Mathäser, wo sich im ersten Stock der Soldatenrat bildet. An einer Gruppe von vier Tischen wird im Erdgeschoß mitten unter den Abendgästen durch Namensnennung und Vorschläge der an diesen Tischen Sitzenden der Arbeiterrat gewählt. Zum ersten Vorsitzenden wird Kurt Eisner bestimmt, zum Stellvertreter Felix Fechenbach. Daraufhin treten Arbeiter- und Soldatenrat gemeinsam zusammen und nach kurzer Zeit begibt man sich zur „Machtergreifung" in die Prannerstraße ins Landtagsgebäude.94 Am 8. November kann der neue Ministerpräsident und Minister für auswärtige Angelegenheiten Kurt Eisner bereits sein neues, sozialistisches Kabinett vorstellen. Die am gleichen Tage erscheinende Bayerische Staatszeitung bringt auf der ersten Seite noch den Aufruf vom 6. November des inzwischen abgesetzten Innenministers Dr. von Brettreich, in dem es u. a. heißt: „... Die Bevölkerung darf überzeugt sein, daß sie gegen jegliche Willkür und Gewalttätigkeit den ausreichenden Schutz finden wird, den das ganze Volk von seiner Regierung erwartet".95 Kurz, klar und treffend charakterisiert der Bayerische Kurier den Umschwung mit dem Satz: „Über Nacht, wenn auch für viele - ausgenommen vielleicht die frühere
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Regierung - nicht unerwartet, hat sich in Bayern ein Wechsel vollzogen, der die kühnsten Hoflnungen wohl sogar seiner Urheber übersteigt".96 Wie wenig die Vorgänge des 7-/8. November als eine gewaltsame Revolution gesehen werden, illustrieren zwei Tatsachen besonders deutlich. Beim Amtsantritt des neuen Kabinetts weisen die bisherigen Minister ihre Nachfolger in die Aufgaben ihres Geschäftsbereiches ein und erteilen die gewünschten Aufschlüsse.97 Auf den Geldverkehr, stets ein deutlicher Krisenanzeiger, übt die Umwälzung nur geringen Einfluß aus. Bei den städtischen Sparkassen überwiegen nur am 8., 9. und 1 1 . November die Abhebungen, in den Tagen danach werden sie, wie vordem, von den Einlagen klar überstiegen.98 Auf den Umsturz folgt in München wider Erwarten schnell eine bemerkenswerte Ruhe,99 die Standesorganisationen und politischen Gruppen „stellen sich auf den Boden der allgemeinen Tatsachen".100 München ist im bayerischen Räume als Kristallisationspunkt, in dem die wirtschaftlichen und politischen Mißstände besonders klar hervortreten, zum Träger des Umsturzes geworden. Von hier aus geht jetzt die Umwälzung in sein Umland hinaus und zwar, wie sich noch zeigen wird, bis an die oben aufgezeigten Grenzen seiner Einflußsphäre. Weil sich auch am flachen Land genug Zündstoff für einen Umschwung angehäuft hat, kommt es zu keinem Widerstand gegen diese Bewegung. 101 Das Zentrum und der Motor der Revolution ist und bleibt München und je stärker der Einfluß Münchens auf die einzelnen Gebiete ist und die Verbindung mit diesen, desto mehr kann sich auch die Revolution durchsetzen. Dabei finden die revolutionären Ideen vor allem dort Anklang, wo eine mehr oder minder breite Arbeiterschicht vorhanden ist. Schon bei der Ausbreitung des Umsturzes zeigt sich allerdings immer deutlicher der wechselseitige Charakter der Verbindung Münchens mit seinem Umland. In der Endphase der Revolution wird dann diese Verflechtung Münchens mit seinem Umland entscheidend sein. Mit dem Fortschreiten der Revolution bildet sich immer augenscheinlicher ein Gegensatz zwischen Stadt und Land heraus, der seine Ursache darin hat, daß der Bauer die für ihn wichtigen Forderungen durch den Umsturz verwirklicht sieht bzw. deren Erfüllung für ihn in greifbare Nähe gerückt ist. Mit dem Abschluß des Waffenstillstandes, der Rückführung der Truppen, der Beseitigung der Monarchie, der immer geringer werdenden Gefahr eines Krieges im eigenen Lande und dem bevorstehenden Abbau der von Preußen gesteuerten Zwangswirtschaft ist er größtenteils zufriedengestellt. Jetzt wünscht er sich eine Regierung, die Ruhe und Ordnung im Lande aufrechterhält. Nur ein geringer Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung, der es ja auch weitgehend an theoretischer und praktischer politischer Schulung fehlt,102
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ist bereit, am Aufbau neuer staatsrechtlicher Verhältnisse mitzuarbeiten. Auch für einen Teil der Münchener Bevölkerung sind viele der oben angegebenen Punkte für die Zustimmung zum Umsturz maßgebend. Für eine immer mehr anwachsende radikale Minderheit sollte aber der politische Wechsel vom November nur der Auftakt sein für einen grundlegenden sozialen Umbruch, sollte es zu einer wirklichen Revolution kommen. Solchen Gedanken stehen die Bauern aber ablehnend gegenüber. Zunächst aber einen Blick auf die Ausbreitung des Umsturzes in Bayern von München aus. Grundsätzlich läßt sich dazu feststellen, daß sich die Bildung der neuen politischen Ordnung erst nach Bekanntwerden der Vorgänge in München in den einzelnen Städten und Gemeinden vollzieht.103 Doch bedarf es nur noch eines kleinen Anstoßes, um die Umwälzung eintreten zu lassen. Die Münchener Post meldet bereits am n . November 104 die friedliche Bildung von Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten in Ingolstadt, Regensburg, Straubing, Augsburg, Kaufbeuren, Lindau, Bamberg, Landshut, Nürnberg und Würzburg.105 Die Initialzündung dazu ging von München aus, in der weiteren Entwicklung verläuft allerdings dann die Revolution in den größeren bayerischen Städten weitgehend selbständig und der Einfluß Münchens ist hauptsächlich beschränkt auf von München geschickte Redner und Agitatoren. Der Revolutionsablauf zeigt später in den einzelnen Städten bisweilen Erscheinungsformen, mit denen die jeweiligen Machthaber in München ganz und gar nicht einverstanden sind. Aber sie können sich nur dort einigermaßen Gehör verschaffen, wo seit jeher eine enge Verbindung mit der Hauptstadt besteht, die Sozialstruktur entsprechend ist und die technischen Voraussetzungen dafür vorhanden sind.106 Im April schrumpft ja dann ihr Einflußgebiet bis auf wenige Ausnahmen auf den Stadtbereich von München zusammen. Die revolutionäre Entwicklung in den größeren Städten Bayerns soll hier nicht weiter behandelt werden, denn ich will mich auf die Bezirke beschränken, in denen ein entscheidender Einfluß von München aus vorhanden war. In diesem Bereich verläuft die Gründung der Räte keineswegs so schnell, wie bisher107 angenommen wurde. Meist vollzieht sich nur in den Städten und Gemeinden die Umbildung relativ rasch, die dem Münchener Wirtschaftsgebiet schon eng angegliedert sind108 und mit denen auch ein reger Austausch an Arbeitern herrscht oder in denen seit einiger Zeit bereits die Landwirtschaft ihre Vormachtstellung an Industrie und Handel abgeben mußte.109 Hier ist vor allem das stark mit Industrie durchsetzte Rosenheim hervorzuheben, in dem am 9. November bei einer Volksversammlung auf der Lorettowiese ein Soldaten- und Arbeiterrat gewählt wird, der sich aus Angehörigen
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der verschiedenen Parteien zusammensetzt und deshalb bis zum 22. Februar als Volksrat auftritt.110 Es ist eine Besonderheit der Räte im bayerischen Raum, daß sie mehr oder weniger stark mit bürgerlichen Elementen durchsetzt sind, 111 auch wenn die einzelnen Mitglieder „auf dem Boden der Volksregierung stehen müssen", um in ihrem Amt anerkannt zu werden. In Erding, 112 in dem ebenfalls am 9. November ein Arbeiter- und Volksrat gewählt wird, findet bereits am 17. November eine Ergänzungswahl statt. Nachdem die ersten Wahlen meistens ohne irgendeinen Wahlmodus einfach durch Akklamation stattfinden, sind solche Ergänzungswahlen vielfach notwendig. Diese Versammlung in Erding, bei der ein Geschäftsführer Werkmann aus München das Hauptreferat hält, läßt den Gegensatz zu den in der Stadt auftauchenden sozialistischen Ideen klar hervortreten. Zehn Tage nach dem Putsch in München wird hier für die Erhaltung des Großgrundbesitzes und gegen die Einführung der achtstündigen Arbeitszeit, namentlich in der Landtwirtschaft und in solchen Betrieben, die mit der Landwirtschaft in enger Verbindung stehen, plädiert. Werkmann beschwichtigt die aufgebrachten Bauern mit dem Hinweis darauf, daß die Enteignung des Grundbesitzes nur in Ostelbien, im Lande der Junker, geplant sei. In seiner ersten Sitzung verabschiedet der Arbeiter- und Volksrat Erding am 20. November bereits eine Resolution, die sich für die baldige Einberufung einer Nationalversammlung und gegen den politischen Terror ausspricht. Ein Beispiel für die Grenzen des Münchener Einflußbereiches ist die Wahl des Arbeiter- und Soldatenrates am 10. November in Eichstätt.113 Hier geht der Anstoß dazu nicht von München, sondern von Ingolstadt aus, und zwar durch einen Pendler, der in Ingolstadt seinen Arbeitsplatz hat. Im großen und ganzen läßt sich zum Ausbau des Rätesystems von München aus feststellen:114 Die Wahl der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte im Einzugsbereich von München ist erst im Januar 1919 einigermaßen abgeschlossen.115 Das Interesse an der Wahl von Räten ist weitgehend abhängig von der Entfernung zu München, der Intensität der Verbindung mit München118 und der Wirtschaftsund Sozialstruktur117 der einzelnen Gemeinden und Städte. Die Wahl selbst vollzieht sich am flachen Lande im allgemeinen recht schleppend,115 Agitatoren aus München sind vielfach am Zustandekommen der Räte beteiligt.119 Ebenso fuhrt die Aufforderung zu den Wahlen durch die einzelnen Behörden bzw. durch die erlassenen Vorschriften erst zu deren Durchführung.120 In einem Teil der Gemeinden werden keine Räte gewählt,121 mitunter können sich die alten Autoritäten in den Räten nachhaltigen Einfluß verschaffen.122 Sehr bald schon macht sich in Münchens engerem und weiterem Umland eine Abneigung
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gegen den von Münchener Räteinstitutionen ausgeübten Zentralismus geltend123, besonders in Gebieten, denen ein engerer Kontakt mit München fehlt. Daneben wird von Seiten der Räte, die sich in einer ihnen mehr oder weniger feindlich gegenüberstehenden Umwelt124 sehen, immer wieder die Bitte um Unterstützung von München aus laut.125 In den Schreiben der örtlichen Arbeiterräte zeigt sich oft eine große Unbeholfenheit,126 man ist sehr an einer offiziellen Legitimierung und damit Stärkung der eigenen Position vom Zentralorgan in München aus interessiert.127 Hemmend auf den Ausbau des Rätesystems wirkt sich auch bald die offen ausbrechende Gegnerschaft aus zwischen den alten Organisationen der Landwirtschaft und dem Bauernbund, dessen linker Flügel immer mehr die Oberhand über die ganze Organisation gewinnt. Dr. Heim und Dr. Schlittenbauer machen ihre Mitarbeit in der provisorischen Nationalversammlung von der Gleichstellung des Christlichen Bauernvereins mit dem Bauernbund abhängig, die revolutionäre Richtung unter den Bauernräten lehnt aber jede nichtrevolutionäre Gruppe ab.128 Nach der Umwälzung versucht der Christliche Bauernverein sich seine Stellung innerhalb der einzelnen Räte zu sichern.129 Als er erkennen muß, daß ihm diese Einflußnahme nicht gelingt, ruft er zu offenem Boykott des Rätesystems auf.130 Neben der Unfähigkeit des größten Teiles der jeweiligen Machthaber in München, ein gut organisiertes Rätesystem von München aus aufzubauen, trägt also eine ganze Reihe von Gründen dazu bei, daß sich auf dem flachen Lande ein von den Idealvorstellungen ihrer Initiatoren stark abweichendes Bild der Räteorganisationen entwickelt. Durcheinander und Unordnung in Aufbau und Ausbreitung vermehren die ohnehin schon kritische Haltung der Bauern gegenüber den neuen Organisationen. Dazu kommt dann noch die Entwicklung der Verhältnisse in München in den Wochen und Monaten nach dem Umsturz,131 die in weiten Kreisen Bayerns eine immer stärker werdende Abneigung gegen die Hauptstadt entstehen läßt. Die Revolution, die ursprünglich, wenigstens scheinbar, einen vorwiegend politischen Charakter trägt, entwickelt sich immer deutlicher zu einer wirtschaftlichen Bewegung. Für eine wirtschaftliche Revolution, die mit Streiks und Lohnkämpfen beginnt und später dann mit den Versuchen einer teilweisen Sozialisierung einzelner Wirtschaftszweige ihr Ende findet, ist aber die Nachkriegszeit der denkbar ungünstigste Zeitpunkt. Während für den politischen Umsturz die allgemeine Entwicklung bereits überreif war, steht einem Neuaufbau des Wirtschaftslebens auf völlig anderen Grundlagen die nicht nur überaus schlechte Wirtschaftlage, sondern auch die eigentümliche Wirtschaftsstruktur Münchens und seiner Einflußsphäre entgegen.132 Nur die be-
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sondere Situation in München nach dem Umsturz ermöglicht es den Verfechtern einer wirtschaftlichen Revolution, die nötige Anhängerschaft zu finden, um die politische Macht für solch ein Vorgehen zu gewinnen, allerdings verhindert eben diese Situation zugleich ein weitgehendes Eingreifen in das Wirtschaftsgefuge. In dem nun folgenden Teil soll diese Besonderheit der Lage Münchens in den Revolutionsmonaten näher betrachtet werden, die bedingt ist durch die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Struktur Münchens und durch seine Beziehungen zum Umland. Eisner hat erkannt, wie sein Aufruf vom 8. November „An die Bevölkerung Münchens!" zeigt, welche Schwierigkeiten nach Kriegsende für München kommen werden.133 Der Verwaltungsapparat hatte sich, ebenso wie verschiedene Wirtschaftszweige, stark aufgebläht, München stand bereits vor der einsetzenden Demobilisierung am Rande der Übervölkerung. Und in diese Stadt strömt monatelang ein großes Kontigent Feldtruppen, um hier entlassen zu werden. Der während des Krieges schon vorhandene Wohnungsmangel wird jetzt zu einer Wohnungsnot größten Umfanges.134 Durch Massenquartiere in Hotels, Bräus und Schulhäusern, durch Unterbringung von Familien in Kabinenwohnungen und Hotelzimmern, durch Errichtung von Wohnbaracken und durch den Versuch, Zivileinquartierungen vorzunehmen, bemüht sich die Stadtverwaltung, diesem Problem Herr zu werden.135 Daneben strengt sie sich verzweifelt an, den Zuzug nach München einzudämmen. In den Tageszeitungen fordern große Anzeigen die heimkehrenden Soldaten auf, doch aufs Land zu gehen, denn dort würden sie Arbeit und Brot finden, in der Stadt aber nur Hunger und Arbeitslosigkeit. Zu den Militärpersonen, die in München freigegeben werden, kommen solche, die zwar außerhalb entlassen wurden, aber trotzdem nach München ziehen, in der Hoffnung, dort Arbeit, größeren Verdienst oder eine bessere soziale Versorgung zu erhalten. Das Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung hatte zwar am 15. Januar 1919 eine Verordnimg erlassen, in der eine Frist von vier Wochen für eine Unterstützung der Personen festgesetzt wurde, die nicht in München unterstützungsberechtigt waren, den demonstrierenden Erwerbslosen war es aber gelungen, diese Frist bis 30. April hinauszuschieben.136 München ist auch der Zielpunkt vieler Züge mit Flüchtlingen aus Elsaß-Lothringen und der Türkei. Der Magistrat versucht zu verhindern, daß alle Flüchtlingszüge ausgerechnet nach München geleitet werden,137 aber ohne Erfolg. Im Februar melden sich wöchentlich 1200 bis 1500 Antragsteller an den Fremdenschaltern, hauptsächlich existenzlose Personen, die ihren vorübergehenden Aufenthalt in der Regel über mehrere Monate hin ausdehnen.138 Trotz rigoroser Maßnahmen neben der Zuzugssperre, wie Entzug der Lebensmittelkarten, polizeiliche Verschu-
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bung und Überführung an den Strafrichter, wird immer wieder versucht, mit allen irgendwie möglichen Listen und Hilfen unterzukommen.139 Großen Einfluß hat der Zuzug nach München natürlich auch auf die Erwerbslosigkeit, die Anfang Dezember 1918 einsetzt und in der zweiten Januarwoche bereits einen Umfang von rund 21450 unterstützten Personen erreicht.140 Die Arbeitslosen, deren Zahl in München von der dritten Februarwoche bis über das Ende der Räteregierung hinaus nie unter 30000 sinkt,141 bilden das stehende Heer der Unzufriedenen, bei dem eine radikale Agitation von links ungeteilte Zustimmung findet. Der relativ hohe Betrag an Arbeitslosenunterstützung, der in München ausbezahlt wird, und die niedrigen Löhne gerade für die ungelernten Arbeiter, die in keiner Weise mit den Preissteigerungen Schritt halten, wirken natürlich dämpfend auf den Arbeitswillen der Erwerbslosen. Die Münchener Post veröffentlicht am 15. März 1919 eine Zuschrift, in der sich ein Leser über die allseits vorhandene geringe Arbeitsmoral und die unmöglichen Lohnforderungen empört.142 Ein Blick auf die Verhältnisse im Baugewerbe zeigt, wie berechtigt seine Entrüstung ist. In der Zeit vom 6. Februar bis 1. März wird während 13V2 Tagen gefeiert und zwar sieben Tage wegen verschiedener Streiks und sechseinhalb Tage infolge der Kälte. 143 Rechnet man dann noch die Sonntage dazu, dann wird in den 24 Tagen nur an siebeneinhalb Tagen gearbeitet. Ungünstig für die allgemeine Lage muß es sich auswirken, daß die Entlassungen bei Heer und Industrie so massiert in relativ kurzer Zeit auftreten144 und daß den Soldaten und Arbeitern, die nicht in München ansässig sind oder sich nur seit kurzer Zeit hier aufhalten, für einige Wochen noch die Möglichkeit gegeben wird, sich in München über Wasser zu halten. So machen viele aus dem Heeresdienst Entlassene, namentlich ungelernte Arbeiter, von der Bestimmung Gebrauch, die es ihnen erlaubt, noch vier Monate in der Kaserne zu bleiben, weil sie den Winter furchten und in der Kaserne ein relativ leichtes Durchkommen finden.145 Eine Aufbesserung ihrer Bezüge verschaffen sie sich durch den Schleichhandel mit entwendeten Heeresgütern, der in bestimmten Münchener Großgaststätten146 blüht. Neben Wäschestücken, Kleidern, Waffen und Schuhen werden sogar Pferde und Wagen verschachert.147 Die Arbeiter der Rüstungsindustrie müssen noch vier Wochen nach ihrer Entlassung bezahlt werden, was sich auf die Arbeitsfreude ihrer Kollegen in anderen Betrieben nicht gerade günstig auswirkt.148 Die durch die gute Verdienstmöglichkeit in der Kriegsindustrie nach München zahlreich zugewanderten Arbeitskräfte149 haben nach dem Kriege wenig Lust, wieder an ihren früheren Arbeitsplatz zurückzukehren.150 Nur um mehr Leute aufs Land zu
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bringen, bietet man Ende März 1919 allen Personen, die früher in der Landund Forstwirtschaft gearbeitet haben, gleichgültig, ob sie in Arbeit stehen, ob sie erwerbslos sind oder nicht, wenn sie wieder auf das Land hinausgehen, die eineinhalbfache Familienunterstützung.151 Das Heer der Münchener Arbeitslosen vermehren weiterhin die nach München gekommenen Ausländer und Auslandsdeutschen, die nach einer Entschließung vom 4. Januar des Ministeriums für soziale Fürsorge hinsichtlich der Erwerbslosenfürsorge grundsätzlich den Deutschen gleichgestellt werden.152 Neben den Arbeitsmangel und die Wohnungsnot tritt als dritter entscheidender Faktor die allgemeine Not, im besonderen der Mangel an Nahrungsmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfes. Josef Hofmiller153 hat diese Sorgen und Nöte eingehend geschildert, so daß ich mich hier auf einige kurze Andeutungen beschränken kann. Ein anschauliches Bild der Ernährungskrise der Münchener Bevölkerung gewährt der Fleischverbrauch in München. Von 68,3 kg pro Kopf im Jahre 1914 sinkt er und erreicht seinen tiefsten bisher beobachteten Stand mit 14,1 kg im Jahre 1918, gefolgt von 18,5 kg für 1919. 154 Der Verbrauch von Pferdefleisch steigt dagegen im letzten Kriegsjahr und im Demobilmachungsjahr auf das Achtfache der Vorkriegszeit.158 Bis zur Einnahme Münchens verschlechtert sich die Lebensmittelanlieferung derart, daß zuletzt nur mehr die Brotund Eierversorgung im Rahmen der weitest eingeschränkten Kontingentierung aufrechterhalten werden kann,156 ein Brot allerdings, an das man sich später nur mehr mit einem stillen Grauen erinnert.157 In einer Sitzung der Preisprüfungsstelle von München-Stadt stellen zwei Münchener Mediziner158 eine geradezu verheerende Wirkung der absolut ungenügenden Nahrungsversorgung der Bevölkerung seit Frühjahr 1916 auf die bayerische Geburtenziffer, Morbidität und Mortualität fest.159 Die Besprechungen zwischen Vertretern der Regierung Hoffmann und des Münchener Vollzugsrates am 20. April 1919 in Landsberg ergeben zwar die Zustimmung der Regierung, die für den Bereich von München notwendigen Lebensmittelzufuhren bereitzustellen, doch erreichen München erst nach der Einnahme durch die Regierungstruppen größere Nahrungsmittelbestände. Für die Münchener Industrie, die ja erst im hektischen Klima der Kriegsjahre eine bedeutende Erweiterung erfahren hat,160 setzt neben den Schwierigkeiten, die Absatzstockung und Umstellung auf die Friedenswirtschaft mit sich bringen, die große Belastung durch die Erfüllung der Waffenstillstandsbedingungen ein. München ist durch seine revierferne Lage in beträchtlichem Maße vom Verkehr abhängig und wird durch die einsetzenden Verkehrsbeschränkungen181 besonders hart getroffen. Die Wirtschaft ist überhaupt nicht
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mehr zu übersehen, man zehrt nur von den Beständen, die von der Heeresverwaltung übrig behalten wurden und der Wunsch, Kohle 162 und Rohstoffe herbeizuschaffen, bleibt vorerst ein Wunsch. Für den Münchener Fremdenverkehr und die mit ihm direkt und indirekt verbundenen Gewerbezweige spielt natürlich die Fremdenverkehrssperre, die Ende März wiederum verlängert wird, eine große Rolle. Sehr verschlimmert wird die wirtschaftliche Lage gerade in München, wie bereits erwähnt, für die vielen Festbesoldeten, Rentner, Pensionisten und von den eigenen Ersparnissen Lebenden durch die in immer stärkerem Maße um sich greifenden Preissteigerungen und die immer deutlicher hervortretende Inflation. Die Teuerungszulagen hinken viel zu langsam hinter dem Anwachsen der Lebenshaltungskosten nach, das Geld reicht kaum noch, um sich die nötigsten Lebensmittel auf Hamsterfahrten zu besorgen. Diejenigen aber, die dazu nicht in der Lage sind, werden buchstäblich gezwungen, Hunger zu leiden.163 Die Preissteigerungen und die Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung, die vielen Streiks und die mangelnde Arbeitsmoral bringen das für München so bedeutende Baugewerbe nahezu zum Erliegen. Das von der Stadt Mitte Februar in großem Ausmaß in Umlauf gesetzte Notgeld erhöht die allgemeine Verwirrung im Geldverkehr, denn es wird der Anlaß zu täglichen Streitigkeiten zwischen Zahler und Empfänger, da jeder versucht, es möglichst schnell wieder loszuwerden. Es herrscht weitgehend Unklarheit über die Laufzeit des Geldes und sogar die Gerichtskassen und die Post verweigern teilweise seine Annahme.164 Daß die Drohung einer Besetzung Bayerns durch feindliche Truppen nicht nur in den ersten Wochen des November eine große Bedeutung hat, erhellt eine Eingabe des Bayerischen Industriellenverbandes an das Ministerium des Innern, die der Gemeinde-Arbeitsausschuß am 23. Dezember 1918 behandelt und deren Berechtigung durchaus anerkannt wird. 165 Darin wird angeregt, um weitgehende Schädigungen des Wirtschaftslebens zu vermeiden, durch eine Gemeindekommission sofort die Räume feststellen zu lassen, die fremden Truppen zur Einquartierung zur Verfugung gestellt werden können. Unter diesen Umständen ist natürlich die Regierung nicht sonderlich daran interessiert, alle Soldaten möglichst schnell zu entlassen. Die Not und die Entbehrungen und Enttäuschungen der vergangenen Jahre, die das neue politische System auch nicht beseitigen kann, die scheinbare Aussichtslosigkeit der gegenwärtigen Situation, die unmittelbare Bedrohung von außen und die ungeheuere politische Intensität des täglichen Lebens166 führen zu einer bereits in der Adventszeit beginnenden Tanzwut,187 die nur als ein Verschließen vor dem Ernst der Lage, als eine Betäubung zu verstehen ist. Immer mehr flüchten
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sich in eine förmliche Tanztollheit, vom 25. Dezember bis zum 4. Februar finden in München nicht weniger als 1218 polizeilich gemeldete Tanzveranstaltungen statt, rechnet man die zahlreich abgehaltenen „wilden", sogenannten Salontanzunterhaltungen, dazu, so kommt man auf weit über 2000. Die zahlreichen Arbeitslosen besuchen schon am Nachmittag die entsprechenden Lokale und tanzen dann die ganze Nacht hindurch. Bei Versuchen, die Tanzveranstaltungen nach dem Überschreiten der Sperrstunde aufzulösen, kommt es wiederholt zu Zusammenstößen mit den Sicherheitsorganen. Nicht zu vergessen bei der Darstellung des Hintergrundes der politischen Geschehnisse in den Monaten der Revolution ist die antikirchliche Haltung weiter Kreise der Sozialdemokraten und besonders der radikalen Linken168 vor und in der Räterepublik. Inmitten eines katholischen Umlandes ist München unter den 23 größten Städten Deutschlands die Stadt mit dem höchsten Prozentsatz von Katholiken an der Gesamtbevölkerung.169 Daher muß gerade hier jeder Angriff auf die Kirche und ihre Rechte und Institutionen sehr schmerzhaft empfunden werden und Mißstimmung und Unruhe hervorrufen. Die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht ab 1. Januar 1919 und der ReligionsUnterrichts-Erlaß des Kultusministers Hoffmann fördern sichtlich den Widerstand gegen die Linke. 170 A m 3. Februar finden gleichzeitig acht Protestversammlungen gegen diesen Erlaß statt. Das taktisch unkluge Verhalten der Machthaber der Räterepublik der Kirche gegenüber, wie es sich in dem Versuch zeigt, den Erzbischof zu verhaften und den päpstlichen Nuntius Pacelli zu bedrohen,171 hat wesentlich dazu beigetragen, den Graben zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft in München für lange Zeit zu vertiefen. Den nachhaltigsten und schlechtesten Eindruck hinterläßt die Revolution in ihrer letzten Phase wohl durch den Versuch, die wirtschaftliche Gesamtstruktur grundlegend umzugestalten. Wenn auch die meisten Maßnahmen der Rätemachthaber im Stadium der Proklamation stecken bleiben,172 so haben doch die wenigen Eingriffe in das Wirtschaftsleben, verbunden mit einer Menge von Ankündigungen und Androhungen, genügt, um für die kommenden Jahre den tiefsten Abscheu vor allen Maßnahmen entstehen zu lassen, die auch nur irgendwie den Geruch einer Sozialisierung haben, besonders weil eben in München eine so breite Schicht eines Kleinbürgertums vorhanden ist, das sich ängstlich um den Erhalt seines bescheidenen Vermögens bemüht. Daß man es gewagt hat, ihr Eigentum auch nur anzutasten, prägt sich unauslöschlich in das Gehirn vieler Münchener Bürger ein und macht sie blind fiir die zahlreichen Übergriffe der Reaktion gegenüber den Linksradikalen nach der Beseitigung der Räterepublik.
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Die theoretischen Grundlagen für eine Änderung des Wirtschaftsgefüges, die Voilsozialisierungs-Theorie Otto Neuraths und die Freigeld-Theorie Silvio Gesells, wie auch die Wirtschaftsanschauungen der anderen maßgebenden Personen der Rätezeit hat Reiners173 gründlich abgehandelt. Weil es für den Ablauf der politischen Ereignisse wichtig erscheint, -will ich kurz auf die Einstellung der einzelnen wirtschaftlichen Gruppen der Münchener Bevölkerung zu den Vorstellungen und Maßnahmen der Räteregierung eingehen und die erfolgten Eingriffe kurz schildern. Grundsätzlich darf man sagen, sind die Münchener gegenüber Änderungen im politischen wie auch im wirtschaftlichen Bereich durchaus aufgeschlossen, aber nur solange jeweils ihre eigenen Interessen voll gewahrt bleiben. Sobald es darum geht, für die neue Staats- oder Wirtschaftsform an der eigenen sozialen Stellung oder gar im Einkommen Einbußen zu erleiden, zeigt sich überall blanker Egoismus, auch bei den Arbeitern. Außerdem ist man weithin vom vorübergehenden Charakter der neuen Regierung überzeugt und deshalb sehr vorsichtig. Das Münchener Unternehmertum174 lehnt das Rätesystem und seine Maßnahmen geschlossen ab. Weniger einheitlich ist dagegen die Haltung des Teils der Intellektuellen und freien Berufe, die auf Grund ihrer wirtschaftlichen Lage oder ihrer Geistesrichtung der neuen Bewegung Interesse entgegenbringen. Sie verhalten sich zunächst abwartend, nehmen aber dann, als die offensichtliche Unfähigkeit der Rätemachthaber in der praktischen Durchsetzung ihrer Ideen und die weitgehende Isolierung Münchens deutlich wird, eine abweisende Stellung ein. Während bei den Angestellten das ständische Überlegenheitsgefühl gegenüber den Arbeitern und die Angst, mit einer sozial tiefer stehenden Schicht in einen Topf geworfen zu werden, ausschlaggebend ist für eine Absage an die neue Wirtschafts- und Staatsform, sind bei den Münchener Handwerkern und Kleingewerbetreibenden materielle Interessen entscheidend. Sie sehen sich in ihrer Existenz und Selbständigkeit bedroht und verwahren sich daher nachdrücklich gegen alle Sozialisierungspläne. In der Münchener Garnison, seit langem Zielscheibe intensivster kommunistischer Agitation,175 sind ebenfalls weitgehend wirtschaftliche Gründe für die Einstellung zur jeweiligen politischen Führung maßgebend. Die älteren Soldaten, die eine Familie oder einen festen Arbeitsplatz haben, sind längst nicht mehr in den Kasernen. Es verbleibt eine mehr oder weniger undisziplinierte Söldnertruppe, die sich seit Ende März ihre Führer selbst wählt176 und auf die nur Verlaß ist, solange nicht ernstlich gekämpft werden muß. Ihre Stütze findet die Räteregierung bei den Erwerbslosen und in der Arbeiterschaft, hier besonders bei den jüngeren und den aus Norddeutsch-
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land zugewanderten Arbeitnehmern. Allerdings kann auch hier Reiners177 nachweisen, daß die proletarische Solidarität sofort zerbricht, als die materiellen Interessen der einzelnen Berufsgruppen angetastet werden. „Die Fiktion von dem Gesamtinteresse des Proletariats gerät ins Wanken. Dies ist wohl die wesentlichste Erfahrung, die man den Experimenten der Münchener Rätemachthaber entnehmen kann".178 Revolutionäre Begeisterung und revolutionärer Schwung, die die eigenen materiellen Interessen in den Hintergrund drängen, sind zu wenig vorhanden. Idealismus und Opferbereitschaft wurden in den letzten Jahren über Gebühr beansprucht. Am 7. April, dem Nationalfeiertag anläßlich der Ausrufung der Räterepublik, liegt eine gedrückte, pessimistische Stimmung über München. Die Festrede, die Erich Mühsam an diesem Tage am Stachus halten will, wird zur Rechtfertigungsrede.179 Von den angekündigten Maßnahmen der Machthaber der Räterepublik geschieht sehr wenig. Schuld daran tragen die geringen wirklichen Machtmittel, die zur Durchsetzung der Anordnungen vorhanden sind, das völlige Fehlen eines eigenen arbeitsfähigen Behördenapparates, die gänzliche Unfähigkeit der Führer, die ihnen übertragenen Aufgaben im Bereich des Möglichen zu lösen und die Überlastung des Vollzugsausschusses mit vielerlei, mitunter nebensächlichen Aufgaben. Die einschneidenste aller Maßnahmen ist der vom 13. bis 2 3. April andauernde Generalstreik, von dem jedoch eine ganze Reihe der für die Versorgung und den geregelten Ablauf des täglichen Lebens wichtigen Betriebe und Institutionen ausgeschlossen werden.180 Vereinzelt erteilt der Vollzugsrat darüberhinaus auch die Erlaubnis, die Arbeit fortzusetzen oder es wird heimlich weitergearbeitet. Am 7. April werden die bürgerlichen Zeitungen unter Zensur gestellt, am 12. auch die Münchener Post, während des Generalstreiks erscheinen lediglich die „Mitteilungen des Vollzugsrates der Betriebs- und Soldatenräte", ab 23. April wieder die Münchener Post, zusammen mit der Roten Fahne und der Neuen Zeitung. Bis auf eine Ausgabe der Bayerischen Staatszeitung vom 30. April erscheinen die bürgerlichen Blätter erst wieder ab 3. Mai. Die Lage ist also wie geschaffen füir die Verbreitung aller möglichen Gerüchte und Unwahrheiten. Schwer zu kämpfen hat die Regierung der Räte mit dem Banknotenmangel, der nicht zuletzt durch das übermäßige Banknotenhamstern der Münchener Bevölkerung entstanden ist. Am 8. April werden Bankverkehr und Geldwesen erstmals stark eingeschränkt,181 am 14. April stellt die Reichsbank ihre Zahlungen an München ein. Ab Donnerstag, den 17. April, werden über 10000 Safes nach Bargeld kontrolliert, es werden dabei aber nur etwas über 50000 M gefunden und den Schließfachinhabern gutgeschrieben.182 Der Volksbeauf-
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tragte für Finanzen Männer läßt daraufhin mit den vorhandenen Platten zehn Millionen Mark in Zwanzigmarkscheinen drucken, allerdings mit den weiterlaufenden Nummern. Für die nach Bamberg geflohene Regierung Hoffmann ist es daher leicht, die Annahme und Verbreitung dieser Scheine zu verbieten1*3 und die Münchener Bevölkerung hat wieder eine zusätzliche Beunruhigung mehr zu verkraften. Diese hier geschilderten Maßnahmen der Räteregierung waren so ziemlich die einzigen, die über die bloße Proklamation hinauskamen. Alle anderen Bekanntmachungen und Erlasse werden zwar mit einer Flut von Plakaten in München verbreitet, haben aber praktisch keine spürbaren Auswirkungen und fuhren nur zu einer weitgehenden Verwirrung und Verärgerung der Bevölkerung. Eine wirkliche Wirtschaftspolitik wurde in der Rätezeit nicht betrieben, alle Handlungen sind nur dazu bestimmt, den täglich vor Augen stehenden totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch abzuwenden. Ein langsamer Aufstieg der Wirtschaft setzt erst wieder ein, nachdem die allgemeine Unsicherheit und die instabile politische Lage beseitigt und damit die Grundlage für eine vorausschauende Wirtschaftsplanung gegeben ist. Ein für den Bestand der Revolution entscheidenden Faktor, der wesentlich aus der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Gesamtsituation heraus bestimmt ist und der neben den Sozialisierungsversuchen von besonderer Bedeutung ist für das nähere und weitere Umland Münchens, ist die Erhaltung von Ruhe und Ordnung in den Monaten der Revolution. Kurt Eisner hat auf die Wichtigkeit dieses Punktes für die erfolgreiche Durchfuhrung der Revolution immer wieder hingewiesen.184 Die Ursache für die stetig anwachsende allgemeine Unsicherheit ist neben allen oben genannten Gründen und der im Verlauf der Revolution immer radikaler werdenden politischen Agitation zurückzuführen auf das Nichtvorhandensein einer geeigneten und ausreichenden Schutztruppe, auf die mehr und mehr um sich greifende Disziplinlosigkeit der Soldaten der Garnison und auf die Tatsache, daß München in steigendem Maße zu einem Sammelpunkt für allerlei zwielichtige Gestalten wird. Die entschiedene Ablehnung einer Ordnungsmacht,185 an der auch Bürgerliche beteiligt sind, durch die Linksradikalen186 und die allzu große Zurückhaltung des Bürgertums187 in der Frage der Aufstellung einer Bürgerwehr bzw. Volkswehr verhindern die Entstehung eines politisch neutralen Organs, das für Ordnung und Sicherheit garantieren kann. Die fortwährend stärker werdende politische Beeinflussung der Republikanischen Schutztruppe, die ja ihre Macht dann in der Endphase der Revolution vollends an die Rote Armee abgeben muß, machen einen erfolgreichen Einsatz dieser Einheit bei gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen immer fraglicher.
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Wohnungsdurchsuchungen, widerrechtliche Beschlagnahmungen und Plünderungen, die nach dem Umsturz nur vereinzelt aufgetreten sind, nehmen besonders in den letzten Wochen der Räterepublik immer mehr überhand und erzeugen Angst und Schrecken und jenen Haß auf den „plündernden roten M o b " , der sich dann in den Tagen nach der Einnahme Münchens durch die Reichswehrtruppen so ungehemmt entlädt. Unter dem Vorwand, für eine gleichmäßige Verteilung der Lebensmittel zu sorgen und ein Hamstern der begüterten Kreise zu unterbinden,188 werden, insbesondere in den vornehmen Villenvierteln und selbst im Zentrum der Stadt, Güter im Werte von mehreren Millionen Mark beschlagnahmt und geplündert.189 Aus einer Verfugung der Wirtschaftsabteilung des Vollzugsrates190 geht eindeutig hervor, daß alle möglichen Dienststellen der Räterepublik sich recht munter im Beschlagnahmen üben. In Gern, Neuwittelsbach und Nymphenburg hat sich aus Mitgliedern der Kompanie Gern Anfang Dezember ein Sicherheitsdienst gebildet, der für drei Mark monatlich nachts die Häuser der Zahler bewacht. Doch mit der fortschreitenden Verschlechterung der Disziplin der in München stationierten Truppen können diese immer weniger für einen Wach- und Ordnungsdienst herangezogen werden. A m 3. Dezember 1918 stellt der Gemeinde-Arbeitsausschuß fest, daß die Erklärung des Infanterie-Leibregiments, sich samt seinen Offizieren zur Aufrechterhaltung der Ordnving und Sicherheit der Stadtkommandatur zur Verfügung zu stellen, für die allgemeine Sicherheit keine Gewähr bietet.191 Das Regiment würde ohnehin nur bei öffentlichen Aufläufen eingreifen. Für die rückschauenden Betrachter der Weimarer Republik sind daher die Revolutionsmonate in München stets mit der Vorstellung von Anarchie und Gesetzlosigkeit verbunden. Ist es da verwunderlich, wenn gerade in München die rechtsextremen Kampfverbände später starken Zulauf erhalten? Die Verfechter der Räteideen versuchten natürlich verstärkt, die Garnison hinter sich zu bringen,192 um eine geeignete Machtgrundlage zu haben. Der Staatskommissar für Demobilmachung Segitz beschwert sich schon am 19. November bei Eisner über die von den Arbeiterund Soldatenräten hervorgerufenen bedenklichen Störungen des Erwerbslebens und der militärischen Anordnungen. 193 Der Kasemenrat des InfanterieLeibregiments verhindert die Entlassung der Mannschaften, Versprengte weigern sich, in die in den Vororten von München zugewiesenen Unterkünfte zu gehen. Die durch München streunenden Soldaten bilden in den vielen politischen Veranstaltungen den laut lärmenden Hintergrund. Selbst bei den Räten hat man kein Interesse an den ortsfremden radikalen Elementen, die durch die Demobilisierung nach München kommen. Das zeigt der „energische Appell an alle Marine-Kameraden, mit dem nächsten Marinetransportzug be-
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stimmt abzureisen",194 den der Matrosenrat München in November 1918 wiederholt erläßt. Zu den Angehörigen der Münchener Garnison gesellt sich im Laufe der Monate noch alles mögliche lichtscheue Gesindel, das sich in den Massenquartieren und Baracken eingenistet hat, die man als Notunterkunft für die heimkehrenden Soldaten und die arbeitslosen Rüstungsarbeiter errichtet hatte.195 Betrachtet man die •wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Gesamtsituation in München in den Monaten vor und nach dem Umsturz vom November 1918, so kann man wohl sagen, daß für ernsthafte politische Auseinandersetzungen genügend Zündstoff vorhanden ist und der Radikalismus von links und später dann von rechts von breiten Schichten getragen und gestützt wird und nicht irgendwie in der Luft hängt. Wie aber verhält sich das Münchener Umland zu den revolutionären Ereignissen und welche Auswirkungen hat dessen Stellungnahme für München ? Wie für den Großteil der Münchener Bevölkerung, so sind für den Bauern die materiellen Gesichtspunkte entscheidend für seine politische Einstellung.196 Durch den politischen Umsturz und die Beendigung des Krieges mit all seinen Folgen werden, wie oben bereits dargelegt, ein Großteil der Veranlassungen beseitigt, die den Bauern zu einer revolutionären Haltung drängen. Was er jetzt braucht, ist Ruhe und Ordnung, um ungestört arbeiten zu können und keine politischen und wirtschaftlichen Experimente. Einer Regierung, die ihm das nicht garantieren kann, muß er die Anhängerschaft versagen. Mit dem Bekanntwerden von Sozialisierungsplänen, der steigenden Erregung über die chaotischen Zustände in München und den Übergriffen von plündernden Soldaten aus München beginnt dessen Isolierung und Abschnürung. München ist aber, wie kaum eine andere Stadt, mit dem Umland verbunden und auf es angewiesen, die wachsende Entfremdung von seinem Einflußbereich birgt den Keim des Unterganges für das in München agierende politische System in sich. Als Träger des revolutionären Gedankens tritt auf dem flachen Lande vor allem der Bauernbund in Erscheinung. Carl Gandorfer, der nach dem Tod seines Bruders Ludwig dessen politische Stellung einnimmt, fuhrt seine Partei geschlossen ins Lager der Revolution, nachdem sich ergeben hat, daß die Umwälzung endgültig ist. Er sichert auch in der ersten Sitzung des Nationalrates die Lebensmittelablieferungen nach München zu, die für den Bestand der Revolution in der Stadt entscheidend sind.197 Der Zentralbauernrat wird im wesentlichen zu einer Parteiorganisation des Bauernbundes. Die Ergebnisse der Landtagswahlen vom Januar 1919 zeigen deutlich die Stellung des Bauernbundes auf dem flachen Lande und die Haltung der Bauern zu den von ihm vertretenen Anschauungen.198 Doch kann sich der linke Flügel des
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Bauernbundes nur bis zu dem Zeitpunkt als Vertreter der Gesamtbauernschaft im ober- und niederbayerischen Räume und in Schwaben fühlen, so lange er auch die Interessen der Bauern vertritt. Diese aber lehnen jede Sozialisierung entschieden ab, auch wenn sie auf Gandorfers Drängen hin nur Betriebe über 1000 Tagwerk erfassen sollte und Gewerbe, Handel und Kleinindustrie davon verschont bleiben.199 Die Bauern wenden sich weiterhin entschieden gegen alle Eingriffe in den religiösen Bereich und stellen sich vor allen Dingen gegen eine Trennung von Kirche und Staat und gegen die Forderung, den Religionsunterricht in der Schule zum Wahlfach zu machen.200 Als drittes aber wollen die Bauern endlich Ruhe und Ordnung im Lande haben.201 Als die Mitglieder des Zentralbauernrates nach einer Erkundungsfahrt auf das Land am 6. April wieder nach München zurückkehren, bringen sie durchwegs die Überzeugung mit, daß die Landbevölkerung der Regierung Hoffmann die Treue halten wird und eine Räteregierung entschieden ablehnt.202 Damit sind die Würfel über die Räterepublik schon gefallen, noch ehe sie ausgerufen wird. In der Woche vom 6. bis 13. April verlassen die meisten Mitglieder des Zentralbauernrates München und kehren nicht mehr auf ihren Posten zurück.203 Bis auf die Bezirksbauernräte von Regensburg und Moosburg sagen sich die Räte und die Anhänger im Bauernbund von Gandorfer und seiner Richtung los.204 Der Widerstand gegen die Münchener Regierung beginnt immer ausgeprägter zu werden. Nach der Ermordung Eisners läuft von München aus eine zweite revolutionäre Welle durchs Land, doch haben sich jetzt, im Gegensatz zu den Wochen im November, die politischen Verhältnisse wieder einigermaßen stabilisiert. Es finden zum Teil Demonstrationszüge statt, die Arbeiterräte werden umgebildet oder vollständig neu gewählt. Doch wird die Möglichkeit des Münchener Vollzugsausschusses, sich mit seinen Anweisungen und Verordnungen durchzusetzen, immer geringer.205 Die Verbindung der Räte der einzelnen Städte und Gemeinden mit München als Zentrale wird noch lockerer, als sie ohnehin meist war, die Räte müssen, um nicht jeden Anhang und jede Einflußmöglichkeit zu verlieren, die Forderungen der durch sie vertretenen Personen auch zu den ihrigen machen. Anfang März beginnen bereits einige Gemeindeversammlungen, sich samt ihrer Räte öffentlich gegen den Münchener Arbeiter, -Bauern- und Soldatenkongreß auszusprechen.206 Eine besondere Initiative entwickeln dabei die Räte von Fürstenfeldbruck, die am 1. März 1919 an alle Bezirksämter Bayerns eine Resolution verschicken mit der Bitte um Einsendung durch die Bezirksausschüsse der Räte an den Vollzugsrat in München.207 Sie geben darin klar zu verstehen, daß sie mit der bisherigen Tätigkeit des Münchener Räte-Kongresses nicht einverstanden sind, daß sie
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den gegenüber der Tagung von einzelnen radikalen Personen geübten Terror nachdrücklich mißbilligen und wenden sich gegen München als Tagungsort.208 Diese Resolution -wird mit einigen kleinen Änderungen von einer Reihe von Bezirksausschüssen eingeschickt.209 Mit der Ablehnung der von den Münchener Rätemachthabern vertretenen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen geht ganz allgemein eine immer stärker werdende Abneigung gegen München und die dortigen Zustände Hand in Hand. Felix Fechenbach hebt am 5. März vor dem Rätekongreß deutlich die Sonderstellung hervor, in die München geraten ist210 und fordert den Kongreß mit Nachdruck auf, auch die Stimmung der Landbevölkerung zu berücksichtigen. Die zunehmende Verschlechterung der Verkehrslage211 und das Bestreben, die Münchener Rätemachthaber und die von ihnen geschaffenen Verhältnisse in möglichst schlechtem Licht erscheinen zu lassen, sind der Grund für die wildesten Gerüchte, die über die Zustände in München durchs Land gehen.212 Der Münchener Journalisten- und Schriftstellerverein drückt Mitte März offiziell „seine tiefste Empörung aus über die verhetzenden Lügenmeldungen, die in letzter Zeit in einzelnen auswärtigen Blättern über die Münchener Zustände zu lesen waren". 213 In den Gebieten außerhalb Altbayerns, die mit München, wie wir oben gesehen haben, nur eine sehr lockere Verbindung haben, wird Anfang März der Wunsch laut nach einer Abtrennung von Bayern, nach einem „Los von dem Saustall in München", „ L o s von der Anarchie". 214 Sowohl in den fränkischen Kreisen, als auch in Schwaben setzen separatistische Agitationen ein, der Plan, eine Republik Nordbayern aus den drei fränkischen Kreisen und der Oberpfalz zu gründen, wird ernsthaft erörtert. Über 300 Bauernräte der unterfränkischen Landgemeinden verlangen in einer Versammlung in Waigolshausen am 16. März „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln die Abtrennung der drei Frankenkreise und eventuell der Oberpfalz zwecks Bildung einer Republik Nordbayern in die Wege zu leiten, wenn in München nicht alsbald Besonnenheit und Ruhe, Ordnung und Gesetz anstelle der despotischen Gewaltherrschaft und des wahnwitzigen, terroristischen Klassenkampfes Platz greift". 215 In groben Zügen läßt sich also eine Verstimmung gegen München feststellen,216 die mit der Entfernung und dem Schwinden der Intensität der Verbindung mit ihm wächst. Bei der Ausrufung der Räterepublik, der Ende März das ungarische Vorbild in Budapest vorausgeht, weiß niemand, wie weit diese tatsächlich reicht. Wiederum geht von München der Anstoß für einige Umbildungen der einzelnen Räteorganisationen aus, doch die Zustimmungs- und Glückwunschtelegramme treffen nur mehr sehr spärlich ein.217 Dafür meldet sich der Widerstand gegen die Münchener Verhältnisse um so lauter und
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immer mehr Räte sagen sich öffentlich von München los. „Die Rückgewinnung an die Konterrevolution verlorener Außenposten" 218 zählt zu den 'wichtigsten geplanten Sofortmaßnahmen der kommunistischen Räteregierung, nachdem sie die Macht an sich gerissen hat. Mit Einheiten der Roten Armee, die wiederholt von München aus per Bahn und Kraftwagen in die einzelnen Orte hinausfahren, versucht die Räteregierung speziell in den Orten, in denen eine breitere Arbeiterschicht vorhanden ist, sich politischen Einfluß zu bewahren,219 zugleich aber auch Lebensmittel zu plündern.220 Der Geltungsbereich der Wirtschafts-Verfiigungen aus München reicht ja meist nur von Schwabing bis Pasing.221 Der „einsame Riese München" steht isoliert innerhalb seines Umlandes. Aber auch in München selbst rechnet man in den Wochen nach dem 7. April täglich mit einer Änderung der Lage. Das Gemeindebevollmächtigtenkollegium stellt sich am 9. April hinter das Ministerium Hoffmann,222 die Vertreter der Räterepublik müssen es hinnehmen, denn es fehlt ihnen geschultes Personal, mit dem sie die entsprechenden Posten in der Stadtverwaltung besetzen können. Bis zur Einnahme Münchens durch hauptsächlich norddeutsche Truppen 223 erlebt die Münchener Bevölkerung, die sich selbst hauptsächlich als Zuschauer betätigt, einige turbulente Wochen. Die Anlieferung von Lebensmitteln aus dem Münchener Umland geht weiter zurück, denn seit Ende Februar herrscht bei vielen Bauern die Anschauung, daß es nicht ihre Aufgabe sei, die Unzufriedenen und Umtreiber der Großstadt München auch noch zu ernähren.224 Sie werden in dieser Haltung teilweise sogar von den Bauernräten bestärkt.225 Der Post- und Bahnverkehr von und nach München wird weitgehend eingeschränkt bzw. eingestellt. Z u einer von der Regierung Hoffmann unerwarteten Verlängerung der Amtszeit der Rätemachthaber in München führt der mißglückte Putsch vom 1 3 . April, mit dem auch die Hoffnung schwindet, die Räteherrschaft in München ohne außerbayerische Hilfe niederwerfen zu können.226 A m darauffolgenden Tag erhalten die Soldaten der Roten Armee 5,— M Löhnungszulage, am 19. April werden die Münchener Polizeibeamten vom Dienst suspendiert und entwaffnet. Der Polizeidienst wird durch eine zivile Sicherheitswache ausgefuhrt.227Inzwischen sind die militärischenMaßnahmen zur Niederwerfung der Räteherrschaft in Bayern und München bereits vorangeschritten.228 Nachdem es vollkommen von Regierungstruppen eingeschlossen ist, wird München nach heftigen Kämpfen in den ersten drei Tagen des Monats Mai genommen. Damit findet ein Kapitel bayerischer Geschichte seinen Abschluß, das schlecht zu dem altbekannten Bild des gemütlichen, ruhigen und konservativen Bayern und der Stadt der Lebensfreude paßt. In Bayern selbst wollte man es
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nicht gerne wahr haben, daß sich hier eine revolutionäre Bewegung entwickeln konnte, die nicht auf einige Landfremde und Schwabinger229 zurückgeht, sondern von weiten Kreisen, wenigstens in ihren Anfängen, unterstützt bzw. geduldet wurde. Diese Meinung beruhte sicherlich auch auf den besonderen Verhältnissen, die zu Entstehung, Ausbreitung und Untergang der Revolution in München und Bayern gefuhrt haben und denen eine gewisse Einmaligkeit nicht abzusprechen ist. In dem vorliegenden Beitrag wurde versucht, den Hintergrund etwas auszuleuchten, vor dem sich das revolutionäre Geschehen vollzog und die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Faktoren aufzuzeigen, die den Revolutionsablauf letztlich entscheidend bestimmten. Damit dürfte auch die Beantwortung der Frage, warum gerade in München der Revolutionsablauf so ausgeprägte Formen annahm, leichter werden. Es zeigte sich die besondere Basis, auf der sich in München und Bayern eine Revolution entwickeln konnte und die nur bis zu dem Zeitpunkt Bestand hatte, solange die unmittelbaren materiellen Interessen der einzelnen Bevölkerungsgruppen gewahrt blieben. Nach dem vollzogenen Umsturz zerbröckelt die Basis und die einzelnen Sonderinteressen zerspalten das vorher relativ geschlossene Lager der Revolutionsfreunde. Weite Kreise waren nur an einem Umsturz interessiert, der zur Besserung der gegenwärtigen Zustände beiträgt, nicht aber an einer Revolution. Man bemüht sich deshalb nicht, das alte System zu verteidigen, wendet sich aber in dem Augenblick vom neuen ab, als von ihm keine Erleichterungen der allgemeinen Lage zu erwarten sind. Ein gemäßigtes Rätesystem hätte sicher in Bayern eine reelle Chance gehabt, wenn es dazu imstande gewesen wäre, die allgemeine Notlage entscheidend zu bessern und Ruhe, Ordnung und Sicherheit herzustellen. Dazu fehlten aber die meisten Voraussetzungen und so mußte die Revolution scheitern.230 Weiterhin wird klar, daß München nur solange der wirkungsstarke Träger der revolutionären Ideen sein konnte, als auch sein Einflußbereich daran interessiert war. München war zwar das Zentrum und der Strahlungskern, es konnte aber, ganz allein auf sich gestellt, nicht existieren. Ausgehend vom Echo, das die Revolution in Bayern fand, wird man vielleicht besser von einer Revolution in München und einer Rätebewegung in Bayern sprechen. Vom Umfang der Ausbreitung her läßt sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen der Intensität der Verbindung mit München und der Haltung der einzelnen Land- und Stadtgemeinden zum Rätesystem feststellen, wobei auch die jeweilige Wirtschafts- und Sozialstruktur noch von besonderer Bedeutung ist. Im engeren Einflußbereich Münchens stimmten die Arbeiter- und Bauernräte ihr Verhalten stets entsprechend der Lage in München ab,231 je geringer die Unter-
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Stützung aus dem eigenen Bezirk war, umso stärker mußten sie sich an München anlehnen. Ebensowenig wie Revolutionen gemacht werden, sondern nur aus einer dafür bereiten Situation erwachsen,232 können sie sich auch nicht durchsetzen ohne entsprechende Planung und ohne eine Bevölkerungsschicht, die sich zum Träger der Revolution macht. Hierin liegt wohl einer der Gründe, warum sich in München die Revolution so lange hinzog. Im Aufbau der Bevölkerung fehlt die dominierende Gruppe, welche die Revolution entweder schneller vorwärts treibt - oder gewaltsam abkürzt. Die teilweise unmenschliche Rache, die nach der Einnahme Münchens an allen genommen wird, die irgendwie etwas mit der Revolution zu tun hatten oder von denen man dies auch nur annahm, legt die Vermutung nahe, daß die Befürworter des Rätegedankens erbitterte Gegner hatten. Wo waren diese aber in den Monaten bis zur Ausrufung der Räterepublik und in den Wochen der Räteregierung selbst ? Warum hat das in München so breit gestreute Bürgertum nicht die Gelegenheit genutzt, die sich am 13. April bot und sich erst dann hervorgewagt, als München bereits von den Regierungstruppen eingeschlossen war und die Einnahme Münchens unmittelbar bevorstand? Bis zur Ermordung Kurt Eisners, dem wohl einzigen nicht vorherzusehenden Ereignis bei Entstehung und Ablauf der Revolution, rechnete man sicherlich damit, daß mit seinem Rücktritt wieder gemäßigtere Kräfte die Macht in Bayern übernehmen würden. Doch ließ auch, nachdem dies nicht eingetreten war, eine entschiedene Aktion der Bürger auf sich warten. A m 22. November 1918 hat sich zwar ein Hilfsbund der Münchener Einwohnerschaft konstituiert,233 doch beschränkt sich dessen Tätigkeit bis zur Einnahme Münchens auf einige Proteste bei der Räteregierung und auf die Verteilung von Flugblättern, auf denen vermerkt ist, wohin man sich wenden soll, wenn Gefahr für die eigene Sicherheit droht.234 Sicherlich verhält sich ein Teil der Bürgerschaft deshalb zögernd, weil et keine Rückkehr zu den vorrevolutionären politischen Zuständen wünscht und einer neuen Wirtschaftsform auch nicht abgeneigt ist, allerdings nur unter der Wahrung der eigenen Interessen.235 Dazu kommt, daß man in den Tagen der Räteregierung mit einer baldigen Änderung der Verhältnisse rechnet und ängstlich alles vermeidet, was die Machthaber zu einem schärferen Durchgreifen reizen könnte.286 Neben den angegebenen Gründen wird ein energischer Widerstand ohne Zweifel aber auch durch den Opportunismus, die Bequemlichkeit und die Feigheit weiter Kreise der Bürgerschaft verhindert. Man wendet sich ergebenst bittend und höflichst an den Vollzugsrat, um während des Streiks im April weiterarbeiten zu dürfen, in den Räumen der Rätemachthaber drängen sich die Leute, um devot ihre Dienste anzubieten.237
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Ohne Widerspruch nehmen die Gemeindebevollmächtigten am 3. April das Schuldbekenntnis eines ihrer Mitglieder hin.238 Auch die Bayerische Staatszeitung bürdet den Bewohnern Münchens einen Teil der Schuld auf an dem traurigen Zustand, in den die Stadt im Laufe der Monate geraten ist, denn sie sei der Entwicklung der Dinge zu gleichgültig gegenübergestanden.239 „Viele andere und noch viel ehrenwertere Bürger"240 zogen es vor, sich den Ablauf der Ereignisse von außerhalb anzusehen oder sich irgendwo bei Bekannten zu verstecken. Bei einer Akademikerversammlung der Deutschen Volkspartei am 16. Dezember 1918, auf der auch Eisner spricht, verläßt die Hälfte der Teilnehmer panikartig den Saal, als Matrosen und Soldaten mit Gewehren und Handgranaten dazukommen. Die Versammlung nimmt weiterhin einen ruhigen Verlauf.241 Hofmiller macht sich zwar lustig über die mangelnde Tatkraft des Bürgertums,242 seine Gedanken bei fortschreitender Radikalisierung gelten aber stets nur dem Nahrungserwerb, nicht im entferntesten erwägt er, selbst in die Auseinandersetzung mit einzugreifen. Nach dem Eintreffen der Regierungstruppen erwacht man allerdings sehr schnell aus der Zurückhaltung und verfolgt mit sichtlicher Zustimmung das rücksichtslose, teilweise sogar barbarische Vorgehen der Regierungstruppen und der nachkommenden Freikorpsleute.243 Die Erschießung von zehn Geiseln am 30. April im Luitpoldgymnasium durch Rotgardisten dient dazu als willkommener Vorwand. Das Denunziantentum hat Hochkonjunktur, bis zum 1. August 19x9 bleibt München unter Standrecht. Insgesamt kostet die „Befreiung" Münchens einen Blutzoll von ungefähr 1000 Toten, eine beachtliche Zahl, verglichen mit den 13 600 Münchenern, die in den vier Kriegsjahren im Felde ihr Leben lassen mußten. Die Vorgänge bei der Einnahme Münchens und die Flut politischer Prozesse mit unglaublich einseitigen Urteilen, die bald darauf in München über die Bühne geht, wirken mit, die Münchener Einwohnerschaft für lange Jahre zu spalten und einen günstigen Boden für politischen Radikalismus zu schaffen. Überblickt man abschließend das ganze Geschehen der Revolutionsmonate in München, zu dem hier, wie bereits erwähnt, nur in bestimmter Blickrichtung ein Beitrag geleistet werden sollte, zeigt sich, welch engen Spielraum die eigentliche politische Revolution hatte. Zugleich erkennt man die beschränkte und von der vorhandenen Situation weitgehend abhängige Wirksamkeit bestimmter Ideen und deren Vertreter auf den Ablauf der Geschichte.
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ANMERKUNGEN
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ZU:
Heinrich Hillmayr, München und die Revolution 1918/1919 * Der vorliegende Beitrag ist entstanden aus meiner sich schon seit einiger Zeit hinziehenden Beschäftigung mit der Situation in München in den Jahren vom Ende des ersten Weltkrieges bis zur Machtergreifung Hitlers. I V g l . dazu hauptsächlich A. Mitchell, Revolution in Bayern 1918/1919, München 1967 (mit kritischem Überblick über die Fachliteratur S. 30J-310); R. Kiihnl, Die Revolution in Bayern 1918, G W U 14, 1963, S. 681-693; E.Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik, Düsseldorf 1962; F. Schade, Kurt Eisner und die bayerische Sozialdemokratie, Hannover 1961 (S. 185 ff. gutes Quellen- und Literaturverzeichnis); B. Zittel, Rätemodell München 1918/1919, Stimmen der Zeit 85, 1959/60, S. 25-43; H. Neuhauer, München und Moskau 1918/1919, München 1958; H. Beyer, V o n der Novemberrevolution zur Räterepublik, Berlin-Ost 1957. * Ergänzende Detailangaben werde ich nur machen, wenn ich diese in der bisherigen Forschung noch nicht finden konnte. 8 Der vorliegende Beitrag wird zeigen, daß die Politik im Laufe der Monate nach dem Novemberumsturz gegenüber der Wirtschaft immer mehr in den Hintergrund rückt, das Verhältnis also nahezu umgekehrt wird. 4 V g l . dazu auch Kalb S. 67 u. S. 104f. 6 V g l . dazu W. Abendroth in H. Graf, Die Entwicklung der Wahlen und politischen Parteien in Groß-Dortmund, Hannover/Frankfurt 1958, S. j f. * Tb. Scbieder, Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, H Z 170, 1950, S. 234. 7 Gleiche Terminologie bei E. Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Stuttgart "1961, S. 5. 8 G. Eisermann, Die Lehre von der Gesellschaft, Stuttgart 1958, S. 331. 9 O. Gablentz, Einfuhrung in die politische Wissenschaft, Köln/Opladen 1965, S. 331. 1 0 V g l . dazu neben Rosenstock-Huessy S. j , Eisermann S. 331 und Gablentz 331 auch A.V.Martin in Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1955, S. 420-423; O. Köhler in Staatslexikon, hrsg. von der Görresgesellschaft, V I 1961, Sp. 888;K. Griemank, Der neuzeidicheRevolutionsbegriff, Weimar 1955, S. 259. I I In diesem Sinne auch H. Homfeld, Die moderne Welt, Braunschweig 19 5 2, S. 184; Zf. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Villingen "1960, S. 21. 1 2 V g l . dazu die Erläuterungen zum Revolutionsbegriff bei Beyer S. 8 - 1 1 ; Kolb S. 9, Anm. 3; Mitchell S. 105. 1 8 In der München-Augsburger Abendzeitung Nr. 305 (im Folgenden zitiert als M A A ) v. 9. November 1928 wird z. B. der Begriff der „Unblutigen Revolution" verurteilt, weil in ihr doch soviel Blut geflossen sei. 1 4 Münchener Post (im Folgenden zitiert als MP) Nr. 261 v. 8. November 1918. 1 5 M P Nr. 262 v. 9./10. November 1918. 1 8 Der Frage, wann der Ausdruck Revolution erstmals in den Bekanntmachungen und Flugblättern auftaucht, konnte ich leider nicht weiter nachgehen, nachdem mir die Sammlung der Münchener Stadtbibliothek, Abteilung Monacensia, (vgl. dazu Mitchell S. 80, Anm. 23 u. S. 315) nicht zugänglich war. 17 Zur allgemeinen Literatur über München im bearbeiteten Zeitraum vgl. L. Hollweck (Hrsg.), Unser München, München 1967, S. 415-425; K. Bosl, München, Deutschlands heimliche Hauptstadt,
ZBLG 30, 1967, S. 298-313.
18 Nach W. Mattes, Die Bayerischen Bauernräte, Stuttgart und Berlin 1921, S. 14 und Bayerischer Kurier (im Folgenden zitiert als B K ) Nr. 4 vom 4. Januar 1919. Danach entfallen von 669911 land-
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wirtschaftlichen Betrieben in Bayern auf die Parzellenbetriebe unter 3 ha 241642, auf kleinbäuerliche Betriebe von 2-5 ha 162431, auf die mittelbäuerlichen Betriebe von 5-20 ha 224640, auf großbäuerliche Betriebe von 20-100 ha 40663 und auf Großbetriebe mit 100 ha und mehr J35. 19 Mattes S. 19 f. 20 BosI, München, S. 3iof. 2 1 Die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Struktur Münchens wurde hauptsächlich aus folgenden Werken erarbeitet: Statistisches Handbuch der Stadt München, München 1928; Die Quellen des Münchener Wirtschaftslebens, München 1930; W. Zorn, Kleine Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns 1805-1933, München 1962; Das Wirtschaftsleben der Städte, Landkreise und Landgemeinden. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für allgem. Wirtschaftsstruktur Bd. i , Berlin 1930; Münchener Wirtschafts- und Verwaltungsblatt, München Jg. 1, 1925/26; Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Bayern 1919; H. Koenig, Beiträge zur Soziographie Münchens, München 1950. 22 H. Fehn, Münchens Weg vom Klosterdorf zur Millionenstadt, Geographische Rundschau X, 1958, S. 214. 23 K. Krieger, München - Die jüngste Stadtmillion Deutschlands, Raumforschung und Raumordnung XV, 1957, S. 74. 21 K. H. Neubig, Münchens Beziehungen zu seiner Umgebung, Geographische Rundschau X, 1958, S. 220. 25 Dabei waren ausgenommen: „Der Bündler", „Die Neue Zeitung", „Die Rote Fahne". 26 Vgl. dazu R. Geipel, Die Pendelwanderung, Geographische Rundschau VI, 1954, S. 468-474. 27 Neubig S. 221. 28 Für den Problemkreis Pendelwanderungen wurde hauptsächlich verwendet: F. Herkommer, Die Pendelwanderungen in Oberbayern mit bes. Berücksichtigung von München im Jahre 1923, Diss. Maschschr. München 1925. 29 Vgl. dazu das Buch von M. Siegert, Aus Münchens schwerster Zeit, Erinnerungen aus dem Münchener Hauptbahnhof während der Revolutions- und Rätezeit, München/Regensburg 1928. 30 Geipel S. 474. 3 1 Zum Material dazu vgl. Anm. 21. 32 Herkunftsbezirke und -länder der Münchener Erwerbstätigen. In Klammern die Gebürtigkeit der Münchener Bevölkerung am 1. Dezember 1910 nach Herkunftsgebieten in Prozent der Gesamtbevölkerung: M ü n c h e n 7 1 4 6 5 (39,4); O b e r b a y e r n 4 8 1 6 1 (14,8); N i e d e r b a y e r n 37874 (10,7); O b e r p f a l z 2 5 1 9 8
(7,3); Schwaben 22010 (6,4); Ausland 17215; Mittelfranken 12108 (3,5); Preußen 10570; Baden, W ü r t t e m b e r g u n d H o h e n z o l l e r n 8 5 6 9 ; O b e r f r a n k e n 7 7 0 0 (2,2); U n t e r f r a n k e n 7224 (2,0), ( n a c h
Quellen d. Münch. Wirtschaftsl. S. 35). 83 Zum Material vgl. Anm. 21. 3 1 Hauptsächlich aus dem südlichen Schwaben und dem niederbayerischen Raum. 35 Vgl. Neubig, S. 223, Abb. 2. 36 katholisch protestantisch 1910 waren München 82,3% 14,4% Oberbayern 7,4% 9i.i% Niederbayern 1,0% 98.9% Oberpfalz 91.8% 7,9% 86,0% Schwaben 13,3% Unterfranken 80,4% 17,7% Oberfranken 42>8% 56,7% 27>°% Mittelfranken 7°,9% 37 Die Zerstörung des Wirtschaftslebens Münchens durch die Kommunistenwirtschaft, München 1919. 38 Die zehn Hauptgewerbe nach der Zahl der beschäftigten Arbeiter und Angestellten nach der gewerbl. Betriebszählung von 1907:
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i. Handelsgewerbe; 2. Metallindustrie, Maschinen-, Apparate-und Fahrzeugbau; J.Baugewerbe; 4. Bekleidungsindustrie; 5. Hotel- und Gaststättengewerbe; 6. Holzverarbeitendes Gewerbe; 7. Polygraphisches Gewerbe; 8. Verkehrsgewerbe; 9. Bank- und Versicherungsgewerbe; 10. Bierbrauerei- und Mälzereigewerbe, (vgl. dazu Quellen d. Münchn. Wirtschaftsl. S. i89ff.). 39 Die wirtschaftlichen Grundlagen Münchens beruhen: zu ca. 5 5 % auf von außen stammenden Einkommensquellen von Industrie, Handwerk, Handel und Verkehr, zu ca. 20% auf von außen stammenden Einkommensquellen aus Gehältern der in München lebenden Staatsbeamten, aus staatlichen Verwaltungen, Betrieben, die ihren Sitz in München haben usw., zu ca. 10-12,5% auf dem Fremdenverkehr, zu ca. 5% auf von außen stammenden Einkommensquellen aus Vermögen, Renten, Pensionen usw., zu ca. 5% auf von außen stammenden Einkommensquellen von Angehörigen freier wissenschaftlicher, künstlerischer oder anderer Berufe sowie von den in München lebenden Studenten, Anstaltszöglingen usw., zu ca. 2,5% auf inneren Einkommensquellen, Urproduktion aus dem Boden des Stadtgebietes, auf Landwirtschaft, Gärtnerei, Forstwirtschaft usw. (Vgl. dazu Quellen d. Münchn. Wirtschaftsl. S. 71 f.) 40 R. France, Die Lebensgesetze einer Stadt, München 1920, beschreibt (S. 330) Münchens Mittlerrolle als ein Tor, durch das alle Zeiten und großen Ideen schreiten. Vgl. dazu auch Bosl, München, 5. 312 und W. Hemsenstein, München, Gestern, Heute, Morgen, München 1947, S. 4. 41 Berufszugehörigkeit der Münchener Erwerbstätigen in Prozent: 1925 1907 0,92 Land- und Forstwirtschaft 1,02 Industrie und Handwerk 39.54 40,37 Handel und Verkehr 26,48 29.59 Verwaltung, Heerwesen, Kirche, freie Berufe 11,06 io,75 Gesundheits- u. Wohlfahrtswesen 2,48 3.14 Häusliche Dienste 1,28 2,36 0,14 Lohnarbeit wechselnder Art* 2,63 Rentner, Pensionisten, von Unterstützungen Lebende usw. 13,60 14,64 * 1925 im Gegensatz zu 1907 stärker auf die übrigen Berufszweige aufgeteilt. 4i Die soziale Gliederung der Münchener Bevölkerung in Prozent: 1907 1925 Selbständige a) Erwerbstätige a) u. b) zus. 38,33 17,53 b) Rentner, Pensionisten usw. 14,65 Angestellte 13,45 31,81 Arbeiter 46,83 35,39 Im Geschäft mithelfende Familienmitglieder 1,39 0,62 (Angestellte 1907 ausschließlich der Handlungsgehilfen und Kommis in Ladengeschäften, Verkäufer, Ladenmädchen usw., die bei den Arbeitern geführt werden. Einzelne untere Beamtengruppen, ein Teil des Gasthaus- und Hotelpersonals usw., die 1907 bei der Arbeiterschaft nachgewiesen waren, sind 1925 unter die Angestellten eingereiht worden. Nach Münchener Wirtschafts- und Verwaltungsblatt Nr. io, 1926, Seite 86). 4S W. Heuber, Wovon lebt München, Diss. Maschschr. München 1922, S. 45. 44 Im Vergleich dazu Berlin mit 6,6%, Leipzig mit 6,2%, Dresden 8,i%. 45 F. Scbroll, Die Bedeutung der Industrie im Wirtschaftskörper Münchens, Diss. München 1928, S. 81. 46 Verwaltungsbericht der Landeshauptstadt München 1913-1920, München 1921, S. 9. 47 A. Bunk, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenfiirsorge in München während der letzten zehn Jahre, Diss. Maschschr. München 1921, S. 29.
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48 Am 21. Januar 1913 sprach der Träger des Friedensnobelpreises, Professor Fried, in München über das Thema „Hart am Weltkriege". (Verwaltungsbericht 1913-1920, S. 7). 49 Beim städtischen Arbeitsamt waren im November 1913 ca. 7000 Arbeitslose gemeldet. Die Zahl der Arbeitslosen dürfte aber zu dieser Zeit wesentlich höher gelegen haben, denn es gab noch eine Menge gewerblicher und standesgebundener Arbeitsvermittlungen in München. 60 Münchener Gemeinde-Zeitung (im Folgenden zitiert als MGZ) 1914, Sitzungsberichte, S. 253. 51 M G Z 1914, Sitzungsber., S. 109. 82 Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, 21. Jahrg., S. 542. 63 M G Z 1914, Sitzungsber., S. 1309. 54 M G Z 1914, Bekanntmachungen, S. 521, (25. November 1914). 60 M G Z 1915, Sitzungsberichte, S. 357. 56 M G Z 1915, Sitzungsberichte, S. 358: Wir haben auch Leute nach auswärts vermittelt. Aber wenn wir 10 Leute nach auswärts vermitteln, kommen 20 Arbeitslose nach München herein". 67 H. Knecht, Die Entwicklung der Löhne und Gehälter der Münchener Arbeiter und Beamtenschaft der Kriegs- und Nachkriegszeit bis Ende 1923, Diss. Erlangen 1925, S. 15. 68 Die Preise der wichtigsten Grundnahrungsmittel stiegen von Kriegsbeginn bis zum Umsturz im November 1918 zwischen 60 und 140 Prozent, die für Kleidung und Schuhe sogar zwischen 200 und 300 Prozent. 69 M G Z 1915, Sitzungsber. S. 305. 60 Die in diesem Beitrag zur Wohnungsnot gemachten Angaben sind hauptsächlich entnommen aus dem Sammelband „Das Wohnungswesen der Stadt München", München 1928. Vgl. darin A. Gut, Die Wohnungsnot und ihre Bekämpfung, bes. S. 97-1 u und K. S. Preis, Die Beseitigung der Wohnungsnot in München, S. 151-187. 61 Eheschließungen und Wohnungsneubau in München 1912-1920: Jahr Zahl d. Eheschi. Erstellte Wohnungen 5892 1912 5422 1913 5 575 3519 6280 1629 1914 4224 1915 578 1916 4875 63 5648 1917 17 6030 222 1918 10125 608 1919 10193 1920 1564 82 Die allgemeine Not der Kriegsjahre in all ihren Erscheinungsformen und mit ihren Einflüssen auf die Volksstimmung soll hier nur kurz angedeutet werden. Für genauere Einzelheiten verweise ich auf den hier abgedruckten Beitrag von Karl-Ludwig Ay. Zur politischen Lage vgl. den Aufsatz von Willy Albrecht. 83 M G Z 1916, Sitzungsber., S. 527 (21. Juni 1916). Gemeindebevollmächtigter Ischinger: „ . . . Wenn auf militätischem Gebiete Offiziere so versagt hätten, wie die Zivilverwaltung auf dem Gebiete der Lebensmittelversorgung versagt, so würden dieselben so rasch wie möglich bei Seite gestellt worden sein. Ich bin neugierig, wann der Zeitpunkt kommt, wo die Regierungen wegen Unfähigkeit bei der Lebensmittelversorgung ebenfalls kaltgestellt werden". 84 Ebd. S. 525. 86 Vgl. dazu Verwaltungsbericht 1913-1920, S. 12-17 u n d 97 ff88 MGZ 1916, Sitzungsber., S. 728. 87 Ebd. S. 533 (26. Juni 1916). 68 Vgl. dazu besonders W. Boldt, Der Januarstreik in Bayern mit bes. Berücksichtigung Nürnbergs, Jahrb. f. Frank. Landesforschung 25, 1965 und Schade S. 45-48. 89 Zu Person und Tätigkeit Kurt Eisners vgl. den Beitrag von F. Wiesemann.
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Zur Haltung der SPD in der Revolutionszeit vgl. den Beitrag von P. Kritzer. Das Königspaar wurde deshalb „Kartoffel- oder Millibauer" und „Topfen-Resl" genannt. 72 J. B. Sailer, Des Bayernkönigs Revolutionstage, München 1919, S. 5. 73 MP Nr. 251 vom 26. Oktober 1918. 74 MP Nr. 247 vom 22. Oktober 1918. 76 Für die Haltung der Bauern stütze ich mich neben Mattes auf A. Hundbammer, Geschichte des Bayerischen Bauernbundes, München 1924 (hier zitiert nach der Dissertation von 1923). 76 Hundhammer (S. 144) vertritt wohl nicht zu Unrecht die Meinung, daß es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem neu aufstrebenden linken Flügel und dem gemäßigten rechten Flügel auch ohne Weltkrieg hätte kommen müssen. 77 MGZ 1916, Sitzungsber. S. 97. Magistratsrat Knieriem: Es herrscht in den Kreisen der Händler und Bauern eine Gewinnsucht, die schon an Unverschämtheit grenzt.... sie ( = die Bauern im Bez. Altötting) haben noch nicht einmal (als Ernteertrag) soviel Kartoffeln angegeben, als sie zur Saat brauchen". 78 Vgl. auch Mattes S. 60. 70 Zu dem und dem Folgenden vgl. Hundbammer S. 153. 80 Eisner sagt z.B. auf einer Versammlung am 30. Oktober im Löwenbräukeller: „ . . . Falls die Regierung ... nicht sofort Frieden schließen, müssen die bayerische Bauernschaft und die bayerische Arbeiterschaft ... sich der Regierung bemächtigten". (Münchener Neueste Nachrichten, im Folgenden zitiert als MNN, Nr. 551 vom 31. Oktober 1918.) 81 MP Nr. 245 vom 19. Oktober 1918. 82 M G Z 1918, Sitzungsber. S. 814. Im Magistrat wird am 5. November die schlechte Kartoffelzufuhr beklagt, die erheblich unter der letztjährigen liege und die einen bedenklichen Rückgang seit dem 16. Oktober aufweise. Wenn in den Tagen vor der Revolution in den einzelnen Gremien der städtischen und staatlichen Verwaltung die Nahrungsmittelversorgung so eingehend behandelt wird, so entspricht dies einer dringenden Notwendigkeit. 88 Abgemeldete Fremde aus Bayern aus Nordamerika 1913 181006 14752 2 1916 268099 5° 71
1917
43227*
2
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1918 618456 4 1919 560799 85 84 B K Nr. 305 v. 2. November 1918. 86 MP Nr. 264 v. 12. November 1918. 86 B K Nr. 311/312 v. 9. November 1918. 87 Die Angst vor Fliegerangriffen wird meiner Meinung nach häufig überschätzt, denn Fliegeralarm beeindruckt die Bevölkerung in keiner Weise. Vgl. dazu MP Nr. 260 v. 7. November 1918 und MGZ 1918, Sitzungsberichte S. 816 (5. November 1918). 88 F. Fecbenbach, Der Revolutionär Kurt Eisner, Berlin 1929, S. 3 5 f. 88 Mitchell S. 78. 90 Siegert S. 7. 91 B K Nr. 309 v. 6. November 1918. 92 B K Nr. 310 v. 7. November 1918. 93 Zur Zahl der Demonstranten vgl. Schade S. 131, Anm. 87. 94 Vgl. dazu u. a. MP Nr. 261 v. 8. November 1918 und aus dem Aktenbestand des Bayerischen Hauptstaatsarchives München, Akten betreff Arbeiter- und Soldatenräte (im Folgenden stets abgekürzt als ASR) Nr. 3, Blatt 554. 96 Bayerische Staatszeitung (im Folgenden stets abgekürzt alsBStZ)Nr. 260 v. 8. November 1918. 98 B K Nr. 311/312 v. 9. November 1918. 97 BStZ Nr. 262 v. 1 1 . November 1918. 98 MGZ 1918, Sitzungsberichte, S. 847 (19. November 1918) und S. 889 (2. Dezember 1918). 99 BStZ Nr. 263 v. 12. November 1918.
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Bayern im Umbruch
100 Zu der Literatur, in der die Vorgänge vom -¡.¡i. November als der Putsch einer kleinen Minderheit landfremder Agitatoren dargestellt und eine Beteiligung der ortsansässigen Bevölkerung weitgehend abgelehnt wird, nimmt Kitbnl treffend Stellung (S. 690-692), ohne allerdings ausfuhrlicher auf die Sachlage einzugehen. Zur Haltung der einzelnen Gruppen zur Revolution schreibt W. G. Zimmermann, Bayern und das Reich 1918-1923, München 1953, S. 27: „Es gibt in der bayerischen Geschichte wohl kaum etwas widerlicheres als die prompten Republikaner des November 1918 . . . " Zur Haltung der Münchener Gemeindeverwaltung zur Revolution vgl. die in allernächster Zeit erscheinende Münchener Dissertation von P. Steinborn, Grundlagen und Grundzüge der Münchener Kommunalpolitik in den Jahren der Weimarer Republik. 101 Ich kann, wenigstens für die ersten Wochen der Räteregierung, Mitchell nicht zustimmen, der (S. 95) feststellt, daß die Eisnerregierung in den ersten Wochen in Bayern etwas Bizarres hatte. 102 Mattes S. 72. 103 In Nürnberg, das mit München, außer der Verwaltung, in keiner Weise verbunden war, wäre ein selbständiger Putsch zu einem früheren Datum durchaus möglich gewesen. Vgl. Kolb S. 23 t". 104 MP Nr. 263 v. 1 1 . November 1918. 105 Zur Ausbreitung in den verschiedenen Städten vgl. Kolb S. 89 f., außerdem für Augsburg E. Niekiscb, Gewagtes Leben, Köln/Berlin 1958, S. 38-41; Nürnberg O. Gessler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, Stuttgart 1958, S. 110; Regensburg H. Beyer, S. 11. 108 Z.B. an Orten, die eine günstige Bahnverbindung mit München hatten. 107 Kolb S. 90 und Mitchell S. 131. loe Vgl. dazu Quellen d. Münchener Wirtschaftsl. S. 11 und 134. 109 So z.B. seit 1910 die Gegend um Bad Aibling, Rosenheim und Miesbach, in den Bezirksämtern an Salzach und Inn usw. Vgl. dazu Herkommer S. 62 ff. 110 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Akten des Staatsministeriums des Innern (im Folgenden stets zitiert als MInn) 54197, Magistrat Rosenheim an Innenministerium. 111 Hauptsächlich Handwerksmeister und Gewerbetreibende. lls Über die Vorgänge in Erding ASR 7, Reg. Bez. Erding. 113 MInn 54206, Stadtrat von Eichstätt an Innenminist, v. 19. November 1919. 111 Für Gründung und Ausbau der Bauernräte vgl. Mattes S. 66-122. 116 Vereinzelt hat sich die Bildung der Räte sogar bis zum März 1919 hingezogen, besonders in der Oberpfalz (vgl. ASR 35). (Ich werde im Folgenden, um die Anmerkungen nicht zur stark aufzublähen, wo es angebracht erscheint, nur immer die Faszikelnummer angeben, ohne die einzelnen Aktenstücke näher zu bezeichnen). Im Bezirksamt Wasserburg waren im Januar 1919 noch keine Räte gewählt (ASR 8). 111 In Schwaben und Neuburg wurde z. B. kein Einfluß von München aus spürbar, sondern nur von Augsburg (MInn 54208). Auch die Bezirksämter Oberfrankens zeigen keine Beteiligung Münchens an den Veränderungen (MInn 54190). Mattes (S. 61) gibt folgende Reihenfolge für die Revolutionsfreudigkeit an: Niederbayern, Oberbayern, Schwaben, Mittelfranken, Unterfranken, Oberpfalz, Oberfranken. Grundlegende Ursachen dieses verschiedenen Verhaltens sind seiner Meinung nach Volkscharakter, politische Vergangenheit und Beruf. Die Gründung der Bauernräte außerhalb der Einflußsphäre Münchens erfolgte nach Mattes (S. 87-89) hauptsächlich aus dem Bestreben heraus, den politischen Einfluß der Sozialdemokraten nicht zu stark werden zu lassen. 117 Daß die Nähe Zu München keineswegs immer entscheidend war, zeigt z. B. der Zeitpunkt der Wahl der Räte in Oberschleißheim am 8. Dezember, Pullach 19. Januar, Grünwald 1 1 . Dezember, Aubing 4. Dezember, Gauting 7. Dezember (alle ASR 7 u. 8), Starnberg 21. November (ASR 32). 11s Vgl. MInn 54190. Ich teile nicht Mitchells (S. 131) Version über Entstehung und Ausbreitung der Räte. 118 So z.B. in Starnberg (ASR 32), Traunstein (ASR 8), Pasing (ASR 7), Aubing (ASR 7), Erding (ASR 7). Der Arbeiter- u. Bauernrat (im Folgenden stets abgekürzt als ABR) Moosburg bittet am 31. Januar 1919 um die Entsendung eines Vertreters des Vollzugsrates zwecks Bildung von ARR in den Gemeinden um Moosburg (ASR 7).
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120 In den Berichten über die Wahlen steht immer wieder, daß sie sich nach den vorgeschriebenen Normen vollzogen, nach den Vorschriften v. 17. Dezember 1918 stattgefunden haben, auf behördliche Aufforderung hin Zustande gekommen sind usw. (Vgl. besonders MInn 54190). 121 So z.B. im Bezirk Miesbach in 11 Gemeinden (ASR 8), auch im Bez. Aichach waren nur sehr vereinzelt Räte gebildet worden (ASR 7). Mattes (S. 97) schätzt, daß zu Beginn des Jahres 1919 in 90% aller Gemeinden Ortsbauernräte vorhanden waren. Ich halte diesen Prozentsatz für Zu hoch. 122 In dem neun Köpfe zählenden Arbeiterrat von Nesselwang war z. B. nur ein einziger Arbeiter vertreten (MInn 54208), ähnliche Verhältnisse beim A R von Reichenhall (ASR 7). Nach Mattes (S. 101) kommen auch recht häufig Bauernräte mit nur einem Mitglied, das der Bürgermeister selbst ist, in Schwaben, Ober- und Unterfranken und auch in der Oberpfalz vor. 128 In einer Volksrätesitzung des Oberlandes in München am 30. November 1918 mit Vertretern aus 16 Distrikten wird Beschwerde erhoben wegen der Zurücksetzung der Provinz gegenüber der Hauptstadt. (Aiblinger Wochenblatt Nr. 98 v. 7. Dezember 1918). Die Versammlung der schwäbischen Arbeiterräte lehnt es am 27. November 1918 ab, den Zentralarbeiterrat München als die für Bayern maßgebende Instanz anzuerkennen. „Wir sind nicht gewillt, in Schwaben eine Diktatur seitens des Münchener Arbeiterrates anzunehmen . . . " (ASR 14, Blatt 20). Der AR München antwortet darauf: „Es liegt uns fern, die Tiktatur (I) über das Land auszuüben, aber nach wie vor stehen wir auf dem Standpunkt, daß wir die revolutionären Arbeiterräte sind, die, die alte Regierung in München gestürzt haben, nicht in Augsburg" (ASR 14, Blatt 19). 124 Bezeichnend dafür ist ein Antrag des Bezirkskommissars für Finanzangelegenheiten des ABSR Kempten und Umgebung (MInn 54208, undatiert, wahrsch. Januar 1919) an das sozialistische Ministerium, in dem eine gründliche Säuberung aller Amtsstuben, von den Ministerien angefangen, gefordert wird von allen denen, die dem jungen Volksstaat jede Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit Zu nehmen drohen. Von den Räten könne keine praktische (d. i. fruchtbare) Arbeit geleistet werden, „solange in den ausführenden Stellen durch Alter, Veranlagung oder Gewohnheit völlig stumpfsinnig oder in totaler Fachgelehrsamkeit und einem Übermaß von Bücherweisheit dem Leben und Volke fremd gewordene Bürokraten sitzen, die aus Unfehlbarkeitsdünkel und Uberhebung, überspanntem Machtgefuhl und eigensinniger Rechthaberei, aus Scheu vor Verantwortung und Angst um ihr Fortkommen, vielfach aus reiner Trägheit und Bequemlichkeit nicht fähig oder gewillt sind, den neuen Geist zu verstehen und in sich aufzunehmen ...". Ich halte diese überspitzten Formulierungen für sehr interessant, denn der geschlossen in die neue Staatsform übernommene Beamtenapparat hatte durch seine besondere Ausprägung und Haltung auch für die Zeit der Weimarer Republik große Bedeutung. 1211
So die ARR von Dorfen, Freilassing und Freising (ASR 7). Immer wieder kommen Anfragen nach München, was die neuen Räte eigentlich zu tun hätten. Meist wurden die Räte gewählt, ohne auch nur annähernd eine Vorstellung von ihrer Tätigkeit zu haben. 127 An den Zentralrat wird häufig die Bitte um Ausweise und Legitimationskarten herangetragen. Diese muß sich aber jeder Rat auf eigene Kosten selbst drucken lassen (ASR 14, Blatt 381). 128 A. Schlögl (Hrsg.), Bayerische Agrargeschichte, München 1954, S. 572. 129 B K Nr. 329 v. 26. November 1918, vgl. „Wo bleibt der Bauernrat?". 130 B K Nr. 343 v. 10. Dezember 1918, vgl. „Bauernverein und Bauernrat". 181 Vgl. dazu auch Kap. VD bei Mitchell S. 183-210. isi Vgl dazu Escherich-Heft 1, München 1921, S. 9; MNN Nr. 652 v. 27. Dezember 1918; M G Z 1919, Sitzungsberichte S. 458 (8. Mai 1919). 188 MNN 564 v. 8. November 1918 „ . . . oder nach dem Waffenstillstand die demobilisierten Truppen das Chaos herbeifuhren...". 184 Beim Wohnungsamt München meldeten sich Wohnungssuchende: 1918 vermietete Wohnungen September 1132 63 Oktober 2 533 104 November 5 248 176 Dezember 10624 304 (nach MNN Nr. 37 v. 23. Januar 1919) 126
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185 Vgl. Gut S. 106-111 in „Das Wohnungswesen der Stadt München". MGZ 1919, Sitzungsber. S. 422 (10. April 1919). 137 MGZ 1919 Sitzungsber. S. 276 (11. März 1919). 138 j^p Nr. 63 v. 17. März 1919. 139 MGZ 1919, Sitzungsber. S. 3 1 } (18. März 1919). 140 In München unterstützte Erwerbslose (nach den jeweiligen Wochenmeldungen in der MGZ): 1918 Woche 1919 Woche Dezember ca. 1000 1. Januar 1. 15000 2. ca. 4-5 000 2. 21449 10000 31000 3313000 38022 441919 Woche 1919 Woche 40228 Februar 1. März 1. 33695 2. 38633 2. 33 572 37200 31268 3334170 30264 441919 Woche 1919 Woche April 29467 Mai 1. 1. 32595 138
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2.
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31346 331800 4141 y g j ¿¡20xl eine Einwohnerzahl von rund 647000. 142 MP Nr. 62 vom 15. März 1919. Zu dem Nachlassen der Arbeitsintensität (vgl. dazu auch L. Reiners, Die wirtschaftlichen Maßnahmen der Münchener Räteregierung und ihre Wirkungen, Diss. Maschschr. Tübingen 1920, Würzburg 1921, S. 206) kommen als Belastungen für die Wirtschaft, neben der Einführung der achtstündigen Arbeitszeit, scharfe Lohnforderungen, die teilweise mit Streiks und Arbeitseinstellungen erzwungen werden. 148 MGZ 1919, Sitzungsber. S. 2756 (11. März 1919). 144 Mitte Dezember 1918 erfolgte die Einstellung der Fertigung der Heeresbedürfnisse und die Entlassung der Arbeiter der militärtechnischen Institute (MNNNr. 621 vom 12. Dezember 1918). In den Artilleriewerkstätten in München wurden am 12. Dezember etwa 5000 Arbeiter entlassen. (MNN Nr. 23 vom 15. Januar 1919). 146 MGZ 1918, Sitzungsberichte S. 913 (10. Dezember 1918). 148 Hauptsächlich Metzgerbräu, Soller, Steyrer, Bayerische Krone, Mathäser. 147 (K. Deuringer), Die Niederwerfung der Räteherrschaft in Bayern 1919, Berlin 1939, S. 2. 148 MGZ 1918, Sitzungsber. S. 913 (10. Dezember 1918). 149 Städtisches Arbeitsamt München, Geschäftsbericht 1916-1921, München 1922, S. 9. 160 Ebd. S. 11. 161 MGZ 1919, Sitzungsber. S. 368 (1. April 1919). 162 ASR 29, Blatt 119. M. Gasteiger, Die Not in München, München 1923, schätzt (S. 6), daß gegen 50000 nach München zugewanderte Fremde, Flüchtlinge und Auswanderer aus abgetretenen und besetzten Gebieten in der Stadt verblieben sind. 163 J. Hofmiller, Revolutionstagebuch 1918/19, Leipzig 1938. 164 Statist. Handbuch d. Stadt München 1928, S. 124. 166 Münchener Wirtschafts- und Verwaltungsblatt 1925/26, S. 100. 158 MGZ 1919, Sitzungsber. S. 440 (6. Mai 1919). 157 Schlögl S. 662. 168 Der Physiologe Geheimrat Frank und der Kliniker Geheimrat Friedrich von Müller. Vgl. BStZ Nr. 21 vom 22. Januar 1919. 169 Vgl. das seit 1874 erstmals 1916 bis 1918 wieder auftretende Überwiegen der Sterbefälle über die Lebendgeborenen, ohne Berücksichtigung der auswärts erfolgten Kriegersterbefälle. (Statist. Handb. d. Stadt München 1928, S. 14).
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160 Reiners (S. 198) nennt die Münchener Industrie „eine Treibhauspflanze, von fremdem Kapital befruchtet, jung und ohne klare Erweisung Ihrer Wachstumsmöglichkeiten, in ungünstigen Verhältnissen gedeihend". 161 Für das und das Folgende: Sitzung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände am 10. Januar 1919 Der Personenverkehr wurde künstlich eingeschnürt und beträgt nur 52 Prozent des Verkehrs im Oktober 1913. Der Güterverkehr beträgt nur mehr 51 Prozent des Verkehrs vom Oktober vorigen Jahres". (Sitzungsbericht in MP Nr. 8 vom 1 1 . Januar 1919). 162 Reiners (S. 191 u. 197) weist allerdings nach, daß der Kohlenmangel keineswegs so kraß war, wie allgemein behauptet wurde. Um die politischen Machthaber in Mißkredit zu bringen, wurde die Situation gerne schwärzer gemalt, als sie ohnehin schon war. Vgl. auch die Milchanlieferung {Reiners S. I77f. und MP Nr. 98 vom 28. April 1919). i«3 MP Nr. 51 vom 3. März 1919, vgl. „Die Lage der geistigen Arbeiter". 164 M G Z 1919, Sitzungsberichte S. 342f. (27. März 1919). 185 M G Z 1918, Sitzungsberichte S. 963 (23. Dezember 1918). 186 Es demonstrieren u. a. Arbeitslose, Kriegsbeschädigte, Schneider, Wirte, Versicherungsbeamte, stellungslose Kaufleute usw. Für den 8. Januar wird ins Deutsche Theater von der freien sozialistischen Jugendgruppe eine Protestversammlung einberufen, zu der die Erwachsenen nur auf den Rängen Zutritt haben. (MP Nr. 1 vom 2. Januar 1919 und Nr. 6 vom 9. Januar 1919). MP Nr. 284 vom 5. Dezember 1918 schreibt: „ . . . Zur Zeit fühlt offenbar jede unbekannte Größe das Bedürfnis, sich in Versammlungen zu produzieren. Daß bei solchen Versammlungen aber auch gar nichts Positives und Brauchbares heraus kommt, berührt das Publikum anscheinend nicht weiter; wenn's nur eine „Hetz" gibt." 187 Zur Tanzseuche MNN Nr. 658 vom 31. Dezember 1918; MNN Nr. 49 vom 29. Januar 1919; BStZ Nr. 34 vom 4. Februar 1919; M G Z 1919, Sitzungsberichte S. 271 (6. Februar 1919). 168 In einer Versammlung des Spartakus-Bundes am 19. Dezember 1918 fordert ein Redner, alle Bischöfe an den nächsten Laternenpfahl zu hängen. (MNN Nr. 642 vom 20. Dezember 1918). 169 Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 1928, S. 688f. 170 Vgl. B K Nr. 31 vom 31. Januar 1919. 171 B K Nr. 134 vom 13. Mai 1919; B K Nr. 124/125 vom 3-/4. Mai 1919. 172 Reiners S. 8. 173 Reiners S. 10-39. 174 Im wesentlichen stützte ich mich für das und das Folgende auf Reiners, dessen gute und fundierte Untersuchung es trotz ihres Alters wohl wert wäre, mit einigen Anmerkungen gedruckt zu werden. 176 Am 13. Februar beklagen sich die MNN über die Kasernenräte, die, obwohl zu neun Zehntel Mehrheitssozialisten, sich stets von einer mit allen Mitteln arbeitenden radikalen Minderheit beeinflussen lassen. (MNN Nr. 76 vom 13. Februar 1919). 176 Eine Versammlung des 1. Infanterie-Regiments beschließt am 31. März u. a. in allen Tageszeitungen zu veröffentlichen, daß das I. Jnf. Reg. ab 1. April sämtliche vom 1. Inf. Reg. gehaltsempfangenden Offiziere als entlassen betrachtet. (BK Nr. 94 vom 4. April 1919). 177 Vgl. Reiners S. 75-77 und S. 149-161. 178 Ebd. S. 77. 179 JE. Milbsam, Von Eisner bis Levini, Berlin-Britz 1929, S. 55. 180 Vgl. M. Gerstl, Die Münchener Räte-Republik, München 1919, S. 69. Gerstl bringt eine ganze Reihe von Aufrufen und Bekanntmachungen der Räterepublik sowie Ausschnitte aus Zeitungsberichten. 181 Ebd. S. 25 f. 18S Reiners S. 117. 183 Gerstl S. 106. 184 So sagte Eisner z.B. auf einer Versammlung des Spartakusbundes am 19. Dezember 1918: „Ich warne Sie, wenn die Ordnung nicht aufrecht erhalten werden kann, dann sehe ich Zustände für das zermarterte Volk kommen, die ich nicht wünsche. Ich warne Sie, Sie haben unter sich die Reak-
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tion, die Blut fließen lassen -will. Und ist erst Blut geflossen, so ist das das Ende der Revolution". (MNN Nr. 624 vom 20. Dezember 1918). 188 Zur Frage der Bürgerwehr vgl. u.a. Schade S. 796 und MitchellS. 172-177, 179-182 und 225230. 186 M G Z 1918, Sitzungsber. S. 893 f. (3. Dezember 1918). 187 Zur Haltung des Münchener Bürgertums zur Revolution •will ich unten noch kurz Stellung nehmen. 188 Vgl. Gerstl S. 62. 189 Reiners S. 183. 100 Gerstl S. 108. 191 M G Z 1918, Sitzungsberichte S. 894 (3. Dezember 1918). 192 M N N Nr. 42 vom 25. Januar 1919. „Gegen die Verhetzung der Soldaten!... daß in der letzten Zeit in den Kasernen, in denen doch zum überwiegenden Teil nur mehr die jungen Jahrgänge sich befinden, eine verwerfliche, hetzerische Agitation getrieben wird." 198 A S R 1, Blatt n a . 194 MP Nr. 269 vom 18. November 1918. 198 M G Z 1919, Sitzungsber. S. 218 (20. Februar 1919) und S. 224 (21. Februar). 198 Vgl. Mattes S. 208. 197 Htmdbammer S. 154. 198 Nach Kreisen ausgeschieden erhielt der bayerische Bauernbund in: Niederbayern 30,8%, Schwaben 22,4%, Oberbayern 12,3%, Oberpfalz 4,9%, in den fränkischen Kreisen je rund 1 Prozent der abgegebenen Stimmen. (Nach Htmdbammer S. 162). 199 Zu den Bedingungen, die der Landesbauernrat zur weiteren Mitarbeit vor Ausrufung der Räterepublik stellte, vgl. Gerstl S. 2of. 200 Mattes S. 189. 801 In Landshut zwingt z.B. die Aktionsausschuß der A B S R R die Bauern am 22. März 1919 mit bewaffnetem Aufgebot, die Ferkel zu einem festgesetzten Preis zu verkaufen. Das fuhrt natürlich zu großer Erregung unter den Bauern. (MInn 54203, Wochenbericht des Reg.-Präsidenten von Niederbayern). 202 Hundbammer S. 181. 203 Mattes S. 190. 204 Hundhammer S. 191. 205 So weigern sich z.B. der Stadtmagistrat und alle Arbeitgeber von Kempten mit Erfolg, den Lohnausgleich für die anläßlich der Ermordung Eisners stattgefundene Betriebsruhe zu bezahlen. (ASR 14, Blatt 20J). 208 MInn 54207, Telegramm d. Bez.-Amts Gerolzhofen an Staatsmin. d. Inn.: „Die am 2.März 1919 ... vollständig tagende Versammlung der Bauern-, Arbeiter-, Soldaten- und Geistigen Arbeiterräte . . . fordern einstimmig mit allem Nachdruck die sofortige Beseitigung der Räteregierung . . . " . 207 A S R 9, Blatt 162. 208 Ebd Sollten es die gegenwärtigen Zustände nicht ermöglichen innerhalb der Mauern Münchens ordnungsgemäß zu tagen, so fordern wir die vernünftigen Elemente auf, sich auf einen Ort zu einigen, wo Ruhe, Sicherheit und gedeihliche Arbeit gesichert ist". 209 A R S 10, Blatt 365; A R S 1 1 , Blatt 291; ARS 9, Blatt 236; A R S 14, Blatt 150; ARS 8, Blatt 466. 210 Vgl. dazu MP Nr. 54 vom 6. März 1919 „ . . . Bedenken Sie, daß München nicht Bayern i s t . . . muß auch den Mut haben, der Münchener Stimmung entgegenzutreten, weil das, was Sie wollen, zum Verderben führt... Die Situation, in der wir uns befinden, ist die kritischste seit der Revolution ". 211 MInn 54202, Mitglied des A R Freilassing an Min.-Präs. Hoffmann vom 9. April 1919. Freilassing war über einen Monat ganz vom Geschehen in München abgeschlossen. 212 Vgl. dazu auch Mühsam, S. 66. 218 M N N Nr. 123 vom 17. März 1919. 214 M G Z 1919, Sitzungsber. S. 390-396 (3. April 1919).
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218 MInn 54190, Resolution d. 300 Bauernräte v. Waigolshausen vom 16. März 1919 an das Ministerium d. Innern. 218 ASRi,Blatt 11, Bericht vom 27. März über die Eindrücke auf einer Vortragsreise. „...Diese Verstimmung ist ausgesprochen reaktionär". 217 Gemeindebevollmächtigter Henne erklärt das Zustandekommen solcher Zustimmungstelegramme dadurch, daß von München aus Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, drei bis vier Mann stark, auf das Land oder in eine Garnison hinausgehen und dann von dort aus Kundgebungen erlassen. MGZ 1919, Sitzungsberichte S. 404 (9. April 1919). 218 ASR 1, Blatt 16 (allerdings undatiert und unsigniert I). 218 Z.B. Rosenheim MInn 54202, Bez.-Amt Rosenheim an Innenminist, vom 10. Mai 1919; Weilheim u. Garmisch MInn 54202, Bez.-Amt Weilheim an Innenministerium vom 30. Juni 1919. 220 Im Räume Miesbach wurde z. B. durch wiederholte Plünderungszüge von München aus ein Gesamtschaden von 40000 M angerichtet. (Fränkischer Kurier Nr. 552 vom 29. November 1919). 221 Heiners, S. 7. Obwohl man selbständige, lokale Eingriffe in die Wirtschaft ausdrücklich untersagte, hatte schon Starnberg seine eigenen Bankverordnungen, Rosenheim sein eigenes Wohnungsreglement, Augsburg seine eigenen 22 Sozialisierungs-Kommissionen und der Arbeitertat Penzberg beabsichtigt sogar, einen besonderen Kohlenausfuhrzoll einzuführen. 228 MGZ 1919, Sitzungsberichte S. 402 (9. April 1919). 228 Der Anteil bayerischer Freikorps an der Befreiung Münchens war recht gering, wurde aber später gerne überbetont, wohl aus dem Wunsche heraus, nicht von preußischen Truppen befreit worden zu sein. Epp als „Befreier Münchens" zu bezeichnen war Teil einer besonders von den Nationalsozialisten gepflegten Legende. Vgl. dazu (K. Deuringer) Die Niederwerfung der Räteherrschaft in Bayern 1919, bes. S. 86. 284 MGZ 1919, Sitzungsberichte S. 262 (6. März 1919). 225 MP Nr. 85 vom 11. April 1919. 226 Vgl. dazu die Proklamation des Ministerpräsidenten Hoffmann in Der Freistaat Nr. 6 vom 14. April 1919, aus der klar hervorgeht, daß die Bamberger Regierung mit einem sicheren Sieg rechnete. Auch Provinzzeitungen brachten den Sieg als „vom amtlicher Seite mitgeteilt". (Vgl. Beilngrieser Wochenblatt Nr. 30 vom 15. April 1919). 227 MNN Nr. 169 vom 3. Mai 1919. 228 Zu den militärischen Operationen in München und Bayern vgl. (K. Deuringer) Die Niederwerfung der Räteherrschaft in Bayern 1919. Interessant ist die dort (S. 21) angeführte Aufzählung der Orte, in denen die Räteideen tiefer Wurzeln faßten. Sie liegen ungefähr alle in dem oben als weiteren Einflußbereich Münchens angegebenen Gebiet. 229 Ähnlich wie bei den bayerischen Freikorps wird der Anteil der Schwabinger Boheme an der Revolution weitgehend überschätzt. Durch ihre Unfähigkeit in praktischer Verwaltungsarbeit wirkt sie sogar hemmend auf Ausbau und Durchsetzung der Räteregierung. Vgl. dazu Retners S. 65 f. und Schade S. 90. 230 In einer empörten Zuschrift an den Zentralrat wird festgestellt, daß die Ernährung jetzt schlechter sei als unter der „Regierung des Gottesgnadentums". (ASR 31, Blatt 231). 281 MInn 54203, Reg. v. Oberbayern an Innenmin. vom 24. Juni 1919. 282 Escherich-Heft Nr. 1, S. 8. 288 Für das Folgende hauptsächlich A. Baumgärtner (Hrsg.) 1914-1924. Zehn Jahre Münchener Hilfstätigkeit, München 1924, S. 123 ff. 284 MNN Nr. 658 vom 31. Dezember 1918; MGZ 1918, Sitzungsberichte S. 895 (4. Dezember 1918). 286 BK Nr. 86 vom 27. März 1919. 288 MGZ 1919, Sitzungsberichte S. 400-415 (9. April 1919). 287 Baumgartner, S. i3if. Vgl. dazu auch BK Nr. 316 vom 13. November 1918, „Revolution und Hofliferantentitel". 288 „Wir haben allerdings... in letzter Zeit gewisse Pflichten versäumt. Wir ließen... die Zustände treiben, wie sie sich nachgerade entwickelt haben. Wir hätten den Leuten zeigen müssen, daß wir
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mit dem geringeren Teil unserer Bevölkerung, die Ruhe und Ordnung stören, nicht einverstanden sind". (MGZ 1919, Sitzungsber. S. 390 (3.April 1919). 239 BStZ Nr. 1 1 2 - 1 1 4 vom 4. Mai 1919. 240 Baumgärtner S. 254. 241 MNN Nr. 636 vom 17. Dezember 1918. 212 Hofmiller S. 179: „Wenns aufs Bürgertum ankommt, -wird nie etwas losgehen, es sei denn in die Hose". 243 Vgl. dazu W. Hoegner, Der politische Radikalismus in Deutschland 1919-1933, München/ Wien 1966, S. 18-21; H. u. E. Harmover, Politische Justiz 1918-1933, Frankfurt 1966, S. 54-75; M. 1. Bonn, So macht man Geschichte, München 1953, S. 216-218.
WOLFGANG
BENZ
Bayern und seine süddeutschen Nachbarstaaten Ansätze einer gemeinsamen Verfassungspolitik im November und Dezember 19x8 Die Entwicklung in Bayerns südwestlichen Nachbarstaaten Württemberg und Baden verlief, wie auch im vierten der süddeutschen Staaten, Hessen, bis zum Herbst 1918 in äußerlich ruhigen Bahnen dank einer ausgewogenen Sozialstruktur und eines öffentlichen Bewußtseins, in dem der Stolz auf das im Vergleich zum norddeutschen Raum weiter forggeschrittene Verfassungsleben dominierte. Die Revolution in den drei südwestdeutschen Ländern, deren Ablauf und Vorgeschichte im Einzelnen hier nicht zu behandeln ist,1 vollzog sich in einander recht ähnlichen Formen. Obwohl die Diskussion über die Einführung des parlamentarischen Systems in den Abgeordnetenkammern früh, teilweise schon vor dem Krieg, eingesetzt hatte, lehnten es die bürokratischen Regierungen in Stuttgart, Karlsruhe und Darmstadt ab, aus der Verfassungsänderung im Reich Konsequenzen zu ziehen. Erst im letzten Augenblick wurde versucht, durch Kabinettsumbildungen und durch die Ankündigung von Verfassungsreformen die Revolutionsbewegung aufzufangen. In Stuttgart vereidigte der König ein neues Kabinett aus Parlamentariern der Fortschrittspartei, des Zentrums und der Sozialdemokratie am Vormittag des 9. November 1918, als bereits Zehntausende demonstrierten und eine Minderheit Württemberg zur Republik ausrief. In Karlsruhe druckten die Sonntagszeitungen am 10. November einen Aufruf des Großherzogs, in dem die Regierungsneubildung und die Einberufung des Landtags zur Verfassungsänderung angekündigt wurde, während in einer gemeinsamen Sitzung des Karlsruher Soldatenrats und des Wohlfahrtausschusses bereits die Ministerliste der Revolutionsregierung ausgearbeitet wurde. In Darmstadt hatte sich in ganz ähnlichen Formen dasselbe zwei Tage vorher abgespielt. Die Revolutionsziele gingen in allen drei südwestdeutschen Staaten über die Einführung des parlamentarischen Systems nicht hinaus, selbst die Aus-
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rufung der Republik hatte in Württemberg den Charakter einer bedauerlichen Begleiterscheinung, in Baden zögerte man diese Entscheidung hinaus, so lange es ging. In enger Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien, die in Stuttgart, Karlsruhe und Darmstadt an der neuen Regierung beteiligt waren, gelang es den Mehrheitssozialdemokraten, alle Bestrebungen zur Ausweitung der Revolution zurückzudrängen. In Stuttgart hatte man den Vorsitz der Provisorischen Regierung mit je einem Vertreter der Mehrheitssozialdemokraten und der USPD besetzt, formal waren sie gleichberechtigt. Von Anfang an bis zum Ausscheiden der beiden Unabhängigen aus der Regierung im Januar 1919 fungierte jedoch der Mehrheitssozialdemokrat Wilhelm Bios de facto unbestritten als alleiniger Ministerpräsident. Ihm selbst, als einem Angehörigen der Generation, die sich aus dem aktiven politischen Wirken schon zurückgezogen hatte (der 1849 Geborene gehörte noch der I. Internationale an, nach einem Gefängnisaufenthalt wegen eines Preßvergehens hatte ihn Karl Marx einmal persönlich am Gefängnistor abgeholt) war die Akklamation zum Chef des württembergischen Revolutionskabinetts überraschend gekommen. Mehr oder weniger war es auch eine Verlegenheitslösung gewesen, weil sich Wilhelm Keil, der einflußreichste Sozialdemokrat in Württemberg (der „württembergische Bebel") geweigert hatte, in die Regierung einzutreten.2 Mit Bios, der an den Revolutionsereignissen gar keinen Anteil hatte, stand an der Spitze der württembergischen Regierung ein Vertreter des rechten Flügels der SPD, der sich gelegentlich enger an die bürgerlichen Parteien als an seine Parteifreunde anschloß. In Baden war das Amt des Ministerpräsidenten auf den Mannheimer Gastwirt Anton Geiß, den Vorsitzenden der badischen SPD und alterprobten Parlamentarier der Landtagsfraktion gefallen. Er präsidierte dem größten einzelstaatlichen Kabinett, in dem alle Parteien außer den Konservativen mit insgesamt elf Ministern vertreten waren. Die Revolutionsminister Wirth (Finanzen) und Dietrich (Auswärtiges) wurden später über Baden hinaus in der Reichspolitik bekannt. In Hessen wurde Carl Ulrich, ebenfalls ein langjähriger Parlamentarier des rechten SPD-Flügels, Ministerpräsident. Auch er regierte von Anfang an zusammen mit Ministern, die die Fortschrittspartei und das Zentrum stellten. So war ein entscheidendes Charakteristikum der Revolution in Südwestdeutschland im Gegensatz zu Bayern die fehlende Frontstellung der Sozialdemokraten gegen die bürgerlichen Parteien. Alle drei Regierungschefs hatten seit Jahren engen Kontakt mit den bürgerlichen Parlamentariern, alle drei Kabinette erstrebten die rasche Konsolidierung der Verhältnisse durch eine
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Konstituante. Mit dem Beginn ihrer Tätigkeit sahen sie die Revolution als beendet an und unternahmen alles, um weitergehende Hoffnungen der USPD und des Spartakusbundes zu vereiteln. Die Enwicklung in Bayern wurde daher von Südwestdeutschland aus mit argwöhnischem Interesse verfolgt; das Mißtrauen richtete sich vor allem gegen Kurt Eisner und - soweit die Ereignisse im einzelnen bekannt geworden waren - gegen den Stil der bayerischen Revolution.
I. SÜDDEUTSCHLAND UND BERLIN
Die Konkurrenz zwischen dem Vollzugsrat und dem Rat der Volksbeauftragten in Berlin wurde von den einzelstaatlichen Regierungen, die sich zur parlamentarischen Demokratie bekannten, mit Unbehagen verfolgt. Die wirkliche Verteilung der Gewichte zwischen den beiden Organen - bei der der Vollzugsrat ziemlich bald zur absoluten Bedeutungslosigkeit herabsank - entzog sich der Kenntnis der süddeutschen Regierungen; das Wenige, was aus Berlin bekannt wurde, war nur geeignet, Befürchtungen zu wecken. Vor allem galt das für den gesamtdeutschen Souveränitätsanspruch des Vollzugsrats, der seine Legitimation lediglich von den Arbeiter- und Soldatenräten Berlins ableiten konnte.8 In Süddeutschland war man weit entfernt davon, den Vollzugsrat als oberstes politisches Organ Deutschlands anzuerkennen. Die Proklamation vom Ii. November, mit der sich der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat der Öffentlichkeit vorstellte und sein Programm der „Deutschen Sozialistischen Republik" verkündete,4 fand genausowenig Beifall wie der Aufruf des Rats der Volksbeauftragten vom folgenden Tag,6 in dem eine Reihe von „Verordnungen mit Gesetzeskraft" bekanntgemacht wurden, die einen Eingriff in die Rechte der Einzelstaaten darstellten. Während die Ziele des Vollzugsrats mit der Absicht der südwestdeutschen Regierungen, den Revolutionszustand umgehend zu beenden, in Widerspruch standen, kollidierten die Maßnahmen der Volksbeauftragten mit der Tatsache des föderalistischen Reichsaufbaus. In dieser Ansicht stimmten die Regierungen der vier süddeutschen Staaten überein. Die Volksbeauftragten in ihrer Funktion als politisches Kabinett des Reiches mußten bald erkennen, daß die Revolutionsregierungen in Stuttgart und Darmstadt, München und Karlsruhe, keinen Zweifel daran zuließen, daß sich die Kompetenzen zwischen dem Reich und den Einzelstaaten um kein Jota verändert hatten. Die Hartnäckigkeit, mit der der einzelstaatliche Machtbe-
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reich gegen die Reichsregierung in seinem durch die Bismarcksche ReichsVerfassung festgelegten Umfang verteidigt wurde, stand der Energie nicht nach, die die königlichen und großherzoglichen Minister in der vergangenen Zeit diesem Problem gewidmet hatten. Die Volksbeauftragten ignorierten diesen Sachverhalt nicht. Als die Entscheidung über das Schicksal des Reichstags anstand, regte Haase an, Verbindung mit den Einzelstaaten aufzunehmen und Vertreter der neuen Landesregierungen möglichst bald zu einer Sitzung nach Berlin einzuladen. Ebert griff diesen Gedanken auf und war bereit, den Staatenvertretern über die bisherige Tätigkeit und die weiteren Absichten der Volksbeauftragten Bericht zu erstatten. Die Auflösung des Reichstags wurde deshalb verschoben, denn man wollte die Länderregierungen nicht vor ein fait accompli stellen, vielmehr die Konferenz abwarten, um mit desto größerer Autorität das Ende des alten Reichstags verfügen zu können.8
I. Neugründung des Reiches vom Süden aus? Karlsruhe sucht Kontakt mit München und Stuttgart Als das Kabinett in Karlsruhe sich am 21. November mit einer Anfrage der württembergischen Regierung beschäftigte, wie man sich zu verhalten gedenke, wenn in Berlin die Einberufimg einer Deutschen Nationalversammlung verhindert würde,7 war bereits der Beschluß gefaßt, sich mit München und Stuttgart direkt in Verbindung zu setzen. Die Anfrage aus Württemberg bewies, daß die dortige Regierung ebenso auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie stand wie die badische. Über die Haltung des bayerischen Kabinetts wußte man in Karlsruhe noch nichts Genaues. Die beiden Herren, die den Auftrag hatten, nach München und Stuttgart zu reisen, wurden instruiert, die allgemeine politische Lage zu erkunden und dann den Gedanken eines gemeinsamen Vorgehens der drei süddeutschen Staaten, eventuell zusammen mit Hessen, in allen demnächst anstehenden politischen Fragen ins Gespräch zu bringen. Das „gemeinsame Vorgehen" bezog sich in erster Linie auf eine Abwehrfront, die gegen die Linksradikalen durch die süddeutschen Staaten errichtet werden sollte. Die badischen Abgesandten hatten überdies in Erfahrung zu bringen, ob Württemberg und Bayern Wirtschaftsbeziehungen mit dem neutralen Ausland aufgenommen hatten. Auf Wunsch des Finanzministers Wirth sollte den Nachbarregierungen auch „ernährungspolitisch auf den Zahn gefühlt" werden.8 Schließlich inter-
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essierte sich Karlsruhe für den Stand des Vereinigungsgedankens mit DeutschÖsterreich. Am 22. November unternahm der sozialdemokratische Karlsruher Stadtrat Dietz in Begleitung eines Regierungsrates die Fahrt nach München. Am folgenden Tag - die Reise hatte zehn Stunden gedauert - trafen sie den bayerischen Ministerpräsidenten nicht mehr an, Eisner war bereits auf dem Wege nach Berlin zur Konferenz der Staatenvertreter, die die Volksbeauftragten zum 25. November einberufen hatten.9 Aus dem Gespräch mit den bayerischen Ministern gewann Dietz den Eindruck, daß die Spartakusbewegung einmütig abgelehnt wurde. Man wolle sich in München in keiner Weise von Berlin terrorisieren lassen. Auch Eisner und Unterleitner wurden dem Vertreter der badischen Regierung als eindeutige Gegner der Spartakusgruppe bezeichnet. Obwohl Militärminister Roßhaupter andeutete, daß Bayern möglicherweise selbständig Friedensverhandlungen mit der Entente fuhren würde, wenn Norddeutschland dem Bolschewismus anheimfalle, bekannten sich sämtliche bayerischen Minister dazu, Vinter allen Umständen am Reichsverband festzuhalten. Der Gedanke des engeren Zusammenschlußes der Südstaaten fiel auf fruchtbaren Boden, und zwar war man in München durchaus der Meinung, einen „Süddeutschen Bund" nicht nur zum gegenwärtig vordringlichen Zweck als Gegengewicht und Bollwerk gegen die Weiterfuhrung der Revolution, sondern auf jeden Fall ins Leben zu rufen. Die Idee, das Reich vom Süden und Westen her neu aufzubauen, also die Reichsgründung von 1870 mit umgekehrten Vorzeichen ohne die Hegemonie Preußens, erschien in München ebenso wünschenswert wie praktikabel. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß diese Gedanken zum erstenmal in Abwesenheit Eisners besprochen wurden. Damit ist die Annahme widerlegt, daß Kurt Eisner die Südbundidee von sich aus entwickelte (oder aus dem Arsenal politischer Konzeptionen wieder ans Tageslicht beförderte) und damit bei den Nachbarregierungen Werbung trieb.10 Man muß vielmehr davon ausgehen, daß das Projekt - ganz allgemein und ohne jede Präzisierung im Detail im November 1918 Gegenstand der Überlegungen in ganz Süddeutschland war. Auf die Frage nach der Einberufung einer bayerischen Konstituante reagierten nur Innenminister Auer und Justizminister Timm ohne Umschweife positiv. Auch diese beiden hielten jedoch einen Wahltermin im Januar 1919 nach dem Vorbild Badens für verfrüht. Als Grund gaben sie die Sicherung des Wahlrechts für die heimkehrenden Truppen an. Die Demobilisation des bayerischen Armeekorps nahm aber naturgemäß längere Zeit in Anspruch als die Auflösung des viel kleineren badischen Kontingents. Die Stellungnahme der übrigen Minister, allen voran die des Kultusministers Hoffmann, erweckte
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bei denBadenern denEindruck, als läge ihnen vieles mehr am Herzen als die baldige Anberaumung von Parlamentswahlen. Hoffmann meinte, daß bis dahin noch ein halbes Jahr ins Land gehen müsse. Er sagte, die SPD brauche genügend Zeit für einen intensiven Wahlkampf, namentlich auf dem Lande; die Wahlagitation stellte er sich als „Kulturkampf" vor. Mit der Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht hatte der ehemalige Volksschullehrer - der genug Gelegenheit gehabt hatte, eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln und nunmehrige Kultusminister bereits einen ersten Schritt in diese Richtung getan. Auer umschrieb die Haltung Eisners mit der Bemerkung, daß der Ministerpräsident zwar grundsätzlich für die Einberufung eines verfassunggebenden bayerischen Parlaments sei, aber „da er ja zur USPD gehört, wohl auch gewisse Versprechungen habe machen müssen". 11 Über das „Nebenparlament", dessen Erwähnung in der Regierungserklärung Eisners vom 15. November in Karlsruhe Verwunderung ausgelöst hatte, konnte Dietz keine befriedigende Auskunft erlangen. Während Roßhaupter meinte, daß zur Sicherung des Erfolges der Revolution denjenigen, die sie gemacht hätten „eine gewisse Vormachtstellung eingeräumt werden müsse" ließen Auer und Timm keinen Zweifel daran, daß das Nebenparlament nach dem Zusammentreten des Landtags keine Daseinsberechtigung mehr habe. In München gab es über diese „Lieblingsidee Eisners", deren Kern darin bestand, die Räteorganisation in das System des Parlamentarismus einzubauen, zur Zeit des badischen Besuchs keine Klarheit. Dietz berichtet seinen Auftraggebern in Karlsruhe als Tatsache lediglich, daß ein Nebenparlament derzeit in Entstehung begriffen sei. Durch die Abwesenheit Eisners ergab sich kein gerundetes Bild für die badische Regierung. Trotzdem hatte Dietz die bayerischen Interna im ganzen treffend charakterisiert.12 Die Spannungen innerhalb des bayerischen Kabinetts, die sich Anfang Dezember zur Krise auswuchsen, waren ihm nicht verborgen geblieben, auch wenn er über Eisners politische Konzepte wenig Auskünfte, und die nur aus zweiter Hand, erhalten hatte. In Stuttgart fiel die Abwesenheit des Innenministers Crispien13, der zusammen mit dem Kultusminister Heymann bei der Berliner Reichskonferenz Württemberg vertrat, ungleich weniger ins Gewicht. Aus den Verhandlungen, die die badischen Vertreter am 25. November mit den württembergischen Ministern führten, gewannen sie den Eindruck eines vollkommen homogenen Kabinetts, das ebenso wie das badische möglichst bald eine Konstituante zusammenrufen wollte. Der Eindruck der Geschlossenheit traf weitgehend zu, die beiden Unabhängigen in der Stuttgarter Regierung, Crispien und Kriegsminister Fischer befanden sich zwar mit den mehrheitssozialdemokratischen und bürger-
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liehen Ministern nicht im Gleichklang, übten aber keinen nennenswerten Einfluß aus. Die badische Anregung zur engen Zusammenarbeit der süddeutschen Staaten fand in Stuttgart noch größeren Beifall als in München. Die Tätigkeit eines zu gründenden Südbundes konnte sich nach Meinung einiger Mitglieder der württembergischen Regierung auch auf die gemeinsame Gesetzgebung bei bestimmten Materien erstrecken. Arbeitsminister Lindemann befürwortete sogar die Vereinigung Badens, Hessens und Württembergs zu einem Staat. Von der unmißverständlichen Stellungnahme zugunsten des parlamentarischen Systems in Stuttgart erhoffte sich die badische Regierung einen günstigen Einfluß auf Bayern. Die Sondierungen, ob Württemberg oder Bayern den Badenern mit Lebensmitteln unter die Arme greifen könnten, verliefen negativ. Dagegen hielt der württembergische Ernährungsminister Baumann gemeinsame Bemühungen in der Schweiz für wünschenswert (Bayern hatte bereits selbständige Verhandlungen mit Böhmen und der Eidgenossenschaft eingeleitet). In der Anschlußfrage hatte sich, zur Beruhigung der Karlsruher Minister, Übereinstimmung ergeben, daß Deutsch-Österreich als selbständiger Bundesstaat im Deutschen Reich willkommen war, die Bayern hatten versichert, daß sie keine Vergrößerung ihres Staatsgebietes durch Rest-Österreich anstrebten. Eine Vereinbarung oder Absprache hatte der Besuch in München und Stuttgart nicht ergeben. Das hatte die badische Regierung auch nicht beabsichtigt. Die Sondierungen bei den Nachbarn sind jedoch als Anfangsphase einer Politik zu werten, die vorerst das Ziel hatte, den status quo der als erfolgreich beendet angesehenen Revolution zu verteidigen. Die Verteidigungslinie sollte gegen weiterreichende Revolutionspläne - gegen die in Mittel- und Norddeutschland operierenden Linksradikalen - aufgerichtet werden. Die Dietzsche Mission hatte ergeben, daß Württembergs Regierung genau dieses Ziel übereinstimmend mit Baden verfolgte. Von Bayern erhoffte man es wenigstens mit einigem Grund; daß in München an zwei Fronten, gegen den „preußischen Bolschewismus" und die „bürgerliche Gegenrevolution" gekämpft wurde, war aus den Gesprächen mit den bayerischen Ministern deutlich geworden. Das wichtigste Ergebnis der Gespräche war zweifellos die betonte Einmütigkeit, mit der das Gewicht Süddeutschlands bei der verfassungsrechtlichen Neuordnung des Deutschen Reiches gemeinsam in die Wagschale geworfen werden sollte. Ein Bund der süddeutschen Staaten zeichnete sich am Horizont ab, ob er Konturen annehmen oder, wie in den vergangenen Jahrzehnten, Schemen bleiben würde, war eine andere Frage, deren Beantwortung in der nächsten Zeit anstand.
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2. Das Reich und die Gliedstaaten. Probleme der Neuordnung auf der Berliner Reichskonferen^ Der Machtkampf um die Einberufung der Nationalversammlung hatte sich nach der Sitzung der Berliner Räte im Zirkus Busch am 19. November, in der die Revolutionären Obleute mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung der konstituierenden Versammlung nicht durchgedrungen waren, auf den Wahltermin zugespitzt. Es ist anzunehmen, daß Ebert den Vorschlag Haases (in der Sitzung der Volksbeauftragten am 20. November), mit den einzelstaatlichen Regierungen in Verbindung zu treten, auch deshalb gerne aufgriff, weil er hoffte, in einer solchen Konferenz die Legitimation füir die Forderung der Mehrheitssozialdemokratie - die von den bürgerlichen Parteien und fast der ganzen deutschen Presse unterstützt wurde - nach einem möglichst frühzeitigen Wahltermin zu erhalten. Noch war die Reichsverfassung von 1871 in Kraft, an der bundesstaatlichen Struktur des Reichs hatte die Revolution nichts geändert.15 Beschlüsse, die in einer Versammlung der deutschen Ministerpräsidenten gefaßt wurden, waren deshalb in der Öffentlichkeit einer gewissen Beachtung sicher. Auch wenn sich die Debatte ins Uferlose ausweitete und die Beschlüsse dieser Versammlung auf nicht ganz parlamentarischem Wege zustande kamen, läßt sich die Bedeutung der Reichskonferenz vom 25. November 1918 nicht lediglich als eine „Übung in Rhetorik"16 abtun. Die Konferenz war ein Mittel im Kampf um die Legitimierung der Herrschaftsgewalt; wenn als Ergebnis der Verhandlungen zwischen der Reichsleitung - den Volksbeauftragten und den Staatssekretären - ein Beschluß publiziert werden konnte, der ihre Politik bestätigte, war ihr Zweck erreicht. Die Diskussion der Reichskonferenz17 wurde von der Antithese: Parlamentarische Demokratie - Rätesystem beherrscht. Entsprechend der Zusammensetzung des Teilnehmerkreises rückte aber auch das zweite Grundproblem der verfassungsrechtlichen Neuordnung, die Frage: Föderalismus oder Unitarismus in den Vordergrund. Eisner hatte mit seiner Veröffentlichung der bayerischen Dokumente zur Kriegsschuldfrage am Vorabend der Konferenz nicht nur den „kompromittierten Männern" des alten Regimes den Kampf angesagt, sondern auch den Willen zu einer eigenen bayerischen Außenpolitik dokumentiert und eine Probe seiner zum Extrem gesteigerten föderalistischen Orientierung gegeben. Damit und durch sein Auftreten bei der Sitzung in Berlin rückte Kurt Eisner für eine kurze Zeit in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, er geriet aber zwischen die politischen Lager und büßte auf allen Seiten an Glaubwürdigkeit ein.
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Schon die Eröffnungsansprache Eberts, in der er eine provisorische Regelung der Zusammenarbeit der Einzelstaaten mit der Reichsregierung vorgeschlagen hatte, beantwortete der bayerische Ministerpräsident mit Attacken auf die Geschäftsordnung und mit heftiger Kritik an der bisherigen Tätigkeit der Reichsleitung. Er bestritt ihr den außenpolitischen Primat als er anstelle des „halb aufgelösten" Bundesrates ein provisorisches Reichspräsidium aus fünf bis sieben „radikalen Sozialisten" zur Führung der Friedensverhandlungen forderte. Mit seiner Polemik gegen die Staatssekretäre Solfund Erzberger fand er den Beifall aller, die in der Regierung des Rates der Volksbeauftragten und der Geschäftsführung der Staatssekretäre den Herd der Gegenrevolution sahen. Dadurch, daß er sich für die „selbstverständliche" Einberufung der Nationalversammlung aussprach, gleichzeitig aber forderte, bis dahin müsse man die Zeit nutzen, um die Demokratie herzustellen, für die die Revolution erst die Vorbedingungen geschaffen habe, versuchte er, zwischen den Radikalen (das waren vor allem die Vertreter von Sachsen, Braunschweig und Coburg, außerdem ein Teil der Beigeordneten der Reichsämter, der Volksbeauftragte Barth und einzelne Vertreter anderer Landesregierungen) und den Anhängern der schnellen Stabilisierung der Parlamentarischen Demokratie (außer den meisten Volksbeauftragten vor allem die Vertreter der südwestdeutschen Staaten) zu lavieren. Die Resonanz auf Eisners Vorschlag, eine provisorische Nationalversammlung aus einem gesamtdeutschen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat zu bilden, blieb im ganzen aus, einzelne Redner griffen zwar seine Polemik auf, ohne aber seinen konstruktiven Vorstellungen (die freilich nicht mit der wünschenswerten Klarheit formuliert waren) zu folgen. Von den Unabhängigen und den weiter links stehenden Konferenzteilnehmern unterschied sich Eisner durch seine Ablehnung des Einheitsstaates. Das Modell „Vereinigte Staaten von Deutschland" verband Eisner mit der Ablehnung aller separatistischen Bestrebungen und der Einladung an DeutschÖsterreich, diesem Bund beizutreten. Indem er den zur Stunde ungeheuer populären Anschlußgedanken mit hereinbrachte, überspielte er die Kritik an seiner Forderung nach einem Staatenbund, der den staatsrechtlichen Zustand vor 1870 wieder hergestellt hätte. Für die Vertreter der südwestdeutschen Nachbarstaaten Bayerns ging Eisner mit seinem extrem-föderalistischen Bekenntnis aber zu weit. Durch die Verwandtschaft seiner Gedankengänge mit denen der Radikalen war Eisner den SPD-Ministern Südwestdeutschlands auch dann noch suspekt, wenn er als Anwalt der Eigenstaatlichkeit der deutschen Länder auftrat. Die Unabhängigen dagegen ziehen ihn der Sünde des Partikularismus. Der hessische Ministerpräsident, der ausdrücklich den gemeinsamen Standpunkt der Regie-
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rungen von Baden, Württemberg und Hessen vertrat, verteidigte Ebert gegen Eisners Angriffe und zog den Trennungsstrich zwischen der bayerischen und den drei übrigen süddeutschen Regierungen durch sein klares Bekenntnis zur verfassunggebenden Nationalversammlung. Eisner war der Frage nach dem Zeitpunkt ihres Zusammentretens beharrlich ausgewichen. Trotz aller Rufe „Los von Berlin!" halte man an der Reichseinheit im deutschen Südwesten unbeirrt fest, sagte Hessens Regierungschef Ulrich. Er wies aber gleichzeitig alle Bestrebungen zur Errichtung eines deutschen Einheitsstaates zurück. Noch deutlicher drückte sich der badische Ministerpräsident Geiß aus, der die Vorschläge Eisners als „Weg in die Sackgasse" abtat: In Baden wolle man schnell aus dem Provisorium heraus und mit der Einberufung einer Konstituante nicht zuwarten, bis die Verhältnisse gefestigter seien. Der württembergische Kultusminister Heymann übte an der Zusammensetzung der Arbeiter- und Soldatenräte Kritik, weil in den einen überwiegend Arbeiter der Rüstungsindustrie, in den anderen das Heimatheer anstelle der Fronttruppen einseitig repräsentiert seien. Heymann beantragte deshalb die Umbildung und Ergänzung der Räte zu einem von ganz Deutschland legitimierten Vorparlament. Als die Debatte immer mehr zum Prinzipienstreit der einzelnen Richtungen innerhalb der USPD ausartete - die Sozialisierung stand im Vordergrund faßte Ebert alle Anträge zum Resumé der Verhandlung zusammen und setzte durch, daß dieses zur weiteren Beratung der Reichsleitung überwiesen wurde, da sich eine Beschlußfassung durch die Konferenz als unmöglich erwies. Dieses nicht unwidersprochen hingenommene, aber auch nicht klar abgelehnte Verfahren ermöglichte es den Volksbeauftragten, als nachträgliches Verhandlungsergebnis festzustellen, daß die Mehrheit der einzelstaatlichen Regierungen Deutschlands auf dem Boden der Reichseinheit stehe, eine möglichst baldige Einberufung der Nationalversammlung wünsche und bis zum Zusammentritt der Konstituante die Arbeiter- und Soldatenräte als Repräsentanten des Volkswillens betrachte sowie die Reichsleitung um schleunige Herbeiführung eines Präliminarfriedens ersuche.18
I I . D I E R E A K T I O N IM SÜDWESTEN AUF EISNERS POLITIK
Der Abbruch der Beziehungen zum Auswärtigen Amt, den Eisner am Tage nach der Berliner Konferenz verfügt hatte, um seiner Aktion gegen Solf und Erzberger größere Durchschlagskraft zu geben, wurde im nachbarlichen Süddeutschland mißbilligt. Die hessische Regierung protestierte gegen Eisners
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Maßnahme und erwartete vom bayerischen Gesamtministerium, daß es den Ministerpräsidenten veranlasse, „den verhängnisvollen Schritt rückgängig zu machen".19 Auch in München setzte sich schon am 3. Dezember die Ansicht durch, daß Eisner die Beziehungen zum Auswärtigen Amt wieder anknüpfen müsse, sobald Solfund Erzberger ausgeschieden wären.20 Die Stellung Solfs war aber schon ohne Eisners Zutun erschüttert. Anfang Dezember kam es im Reichskabinett zu einer heftigen Szene zwischen ihm und dem USPDVolksbeauftragten Haase, wenig später stand fest, daß Solf abgehen müsse, sobald ein Nachfolger gefunden war. 21 Obwohl der Abbruch der Beziehungen zwischen dem bayerischen Ministerium des Äußern und dem Berliner Auswärtigen Amt eine Episode ohne Bedeutung blieb, verstärkte das Verhalten Eisners doch das Mißtrauen der süddeutschen Nachbarregierungen gegen den bayerischen Ministerpräsidenten, bei dem man jetzt sowohl separatistische Neigungen als auch Aspirationen auf ein vergrößertes Bayern vermutete.22 In Berlin ließ man sich keine Verärgerung anmerken, der einstimmige Antrag des bayerischen Kabinetts, in Jena eine neue Konferenz der deutschen Regierungen abzuhalten, fand zwar keine Gegenliebe,23 dagegen wurde ausdrücklich ein Vertreter Bayerns zu der Kommission eingeladen, die unter dem Vorsitz von Hugo Preuß die Ausarbeitung eines Entwurfs zur künftigen Reichsverfassung in Angriff nahm.24 Aber nicht nur der bayerische Ministerpräsident bemühte sich, ein Wort in der Reichspolitik mitzureden. In Karlsruhe verfügte die Regierung über Informationen aus dem neutralen Ausland, nach denen die Entente und Wilson die derzeitige Reichsregierung nicht als verhandlungsfähig erachte, weil sie der Legitimation durch demokratische Wahlen ermangele. Die badische Regierung befürchtete ein Ultimatum, schlimmstenfalls sogar den Einmarsch feindlicher Truppen und forderte deshalb die Vorverlegung des Wahltermins durch ein vereinfachtes Wahlverfahren ohne Wählerlisten, falls die Information zutreffe, daß Friedensverhandlungen erst mit einer verfassungsmäßigen Reichsregierung geführt würden.25 Mitte Dezember wurde die Hauptsorge immer brennender, wie die katastrophale Ernährungslage zu verbessern sei. Im Gegensatz zu Bayern hatten Baden und Württemberg schon lange keine eigenen Auslandsvertretungen mehr, der normale Weg bei Verhandlungen über Lebensmittellieferungen aus dem Ausland ging für sie über Berlin. Die Regierungen in Stuttgart und Karlsruhe waren sich aber einig, daß das Auswärtige Amt gegenüber der Schweiz absolut versage.26 Sie dachten deshalb daran, sich gemeinsam mit der Schweiz direkt in Verbindung zu setzen.27 Bayern und Hessen sollten an der Aktion beteiligt werden.
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Am 18. Dezember erhielt der württembergische Gesandte in München von seiner Regierung den Auftrag, „schleunigst" den bayerischen Ministerpräsidenten aufzusuchen und ihn zu einer Konferenz der vier Südstaaten - möglichst noch vor Weihnachten - einzuladen.28 Die bayerische Regierung nahm am folgenden Tag dazu Stellung. Eisner wollte aber nicht nur Ernährungsprobleme, sondern auch Verfassungsfragen und den Friedensschluß erörtern. Die südwestdeutschen Regierungen hatten dagegen nichts einzuwenden; am Heiligen Abend lud der württembergische Ministerpräsident seine Kollegen ein, sich am 27. Dezember in Stuttgart einzufinden.29 I. Pläne der Stuttgarter StaatenkonferenSüdbund und Süddeutsche Kommission Die Vertreter der Südstaaten trafen sich gerade zu dem Zeitpunkt, da in Berlin, äußerlich markiert durch die Mobilisierung der Straße auf der einen und den Aufmarsch des Militärs auf der anderen Seite, die Auseinandersetzungen einen Höhepunkt erreichten. In seiner Begrüßungsrede30 drückte der württembergische Ministerpräsident Bios, der den Vorsitz führte, seine Sorge über die andauernde Krise in Berlin aus, durch die die Entente nur zu leicht bewogen werden könnte, weitere Gebiete des Deutschen Reiches zu besetzen. Die Friedensbedingungen, von deren voller Wucht freilich zu dieser Zeit noch nicht viel zu ahnen war, würden nach Ansicht der württembergischen Regierung durch die permanente Instabilität der Verhältnisse in Berlin noch verschlechtert werden. Selbstverständlich gehe man in Württemberg nicht von dem Gedanken aus, die Reichseinheit irgendwie antasten zu wollen. Immerhin müsse man aber in Süddeutschland Stellung nehmen zu den Vorgängen in Berlin. Kurt Eisner wies die Befürchtungen seines württembergischen Kollegen zurück, daß die Entente durch die Situation in Berlin zu weiterer Okkupationspolitik ermuntert würde. Er glaubte die Siegermächte genug mit sich selbst beschäftigt und zeigte sich viel besorgter - dabei stützte er sich auf Berichte aus der besetzten Pfalz - daß die hohen französischen Militärs die soziale Entwicklung, vor allem den Acht-Stundentag, mit Leidenschaft bekämpften. Aber auch in Bayern sei es so, daß das Bürgertum den Bolschewismus schlage und die Sozialpolitik meine. Die Massen dagegen, auch auf dem Lande, seien außerordentlich radikal, die politische Freiheit allein genüge ihnen nicht, ihr zur Seite müßte eine Sozialreform umfassendster Art treten. Eisner forderte die gründlichste Umgestaltung aller wirtschaftlichen Verhältnisse und empfahl als einziges Mittel gegen Radikalismus und Anarchie, in wirtschaftlicher Beziehung mit den Radikalen so weit als irgend möglich konform zu gehen. Darin sah
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er zunächst den Weg, eine aktionsfähige Regierung für das Deutsche Reich zu schaffen. Eine gleichwie geartete feste Regierungspolitik würde die Spartakisten in Berlin zur Unfähigkeit und Unschädlichkeit verurteilen. Für Süddeutschland dachte Eisner an ein gemeinsames Programm der Emanzipation von Berlin, an eine verfassungsrechtliche Einheit in der Gestalt eines süddeutschen Bundes, von dem aus durch Vertrag der Einzelstaaten ein neuer deutscher Bund entstehen sollte. Ein Präliminarfriede der Entente mit den vereinten süddeutschen Staaten, unter Einschluß Deutsch-Österreichs, sollte die neue Reichsbildung vom Süden her einleiten. Erster Schritt müßte die Schaffung ähnlicher, nicht von Berlin oktroyierter Verfassungen in den einzelnen Südstaaten sein. Ebenso wichtig nahm Eisner die möglichst rasche Durchführung eines umfassenden sozialistischen Programmes. Eisners Ausführungen blieben nicht unwidersprochen. In Württemberg, Baden und Hessen dachte man nicht nur über die mögliche Besetzung weiterer Gebietsteile weniger optimistisch, auch die These der weitestgehenden Wirtschaftsreform wurde verworfen. Der badische Minister des Auswärtigen, Dietrich, gab in Übereinstimmung mit dem württembergischen Ministerpräsidenten zu bedenken, daß im gegenwärtigen Augenblick drückendster Not mit sozialistischen Theorien wenig auszurichten sei. In die neu zu schaffenden Verfassungen müsse wohl alles Erreichbare an sozialen Fortschritten hineingelegt werden, aber eben nur in dem Maße ihrer Erreichbarkeit. Dietrich nannte das, was in den Entwurf der künftigen badischen Verfassung (der zum Zeitpunkt der Stuttgarter Konferenz Ende Dezember 1918 bereits gedruckt vorlag) hineingearbeitet war, „eine Abschlagszahlung ideeller A r t " . Eine Abschlagszahlung wirtschaftlicher Art, quasi in barer Münze, sei derzeit unmöglich. Dietrich stimmte damit völlig mit Bios und dem württembergischen Kabinett überein, denn auch in Stuttgart sah man fiir eine Reform im Sinne Eisners keine Möglichkeit. In der Ansicht, daß die derzeitige Berliner Zentralregierung aktionsunfähig sei, herrschte jedoch bei allen Vertretern der süddeutschen Regierungen völlige Übereinstimmung. Bios fürchtete sogar, daß die württembergische Bevölkerung angesichts der Berliner Straßenkämpfe auf die Seite der Reaktion getrieben würde, der hessische Ministerpräsident Ulrich war überzeugt, daß die Berliner überhaupt nicht zur Vernunft zu bringen seien und sprach sich dafür aus, an die Berliner Adresse „mit einiger Schärfe" in einer Resolution zu appellieren, daß es so nicht weitergehen könne. Eine rücksichtslose Stellungnahme der Süddeutschen gegen Berlin würde nicht nur den Neutralen, sondern auch Frankreich Eindruck machen. Mit dem so errungenen politischen Kredit müßte es dann möglich sein, direkte Verhandlungen anzuknüpfen, was im
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Interesse des ganzen Reiches liegen würde. Feste Grundsätze, von den Südstaaten gemeinsam formuliert und sowohl der Berliner Zentrale als auch dem Feind gegenüber vertreten, forderte Ulrich um das vor allem im Südwesten umgehende Gespenst zu bannen, das man im Abbruch der Waffenstillstandsverhandlungen und dem dann drohenden Einmarsch der Entente in rechtsrheinische Gebiete sah. Derartige Befürchtungen schienen aus dem südwestdeutschen Blickwinkel heraus gar nicht so unbegründet. In Baden, das nach der Besetzung des Reichs landes Elsaß-Lothringen plötzlich Grenzland geworden war mit einer Grenze von 182 km Länge, lebte die Bevölkerung in der Angst, daß die Besetzung durch Frankreich über den Rhein hinweg ausgedehnt würde. Drohungen, Kehl und Mannheim zu besetzen, waren nach geringfügigen lokalen Ereignissen bereits ergangen. Hatte die Bevölkerung hauptsächlich Angst vor französischen Besatzungstruppen, die nach Lage der Dinge vornehmlich aus Senegalnegern und Annamiten bestehen würden, so sah die Regierung in Karlsruhe den sicheren wirtschaftlichen Ruin des Landes im Falle der Besetzung voraus. Für Hessen, dessen linksrheinisch gelegenes Territorium bereits französisch besetzt war, galt das gleiche. Die hessische Regierung hatte mit den französischen Militärbehörden bereits Kontakt aufgenommen, um wenigstens die dringlichsten Wirtschafts- und Verkehrsfragen (wie die Freigabe der gesperrten Bahnlinie Frankfurt - Darmstadt für Berufstätige) zu klären. Auch die Wahlen in Hessen, sowohl zur verfassunggebenden Landes- wie zur Reichsnationalversammlung konnten ohne die Genehmigung der französischen Behörden nicht vorbereitet und durchgeführt werden. Entsprechende Verhandlungen waren vorläufig ohne jedes Ergebnis geblieben. Die Verärgerung der hessischen Regierung gegenüber Berlin hatte durchaus Gründe, nachdem die französischen Verhandlungspartner auf die Reden von den „unbesiegten deutschen Truppen", die beim Einrücken der Berliner Garnison gehalten wurden, mit entsprechenden Maßnahmen und Drohungen in Mainz reagierten. Der spärliche Fluß der Informationen über den Stand der Waffenstillstandsgespräche, der von Berlin nach Stuttgart, Karlsruhe, Darmstadt und München sickerte, verstärkte das Mißtrauen und die Verdrossenheit im Süden. Es war keineswegs nur die bayerische Regierung, die in jenen Tagen in der Berliner Zentralregierung nicht mehr als einen funktionslosen oder funktionsunfähigen Apparat sah. Der badische Minister Dietrich, der als Oberbürgermeister von Konstanz über gute Beziehungen zur Schweiz verfügte, griff den Gedanken der Selbsthilfe durch Zusammenschluß der Südstaaten auf, den Bios bei seiner Eröffnungsrede hatte anklingen lassen und den Eisner auch von der verfassungs-
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politischen Seite her mit Vehemenz aufgeworfen hatte. Dietrich motivierte ihn mit wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Die unkoordinierten Bemühungen der einzelnen Regierungen um Lebensmittel hätten in der Schweiz und auch im übrigen Ausland den jämmerlichsten Eindruck gemacht. Wenn man in der Schweiz etwas erreichen wolle, müsse man geschlossen auftreten und dürfe nicht den Eindruck entstehen lassen, das Reich falle auseinander. Wenn Württemberg, Baden, Hessen und Bayern zusammentreten und erklären könnten, man habe Ordnung und die Regierungen würden von der Mehrheit ihres Volkes getragen, könne man auch zum Präliminarfrieden kommen und würde damit auch die Berliner Zentralregierung zwingen, Ordnung zu schaffen. Die Auffassung, daß durch die Berliner Zustände das Reichsinteresse aufs Schwerste geschädigt werde, daß es also ein Akt der Reichstreue sei, wenn die süddeutschen Staaten ein Gegengewicht gegen den Norden, den man in der Anarchie versinken sah, bildeten, war auf der Stuttgarter Konferenz unbestritten. Die Parteizugehörigkeiten der einzelnen Vertreter spielten dabei - wenn man von Eisner absieht - keine Rolle. Auer und Bios machten kein Hehl daraus, daß sie mit der sozialdemokratischen Parteileitung in Berlin seit jeher ob ihrer föderalistischen Auffassung in einer gewissen Spannung lebten. Aber gerade Eisner war es, der vor allzu aggressiven Tönen gegen Berlin warnte und empfahl, ohne Proteste, die vor allem Ulrich aus Hessen gefordert hatte, positiv auszudrücken, was die süddeutschen Regierungen wollten. Eine allgemeine Resolution, der ein noch zu formulierendes Programm der Einzelheiten folgen müsse, schlug Eisner mit folgendem Wortlaut vor: „Die in Stuttgart am 27. Dezember 1918 versammelten Vertreter der revolutionären Regierungen von Bayern, Württemberg, Baden und Hessen erklären es für ihre gemeinsame Überzeugung, daß die künftige Gestaltung der Einheit des Deutschen Reichs durch Vertrag der Einzelstaaten zustande kommen muß. Um diese Neubildung zu erleichtern und zu fördern, beschließen die Vertreter der genannten süddeutschen Staaten, zunächst sich zur gemeinsamen Wahrung ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu verbinden." Dieser Text ging über die verfassungspolitischen Vorstellungen der Konferenzteilnehmer weit hinaus; obwohl Eisner sofort die Formulierung „Gestaltung der Einheit des Deutschen Reiches" abmilderte in „Ausgestaltung der Einheit", folgte ihm niemand in der Auffassung, daß das Reich in seiner 1871 konstituierten Form nicht mehr bestehe und daß es daher zur Wiederaufrichtung eines neuen Vertrags bedürfe. Der württembergische Minister Lindemann umriß die Konsequenzen der Eisnerschen These, wonach das Reich nach Aufhebung des Bundesrates höchstens noch als Wirtschaftskörper bestehe. Man habe doch durch die Praxis
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der letzten Wochen das Reichsrecht als auch für die Einzelstaaten bindend anerkannt und Ausfiihrungsbestimmungen zu den Verfügungen des Rates der Volksbeauftragten erlassen. Lindemann hatte vor einigen Tagen in Berlin mit Hugo Preuß und Max Weber gesprochen und mißte, daß die Kommission, die im Auftrag Eberts die künftige Verfassung des Deutschen Reiches entwerfen sollte, bereits an der Arbeit war. Lindemann wußte auch, daß diese Kommission von der Vorstellung ausging, daß die Bundesstaaten zwar fortbestehen, ihr Charakter aber ganz wesentlich geändert werden sollte: Man arbeite in Berlin auf Selbstverwaltungskörper höherer Ordnung hin anstelle der bisherigen teilsouveränen Einzelstaaten. Eine Erklärung der süddeutschen Regierungen, daß sie an der Selbständigkeit der Staaten festzuhalten entschlossen seien, bedeute demnach einen Vorgriff auf die Arbeit der Nationalversammlung des Reiches. Der Zusammenschluß zu einem Südbund habe aber andererseits nur einen Sinn, wenn man auf der Selbständigkeit der Staaten beharre. Der württembergische Unterstaatssekretär Hitzler entwickelte die Gedanken Lindemanns weiter und warf die Frage auf, ob man, nachdem man einer Reichskonstituante in Gestalt der Nationalversammlung zugestimmt und dafür bereits die Wahlen ausgeschrieben habe, überhaupt noch befugt sei, den zu erwartenden Beschlüssen der Nationalversammlung vorzugreifen. Abgesehen davon seien zwei Schwierigkeiten zu beachten: Es sei gefährlich, jetzt auf einen neuen Vertrag hinzuarbeiten und sich dabei in langwierigen Verhandlungen über den Vertragsinhalt auseinanderzusetzen. Eine Diskussion über die Deutsche Einheit sei jetzt ganz unmöglich, an ihr rütteln hieße, das Schicksal der Deutschen handelspolitisch und außenpolitisch auf den Nullpunkt herabzudrücken. Andererseits könne man sich aber nicht der Zentralinstanz in Berlin völlig überantworten. Wie die Dinge jetzt lägen, und damit war Hitzler der Zustimmung der übrigen Vertreter sicher, könne man einer starken und ausgeprägten Zentralmacht nicht ohne weiteres zustimmen. Dem, was Preuß in Berlin erreichen wolle, nämlich die Staaten zu Organen der Reichsregierung „im Gehorsamssinne" herunterzudrücken, müsse man im Süden Widerstand leisten. Dietrich formulierte den Standpunkt der Süddeutschen zu der Frage: Einheitsstaat oder Bundesstaat so, wie er in den ganzen Jahren bis zum Ende der Weimarer Republik bei der latenten Auseinandersetzung zwischen den Vertretern des unitaristischen und des föderalistischen Prinzips immer wieder als Schlachtruf der Föderalisten gebraucht wurde: Die föderalistische Organisation ist das Einzige, was das Deutsche Reich zusammenhält, wer das Reich unitarisch machen will, jagt es in die Luft.
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Trotzdem wünschte Dietrich in die zu fassende Resolution der Süddeutschen das Verlangen aufzunehmen, die Reichsregierung möge sich außerhalb Berlins einen Standort suchen, um dort die Macht hinter sich zu sammeln, die ihr bei Verhandlungen die nötige Standfestigkeit geben würde.31 Hinter der Hauptsache, daß das Reich bestehen bleibe, müßten alle Sonderinteressen zurücktreten. Der bayerische Innenminister Auer lenkte die Diskussion wieder auf die Verfassungsprobleme, als er erklärte, in 8 oder 14 Tagen sei es bereits zu spät für Proteste gegen die Reichsregierung und die Absicht der Berliner Verfassungskommission, die Rechte der Bundesstaaten zu beschneiden. Als provisorische Sachwalter der Bundesstaaten hielt Auer die derzeitigen Regierungen durchaus für legitimiert, vor dem Zusammentritt der Landtage gegen die Berliner Absichten Verwahrung einzulegen. Um die Selbständigkeit der süddeutschen Regierungen zum Ausdruck zu bringen, erschien Auer auch eine Erklärung angebracht, daß es unmöglich sei, den Berliner Anweisungen in den Einzelstaaten Folge zu leisten. Auer dachte dabei an Maßnahmen wie die Verordnung des Rates der Volksbeauftragten vom Anfang Dezember über die Amnestierung politischer Straftaten. Diese Verordnung war in Bayern, aber auch in Württemberg und Baden als unzumutbarer Eingriff in die Justizhoheit empfunden worden und mit Protesten beantwortet worden.32 Das badische Volk wolle es sich nicht gefallen lassen, daß es Reichsprovinz werde, hatte Dietrich erklärt. Für Auer war es keine Frage, daß in Bayern, aber auch in Württemberg und Hessen dieselbe Auffassung in der breiten Öffentlichkeit vorherrschte. Das müsse auch gegenüber Berlin zum Ausdruck kommen, aber so, daß die - auch in Bayern vorhandenen - separatistischen Neigungen bestimmter Kreise, die durch die Berliner Ereignisse ohnehin Auftrieb bekämen, sich nicht ermuntert fühlen könnten.33 Auer war im übrigen der einzige, der auf die Anregung Eisners, durch einen Südbund die Einheit Deutschlands nach dem Vorbild des Norddeutschen Bundes von 1866 neu aufzubauen, noch einmal zurückkam und sie unterstützte. Vielleicht um seinen Regierungschef Eisner, der durch seine weitgehenden und zum Teil widersprüchlichen Forderungen gegenüber den anderen Konferenzteilnehmern mehr und mehr in die Isolation geriet, zu unterstützen, erklärte Geheimrat Grassmann vom Münchner Ministerium des Äußern, daß auch dem Eisnerschen Resolutionsentwurf die Vorstellung zugrunde liege, daß das Reich fortbestehe. Man stehe nicht vor einer Neuschöpfung, sondern vor einer Umänderung seines inneren Aufbaues. Der Durchsetzung der von den süddeutschen Regierungen gewünschten Ausgestaltung des Reiches im föderalistischen Sinne werde aber die Nationalversammlung entgegenstehen,
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in deren Hand die ganze verfassungsrechtliche Entwicklung liege. Ein bestimmender Einfluß der Einzelregierungen im staatsrechtlichen Sinne sei unmöglich. Genauso wie der Reichstag wirke die Nationalversammlung schon durch ihre Existenz zentralistisch. Nach dem Zusammentreten der souveränen Konstituante gebe es für die einzelnen Bundesstaaten keine staatsrechtliche Möglichkeit der Einwirkung auf die künftige Reichsverfassung mehr. Die Möglichkeit, politisch Einfluß zu nehmen und zwar durch eine föderalistische Wahlpropaganda durch die Regierungen, würde dagegen von niemanden verhindert werden können. Während Eisner, ohne Widerspruch zu finden, daran festhielt, die Reichs regierung sei seit dem i. August 1914 aktionsunfähig gewesen - die These gehörte ins Eisnersche Gesamtkonzept - kamen die einzelnen Vertreter, vor allem der württembergische und der hessische Ministerpräsident, immer wieder auf die Krise im Berliner Rat der Volksbeauftragten zu sprechen. Für sie, die Exponenten des „bürgerlich-konservativen" Flügels der süddeutschen Sozialdemokratie, war es die Schicksalsfrage, wer in Berlin in dem Ringen zwischen Mehrheitssozialdemokraten, Unabhängigen und Spartakusbund die Oberhand behalten würde. Die Herrschaft der Spartakisten, aber auch schon die alleinige Macht in den Händen der Unabhängigen, war für Bios und Ulrich, ebenso auch für Auer und Dietrich, gleichbedeutend mit dem endgültigen Chaos. Eisner war seiner Aussage nach jede - selbstverständlich sozialistische politische Richtung in Berlin recht, wenn nur eine aktive Politik, und darin verstand er in erster Linie Bemühungen um Frieden, getrieben würde. Infolge der Widersprüche, in die sich Eisner immer wieder verwickelte - er mußte immer wieder interpretieren, was er kurz zuvor gesagt und gemeint hatte verlor er gegenüber den sozialdemokratischen und bürgerlichen Ministern und Beamten, die mit ihm in Stuttgart am Konferenztisch saßen, an Boden. Daß Eisner die Versammlung geradezu beschwor, scharfe und energische Proteste gegen die Verhältnisse in der Berliner Zentrale, mit der er ja selbst in der heftigsten Fehde lebte, zu unterlassen, hatte vielleicht seinen Grund darin, daß er einen Linksrutsch in Berlin lieber gesehen hätte als den Sieg der Mehrheitssozialdemokraten in den Auseinandersetzungen um die Regierungsgewalt. Ein Protest der süddeutschen Regierungen gegen Berlin konnte sich aber nach der Zusammensetzung dieser Kabinette (auch in München waren ja ernsthafte Differenzen zwischen Eisner und Auer an der Tagesordnung) gegen niemand anders richten als gegen die Unabhängigen und Spartakisten. Im gleichen Maße, wie Eisner Proteste gegen Berlin bekämpfte, wirkte er als Motor auf die Stuttgarter Versammlung, über den aktuellen Anlaß hinaus das zukünftige Verhältnis zwischen den Bundesstaaten und der Zentralinstanz zu erörtern.
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Gegenüber Lindemann, der auf die Kollision etwaiger Verfassungsbeschlüsse mit der Nationalversammlung hingewiesen hatte, erklärte Eisner, es sei ja gerade der Zweck der Zusammenkunft, der Reichsnationalversammlung vorzugreifen. Es gehe nicht darum, jetzt eine politische Richtung in Berlin zu bekämpfen, sondern darum, das föderalistische Prinzip zu erhalten und durchzusetzen. Den Vorschlägen Grassmanns und Eisners folgend, teilte sich die Versammlung in zwei etwa gleich große Ausschüsse, die in getrennten Beratungen die verfassungspolitischen Vorstellungen und die Probleme der Lebensmittelversorgung - die ja ursprünglich Hauptgegenstand der Konferenz sein sollten als Programmpunkte formulieren sollten. Die Differenzen zwischen Eisner und den übrigen Konferenzteilnehmern, die sich bei der Generaldebatte aufgetan hatten, vertieften sich in der nächtlichen Kommissionssitzung derart, daß Eisner am nächsten Morgen, ohne an der weiteren Besprechung teilzunehmen, verärgert abreiste.34 Wie Dietrich in der Sitzung am folgenden Tag referierte, hatte sich der staatsrechtliche Ausschuß auf Anregung Grassmanns und Eisners zunächst mit der Festlegung einheitlicher Grundsätze für die Verfassungen der süddeutschen Staaten befaßt, wobei Übereinstimmung über das Einkammersystem, Wahlen nach dem Proporz und der Verzicht auf einen plebiszitär gewählten Präsidenten in den Bundesstaaten erzielt wurde. Beim zweiten Komplex, der Festlegung einheitlicher Maximen für das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Reich, gerieten die Verhandlungen schon ins Stocken und zum dritten Punkt, Erarbeitung von Grundsätzen für die wirtschaftliche Selbständigkeit der Südstaaten, gediehen die Besprechungen gar nicht mehr. Statt dessen ging die Kommission zur Erörterung der Schlußfrage über, um anstelle theoretischer Debatten, von denen - vielleicht wegen der Eisnerschen Vorschläge - kein Resultat mehr zu erhoffen war, die praktischen Folgerungen aus der Konferenz zu ziehen. Es handelte sich dabei um eine gemeinsame Organisation, die „Süddeutsche Kommission", welche als Instrument koordinierten Selbstbehauptungswillens wirksame Aktionen der vier Staaten gegenüber Berlin gewährleisten sollte. Die Süddeutsche Kommission, bestehend aus je einem bayerischen, württembergischen, badischen und hessischen Mitglied, mit dem Sitz in Stuttgart, sollte möglichst bald zusammentreten und hinwirken auf die Neueinrichtung des Reiches auf föderalistischer Grundlage, auf die Schaffung einer aktionsfähigen Reichsregierung und Nationalversammlung und auf die schleunige Herbeiführung des Friedens. Was unter diesen Programmpunkten zu verstehen war, klärte sich in der Diskussion, die dem Referat Dietrichs folgte. Die „Neueinrichtung" des
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Reiches ging von der nachEisnersAbreiseunwidersprochenenPrämisse aus,daß das Reich fortbestehe und in seiner bisherigen Form erhalten werden müsse. Historische Reminiszenzen an den Rheinbund, an die Abtrennung Süddeutschlands vom Norden des Reiches lehnten alle Vertreter einmütig ab. Baden, so erklärte Dietrich, wolle eine Separierung selbst dann nicht mitmachen, wenn Frankreich Senegalneger als Besatzung ins Land legen würde. Ulrich lehnte für Hessen, Bios für Württemberg, Auer und Grassmann für Bayern auch nur den Gedanken an eine Lostrennung vom Reiche ab. Auf Anregung Grassmanns wurde auch die Formulierung, daß man von Süddeutschland aus auf die schleunige Herbeiführung des Friedens hinwirken wolle, durch den Zusatz ergänzt, daß es sich dabei um den Frieden für das Deutsche Reich handle und nicht etwa um einen Sonderfrieden. Am Vortag, als der Gedanke in der Diskussion auftauchte, war dieser Akzent noch nicht so klar gesetzt, mit dem Präliminarfrieden, für den sich Eisner ausgesprochen hatte, konnte durchaus noch ein süddeutscher Sonderfriede gemeint sein. Mit dem Festhalten am Charakter der bisherigen Bundesstaaten verband sich die Forderung, daß auch in Zukunft neben den Reichstag, und auch schon neben die Nationalversammlung, ein bundesstaatliches Organ in Fortsetzung des Bundesrates treten müsse. Grassmann, der bereits am Vortage auf die Gefahr hingewiesen hatte, die darin lag, daß eine souveräne Nationalversammlung die künftige Verfassung des Reiches allein beschließen dürfe, ging davon aus, daß das bisherige föderative Organ der Reichsgesetzgebung, der Bundesrat, fortbestehe. Die süddeutschen Staaten müßten zum Ausdruck bringen, daß für sie die bisherige Reichsverfassung in ihren wesentlichen Bestandteilen als geltend angesehen würde und daß die bundesstaatliche Struktur des Reiches durch eine zentralistische Verfassung - die man nach den Ausführungen Lindemanns vom Vortag über dessen Gespräche mit Hugo Preuß und Max Weber bangend ahnte - nicht ohne weiteres beseitigt werden dürfe. Um die Mitwirkung der Einzelstaaten bei der verfassungsrechtlichen Neuordnung des Reiches geltend machen zu können, mußte die Süddeutsche Kommission auch in Berlin repräsentiert sein. Die Möglichkeit dazu bot sich ohne weiteren Aufwand in den Gesandtschaften der Südstaaten in Berlin, die in den Demobilmachungsfragen schon zusammenarbeiteten. Dietrich interpretierte die Süddeutsche Kommission mit ihrer durch die Gesandten gebildeten Repräsentanz in Berlin als einen Teil des alten Bundesrates; dieser Kommission würden sich vielleicht auch andere Staaten, eventuell Thüringen oder Teile von Preußen, möglicherweise auch Deutsch-Österreich, anschließen und so die vom Süden erhoffte Entwicklung vorantreiben. Dietrich
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warnte aber selbst vor der deutlicheren Formulierung dieses Gedankens (mit dem er sich ja auch wieder in die Nähe der Eisnerschen Südbundidee der Neukonstituierung des Reiches begeben hatte, die allgemein auf Ablehnung gestoßen war). Ein weiteres Problem, das schon am Vorabend aufgetaucht war, wurde auch am Vormittag des zweiten Tages noch einmal aufgerollt: Die künftige Stellung Preußens im Deutschen Reich. Lindemann hatte auf die Pläne von Preuß hingewiesen, Preußen in einzelne, etwa gleich große Territorien aufzugliedern. Das dabei entstehende Problem, das bei allen späteren Reichsreformplänen der Weimarer Republik im Vordergrund stand und das bald nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung in den Mittelpunkt erbitterten Streites rückte, war die staatsrechtliche Stellung der dabei entstehenden Teilungsgebilde. Sollte es künftig Staaten unterschiedlichen Rechtes geben, die alten süddeutschen Staaten, Sachsen und die kleineren selbständigen Gliedstaaten mit ihren Hoheitsrechten und daneben die Nachfolgeterritorien Preußens als Selbstverwaltungskörper ohne Hoheitsrechte ? Die Problematik, die auf der Stuttgarter Konferenz nur am Rande gestreift wurde, berührte die süddeutschen Interessen an zwei empfindlichen Punkten. Einerseits war die erdrückende Übermacht Preußens, das 3/5 des Gebietes des Deutschen Reiches umfaßte, in der Vergangenheit nur zu oft für die Süddeutschen spürbar geworden. In der ganzen Zeit von 1871-1918 hatte Preußen im Bundesrat, in dem es 17 von 58 Stimmen führte, in keinem einzigen Fall von nur einiger Bedeutung majorisiert werden können. Auf der anderen Seite waren die Konsequenzen, die aus der Zerlegung Preußens folgen mußten, nicht absehbar. Es war immerhin denkbar, daß an die Stelle der preußischen Hegemonie das Übergewicht der neuen Länder, die als Selbstverwaltungskörper höherer Ordnung wohl der Reichsleitung unmittelbar unterstellt sein würden, treten könnte.35 In Stuttgart war man sich am 27. und 28. Dezember 1918 jedenfalls einig, daß die preußische Hegemonie in der bisherigen Form unbedingt abgelehnt werden müsse. Das Verfassungsprogramm, das in dem Resolutionsentwurf der staatsrechtlichen Kommission der Stuttgarter Konferenz in dürren Sätzen umrissen war, zeigte die feste Absicht der Regierungen Süddeutschlands, die Gestaltung der künftigen Verfassung nicht allein der Nationalversammlung zu überlassen. Um eine zentralistische Struktur des Reiches zu verhindern, wurde unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß die bisherige föderative Organisation des Reiches beibehalten werden müsse; das süddeutsche Vorgehen sollte eine Bremse in letzter Minute gegen die bereits eingeleitete Entwicklung sein.
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Die wirtschaftliche Kommission, über die Dr. Schmelzte vom Bayerischen Ministerium des Äußern Bericht erstattete, war zu dem Ergebnis gekommen, daß die bisherigen Einzelaktionen zur Lebensmittel- und Rohstoffbeschaffung aufgegeben werden mußten zugunsten gemeinsamer Bemühungen. Aber auch bei den Lebensmittelbezügen, die dem Deutschen Reich von Amerika in Aussicht gestellt waren, wollten die Südstaaten als Ganzes beteiligt werden. Auer schlug vor, daß das gemeinsame süddeutsche Organ, das in der staatsrechtlichen Kommission beschlossen worden war, auch den gemeinsamen Einkauf im Ausland organisieren müsse. Die Mehrheit der Vertreter wollte sich in dieser Frage jedoch nicht festlegen, man einigte sich schließlich darauf, in Ernährungsfragen die Süddeutsche Kommission als technische Zentrale anzusehen, ohne das weitere Vorgehen im einzelnen zu definieren. Dietrich, der die Wirtschaftslage der Eidgenossen in recht düsteren Farben geschildert hatte, versuchte die süddeutschen Regierungen zu einem generellen Verzicht auf Lebensmittelkäufe in der Schweiz zu bewegen, und statt dessen die dort lagernden Baumwollvorräte - notfalls durch gemeinsame Schritte bei der amerikanischen Botschaft in Bern - für die süddeutsche Industrie aufzukaufen. Zu einem Beschluß in seinem Sinne kam es jedoch nicht.36 In einer weiteren Resolution wurden die Reichsregierung und die preußische Regierung aufgefordert, schnellstens im Ruhrgebiet für „geordnete Zustände" zu sorgen, um die Weiterführung des süddeutschen Wirtschaftsleben durch Versorgung mit Ruhrkohlen zu ermöglichen. Zum Schluß der Konferenz wurde ohne Einwände eine Erklärung, die der württembergische Unterstaatssekretär Hitzler entworfen hatte, angenommen. In dieser Erklärung, die bei der Veröffentlichung der Resolution kommentierend wirken sollte, kam zum Ausdruck, daß die 4 süddeutschen Regierungen auf dem von der Revolution geschaffenen Boden stünden und die politischen und sozialen Ziele der Umwälzung mit aller Kraft unter Abwehr jeglicher Störung weiterverfolgen wollten: Die Verhältnisse in Berlin bedeuteten nicht nur eine Störung und Gefährdung der neuen Errungenschaften, sie bedrohten auch die Einheit des Deutschen Reiches. Festhaltend an der bundesstaatlichen Struktur des Reiches, lehnten die süddeutschen Regierungen jede Sonderbündelei ab. An der Ausübung des bisherigen Mitbestimmungsrechts der Bundesstaaten an den Geschicken des Reiches, auf das in den letzten Wochen kein Einfluß geübt werden konnte, wollten die Süddeutschen festhalten. Diese Mitbestimmung müsse wie bisher durch ein bundesstaatliches Organ der Reichsleitung gegenüber gewährleistet sein, nur dann sei es möglich, „die volle Handlungsfähigkeit der Reichsleitung wieder herzustellen und die Arbeiten der kommenden Nationalversammlung zu einem guten Ende zu bringen."37
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M Ö G L I C H K E I T UND G R E N Z E GEMEINSAMER V E R F A S S U N G S P O L I T I K
Das Ausscheiden der drei Unabhängigen aus dem Rat der Volksbeauftragten am Abend des 28. Dezember bedeutete für den Augenblick die Lösung der Krise in Berlin im Sinne der Mehrheitssozialdemokratie. In der nächtlichen Sitzung des Reichskabinetts mit dem Zentralrat wurde der Vorschlag diskutiert, einen Süddeutschen in die Reichsleitung aufzunehmen, um die Abneigung gegen Berlin im Süden, die durch die zu erwartenden Ergebnisse der nächsten Tage wohl noch verstärkt würde, zu dämpfen. Scheidemann meinte aber, man dürfe das nicht „aus dem Handgelenk machen"; in den weiteren Sitzungen war dann von einem süddeutschen Volksbeauftragten keine Rede mehr.38 Am 29. Dezember beschäftigte sich das bayerische Kabinett mit den Ergebnissen der Stuttgarter Verhandlungen. Den dort gefaßten Beschlüssen stimmten die bayerischen Minister zwar in summa zu, die Einsetzung einer Süddeutschen Kommission jedoch war jetzt Eisner und auch Hoffmann nicht mehr ganz geheuer. Auch die in Stuttgart vereinbarte Resolution schien Eisner und Hofmann nicht mehr auf die veränderten Verhältnisse in Berlin zu passen. Was Eisner zwei Tage vorher in Stuttgart nur hatte anklingen lassen, daß er nämlich mit der Frontstellung der weiter rechts stehenden Regierungen Badens, Württembergs und Hessens gegen die Spartakusgruppe nicht restlos einverstanden war, wurde im bayerischen Ministerrat jetzt offen ausgesprochen.39 Nachdem die USPD aus der Zentralregierung ausgeschieden war, schien es Eisner nicht ratsam, durch eine aggressive Resolution (die Aggression erblickte er in der Ankündigung der Süddeutschen Kommission) Aufsehen zu erregen. Das bayerische Kabinett beauftragte Auer, nach Stuttgart, wo Ministerpräsident Bios als Koordinator der süddeutschen Interessen waltete, eine abgeänderte Fassung der Kundgebung, in der von der ständigen Kommission der Südstaaten keine Rede mehr war, mitzuteilen.40 Die Frage, wer als Vertreter Bayerns ständig nach Stuttgart entsandt werden sollte, wurde vertagt.41 In Karlsruhe berichtete Minister Dietrich am 30. Dezember dem badischen Gesamtstaatsministerium über die Stuttgarter Verhandlungen.42 Die inzwischen von der württembergischen Regierung übermittelte bayerische Fassung der Resolution, der man auch von Stuttgart aus zugestimmt hatte, wurde gebilligt. Als Vertreter Badens in der Kommission nahm das Kabinett den Stadtrat Dietz, den man im November mit den Sondierungen in Stuttgart und München beauftragt hatte, in Aussicht. Die gemeinsame ständige Kommission der Südstaaten, die als Pointe der ganzen Stuttgarter Konferenz - wie sich Dietrich ausgedrückt hatte43 - gelten
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mußte, trat nie zusammen. Der Hauptgrund lag zweifellos in München, wo nach anfänglichem Zögern die Freude am Zusammengehen der Süddeutschen in Verfassungsfragen durch zunehmendes Mißtrauen den badischen und württembergischen Partnern gegenüber getrübt wurde. War für Eisner das politische Gefälle zwischen den Regierungen im Südwesten und Bayern maßgebend, so herrschte in der Ministerialbürokratie das Gefühl vor, auf der Hut sein zu müssen gegenüber Karlsruhe und Stuttgart, da das Abkommen vom 28. Dezember nicht nur im positiven Sinn einen „Kristallisationspunkt für eine sachgemäße föderative Umbildung des Reiches" bilden, sondern auch im negativen Sinn zur „völligen Mediatisierung Bayerns führen" könnte. So drückte sich Legationsrat Hamm (der spätere demokratische Minister in Bayern und in Berlin) aus, der der bayerischen Delegation in Stuttgart angehört hatte.44 Daß Bayern in Süddeutschland die führende Rolle in Verfassungsfragen ergreifen müsse, war für die Beamten des Ministeriums des Äußern in München keine Frage. Hamm vertrat - klarer und zielstrebiger als dies die derzeitige politische Führung unter Eisner vermochte - den traditionellen Standpunkt der bayerischen Politik, wenn er forderte, daß die Vorstellungen, die man in München zur Gestaltung der kommenden Reichsverfassung entwickele45 auch zur Auffassung der anderen süddeutschen Bundesstaaten gemacht werden müßten. Der Wert eines ständigen süddeutschen Organs mußte für Bayern folgerichtig in erster Linie in der Möglichkeit der Beeinflussung der südwestdeutschen Regierungen liegen. Die Vorstellungen der bayerischen Regierung mußten aber auch zum Inhalt des allgemeinen Volkswillens gemacht werden. Immerhin bestand ja die Gefahr, daß die öffentliche Meinung sich zugunsten eines deutschen Einheitsstaates auch in Bayern neigen würde. In den Jahren nach 1866 war der Druck der öffentlichen Meinung spürbar geworden, als sich der bayerische König auch im eigenen Land durch eine geschickt inszenierte Stimmung in der heimischen Presse zum Eintritt in den Verband des Deutschen Reiches gedrängt sah. In nächster Zeit war also nicht nur der „Volkswille" unter Kontrolle zu halten, auch das bayerische Mitglied der Süddeutschen Kommission mußte scharf an die Kandare genommen werden, und zwar nicht nur vom Kabinett aus, sondern vor allem durch die Beamten des Ministeriums des Äußern. In dem Memorandum Hamms, in dem dieser seinen Vorgesetzten, den Geheimrat Müller, geradezu beschwor, eine Klärung der Frage, wo die Führung der Angelegenheiten der süddeutschen Kommission liege, herbeizuführen, spiegelt sich unübersehbar auch das Mißtrauen der Ministerialbürokratie gegenüber der derzeitigen poltischen Führung in Bayern.
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Hamm, der das Auftreten Eisners in Stuttgart miterlebt hatte, befürchtete offenbar, daß ein bayerischer Vertreter, der von Eisner ernannt und von diesem instruiert würde, ohne dem bayerischen Beamtentum zu entstammen, auch weitgehend unabhängig seines Amtes walten würde und den süddeutschen Regierungen gegenüber - auf deren innere Geschlossenheit von München aus mit einem gewissen Neid geblickt wurde - die bayerischen Interessen nicht energisch genug vertreten könnte. Daß Eisners Interessen mit den bayerischen Interessen unbedingt kongruent seien, setzte man in den Beamtenkreisen bestimmt nicht als selbstverständlich voraus. Auch in Stuttgart war man in der Angelegenheit der Süddeutschen Kommission nicht sonderlich aktiv. Das württembergische Zögern hatte allerdings andere Gründe als das bayerische. Die Regierung Bios hatte in den ersten Tagen des Jahres 1919 alle Hände voll zu tun, um sich gegen den Ansturm der Spartakisten zu rüsten. Nur von Karlsruhe aus wurden die Nachbarregierungen gedrängt, die Kommission ins Leben treten zu lassen.46 Baden hatte als erster der vier süddeutschen Staaten einen Vertreter, den sozialdemokratischen Redakteur der „Volksstimme" in Mannheim, Adam Remmele, nominiert und konkrete Vorschläge für die Arbeiten der Kommission gemacht. 47 Diese sollte, um die Nationalversammlung vor deren Zusammentritt an der alleinigen Entscheidung über die künftige Form des Deutschen Reiches Bundesstaat oder Einheitsstaat - zu hindern, sofort namens der Südsstaaten die Forderung nach einem bundesstaatlichen Organ (neben dem Reichstag ein Staatenhaus) erheben. Eine weitere Frage, auf deren Bedeutung der bayerische Finanzminister Jaffö schon wiederholt hingewiesen hatte, sollte durch die süddeutsche Kommission baldigst geklärt werden: die künftige Steuergesetzgebung. Wenigstens eine bewegliche Steuer müßte den Bundesstaaten verbleiben, wenn sie nicht auf die Stufe von Kommunalverbänden des Reiches herabsinken wollten. 48 Während die Regierungen in Stuttgart und München entweder keine Zeit oder keine Lust hatten, sich um die Realisierung der Stuttgarter Beschlüsse zu kümmern, arbeitete die Zeit gegen die Südstaaten und ihren eigenstaatlichen Selbstbehauptungswillen. In Karlsruhe sah man das offensichtlich am klarsten. Ende Januar 1919, als die Süddeutsche Kommission immer noch nicht zustande gekommen war, endud sich der badische Ärger in einem scharfen Protest des Ministers des Auswärtigen an die Adresse Bayerns.49 Wenn man das gemeinsame Vorgehen in der Süddeutschen Kommission nicht wolle, so schrieb Dietrich seinem Kollegen Eisner ins Stammbuch, dann müsse man in
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vollem Umfang das Reich gelten lassen und Sonderaktionen im Ausland unterlassen. Die bayerische Sondergesandtschaft in der Schweiz, die Eisner eingerichtet hatte und der neuerdings eine Handelsabteilung angegliedert worden war, betätige sich in einer Weise, die im krassen Widerspruch zu den Stuttgarter Vereinbarungen stünde. Durch das eigenmächtige bayerische Vorgehen dem allerdings juristisch nichts entgegenzusetzen war - würden nicht nur die wirtschaftlichen Interessen der anderen Bundesstaaten geschädigt, auch dem Reich, das nur durch Demonstration seiner Einheit dem Ausland gegenüber wieder zu Ansehen gelangen könne, würde Schaden zugefügt. Dietrich schloß mit einem Appell, die Süddeutsche Kommission doch noch ins Leben zu rufen. Daran dachte man in Bayern offenbar jetzt nicht mehr, der Brief wurde den zuständigen Referenten überwiesen, die Ereignisse in München machten eine Äußerung über die Stuttgarter Beschlüsse vom Dezember bald überflüssig. Als sich Ende März 19x9 die süddeutschen Minister wieder in Stuttgart trafen, um gegen die Beratungsergebnisse des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung zu protestieren, kam die Kommission noch einmal auf die Tagesordnung, errichtet wurde sie nie. Versucht man die Bilanz zu ziehen aus den Versuchen der Südstaaten, in den ersten Wochen nach dem Umsturz Einfluß auf die verfassungspolitische Neuordnung im Reich zu gewinnen, so wird man zu einem negativen Ergebnis gelangen. Das politische Gefälle zwischen Südwestdeutschland, wo möglichst schnell Ruhe und Ordnung, die Konsolidierung des Staatsgefüges, angestrebt wurde und Bayern, wo sich Eisner mühte, gegen alle erdenklichen Widerstände seine Ideale einer demokratischen Ordnung zu realisieren, erschwerten und hinderten eine fruchtbare Zusammenarbeit. Dazu kam das gegenseitige Mißtrauen, das sich auf der südwestdeutschen Seite zum Argwohn, bei der bayerischen Ministerialbürokratie zur Eifersucht steigerte, wenn man es überspitzt formulieren will. Trotzdem blieb der süddeutschen Zusammenarbeit nicht jeder Erfolg versagt. Auf der zweiten Reichskonferenz der Einzelstaaten in Berlin am 2 5. Januar 1919 gelang es den süddeutschen Staaten, durch gemeinsame Anträge, die Eisner im Namen von Bayern, Württemberg und Baden (zum Teil mit Unterstützung Sachsens und Hessens) stellte, ein vorläufiges Reichsgrundgesetz durchzusetzen, das den Einzelstaaten das Mitbestimmungsrecht bei der Beratung der endgültigen Reichsverfassung garantierte. Dadurch gelang es, dem Entwurf der Reichsverfassung, der auf der unitarischen Konzeption von Hugo Preuß basierte, föderalistischere Züge zu verleihen, als ursprünglich beabsichtigt war.
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ANMERKUNGEN
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ZU:
W o l f g a n g Benz, Bayern und seine süddeutschen Nachbarstaaten 1 WÜRTTEMBERG: Karl Weller, Die Staatsumwälzung in Württemberg. Stuttgart 1950. - Außer dieser inzwischen stark korrekturbedürftigen Darstellung gibt es eine zahlreiche Memoirenliteratur. W. Bios, Von der Monarchie zum Volksstaat 2 Bde. Stuttgart 1922/23. - P. Hahn, Erinnerungen aus der Revolution in Württemberg. Stuttgart 1922. - W. Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten 2 Bde. Stuttgart 1947/48. - L. v. Köhler, Zur Geschichte der Revolution in Württemberg. Stuttgart 1930. Tb. v. Pistorius, Die letzten Tage des Königreichs Württemberg. Stuttgart 1935.-F. Rück, November 1918. Stuttgart 1958. BADEN: W. E. Oeftering, Der Umsturz 1918 in Baden. Konstanz 1920. - G. Kaller, Die Revolution des Jahres 1918 in B a d e n . . . in: Z G O 114(1966), 301fr. (mit Dokumenten). - Außerdem: H. Köhler, Lebenserinnerungen, Stuttgart 1964. - A. Remmele, Staatsumwälzung und Neuaufbau in Baden. Karlsruhe J925. - J. Scbofer, Mit der alten Fahne in die neue Zeit. Freiburg 1926. HESSEN: B. Adelung, Sein und Werden. Offenbach 1952. - C. Ulrich, Erinnerungen. Offenbach
1953-
Keil, Erlebnisse II, 8off. ' Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919. Düsseldorf 1962, H4ff. * D G K , 48. 5 D G K , jo. 6 Reichskabinettsitzung 20. November 1918 BA, R 43 I/1324. 7 Bad. Ministerrat 21. November 1918 GLA, 233/24 312 (Wortl.auch bei Kaller, a.a.O. 342f.). 8 ebda. 9 Bericht Dr. Dietz für den bad. Staatspräsidenten,GLA, 233/25 690. Der ausführliche Bericht ist undatiert, wahrscheinlich am 24. November 1918 abgefaßt, er besteht aus drei Teilen, in denen 1. der allgemeine Eindruck der Besprechung, 2. die Zusammensetzung des bayerischen und 3. die des württembergischen Kabinetts erörtert wird. - Im Gegensatz zu der Annahme Kallers, a.a.O. 3i8f. ging die Initiative zum gemeinsamen Vorgehen der Südstaaten gerade von Baden aus. 10 vgl. Schwend, Bayern zwischen Monarchie und Diktatur, 53. 1 1 Bericht Dietz, a.a.O. 18 Einige Irrtümer waren ihm freilich unterlaufen, so rechnete er den Finanzminister Jaffi (USPD) der Fortschrittlichen Volkspartei zu. 18 dessen Eigenschaft als nominell gleichberechtigter Regierungschef bezeichnenderweise Dietz verborgen blieb. 14 Kolb, Die Arbeiterräte, 131. 15 Der Bundesrat existierte insofern weiter, als ihm nach der amtlichen Bekanntmachung der Volksbeauftragten v. 14. November 1918 die Ausübung seiner verwaltungsrechtlichen Befugnisse ausdrücklich zugestanden wurde. D G K , 53. 14 So Allan Mitchell, Revolution in Bayern, 115. 17 Protokoll der „Sitzung der Reichskonferenz im Kongreßsaale des Reichskanzlerpalais am Montag den 25. November 1918" (gedr.) GStAM, M A 1 1 0 1 5 . 18 Voss. Ztg. Nr. 604 v. 26. November 1918. 19 Telegramm Hess. Staatsministerium an die Reichsregierung v. 29. November 1918, Abschr. GStAM, MA 11015. Wie aus dem Text hervorgeht, war man in Darmstadt sicher, daß Eisners Politik von der Mehrheit des bay. Kabinetts nicht unbedingt gebilligt wurde. 20 Bay. Ministerrat 3. Dezember 1918 GStAM, M A I 1014. S1 Reichskabinettsitzung 9. u. 12. Dezember 1918, BA, R 43 I/1324. 2
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Vgl. Kaller, 319. Reichskabinettsitzung 4. Dezember 1918, BA, R 43I/1324. 24 Reichskabinettsitzung 3. Dezember 1918 ebda. u. Telegramm an bay. Regierungv. 5. Dezember 1918, GStAM, MA1994. 26 Telegramm bad. Regierung v. 5. Dezember 1918 an Rat d. Volksbeauftragten, Erzberger, alle Bundesregierungen und den Soldatenrat bei der OHL Kassel. Antworten liefen u.a. von Erzberger, sowie aus Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolstadt und Schaumburg-Lippe ein. GLA, 253/12 690. 28 Die Kritik war nicht unberechtigt, wie aus der Reichskabinettsitzung v. 23. November 1918 hervorgeht. Haase rühmte die Erfolge des bayerischen Gesandten in Bern, Foerster, der ein besserer Vertreter für das gesamte Deutschland wäre als der derzeitige Reichsgesandte Romberg. BA, R 43 I/I32427 Bericht des württ. Unterstaatssekretärs Hitzler im württ. Ministerrat 19. Dezember 1918 über Verhandlungen, die er am 17. Dezember 1918 in Karlsruhe geführt hatte WStA, E 131, B 1/16. 28 Telegramm Ministerpräsident Bios an württ. Gesandten Moser v. Filseck 18. Dezember 1918 WHStA, E 75, 229. 29 Bay. Ministerrat 19. Dezember 1918 u. Sehr, württ. Gesandter an Eisner 24. Dezember 1918 GStAM, MA 1 1 0 1 4 . 30 Sten. Prot. Konferenz der Vertreter der 4 süddeutschen Staaten in Stuttgart am 27. u. 28. Dezember 1918 GStAM, MA 103 244. 31 Die süddeutschen Regierungen unterstützten gemeinsam den Wunsch des Würzburger Oberbürgermeisters, das dortige Schloß zum Sitz der Nationalversammlung zu machen. Telegrammwechsel 4.-8. Januar 1919 in: Sammlung der auf die Neuordnung in Baden bezüglichen bedeutsamen Kundgebungen u. Verordnungen GStAM, MA 104 303. Das Reichskabinett entschied sich am 20. Januar 1919 für Weimar BA, R 43 I/1326. - Vgl. auch Ber. bay. Gesandtschaft Berlin v. 13. Januar 1919 GStAM, MA 103 244. 82 Vgl. bay. Ministerrat 27. Dezember 1918 GStAM, MA I 1014. - Verwahrung des württ. Justizministeriums v. 24. Dezember 1918 DGK, 315. - Baden hatte, wie Dietrich auf der Stuttgarter Konferenz mitteilte, ebenfalls in Berlin protestiert. 33 Auer erklärte wörtlich: „Ich bin mir vollständig klar, daß Dr. Heim bei uns diese Vorgänge reichlich ausnützen wird, um Bayern vollständig zu isolieren, um damit möglichst große Propaganda zu treiben, und daß er damit ganz erhebliche Stimmung erzielen wird." Prot. a.a.O. 34 Bios, Von der Monarchie I, 80 berichtet, daß man noch bis tief in die Nacht auf Eisners Zimmer im Hotel Marquardt verhandelt habe. Man darf annehmen, daß Bios in diesem Punkt von seiner Erinnerung nicht getrogen wurde, obwohl er auch den badischen Ministerpräsidenten Geiß zu den Konferenzteilnehmern zählte, der gar nicht in Stuttgart anwesend war. 35 Das preußische Problem erwies sich auch für die Nationalversammlung 1919 als unlösbar. In der Reichsreformdiskussion, die bis zum Ende der Weimarer Republik andauerte, spielte die Preußenfrage die Hauptrolle; nachdem es weder der Länderkonferenz 1928, noch Papens Aktion v. 20. Juli 1932 gelungen war, ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen, blieb es alliiertem Machtspruch vorbehalten, den größten Staat im deutschen Reichsverband von der Landkarte zu löschen. 36 Der Aufkauf in der Schweiz sei direkt lächerlich, erklärte Dietrich auf der Stuttgarter Konferenz, denn die Schweiz habe selbst nichts zum Leben. Die Brotration betrage 2/3 der deutschen, Zucker sei teuerer als im Reich, Kohlen seien völlig unerschwinglich. Man könne also nur Unheil stiften. Lediglich die Baumwollvorräte, gegen deren Abgabe die Entente Einspruch erhob, könnten helfen, die deutsche Textilindustrie wieder in Gang zu setzen. Damit würde auch ein Abrutschen der Arbeiter weiter nach links verhindert. Prot. a. a. O. 37 Dieser Kommentar bildet in der Veröffentlichung durch WTB am 31. Dezember 1918 das eigentliche Herzstück. Die Resolutionen, in denen der politische Zündstoff steckte, wirkten dagegen fast wie Erläuterungen zu dem Hitzlerschen Kommentar. Vgl. MNN Nr. 659 v. 31. Dezember 1918. 38 Reichskabinettsitzung 28-/29. Dezember 1918 BA, R 43 1/1325. 39 Bay. Ministerrat 29. Dezember 1918 GStAM, M A I 1014. 23
Bayern und seine süddeutschen Nachbarstaaten 40
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Der übrige Resolutionstext blieb unverändert. Im bay. Ministerrat v. 2. Januar 1919 schlug Eisner den Redakteur der „Fränkischen Tagespost", den Sozialdemokraten Gustav Geisler vor. In den Ministenatssitzungen v. 9. und 15. Januar berichtete Eisner, daß sich Geisler einverstanden erklärt habe, ihm wurde geraten, sich vorläufig nur beurlauben Zu lassen, was schon darauf hindeutete, daß man der ständigen Kommission in Stuttgart nur mit halbem Herzen zustimmte. GStAM, MA 99 513. 42 Bad. Ministerrat 30. Dezember 1918 GLA, 233/12 960. 48 Prot. Stuttgarter Konferenz a.a.O. 44 Aktenvortrag Hamm f. GehRat Müller v. 6. Januar 1919 GStAM, MA 103 244. Dort heißt es weiter: „Die Zusammenschlußbestrebungen, die zwischen Württemberg und Baden wohl vorhanden sind, die außerordentliche wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder, die vorgeschrittene politische Beweglichkeit ihrer Einwohner, dazu eine ihres Zieles offenbar bewußte Führung sind Aktiva auf der Seite Württembergs und Badens, denen Bayern nur dann freudig zusehen kann, wenn es selbst die gleichen hat". 45 Vgl. die „Grundzüge einer neuen bayerischen und einer neuen Reichsverfassung nebst den zu deren Herstellung zu ergreifenden Maßnahmen". Entw. der bay. Verfassungskommission (Piloty, Grassmann u.a.) v. Nov./Dez. 1918 GStAM, MA 103 244. 4,1 Sehr. Bad. Min. d. Auswärtigen an Bios v. 3. Januar 1919 WStA, E 131 N 1 und GStAM, MA 104 303. 47 Mitteilung üb. d. Ernennung Remmeles an Bios v. 3. Januar 1919 WStA, E 131 N I. 48 Die Besprechung der süddeutschen Finanz minister am 2. Dezember 1918 in Stuttgart hatte Jaffi angeregt, die Regierungskrise in München vereitelte seine persönliche Teilnahme. Im Landessoldatenrat erklärte Jaffö am 2. Dezember, die in Stuttgart tagenden Minister berieten über eine gemeinsame Abwehrfront der Süddstaaten gegenüber den Forderungen des Reichsschatzamtes. Sten. Ber., 94f. vgl. auch Prov. Nat. Rat, Sten. Ber. 91. 49 Sehr. Dietrich v. 27. Januar 1919 an die Regierungen von Bayern, Württemberg und Hessen. GStAM, MA 102 669 u. GLA, 233/25 690. 41
CHRISTOPH Die Revolution
von
1918
WEISZ
im historischen
und
politischen
Denken Münchener Historiker der Weimarer Zeit (Konrad Beyerle, Max Buchner, Michael Doeberl, Erich Mareks, Karl Alexander von Müller, Hermann Oncken)* I Die Revolution von 1918 hatte in besonderem Maße eine Schicht, die im Kaiserreich großen sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Einfluß besessen hatte, in ihrem Selbstverständnis empfindlich gestört: das Bürgertum. Die Haltung des Bürgertums zur Revolution und zur Weimarer Republik und sein daraus folgerndes soziales und politisches Verständnis sollte von eminent historischer Bedeutung und Tragweite werden. Die hier behandelten Professoren, die nach ihrer sozialen Herkunft dem gehobenen Bildungs- und Besitzbürgertum des Kaiserreichs verpflichtet waren, können zum einen bedingt Aufschluß geben über das Selbstverständnis der Schicht, der sie angehören, zum andern aber können ihre Aussagen repräsentativ für die Historiker und wohl auch die gesamte Professorenschaft der Weimarer Zeit angesehen werden. Gegenstand der Untersuchung soll die Frage sein, in welcher Weise Angehörige einer Schicht, die in ihren überkommenen Rechten und Ansprüchen durch die anfänglichen Forderungen der Revolution am stärksten von allen Schichten bedroht war, auf das Ereignis der Revolution reagierten. Es ist dabei zu beachten, daß die meisten Urteile erst zu einer Zeit verfaßt wurden, als diese Gefahr weitgehend beseitigt war und sich herausgestellt hatte, daß die Revolution gescheitert war.1 Die überkommenen sozialen, wirtschaftlichen und bürokratischen Verhältnisse hatten sich trotz der Revolution behaupten können. Es wird zu zeigen sein, daß die negativen Urteile über die Revolution hauptsächlich sozioökonomisch bedingt sind. Der Schwerpunkt der Arbeit soll nicht in einem Referieren der Meinungen und Ansichten einzelner Historiker zur Revolution von 1918 liegen, sondern in dem Versuch, verschiedene typische politische Verhaltensweisen und -möglichkeiten von Angehörigen des Bürgertums aufzuzeigen. Weiterhin soll
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immer berücksichtigt werden, daß die hier behandelten Professoren in ihrem Selbstverständnis primär mit dem Anspruch der Fachqualifikation (Historiker) zu werten versuchen. Hierbei ergibt sich, daß die Meinungen, die als Ergebnis historisch-politischen Denkens und Forschens vorgebracht werden, zu einem entscheidenden Teil durch die Zugehörigkeit der Historiker zum Bürgertum bedingt sind. Die Auswahl der behandelten Professoren ist weitgehend willkürlich vorgenommen worden. Sie ergibt sich primär aus der Tatsache, daß die Professoren während der Weimarer Republik an der Universität München lehrten,2 außerdem konnten selbstverständlich nur diejenigen zu einer Analyse herangezogen werden, die ihre Ansichten in mehreren Publikationen artikulierten.3 Innerhalb der zu untersuchenden Gruppe von Historikern treffen wir auf divergierende politische Einstellungen, so daß ein, wenn auch manchmal nicht vollständiges Spektrum von politischen Verhaltensweisen des bürgerlichen Lagers aufgezeigt werden kann. Von vorneherein muß festgestellt werden: ein der politischen „Linken" nahestehender Historiker fehlt, was aber wiederum symptomatisch für die Geschichtswissenschaft und die Universität der Weimarer Zeit erscheint. Die politischen Standpunkte der Historiker reichen von der konservativen Mitte bis zu extrem deutschnationaler, schon fast nationalsozialistischer Haltung. Mit einigem Recht kann behauptet werden, daß diese Auswahl die verschiedenen politischen Standpunkte, die an den Universitäten der Weimarer Zeit vertreten waren, repräsentiert.4 Drei Bayern (Buchner, Doeberl, v. Müller) stehen drei Nicht-Bayern (Beyerle, Mareks, Oncken) gegenüber, womit einer süddeutschen Note innerhalb der Professorenschaft an der Universität München Rechnung getragen ist. Die Landeszugehörigkeit übt jedoch keinen Einfluß auf die politischen Ansichten der einzelnen Professoren aus. Weiterhin muß konstatiert werden, daß bei den Professoren zwischen historischem und politischem Denken nicht streng unterschieden werden kann. Das historische Verständnis der einzelnen bestimmt ihr politisches Denken in entscheidendem Maß mit. Andererseits übt wiederum das politische Verständnis der Gegenwart einen mitbestimmenden Einfluß auf das historische Denken aus, was sich vorwiegend an den mit Vorliebe herangezogenen scheinbaren historischen Parallelsituationen und -ereignissen zeigen läßt.5 Die Vorträge und publizistischen Arbeiten werden fast ausschließlich nicht nur mit dem Namen, sondern auch mit dem Titel gezeichnet, so daß die Ansichten, die in diesen Schriften vertreten werden, nicht nur die einer Privatperson sind, die sich zu politischen Fragen äußert, sondern durch die Berufung auf die Fachqualifikation als Historiker mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftreten.6 Es darf nicht vergessen werden, daß die politischen Schriften von
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Autoren verfaßt worden sind, die sich auf ihre -wissenschaftliche Autorität berufen, und sich deshalb besonders legitimiert fühlen, zu politischen Themen Stellung zu nehmen.7 Darüber hinaus soll in dem Aufsatz der Versuch unternommen werden, nicht nur den faktischen Aussagegehalt der einzelnen Zitate zu untersuchen, sondern auch die Formulierungsweise, besonders die Funktion der Metaphorik, und deren Einfluß auf die Aussage zu berücksichtigen.8 Immer wird zu fragen sein, ob die verwendeten Bilder einer Verdeutlichung des aufgezeigten Sachverhalts dienen, oder ob in ihnen nicht vornehmlich Irrationales und Emotionales dominant wird und so auf die Aussage zurückwirkt.9 Aus diesem Grund wird es notwendig sein, manchmal auch längere Passagen zu zitieren. Um verständlich machen zu können, wie fest sich die Professoren ideologisch und sozial noch mit dem wilhelminischen Reich verbunden fühlen, was es ihnen unmöglich macht, ein positives oder auch nur neutrales und loyales Verhältnis zur Revolution zu gewinnen, soll zunächst kurz deren Haltung zum Kaiserreich am Beispiel von Kriegsausbruch und Kriegserlebnis gezeigt werden. Daran anschließend soll ihre Auffassung und Begründung der militärischen Niederlage analysiert werden. In einem dritten Teil wird ein neuer methodischer Ansatz verwendet, indem nicht mehr die Aussagen gleichsam simultan zu einem bestimmten Problem untersucht werden, sondern bei jedem einzelnen Historiker gefragt wird, welche Probleme der Revolution von 1918 ihm besonders wichtig erscheinen. In einem Exkurs soll dann noch das Bild, das die Professoren von einem Repräsentanten der Revolution, Kurt Eisner, entwerfen, wiedergegeben werden. Eine Zusammenfassung soll dann die einzelnen Ansichten noch einmal pointiert gegenüberstellen und vergleichend interpretieren. II Für die Beurteilung des Kriegsausbruchs und des Kriegserlebnisses durch die Professoren werden Publikationen herangezogen, die erst in den zwanziger Jahren verfaßt worden sind. Aus diesen Aussagen ergibt sich jedoch, daß sie nur sehr geringfügig in Inhalt und Terminologie von denen abweichen, die während des Krieges veröffentlicht wurden. Der Kriegsausbruch und das Kriegserlebnis werden während der Weimarer Republik durchgängig zur antidemokratischen und antirepublikanischen Agitation verwendet.10 Die nachträgliche Rekapitulierung hebt vor allem den Aspekt der Einheitsbildung stark hervor, die durch den Kriegsausbruch bewirkt worden sei. Max Buchner schreibt 1924:
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„Der großdeutsche Gedanke in seiner idealsten Fassung ist wohl nie realer in Erscheinung getreten als in jenen schicksalsschweren Juli• und Augusttagen des Jahres 1914 In dem folgenden Zitat von Erich Mareks wird deutlich, daß der Kriegsausbruch für ihn den Höhepunkt des Kaiserreichs darstellt: „Unvergeßlich rauschen die Fluten des Juli 18jo uns Alteren in der Seele nach, feierlich groß, feierlich rein, voll tiefen Ernstes und freudiger Begeisterung - Gott der Herr in Einer Stunden heilte unsres Haders Wunden! Oder haben wir ihn nicht vielmehr alle12 vernommen, Alte und Junge gemeinsam, diesen feierlich hohen Klang. Ist er nicht stärker noch, brausender noch, voller noch vor sieben Jahren durch unser aller Her% gerauscht,...".13 Hier wird besonders durch Verwendung von pietistisch-mystischem Wortschatz (z.B. Wassermetaphorik) und hymnischen Metaphern eine Verherrlichung sowohl des Kaiserreichs als auch des Kriegsausbruchs initiiert. Die beschriebenen Ereignisse werden zu nationalen Symbolen, die durch den Hinweis auf göttliches Mitwirken sogar noch transzendiert werden. Im folgenden Zitat aus derselben Rede wird der sakrale Charakter, den Mareks dem Krieg zuweist, noch auffälliger: „Und wir Alten haben es damals erlebt, daß wir unsere Kinder keinen schlechten Deutschen erlogen hatten: sie haben sich alle %um Opfer, %um Todessiegel ihrer Treue gedrängt, hoch und niedrig, alt undjung, unsere Brüder, unsere Schüler, unsere Söhne. . . . Die Probe vom August 1914 behält ihren unsterblichen Wert."Xi Auch für ihn bildet die durch den Kriegsbeginn hervorgerufene zeitweilige innenpolitische Einheit die wichtigste Erfahrung: „In dem Feuer von 1914 begannen wir vollends miteinander zu verschmelzen."15 Für Mareks besitzt das Ereignis ausschließlich einen emotionalen und irrationalen Charakter, was auch in den Formulierungen eklatant in Erscheinung tritt. Auch v. Müller artikuliert seine Freude über die zeitweilige Verdeckung der innenpolitischen Schwierigkeiten und Widerstände, wenn er schreibt: „Das war es doch, weshalb so viele, gerade unter uns Jüngeren, 1914 den Ausbruch des Krieges, trot% allen atemberaubenden Drucks der Lage, wie eine Erlösung empfanden: wie ein Feuerbrand, in welchem die turmhoch aufgehäufte innere Verworrenheit in Flammen aufging."16 Für v. Müller war diese Zeit, wie er ebenfalls 1924 äußert „Wunderbare, unvergeßliche Tage, die gewaltigsten im Leben von uns allen". 17 Das Erlebnis der Volksgemeinschaft, das der Kriegsausbruch vermittelt hat, ist ein Grund dafür, daß er sich nach der Revolution nicht mit der Demokratie abfinden kann, da seiner Meinung nach wegen deren Hauptkennzeichen des Pluralismus keine gezielt einheitliche Politik betrieben werden könne. Selbst nach
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dem Zweiten Weltkrieg beurteilt v. Müller denKriegsausbruch fast gleichlautend wie in der Weimarer Zeit, was als ein Beleg dafür gewertet werden darf, wie entscheidend Kriegserlebnis und Kriegsausbruch sein politisches Denken nicht nur in den zwanziger Jahren bestimmt haben.18 Festzuhalten bleibt, daß derartige Äußerungen über den Kriegsausbruch bei Beyerle, Doeberl und Oncken nicht zu finden sind. Schon in diesem Sachverhalt deutet sich an, was an anderen Beispielen noch signifikanter wird, daß diese drei Professoren nicht so extrem emotional und irrational wie Buchner, Mareks und v. Müller reagieren. Der Kriegsverlauf, wobei die Niederlage ausgeklammert bleibt, wird in Schwarz-Weiß-Manier antithetisch der Revolution und der Republik gegenübergestellt. Die durchgängig positive Beurteilung des Weltkriegs hat ihre Ursache in dem Umstand, daß auch nach der Erfahrung des Kriegs mit seinen immensen und bis dahin unvorstellbaren Vernichtungsmöglichkeiten, der Krieg noch immer als eine durchaus gerechte und notwendige Form der Auseinandersetzung zwischen den Völkern angesehen wird. So glauben die Professoren im Weltkrieg hauptsächlich eine „vaterländische Erhebung" und ein „nationales Symbol" fiir die „Wehrhaftigkeit" Deutschlands erkennen zu können. Ihre Berichte über das Kriegserlebnis dienen dazu, die Vergangenheit zu mystifizieren und damit die Gegenwart, d.h. vornehmlich die neue Staatsform und ihre Repräsentanten zu diskriminieren. Max Buchner fragt 1926 polemisch: „Oder bietet dem Christen und Vaterlandsfreunde der Idealismus, der damals Millionen entflammte, der Hunderttausende zurückführte %u den vom Elternhaus ihnen überkommenen Idealen, zurückführte vor allem auch ihrem Gott und ihrer Kirche, bietet die unglaubliche, heroische Kraftentfaltung, die unser deutsches Volk in jenen fahren %eigte, keine Erbauung ?"19 Auch für Mareks hat das Kriegserlebnis erhebenden und berauschenden Wert: „Größe war in der Führung der Waffen und Größe in der Opfer- und Schlagkraft unseres Volkes. Unvergeßlich in aller Geschichte dieser Sturm der Siege, tief in den Süden und Norden, in den Westen und Osten hinein, in drei Erdteilen, und auf der See; überall bluteten und behaupteten sich unsere blonden fungen; sie flochten der Mutter Deutschland, woher sie auch kamen, Reichsdeutsche und Österreicher, alles Söhne des Deutschtums, unverwelklichen Lorbeer um die Stirn. In ihnen siegten Bismarck und Friedrich II. und mit diesen Prinz Eugen ; in diesen Schlachten atmete Unsterblichkeit, und dieser Krieg war in unseren Lebenspfaden eine Höhe - die höchste und stärkste fast von allen. Alle Größe uralter Vergangenheit lebte in ihr und beugte sich vor ihr -auch als sie selber zum Untergange hinsank."20
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Auch nach dem Krieg beurteilte Mareks den Krieg so, als ob er gewonnen wäre. Er identifiziert sich auch nach dem Krieg noch mit der imperalistischen Kriegszielpolitik der Jahre 1914 und 1915 und erkennt nicht, daß durch die Niederlage ein Anlaß zu kritischer Selbstreflexion und zur Revision seiner Anschauungen gegeben gewesen wäre. Neben dem Bekenntnis zur imperialistischen Politik im Weltkrieg werden in dem Zitat auch noch andere für sein historisch-politisches Denken symptomatische Züge offenbar: Die Heroisierung der Vergangenheit und damit verbunden die Neigung zu Legendenbildung, die Unterschlagung von wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen, die Transzendierung von politisch-historischen Ereignissen auf eine scheinbar höhere geistige Ebene, nämlich die der nationalen Symbolik. Auffallend ist außerdem die gehäufte Verwendung von Superlativen und inadäquat pathetischen „hohen" Wörtern (Größe, Opfer- und Schlagkraft, Sturm der Siege, unverwelklicher Lorbeer, Schlachten, Unsterblichkeit, Höhe, höchste, stärkste, uralte Vergangenheit). Im weiteren Kontext wird der Weltkrieg charakterisiert als ein Kampf gegen „die Feinde von jeher, die Nachbarn und Feinde des Germanentums, jetzt, im neuen, weiteren Weltalter, durch das Angelsachsentum unheilvoll ergänzt".21 Diese Deutung des Weltkriegs als eines weltweiten Kampfes des „Deutschtums" entspricht genau der der annexionistischen Professoren im Weltkrieg, zu denen Mareks ebenfalls gehört hatte.22 Karl Alexander von Müller kontrastiert das Erlebnis des Krieges fast durchgängig mit dem des Zusammenbruchs, wodurch eine grob simplifizierende und verfälschende Darstellung erzielt wird, die mit dem Mittel scheinbar anschaulicher, emotionaler Bilder arbeitet: „Wir haben erlebt, wie vier Jahre der Selbstbehauptung gegen eine Welt abschlössen mit einer schnöden Unterwerfung unter fremdes Gebot, einem armseligen Nachäffen fremder Muster: vier Jahre der Helden mit einem Triumph der Feiglinge und der Literaten : vier Jahre des Opfersinns und der Hingabe mit einem Taumel der Selbstsucht, vier Jahre der Einigkeit mit einer möderischen Selbst^erfleischung."23 Unter gleichem thematischem Bezug spricht er von den „Taten, die heute schon wie Sagen klingen".24 Diese beiden Zitate mögen genügen, um zu zeigen, daß v. Müller wie Mareks eine rationale Analyse der Ursachen und des Verlaufs des ersten Weltkriegs bewußt oder unbewußt vermeiden. Deutlich wird bei v. Müller die Antithetik von Vergangenheit, die er bejaht und mit der er sich identifiziert, und einer gegenwärtigen politischen Realität, deren Existenzberechtigung er grundsätzlich in Frage stellt. Dieser Gegensatz wird besonders durch Formulierungen zugespitzt, indem er der Vergangenheit hymnische Termini eines Wortfelds des „Edlen" widmet (Selbstbehauptung,
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Helden, Opfersinn und Hingabe, Einigkeit), während die Gegenwart mit pejorativen Ausdrücken eines Wortfelds des „schuldhaften Versagens" geschildert wird (schnöde Unterwerfung, armseliges Nachäffen, Triumph der Feiglinge, Taumel der Selbstsucht, mörderische Selbstzerfleischung). An diesem Beispiel wird ganz besonders signifikant, wie das Kriegserlebnis sowohl in den Dienst der Verbreitung der „Dolchstoßlegende" als auch des antidemokratischen Denkens gestellt wird.25 Auch in der Beurteilung des Kriegserlebnisses lassen sich - wie schon in der des Kriegsausbruchs - bei den Professoren Buchner, Mareks und v. Müller gemeinsame Tendenzen feststellen. Bei Beyerle und Doeberl konnten keine derartigen Zitate gefunden werden, was natürlich noch nicht zu dem Schluß berechtigt, daß sie mit den angeführten Gedankengängen grundsätzlich nicht übereinstimmten. Doch kann festgestellt werden, daß sie sich an der annexionistischen Kriegszieldiskussion, so weit mir bekannt ist, nicht beteiligt haben. Onckens Position kann dagegen eindeutig bestimmt werden, da er sich schon verhältnismäßig früh während des Krieges gegen die alldeutschen Kriegsziele, wie sie von der „Vaterlandspartei" vertreten wurden, gewandt hatte.26 Auch Oncken beurteilt zwar den Weltkrieg als einen „Kulturkrieg", relativiert diese Aussage aber sofort durch die Charakterisierung, daß dieser Krieg „zu den beschämendsten geistigen Verirrungen der neueren Zeiten gehört". 27 Im Gegensatz zu Buchner, Mareks und v. Müller hat Oncken nach dem Krieg eingesehen, daß der Weltkrieg nicht als ein Kampf des „Deutschtums" gegen „eine Welt" interpretiert werden kann: „Aber nicht unter dem sichtbaren Zeichen eines Nationalkrieges nach allen Seiten durften wir den Existenzkampf führen, das verbot schon die Mitwirkung aller nichtdeutschen Nationalitäten Österreichs-Ungarns. So ergab sich die Formel der Mitteleuropapolitik, bald übernational-utopistisch wie von Fr. Naumann ausgemalt, bald nüchterner auf das Maß einer militärisch-politischen und wirtschaftlichen Lebensgemeinschaft zurückgeführt: diesem Ziel bekennen auch wir vor dem Kriege und während des Krieges nachgestrebt haben"w Oncken erkennt und artikuliert als einziger der hier untersuchten Historiker, daß der von den Professoren während des Weltkrieges propagierte verengte Nation-Begriff unhaltbar ist. Für ihn bedeutet der Ausgang des Kriegs ein Scheitern der Politik vor dem Krieg und während des Kriegs. Er ist daher neben Beyerle, der bereits während des Kaiserreichs republikanische Ideen vertreten hatte, der einzige, der sich aus rationalen Motiven zur Republik bekannt hat. Bemerkenswert ist, daß sich die Professoren kaum über die Kriegszielpolitik der deutschen Intelligenz im Weltkrieg aussprechen. F. Meinecke hat 1922 den Grund für dieses Verschweigen wohl richtig analysiert, wenn er ausführt:
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,Jm Weltkrieg setzte zunächst wohl ein fieberhaftes Bemühen ein, die neuen geschichtlichen Perspektiven, die er nach rückwärts wie nach vorwärts eröffnete, rasch auszurechnen. Eine Fülle von historisch-politischen Konstruktionen des Tages erwuchs, an die wir jet^t ungern zurückdenken Das Schweigen über diese Aktivität läßt zwei Schlüsse zu: einmal den Meineckes, der aber voraussetzt, daß die Professoren sich von dem politischen Trugschluß und der illusionären Verstiegenheit der alldeutschen Kriegszielpolitik überzeugt hätten, zum anderen einen psychologisch einleuchtenderen, daß nämlich die Professoren noch immer von der Berechtigving der im Krieg erhobenen Forderungen überzeugt sind, aber es jetzt aus verschiedenen Motiven heraus vorziehen zu schweigen. Einer der Hauptgründe liegt wohl darin, daß die Professoren dem „feindlichen Ausland" keinen Beleg liefern wollen, der nur im mindesten als eine Bestätigung der Kriegsschuld Deutschlands hätte interpretiert werden können. Die zuerst genannte Position vertreten nur sehr wenige Professoren, unter denen an erster Stelle F. Meinecke und H. Oncken zu nennen sind; die Mehrzahl der Hochschullehrer dagegen bleibt den Denkschablonen des Kaiserreichs so fest verhaftet, daß es ihnen nicht möglich wird, einen rational begründbaren politischen Standpunkt zu finden. Meinecke meint mit vollem Recht, daß die Spaltung in der Professorenschaft der Weimarer Zeit historisch wesentlich auf die Auseinandersetzung über die Kriegszielpolitik zurückzuführen sei.30 Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß diejenigen Professoren, die sich ausschließlich negativ zu der Revolution von 1918 und der durch sie initiierten Staatsform stellen, dazu antithetisch die „Ideen des August 1914" und das Kriegserlebnis als Ideal nationaler Einigkeit und Macht beschwören, um damit dem neuen Staat wegen des angeblich fehlenden Kriteriums der historischen Kontinuität die Legimität abzusprechen. Darauf wird bei der Interpretation der Revolution noch näher einzugehen sein. Festzuhalten bleibt, daß dagegen die Gruppe der Professoren, die sich mit der neuen Staats form abzufinden versuchen, nicht an diese Gefühlswerte appellieren, da sie keine Antipathie gegenüber dem neuen Staat erwecken wollen.
III Der Zusammenbruch und die Revolution von 1918 wirkten - aufgrund der Manipulation der öffentlichen Meinung während des Krieges - für die Mehrheit der Bevölkerung als Schock. Dieses Faktum hat sich dann entscheischeidend auf die Haltung weiter Kreise zur Weimarer Republik ausgewirkt.
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Der erlebte Schock führte zu Verdrängungsversuchen, indem der Kausalzusammenhang umgekehrt wurde, sodaß der Revolution und dem notwendig gewordenen Wechsel in der Staatsform die Schuld am Zusammenbruch des alten Systems gegeben wurde.31 Die Professoren als Angehörige der sozialen und politischen Elite im Kaiserreich mußten die Revolution als eine Bedrohung ihrer Existenz verstehen. Unsere Aufgabe soll darin bestehen zu untersuchen, wie Angehörige der bisher staatstragenden Schichten den Umsturz bewerten, welche Faktoren sie dafür verantwortlich machen und schließlich, wie sie sich zur fast vollständigen Liquidierung der sozialistischen Revolutionsziele durch die nationalistischen und konservativen gegenrevolutionären Bestrebungen und zur Niederschlagung der Revolution stellen, die durch das Bündnis der SPD mit dem alten Heer ermöglicht wurde. Weiterhin wird zu untersuchen sein, inwieweit die Professoren erkannt haben, daß durch die gescheiterte sozialistische Revolution die Verhältnisse - und damit auch die soziale Stellung der Professoren - sich nicht grundlegend geändert haben. Im folgenden sollen Äußerungen der Historiker analysiert werden, die sich auf die militärische Niederlage beziehen, wobei bezeichnenderweise immer die Revolution als Begründung für den Zusammenbruch herangezogen wird. „Zusammenbruch und Revolution" wird durchgängig als antidemokratischer, reaktionärer Topos in den Reden und Schriften der Professoren in den zwanziger Jahren verwendet. Trotz weitgehender Übereinstimmung in den politischen Ansichten, die sich hauptsächlich durch eine völkische Betrachtungsweise von Geschichte und Politik ergeben, kommenMarcks undv. Müller zu scheinbar gänzlich unterschiedlichen Begründungen für den Zusammenbruch von 1918. In seiner Stockholmer Reichsgründungsrede von 1924 fuhrt Mareks aus: „Der Zusammenbruch vom Winter 1918 war nicht das logische Ende einer langen Krankheits- und Schwächeren wie 1648, ja auch wie 1806, nicht das logische Ende eines langen Niederganges, sondern der jähe Abbruch einer Zeit der Fülle und Frische und Kraft, hervorgerufen lediglich durch auswärtige Übergewalt, nicht etwa durch innerliches Verdorren: obwohl es an innerlichen Mängeln sicherlich nicht fehlte ; aber von sich aus hätte Deutschland keine Revolution und keinen Zusammenbruch gebraucht und erlitten."™ Neben dem Versuch, dem alten System schon durch die Wortwahl eine glänzende Rehabilitierung zu verschaffen (Zeit derFülle undFrische undKraft), ist unter dem Aspekt der Geschichtsauffassung von Mareks die biologistische Terminologie besonders zu beachten. Diese Terminologie läßt die organische Staatsauffassung von Mareks in Formulierungen wie „Krankheits- und Schwä-
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chezeit" und „innerliches Verdorren" offenkundig werden. Zudem wird ein Prädestinationsdenken erkennbar, da er den Zusammenbruch nicht als rational eruierbare Folge aus dem Kriegsverlauf sieht, sondern eine nicht zu erwartende, plötzliche Niederlage konstatiert (jäher Abbruch), die mit der nichtssagenden Formel „auswärtige Übergewalt" als schicksalhaft begründet wird. 33 Eine weitere Stelle kann verdeutlichen, daß auch für Mareks im Widerspruch zum obigen gegenteiligen Zitat die Niederlage nicht nur in äußeren Faktoren begründet ist, sondern auch ganz entscheidend in innenpolitischen: „Der äußeren Niederlage ging die innere parallel; die Risse, die stets da waren und die in sich keine Daseinsgefahren schienen, wurden es jet%t ; über allen der soziale. Erst sie haben den Zusammenbruch gegen außen hin vollendet und %ur Vernichtung gesteigert,,"34 Die Position, die Mareks hiermit einnimmt, ist eindeutig und symptomatisch für die Professorenschaft der zwanziger Jahre: eine Ablehnung der organisierten Arbeiterschaft und deren Nichteinbeziehung in den Begriff Nation. 35 Unter dem Begriff Nation werden von den Professoren nur die sogenannten „staatserhaltenden Kräfte" subsumiert; andere Kräfte, die diese postulierte Harmonie zu stören drohen, werden als „vaterlandsfeindlich" disqualifiziert. Das aus diesem Nation-Begriffsich ergebende nationale Bewußtsein im Sinne von Mareks, der hiermit nur stellvertretend für die Mehrzahl der Professoren herangezogen wird, orientiert sich an dem als Idealmodell aufgefaßten Bismarckschen Staat und bejaht damit auch dessen Gesellschaftsstruktur. Diese unbedingte Identifikation fuhrt zu einer Ablehnung des Emanzipationsstrebens verschiedener Schichten, besonders der Arbeiterschaft. 36 Die These vom „äußeren" und „inneren" Feind, die beide für den Zusammenbruch des alten Reichs verantwortlich seien, wird besonders von Mareks verfochten. Der „äußere Feind"hat für ihn beiKriegsende eine entscheidendere Funktion ausgeübt. Hierin besteht ein gewisser Gegensatz zu v. Müllers Verständnis des Zusammenbruchs. Als aufschlußreiches Zitat sei folgendes wiedergegeben : „Was im Weltkrieg zusammengebrochen ist, ist das wilhelminische Deutschland, das uns seit 18p o umgab. Der Zusammenbruch erfolgte nach Taten, die heute schon wie Sagen klingen, von innen heraus. Keine äußere Macht hätte den Einsturz hervorzubringen vermocht, den wir erlebt haben. Der innere Halt war brüchig geworden und konnte den gewaltigen äußeren Bau, der darauf aufgetürmt war, unter dem Sturm einer feindlichen Welt nicht mehr tragen. Wir hatten uns ein Ziel gesteckt, das unserem Wesen widersprach, eine Aufgabe übernommen, der unser Charakter nicht gewachsen war."31 Diese verschwommene Aussage läßt sich als eine pseudowissenschaftliche Umschreibung der „Dolchstoßlegende" interpretieren. Der Unterschied zu
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Mareks besteht darin, daß v. Müller keine bestimmte Schicht oder Gruppe für den Zusammenbruch verantwortlich macht, während Mareks als eine entscheidende Kraft indirekt die Arbeiterschaft nennt, v. Müller geht damit über Mareks hinaus, indem er allen Bestrebungen während desKrieges, die seiner Ansicht nach nicht mit den Interessen derNation übereinstimmten, eine Mitverantwortung am Zusammenbruch zuspricht. Diese Kräfte versucht er mit dem Schlagwort „Zersetzung" zu erfassen und zu diffamieren.38 v. Müller versucht weiterhin allgemein einen Kausalzusammenhang zwischen Niederlage und Revolution herzustellen: „Der deutsche Zusammenbruch war eine Folge des Charakters ; und die Revolution war die Folge des Zusammenbruchs."39 Sehr deutlich manifestiert sich bei v. Müller das Bestreben, die Geschichte durch ein sogenanntes „deutsches Wesen" ( = Charakter) entscheidend bestimmt zu sehen, wo besser von Interessenkollisionen und Emanzipationsbestrebungen gesprochen würde.40 Typisch für Müller erscheint, daß er bei der Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs einer rationalen Begründung ausweicht und sich in die spekulative Psychologie eines „Nationalcharakters" flüchtet. Wie das Kriegserlebnis, wird auch der Zusammenbruch auf der scheinbar höheren Ebene des „Geistigen" gesehen. Hermann Oncken, der den Ereignissen weniger voreingenommen gegenübersteht als Mareks und Müller, kommt deshalb auch zu anderen Schlüssen. Die Andersartigkeit seines Urteils dokumentiert sich zum einen in einer weniger pejorativen Terminologie und besteht zum anderen darin, daß er immerhin eine Möglichkeit der Weiterentwicklung aus der durch Zusammenbruch und Revolution gegebenen politischen Lage sieht: „ Aber am Ende mußten doch die Sieger von vier Jahren, in einem Umschwung weniger Wochen, der wachsenden Überlegenheit und einer wachsenden Ermattung von innen weichen, und sobald erst ihr Atem einmal aussetzte, schlug das Riesenmaß unserer Anstrengungen in einen Zusammenbruch von den gleichen Dimensionen um.' " 8 . 443. 4°7. 419 Rat der Verkehrsangehörigen 225 Rat der Volksbeauftragten (Reichskabinett) 5°7 f > 5 I2 > 5i5. 5 2 0 ff. 5 2 7 Rat geistiger Arbeiter 191 f Revolutionärer Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat, bayer. 58, 201 ff 223, 225 Zentralbauernrat 48 6 f Zentralrat Berlin 527 Zentralrat der Republik Bayern 56, 58, 241, 246, 248 Rätekongreß 55, 242, 244 Räteregierung Einstellung zur - in München 482 f Maßnahmen der - 483 Niederwerfung der - 489 Räterepublik 172, 201, 221, 24if, 244, 246-249, 472-489, 546, 555 Rätesystem 50fr, 69 A101, 171, 187, 189, 191, 416-421, 474ff Reaktion 243, 245 f, 248, 250 Rechtsschutz 137, 146 Rechtsstaat 8 Regentschaft 5-29, 180, 263 Regierungsbürokratie 10 Regierung, bayer, (vor Rev.) 165 f, 168, i74f, i79ff, i84f, 187, 202, 208-212, 215-221, 263, 267-271, 278-280, 288-293, 4 01 ff> 4°5 f Regierung, bayer. (Rev. Reg.) 166, 173, 186, i9 2 f » J94> 4°7ff. 479ff. 484, 489 Reich, deutsches 11, 538, 543, 5 j 6 f
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Reichsamt d. Innern 548 Reichsarbeitsamt 147 Reichsarbeitslosenversicherung 147 Reichsgericht in Leipzig 403 Reichsgewerbeordnung s. Gewerbe Reichsgründung 37, 358 Reichsgrundgesetz (Notverfassg. Febr. 1919) 53° Reichskonferenz, Berlin Nov. 1918; 410, 4i3f, 509^ 5 1 2 f r , Jan. 1919; 415, 530 Reichsleitung 265, 286-290, 347 Reichsratskammer 22, 147, 149, 266, 271fr, 292 Reform der - 154, 176, 178, 181 f, 192, 216, 219, 301
Reichsreform 5 2 5 Reichsregierung 405, 409 f Reichstag 358 Reichstagswahl 1918; 468 Reichsvereinsgesetz 1908; 142 Reichsverfassung iSyi; 508, 512, 524; - iyi 5^8, 530 Reichsversicherungsordnung 145 f Reichswirtschaftszentralstellen 413 Repräsentationssystem 7 Reptilienfonds (Bismarcks) 15 republikanische Staatsform 352 „Rerum Novarum" 150 Revisionismus 80, 138, 39of Revolution, Begriff 454 Revolution, politische 492 Revolution, russische 357 Revolution, wirtschaftliche 476 ff revolutionäre Bewegungen 3 5 5 ff revolutionäre Zeitenwende 5 Revolutionsdrohungen 347, 369 Revolutionsverlauf 1. Phase: 165-194Lib.
201 ff, 220-245 Beamte, 368 Polizei 407-419 Eisner 433-448
SPD
471-487 München 2. Phase: 245-249 Beamte 487® München Rheinbund 524 Rüstungsindustrie s. a. Streik 363 „Ruhe u. Ordnung" 221, 223, 237, 371, 4 3 8 f r , 484, 486 f, 490
Ruhrgebiet 526 Russen 75-93 Saisonarbeit 128 Schulwesen 133 ff Schulpolitik 443 f Schwabing 76, 81 ff, 93 Schwabinger Literaten 171 Schwarzhandel 349f, 364, 369, 379, 464, 466, 478
Schweiz 409, 413, 511, 515, 519, 526, 530, 532 Selbständige 103, 105, 155 Selbstverwaltung 145, 232, 244 Separatismus 183, 413^ 488, 515, 521 Sezession 149 Siemenswerke 114 Simultanschule 25 Slawen 80 Soldaten s. a. Räte 55, 166, 347, 35if, 365-368, 374, 379f> 482, 485 Sommeschlacht 367 Sonderfrieden 169, 183, 410, 414 soziale Spannungen 347, 354^ 357. 363, 372 f, 377 Sozialisierung 167, 187, 192, 418, 481, 486f Sozialismus 1 3 5 f r , 152, 159, 352, 3 5 5 f r , 3 5 9 , 364, 368, 379, 388f, 39of, 393
Sozialisten, italienische 88 Sozialistengesetz s. Gesetz Sozialistischer Bund (SB) 38^ 42, 46, 49-56 sozialkonservativ 132 Sozialpolitik 132, 136, 1 4 8 f r , 152, 157, 273 Sozialprodukt 111, 123 Sozialstruktur Bayerns 103-108 - Münchens 461 f „Sozialwahlen" 145 Soziologie 135 Sparkassen 118 Spartakusbund 61, 73 A185, 399, 408, 414, 417, 5°9. 517. 522> 5 2 9 SPD s. Parteien Spekulanten 316, 328 Spionage 353 Staat u. Gesellschaft 130-133 staatliche Betriebe 157 Staatsautorität 210, 345, 355, 357, 359, 363f, 367?. 37°. 272> 376-380 Staatsgrundgesetz, vorläufiges s. Gesetz
601
Sachregister Staatsrecht, bayer. 24
Arbeitgeber - I42f, 147, 204
Staatsbevölkerung 555, 364
Eisenbahner
Stadtparlament 158
bayer. 153, 206, 209, 215, 222,
228, 238, 255 A58, 258 A143 dt. 152 süddt.
Stände 150, 157, 360 f
I79f, 206, 209 f
Steuern 106, 110, 132^ 135
Gemeindebeamten Bayerns, Zentral
Streik 141fr Beamten - 231, 2330, 239-250, 254 A57, 259 A 1 7 1 , 261 A208
Handlungsgehilfen - , dt. nat. 156 Industriellen - , bayer. 143
General - 217, 241, 259 A168, 483
Industrieller, Central - , dt. 158
Januar - 1918; 46, 357, 359, 378, 401-404,
Kommunalverbände 190, 317, 328, 341
437. 444 Massen - 401 ff Rüstungsarbeiter - 285 Streikrecht 140, 142, 153, 210 Strukturwandel, sozial u. wirtschaftlich 204 f, 211, 213 Studenten 39, 41, 44, 55, 58, 70 A 1 3 4 - russische in München 75-93
Metallarbeiter - , dt. 144 Mittelstands
reichsdt. 158
Post- u. Telegraphenpersonals, - des bayer. 207, 222, 238, 255 A58, 258 A143 Stahlwerks - 115 Unternehmer — 204 Verkehrspersonal, - des dt. 224, 228, 238,
Südbund 509, 511, 517, 520, 521, 525 Süddeutsche Kommission 523f, 526—530 Landeskonferenz
landwirtschaftl. Darlehenskassen 307
Verkehrs- u. Transportarbeiter, - christl. 222
Stuttgarter Konferenz 5i6ff, 530
Süddeutsche
der
209, 213, 225, 230, 234, 238f
s.
Stuttgarter
Konferenz Syndikalismus 43-46
255 A58 Verkehrspersonal,
vereinigte -
des
bayer.
222—225, 228ff, 232f, 238, 240, 416 Verein Ausländische - 77
Taglöhner 105
Arbeiter - 150
Tanztollheit 480 f
Bankbeamten - Mü. 469
Tarifvertragswesen 144
Bank - , Schaffhausener 119
Technik 97, i i 2 f , 119, I28f, 133
Bauern
Teuerung 207fr, 278, 480 Tschechoslowakei 4 i o f
154,
christliche, bayerische 24, i n , 151, 3° 1_ 343> 476
Beamtenkonsum - 1 5 8 Berufs - 156
U-Boot-Krieg 170, 266, 332, 341, 346, 360, 404
Bürger - 1 5 8 Flotten - 149
Übervölkerung, München 477
Frauen - 177, 189^ 397
Umsturzvorlage 141
Gartenbau - , Augsburg 307
Ungarn 83
Gewerbe - 158
Unitarismus 547
Gewerken - 140, 151, 190
Universitäten s. a. Professoren 359, 336
Konsum - 118, I56f, 159
Unternehmer 135, 142ff, 147, 482
Landwirtschaftliche - , 305, 349
Unterschichten 29, 3 j 6 f
Lokomotivführer - , bayer. 222
Unterstützungswesen 137, 147
Raiffeisen - 307
„Vaterländische Volkshilfe" j 4 o f
Staatsbeamten, - der höheren bayer. 207, 215
Vaterlandspartei s. Parteien
Verkehrsbeamten
- für Sozialpolitik 132
Verband Alldeutscher - 357, 39Öf
bayer. 2o6f, 213, 220,
222, 253 A22 Volksschullehrer
bayer. 206, 225, 228
602
Bayern im Umbruch
Volks - für das katholische Deutschland 150, 540, 373 Wehr-, dt. 358 Vereinigung Freie - deutscher Gewerkschaften Dtlds. 44f Friedens - München 397 - für Handel, Industrie und Gewerbe 190 Mittelstands dt. 158 - revolutionärer Internationalisten Bayerns 47. 61, 72 A179, 7} A191, 417 Verfassung s. a. Gesetz, bayer. v. 1818; 6, iof, 20, 28, 219 Weimarer - 140, 547^ 553, 566 Verfassungsreform in Bayern iof, 56, 217, 265, 290-293, 401, 405f, 427-433 Verfassungswirklichkeit 28, 546 Verkehr 97, 103^ 1 1 0 H2f, u 6 f , 119, 128, 133, 205» " 7 . 2 4i Versailler Vertrag 169^ 411, 559 Verschuldung 1 1 0 Versicherungen 120, 146 Arbeiter - 146 Arbeitslosen - i47f, 273 Sozial - 152 Verstädterung 204 Völkerbund 404 Vollzugsrat, Berlin 507 „Volksausschuß für die rasche Niederkämpfung Englands" 283 Volkseinkommen 123-126 Volksernährungsfrage 242, 301-343 Volkssouveränität 563 Volksstaat 217, 220, 2z6f, 229, 232, 242, 250 Volksstimmung 130, I 4 i f , 204, 209, 218, 302, 345-380 Volkswirtschaft 112, I 3 i f , 303 Waffenstillstand 408 f Wahlkampf Eisner-Auer 403-407 Nat. Vers. 1919; 231-239, 250 Wahlrecht bayer. Landtag 1 1 , 26, 273 - Gemeinde 136 Reichstag 142 Wahlrechtsreform Bayern 138, 154, 175^ 291
Preußen 143, 302, 359, 378, 380 Wanderungsbewegungen 99, 102, 105, 128 Wehrpflicht 133 Weimarer Republik 539, 542, j j 2 f , 5 5 6 f, 562f, 566, 568 Wirtschaft in Bayern 97-159 in München 459-464 Welt-98, 117, 154 wirtschaftliche Revolution 476 f „Wirtschaftskrieg" 329 Wirtshäuser 347 Wohnungsnot 130, 158, 355, 465^ 477 Württemberg 505-530 Zahlungsverkehr 119 Zarismus 77, 80, 83, 86, 89 Zeitungen und Zeitschriften „Der Arbeiter" 26 Bayerischer Kurier 220, 307, 309ff, 333, 335 f, 340, 471 f Bayerisches Bauernblatt 304^ 310, 319-331 Bayerische Staatszeitung 201, 472, 483, 492 Bayerisches Vaterland 24 Bayerische Verkehrsblätter 219 Echo 378 Der fränkische Bauer 326 Fränkische Tagespost 392, 394 Frankfurter Zeitung 325 f, 387 Freie Bayerische Beamtenzeitung 243 Freie Lehrerzeitung 177 Freistatt 177 Gelbe Hefte 562 Hessische Landeszeitung 387, 389 Hilfe 177 „Iskra" 80 Kain 91 Die katholische Fahne 24 Kölnische Volkszeitung 332 Kritik 389 Liberale Correspondenz 183, 185 März 394 München-Augsburger Abendzeitung 187,191, 239f> 243> 3°4f Münchener Neueste Nachrichten 170, 172, I79f, 185, 191, 316, 333, 335, 359 Münchener Post 178, 188, 212, 240, 242, 250,
Sachregister 2 79> W , 333. 335ff, 373. 394. 397. 4Ö9f, 474. 47«. 483 Münchener Tagblatt 336, Münchner Zeitung 311 Neue Gesellschaft 392 Die neue Zeit 397 Neue Zeitung 483 Preußische Kreuzzeitung 359 Die Rote Fahne 483 Simplizissimus 572 Süddeutsche Monatshefte 170, 175, 179
603
Volksstimme Chemnitz 396 Vorwärts (Berlin) 326, 39of Westdeutsche Arbeiterzeitung 302 f Würzburger Journal 190 Zentralismus d. Münchner Räte 476 Zentrum s. Parteien Zivilliste, bayer. i8of Zuchthausverlage 141 Zusammenbruch 1918; 347, 539^542-546,555^ JJ«ff Zwischenhandel 316, 318