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German Pages 80 [83] Year 2020
AVANTI 001
PROFESSIONALISIERUNG IM FELD DER ZEITGENÖSSISCHEN KUNST
PETRA OLSCHOWSKI REGINA FASSHAUER & ANTONIA MARTEN WOLFGANG ULLRICH
BIRGIT EFFINGER
CONSTANZE FISCHBECK EMMANUEL MIR
GRUSSWORT EINLEITUNG WAS IST SCHON PROFESSIONELL? ÜBER KÜNSTLERISCHE ARBEITSWELTEN UND IHRE HERAUSFORDERUNGEN ALS KÜNSTLER*IN ARBEITEN. WISSEN UND KÖNNEN – STRATEGIEN DES EMPOWERMENTS WE ARE STUDIO WAS BRAUCHT DIE KUNST? IMPRESSUM
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GRUSSWORT PETRA OLSCHOWSKI
Im Oktober 2019 wurde das 10-jährige Bestehen des Kunstbüros mit dem Symposium Avanti Dilettanti! – Professionalisierung im Feld der zeitgenössischen Kunst, zu dem auch die vorliegende Publikation entstand, gefeiert. Als ehemalige Geschäftsführerin der Kunststiftung ist dies auch für mich ein besonderer Geburtstag. Als wir vor etwa zwölf Jahren gemeinsam mit dem damaligen Beiratsvorsitzenden Christoph Palm und dem Kuratoriumsvorsitzenden Nils Schmid die Idee für das Kunstbüro entwickelten und dieses dann mit Ramona Wegenast im Detail ausgearbeitet haben, wussten wir nicht, ob das Konzept zehn Jahre lang tragen würde. Und so ist dieses Jubiläum natürlich erst einmal ein großer Erfolg und genau der richtige Zeitpunkt, um die Arbeit des Kunstbüros zu reflektieren und diese in die Zukunft weiter zu denken. Ende der 2010er-Jahre war die Kunststiftung – so wie heute – erfolgreich darin, junge Künstler*innen aller Sparten aus BadenWürttemberg zu fördern – finanziell, aber auch mit Veranstaltungen, Ausstellungen und durch eine intensive Netzwerkarbeit. Insbesondere im Bereich der Bildenden Kunst nahmen jedoch in dieser Zeit Anfragen zu organisatorischen und rechtlichen Problemen, zur Künstlersozialkasse und der Selbstvermarktung – unter anderem im Netz – oder der professionellen Kommunikation stetig zu. An den hiesigen Kunstakademien und künstlerischen Hochschulen gab es damals kaum Kurse im Bereich der Professionalisierung – ein externes Angebot wurde von den Verantwortlichen aber durchaus als sinnvoll erachtet.
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Ein weiterer Ausgangspunkt für die Gründung des Kunstbüros war der Wandel des Kulturbetriebs selbst, der in vielen Bereichen immer deutlicher wurde. Ehemals zuverlässige Strukturen veränderten sich. Kunstvereine oder auch kleine Galerien, die traditionell Anlaufstellen für junge Künstler*innen waren, verschwanden oder konnten zahlreiche Aufgaben nicht mehr übernehmen, weil der Wettbewerb und der Markt diffiziler geworden waren. Vor diesem Hintergrund wurde das Konzept für ein Beratungsbüro entworfen, das Künstler*innen auf ihrem Weg in den Kulturbetrieb in außerkünstlerischen Fragen beraten und begleiten sollte. Eines war dabei jedoch von Anfang an von großer Bedeutung: Professionalität und Professionalisierung darf nie bedeuten: Gleichförmigkeit, Stromlinienförmigkeit, Marktförmigkeit. Es geht bei Professionalisierung in der Kunst nicht darum, dem Kunstbetrieb und seinen Strukturen gehorchen zu lernen. Ziel ist es vielmehr, Künstler*innen mit den Mechanismen, Logiken und Strategien des Kunstbetriebs vertraut zu machen, um sie in die Lage zu versetzen, souverän mit diesen umzugehen. Das heißt auch, dass sie befähigt sind, selbst entscheiden zu können, wie der oder die Einzelne im Kunstkontext agiert, um sich eben nicht abhängig machen zu müssen. Und so standen auch beim Symposium Avanti Dilettanti! die Themen ›Empowerment‹ und ›Selbstpositionierung‹ von Künstler*innen im Mittelpunkt der Diskussionen. Der und die Einzelne sollte selbst entscheiden können, wie er/sie sich positioniert – und diese Frage sollte die künstlerische Arbeit selbst nicht beeinflussen. Professionalisierung darf nie Popularisierung bedeuten. Das wäre das Ende der Kunst. Im Gegenteil: es ist heute mehr denn je die Aufgabe der Künste, sich mit Kreativität und Komplexität den diversen populistischen Strömungen in Kultur und Gesellschaft zu widersetzen.
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Vielleicht könnte man aus dieser wichtigen Rolle eine Zukunftsaufgabe des Kunstbüros ableiten: eine Professionalisierung von Künstler*innen mit dem klaren Ziel voranzubringen, Eigenheiten zu stärken und Risikobereitschaft, also kurz gesagt: den Mut zur Freiheit zu fördern. Die zahlreichen Kooperationen, die das Kunstbüro seit zehn Jahren pflegt, sind dabei ein unverzichtbares Instrument. Gerade im Gespräch mit den Partnern kann auch eine Vergewisserung über die Aufgaben der Zukunft erfolgen. Ich bin gespannt, wie das Kunstbüro in Zukunft mit diesem Wandel umgehen, welche neuen Fragen und Aufgaben es sich stellen wird. Im Namen des Landes Baden-Württemberg und auch persönlich wünsche ich viel Erfolg bei der zukünftigen Arbeit!
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EINLEITUNG
REGINA FASSHAUER & ANTONIA MARTEN
In einer Zeit stetig fortschreitender Digitalisierung und einem stark ausdifferenzierten Kunstkontext sind Künstler*innen nicht mehr ausschließlich nur für ihre künstlerische Praxis im engeren Sinne verantwortlich. Vielmehr müssen sie sich heute verstärkt auch um Themen wie Vermittlung, Vermarktung, Bedeutungsproduktion, (mediale) Selbstinszenierung und, nicht zuletzt, um die Organisation der eigenen Arbeit kümmern. Mehr denn je gilt es, sich mit den gegenwärtigen beruflichen Realitäten auseinanderzusetzen: Welche Produktions-, Präsentations- und Arbeitsbedingungen produziert das Kunstfeld und wie kann der Umgang damit aussehen? Welche Strategien sind zur Sichtbarmachung der eigenen künstlerischen Anliegen und zur Selbstpositionierung nötig? Und auf welche Weise können sich Kunstproduzent*innen dieser bemächtigen? Die Diskussion über Professionalität im Kunstbetrieb und damit auch die Frage, was Künstler*innen heute ›können‹ müssen, hat in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zahlreiche Akteure – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kunsthochschulen – unterstützen heute gezielt die Selbstorganisation und Professionalisierung von Künstler*innen. Dennoch und trotz steigender Nachfrage werden berufspraktische Angebote in den Hochschulen auch heute noch teilweise kritisch gesehen und unter Berufung auf die Autonomie der Kunst infrage gestellt.
009 EINLEITUNG
Das erweiterte Praxisfeld der gegenwärtigen Kunstproduktion und die Vielfalt existierender künstlerischer Rollen- und Selbstbilder zeigen jedoch, dass sich die Produzent*innen größtenteils längst mit den unterschiedlichen Aspekten ihrer Praxis – einschließlich der organisatorischen, kommunikativen und unternehmerischen – sowie den sie umgebenden Kontexten, Bedingungen und Strukturen des Kunstbetriebs auseinandersetzen. Wer sich mit den Regeln und Mechanismen des Betriebssystems Kunst vertraut macht und einen versierten Umgang damit findet, hat nicht nur bessere Chancen, in der Kunstwelt zu ›bestehen‹, sondern verfügt auch über mehr Selbstbestimmung in Bezug auf Vernetzung, Vermittlung und Positionierung der eigenen Arbeit. Die Auseinandersetzung mit dem professionellen Feld macht es den Produzent*innen überhaupt erst möglich, eine reflektierte und kritische Position gegenüber den gegenwärtigen Praktiken des Betriebs einzunehmen, in neuen, eigenen (auch kollektiven) Strukturen zu denken und alternative Produktionsmodelle zum Kunstmarkt zu entwickeln. Professionalisierung – so umstritten der Begriff auch sein mag, da er stets eine Optimierung suggeriert – verstehen wir somit in erster Linie im Sinne eines ›Empowerments‹ von Künstler*innen. Anliegen des Kunstbüros wie auch anderer Professionalisierungs-Akteur*innen ist es, den Produzent*innen Fähigkeiten und Tools an die Hand zu geben, die sie dabei unterstützen, ihr jeweiliges Existenzmodell entsprechend ihrer künstlerischen Praxis zu entwickeln und ihnen zu mehr Selbstbestimmung bei der Positionierung der eigenen Arbeit zu verhelfen. Denn zumeist realisieren die Absolvent*innen erst nach ihrem Abschluss an der Akademie, dass eine professionelle künstlerische Praxis heute weit mehr umfasst, als die künstlerische Tätigkeit selbst. Und dass es viel Arbeit bedeutet und zudem einen langen Atem erfordert, sich im richtigen Kontext zu verorten und mit der eigenen künstlerischen Position Sichtbarkeit und möglicherweise Erfolg (wie auch immer man diesen definieren mag) zu erlangen.
010 EINLEITUNG
Avanti Dilettanti! diskutiert vor dem Hintergrund des aktuellen Kunstbetriebs unterschiedliche Ansätze, Formate sowie Ideen und Konzepte für eine zeitgemäße und nachhaltige Professionalisierung von Künstler*innen. So kommen im vorliegenden Band die gegenwärtigen Veränderungen und Verschiebungen innerhalb des Kunstfeldes zur Sprache, die auch zu neuen Bedingungen in der künstlerischen Produktion selbst führen – etwa im Beitrag von Wolfgang Ullrich unter dem Titel Was ist schon professionell? Über künstlerische Arbeitswelten und ihre Herausforderungen. Birgit Effinger und Emmanuel Mir gehen in ihren Beiträgen der Frage nach, mit welchen Anforderungen Kunstproduzent*innen heute konfrontiert sind und erörtern, wie diese konkret darin unterstützt werden können, selbstbestimmt und erfolgreich ihren beruflichen Weg zu gehen. Unter dem Titel We Are Studio nimmt Constanze Fischbeck kollektive künstlerische Arbeitsweisen in den Blick und zeigt alternative Organisationsund Produktionsmodelle zum Kunstmarkt auf. Anlass für das Symposium Avanti Dilettanti! – Professionalisierung im Feld der zeitgenössischen Kunst, welches dem vorliegenden Band zugrundeliegt, war das 10jährige Bestehen des Kunstbüros der Kunststiftung BadenWürttemberg im Jahr 2019. Die Idee, unter Einbezug verschiedenster Expert*innen des Kunstfeldes über die aktuellen Bedingungen der künstlerischen Profession sowie über die Professionalisierung von Künstler*innen zu sprechen und den Versuch zu unternehmen, diese genauer zu verorten und zu bestimmen, erschien uns diesem Jubiläum angemessen. Zudem bot sich damit die Gelegenheit, die Arbeit des Kunstbüros, auch im Hinblick auf eine programmatische Weiterentwicklung – etwa in Form der bevorstehenden Einführung eines Mentoring-Programms für Künstler*innen ab 2020 – zu reflektieren.
011 EINLEITUNG
Ziel des Symposiums und der vorliegenden Publikation ist es, eine Diskussion über den Status quo der Professionalisierung im Feld der zeitgenössischen Kunst und damit auch der künstlerischen Profession anzustoßen.
DANK Unser herzlicher Dank geht an unsere Förderer: das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, insbesondere an die Staatssekretärin Petra Olschowski sowie an die Josef Wund Stiftung und ihren Geschäftsführer Christoph Palm. Danken möchten wir auch allen Expert*innen und Referent*innen der von uns ausgerichteten Veranstaltungen und Workshops, die unser Programm all die Jahre hindurch begleitet und bereichert haben. Allen voran gilt unser herzlichster Dank den Künstler*innen, die unser Angebot in den vergangenen Jahren intensiv wahrgenommen haben – für ihr Feedback und den regelmäßigen Dialog. Beides bildet für uns eine wichtige Basis, um die Arbeit des Kunstbüros zu reflektieren und kontinuierlich weiterzuentwickeln. Herzlich danken möchten wir auch Bernd Georg Milla, dem Geschäftsführer der Kunststiftung, für den inhaltlichen Austausch zum Thema, der ehemaligen Leiterin des Kunstbüros, Ramona Wegenast, für ihre langjährige Aufbauarbeit, sowie Silva Brand, die maßgeblich an der Konzeption dieses Symposiums beteiligt war, und dem gesamten Team der Kunststiftung.
012 EINLEITUNG
KUNSTBÜRO Seit 2009 widmet sich das Kunstbüro der Kunststiftung BadenWürttemberg der Professionalisierung von bildenden Künstler*innen. Das umfangreiche Programm reicht von individuellen Beratungen bis hin zu Workshops, Seminaren, Vorträgen und Diskursveranstaltungen, die sich Akteur*innen oder aktuellen Fragestellungen des Kunstbetriebs widmen. Mit der Expertise für berufspraktische und kontextbezogene Fragen ist das Kunstbüro permanenter Ansprechpartner für Künstler*innen in Baden-Württemberg und begleitet insbesondere die Absolvent*innen der Kunstakademien und Hochschulen während der Phase des Übergangs von der Ausbildung in die künstlerische Selbstständigkeit.
WAS IST SCHON PROFESSIONELL? ÜBER KÜNSTLERISCHE ARBEITSWELTEN UND IHRE HERAUSFORDERUNGEN WOLFGANG ULLRICH
Vielen mag die Existenz eines ›Kunstbüros‹ als Paradoxie erscheinen. Kunst und Büro, Kunst und Bürokratie – schließt sich das nicht wechselseitig aus? Im Folgenden will ich dieses Vorurteil überprüfen. Es wird sich dabei zeigen, dass in den meisten, heutzutage wichtigen künstlerischen Arbeitswelten jeweils Formen des Bürokratischen eine Rolle spielen, eine Herausforderung darstellen und auf verschiedene Weise dazu führten, dass sich der Werkbegriff, ja das Verständnis dessen, was ein künstlerisches Werk ist, geändert haben, dass davon aber auch beeinflusst wird, was unter Künstler*innen als professionell gilt. Einige dieser Arbeitswelten seien im Folgenden betrachtet – und dies jeweils, ohne von vornherein mit einem negativen Begriff von Bürokratie zu arbeiten. Für einen differenzierteren, neutralen Begriff von Bürokratie kann man sich etwa auf den Kunsttheoretiker Boris Groys berufen, der schon 1998 davon sprach, dass die Kunst im Verlauf der Moderne »in die Nähe der Verwaltung, der Planung, der Führung« gerückt sei. Er dachte dabei an Kunst im Geist des Readymade, an Konzeptkunst, auch an die Fotografie, generell an Formen von Kunst, die sich weniger in der Hand als im Kopf ereignen. »Der Blick des Künstlers« – so Groys – »wird ›entkörpert‹ – er wird zum reinen Blick, der nicht mehr ›arbeitet‹, sondern nur noch entscheidet, auswählt und kombiniert. [...] Es handelt sich um einen herrschaftlichen Blick von der Chefetage aus, um einen verwaltenden und strategischen Blick [...].«1 1| Boris Groys: »Das Versprechen der Fotografie«, in: Luminita Sabau (Hg.): Das Versprechen der Fotografie, München 1998, S. 26–33, hier S. 30.
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Im Weiteren beschreibt Groys den entkörperten Blick, ja die Tätigkeit von modernen und zeitgenössischen Künstler*innen noch genauer. Er oder sie »wählt aus, nimmt auf, modifiziert, redigiert, verschiebt, kombiniert, reproduziert, ordnet, platziert in Reihen, stellt aus oder legt beiseite«.² Weiter würdigt – und kritisiert – Groys das Bürokratische, indem er Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Aristokratischen erkennt: Beide seien weit entfernt vom praktischen Leben, seien oft auch erstarrt in Konventionen und Ritualen. Die bürokratische Tätigkeit gelte sogar als »eine ›tote‹ Aktivität«; sie sei Gegenstand zahlreicher Romane, in denen sie als etwas Gespenstisches, Anonymes, Vampir- oder auch Zombiehaftes in Szene gesetzt werde, von Franz Kafkas Prozess über die Romane Italo Calvinos bis hin zu The Pale King von David Foster Wallace. Künstler*innen als aristokratisch-souveräne Bürokrat*innen, als Welt-Verwalter*innen, deren Arbeit allerdings oft auch steril ist – das wird als gravierende Veränderung der letzten Jahrzehnte beschrieben, in den Termini von Groys aber doch vor allem als irreversibler Aufstieg nahegelegt: Waren Künstler*innen lange Handwerker*innen und Arbeiter*innen – körperlich Tätige –, so sind sie jetzt in der ›Chefetage‹ angekommen und zu Verwalter*innen geworden: Kunst und Bürokratie sind kein Gegensatz mehr, vielmehr können Künstler*innen bei ihren Tätigkeiten sogar noch etwas von Bürokrat*innen lernen: wie man etwas systematisiert, erfasst, archiviert. Beide sind zu Kompliz*innen, zu geheimen Verbündeten geworden. ›Geheim‹ deshalb, weil das öffentlich nicht so formuliert wird, widerspricht es doch einem immer noch beliebten Bild vom Künstlertum. Wenn Fernsehteams in ein Atelier kommen, sind sie enttäuscht, wenn sie nicht viel Farbe, viel Material, bohèmehafte Accessoires vorfinden, sondern wenn es aussieht wie in einem beliebigen Büro. Die künstlerische Tätigkeit findet für viele aber tatsächlich oft am Computer, am Telefon, am Schreibtisch, bei Terminen und ›unterwegs‹ statt. Die Kuratorin Martina Weinhart spitzte es 2009 folgendermaßen zu: Wer heute im Kunstbusiness bedeutend sei, »jettet um den Globus, spricht die Sprache der 2| Boris Groys: »Das Versprechen der Fotografie«, in: Luminita Sabau (Hg.): Das Versprechen der Fotografie, München 1998, S. 32.
3| Martina Weinhart: »The Making of... Art«, in: dies. (Hg.), The Making of Art, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main 2009, S. 30–37, hier S. 32.
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internationalen Kunstwelt, klagt über die kaum zu bewältigende E-Mail-Flut. Und das ist am Ende das Bild, das sich nachhaltig einbrennt: Notebook, Blackberry und Produktionsbesprechung statt Selbstausdruck und Selbstdarstellung mit dem Pinsel vor der Staffelei. Tatsächlich steht die zeitgenössische Welt der Kunst mittlerweile der arbeitsteiligen Industrie der Filmwelt näher als dem romantisch-einsamen Atelier des genialisch inspirierten Künstlers, und so mancher Künstler kommt uns als mittelständischer Unternehmer entgegen.«³ Allerdings beschreibt Weinhart damit vornehmlich Künstler*innen, die auf dem Markt besonders erfolgreich sind. Sie aber sind nicht nur als Künstler*innen – im Sinne von Groys –, sondern auch als Unternehmer*innen mit bürokratischen oder bürokratieähnlichen Tätigkeiten befasst, wobei beides schwer voneinander zu trennen ist. So haben sie Angestellte oder beauftragen Subunternehmen, müssen entscheiden, auf welche Anfragen sie eingehen, und sind mit so vielen ManagementAufgaben befasst, dass ihnen schließlich sogar dieselben Entfremdungserscheinungen drohen wie Vertreter*innen anderer Berufe, in denen ein kleinteiliger Arbeitsalltag herrscht – und in denen die Körperlosigkeit, die Abstraktheit der Prozesse zu Ermüdung, gar zur Erschöpfung führt. So begründete Anselm Reyle seine Auszeit als Künstler, zu der er sich 2014 entschloss, damit, dass ihm seine Rolle als Unternehmer mit fünfzig und mehr Mitarbeiter*innen über den Kopf gewachsen war – und dass ihn die große finanzielle Verantwortung für einen mittelständischen Betrieb zu stark belastete: »Es ist einfach ein Punkt, an dem ich resümiere und durchatme und mich umschaue. An dem ich aus der Mühle heraustrete, die ich selbst angetrieben habe. Und wieder beginne, freie Entscheidungen zu suchen. Das ist jetzt die erste freie Entscheidung seit Langem.«⁴ Die Bürokratie – und ihre sprichwörtliche Mühle – kann also zum Feind werden; sie macht unfrei. Bei erfolgreichen Künstler*innen kann der bürokratische Anteil der Arbeit sogar überwiegen, aber auch weniger erfolgreiche spüren die Bürokratie sicher oft als fremde, gar feindliche Instanz, etwa wenn sie 4| Tim Ackermann, Cornelius Tittel: »Ein ziemlich befreiendes Gefühl«, in: Die Welt, 6.2.2014, →
online: https://www.welt.de/kultur/ kunst-und-architektur/article124561226/Ein-ziemlich-befreiendesGefuehl.html (12.12.2019).
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ihren Status als Künstler*innen gegenüber der Künstlersozialkasse oder dem Finanzamt beweisen müssen, wenn sie sich um Atelierförderungen bemühen oder in sonstiger Weise ihre ökonomisch prekäre Situation zu verwalten haben. Vermutlich gilt sogar: Je erfolgreicher oder je erfolgloser Künstler*innen sind, desto mehr haben sie mit der Bürokratie zu kämpfen. Anders formuliert: Finanzielle Extreme rufen die Bürokratie auf den Plan. Doch unabhängig von den bürokratischen Tätigkeiten, die Menschen fast aller Berufe betreffen, stellt sich die Frage, was die spezifische Annäherung von Kunst und Bürokratie bedeutet, von der Groys spricht. Wie verändert sich dadurch die Kunst? Was wird dadurch vielleicht überhaupt erst möglich? Generell gilt: Wenn sich ein Tätigkeitsprofil, ein Berufsbild verändert, werden auch andere Menschen davon angezogen oder abgestoßen. Soweit Künstler*innen von Handwerker*innen zu Bürokrat*innen geworden sind, brauchen sie andere Eigenschaften, andere Begabungen, um den Anforderungen ihres Berufs genügen zu können. Wer früher als Künstler*in begabt sein mochte, ist es heute vielleicht nicht mehr – und umgekehrt. Erst heute kann so etwas wie eine Begabung zur Bürokratie auffallen und für künstlerische Zwecke fruchtbar gemacht werden. Am offensichtlichsten dürfte das bei Künstler*innen sein, die sich für Stipendien, für ›Artist in Residence‹-Programme oder für ›Kunst am Bau‹-Projekte bewerben. Sie müssen vorab Anträge schreiben, manchmal auch Kostenpläne beifügen oder sich um Referenzen bemühen – und nicht selten im Anschluss noch einen Erfahrungsbericht abliefern oder Geldgeber*innen, Kurator*innen, Jurys gegenüber auf andere Weise dokumentieren, was sie gemacht haben. Aber vielleicht ist die Infrastruktur an Förderformaten in den letzten Jahrzehnten auch deshalb so dicht geworden, weil es genügend Künstler*innen gibt, die den damit verbundenen bürokratischen Herausforderungen gewachsen sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, eine eigentlich fremde Bürokratie – eben z.B. von anderen entwickelte Bewerbungsbedingungen und -formulare – so zu adaptieren, dass daraus etwas wird, das – viel-
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leicht sogar mühelos und motivierend? – als Teil der eigenen künstlerischen Arbeit empfunden werden kann. Damit aber entwickeln die Bürokratien von Förderinstitutionen eine eigene Dynamik, gar einen Sog. Wer erst einmal gelernt hat, sie sich zu eigen zu machen, empfindet es auch als befriedigend, dies immer wieder unter Beweis zu stellen, erfährt aber zugleich eine gewisse Legitimation, eine Verbindlichkeit für die eigene Arbeit. Man schreibt eine Bewerbung, überlegt sich ein Projekt, imaginiert, was man alles tun kann, wenn man das Stipendium oder den Gastaufenthalt bekommt, ist also im Modus des Planens und Phantasierens – und hat dabei das Gefühl, bereits aktiv künstlerisch tätig zu sein. Die bürokratischen Anforderungen geben einen Rahmen vor, dieser verleiht der eigenen Arbeit Sinn, lässt sie als etwas Passendes erscheinen. Wie Kunst im öffentlichen Raum ›site specific‹ sein kann, kann sie also auch für den bürokratischen Raum eigens angemessen, ihm angepasst sein. Wie sehr das Schreiben und Fertigstellen von Anträgen bereits so etwas wie ›Werkstolz‹ erzeugen kann, wird deutlich, wenn man bei einer Plattform wie Instagram unter Hashtags wie #deadlineapproaching oder #artistinresidence sucht. So ist es ein eigener Bildtopos, dass Bewerber*innen ihren Arbeitsplatz fotografieren, kurz bevor sie einen Antrag abschließen und einreichen. Man sieht dann Skizzen, einen Rechner, oft auch erfrischende oder aufputschende Getränke, in jedem Fall aber wird eine Atmosphäre konzentrierter Kreativität in Szene gesetzt. Noch beliebter sind Fotos, auf denen ein Screen zu sehen ist, auf dem der erfolgreiche Eingang von Bewerbungsunterlagen vermeldet wird. Das grüne Häkchen ist einerseits ein Feedback, eine Bestätigung dafür, etwas geschafft zu haben, es schließt einen tage-, manchmal gar wochenlangen Prozess aber auch ab und übernimmt damit die Funktion einer Signatur. Nach und nach kann es dank der Dynamik solcher Bewerbungsprozesse jedoch auch dazu kommen, dass sich der Schwerpunkt der Arbeit hin zum Antragstellen verlagert. Dies ist umso mehr der Fall, als es oft auch eine ökonomische
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Notwendigkeit darstellt, sich während einer Förderphase bereits um die nächste und übernächste zu kümmern. Wer als ›Artist in Residence‹ unterwegs ist, muss die Zeit nutzen, um die Zeit danach zu organisieren, steckt also fast nahtlos in der nächsten Antragsphase. Zugleich gilt es aber, das Arbeitsvorhaben umzusetzen, für das man das Stipendium bzw. den Gastaufenthalt zugesprochen bekommen hat. Man befindet sich somit in einer Art von ›Double-bind‹-Situation. Sie führt dazu, dass man die Umsetzung des einen Projekts idealerweise als Ausgangspunkt für ein nächstes Projekt nehmen kann. Das aber heißt, dass die eigene Arbeit insgesamt in den Modus des Projekthaften – des Vorläufigen – gerät. Das, was die Realisierung eines Arbeitsvorhabens darstellt, folgt zugleich einer Ästhetik des Skizzenhaften, Verheißungsvollen und kann damit auch für den nächsten Antrag verwendet werden. Entsprechend ist für Außenstehende aber der Status dessen, was Künstler*innen vorlegen, oft unklar: Ist ein Video ein Trailer oder schon die fertige Arbeit? Sind Stills Entwürfe zu einem Film, oder existiert dieser schon, so dass sie diesem entnommen sind? Imaginiert eine Fotoserie geplante Skulpturen oder dokumentiert sie diese bereits? Ist ein Modell wirklich nur ein Modell oder handelt es sich um die abgeschlossene Arbeit? Es kommt zu einem ontologischen Changieren – und genau daran zeigt sich die kunstformatierende Macht der Bürokratie. Auf eine Formel gebracht: Sie führt dazu, dass aus festen, in ihrer Form eindeutigen Werken Projekte – chamäleonartig variable und vielfach anschlussfähige Artefakte – werden. Das sei mit einem Beispiel anschaulich gemacht: das in Wien lebende Künstlerpaar Markus Hanakam und Roswitha Schuller machen ihren Erfolg gerade auch daran fest, möglichst viele ›Artist in Residence‹-Einladungen zu erhalten. Die Website transartists.org, die rund 1.500 Residence-Programme weltweit versammelt, beschreibt und verlinkt, ist für sie wie geschaffen. Sowohl auf der Website von Hanakam und Schuller wie auch in ihrem Katalogbuch wird zumindest auf den ersten Blick nie ganz klar, was man eigentlich sieht. Zum Teil klärt erst der Blick in
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die Bildlegenden auf, dass es sich z. B. um überlebensgroße Fotografien und nicht um fotografische Skizzen für ein Projekt handelt. Noch schwerer zu verstehen ist der Status einzelner Bilder auf dem Instagram-Account von Roswitha Schuller, den sie im Namen beider führt. Hier gibt es zudem immer wieder Bilder, die die Existenzform des ›Artist in Residence‹ eigens zum Thema haben: Man ist an einem schönen Ort, aber schon dabei, ein Projekt zu planen, mit dem zugleich ein vorangehendes Projekt abgeschlossen wird. Gegen die Fenster auf dem Screen kommt das Fenster der Residence nicht an, was erneut deutlich werden lässt, wie sehr manche Künstler*innen der Logik der Bürokratie folgen, sich mehr von dieser als von Natur und Landschaft inspirieren lassen. Dass man nicht nur immer wieder woanders ist, sondern dass man auch insofern nie ankommt, als jedes realisierte Arbeitsvorhaben selbst schon wieder zur Grundlage des nächsten Projekts wird, kann jedoch auch zur Belastung – zur existenziellen Herausforderung – werden. Und man kann sogar kritisch fragen, ob es nicht eine Art von Schwindel ist, wenn man aktuellen Aufenthalte dazu nutzt, die nächsten Station vorzubereiten. Hanakam und Schuller gehen mit solchen Zweifeln bemerkenswert offensiv und selbstironisch um, was sich etwa daran zeigt, dass sie ihren Katalog Trickster (2016) nennen. Man könnte es auch so formulieren: Wie ein Jongleur keine Pause machen darf, damit die Bälle nicht zu Boden fallen, dürfen auch die Künstler*innen nie aufhören, den Projektstatus zu wahren. Eine derartige Kunst ist aber nicht nur der Logik der Bürokratie geschuldet, sie nimmt sogar deren Charakter an. Wie man der Bürokratie (um nochmals an Groys zu erinnern) Körperlosigkeit, etwas Gespenstisches, Zombiehaftes unterstellen kann, gilt das auch für eine Arbeit, die immer im Status des Projekthaften bleibt: Sie verwirklicht sich nie ganz, ist schwer greifbar, ephemer. Dazu passt häufig auch die Sprache, in der über eine derartige Kunst geschrieben wird, sei es von den Künstler*innen selbst (bevorzugt in den Anträgen), sei es in Texten zu Galerieausstellungen, in denen einzelne Arbeiten vorgestellt werden.
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So erfährt man auf einer Galeriewebsite zu einer Ausstellung im Jahr 2015, dass Trickster, bevor daraus ein Buch wurde, ein Video war.⁵ Vor allem aber begegnet man einer abstrakten Sprache, die Keywords enthält, die auch zu Bewerbungen passen (»Einzelelemente«, »Katalog differenter Archetypen«, »narrative Linie«, »textuell aufgeladen«, »Neukontextualisierung«) und die ihrerseits einen Schwebezustand erzeugen, ja nahezu alles und nichts bedeuten können. Es ist gerade keine sinnliche, bildstarke Sprache (obwohl ein Galerietext ja zumindest eine werbende Dimension haben sollte), auch sie ist vielmehr bürokratisch. Sprache wie Arbeiten sind zudem glatt, steril – und damit nicht nur ungreifbar, sondern auch unangreifbar. Sie vermitteln eine Atmosphäre von Professionalität, wobei Professionalität meint: an vorgegebene Bedingungen angepasst, ihnen entsprechend, Vorgaben genau erfüllend; ›professionell‹ ist geradezu ein Synonym zu ›site specific‹. Eine derartige Professionalisierung ist heutzutage bei vielen Formen von Kunst zu beobachten. So unterschiedlich das Reagieren auf Vorgaben etwa bei Galerienkunst, bei Kuratorenkunst und bei Kunst von ›Artists in Residence‹ sein mag, so prägend, ja, normierend wirken diese doch jeweils. Allein die Existenz und Bedeutung solcher Vorgaben steht dabei zumindest in Spannung, vielleicht sogar im Gegensatz zu jeglicher Idee einer autonomen Kunst: einer Kunst, die ihre Kriterien und Maßstäbe allein aus sich selbst heraus entwickelt. Anders formuliert: Die Professionalität zeugt davon, dass vieles dessen, was heute an Kunst entsteht, nachfrageorientiert ist. (Bei ›Artist in Residence‹-Programmen kann man indirekt ja auch von ›Nachfrage‹ sprechen: Die ausschreibenden Institutionen fragen Bewerbungen nach). Was als Kunst entsteht, ist daher das Ergebnis diverser Rückkoppelungsschleifen. Das kann ihr ein hohes Maß an Ausgereiftheit – an Raffinesse – verleihen, geht aber oft auf Kosten von selbstbestimmter Entwicklung.
5| Vgl. http://www.fotogalerie-wien.at/ media/pdf/pdf1916.pdf?PHPSESID=bf292eb9 e6adb39b36a9a9d9a1d6afaa (12.12.2019).
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Je höher die Nachfrage ist – das gilt vor allem für Galerien- sowie Kuratorenkunst –, desto mehr werden auch Formen des Arbeitens in Serien, in Varianten, in Modulen oder eben in Projekten begünstigt. Je höher die Nachfrage ist, desto seltener bleibt nämlich genügend Zeit, jeweils eine neue, eigene, eigenständige Werkform zu entwickeln. Das ist aber auch gar nicht nötig, vielmehr wird oft ausdrücklich etwas nachgefragt, das ähnlich dem ist, das bereits existiert. Kurator*innen, Sammler*innen etc. richten sich ihrerseits nach dem, was Künstler*innen bereits früher angeboten haben. So etabliert sich ein Kreislauf von Angebot und Nachfrage, der für das, was in ihm zirkuliert, nur eine gewisse Spannbreite zulässt. Einerseits gibt es somit heutzutage viele sehr ähnliche Werke, andererseits gibt es viele offene, variable Werke. Damit aber kommt der Werbegriff gleich mehrfach (und nochmals anders als im Fall der Auflösung in den Projektstatus) ins Rutschen. Das Kriterium für Erfolg und Qualität ist nicht das eine, große Meisterwerk, sondern die Anzahl an Fassungen, die es von einem Werk – einem Werkkomplex – gibt, sowie die Flexibilität, mit der eine Werkidee immer wieder angepasst und variiert werden kann. Gerade bei Künstler*innen, die ihre Arbeit an der Nachfrage von Kurator*innen ausrichten, ist das gut zu beobachten. Auch hierzu wieder jeweils ein Beispiel. Carsten Höller hat einige Werkformen entwickelt, mit denen er zum Teil jahrelang von Biennale zu Ausstellung zu Großveranstaltung zu Messe tingelt – manchmal mit genau denselben Arbeiten, die damit als solche stabil sind und nur den Ort wechseln, häufiger aber mit Modifikationen davon. So ist eine Serie von Karussellen sowohl bei Biennalen wie auf dem Kunstmarkt erfolgreich. Eine andere Werkform besteht aus Rohren, die je nach Raum anders geformt, mal eher minimalistisch, dann ganz üppig angelegt sind und durch die Besucher*innen rutschen können. Kann man bei Höller noch davon sprechen, dass er jeweils eine klare Werkform wahrt (man kann die einzelnen Versionen von Karussellen oder Rohren eindeutig auseinanderhalten),
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verwenden andere Künstler*innen zum Teil dieselben Materialien neu und nur in anderer Konstellation. So ist das, was jeweils entsteht, dasselbe und doch etwas deutlich anderes. Statt mit einer klaren Anzahl unterschiedlicher Werke hat man es dann mit Variationen einer Grundidee zu tun. Das ist etwa bei vielen Arbeiten von Ai Weiwei der Fall, beispielsweise bei seinen Installationen mit Rettungswesten. Als Ai Weiwei erstmals im Februar 2016 im Rahmen der Filmgala Cinema for Peace an den sechs Säulen des Berliner Konzerthauses mehrere tausend orangefarbene Rettungswesten anbringen ließ, wollte er den unbeschwerten Kunstgenuss des bildungsbürgerlich-verwöhnten Publikums stören und an die grausamen Schicksale derer erinnern, die unter Lebensgefahr über das Mittelmeer flüchten. Geflüchtete werden von Ai Weiwei in einem großen Plural thematisiert – um deutlich zu machen, dass es nicht um Einzelschicksale geht, sondern vielmehr darum, die Dimension des Themas vor Augen zu führen. Die große Zahl erzeugt Erhabenheit, schafft aber auch die Möglichkeit, diese Westen immer wieder anders zu arrangieren. So präsentierte Ai Weiwei entsprechende Installationen nach Berlin etwa auch in Wien, in Kopenhagen und selbst auf der Yokohama Triennale in Japan, also in einem Land, das mit über das Mittelmeer Geflüchteten gar nichts zu tun hat. Dabei ist es für die künstlerische Aussage ziemlich irrelevant, ob die Westen gestapelt, in Fensternischen eingebaut oder zu Seerosen angeordnet sind. Man kann in solchen Fällen von einer modularen Werkform sprechen, und Künstler*innen haben umso mehr Chancen, eingeladen zu werden und Einladungen auch zahlreich annehmen zu können, je besser sich ihre Arbeit modularisieren und dadurch in der jeweiligen konkreten Ausführung delegieren lässt. Ai Weiwei gehört zu den Künstler*innen, die aufgrund globaler Präsenz bei Weitem nicht alle Ausstellungen selbst besuchen können, an denen sie beteiligt sind. Viele Arbeiten, die in seinem Namen gezeigt werden, hat er selbst nie gesehen, sondern allein auf der Basis von Fotos, die man ihm schickte, abgenom-
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men. Während Malerei oder klassische Skulpturen eher schwerfällig sind, das Werk also endgültig feststeht und nicht mehr variabel ist, sind viele Typen von Installation viel kompatibler mit der Logik von Großereignissen des Kunstbetriebs. Die Beispiele von Carsten Höller und Ai Weiwei machen nochmals bewusst, dass und wie sehr im heutigen Kunstbetrieb von Künstler*innen besondere Fähigkeiten verlangt werden: Flexibilität, logistisches Geschick, organisatorische Effizienz. Sie müssen sich und ihre Arbeit wechselnden Verhältnissen anpassen, parallel und aus räumlicher Entfernung agieren, planen, delegieren, kontrollieren. Vorbei sind die Zeiten, als man als Künstler*in alleine im Atelier saß und alles eigenhändig machte, vielmehr dominieren – wiederum – in einem weiten Sinn bürokratische Tätigkeiten, die von der »Chefetage« aus erledigt werden. Blickt man auf eine Liste, auf der die BiennaleKünstler*innen nach der Häufigkeit ihrer Teilnahme aufgeführt werden⁶: Hier fehlen ›reine‹ Maler*innen und Bildhauer*innen in klassischen Materialien, dafür dominieren installativ arbeitende Künstler*innen oder solche, die Werkideen gut variieren, Werkgruppen leicht anpassen und erweitern können. Mit dieser Relativierung des bisherigen Werkbegriffs geht aber im Weiteren auch eine Idee des Œuvre – des Gesamtwerks – verloren, denn es ist unklar, was genau dazu gehören sollte: Hat etwa wirklich jede weitere Installation mit Rettungswesten, jede leichte Modifikation einer Arbeit an einem anderen Ort eine eigene Nummer in einem Werkverzeichnis verdient? Lange – während der gesamten Moderne – galt ein solches Werkverzeichnis, ein ›catalogue raisonné‹ als Ausdruck und Folge einer Idee von Œuvre: In ihm wurde jedes Werk mit einem eigenen Eintrag, mit Angaben zur Entstehungszeit, Ausstellungsgeschichte etc. versehen. Der Begriff des Œuvres war in der Moderne vor allem deshalb so wichtig, weil und sofern Künstler*innen sich als autonom verstanden. Nur wenn eine Idee von Œuvre vorhanden war, existierte auch ein übergeordneter Maßstab, an dem sich die Qualität einzelner Werke beurteilen ließ; nur so konnten diese 6| Vgl. https://www.art-in.de/ incmeldung.php?id=5843 (12.12.2019).
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in einen verbindlichen Zusammenhang zueinander gebracht werden. Nicht nur bezogen auf die Kunstgeschichte, sondern erst recht hinsichtlich dessen, was der/die Künstler*in zuvor gefertigt hatte, ließ sich jedes neue Werk auf diese Weise einordnen: als Fortschritt oder Bruch oder auch als Rückfall beurteilen. Erst ein Begriff von Œuvre ermöglichte es zudem, künstlerische Ansprüche und Ziele zu definieren und sich immer wieder neu zu motivieren. Produzieren Künstler*innen hingegen nachfrageorientiert, definieren sich die Ansprüche von Projekt zu Projekt neu, und die dabei entwickelten Arbeiten werden jeweils an den spezifischen Rahmenbedingungen gemessen. Sie arbeiten nicht an einem Œuvre, sondern beziehen ihre Motivation aus Einladungen von Kurator*innen, aus Förderprogrammen, andererseits (und seltener) aus (globalen) Markterfolgen. Doch insofern das Resonanzen sind, die von außen zu den Künstler*innen gelangen, sind sie häufig zufällig, was der jeweiligen künstlerischen Arbeit und Entwicklung ihrerseits einen zufälligen Charakter verleiht. So stehen einzelne Projekte und Werke in loserer Verbindung zueinander als zu Zeiten, als Künstler*innen aus autonomer Ambition heraus nach einem Gesamtwerk strebten. Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass oftmals verschiedene Formen von Nachfrage gleichermaßen zu bedienen sind, Künstler*innen also etwa einerseits mit Kurator*innen zusammenarbeiten, die vielleicht eher an politisch ausgerichteten Arbeiten interessiert sind, während andererseits Geld mit Hilfe einer Galerie verdient wird, die sich in ihrem Programm vor allem an den Interessen von Sammler*innen orientiert. Da es unglaubwürdig und auch zeitlich unmöglich wäre, für die verschiedenen Arten der Nachfrage jeweils eigene Werkformen zu entwickeln, ist es in solchen Fällen wichtig, dass die Arbeiten sich für verschiedene Themen, Anlässe, Orte, Zielgruppen verwenden lassen. Auch hier geht es um hohe Flexibilität – um Werke, die formal wie inhaltlich hinreichend unbestimmt sind, um unterschiedlichen Ansprüchen zu genügen.
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Tatsächlich gelingt es einigen Künstler*innen, in verschiedenen Bereichen des Kunstbetriebs parallel präsent zu sein und eine wichtige Rolle zu spielen. Einer davon ist der aus Albanien stammende, in Paris lebende Anri Sala. Um seinen multiplen Erfolg zu verstehen, sei im Folgenden eine Arbeit aus einer Galerieausstellung von Sala aus dem Jahr 2017 analysiert, die unter dem Titel Take Over in der Berliner Galerie Esther Schipper stattfand. Gezeigt wurden zwei Arbeiten, die titelgebende Videoinstallation Take Over und 44 Zeichnungen unter dem Titel Them Apples. Die Galerie selbst veröffentlichte einen erläuternden Text, in dem man erfährt, dass jedes Blatt dieses Zyklus jeweils eine Note der Melodie der deutschen Nationalhymne zeigt – in der Form von angebissenen Äpfeln, wobei die Zeichnungen so auf die Wand gebracht sind, dass die Höhen, in denen die Äpfel auftauchen, jeweils der Notenhöhe entsprechen.⁷ Außerdem wird das Making-of der Zeichnungen geschildert, wobei der Eindruck von etwas besonders Aufwendigem und Raffiniertem entsteht: viele Schichten von Tinte, die langsam getrocknet sind, da sie auf kaum saugfähigem Papier aufgetragen wurden. Sala erscheint als Virtuose; zudem wird auf seine Erfahrung mit FreskoMalerei verwiesen, womit die Zeichnungen zugleich in eine lange kunsthistorische Tradition eingebettet werden und umso edler erscheinen. Weiter wird dann darüber aufgeklärt, dass die Zeichnungen Äpfel zeigen, die von Geflüchteten angebissen wurden, mit denen Sala einen dreitägigen Workshop veranstaltet hatte. Der Titel der Arbeit wird nicht erklärt (abgeleitet von einer Redewendung »how do you like them apples« – ein triumphierendes: »Na, was sagst Du dazu«), ferner wird sie nicht eigens gedeutet. Vielmehr ist ganz allgemein von ihrer vielschichtigen Bedeutsamkeit die Rede; es wird als Leistung des offenbar hochgebildeten Künstlers herausgestellt, eine semantisch komplexe, dichte Arbeit geschaffen zu haben, so als sei diese Dichte an sich ein Zeichen von Qualität. In der Berliner Zeitschrift Sleek, die sich weniger an Sammler*innen denn an Kurator*innen sowie ein an Politik wie an 7| Vgl. Galerie Esther Schipper (Mai 2017), online: https://www.estherschipper.com/ exhibitions/149 (12.12.2019).
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Lifestyle interessiertes Großstadtmilieu richtet, erschien eine Besprechung der Galerie-Ausstellung, die hingegen schon in ihrer Überschrift die »politischen Realitäten« (»political realities«) anspricht.⁸ Die Rezensentin, Emily McDermott, spricht daher etwa auch nicht pauschal von Geflüchteten, die in die Äpfel gebissen haben, sondern nennt Nationalitäten. Insgesamt würdigt sie Sala als Künstler, der zu einem aktuellen Thema Stellung bezieht und darin selbst besondere Dringlichkeit sieht. Somit ist der Schwerpunkt ihrer Beschreibung und Deutung ein anderer als im Galerietext. Bei McDermott ist Sala weniger intellektuell, gebildet, ›sophisticated‹, dafür aber politisch-moralisch engagiert und empathisch. Zugleich macht ihr Text aber auch deutlich, warum Sala von Kurator*innen gerne eingeladen wird, würdigt sie seine Arbeiten doch nicht nur als politisch und aktuell, sondern auch als assoziationsreich. Damit bieten sie Verfügungsmasse, sind gezielt offen und können von Kurator*innen jedes Mal wieder anders ›vollendet‹ werden, sind also aus anderen Gründen als die Arbeiten von Artist in Residence Künstler*innen projekthaft. Sammler*innen hingegen schätzen eher die Vieldeutigkeit – semantische Dichte, Komplexität – als solche, suggeriert sie doch, die Arbeit könne immer noch mehr bieten, als aktuell sichtbar ist. Damit weckt sie auch spekulative Phantasien: Als sei sie eine Quelle, die nie versiegt, ein Objekt, das ewigen Reichtum im metaphorischen, aber auch im wörtlichen Sinne verheißt. Sala selbst bedient diese mehrfache Ausrichtung seiner Arbeit auch in Interviews. Zur Berliner Ausstellung gibt es ein Statement von ihm, in dem Motive beider so unterschiedlicher Kontextualisierungen gleichermaßen auftauchen.⁹ So betont er den Workshop mit den Geflüchteten und bietet damit Stoff für Erzählungen, legt sogar nahe, dass man ihn auch für partizipative Aktionen oder als Aktionskünstler einladen kann. Aber er bietet auch eine Deutung dafür an, warum die Äpfel in Form von Zeichnungen vorliegen und nicht als Fotos: Die Arbeit wirkt so offener, eher wie ein Anfang, aus dem sich noch viel entwickeln kann, denn als abgeschlossene, endgültige Form. 8| Emily McDermott: »Anri Sala is the artist unpacking politics through music«, in: Sleek 54 (2017), online: http://www.sleek-mag.com/2017/07/25/ anri-sala/ (12.12.2019).
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Damit wird einmal mehr deutlich, dass einem herkömmlichen Werk die Ästhetik eines Projekts, einer Projektionsfläche vorgezogen wird. Die Arbeit ist mehrfach codiert, zugleich aber sind die einzelnen Codes so unverbindlich, dass sie sich je nach Interesse des Gegenübers ausblenden oder stärken lassen. Aber auch er agiert vornehmlich von der »Chefetage« aus, und ist umso professioneller, je bewusster und gezielter er die jeweiligen Codierungen seiner Arbeiten vornimmt. Als souveräner Bürokrat ist er enorm erfolgreich in vermeintlich weit voneinander entfernten Bereichen der Kunstwelt und trägt so dazu bei, dass sich das öffentliche Bild von Künstler*innen verändert. Insgesamt ist nicht auszuschließen, dass der Typus des/ der autonomen Künstler*in schon bald ganz verschwindet. Schon jetzt dürfte dieser Typus nur noch für wenige derer, die ein Studium an einer Kunsthochschule beginnen, als Vorbild fungieren. Dazu ist er zu wenig präsent im Vergleich zu den Stars am Markt und den Lieblingen der Kurator*innen. Damit aber nicht genug, vielmehr gibt es zunehmend noch einen weiteren Ort, an dem Nachfrage für Künstler*innen entsteht, nämlich durch die Macht der Sozialen Medien, insbesondere von Seiten des InstagramPublikums. Neben Sammler*innen und Kurator*innen wird man vielleicht schon bald Follower als ebenso folgenreich für die Kunstwelt und den Charakter der Kunst ansehen. Gerade Instagram hat sich innerhalb weniger Jahre zu einem Sozialen Netzwerk entwickelt, das nicht zuletzt Künstler*innen zu einer neuen Form von Öffentlichkeit verhilft, ihre Arbeit damit aber auch neuen Maßstäben unterwirft. Sind Sammler*innen und Kurator*innen Persönlichkeiten, die meist im Singular auftreten und einzeln etwas kaufen oder ausstellen, so haben Künstler*innen es in Form von Followern erstmals mit einem mehr oder weniger anonymen Plural an Menschen zu tun. Ähnlich wie sich Image und Erfolg von Schriftsteller*innen über ihre Leser*innen, Image und Erfolg von Musiker*innen über ihre Hörer*innen konstituieren, gilt nun auch für bildende Kunst, dass nicht mehr nur einige wenige entscheiden, was Renommee erlangt. Warf man dem 9| Anri Sala: »Of Anthems and Apples« (Mai 2017), online: https://frieze. com/article/anthems-and-applesanri-sala (12.12.2019).
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Kunstsystem oft vor, anfällig für Manipulationen einzelner besonders engagierter Sammler*innen, Galerist*innen, Museumsdirektor*innen oder Kurator*innen zu sein, so führen die Sozialen Medien zu einer Demokratisierung des Kunstbetriebs. Nun können Zehn- oder Hunderttausende durch ›Likes‹ und Kommentare darüber entscheiden, was besondere Prominenz erlangt. Neben dem elitären Geschmack von Sammler*innen und der politischen Profilierungsambition von Kurator*innen müssen Künstler*innen also zunehmend mit der Resonanz von Followern als einer Einflussgröße für ihre Arbeit rechnen. Das dürfte dazu führen, dass sich die Kunst etwas mehr einem Mainstream annähert, aber auch mit anderen Bereichen der Konsumwelt verschmilzt: Design, Mode, Massenmedien. Schon jetzt fällt auf, dass die meisten der Künstler*innen, die besonders viele Follower haben, diesen auch die Teilhabe an Projekten und den Erwerb von Produkten anbieten. Man muss also kein Millionär sein, um Kunst von Damien Hirst, Takashi Murakami oder Cindy Sherman zu erwerben; vielmehr gibt es Multiples, Editionen, signierte Sonderausgaben und vieles mehr, das sich gezielt an Follower richtet. Einige Künstler*innen dürften damit bereits mehr Geschäfte machen als mit einer Galerie und wichtigen Sammler*innen, so etwa David Shrigley, dessen Produkte in den großen Museumsshops weltweit angeboten werden. Es ist nicht auszuschließen, dass sich schon in wenigen Jahren ein Kunstmarkt etabliert, der zusätzlich zu und unabhängig vom heutigen Markt existiert. Hier werden aber erst recht keine autonomen Kunstwerke vertrieben, sondern Objekte, die nicht nur eine meist alltägliche Funktion als Tassen, Tücher oder Lampen, sondern die im Idealfall vor allem auch die Ansprüche erfüllen, die einerseits Sammler*innen und andererseits Kurator*innen an Kunst haben. So liefern sie, zumindest wenn sie markant und überraschend gestaltet oder limitiert in ihrer Auflage sind, aber einfach auch aufgrund der Prominenz ihrer Urheber ein bisschen Distinktionsgewinn.
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Erfährt der Werkbegriff hier nochmals eine andere Relativierung, so sind Künstler*innen, die einem solchen Geschäftsmodell folgen, einmal mehr vor allem mit bürokratischen Aufgaben befasst. Produktionsprozesse müssen entwickelt werden, mit Firmen ist über Herstellung und Vertrieb zu verhandeln, aber auch die Kommunikation mit den Fans ist zu organisieren. Das sind alles Tätigkeiten, die mit dem Berufsbild, das bisher von Künstler*innen existierte, wenig zu tun haben, die aber geradezu beliebig professionell gestaltet und ausgeführt werden können.
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[ABB.1] S.017
[ABB.2] S.017
[ABB.1] instagram.com/rosieschuller
[ABB.2] instagram.com/realestguyontheplanet
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[ABB.3] S.019
[ABB.4] S.019
[ABB.3–4] instagram.com/rosieschuller
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ALS KÜNSTLER*IN ARBEITEN. WISSEN UND KÖNNEN – STRATEGIEN DES EMPOWERMENTS BIRGIT EFFINGER
Es gibt unzählige Versuche, die künstlerische Tätigkeit zu definieren – sei es als künstlerisches Handeln, als Positionierung, kreative Schöpfung, Kunstfertigkeit oder als kulturelle Produktion. Künstlerische Praxis vollzieht sich in einem komplexen Geflecht von künstlerischem Anliegen, individueller Lebenssituation, kunsttheoretischen Bezügen, Vermittlung und Vermarktung. All das hat unmittelbar oder mittelbar mit der künstlerischen Arbeit zu tun und übt entsprechende Einflüsse aus. In der Gemengelage von individuellen Wünschen, Anforderungen und Möglichkeiten muss jede/r Künstler*in, die ihre Arbeit aktiv betreibt und zur Debatte stellen will, für sich selbst herausfinden, wie sich das Berufsleben perspektivisch am besten gestaltet. Der für das Symposium und die vorliegende Publikation titelgebende Begriff des ›Dilettantismus‹ wird zwar häufig als Gegenpol der Professionalität definiert, allerdings ist Dilettantismus semantisch offen, höchst ambivalent und zu unterschiedlichen Zeiten und je nach Perspektive positiv oder negativ aufgeladen. Gewiss ist: Dilettant*innen folgen ihren persönlichen Neigungen, sie stellen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Wissensgebieten her, hinterfragen somit auch gängige Standards und erproben neue Wege. Gerade letztere sind bei der Ausprägung des eigenen Berufsprofils mehr denn je gefragt. Die Figur des bzw. der Dilettant*in ist zudem eng verwandt mit der Ende der 1990er-Jahre von Ute Meta Bauer ins Feld geführten Figur des bzw. der ›Autodidakt*in‹.¹ Ute Meta Bauer hat im Kontext der damaligen Debatten über die Neuausrichtung der 1| Vgl. Ute Meta Bauer, »›Meinen Arbeitsplatz gibt es noch nicht‹, von autonomer Kunst zur kulturellen Produktion«, in: Die Akademie ist keine Akademie, eine kritische Betrachtung der Rolle der Künstler, Akademien und Kunsthochschulen, ihrer Auswirkung auf Kunst und Kunstmarkt, ihrer Abhängigkeit in Staat und →
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Kunsthochschullehre die Autodidakten als zeitgemäße Gegenmodelle zu den lehrenden – meist männlichen – Künstlergenies mit Vorbildfunktion konzipiert, um die Potenziale von künstlerischer Selbstausbildung und selbst ermächtigenden künstlerischen Berufsdefinitionen zu veranschaulichen. Mittlerweile wurde in Sachen Kunstausbildung bundesweit an allen Hochschulen und Universitäten an vielen Stellschrauben gedreht. Trotz aller Neukonzipierungen von Studiengängen und der Einführung von PhDs in künstlerischen Studiengängen bleibt in den Curricula der entsprechenden Ausbildungsgänge jedoch nach wie vor unklar, wie zukünftige Künstler*innen angemessen mit den Herausforderungen ihres Berufs vertraut gemacht werden können. Für viele Berufseinsteiger*innen ist es ein Rätsel, wie ihr Künstler*innendasein konkret zu bewerkstelligen ist; die meisten finden sich nach ihrem Abschluss als Alleinkämpfer*innen in prekärer Beschäftigung wieder. Zudem sind weder der akademische Abschluss noch die gewählte künstlerische Sparte Garanten für berufliche Erfolge. Vor dem Hintergrund meiner langjährigen Zusammenarbeiten – lehrend, beratend, kuratorisch, vermittelnd – mit Künstler*innen verschiedener Alters- und Erfahrungsstufen möchte ich zunächst die verschiedenen Facetten und Aufgabenfelder des künstlerischen Berufs in Anschlag bringen. Mein Anliegen ist es, hierbei praxistaugliche Vorstellungen über künstlerische Berufsbilder zu aktivieren, damit Künstler*innen auch langfristig mit und von ihrer Arbeit leben können. KÜNSTLERISCHE ARBEIT, ORGANISATION, STRUKTUR Der Regelzugang zum künstlerischen Beruf ist die freiberufliche Selbstständigkeit. Wer selbstständig ist, hat viel zu erledigen; derweil nimmt die künstlerische Praxis im Tagesgeschäft oft nur einen Bruchteil der Zeit ein. Mit allem Drum und Dran findet künstlerisches Handeln im Rahmen unterschiedlichster Produktions- und Distributionsmethoden sowie vielfältiger Aktivitäten statt: Arbeit im Atelier, Forschen, Finanzmanagement, KonGesellschaft; Dokumentation des gleichnamigen Kolloquiums im Künstlerhaus Stuttgart, hg. von Ute Meta Bauer u. Holger Kube Ventura, CD-ROM, 1999.
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[ABB.1–2] S.043–044
[ABB.3–5] S.045–047
takte knüpfen und pflegen sowie Ausstellungen organisieren, Kataloge publizieren, Website aktualisieren, Projektanträge schreiben. Mal steht das künstlerische Werk, mal die Recherche und Organisation finanzieller Ressourcen oder auch die Verwaltung im Vordergrund. Dieser facettenreiche Tätigkeitsmix ist nicht nur für die konkrete Ausgestaltung des künstlerischen Alltags entscheidend. Die Bedingungen, unter denen Werke entstehen, sind mitunter auch Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit selbst. So macht Barbara Steppe in ihren Werken bildhaft anschaulich, wie Menschen ihre Zeit verbringen. Grundlage ihrer vielgestaltigen Arbeiten sind die Aufzeichnungen der Mitwirkenden, in denen die ›Porträtierten‹ detailliert dokumentieren, welchen Tätigkeiten sie Tag für Tag nachgegangen sind. In Form von Malerei, Textilien und kinetischen Objekten, Modellarchitekturen, sowie als Performances und Audiostücke bilden Steppes Anschauungsmodelle eine jeweils eigene Ästhetik aus. Birte Endrejat stellt in ihren zeichnerischen Protokollen die vielen Arbeitsschritte des künstlerischen Prozesses dar und offenbart in diesen gezeichneten Beobachtungen eindrücklich, wie viele Gewerke auf die künstlerische Arbeit Einfluss nehmen. Wie in jedem anderen selbstständig ausgeübten Beruf häufen sich auch in der künstlerischen Arbeit immer wieder diverse Aufgaben, die termingerecht und sachverständig erledigt werden sollen. Wenn Künstler*innen sich nicht verzetteln wollen, kommen sie um kunstferne und dennoch berufsrelevante Kenntnisse nicht herum. Dazu gehören unternehmerische Fähigkeiten wie auch Kenntnisse der Steuererklärung, der informierte Umgang mit der Künstlersozialkasse und ein funktionierendes Zeitmanagement. Der professionelle Umgang mit der lästigen, aber unvermeidlichen Bürokratie kann obendrein bewirken, dass die eine oder andere Angelegenheit schlussendlich sogar leichter fällt und mehr Zeit für die künstlerische Arbeit bleibt. All die profanen Planungs-, Organisations- und Verwaltungsaktivitäten des künstlerischen Berufslebens stimmen mit dem glamourösen Bild des freien kreativen Schöpfertums nur wenig überein; sie
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entsprechen ebenso wenig jenen mythischen Zuschreibungen, die einst als genuin künstlerische Fähigkeiten, wie etwa Experimentierfreude, in die Führungsetagen von Wirtschaftsunternehmen schwappten. Es verhält sich eher andersherum: Wer als Künstler*in langfristig kreativ arbeiten will, muss gut planen und organisieren können. RADIUS, NETZWERKE, POSITIONIERUNG Kunstproduktion fängt nie bei null an, sondern schreibt sich unweigerlich in Vorgegebenes ein. Künstlerische Arbeit steht insofern von vorneherein in einem komplexen Bezugssystem. Genau betrachtet dialogisieren Künstler*innen bereits im Arbeitsprozess nicht nur mit künstlerischen Vorläufer*innen, sondern auch mit dem Blick der anderen. Jegliche künstlerische Arbeit entspringt somit nicht nur einer intrinsischen Motivation, sondern (ent)steht auch in Relation zu anderen Werken und Menschen: im Austausch mit Kolleg*innen, der lokalen Kunstszene, der eigenen Community – verschiedentlich sind dies auch Sammler*innen, Galerist*innen, öffentliche Institutionen oder auch ein spezifisches theoretisches Diskursfeld. Von großer Bedeutung sind auch die sogenannten ›Creative Partnerships‹, jene wichtigen und unsichtbar Mitwirkenden, die während des unfertigen Arbeitsprozesses mit konstruktiver Kritik und Feedback zur Seite stehen. Meistens findet die künstlerische Arbeit im Solo-Modus statt, indessen sind ›Creative Partnerships‹ speziell bei Krisen und ungelösten Fragen als Ratgeber*innen, Unterstützer*innen und Sorgennehmer*innen nicht zu unterschätzen. Kunstschaffende treten also spätestens mit dem Ausstellen in einen Dialog ein und nehmen damit unwillkürlich eine Stellung innerhalb des nach wie vor hierarchisch strukturierten Kunstfeldes ein. Die Frage nach der Selbstverortung berührt insofern weniger innere hausgemachte Probleme oder das persönliche Prestige und Ansehen. Der prinzipiell unabschließbare Prozess der Positionierung umfasst vielmehr ein selbstreflexives Bewusstsein über die eigene künstlerische Stellung, wie auch das Voraus-Denken von Möglichkeiten, Grenzen, Effekten und
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Stärken. Dies schließt die Kenntnisnahme von unterschiedlichen Kräftefeldern und institutionellen Abhängigkeiten mit ein, in denen Kunstproduktion und Rezeption stattfindet. Die Herstellung von Zusammenhängen setzt selbstredend die Selbstverständigung über das eigene Werk wie auch über die eigenen Denk- und Handlungsweisen voraus, um danach Anschlussmöglichkeiten zu prüfen: Wo ist das passende Umfeld für meine Arbeit? Welche losen Kontakte pflege ich bereits? Welche intellektuellen Netzwerke möchte ich auf- und ausbauen? Mit welchen Autor*innen und Kurator*innen möchte ich in Austausch treten? Wo sind ideale Orte für meine künstlerische Arbeit? Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist nicht nur als strategisches Unterfangen interessant. Im Laufe der Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von kunstwerksrelevanten Kontexten können sich zudem zusätzliche Möglichkeitsräume entfalten, um an spannende Themen anzudocken, weitere Ideen zu generieren, Brücken zu benachbarten Feldern zu schlagen und den Handlungsspielraum entsprechend den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu erweitern. SCHREIBEN UND SPRECHEN Die Kunst sei von Worten umzingelt, so beschreibt es Michel Butor.² Künstlerische Arbeiten sind zumindest in öffentlichen Präsentationsformaten immer schon von Titelangaben, Begleittexten, Ausstellungsbesprechungen, bis hin zu erläuternden Raumplänen und dem Gemurmel in den Kopfhörern umgeben. Diese Sprachgebilde sind auch in unserer allumfassenden Bilderflut immer mit im Spiel. Texte stiften Anschlüsse – an verbale und kulturelle Kontexte und an ästhetisch gefasste Programme. Sie tragen zur Sichtbarkeit einer Arbeit bei und können den Radius eines Werkes beträchtlich vergrößern. Der hohe Stellenwert von Texten verdankt sich zweifelsohne auch dem Sachverhalt, dass Reflexionen und Bedeutungen, im Sinne von zu diskutierenden Belangen und zu besprechenden Inhalten, überwiegend auf rein sprachlicher Basis entstehen. Die eigene verbale Äußerung bietet so gesehen ein Denk- und 2| Vgl. Michel Butor, Die Wörter in der Malerei, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 1993.
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Lernwerkzeug, um das künstlerische Tun zu reflektieren und konkreter zu bestimmen. Gewiss sind Sprechen und Schreiben nicht jedermanns Sache. Bei Anträgen, Projektbeschreibungen, Stipendienbewerbungen und Presseinformationen nehmen Texte zu Arbeitsvorhaben und Anliegen freilich eine zunehmend wichtige Stellung ein. Darum sollten Künstler*innen die erläuternden und theoretischen Aspekte nicht komplett auslagern oder in Auftrag geben. Das Schreiben ist ganz bestimmt ein langwieriger Prozess. Man kann nicht früh genug anfangen, sich damit zu beschäftigen, um das eigene Anliegen selbstbewusst und abseits gängiger Worthülsen zu artikulieren. Im besten Falle stiften Texte, die von Künstler*innen verfasst sind, Diskurse. Sie liefern Hintergründe und Ideen zur künstlerischen Produktion und sollten keinesfalls reproduzieren, was die Arbeit zeigt. Es ist auch fraglich, ob dergleichen überhaupt möglich ist. Schreiben und Sprechen machen die eigene Praxis benennbar; schließlich kommt Kunst nicht nur aus dem Bauch, wie immer noch häufig kolportiert wird, Künstler*innen sind auch reflektierend tätig. Diese Reflexionen, Bestimmungen und schriftlichen Denkvorgänge können dann wegweisende Bestandteile für das begleitende Sprach-Rauschen bilden, das dem Werk mit Interpretation oder Kritik zur Sichtbarkeit verhilft. SICHTBAR MACHEN – ÖFFENTLICH WERDEN Kunst sei wie das Licht im Kühlschrank, meint Liam Gillick.³ Sie funktioniere nur, wenn Menschen da sind, die die Kühlschranktür öffneten. Die Wertschätzung einer künstlerischen Arbeit wächst durch die Anerkennung der anderen, die ihrerseits bekräftigen, dass die Arbeit innerhalb des Feldes der Kunst wichtig, wertvoll und legitim ist. So sind Anerkennungsprozesse, die Stellung einer künstlerischen Arbeit und nicht zuletzt das ökonomische Dasein von Künstler*innen eng mit jenem Ausmaß verknüpft, in dem eine künstlerische Arbeit in den Öffentlichkeiten zirkuliert und Sichtbarkeit erlangt. Die Kunst muss aber 3| Vgl. Catrin Lorch, »Wie das Licht im Kühlschrank«, in: Süddeutsche Zeitung, 16. April 2010, S. 11.
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nicht nur aus ökonomischen Gründen die Beachtung der Öffentlichkeit suchen, sondern besonders auch dann, wenn es um die Aufkündigung vermeintlicher Gewissheiten und Überzeugungen geht. Deswegen haben sich viele Künstler*innen längst von dem Modell des ›Entdecktwerdens‹ verabschiedet und nehmen die Sache selbst in die Hand. Sie entwickeln eigene Interaktionsmöglichkeiten und Zusammenhänge, etwa in Projekträumen oder anderen Off-Spaces, organisieren eigene Ausstellungsprojekte, kontaktieren Kunstvereine und Institutionen. Zudem bilden insbesondere die selbstorganisierten Projekträume auch spezifische Gemeinschaften von gleichgesinnten Produzent*innen und Rezipient*innen, die – zugegebenermaßen bei äußerst prekären Ressourcen – nicht nur neue Arbeitsweisen erproben, sondern auch als Orte kritischen Austauschs fungieren. All diese Präsentations- und Kunsträume bieten unterschiedliche Ebenen, um andere Akteure des Kunstbetriebs (Kunstinteressierte, Galerien, Kritiker*innen, Kurator*innen, Sammler*innen) für die eigene künstlerische Position zu begeistern und Öffentlichkeiten herzustellen. Nicht zu vergessen sind die verfügbaren digitalen Medien und sozialen Netzwerke, die zahlreiche – mittlerweile unverzichtbare – Möglichkeiten zur Vermittlung der künstlerischen Arbeit eröffnen. So spielen Künstler*innen-Webseiten in Juryverfahren eine zunehmend große Rolle. Soziale Netzwerke machen es hingegen möglich, mit jeglicher Art von Inhalten ein breites Publikum zu erreichen. Es ist freilich nicht damit getan, mit den richtigen Tags und Links das gesamte Repertoire aller Kommunikationskanäle zu bespielen. Sichtbarkeit allein ist noch kein Garant für die Aufnahme in den Kanon. Jede Idee, jede Arbeit, sei sie von noch so vielen ›Likes‹ gekrönt, muss zudem auch von persönlich Interessierten und Wegbereiter*innen zur Kenntnis genommen werden, um es in das spezielle Feld des Kunstbetriebs zu schaffen. Künstler*innen sollten daher frühzeitig eigene Netzwerke etablieren und mit der Suche nach Kontakten beginnen, um
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dann proaktiv große wie kleine Öffentlichkeiten auf- und auszubauen, in denen die eigene Arbeit besprochen, bewertet und vertrieben wird. ARBEITEN UND (ÜBER-)LEBEN IM KUNSTBETRIEB Die Kunst spreche nur noch durch die Sprache des Geldes, und zwar so laut wie nie zuvor, stellen Markus Metz und Georg Seeßlen fest.⁴ In den letzten Jahren hat sich das Kunstmarktgeschehen de facto rapide verändert und diese sukzessiven Umgestaltungen haben auch die Vorstellungen von Kunst beeinflusst. So ist der Ankauf von Kunst häufig geprägt durch demonstrativen Geltungskonsum, befeuert von zu erwartenden Steuerersparnissen und maßlosen Wertschöpfungen. Kunst etabliert sich freilich nicht durch den Markt allein. Weder ist Kunst nur noch Markt, noch ist die Kehrseite der superreichen Kunst eine Verarmung der Kunst. Selbstredend sind Kunstmärkte verknüpft mit gesamtgesellschaftlichen, besonders auch ökonomischen Entwicklungen und expandieren oder schrumpfen teils parallel, teils gegenläufig zu diesen. Den Kunstmarkt als solches gibt es freilich nicht. Es existieren unzählige kleinteilige Märkte, auf denen globalisierte Kunstbörsen ebenso zugegen sind wie die selbstausbeuterisch geführte Galerie. Das Kunstfeld ist hart umkämpft und zudem an jeder Stelle chronisch unterfinanziert. Große Anerkennungen und fulminante Erfolge gehen daher nicht immer mit finanziellem Zuwachs einher. Ausstellungserfolge können ganz im Gegenteil infolge hoher, selbst getragener Produktionskosten große finanzielle Krisen nach sich ziehen. Für die eigene künstlerische Praxis sollten insofern langfristige Finanzierungsmodelle und der nachhaltige Umgang mit den meist knappen finanziellen Ressourcen obligatorisch sein. Denn Kunstproduktion ist zunächst teuer und schlägt mit negativen Kosten zu Buche. Nach den zur Verfügung stehenden Zahlen können nur maximal zehn Prozent der in Deutschland lebenden Künstler*in4| Vgl. Markus Metz, Georg Seeßlen: Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld. Ein Pamphlet, Berlin 2014, S. 188.
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nen von ihrer künstlerischen Arbeit leben.⁵ Diese überschaubare Erfolgsquote ist allerdings relativ. Denn die durch das Zahlenraster fallenden 90 Prozent der Künstler*innen bilden nicht nur Umgebungsmaterial für die Berühmt-Berüchtigten. Eine erfolgreiche Berufslaufbahn kann viele Wege nehmen und viele Berufsidentitäten entfalten. Künstler*innen entwickeln nicht nur unterschiedliche Produktionsweisen, sondern integrieren im Grunde auch verschiedenartige Berufsprofile wie etwa Projektmanagement, Funding, PR oder Personalmanagement in ihr Tätigkeitsfeld. Ein weit verbreitetes Lebensmodell ist zum Beispiel die ›Patchworklaufbahn‹: mit dem Spielbein im Kunstfeld, während das ökonomische Standbein der reinen Existenzsicherung – in möglicherweise künstlerisch-kreativen oder aber durchaus auch kunstexternen Erwerbsfelder – dient. Die künstlerische Patchworklaufbahn muss nicht zwangsläufig einem müden Kompromiss entsprechen. Es ist auch keineswegs ausgemacht, dass der künstlerischen Teilzeitarbeit kein Reputationsgewinn oder wirtschaftlicher Erfolg zuteilwerden kann. Sicherlich erfordern berufliche Mischformen organisatorische Meisterleistungen und Disziplin. Sie bringen dennoch auch Vorteile mit sich: Unabhängigkeit, größere Gelassenheit gegenüber Kunstfeldereignissen und gewisse finanzielle Sicherheiten. Ob Vollzeit- oder Teilzeitkünstler*in – gefragt ist ein nachhaltiges Finanzierungskonzept, das im besten Falle die adäquate Altersvorsorge miteinschließt. VORBEREITUNG AUF DIE BERUFLICHE PRAXIS An den Kunstakademien und Kunsthochschulen hat sich die Lehre der Freien Kunst in den letzten Jahren definitiv verändert; vielerorts ist anstelle des Meister-Habitus eine eher dialogische Ausbildungssituation eingetreten. Für Studierende wie Berufsanfänger*innen ist es wenig hilfreich, Talent und Kompetenzen zu definieren, um diese anschließend einer Evaluation zu unterziehen, wie das zuweilen gefordert wird. Die Institution Kunsthochschule/Akademie sollte Studierenden fraglos Freiräume 5| Vgl. Gabriele Schulz, Olaf Zimmermann, Rainer Hufnagel, Arbeitsmarkt Kultur: zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Kulturberufen, hg. v. Deutscher Kulturrat, Berlin 2013.
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für die Entwicklung und Entfaltung ihrer schöpferischen Aktivitäten bieten und die zu schwinden drohenden Freiräume für Experimente unbedingt wahren. Der Berufsstart könnte indessen leichter gelingen, wenn die Absolvent*innen gegen Ende des Studiums, im Zuge des abzusehenden Abschlusses, mit bevorstehenden Herausforderungen wie auch mit BackstageStrukturen und den Schattenseiten des freiberuflichen Daseins vertraut gemacht werden. Im Idealfall sind diese berufsorientierten Themenkomplexe fakultativ, unabhängig von Drittmittelgebern und keine Eintagsfliegen, sondern regulärer, kontinuierlicher Bestandteil der Curricula. Für zahlreiche Absolvent*innen wäre es bereits eine große Hilfestellung, wenn ihnen mit konkreten Beispielen veranschaulicht würde, wie das Miteinander von individuellem künstlerischem Schaffen und vernetzter Organisation im Berufsleben vonstatten geht. Dies wäre immerhin eine Handreichung, um für zukünftige Herausforderungen zu sensibilisieren und Theorie, berufsrelevantes Wissen und künstlerische Praxis konkret zusammenzubringen. Um die künstlerische Arbeit mit den sekundären, berufsnotwendigen Tätigkeiten professionell in Einklang zu bringen reicht es nicht aus, ein Lehrbuch zu lesen oder expliziten Handlungsanweisungen zu folgen. Die künstlerische Berufspraxis ist eine individuelle Handlung, die auf Erfahrungswissen basiert und deren Erfolg ebenso von persönlichen Faktoren abhängig ist. Erfahrungsgemäß tun sich beim Aufbruch in das Berufsleben viele neue Fragen und andere Dringlichkeiten auf. Hierfür gibt es glücklicherweise nach vielen Anstrengungen und Eigeninitiativen zahlreiche postgraduale Angebote, die zwischen Studium und Berufsleben Brücken schlagen und Künstler*innen erfolgreich darin unterstützen, aus ihrer Berufung einen Beruf zu machen.⁶
6| Exemplarisch genannt seien hier das Kunstbüro der Kunststiftung BadenWürttemberg, die Workshopangebote des Berufsverbandes Bildender Künstler, das Goldrausch Künstlerinnenprojekt Berlin, see up – Zentrum für Absolvent*innen der Weißensee Kunsthochschule Berlin, das Lab K mit dem Kunstmentorat NRW wie auch zahlreiche weitere Mentoringprogramme, die mit Landesmitteln durchgeführt werden. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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EMPOWERMENT Das Künstler*innendasein bringt eine spezifische Form der Arbeitssphäre mit sich. Künstler*innen lernen bei der Ausübung ihres Berufes, mit Erfolgen, Enttäuschungen, und Risiken umzugehen. Hilfreich ist gewiss, sich zuweilen zu fragen, welche Art von Lebensform zu einem passt und welche Art von Künstler*innenleben einem persönlich erstrebenswert erscheint. Ebenso zuträglich sind Kenntnisse über die eigenen Stärken und Schwächen und eine realistische Einschätzung über das persönliche Bedürfnis nach Sichtbarkeit und Stabilität. Die Wahl des Künstler*innenberufes ist im Unterschied zur Berufung eine bewusste Entscheidung: Damit ist zwangsläufig verbunden, für die künstlerische Arbeit Verantwortung zu übernehmen und sich das Wissen und Können anzueignen, um die durchaus prekäre Berufsrealität produktiv zu bewältigen. Ein anspruchsvolles, komplexes Unterfangen; nicht unmöglich, freilich nicht immer vom gewünschten Erfolg gekrönt. Umso wichtiger ist es, das selbstdefinierte Berufsprofil selbstbewusst auszuüben und die eigenen Interessen hieb- und stichfest durchzusetzen. Die Reputation von Kunstwerken wird in komplizierten Beziehungen und Verhandlungen bestimmt. Es besteht wenig Grund, diese Prozesse fatalistisch zu akzeptieren oder sich davon ausgeschlossen zu fühlen. Kunst und Kunstbegriffe sind konzeptionelle Figurationen, die Künstler*innen nicht idealerweise, sondern unbedingt mitgestalten sollten. Somit gilt: »Avanti Dilettanti!«
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[ABB.1] S.034
[ABB.1] Barbara Steppe, Mathilde, 2009
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[ABB.2] S.034
[ABB.2] Barbara Steppe, Robert, 2010
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[ABB.3] S.034
[ABB.3] Birte Endrejat, Fig. 1, Visible and invisible parts of my artistic work (to be completed), 2015
046 BIRGIT EFFINGER
[ABB.4] S.034
[ABB.4] Birte Endrejat, Fig. 2, Endless circle of artistic production (to be completed), 2015
047 BIRGIT EFFINGER
[ABB.5] S.034
[ABB.5] Birte Endrejat, Fig. 3, Invisible artwork that deal with real reality (to be completed), 2015
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WE ARE STUDIO CONSTANZE
FISCHBECK
In diesem Text möchte ich meine eigenen Erfahrungen über Arbeitsbedingungen für freischaffende Künstler*innen seit Ende der 1990er-Jahre reflektieren. Mein Eindruck ist, dass kollektives Arbeiten für junge Künstler*innen an Bedeutung gewonnen hat und ich vermute, dass die Gründe dafür nicht nur existenzsichernde sind. Die Vergewisserung und Erarbeitung einer künstlerischen Position als Teil der gesellschaftlichen Debatte scheint wieder wichtiger geworden zu sein. SELBSTORGANISATION, ZUSAMMENSCHLÜSSE, KOLLEKTIVE Können wir vermeiden, von einem auf den anderen Tag von Studierenden zu Konkurrent*innen in einem fiktiven Markt zu werden? Nach Abschluss meines Studiums an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee Ende der 1990er-Jahre schlug ich meinen Mit-Absolvent*innen die Gründung einer losen Interessenvertretung, eine Art Stammtisch, vor. Praktisch ging es mir um den Austausch von fachlichen Fragen, aber auch um die Organisation von möglichen Kollaborationen für freie Aufträge. Was für Absolvent*innen der Freien Kunst oder der angewandten Theaterwisswenschaft größtenteils selbstverständlich zu sein schien, sich solidarisch zusammenzuschließen, wurde in meiner Berufsgruppe als naive Idee aufgenommen. Aus Mitstudierenden wurden Mitkonkurrent*innen. Auch andere professionelle Interessenvertretungen haben es in dieser Sparte traditionell schwer.
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Einige Künstler*innengruppen, wie die frei produzierenden Performance-Gruppen Rimini Protokoll oder She She Pop (stellvertretend für sehr viele andere), wurden von den Akteur*innen im Laufe der 1990er-Jahre noch während ihres Studiums am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-LiebigUniversität Gießen gegründet. Dieses Institut wurde zum Synonym für die Praxis, noch vor dem Studienabschluss Kollektive zu formen, die sich die Zeit nehmen, die eigene künstlerische Haltung innerhalb der Gruppe und abseits von Institutionen zu formulieren. Die Mitglieder der Gruppe She She Pop gelten inzwischen als maßgebliche Expert*innen für kollektive Produktionsprozesse in der Performance-Arbeit. Auf ihrer Webseite findet sich die folgende Selbstbeschreibung: Die Performer*innen verstehen sich als Autor*innen, Dramaturg*innen und Ausführende ihrer Bühnenhandlung. […] Die Bühne ist immer ein Ort der akuten Öffentlichkeit. Hier werden Entscheidungen getroffen, Gesprächsweisen und Gesellschaftssysteme ausprobiert, Sprech-Gesten und soziale Rituale einstudiert oder verworfen. She She Pop sehen ihre Aufgabe in der Suche nach den gesellschaftlichen Grenzen der Kommunikation – und in deren gezielter und kunstvoller Überschreitung im Schutzraum des Theaters. Das Theater wird zu einem Raum für utopische Kommunikation.¹ Die Arbeitspraxis des Aushandelns, die innerhalb der Gruppe gelebt wird, ist auch strukturbildend für das Ergebnis: die Performance auf der Bühne. In den Gruppenbildern, die man sich auf der Webseite von She She Pop ansehen kann, bieten sie uns verschiedene Arten der Selbstrepräsentation an: als Performer*innen inszenieren sie sich in unterschiedlichen Kontexten, wie als TanzstundenEleven, als Gruppe von Eisläufer*innen und immer wieder als 1| Online: https://sheshepop.de/ueber-uns (1.1.2020).
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eklektische Großfamilie mit Kindern. Ein Bild, lesbar als feministischer, queerer Appell, wie auch als ein Abbild von gegenwärtiger Gesellschaft. Ende der 1990er-Jahre gründete ich mit dem Theaterregisseur Sascha Bunge und im Verbund mit dem Dramaturgen Stephan Behrmann eine GbR für erste Produktionen. Wir verstanden uns als festes Team und arbeiteten in der Folge regelmäßig an verschiedenen Stadttheatern. Wir versuchten einige Male, die Idee einer gleichen Bezahlung und Behandlung als Künstler*innenteam in Vertragsverhandlungen und in der Arbeitspraxis an Stadttheatern auszuhandeln und durchzusetzen. Selbst wenn wir Verständnis bei individuellen Partnern fanden, scheiterten wir an den festgefügten Strukturen des Theaterbetriebes, der noch immer hierarchisch aufgebaut ist. Ich lernte die prekäre Situation der Bühnenbildnerin als Subunternehmerin oder konkreter: Subauftragnehmerin kennen. Jede Auftragsvergabe erfolgte ausschließlich informell durch die Position der Regie, die vorher den Auftrag des Theaters erhalten hatte. Gleichwohl besteht die Zusammenarbeit mit Sascha Bunge, den ich bereits während meines Studiums kennengelernt hatte, seit nunmehr zwanzig Jahren und brachte mehr als zwanzig gemeinsame Produktionen hervor. Die Erfahrungen mit der kollektiven Produktionsweise – die nach meinem Verständnis der interdisziplinären Theaterarbeit zugrunde liegt – waren dennoch widersprüchlich. Die meist mehrmonatige Arbeit an einer Theaterproduktion kann sowohl kollektive (innerhalb der Gruppe, die an einer Produktion arbeitet) als auch autoritäre Strukturen aufweisen und viele Häuser funktionieren noch immer in einem hohen Maße hierarchisch. Das ist der schon seit mehreren hundert Jahren existierenden Praxis des Produzierens von kollektiven Kunsterlebnissen, die wir als Theater kennen, immanent und wurde im deutschen – subventionierten – Stadttheatersystem institutionalisiert. In meiner Zeit als Ausstattungsleiterin an einem Theater in Halle lernte ich diese tradierten Strukturen von innen kennen und beschloss daraufhin,
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mir neben der Theaterarbeit weitere Arbeitsfelder zu erschließen, die stärker im künstlerischen Experimentalfilm und im Kunstkontext verortet sind, und ebenso als Einzelkünstlerin zu arbeiten. Die Vorteile, die ich an der Arbeit im Theater nach wie vor als sehr hoch einschätze, sehe ich u. a. in der Herausbildung von jahrzehntelang und an verschiedenen Orten immer wieder funktionierenden Künstler*innen-Teams und der daraus resultierenden Selbstverständlichkeit des dialogischen Arbeitens, in dem gemeinsame Denkprozesse und kollektive Autor*innenschaft möglich sind. Allerdings wird bei der Veröffentlichung der Produktion meist nur der Name der Regieposition nach außen hin kommuniziert. Das im Arbeitsprozess entstandene Kollektiv verschwindet im Zuge der Veröffentlichung. Dennoch sind die solidarischen Binnenstrukturen und Arbeitsweisen denen von Künstler*innengruppen vergleichbar und meine Erfahrung ist, dass diese Art des Produzierens auch in unterschiedlichen Kunstkontexten anwendbar ist. ALTERNATIVE RÄUME UND GEGENÖFFENTLICHKEITEN Ich bin in der DDR aufgewachsen – einem Land, das es nicht mehr gibt. Dort existierte kein primär an ökonomischen Interessen orientierter, sondern ein wesentlich an politische und ideologische Bedingungen geknüpfter, symbolischer Markt. Literatur, Theater und bildende Kunst in der DDR boten neben den offiziellen Narrationen immer den Raum für Kommentare zur gesellschaftlichen Realität. Hier bildeten sich Subszenen und Gegenöffentlichkeiten aus. Unter diesen gesellschaftlichen Voraussetzungen haben sich sowohl in der DDR aber auch in vielen anderen osteuropäischen Ländern Künstler*innengruppen die Räume für Arbeit, Austausch und Repräsentation selbst geschaffen. Räume, die die jeweilige Gesellschaftsordnung nicht für sie bereithielt und nicht für sie bereithalten wollte.
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Ein mir besonders in Erinnerung gebliebenes Beispiel ist die Performancereihe Reisen aus der Stadt der Moskauer Gruppe Kollektive Aktionen (Kollektiwnyje dejstwija): am 26. Januar 1977 spannten sie im Schnee am Stadtrand Moskaus zwischen zwei Bäumen eine rote Stoffbahn mit der Aufschrift: »Ich beklage mich über nichts, und mir gefällt alles, ungeachtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiß.«² Das Banner, hier von seiner üblichen politischen und ideologischen Funktion befreit, wurde im denkbar unwirtlichsten und einem einer Ausstellungssituation fremdesten Raum installiert. Die inszenierten Dokumentationen zeigen dennoch einen weißen und abstrakten Raum, der die Kunst temporär beherbergen kann: das Schneefeld am Stadtrand. Die Aktion ist beispielhaft für die Arbeit von Kollektive Aktionen, die den Austausch zwischen Künstler*innen verschiedener Bereiche, wie bildende Kunst, Literatur, Musik, Kunsttheorie, Kritik praktizierten und zur subkulturellen konzeptuellen Kunstszene Moskaus gehörten.³ WE ARE STUDIO Wann gründen sich Künstler*innengruppen, Kollektive und Bands? Am häufigsten während der Studienzeit oder unmittelbar nach dem Abschluss an der Kunstakademie. Der Titel des vorliegenden Textes We Are Studio, stammt aus einer Klausurtagung zur Neuausrichtung des Fachbereichs Ausstellungsdesign und Szenografie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, wo ich derzeit als Professorin tätig bin. Wir Lehrenden haben u. a. ein Manifest unter dieser Überschrift formuliert, das wir anschließend mit Studierenden diskutierten. Sie spiegelten uns zunächst, dass wir in dem Text nicht nur von uns selbst und bereits Erreichtem ausgehen sollten, denn ihre Situation während des Studiums sei eine andere.
2| Das Zitat auf dem Losungsbanner stammte aus der Gedichtsammlung Nichts geschieht von Andrej Monastyrskij, der neben Nikita Alexejew, Georgij Kiesewalter und Nikolaj Panitkow zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe gehörte.
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Curricula von Studienangeboten mäandern zwischen der Ausrichtung auf die Gegenwart eines potenziellen Arbeits- oder Kunstmarkts und Manifesten, die eher eine Zielvorstellung oder künstlerische Praxis formulieren und selten der Realität am Beginn eines beruflichen Werdegangs entsprechen. Die kommende Generation von Künstler*innen und Gestalter*innen wird von Lehrenden oft bereits als eine innovative, unangepasste und selbstbewusste angenommen, die nach dem Studium in der Lage ist, bestehende Institutionen kritisch zu hinterfragen und die Gesellschaft mitzugestalten. Bei den Studierenden bemerke ich ein wiedererstarktes Interesse am kollektiven Arbeiten – auch weil hierbei die Möglichkeit besteht, zunächst mehrere ›Rollen‹ oder Aufgabenbereiche auszuprobieren. Kollektive oder kollektiv geführte Kunsträume und Arbeitszusammenhänge bieten die Möglichkeit, abseits einer Institution oder eines Marktes zunächst eine Binnenlogik zu erarbeiten und dennoch sichtbar zu werden. In Kollektiven werden Regeln erfunden und Utopien erprobt, die anschließend auf die ›Außenwelt‹ angewandt werden können. Die Arbeitsprofile sind fließender und Aufgabenfelder finden sich mehr, als dass sie vorgegeben werden. Der Druck, sich in Bezug auf bereits bestehende Inhalte und Ästhetiken zu definieren, wird verringert und die gesellschaftliche Positionierung der eigenen Arbeit erleichtert. STRUKTURWANDEL DER ARBEIT – KÜNSTLER*INNEN ALS ›ICH-AGS‹ Die Figur des/der Künstler*in als flexible Selbstausbeuter*in – ist sie der Figur des/der Zwischennutzer*in von urbanen Leerständen als Vorreiter*in der Gentrifizierung ähnlich? Begegnet ist mir diese Hinterfragung der künstlerischen Identität erstmals beim Festival Reich und Berühmt! am Berliner Podewil vor beinahe zwanzig Jahren. Im szenischen Text Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr von René Pollesch erkannten wir uns als Theater- und Kunstproduzent*innen damals wieder. 3| 2005 fand in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel eine Ausstellung zum Thema Kollektive Kreativität statt, in der neben vielen anderen auch Dokumentationen der Kollektiven Aktionen ausgestellt wurden.
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›Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr.‹ – ›Sie arbeitet nicht mehr zuhause.‹ ›Aber du könntest Verhältnisse herstellen, zuhause oder an deinem Arbeitsplatz, die dein Leben nicht zu der Wahnvorstellung werden lassen, es gäbe irgendwo anders ein lebenswertes Leben.‹ ›Das gibt es nämlich nicht!!‹⁴ Im Jahr 2000 war der Digitalnomade ohne Büro und ohne Kolleg*innen eine neues Phänomen. Der Text Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr beschäftigt sich mit der unauflösbar gewordenen Vermischung der Bereiche Arbeit und Wohnung. Pollesch treibt die Fiktion bis zum Bild der obdachlosen Telearbeiterin, die ihr Notebook überall mit der Welt und dem Strom verbinden kann, auf die Spitze. René Pollesch schien die Erfindung der ›Ich-AG‹ vorweggenommen zu haben. Der Begriff war erstmals 2003 im Zuge des Gesetzespakets Hartz II verwendet worden und bezeichnete ein Einzelunternehmen, das von einer/m Arbeitslosen gegründet wurde. Das damals geflügelte Wort ›Ich-AG‹ reflektierte und bezeichnete unsere Situation, auch wenn wir keine Existenzgründungszuschüsse beim Arbeitsamt beantragt hatten.⁵ Seitdem gilt die Figur der Künstler*in – nicht nur in Deutschland – als Vorreiter*in neoliberaler Arbeitsformen, die Flexibilität, individuelle Initiative und Kreativität fördern sollen. Der sogenannte ›Strukturwandel der Arbeit‹ lässt sich vor dem Hintergrund der seitdem allgemein zunehmenden Subjektivierung von Arbeit nachvollziehen. Selbstorganisiert freischaffend Arbeitende gibt es in einer wachsenden Anzahl von Bereichen. Eine Folge dieser Prozesse ist die Verschiebung von der gesellschaftlichen zu einer individuellen Verantwortung. In der Konsequenz fallen traditionelle Solidaritäts- und Regulierungsmechanismen der Angestelltengesellschaft weg. Immerhin haben Künstler*innen die Möglichkeit, ihre eigene Situation, die Strukturen in denen sie sich befinden, mit ihren eigenen Mitteln und Medien zu reflektieren und unter Umständen sogar Lösungen zu entwickeln, 4| René Pollesch: »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr«, 2000, in: René Pollesch: world wide web-slums, Hamburg 2003.
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um soziale Bindungen und Solidarität zurück in die individualisierten Arbeitspraktiken zu bringen. Eine umfassende Analyse von Prozessen des Strukturwandels der Arbeit bietet die von dem Choreografen Jochen Roller zwischen 2002 und 2004 entstandene Trilogie perform/ performing. In perform/performing beschreibt Roller die Produktionsbedingungen seiner Arbeit in Form von tänzerischen Lecture-Performances. Spielerisch findet er für den scheinbaren Gegensatz von Kunst und Arbeit immer wieder neue Vergleichsmaßstäbe, um etwas über den ›Mehrwert‹ herausfinden zu können. Im ersten Teil No money, no love (Premiere 2002, Podewil, Berlin) rechnet er vor, wie viel er mit seiner künstlerischen Arbeit verdient und was Tanz kostet. Die aufgestellte Rechnung ergibt, dass er mehrere andere, zusätzliche Berufe ausüben muss, um als Tänzer arbeiten zu können. In der Aufführung fallen die Performance der Arbeit in anderen Berufen, wie als Verkäufer in einem Modeladen, als Mitarbeiter eines Call-Centers oder als Verkäufer eines Muskeltrainingsgerätes mit der Aufrechnung des Ertrages der Lohnarbeit und der Kosten der Produktion einer Performance sowie eines Selbstausbeutungsfaktors zusammen. Im zweiten Teil der Trilogie Art Gigolo (Premiere 2003, Kampnagel, Hamburg) nimmt er die Perspektive der Unternehmensberatung ein und performt z. B. die Choreografie eines isländischen Kollegen, die er zuvor auf ebay ersteigert hatte und plant, nach der Performance weiterzuverkaufen. Das Ergebnis beweist wiederum, dass er als Tänzer keineswegs rentabel arbeiten kann. Als Alternative bietet sich Jochen Roller dem Publikum als bezahlten Liebhaber, als ›Art Gigolo‹ an. In That’s the way I like it! (Premiere 2004, Sophiensæle, Berlin), dem letzten Teil seiner Trilogie interviewt der Künstler fünf andere Mitbürger, die wie er Jochen Roller heißen; unter anderem sind sie Steuerzahler, die den Künstler Jochen Roller mit subventionieren. Im Gespräch mit ihnen entwickelt er Ansätze für den Beruf des/der Künstler*in in der zukünftigen Gesellschaft. 5| Die Ich-AG wurde 2006 durch eine ähnliche Maßnahme der Arbeitsmarktregulierung, dann »Gründungszuschuss« genannt, abgelöst. Seit 2011 ist es eine sogenannte Ermessensleistung und heißt »Einstiegsgeld«.
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Die dreistündige Solo-Trilogie perform/performing (2002– 2004) wurde 147 Mal aufgeführt, tourte in über 12 Ländern und wurde 2009 vom Auktionshaus Christie’s in Hamburg versteigert. Der Strukturwandel der Arbeit und die zunehmende Individualisierung beeinflussen auch Konzepte der Ausbildung. 2013 nahm ich an der Tagung Das Künstlerbild heute und morgen: Wie ändert sich das Hochschulstudium der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin teil. Der begleitende Programmzettel enthielt eine Einleitung mit folgendem Text: Der Gedanke, nicht nur als künstlerisch schaffender Mensch, sondern auch als geschäftstüchtiger Rechner, marketingorientierter Stratege und kommunikativer Selbstdarsteller aufzutreten, behagt nicht jedem ›Kreativen‹. Aktiv nach ›draußen‹ zu gehen, sich selbst und seine Produktionen zu vermarkten, verlangt vor allem am Anfang der Karriere Überwindung. Wer sich jedoch dafür entscheidet, von seiner künstlerischen Arbeit leben zu wollen, sich nicht nur darauf verlässt, dauerhaft eine Stelle in einem Ensemble, an einem der staatlich subventionierten Theater zu bekommen, der muss sich mit der ›Kunst der Selbstständigkeit‹, mit dem ›Künstler als Marke‹ auseinandersetzen. Professionelles Arbeiten heißt heute nicht mehr nur, künstlerisch wie handwerklich exzellent zu sein. Es bedeutet auch, seinen ›Markt‹ zu kennen und sich in ihm erfolgreich zu positionieren. Wer schon während der Ausbildung neben seinen künstlerisch-handwerklichen auch seine unternehmerischen Fähigkeiten entwickelt, hat danach die besseren Chancen. Neue Begrifflichkeiten und Inhalte wie Employability oder Kompetenzorientierung halten Einzug in die Curricula der Kunst- und Musikhochschulen. […]
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Wie eine nachträgliche Bestätigung der von Jochen Roller in perform/performing gezeigten Analyse traten zwischen den einzelnen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen Absolvent*innen der HfS »Ernst Busch« mit kurzen künstlerischen Beiträgen auf, was auf mich als Tagungsteilnehmerin wirkte, als würde die Kunst hier vielleicht unbeabsichtigt aber aktiv in die Rolle von Unterhaltung und Self-Marketing gedrängt. Im selben Jahr entwickelte ich gemeinsam mit der Regisseurin Gudrun Herrbold und der Kuratorin und Dramaturgin Stefanie Wenner das Konzept Play – neue Handlungsräume für Theaterarbeit. Im Format eines kollaborativen Forschungsprojektes sollte nach Alternativen zu den neoliberalen Tendenzen der Gegenwart gesucht werden.⁶ In unserem Konzept formulierten wir: Seit langem zeichnet sich eine Schere zwischen dem Künstler als gesellschaftliches Modell der Ich-AG mit Vorbildwirkung und Überforderungstendenzen ab. Kultur wird nicht mehr als gesellschaftlicher Gegenentwurf eingesetzt, weil die Kultur sich kaum mehr auseinandersetzt mit einer Form von Potenzialität. Uns sollte es vielmehr darum gehen, neue ästhetische Konzepte für Arbeits- und Handlungsräume zu suchen, die jenseits der Dienstleistung angesiedelt sind. Schauspieler*innen könnten als soziale Akteur*innen begriffen werden, die ihre ästhetischen Kompetenzen für neue kulturelle und gesellschaftliche Handlungsräume einsetzen. Das Theater könnte als Allegorie für soziale Interaktion thematisiert werden, die sich nicht nur an den bestehenden Strukturen orientiert, sondern diese umdenkt und mitgestaltet.
6| Dieses Konzept erhielt keine öffentliche Förderung und blieb unrealisiert.
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[Abb.6] S.063
UTOPIE UND ALLTAG Künstler*innen gelten nicht nur als Vorreiter von flexiblen Arbeitsformen, sondern sind auch in besonderer Weise von prekären Situationen, die mit diesen einhergehen, betroffen. Insbesondere Künstler*innen, die Eltern sind und/oder einfach älter werden, erleben eine Stagnation oder Unterbrechung ihres beruflichen Werdegangs und werden von außen oftmals als zu ›unflexibel‹ für den freien Auftragsmarkt eingestuft. Die fragile Situation von Künstler*innen führt zu übermäßigem Anpassungsdruck und enormer Selbstausbeutung. Dabei neigen sie als trainierte Einzelkämpfer*innen dazu, die strukturellen Ursachen ihrer Situation nicht zu erkennen. 2017 initiierte die Berliner Künstlerin Magdalena Kallenberger gemeinsam mit weiteren Kolleginnen das internationale Kollektiv Maternal Fantasies, zunächst als losen Interessenverbund. Die Intentionen des Zusammenschlusses beschreibt sie auf ihrer Webseite folgendermaßen: We (re)connected in 2018 to share experiences and insights into the most marginalised topic within both the art world and feminist discourse: Motherhood. We join forces to embrace, discuss, elaborate and express contrasting experiences and family stories, memories, fantasies, desires and horror scenarios related to ›Maternal Fantasies‹ …⁷ Maternal Fantasies realisierte zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen und gewann bereits 2019 den Förderpreis der Arthur Boskamp-Stiftung in Schleswig-Holstein. Aus meiner Sicht ist Maternal Fantasies ein Beispiel dafür, wie ein stark marginalisiertes Thema mithilfe einer kollektiven Initiative überhaupt als ein Thema der Kunstproduktion professionell wahrnehmbar und in der Öffentlichkeit platziert werden kann. Kollektive bilden sich, wenn es notwendig und sinnvoll erscheint, um bestimmte Themen und gesellschaftspolitische Ansprüche 7| Online: http://www.mkallenberger.de/ collaborations/maternal-fantasies (5.1.2020).
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zu formulieren. Sie können sich unabhängig und schnell in unterschiedlichen Zusammensetzungen formieren, abhängig von Projekten und Inhalten. Die Gruppen entstehen unabhängig vom Kunstmarkt, identifizieren sich lokal im Kunstfeld und spielen häufig nicht ausreichend Geld für den Lebensunterhalt ein. Kollektive und dialogische Arbeitsformen sind heute in vielen unterschiedlichen Ausprägungen Teil der zeitgenössischen Kunstpraxis über alle Gattungsgrenzen hinweg. Sie stellen viel mehr als nur eine Ausnahme oder Abweichung von der Figur des individuellen künstlerischen Genies dar. Kollektives Arbeiten kann Strategie und/oder Statement in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen sein. Es bildet eigene Spiel- und Gestaltungsräume aus und bedient damit oft auch eine alternative Öffentlichkeit. In einer wechselnden Spannung zwischen dem Abschotten, um eigene Ausdrucksformen zu entwickeln, und der Aneignung von physischen Räumen, die dann für das Publikum geöffnet werden, hat es seine eigenen Ausdrucksformen und -medien entwickelt und stärkt die Entwicklung der Positionierung der eigenen Kunstproduktion im Verhältnis zur Gesellschaft. We Are Studio … oder wie Bernadette La Hengst es formuliert: »Gründet mehr Bands, da lernt man sich kennen.«⁸
8| Zit. nach dem Song ›Wir sind die Vielen‹, von dem gleichnamigen Album erschienen bei Trikont, 2019; online: http://lahengst.com/ wir-sind-die-vielen/#vielen (2.2.2020).
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[ABB.2] S.049
[ABB.1] She She Pop, Foto: Katrin Ribbe
[ABB.2] She She Pop, Foto: Barbara Dietl
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[ABB.3] S.052
[ABB.4] S.052
[ABB.3–4] Kollektive Aktionen, Reisen aus der Stadt, 1977
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[ABB.5] S.055
[ABB.5] Jochen Roller, That's the way I like it, 2004
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[ABB.6] S.058
[ABB.6] Maternal Fantasies, Landpartie, 2018
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WAS BRAUCHT DIE KUNST? EMMANUEL
MIR
Der rhetorische Kniff des Titels ist leicht durchschaubar: Dieser Text handelt nicht von der Kunst, sondern von den Künstler*innen. Es geht hier um die Bedürfnisse und Erwartungen der Kunstproduzent*innen (soweit ich sie in meiner Funktion wahrnehme), um einige ausgewählte Themen, die sie ein Berufsleben lang begleiten und die teilweise für Unsicherheit sorgen. Dabei werde ich auf den folgenden Seiten die tatsächliche künstlerische Arbeit vollkommen ausblenden, um mich auf strukturelle Bedingungen zu konzentrieren, die eine künstlerische Aktivität bzw. eine Existenz als Kunstschaffende überhaupt ermöglichen. Und noch etwas möchte ich vorausschicken: Meine Beobachterposition ist institutionell verankert. Als Leiter des Landesbüros für bildende Kunst in Nordrhein-Westfalen (LaB K) ist es meine Aufgabe, mögliche strukturelle Defizite im Beruf der Künstler*innen aufzuspüren und durch Beratung, Orientierung und Professionalisierungsmaßnahmen zu kompensieren. Es gibt in Deutschland wenige institutionelle Einrichtungen, die sich ausschließlich mit den Belangen des Künstler*innenberufs auseinandersetzen. Genau genommen gibt es zwei: das Kunstbüro der Kunststiftung Baden-Württemberg und das LaB K, an dessen Gründung Anfang 2017 ich beteiligt war. Bei der Entwicklung des LaB K war das Kunstbüro in Baden-Württemberg als Vorbild nur bedingt hilfreich, denn die baden-württembergische Kunstlandschaft lässt sich nicht auf allen Ebenen mit der nordrhein-westfälischen vergleichen. Das bevölkerungsreichste Land der Bundesrepublik ist in der Tat ein regelrechtes ›Kunstland‹ mit einem kompakten Museumsnetz, einer großen und gut organisierten Künstler*innenszene, einer regen Sammler*innengruppe mit Verbindung zum internationalen Kunstmarkt und nicht zuletzt einem gut informierten und unternehmungs-
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lustigen Publikum. In NRW sind schätzungsweise 10.000 bis 12.000 Produzent*innen tätig, die nicht nur die Kunstmetropolen Köln und Düsseldorf beleben, sondern, und das macht die NRW-Szene besonders: ebenso aktiv an der ›Peripherie‹ sind, egal ob sie Kleve, Bielefeld, Wuppertal oder Bochum heißt. Konfrontiert mit dieser in Europa einmaligen Dichte an Akteuren und Institutionen, musste bei der Gründung des LaB K zunächst ein Fahrplan entwickelt werden. Noch vor jedem konkreten Schritt reichte eine oberflächliche Betrachtung der Situation, um festzustellen, dass diese Einrichtung sowohl mobil als auch virtuell zu sein hatte. ›Virtuell‹ heißt, dass die wichtigsten Informationen zum Künstler*innenberuf jederzeit auf einer gut strukturierten und noch besser lesbaren Internetseite abgerufen werden können. Damit bleibt eine mühsame Suche im Datendschungel erspart; die bisher verstreuten Angaben zu Stipendiensuche, Sozialversicherung, Steuer- oder Rechtsangelegenheiten, Residenz-Programmen etc. sind nun auf einer Plattform konzentriert. ›Mobil‹ heißt, dass wir die Kunstschaffenden da abholen müssen, wo sie leben und arbeiten. Mit unserem Standort in Kornelimünster bei Aachen – das LaB K ist aktuell angegliedert an das dortige Kunsthaus NRW – können wir uns nicht auf Laufkundschaft verlassen und arbeiten daher mit einem dezentralen Beratungs- und Weiterbildungsangebot im gesamten Land. Das LaB K ist auf viele Partnerinstitutionen in den Regionen und Städten angewiesen, bei denen wir uns für die Zeit einer Beratung oder einer Veranstaltung einladen. Die flächendeckende Professionalisierung zwingt zum Nomadentum. Das Angebot des LaB K ruht auf drei Säulen. Die erste ist unsere ›Sprechstunde‹ mit Beratungen rund um Rechts-, Steuer- oder KSK-Fragen, die demnächst um eine Portfolioberatung erweitert wird. Die zweite Säule wird vom ›Kunstmentorat NRW‹ gebildet, bei dem erfahrene mit unerfahrenen Kunstschaffenden für eine Laufzeit von 14 Monaten in einem Tandem zusammengebracht werden. Der kollegiale Austausch geht mit einer persönlichen Einführung in die ungeschriebenen Regeln des Kunstbetriebs einher und trägt so zur Professionalisierung
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des/der unerfahrenen Kunstschaffenden bei. Die dritte Säule ist die ›Mobile Akademie‹, das diskursive Veranstaltungsprogramm des LaB K, mit Symposien und Podiumsdiskussionen zu aktuellen Themen der Kulturpolitik. Dieses Angebot entstand nicht etwa am Reißbrett oder im luftleeren Raum eines ministerialen Verwaltungstrakts, sondern wurde nach Sondierungsgesprächen mit der Basis entwickelt. Da das LaB K als Top-down-Einrichtung geplant wurde, war es mir von Anfang an wichtig, zu signalisieren, dass die Tür des Büros stets offen ist und dass ich mich über den Austausch mit Akteur*innen des regionalen Kunstfeldes nicht nur freue, sondern dass dies ein wesentlicher Teil meiner Aufgabe ist. Unter dem Titel Was braucht die Kunst? fanden 2017 acht Podiumsdiskussionen an verschiedenen Standorten und zu jeweils verschiedenen Themen statt, bei denen sich viele Arbeitsthesen bildeten. Flankiert von zahlreichen privaten Gesprächen mit Vertreter*innen der Kulturpolitik und der Kunstszene, ergab dieser Austausch ein immer klarer werdendes Bild der Bedürfnisse der Künstler*innen im Lande. Und damit konnten auf pragmatische Art die Fragen nach Natur, Struktur und Funktion eines Landesbüros für bildende Kunst ansatzweise beantwortet werden. Eine der ersten Erkenntnisse dieser Gesprächsreihe betraf die Ausbildung der Künstler*innen an den Hochschulen. An dieser Stelle möchte ich nicht auf die Inhalte der Debatten zwischen Verfechter*innen und Gegner*innen des Kunstakademie-Modells zurückkommen und schon gar nicht auf die Auswirkungen des Bologna-Prozesses für die Kunstlehre eingehen. Auch wenn ein Landesbüro für bildende Kunst sich früher oder später in die Bildungsdiskussion einschalten und seine Expertise zur Geltung bringen muss, möchte ich fürs Erste den Wissensstand von Kunststudierenden über die Realität ihres künftigen Berufs in den Blick nehmen. Es gilt – zumindest in Nordrhein-Westfalen – als ausgemacht, dass die Vorstellung der Betroffenen über das, was diese nach
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ihrem Kunststudium erwartet, realitätsfremd ist. Oder viele sich erst gar keine weiteren Gedanken darüber gemacht haben. Gespräche mit jungen Absolvent*innen, egal ob aus Köln, Düsseldorf oder Münster, bestätigten den Eindruck, den ich aus dem eigenen Kunststudium in den 1990er-Jahren gewonnen hatte: Es wird in Kolloquien und Seminaren über vieles diskutiert, in den seltensten Fällen geht es jedoch um die scheinbar triviale Frage des Berufsalltags. Die Einsicht, dass die Realität der künftigen Tätigkeit weit mehr umfasst als die begrenzte Realität des Ateliers, ist wenig verbreitet. Gewiss ist die Sensibilisierung für Professionalisierungsthemen während der Ausbildung in den letzten Jahren gestiegen, aber die Kunsthochschulen – zumindest in Nordrhein-Westfalen – bereiten ihre Studierenden immer noch nicht genug auf die Zukunft vor. Zum Studienbeginn wird zwar oft und gerne – als eine Art kunstakademisches Angstritual – von diesen berühmten fünf Prozent gesprochen, die es je schaffen werden, erfolgreich im Kunstbereich Karriere zu machen. Aber keiner spricht davon, dass diese fünf Prozent es u. a. nur deswegen so weit bringen, weil sie mehr als fünfzig Prozent ihrer Arbeitszeit in (selbst-) verwaltungstechnische Aufgaben investieren. Stattdessen vermitteln viele Professor*innen den Eindruck, dass jede/r Studierende die Regeln des Kunstfeldes intuitiv erfassen und verinnerlichen sollte und dass diejenigen, die diese natürliche Fähigkeit nicht mitbringen, ganz automatisch ausgesiebt würden. Dieser vor allem in Kunstakademien (mit ihrer Meisterschüler*innenStruktur) verbreitete Sozialdarwinismus kann als Beleg dafür gelten, dass das Kunstfeld eine wunderbare – wenn auch unwillkürliche – Maschine der Implementierung neoliberaler Prinzipien ist. Die professionalisierende Antwort auf das Versagen der Kunsthochschulen findet man in den Angeboten von freien Kunstberater*innen, die in diese strukturelle Lücke springen und Management- oder Marketingworkshops für Kunstschaffende entwickeln. Die Nebenprodukte dieser lukrativen Workshops findet man wiederum in den Auslagen spezialisierter Buchhand-
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lungen, wo seit den 1990er-Jahren eine auf die Bedürfnisse von Absolvent*innen der Kunsthochschulen zugeschnittene Ratgeberliteratur floriert. Mit Titeln wie Eine Galerie finden, Selbstmanagement im Kunstbetrieb oder Wie überlebe ich als Künstler? versprechen diese Kompendien eine Unterstützung für Berufsanfänger*innen im intransparenten Kunstfeld. Neben trivialen Empfehlungen und hochtrabenden Allgemeinplätzen findet man auch alltagstaugliche Tipps und hilfreiche Informationen zum Künstler*innenberuf. Als Start in die Karriere sind diese Bücher und Workshops also nie ganz nutzlos – auch wenn sie meistens das merkwürdige Bild eines durch und durch ökonomisierten Kunstschaffenden verbreiten, der sich in eine erfolgreiche Marke zu verwandeln hat, um seine Botschaft zu kommunizieren. Gerade aus letzterem Grund möchte ich das Feld der individuellen Qualifizierung in der Kunst nicht den freien Kräften des Marktes überlassen und bin der Auffassung, dass eine Institution wie das LaB K als Korrektiv eines unbeaufsichtigten und völlig rahmenfreien Weiterbildungsangebots fungieren sollte. Eine weitere Erkenntnis, die aus der oben erwähnten Gesprächsreihe resultierte, betrifft die zunehmenden Schwierigkeiten, die alternde Künstler*innen gegen Ende ihrer Karriere erfahren. Der gesellschaftlichen und demografischen Entwicklung in Westeuropa ist es geschuldet, dass wir aktuell eine Zeit erleben, in der die Künstler*innen der Babyboomer-Generation ein kritisches Alter erreichen. Wer sich im Alter von vierzig Jahren keine Reputation im lokalen oder regionalen Kunstbetrieb aufgebaut hat, gerät in eine zunehmend schwierige Situation: Fördermechanismen für Nachwuchskünstler*innen greifen nicht mehr und die Netzwerke aus der Studienzeit lösen sich zunehmend auf. Und wer mit siebzig oder mehr Jahren kein Vermögen besitzt und sich nicht auf die Sicherheit von regelmäßigen Verkäufen oder Aufträgen verlassen kann, sollte sich auf einen unangenehmen Lebens-
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abend vorbereiten. Diejenigen, die sich bisher durch die Hindernisse eines selbstbestimmten Künstler*innenlebens einigermaßen glimpflich durchmanövriert haben, erfahren jetzt die Härte ihrer Situation: Sie können sich nicht mehr mit Jobs über Wasser halten, werden in Ausstellungsinstitutionen kaum wahrgenommen, sind teilweise physisch nicht mehr in der Lage, größere Arbeiten zu produzieren, werden von Gentrifizierungsprozessen aus ihren Ateliers gedrängt und müssen dabei zusehen, wie sich ihr sozioberufliches Umfeld ausdünnt. Mit 75 Jahren lässt sich eine prekäre Existenz weniger gut meistern als mit 25 oder 35. Das Stigma der Exklusion bei älteren Künstler*innen ist umso perfider, als es weitestgehend unsichtbar bleibt. Wenn die Künstler*innen schon keine Lobby haben, gilt dies noch stärker für die Senior*innen unter ihnen. Man könnte sie in bester neoliberaler Manier sich selbst überlassen und sie mit Hartz IV und Grundrente vor der Verwahrlosung bewahren (das ist übrigens genau das, was momentan in Deutschland geschieht). Schließlich haben sie sich dieses Leben ausgesucht, also warum sollte man in Not geratenen Künstler*innen helfen? Rettet man in Not geratene Architekten*innen, Apotheker*innen oder Börsenmakler*innen? Man könnte aber auch über sinnvolle Maßnahmen zur Vorbeugung von Altersarmut im Kunstfeld nachdenken. Dies könnte und sollte vielleicht sogar eine Aufgabe für ein Landesbüro für bildende Kunst sein. Es bedeutet, dass die Probleme identifiziert, Lösungsansätze öffentlich diskutiert und Handlungsempfehlungen an die Politik gereicht werden müssen. Dabei sollten die bereits existierenden und unabhängigen Strukturen der Künstler*innen (Deutscher Künstlerbund, BBK, GEDOK etc.) nicht nur bloß einbezogen werden, sondern im Sinne eines kulturpolitischen Empowerments in den Vordergrund gerückt werden. Ein Landesbüro für bildende Kunst sollte nämlich die Grenzen seiner Aufgabenbereiche kennen und nicht überschreiten; nie kann eine Institution der öffentlichen Hand die Arbeit selbstorganisierter Gruppierungen und Verbände ersetzen. Im besten Fall unterstützen wir mit unserem Know-how
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und unseren Mitteln langwierige politische Prozesse, die aber von der Basis belebt und in Gang gesetzt werden. Im ständigen Austausch mit den engagierten Partnern aus der Kunstproduktion versteht sich das LaB K daher als Moderator und teilweise als Anreger von Debatten. Und nie als Instrument der Gestaltung kulturpolitischer Inhalte. Auf diese Gefahr der ›Kolonisierung‹ durch gutgemeinten Aktionismus möchte ich besonders aufmerksam machen. Ich könnte eine Reihe von Themen nennen, die sich aus unseren Gesprächen und Konsultationen während der letzten drei Jahre herauskristallisiert haben. Dazu gehören beispielsweise die nicht immer störungsfreie Kommunikation von Künstler*innen mit der Verwaltung, die geringe Repräsentation von Frauen in (Kunst-)Institutionen und auf dem (Kunst-)Markt oder das Spannungsverhältnis zwischen den Kunstmetropolen und der Peripherie, die in Nordrhein-Westfalen eine besondere, vielleicht einmalige Ausprägung besitzt. Aber ich möchte auf ein anderes Phänomen zurückkommen. Wertschätzung ist das, wonach die Künstler*innen sich, so ist meine Erfahrung, am meisten sehnen. Es ist der Schlüsselbegriff, der am Ende von Tagungen und Podiumsgesprächen, wenn die ›harten‹ Themen ausdiskutiert sind und das Publikum formlos ans Eingemachte geht, in den Saal tönt. Den Ruf nach mehr Wertschätzung habe ich in Paderborn, Düsseldorf und BedburgHau gehört, sowohl von arrivierten Künstler*innen als auch von sogenannten ›serious leisure-artists‹, also halbprofessionellen Amateur*innen. Was bedeutet dieses Verlangen nach Wertschätzung? Es geht nicht um die Erfüllung eines emotionalen Defizits. Es geht nicht mal um mehr Ansehen. Ich glaube, viele Künstler*innen würden sich damit begnügen, überhaupt gesehen zu werden. Mehr Wertschätzung heißt ganz einfach, angeschaut zu werden. Mit einem Blick gewürdigt zu werden. Dass die Gesellschaft endlich gewahr wird, was für einen tiefgreifenden, langfristigen Beitrag zur kulturellen Selbstdefinition und zu ihrem Zusammen-
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halt Künstler*innen eigentlich leisten. Dass sie versteht, dass sie ohne Künstler*innen zu einer geist- und seelenlosen Maschine wird, die zwar weiterhin wunderbar funktionieren, aber nie existieren wird. Endlich die simple, bescheidene Anerkennung für die eigene Arbeit ernten. Mindestens die gleiche soziale Achtung gegenüber der Berufswahl erfahren wie Angehörige der Finanz-, Management- oder Industriebranche. Um diese legitime Anerkennung zu erhalten und von der breiten Bevölkerung nicht mehr bloß als interessanter Exot, fragwürdiger Paria oder stilvolles Ventil eingeschätzt zu werden, bedarf es jahrelanger Arbeit. Einer Arbeit der Sichtbarmachung. Es bedarf einer ständigen Präsenz in der Öffentlichkeit, eines dauerhaften und nachhaltigen Einschaltens in alle Belange unseres Lebens. Es bedarf eines Hinaussteigens aus der reinen künstlerischen Produktion und Produktionsvermittlung, um einen festen Platz in der Polis zu erlangen. Ja, Künstler*innen müssen als universelle Expert*innen in Talkshows, bei Behörden, im Bundestag und in Hochschulen ständig eingeladen werden. Sie sollen bei der Stadtplanung, bei jedem Haushaltsplan und bei der Besetzung von Vorstandsgremien um Rat gebeten werden. Sie sollen nicht zu Ingenieur*innen oder Technokrat*innen verkommen, aber genau wie die studierten Philosoph*innen, die dieses Arbeitsfeld längst für sich entdeckt haben, müssen Künstler*innen letztendlich zu Berater*innen werden, deren besondere Skills in allen sozialen Bereichen angefordert werden. An dieser Stelle mag das Bild vielleicht etwas überzeichnet erscheinen. Tatsächlich wäre es schon ein entscheidender Schritt, wenn jede deutsche Stadt einen Rat der Kunst etablieren würde – wie in München oder Düsseldorf bereits geschehen –, der sich bei einzelnen öffentlichen Fragen in gesellschaftliche Diskussionen und Prozesse einbringt. Mir ist ebenfalls bewusst, dass die vielen Künstler*innen, die in erster Linie in Ruhe arbeiten wollen, vermutlich von solch einer utopischen Vorstellung einer Kunstrepublik ziemlich überfordert wären. Aber wer sich über einen Mangel an Anerkennung beklagt, sollte überlegen, wie dies zu ändern ist.
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Wenn ich als Leiter des LaB K gefragt werde, welches die ersten pragmatischen Schritte auf dem Wege zu einer Änderung dieser dysfunktionalen Wahrnehmung der Künstler*innen sein könnten, antworte ich: Organisiert euch! Vergesst das auktoriale Klischee eines Superindividualisten, vergesst für einen Moment eure schöpferische Singularität und versteht euch als Berufsgruppe – wenn nicht sogar als Schicht, die ihre Interessen zu artikulieren und zu verteidigen hat. Strukturiert euch in Gruppen, Vereinen, Verbänden. Bringt die eigene Sache in die Welt und kommuniziert, kommuniziert, kommuniziert. Findet die für euch zuständigen Lokalpolitiker*innen in eurer Region. Trefft euch mit Vertreter*innen der Presse und der Verwaltung. Schafft eine Präsenz im öffentlichen Raum. Beteiligt euch, wo es nur geht. Es sind banale Ratschläge, beinahe der Nullpunkt der politischen Organisation. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Künstler*innen, wenn sie langfristig Sicht- und Hörbarkeit erzeugen wollen, nicht darum herumkommen. Es wurde deutlich, dass ich ein dezidiert politisches Verständnis meiner Funktion hege. Ein Landesbüro für bildende Kunst oder ein Kunstbüro sollte meiner Meinung nach deutlich mehr leisten als die (wenn auch dringend notwendige) Professionalisierung seiner ›Klientel‹. Und obwohl ich ebenso klargemacht habe, dass eine Institution wie das LaB K weder als Interessenvertretung der Künstler*innen noch als direktes kulturpolitisches Instrument des Landes dienen kann, verbinde ich meine Aktivität mit einer Agenda, die zwar nicht in erster Linie politisch ist, aber doch eine klare politische Prägung besitzt. Auch wenn es nicht zur Aufgabe des LaB K gehört, die Künstler*innen zu organisieren oder irgendeine Mobilisation zu erreichen, kann ich zumindest versuchen, strukturelle Bedingungen zu installieren, um eine atmosphärische Veränderung in der Kunstszene der Region zu erreichen. Es wird möglicherweise ein wenig romantisch verklärt klingen, aber ich hoffe beispielsweise, dass unser ›Kunstmentorat NRW‹ einen Beitrag zur Solidarisierung der Künstler*innen leisten kann. Diese
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Professionalisierungsmaßnahme ist nicht nur ein tolles Förderinstrument, sondern vielleicht ein Baustein unter vielen anderen, die zu einem Bewusstseinswandel bei den Produzent*innen in Nordrhein-Westfalen beitragen. Wenn Kolleg*innen ihre Meinungen, Einsichten und vor allem ihre Netzwerke und Zugänge miteinander teilen, entsteht auf lange Sicht eine Gemeinschaft nicht konkurrierender Individuen, die ein starkes Wir-Gefühl entwickelt und sich als Kraft – wenn nicht als Macht – auffasst. Der Begriff der Professionalisierung bekommt somit eine besondere Färbung, die eben nicht in erster Linie neoliberal geprägt ist, wie sonst so oft im Kontext von gängigen beruflichen Weiterbildungen. Tatsächlich gilt das ›Kunstmentorat NRW‹ als eine Maßnahme der sogenannten ›individuellen Künstler*innenförderung (IKF)‹. Die IKF ist ein besonderer kulturpolitischer Schwerpunkt des Landes NRW, der Produzent*innen anstelle von Institutionen oder Strukturen unterstützt. Meines Erachtens handelt es sich insgesamt um eine sehr sinnvolle Richtlinie, auch wenn sie für die verwaltenden Apparate auf lokaler oder regionaler Ebene mehr Aufwand bedeutet. Aber was heißt hier ›individuell‹? Und warum wird eine Zäsur zur bisherigen Institutionsförderung so deutlich markiert? Individuelle Sozialisationsprozesse werden letztendlich meistens kollektiv organisiert. Jede Form der Ausbildung bringt ein perfektes Beispiel dafür. Im Rahmen des akademischen Studiums und später in der beruflichen Praxis eignet sich das Individuum berufliches Wissen und Erfahrungen durch die Vermittlung von erfahrenen Kolleg*innen an; es konstruiert sein ureigenes Selbstverständnis auf der Basis gemeinschaftlich entstandener Bilder, Vorstellungen und Wertesysteme. Die Soziologin Christiane Schnell schreibt dazu: Professionalisierung auf der individuellen Ebene ist insofern als Verinnerlichung eines kollektiven Bewusstseins zu verstehen und bietet die Grundlage dafür, flexibel auf komplexe neue Problemkonstellationen eingehen zu können […] Die Entwicklung professio-
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neller Identität ist deshalb als Prozess zu verstehen, bei dem fachliche und überfachliche Kompetenzentwicklung und wertmoralische Prägungen an individuelle Motive, Erwartungen und Erfahrungen rückgekoppelt werden und somit eine biografische Eigenlogik erhalten.¹ Nochmal: Der Reiz der besonderen IKF-Maßnahme namens ›Kunstmentorat NRW‹ besteht für mich darin, das Individuum UND die Künstler*innen im Lande zu stärken. Ich sehe keinerlei Dichotomie oder gar Diskrepanz zwischen dem Einzelnen und der Gruppe; die im Mentoring-Programm vermittelten individuellen Skills kommen der Gemeinschaft zugute. Ich komme zum Schluss auf den Titel dieses Textes zurück. Ich muss zugeben, dass ich am Ende dieser Erörterung nicht nur unschlüssig bin, ob die eben skizzierten kollektivistisch geprägten Ansätze brauchbar für die Kunst sind, ich weiß auch nicht, ob Künstler*innen etwas damit anfangen können. Aber angesichts der – mittlerweile: unsichtbaren und unbemerkten – Allgegenwart neoliberaler Prinzipien in den Köpfen der Akteur*innen der Kunstwelt und der – mittlerweile: vollkommen etablierten – Vormacht marktförmiger Denk- und Handelsweisen im einst widerspenstigen Kunstfeld muss auch eine Institution wie das Kunstbüro oder das Landesbüro für bildende Kunst die Wirksamkeit seiner Instrumente evaluieren. Was lässt sich schon ausrichten? Tragen Symposien und Podiumsdiskussionen zur Entwicklung oder Stärkung einer künstlerischen Berufsidentität bei? Kann man mit einem Workshop zur Bildung einer Wohngemeinschaft für ältere Künstler*innen die professionelle Solidarität strukturell verankern? Wird das ›Kunstmentorat‹ zu einem allmählichen Mentalitätswechsel führen, um die versprengten und partikulären Künstler*innen in eine selbstbewusste Berufsschicht zu verwandeln?
1| Christiane Schnell: »Professionalisierung als Weg zur Autonomie der Künste?«, in: Uta Karstein, Nina Tessa Zahner (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes, Wiesbaden 2017, S. 373–390, hier S. 377.
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Und was genau braucht nun die Kunst? – Tatsächlich habe ich keine Antwort auf diese scheinbar einfache Frage. Auch kann ich weder mit einer eindeutigen Lösung noch mit einem festgeschriebenen Programm aufwarten. Ich navigiere auf Sicht. Dafür höre ich viel zu, probiere einiges aus, überprüfe ständig meine Handlungen, korrigiere oft meine Meinung und entwickle auf diese Art ein Konzept für das LaB K, das von außen als klare Linie wahrgenommen wird, in der Retrospektion aber als Reihe von ›Trial-and-Error‹-Schritten nachzuvollziehen ist. Ich habe keine Lösung, ich habe kein Programm, aber ich habe eine Haltung – das ist mein Kompass. Ich versuche stets, diese Haltung undogmatisch zu vertreten und bin auch bereit, sie zur Diskussion zu stellen. Ich will nichts durchsetzen, sondern Ideen ins Spiel bringen und sehen, was daraus wird. Wenn die Spieler*innen nicht darauf eingehen wollen, werfe ich neue Ideen hinein – einziger Maßstab ist, dass ich meiner politischen Grundhaltung, die natürlich auch eine ethische ist, treu bleibe. Letztlich sind es immer die Akteur*innen in der Arena, die die Entscheidungen treffen und die Qualität des Spiels bestimmen. Und wenn sie ab und zu den Ball vergäßen und aufhörten, sich nur auf ihrem begrenzten Spielbereich zu bewegen, kämen sie vielleicht auf die Idee, dass sie nicht nur über die Qualität des Spiels, sondern auch über die Schiedsrichter, die Spielregeln, das Publikum und das gesamte Stadion bestimmen könnten. Und erst dann dürften wir über eine Autonomie der Kunst sprechen.
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BIRGIT EFFINGER (BERLIN) IST KUNSTWISSENSCHAFTLERIN UND UNTERSTÜTZT KÜNSTLER*INNEN BEI DER AKTIVEN GESTALTUNG IHRER LAUFBAHN. ALS LEHRENDE AN VERSCHIEDENEN EUROPÄISCHEN KUNSTHOCHSCHULEN, PROJEKTLEITERIN DES GOLDRAUSCH KÜNSTLERINNENPROJEKTS BERLIN (BIS 2018) UND MENTORIN HAT SIE EIN BREITES METHODENREPERTOIRE ZUM EMPOWERMENT VON KÜNSTLER*INNEN ENTWICKELT. ZUDEM PUBLIZIERT SIE REGELMÄSSIG BEITRÄGE IN KUNSTZEITSCHRIFTEN ZU DEN THEMEN PROFESSIONALISIERUNG IN DEN KÜNSTEN, FRAGEN DES POLITISCHEN UND ÄSTHETISCHEN HANDELNS, AKTUELLE KUNST UND IHRE DISKURSE.
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CONSTANZE FISCHBECK (KARLSRUHE/ BERLIN) ARBEITET ALS BÜHNENBILDNERIN, FILMEMACHERIN, KURATORIN UND LEHRENDE. AUSGANGSPUNKT IHRER ARBEITEN IST DIE GEGENWART, DER RAUM UND DER GESELLSCHAFTLICHE KONTEXT SPEZIFISCHER ORTE. IN IHREN FILMISCHEN ARBEITEN VERBINDET SIE RAUMANALYSE MIT INSZENIERTEM DISKURS UND PERFORMATIVEN SOWIE DOKUMENTARISCHEN ELEMENTEN. IHRE ARBEITEN ENTSTEHEN OFT KOLLABORATIV, U. A. MIT REGISSEUR*INNEN, CHOREOGRAF*INNEN UND KÜNSTLER*INNEN. SEIT 2007 LEHRT SIE ALS DOZENTIN, U. A. AN DER HBK BRAUNSCHWEIG, DER HFG KARLSRUHE, DER RUHRUNIVERSITÄT BOCHUM, DER HMT LEIPZIG, DER UNIVERSITÄT HILDESHEIM UND DER UDK BERLIN. ZUM WINTER-SEMESTER 2019/2020 HAT SIE DIE PROFESSUR FÜR SZENOGRAFIE AN DER HFG KARLSRUHE ANGETRETEN.
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EMMANUEL MIR (DÜSSELDORF) IST KUNSTWISSENSCHAFTLER UND AUTOR – ZUVOR STUDIERTE ER FREIE KUNST AN DER KUNSTAKADEMIE DÜSSELDORF. SEIT 2017 LEITET ER DAS LANDESBÜRO FÜR BILDENDE KUNST (LAB K) IN NRW, DAS BERATUNG UND MENTORING FÜR BILDENDE KÜNSTLER*INNEN ANBIETET UND DARÜBER HINAUS KULTURPOLITISCHE DISKURSE STIFTET UND FÜHRT. EMMANUEL MIR LEHRT AN DIVERSEN HOCH SCHULEN, U. A. AN DER HBK ESSEN. SEINE FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE LIEGEN IN KUNSTSOZIOLOGISCHEN THEMEN, ZULETZT VERÖFFENTLICHTE ER DIE MONOGRAFIEN PETITES RÉSISTANCES – REBELLION ALS KUNSTFORM (2013) SOWIE KUNST UNTERNEHMEN KUNST (2014).
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WOLFGANG ULLRICH (LEIPZIG) IST KUNSTHISTORIKER UND KULTURWISSENSCHAFTLER. ER HATTE GASTPROFESSUREN AN DER HFB HAMBURG UND DER HFG KARLSRUHE INNE SOWIE ZAHLREICHE LEHRAUFTRÄGE IN DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH UND DER SCHWEIZ. 2006 BIS 2015 WAR ER PROFESSOR FÜR KUNSTWISSENSCHAFT UND MEDIENTHEORIE AN DER HFG KARLSRUHE. SEITHER IST ER FREIBERUFLICH ALS AUTOR UND BERATER TÄTIG. IN SEINEN SCHRIFTEN BEFASST SICH WOLFGANG ULLRICH MIT GESCHICHTE UND KRITIK DES KUNSTBEGRIFFS, MIT AKTUELLEN VERSCHIEBUNGEN INNERHALB DES KUNSTBETRIEBS SOWIE MIT BILDSOZIOLOGISCHEN FRAGEN UND KONSUMTHEORIE.
IMPRESSUM HERAUSGEBER KUNSTBÜRO DER KUNSTSTIFTUNG BADEN-WÜRTTEMBERG GEROKSTR. 37 70184 STUTTGART [email protected] WWW.KUNSTBUERO-BW.DE
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Redaktion Regina Fasshauer und Antonia Marten
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Kunststiftung Baden-Württemberg
Dank an die Förderer des Symposiums und der Publikation:
Leitung Kunstbüro Regina Fasshauer und Antonia Marten
Projektkoordination Mareen Wrobel Lektorat Greta Garle Gestaltung und Satz Maximilian Haslauer Druck Offizin Scheufele, Stuttgart Auflage 800 Print-ISBN 978–3–8376–5233–8 PDF-ISBN 978-3-8394-5233-2 www.doi.org/10.14361/9783839452332 Fotonachweise und Rechte Birte Endrejat, S. 45–47 [ABB.3–5], © VG Bild-Kunst Bonn, 2020; She She Pop, S. 60 [ABB.1], Foto: Katrin Ribbe; She She Pop, S. 60 [ABB.2], Foto: Barbara Dietl; Kollektive Aktionen, S. 61 [ABB.3–4], Courtesy Kollektive Aktionen. Courtesy (wenn nicht anders erwähnt) liegt bei den Künstler*innen. Die Publikation erscheint zum Symposium Avanti Dilettanti! (Oktober 2019), konzipiert von Regina Fasshauer, Antonia Marten, Silva Brand und Mareen Wrobel.
IN WELCHEM FELD BEWEGEN SICH KÜNSTLER*INNEN HEUTE UND WAS BRINGT IHRE PROFESSION GEGENWÄRTIG MIT SICH? WIE KÖNNEN SIE SICH AUF DIE KOMPLEXEN HERAUSFORDERUNGEN DER GLOBALISIERTEN KUNSTWELT VORBEREITEN UND SICH MIT IHRER KÜNSTLERISCHEN ARBEIT ERFOLGREICH POSITIONIEREN? IN DIESEM BAND, DER ZUM GLEICHNAMIGEN SYMPOSIUM DES KUNSTBÜROS ERSCHEINT, WIRD DAS THEMA DER PROFESSIONALISIERUNG IM KUNSTFELD AUS UNTERSCHIEDLICHEN PERSPEKTIVEN DISKUTIERT. MIT BEITRÄGEN VON BIRGIT EFFINGER, CONSTANZE FISCHBECK, EMMANUEL MIR UND WOLFGANG ULLRICH.