Die Reichsmusikkammer: Kunst im Bann der Nazi-Diktatur 9783412217822, 9783412223946


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Die Reichsmusikkammer: Kunst im Bann der Nazi-Diktatur
 9783412217822, 9783412223946

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Albrecht Riethmüller . Michael Custodis (Hg.)

Die Reichsmusikkammer Kunst im Bann der Nazi-Diktatur

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Joseph Goebbels bei der Deutschen Funkausstellung Berlin 1936. Bayerische Staatsbibliothek München/Fotoarchiv Hoffmann © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Katharina Krones, Wien Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth GmbH, Erftstadt Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22394-6

Inhalt

Vorwort ................................................................................................. 7 Michael Custodis Einleitende Überlegungen ..................................................................... 9 Gerhard Splitt Richard Strauss und die Reichsmusikkammer – im Zeichen der Begrenzung von Kunst?.......................................................................... 15 Oliver Rathkolb Radikale Gleichschaltung und Rückbruch statt „Neubau“. Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte der Reichsmusikkammer......... 33 Sophie Fetthauer „Unerlaubtes“ Musizieren und Unterrichten. Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer nach Paragraph 28 der „Ersten Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes“................................................................ 47 Andreas Domann „Führer aller schaffenden Musiker“. Paul Graener als nationalsozialistischer Kulturpolitiker.................................................... 69 Friedrich Geiger Werner Egk als Leiter der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer.............................................................................. 87 Martin Thrun Führung und Verwaltung. Heinz Drewes als Leiter der Musikabteilung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (1937–1944) ................................................................ 101

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|  Inhalt

Jürgen May Richard Strauss’ Lied Das Bächlein (1933). Bekenntnis zur „Führertreue“ oder Camouflage? ............................................................ 147 Susanne Schaal-Gotthardt „Die Geflügelzucht“. Hindemiths Blick auf die Reichsmusikkammer..... 163 Oliver Bordin „Der Taktstock als Waffe“. Zum Kriegseinsatz deutscher Dirigenten...... 189 Michael Custodis Bürokratie versus Ideologie? Nachkriegsperspektiven zur Reichsmusikkammer am Beispiel von Fritz Stein .................................. 221 Albrecht Riethmüller Nachlese................................................................................................. 239 Autorinnnen und Autoren...................................................................... 246 Personenregister..................................................................................... 247

Vorwort

Die im Herbst 1933 von der deutschen Regierung ins Leben gerufene Institution der Reichsmusikkammer gehörte mit ihren Parallelorganen – der Theaterkammer, der Schrifttumskammer, der Filmkammer und anderen – zu den Gliederungen der von Dr. phil. Joseph Goebbels geführten Reichskulturkammer. Im Unterschied zu den inzwischen zahlreichen Studien zu Musikerbiographien und zum Musikleben der Nazizeit ist das Wirken der Reichsmusikkammer, die damals die Stelle war, an der das Musikleben zentralistisch verwaltet wurde, bislang nicht zusammenhängend untersucht worden. Den institutionellen und personellen Wirkungsmechanismen dieser Organisation gilt der vorliegende Band. Zwei prominente Räder im Getriebe der Reichsmusikkammer sind nicht mit eigenen Beiträgen bedacht: der kurzfristige erste Vizepräsident Wilhelm Furtwängler und der langjährige zweite Präsident Peter Raabe. Dem „Fall Hindemith“, der 1934 Furtwänglers Ausscheiden aus seiner Funktion in der Kammer auslöste, ist inzwischen so ausgiebige schriftstellerische Aufmerksamkeit zuteilgeworden, dass er als bekannt vorausgesetzt werden darf, während es einstweilen abzuwarten bleibt, ob die bei Weitem noch nicht abgeschlossene Aufarbeitung der Spruchkammerakte Furtwängler neues Licht auch auf seine Tätigkeit in der Kammer liefern wird. Und über die präsidiale Rolle des Dirigenten und Kulturfunktionärs Raabe informiert die 2004 bei Böhlau erschienene Monografie von Nina Okrassa, auf die nachdrücklich hingewiesen sei, so ausgiebig, dass derzeit nichts Neues berichtenswert erscheint. Versammelt sind hier die Beiträge einer unter dem Titel Die Reichsmusikkammer. Im Zeichen der Begrenzung von Kunst durchgeführten Tagung, die vom 27. bis 29. Juni 2013 im Clubhaus der Freien Universität Berlin in der Zehlendorfer Goethestraße stattgefunden hat. Veranstaltet wurde sie vom Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ und des Seminars für Musikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie war die dritte in einer Reihe, die 1999 in Zusammenarbeit mit Michael H. Kater am Canadian Centre for German and European Studies an der York University in Toronto zum Thema Music and Nazism. Art under Tyranny begann (erschienen Laaber 22004), 2002 an der Freien Universität Berlin fortgesetzt durch

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|  Vorwort

Deutsche Leitkultur Musik? Musikgeschichte nach dem Holocaust (erschienen Stuttgart 2006). Unser Dank gilt zuvörderst den Kolleginnen und Kollegen, die ihre Beiträge für die Drucklegung ausgearbeitet und zur Verfügung gestellt haben. Er gilt desgleichen Martina Fuchs (Berlin) und Christoph Weyer (Dresden) für die Unterstützung bei den redaktionellen Arbeiten sowie Susanne Kummer für die Hilfe bei den Korrekturen. Dem Böhlau Verlag, namentlich Johannes van Ooyen, danken wir für die unkomplizierte Zusammenarbeit, schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie dem Institut für Musikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster für Beihilfen zu den Druckkosten. Berlin und Münster i. W., März 2015

Albrecht Riethmüller Michael Custodis

Einleitende Überlegungen Michael Custodis

Das Bemühen, im Abstand von Jahrzehnten die Macht und Bedeutung einer Behörde wie der Reichsmusikkammer (RMK) zu rekonstruieren, geht mit grundlegenden Schwierigkeiten einher, die zugleich Hinweise darauf geben, weshalb ein solches Unternehmen auch heute weiterhin kompliziert ist: Mit einprägsamer Kürze repräsentiert der Name dieser Institution einen totalitären Anspruch im Dritten Reich, die Musik insgesamt mit allen ihren berufsständischen Bereichen in einer Verwaltung zu zentralisieren, die nach innen in einzelne Fachschaften für Komponisten, praktische Musiker, Verleger, Musikalienhändler, das Konzertwesen sowie die Laienmusik (Chorwesen und Volksmusik) untergliedert wurde. Da die tatsächlichen Tätigkeiten von Behörden sich allerdings nicht über ihre Aufgabenstellung abstrakt bestimmen lassen, sondern vor allem an der Amtsführung und dem Berufsverständnis der mit der Umsetzung betrauten Personen zu bemessen sind, ist bereits hier ein erster Unschärfefaktor zu gewärtigen. Denn entweder wäre eine Darstellung darauf zu konzentrieren, einzelne Personen in ihrem Tätigkeitsfeld repräsentativ herauszugreifen, oder die Aufmerksamkeit wäre auf ausgewählte Vorgänge zu richten, deren Relevanz retrospektiv an ihren Folgen abgelesen wird. Abgesehen von der drohenden Unübersichtlichkeit wie auch der zu hohen oder zu geringen Detailschärfe einer solchen Beschreibung müsste sie vor allem das methodische Problem bewältigen, die personellen Strukturen und die von ihnen abgewickelten Vorgänge überhaupt anhand von überlieferten Unterlagen rekonstruieren zu können. Nachdem die erste Generation der Nachkriegsmusikwissenschaftler die Aufarbeitung der NS-Zeit in ihrem Fach effektiv verhinderte und entsprechende Vorbehalte an ihre Schüler weiterreichte, setzte in den 1980er Jahren ein seither kontinuierlich wachsendes, international immer breiter aufgestelltes Forschungsinteresse ein, das eine Vielzahl von Einzelstudien mit Grundlagenarbeiten zur Musik im NS-Staat flankierte und dabei auch die Reichsmusikkammer verstärkt mit berücksichtigte.1 Diese Entwicklung korrelierte 1 Siehe u. a. Albrecht Dümling, Musik hat ihren Wert. 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in Deutschland, Regensburg 2003; Friedrich Geiger, „Einer un-

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mit den weltpolitischen Veränderungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als zum einen die von den Besatzungsmächten auseinandergerissenen Aktenbestände zur RMK teilweise wieder zusammengeführt werden konnten und zum anderen unbekannte oder bislang unzugängliche Archivbestände in Osteuropa zugänglich wurden. Zurückkommend auf die Funktion der RMK war sie wiederum nur ein Teilbereich innerhalb der Reichskulturkammer, in der man sie neben die verwandten Professionen von Film, Theater, Literatur und Presse platzierte, um im Verbund alle Bereiche des geistigen Lebens gleichzuschalten. Dass dieser Anspruch zur bürokratischen Erfassung der gesamten Kultur einzig ihrer ideologischen Durchdringung diente, ergibt sich aus der von Joseph Goebbels durchgesetzten Zuweisung der RMK in den Zuständigkeitsbereich seines Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda. Ähnlich formulierte es Peter Raabe im Herbst 1940 in einem programmatisch betitelten Beitrag Was die Reichsmusikkammer nicht ist, der bezeichnender-

ter hunderttausend“. Hans Hinkel und die NS-Kulturbürokratie, in: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil II 1933–1966, hg. von Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister (= Musik in Dresden 5), Laaber 2002; Eduard Mutschelknauss, Peter Raabe im Dritten Reich: Formen zwischen Musik und Politik, in: „Form follows Function“: Zwischen Musik, Form und Funktion, hg. von Till Knipper, Hamburg 2005; Nina Okrassa, Peter Raabe: Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872–1945), Köln 2003; Albrecht Riethmüller, Stefan Zweig and the Fall of the Reich Music Chamber President, Richard Strauss, in: Music and Nazism. Art under Tyranny, 1933–1945, hg. von Michael H. Kater und Albrecht Riethmüller, Laaber 2003; Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Köln 22000 und Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-R Kiel 2004; Gerhard Splitt, Richard Strauss 1933–1935: Ästhetik und Musikpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, Pfaffenweiler 1987 sowie derselbe, Die „Säuberung“ der Reichsmusikkammer, in: Musik in der Emigration 1933–1945: Verfolgung, Vertreibung, Rückwirkung, hg. von Horst Weber, Stuttgart und Weimar 1994; Alan Steinweis, Art, Ideology and Economics in Nazi Germany: The Reich Chambers of Music, Theater, and the Visual Arts, Chapel Hill 1993; Martin Thrun, Die Errichtung der Reichsmusikkammer, in: Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, hg. von Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Kleinen, Frankfurt am Main 1984; Michael Walter, Richard Strauss und das deutsche Urheberrecht, in: Der Musikverlag und seine Komponisten im 21. Jahrhundert. Zum 100jährigen Jubiläum der Universal Edition, hg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsforschung 41), Wien 2002; Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation [1966], Frankfurt am Main et al. 1983.

Einleitende Überlegungen  |

weise in der vom Amt Rosenberg herausgegebenen Zeitschrift Die Musik erschien: Die Totalitätsforderung des Nationalsozialismus schließt es in sich, daß auch die Organisation alles Kunstwesens sich lücken- und fugenlos einfügen muß in die Gesamtpolitik des Reiches. Es kann im nationalsozialistischen Staat keine Kunstpolitik geben, die der allgemeinen Politik widerspricht. Die Linie der großen Politik darf nicht durchkreuzt werden durch andere Linien, die von der Kunstbetätigung ausgehen. Darauf acht zu haben und darüber zu wachen ist eine der wichtigsten Aufgaben der Reichsmusikkammer. Ihr Augenmerk hat gerichtet zu sein auf die Reinerhaltung der Musik.2

Es ist leicht zugleich vorstellbar, dass ein solcher Alleinvertretungsanspruch für alle kulturellen Bereiche im NS-Staat nicht nur innerhalb der RMK von vielen Seiten zum eigenen Vorteil genutzt wurde und sich ökonomische Konkurrenzen mit ideologischen Motivationen vermengten, wenn beispielsweise im Konflikt der E- und U-Komponisten um eine Veränderung des Verwertungsschlüssels bei der Ausschüttung von Tantiemen hitzig über die Schädlichkeit oder Wichtigkeit von Unterhaltungsmusik gestritten wurde. Auch Goebbels’ prominenteste Konkurrenten Hermann Göring, Alfred Rosenberg, Bernhard Rust und Heinrich Himmler nahmen diesen Alleinvertretungsanspruch für alle Belange von Kunst und Wissenschaft nicht unwidersprochen hin und hielten an ihren eigenen ideologischen wie machtstrategischen Zielen fest. Es ist daher offensichtlich, dass die kaum überschaubare Fülle an Namen, Institutionen und Initiativen, die nicht selten über Personalunionen, Ämterhäufungen und Karriereabsichten zu weiteren Überschneidungen der Machtblöcke führte, dem Versuch einer schematischen Skizze der Reichsmusikkammer als relativ homogener Organisationsform einiges an klaren Konturen nimmt. Wenn die Autorinnen und Autoren in diesem Band dennoch sich der Herausforderung stellen, die Forschungslücken zu den Personalstrukturen, Organisationsprinzipien, Sanktionsmechanismen und Aufgabenstellungen der RMK zu verkleinern, deren ideologische Bedeutung für Goebbels’ Propaganda zu hinterfragen und weitere Verbindungsspuren auch außerhalb der 2 Peter Raabe, Was die Reichsmusikkammer nicht ist, in: Die Musik 33 (1940), erster Halbjahresband, S. 190.

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RMK zu verfolgen, berücksichtigen sie dabei die bisher vorgelegten Erkenntnisse, ergänzen sie vor allem aber durch eine Auswertung bislang unbekannter, nicht ausgewerteter oder unterschätzter Materialbestände. Ihre Beiträge gehen dabei nicht von dem Anspruch aus, mit abschließenden Ergebnissen ein endgültiges Bild der Reichsmusikkammer zu erstellen, sondern werden vielmehr von der Absicht geleitet, sich den vielen offenen und zum Teil auch weiterhin offenbleibenden Fragen zu stellen und einen ersten Rekonstruktionsversuch zu dokumentieren, der von zukünftigen Forschungen zu erweitern sein wird. Bereits eine knappe Übersicht einiger der diskutierten Fragestellungen deutet an, wie eng die Konzeption und Arbeit der RMK mit der nationalsozialistischen Ideologie in den Bereichen von Kultur sowie Innen- und Außenpolitik verflochten waren, und eröffnet dabei zugleich ein Panorama zur Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: – Gestaltete sich die Aufbauphase der RMK als Fortführung oder Abgrenzung zu Bestrebungen der Weimarer Zeit? – Wie wirkte sich die zentralisierte Erfassung und Kategorisierung der RMK-Mitglieder insbesondere hinsichtlich der Übergangsfristen für jüdische Musiker aus, bis hin zu deren Ausschluss und Abdrängen in die von Hans Hinkel kontrollierten Jüdischen Kulturbünde? – Wie beeinflussten einerseits die bekannten Konkurrenzen von NS-Prestigepersonal (Richard Strauss, Paul Graener, Peter Raabe, Wilhelm Furtwängler, Werner Egk, Heinz Drewes und Herbert von Karajan) ihr Engagement für die RMK und in welchem Verhältnis steht dieser Einsatz andererseits zu ihren künstlerischen wie politischen Überzeugungen? – Welche ideologischen und egoistischen Motive sind im Streit über NS-opportunes Repertoire und die Hierarchie der Stile (klassizistische Moderne, Spätromantik und klassische Musikpflege vs. Unterhaltungsmusik) zu welchem Zeitpunkt auf Seiten der Musiker und der Vertreter von Goebbels’ Ministerium zu beobachten? – In welcher Abhängigkeit stand die RMK als Teil von Goebbels’ Propagandaapparat zur NS-Außenpolitik sowie dem Einsatz von Musikern in der Kriegsführung (Truppenbetreuung, Auslandspropaganda, Unterhaltung von SS-Einheiten in Konzentrationslagern, Heimatfront)? – Auf welche Weise nahmen so unterschiedliche Figuren wie Paul Hindemith und Richard Strauss selbst die RMK und deren Führungspersonal wahr?

Einleitende Überlegungen  |

Aus den zahlreich vorliegenden Einzelaspekten daher größere Strukturen zu rekonstruieren, mit denen aus Umrissen schärfere Konturen hervortreten, dies ist eine der Aufgaben, wie sie der vorliegende Band sich vorgenommen hat.

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Richard Strauss und die Reichsmusikkammer – im Zeichen der Begrenzung von Kunst? Gerhard Splitt

Um Missverständnissen bezüglich des Fragezeichens im Titel sogleich vorzubeugen: Die Reichskulturkammer (fortan RKK) bzw. ihre speziellen Einzelkammern, und so auch die Reichsmusikkammer (fortan RMK), dienten nicht nur der Verwaltung und Regelung des kulturellen Lebens im NS-Staat, sondern vor allem im Sinne des gleichermaßen antisemitischen wie antidemokratischen NS-Staats. Und das musste zwangsläufig auf die Begrenzung von Kunst hinauslaufen, auf Diffamierung, Ausgrenzung und Verbot insbesondere jüdischer Künstler und allgemein der unerwünschten künstlerischen Avantgarde – kurz: auf einen weitgehenden Exorzismus der Moderne. Bereits hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit ein Komponist wie Richard Strauss von derlei Begrenzung von Kunst betroffen war und wie er sich ggf. dazu verhalten hat. Wohin die Entwicklung gehen würde, sollten die Nationalsozialisten an die Macht kommen, war beizeiten klar, spätestens seit dem 24. Januar 1920; das war jener Tag, an dem Hitler in München das 25 Punkte umfassende Parteiprogramm verkündet hat, gleichsam die Gründungsurkunde der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“. Nach dessen Lektüre konnten keine Zweifel daran bestehen, dass eine Herrschaft der NSDAP nicht zuletzt mit sich bringen würde: – die Diskriminierung und Entrechtung (zunächst) der in Deutschland lebenden Juden, – die Manipulation des Rechts und der Bildung sowie – die Zensur der Presse und der Künste. Der letzte Satz von Punkt 23 lautet: „Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen eine Kunst- und Literaturrichtung, die einen zersetzenden Einfluß auf unser Volksleben ausübt, und die Schließung von Veranstaltungen, die gegen vorstehende Forderungen verstoßen.“1 Dabei erklärte der abschlies1 Das 25-Punkte-Programm der NSDAP, zit. nach folgender Seite des Deutschen Historischen Museums: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/nsdap25/ (Abruf am 14. Mai 2013).

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sende Punkt 25 unmissverständlich, wie das strukturell zu regeln war: „Zur Durchführung alles dessen fordern wir: Die Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches. Unbedingte Autorität des politischen Zentralparlaments über das gesamte Reich und seine Organisationen im allgemeinen. Die Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen Rahmengesetze in den einzelnen Bundesstaaten.“2 Damit war im Wesentlichen umrissen, was zum Sprachgebrauch und zur Realität des NS-Staats gehören sollte, die sog. „Gleichschaltung“, lies: die Abschaffung der Demokratie.3 Zudem wurde bereits 1920 deutlich, dass man auch vor brutaler Gewaltanwendung nicht zurückschrecken würde: „Die Führer der Partei versprechen, wenn nötig unter Einsatz des eigenen Lebens für die Durchführung der vorstehenden Punkte rücksichtslos einzutreten.“4 Ein hässliches Vorspiel auf das, was nach der Machtübergabe an die Nazis Ende Januar 1933 reichsweit im Kulturleben vollzogen werden sollte, bot ab 1930 das Land Thüringen. Aufgrund der Tätigkeit des ersten NS-Landesministers in den Jahren 1930/31, nämlich der von Wilhelm Frick als Innenund Volksbildungsminister, begann unverzüglich eine Nazifizierung des Polizei- und Beamtenapparats, erging im April 1930 der „Erlaß wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“5 und wurde die Einrichtung eines Lehrstuhls für Sozialanthropologie, lies: „Rassenkunde“, an der Universität Jena betrieben. Dieser war eigens für Hans F. K. Günther eingerichtet worden, genannt „Rassen-Günther“, der Mitte November 1930 dort seine Antrittsvorlesung hielt, u.  a. im Beisein von Hitler, Göring, Frick, Walther Darré, Fritz Sauckel und Paul Schultze-Naumburg.6 Schultze-Naumburg, NSDAP-Mitglied seit 1930 und im selben Jahr von Frick zum Direktor der Weimarer Kunsthochschule befördert, ließ denn auch gleich zu Beginn seiner Karriere im Weimarer Schlossmuseum die Bilder u. a. von Ernst Barlach, Otto Dix, Erich Heckel, Oskar Kokoschka, Franz Marc, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff entfernen und im Oktober 1930 im sog. Van-de-Vel2 Ebenda. 3 Artikel Gleichschaltung, in: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, Leipzig 151928–1935, hier: Ergänzungsband A–Z [= Bd. 21], a. a. O. 1935, S. 363. 4 25-Punkte-Programm der NSDAP. 5 Artikel Frick, Wilhelm, in: Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Augsburg 2005, S. 166. 6 Artikel Günther, Hans Friedrich Karl, genannt Rassen-Günther, in: ebenda, S. 208f.

Richard Strauss und die Reichsmusikkammer  |

de-Bau des Staatlichen Bauhauses Weimar „die gesamte malerisch-plastische Ausgestaltung, die vom Bauhausmeister Oskar Schlemmer für die Bauhausausstellung 1923 geschaffen worden war, abschlagen und übertünchen, selbstverständlich „ohne den Künstler zuvor darüber in Kenntnis“7 zu setzen. Der „Erlaß wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ stammte übrigens von Hans Severus Ziegler, dem nachmaligen Initiator der Ausstellung „Entartete Musik“. 1930/31 war Ziegler Kultur-, Kunst- und Theaterreferent im Volksbildungsministerium der Frick-Regierung, überdies stellvertretender Gauleiter und Landesleiter von Rosenbergs „Kampfbund für Deutsche Kultur“. Angesichts dieser politischen Ausrichtung kann es nicht überraschen, dass Ziegler in dem von ihm verfassten „Erlaß wider die Negerkultur“ zu dem Ergebnis kam, dass sich in Deutschland „seit Jahren auf fast allen kulturellen Gebieten fremdrassige Einflüsse geltend“ gemacht hätten, die geeignet seien, „die sittlichen Kräfte des deutschen Volkes zu unterwühlen“.8 Gibt es Reaktionen von Richard Strauss auf diese bedrohlichen politischen Entwicklungen? Immerhin hatte er bekanntermaßen spätestens seit dem Herbst 1889 und den ersten 1890er Jahren Verbindungen nach Weimar. Und mochte die NSDAP bis 1929 eine zwar lärmende, aber unbedeutende Splitterpartei gewesen sein, mit der Wahl vom 14. September 1930 war sie es nicht mehr: Sie erhielt 18,3 Prozent der Stimmen, „ihre Mandatszahl war damit von 12 auf 107 gestiegen – ein in der Geschichte des Parlamentarismus einmaliger Aufschwung“.9 Und das bedeutete: „Der grundlegende politische Kampf war bisher um die Frage ‚Republik oder Monarchie‘ gegangen. Von jetzt an ging es um Verfassungsstaat oder Nationalsozialismus.“10 Ob und wie sich Strauss zu den politischen Verhältnissen speziell in Weimar vor 1933 geäußert hat, muss vorerst offenbleiben. Längst nicht alle Archivalien, die für dieses Thema relevant sein könnten, sind gesichtet. Überliefert ist indessen Strauss’ Äußerung vom 14. Juni 1928 bei einem Frühstück 7 Siehe Laura Lauzemis, Die nationalsozialistische Ideologie und der „neue Mensch“. Oskar Schlemmers Folkwang-Zyklus und sein Briefwechsel mit Klaus Graf von Baudissin aus dem Jahr 1934, in: Uwe Fleckner (Hg.), Angriff auf die Avantgarde. Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 27. 8 Zitiert nach: Irina Kaminiarz, „Entartete Musik“ und Weimar, in: Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus, hg. von Lothar Ehrlich, Jürgen John und Justus H. Ulbricht, Köln, Weimar und Wien 1999, S. 284. 9 Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 21983, S. 328. 10 Ebenda.

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bei Hofmannsthal, bei dem nach den Worten von Harry Graf Kessler Strauss „seine drolligen politischen Ansichten“ geäußert hat, nämlich die „Notwendigkeit einer Diktatur usw.“,11 die allerdings völlig ernst gemeint waren: „Strauss hatte die Nase voll von einer Republik, die seinen Rang offensichtlich nicht erkennen wollte.“12 Zu den Wahlen vom 14. September 1930 hat Strauss sich geäußert, und zwar brieflich von Paris aus, wo er Ende Oktober 1930 gastierte. Die französischen Nachbarn hatten die Wahl äußerst argwöhnisch registriert, man witterte jenseits des Rheins bereits Kriegsgefahr: „Im allgemeinen herrscht seit den blöden Hitlerwahlen hier eine greuliche Stimmung, man sprach nur vom Krieg, den Deutschland in den nächsten Tagen beginnen wolle.“13 Diese „greuliche Stimmung“ hätte sich unter Umständen negativ auf Strauss’ Auftritte auswirken können, was aber offensichtlich nicht der Fall war. Ob die von der Strauss-Chronik für den 9. November 1932 gegenüber Pauline Strauss zitierte Äußerung: „Hitler scheint erledigt“14 Erleichterung oder aber Bedauern ausdrückt, lässt sich aus den dürren drei Worten nicht erschließen, wohl aber aus Äußerungen aus dem zeitlichen Umfeld – und die weisen ganz eindeutig in Richtung Bedauern. Zwischen den beiden zuletzt zitierten Äußerungen von Strauss liegen zeitlich mindestens drei weitere, die Strauss als gestandenen Antidemokraten ausweisen. Bereits am 27. November 1930 hatte er gegenüber Erich Engel die infolge der Wirtschaftskrise notwendig gewordenen Sparmaßnahmen auch im kulturellen Bereich in zynischer Weise kommentiert: „Gott gebe, daß bald bessere Zeiten für die deutschen Theater anbrechen und deren Subventionen nicht mehr für faulenzende Kommunisten (genannt Arbeitslose) verwendet werden müssen. Es ist eine Kulturschande!“15 Knapp ein Jahr später, am 11 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt am Main, 41979, S. 563. 12 Michael Walter, Richard Strauss und seine Zeit, Laaber 2000, S. 354. 13 Der Strom der Töne trug mich fort. Die Welt um Richard Strauss in Briefen, in Zusammenarbeit mit Franz und Alice Strauss hg. von Franz Grasberger, Tutzing 1967, S. 332f., hier: S. 332, an Franz Strauss am 25. Oktober 1930, vgl. S. 331. 14 Franz Trenner, Richard Strauss. Chronik zu Leben und Werk, hg. von Florian Trenner, Wien 2003, S. 531 [= Strauss-Chronik]; wahrscheinlich eine Reaktion auf die Reichstagswahlen vom 6. November 1932. 15 Zitiert nach: Richard Strauss, Autographen in München und Wien. Verzeichnis, hg. von Günter Brosche und Karl Dachs, Tutzing 1979, S. 365. Erich Engel war Solorepetitor an der Dresdner Staatsoper.

Richard Strauss und die Reichsmusikkammer  |

23. September 1931, schreibt sich Strauss in einem Brief an Fritz Busch wiederum zum Thema Subventionsabbau in Rage: Gott sei Dank, daß Sie trotz der gräulichen [recte: greulichen] „Kulturpest“, die jetzt auch noch über Deutschland hereingebrochen ist, noch guten Mutes u. arbeitsfreudig sind. Auch mir ist der Schreibtisch der einzige Tröster, wenn ich sehen muß, wie die glorreiche deutsche Republik langsam aber sicher auf das Niveau des Fußball spielenden u. boxenden England herabsinkt. Nur immer hübsch weiter sparen, an Subventionen für unersetzliche einzige Kulturinstitute – und wenn vorübergehend der verpöbelte Deutsche nicht hineingeht – schließt man denn die Dresdner Galerie, wenn einmal ein Paar [sic] Jahre kein Besucher kommt? – u. immer von Opernkrisen reden, die es gar nicht gibt – es gibt nur eine Publikumskrise! [...] Es lebe die Demokratie! Bezügl. Idomeneo bin ich ganz Ihrer Ansicht: ohne schöne Neuausstattung hat er keinen Sinn. Aber kann man diese Neuausstattung nicht aus dem Budget der Arbeitslosenunterstützung herausschneiden oder durch höhere Luxussteuer für Fußball?16

Ähnlich hat sich Strauss am 17. Dezember 1931 gegenüber Heinz Tietjen geäußert: „[...] wer garantiert mir, dass nicht im nächsten Jahre auch die Lindenoper geschlossen, das ganze Inventar sammt [sic] Theatermuseum verkitscht und an Herrn Breunings [recte: Brünings] Arbeitslose verfüttert wird. Vor 150 Jahren hat man diese Faulenzer wenigstens noch nach England als Soldaten verkauft, heute speist man sie noch grossartig mit den Subventionen der Hoftheater! Pfui Teufel!“17 Abgesehen davon, dass es Hoftheater 1931 längst nicht mehr gab – ohne den Ersten Weltkrieg, den auch Strauss zunächst bejubelt hat, und dessen Reparationszahlungen zwischen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und dem 3. Oktober 2010, den alle hierzulande Steuerpflichtigen mitfinanziert haben, wären die Zustände in Deutschland vor 1933 längst nicht so dramatisch gewesen: Die Konkursziffer hatte 1931 ihren Höhepunkt erreicht 16 Strauss an Fritz Busch, hschr. Schreiben (vier Seiten) aus Garmisch vom 23. September 1931, in: Brüder-Busch-Archiv (BBA), Sig. B 2261. Die Bestände des BBA in Hilchenbach-Dahlbruch werden seit Jahren vom Max-Reger-Institut in Karlsruhe verwahrt. 17 Richard Strauss und Heinz Tietjen. Briefe der Freundschaft, hg. von Dagmar Wünsche, in: Richard Strauss-Blätter o. Jg. (1988), Heft 20, S. 3–150, hier: S. 43.

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und infolge des Zusammenbruchs sämtlicher deutscher Banken im Sommer 1931 stand Deutschland am Rande eines Staatsbankrotts. Die Zahl der Arbeitslosen stieg von 4,4 Millionen im Dezember 1930 auf 5,66 Millionen im Dezember 1931 an, ihren Höchststand erreichte sie im Februar 1932 mit 6,128 Millionen. Die Selbstmordquote in Deutschland – 260 Personen, bezogen auf eine Million Einwohner – war mit Abstand Weltrekord. Die „Neuausstattung“ des Idomeneo hätte man schwerlich „aus dem Budget der Arbeitslosenunterstützung herausschneiden“ können, weil die Anfang Juni 1931 von Reichskanzler Brüning auf den Weg gebrachte zweite Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen eine Kürzung der Unterstützungssätze für Arbeitslose bis zu 14 Prozent vorsah; gleichzeitig wurde die Altersgrenze für Unterstützungsempfänger von 16 auf 21 Jahre heraufgesetzt, die Arbeitslosenunterstützung für verheiratete Frauen gestrichen und die Kürzung der Kinderzuschläge beschlossen18 – um nur diese Maßnahmen zu nennen. Es war allerdings nicht nur die dramatische wirtschaftliche Situation in der Weimarer Republik, deren Auswirkung für die Opernhäuser Strauss so sauer aufstieß, sondern die Tatsache, dass er, der einst tonangebende Komponist, in Deutschland nun zum alten Eisen gezählt wurde. Dementsprechend konnte Alfred Einstein 1926 lapidar feststellen: „Strauß ist der künstlerische Vertreter einer Zeit, die vor zehn Jahren ihren Abschluß gefunden hat.“19 In eigener Weise bestätigten das die Aufführungszahlen der Spielzeiten zwischen 1926/27 und 1930/31. Die meistaufgeführten Opern waren (in dieser Reihenfolge): Der Rosenkavalier, Salome, Ariadne auf Naxos (in der Regel in der zweiten Fassung von 1916) und Elektra, Werke also, deren Entstehungszeit mindestens ein Jahrzehnt zurücklag und die dementsprechend als historische, „nicht als zeitgenössische Werke begriffen wurden“.20 Dass Strauss zwischen 1926 und 1931 der in deutschen Opernhäusern immer noch meistgespielte lebende deutsche Komponist war und im Krisenjahr 1932 ein steuerpflichtiges Jahreseinkommen in Höhe von immerhin 55.000 RM er29

18 Vgl. Der große PLOETZ. Auszug aus der Geschichte, Freiburg und Würzburg 1980, S. 930f., sowie Schulze, Weimar, S. 353 und 360. 19 Alfred Einstein, Artikel Strauß, Richard, in: Das neue Musiklexikon. Nach dem Dictionary of modern music and musicians, übers. u. bearb. von Alfred Einstein, Berlin 1926, S. 627. 20 Walter, Richard Strauss und seine Zeit, S. 353; zu den Aufführungszahlen vgl. die Statistiken auf S. 351f.

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zielte21 – umgerechnet ca. 550.000 EURO22 –, konnte ihn gleichwohl nicht für die Demokratie einnehmen. So haben Strauss’ Aktionen und Verlautbarungen – die öffentlichen zumal – nach dem 30. Januar 1933 nur einen Sinn und Zweck: den neuen, verbrecherischen Machthabern angenehm aufzufallen. So sprang Strauss am 19. und 20. März 1933 für Bruno Walter ein, dazu überredet von zwei Nazis. Das war zum einen Hugo Rasch, in der NSDAP seit dem 1. April 1931, ab Juli 1933 dann auch SA-Mitglied; beim Berliner Völkischen Beobachter war Rasch Musikkritiker, den Strauss ausgerechnet Stefan Zweig gegenüber als „meinen Freund“ bezeichnet;23 zum anderen handelte es sich um Julius Kopsch, NSDAP-Mitglied seit dem 1. Dezember 1932, SA-Sturmführer im folgenden Jahr und nachmals Gründer der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft.24 Gut einen Monat nach den Walter-Konzerten erschien in der Wiener Zeitung Der Morgen ein Artikel mit der Überschrift Das Hakenkreuz im Haus Richard Strauß. Darin heißt es: „Es gibt lebende Menschen, die gesehen haben wollen, daß Herr Dr. Franz Strauß, der […] Sohn des großen Komponisten, in jenem ominösen Konzert der Berliner Philharmoniker, das man Bruno Walter zu dirigieren verhindert hatte, und das dann Richard Strauß dirigieren durfte, in der schmucken Uniform der deutschen SA.-Leute von einer Loge aus dem Konzert zuhörte.“25

21 Meldebogen auf Grund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946, Punkt 8 Angaben über Ihre Haupttätigkeit, Einkommen und Vermögen seit 1932, für Richard Strauss am 9. Mai 1946 ausgefüllt von Franz Strauss, Spruchkammerakte Strauss, Richard. 22 Siehe Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 32005, S. 48. 23 Richard Strauss – Stefan Zweig, Briefwechsel, hg. von Willi Schuh, Frankfurt am Main 1957, S. 49, am 4. April 1933. 24 Siehe Gerhard Splitt, Richard Strauss 1933–1935. Ästhetik und Musikpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, Pfaffenweiler 1987, S. 42–58, sowie die Art. Kopsch, Julius und Rasch, Hugo, in: Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-R Kiel 22009, S. 4173–4175 und S. 5803–5806. 25 Der Morgen, 24. April 1933, Untertitel: Wie stellen sich die Nazi zu Parteigenossen, die eine Jüdin zur Gattin haben. Nach Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991, S. 282, Anm. 490 hatte darüber auch die Wiener Sonn- und Montagszeitung vom 3. Juli 1933 berichtet.

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Am 21. März 1933 war Strauss samt Sohn bei der „zur Geburtsstunde des Dritten Reichs“26 verklärten Reichstagseröffnung in der Garnisonkirche von Potsdam.27 Und so konnte Strauss am 29. März 1933 hoffnungsvoll an Anton Kippenberg schreiben: „Ich habe aus Berlin große Eindrücke mitgebracht und gute Hoffnung für die Zukunft der deutschen Kunst, wenn sich erst die ersten Revolutionsstürme ausgetobt haben!“28 Soweit das vermeintlich Positive. Aber gab es auch Befürchtungen? In der Tat: „Was ist mit unserem Freunde Stefan Zweig? Ich habe Angst, daß er sich am Ende auch bei diesen jetzt ganz überflüssigen Kundgebungen der ‚Intellektuellen‘ unnötig exponiert!“29 Das war nicht nur mit Blick auf die historische Situation in Deutschland aberwitzig, sondern auch all jenen gegenüber, die sich mit Kritik noch an die Öffentlichkeit wagten, infam, aber durchaus noch steigerungsfähig. Und so erhielt der bekanntermaßen „nichtarische“ Stefan Zweig mit Schreiben vom 4. April 1933 von Strauss folgenden Kommentar zum allgemeinen Juden-Boykott: „Mir geht es gut: ich sitze wie auch damals 8 Tage nach Ausbruch des berühmten Weltkrieges schon wieder an der Arbeit. Bin mitten im II. Akt. Die Skizze des I. Aktes ist schon ins Reine geschrieben.“30 Am 16./17. April 1933 erschien in den Münchner Neuesten Nachrichten der Protest der Richard-Wagner-Stadt München gegen Wagners angebliche „Verunglimpfung“ seitens Thomas Manns. Es kann nicht überraschen, dass zu den Unterzeichnern des Pamphlets auch Richard Strauss gehörte,31 von dem denn auch kein kritisches Wort zu den Bücherverbrennungen am und nach dem 10. Mai 1933 überliefert ist. Das hätte auch nicht zu einem Mann gepasst, der dem „Führer“ bereits am 15. April zum Geburtstag (am 20. April) gratuliert hatte, und zwar mit einem Brief, der, wie uns die Strauss-Chronik 26 Artikel Deutsches Reich, in: Brockhaus, Band 21, S. 235. Der Tag war mit Bedacht gewählt worden, wie der Brockhaus vermerkt: Am 21. März 1871 war erstmals der Reichstag „des Zweiten Reiches von 1871“ zusammengetreten. 27 Strauss-Chronik, S. 536. 28 Richard Strauss und Anton Kippenberg. Briefwechsel, in: Richard Strauss Jahrbuch 1959/60, hg. von Willi Schuh, Bonn 1960, S. 120. 29 Ebenda, S. 121. 30 Strauss-Zweig Briefwechsel, S. 49. Gemeint ist Die schweigsame Frau. 31 Hartmut Zelinsky, Richard Wagner – ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876–1976, Frankfurt am Main 1976, S. 195. Zu Willi Schuhs Reaktion in der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. April 1933 siehe ebenda, S. 196f.

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kenntnisreich wissen lässt, durch einen namenlosen „Mittelsmann“ überbracht wurde. Hitler bedankte sich für Strauss’ Brief zehn Tage später.32 Die Uraufführung der Arabella am 1. Juli 1933 wurde zur ersten wirklich bedeutenden, von allen deutschen und einigen ausländischen Sendern live übertragenen Opern-Uraufführung des jungen NS-Staats, auch ohne die widerrechtlich verjagten Fritz Busch und Alfred Reucker, die eigentlich dirigieren bzw. Regie führen sollten.33 Als Arturo Toscanini Ende Mai 1933 wegen der unsäglichen politischen Zustände in Deutschland seine Dirigate bei den Bayreuther Festspielen absagte und Fritz Busch sich weigerte, für Toscanini einzuspringen, stand Richard Strauss kurzfristig als Ersatz zur Verfügung,34 und dort in Bayreuth sollte er Hitler und Goebbels persönlich kennenlernen. Am 30. September 1933 erschienen Strauss’ Zeitgemäße Glossen für Erziehung zur Musik erstmals in der Eröffnungsnummer von Musik im Zeitbewußtsein. Amtliche Zeitschrift des Reichskartells der Deutschen Musikerschaft und am 10. Oktober 1933 dann auf der Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten. In den Zeitgemäße[n] Glossen ging es Strauss um die Reform des Lehrplans an Mittelschulen, kurz: um weniger „höhere Mathematik“ sowie Chemie und Physik zugunsten von „Harmonielehre, Satzkunst, Kontrapunkt“, voller Erfassung „des III. Tristan-Aktes“ und des „Aufbaues eines Nibelungen-Aktes“. Dieser Unterricht werde den meisten Schülern nicht nur „eine Quelle schönsten Kunstgenusses“ erschließen, sondern es werde auch […] {ein geistiges Niveau gewonnen, das die beste Gewähr für Erreichung derjenigen kulturellen Ziele bietet, zu denen in seiner N ü r n b e r g e r R e d e d e r R e i c h s k a n z l e r das deutsche Volk herangebildet wünscht, damit es sich würdig des Geschenkes unserer großen klassischen Meisterwerke zeige}. „Es wäre ein epochemachendes Verdienst {des Propaganda-Ministeriums und der deutschen Kultusministerien, vorbildlich für alle Länder der Welt}, eine Reform des Mittelschulwesens in dem von mir angedeuteten Sinne durchzuführen. Bad Wiessee, September 1933. R i c h a r d S t r a u s s .35 32 Siehe Strauss-Chronik, S. 537. 33 Siehe Gerhard Splitt, Richard Strauss, die Dresdner Uraufführung der „Arabella“ und das „neue Deutschland“, in: Matthias Herrmann/Hanns-Werner Heister (Hg.), Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert, Teil II 1933–1955, Laaber 2002, S. 285–303. 34 Siehe Fritz Busch, Aus dem Leben eines Musikers [1948], Frankfurt am Main 1984, S. 206–212. 35 Zitiert nach Splitt, Richard Strauss 1933–1935, S. 66.

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Die Strauss-Chronik verweist ungeniert auf den Abdruck des Textes in den Strauss’schen Betrachtungen und Erinnerungen, herausgegeben von Willi Schuh, der die in geschweifte Klammern eingefassten Passagen allerdings stillschweigend elidiert hat.36 Die „Nürnberger Rede“ des „Reichskanzlers“ war übrigens jene Rede, die Hitler am 1. September 1933 auf der Kulturtagung des Reichsparteitags gehalten hatte. Es gibt darin mehrere Passagen, denen Strauss höchstwahrscheinlich zugestimmt hätte, mit Sicherheit aber dieser gegen Ende der Rede: Die Meinung, daß in materiell dürftigen Zeiten kulturelle Fragen in den Hintergrund treten müßten, ist ebenso töricht wie gefährlich. Denn wer die Kultur etwa nach der Seite ihres materiellen Gewinns hin […] zu beurteilen trachtet, hat keine Ahnung ihres Wesens und ihrer Aufgaben. Gefährlich aber ist diese Auffassung, weil sie damit das gesamte Leben auf ein Niveau herabdrückt, auf dem endlich wirklich höchstens noch die Zahl des Minderwertigen entscheidet. Gerade in einer Zeit wirtschaftlicher Nöte und Sorgen ist es wichtig, allen Menschen klarzumachen, daß eine Nation auch noch höhere Aufgaben besitzt, als in gegenseitigem wirtschaftlichen Egoismus aufzugehen.37

Die Begründung, warum die Kultur ohne Rücksicht auf leere Kassen gefördert werden müsse, ist zwar fadenscheinig, weil ideologisch, programmatisch sind die Ausführungen Hitlers gleichwohl: Sie sind Hinweis darauf, dass er das, was Peter Reichel treffend den „schönen Schein des Dritten Reiches“ 38 genannt hat, nötigenfalls auf Pump finanzieren würde – und, wie sich herausstellen sollte, nicht nur diesen. Das finanzpolitische Markenzeichen des NSStaats war eine gigantische, hausgemachte Staatsverschuldung, nicht zuletzt, um mittels sozialer Wohltaten das „arische“ Volk wenn möglich bei Laune oder zumindest passiv loyal zu halten, vor allem während des Krieges.39 Überdies ist zu beachten, unter welchen Bedingungen jene Rede gehalten wurde. 36 Ebenda, S. 66–68 sowie Strauss-Chronik, S. 541. 37 Adolf Hitler, Die deutsche Kunst als stolzeste Verteidigung des deutschen Volkes, Rede vom 1. September 1933 auf der Kulturtagung des Reichsparteitags in Nürnberg, in: Adolf Hitler, Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933–1939, hg. Robert Eikmeyer, Frankfurt am Main 2004, S. 53. 38 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München und Wien 1991. 39 Siehe Aly, Hitlers Volksstaat, S. 339.

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Die Herausgeber der kunst- und kulturpolitischen Reden Hitlers vermerkten zur Kulturtagung vom 1. September 1933: „Eine Teilnahme war nur mit besonderen Eintrittskarten möglich.“40 D. h., hier waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vornehmlich kulturpolitisch interessierte Persönlichkeiten und Künstler anwesend, die mit solchen Aussagen natürlich geködert werden sollten. Für die Öffentlichkeit musste es scheinen, als sei dieses Unterfangen bei Richard Strauss erfolgreich gewesen. Am 15. November 1933 erfolgte geradezu folgerichtig Strauss’ Ernennung zum Präsidenten der RMK in einem feierlichen Festakt in der Berliner Philharmonie, abends wurde Arabella in einer Festvorstellung mit der braunen Regierung aufgeführt. Und anfänglich schien zwischen Regierung und RMK-Präsident alles reibungslos zu laufen. Alice Strauss notierte Anfang Dezember 1933 über einen Berlin-Besuch ihres Schwiegervaters in ihr Tagebuch: „Papa eine Stunde bei H(itler): Pläne über Bayreuth, Projekt fürs Theater, Festl. Präludium soll nur für festliche Regierungsanlässe gespielt werden, alle Machtbefugnisse, größtes Vertrauen.“ Außerdem fand eine Unterredung mit Goebbels statt.41 Ein recht merkwürdiger Eintrag für eine Jüdin,42 von der man eher gelindes Entsetzen über das vertrauensvolle Verhältnis ihres Schwiegervaters mit den beiden Chef-Antisemiten des NS-Staats erwarten würde. Das mutet ähnlich befremdlich an wie die Tatsache, dass sich einige Wochen später ausgerechnet Stefan Zweig, den nach eigenem Bekunden die „Politik seit je geekelt“ hat,43 zu folgendem Hinweis an Strauss berufen fühlte: „[…] auch glaube ich, daß man gerade jetzt von Ihnen etwas erwartet, was dem Deutschen in irgend einer Form verbunden ist.“44 Und dass aus diesem Vorschlag dann ausgerechnet der „heroische“ Friedenstag hervorging, von dessen Münchner Uraufführung am 24. Juli 1938 Willi Schuh offenbar das Urteil „Konjunkturoper“ nach Zürich mitgebracht hat, das er allerdings ablehnte. Auch wenn in deutschen Blättern mehrfach zu 40 Hitler, Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933–1939, S. 54. 41 Zitiert nach Strauss-Chronik, S. 543. 42 „Man hörte verschiedentlich, dass er [sc. Strauss] Schwierigkeiten mit der Partei hatte, nachdem seine Schwiegertochter Halbjüdin ist.“ Der öffentliche Kläger Garmisch-Patenkirchen, Arbeitsblatt Dr. Strauss, Richard, Punkt 3) Auskunft des Bürgermeisters, vermutl. Herbst 1946, in: Spruchkammerakte Strauss, Richard. Am 6. Februar 2007 erhielt der Verfasser vom Richard-Strauss-Institut eine Bestätigung, dass Alice Strauss „Halbjüdin“ gewesen sei. 43 Strauss–Zweig, Briefwechsel, S. 53, am 3. September 1933. 44 Ebenda, S. 58, Ende Januar 1934.

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lesen gewesen sei, so Schuh, dass Strauss’ neuer Einakter „den Kunstzielen des Dritten Reiches in besonderem Grade entspreche“, könne das „freilich nicht heißen, daß Strauß hier etwa eine Konjunkturoper geschrieben habe.“ Es folgte eine fadenscheinige Begründung: „Schon hat er [sc. Strauss] dieser zeitnahen Oper ja eine bukolische Tragödie („Daphne“) gegenübergestellt und schon arbeitet er wieder an einer mythologischen Oper, die heitern Charakters sein wird …“45 Gemeint ist Die Liebe der Danae, bezeichnenderweise die letzte Oper, die in Deutschland vor Ende des Zweiten Weltkriegs am 16. August 1944 in Salzburg in einer Generalprobe aufgeführt wurde. Wie und warum Daphne und Die Liebe der Danae zum Beweis taugen sollen, dass Friedenstag zwar „zeitnah“, aber dennoch keine „Konjunkturoper“ ist, erschließt sich zwar nicht, aber allein mit der Zeitnähe hatte Schuh schon ganz recht. Hatte Hitler selbst das Thema doch auf den letzten Seiten von Mein Kampf angeschnitten: Sobald eine belagerte Festung, die vom Feinde hart berannt wird, die letzte Hoffnung auf Entsatz aufzugeben gezwungen ist, gibt sie sich praktisch damit selbst auf, besonders dann, wenn in einem solchen Fall den Verteidiger statt des wahrscheinlichen Todes noch das sichere Leben lockt. Man raube der Besatzung einer umschlossenen Burg den Glauben an die mögliche Befreiung, und alle Kräfte der Verteidigung werden damit jäh zusammenbrechen.46

Das entspricht exakt dem Kern der Handlung von Friedenstag, und dementsprechend konnte die Oper in der Programmzeitschrift der Münchener Festspiele 1938 nicht nur als „Kunstwerk unserer Zeit“ bezeichnet, sondern Strauss als Schöpfer der ersten Oper gefeiert werden, „die aus dem Geiste des nationalsozialistischen Ethos geboren ist.“47 Und wenn Hitler am 24. Februar 1942 im Führerhauptquartier ausrufen konnte: „Ich habe den ‚Friedenstag‘

45 Willi Schuh, „Friedenstag“. Die neue Oper von Richard Strauß, in: Neue Zürcher Zeitung vom 29. Juli 1938, Abendausgabe. 46 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 107–1111934, S. 778. 47 Zitiert nach: Gerhard Splitt, Calderóns Drama „Die Belagerung von Breda, Velazquezʼ Gemälde „Die Übergabe von Breda und das Libretto zu Richard Straussʼ Oper Friedenstag, in: Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten, Festschrift Peter Andraschke, hg. von Günter Schnitzler und Edelgard Spaude, Freiburg 2004, S. 514.

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von ihm gesehen, das war großartig!“,48 dann galt das zwar vor allem dem Bühnenbild und den Kostümen, die Ulrich Roller zur einmaligen Friedenstag-Festvorstellung am 10. Juni 1939 in der Wiener Staatsoper im Rahmen der sechsten „Reichstheaterwoche“ beigesteuert hatte.49 Als sicher darf aber auch angenommen werden, dass der „Führer“ mit diesem Lob auch die Oper selbst gemeint hat. Schließlich war Richard Strauss einer der Lieblingskomponisten von Hitler, trotz der von ihm und Goebbels bei Strauss spätestens im Juli 1935 diagnostizierten Charakterschwächen. Insbesondere die Lieder von Strauss waren bei Hitler und Goebbels sehr beliebt,50 und so ließ Strauss dem „lieben Herrn Minister“ via Magda Goebbels an Weihnachten 1934 vier Bände Lieder auf den Gabentisch legen. Goebbels reagierte sehr erfreut.51 Gleichwohl schien Goebbels – Hitlers Einverständnis stets vorausgesetzt – längst auf den geeigneten Moment gewartet zu haben, Strauss als RMK-Präsident loswerden zu können: Im Oktober 1934 war jedenfalls eine Eingabe Furtwänglers bei Peter Raabe und Hermann Stange gelandet, und just diese beiden sollten die Nachfolger von Strauss und Furtwängler werden.52 Eine geradezu ideale Möglichkeit, den RMK-Präsidenten eher unspektakulär aus dem Amt zu drängen, war Strauss’ Brief an Stefan Zweig vom 17. Juni 1935 aus Dresden, wo Strauss sich wegen der Uraufführung der Schweigsamen Frau aufhielt. Strauss reagierte mit diesem Schreiben äußerst gereizt auf Zweigs Brief vom 15. Juni, in dem dieser offenbar auf der Beendigung seiner Kooperation mit Strauss bestanden hat. Der schrieb daraufhin u. a., dass ihn der Rassegedanke nicht und das Volk erst als zahlendes Publikum interessiere, und zudem, dass er den Präsidenten der RMK lediglich 48 Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgez. von Heinrich Heim, hg. von Werner Jochmann [1980], München 2000, S. 295. Vgl. die fast wortgleiche Aussage in: Henry Picker, Hitlers Tischgespräche [1951], Frankfurt und Berlin 1989, S. 111. 49 Der Anlass für Hitlers Äußerung: Ulrich Roller war an der Ostfront gefallen. 50 „Auch beklagt der Führer sich über Richard Strauss, der ein ganz windiger Charakter ist und der deshalb von ihm in keiner Weise respektiert wird. Seine Musik, insbesondere die seiner Lieder, ist zwar wunderbar, aber sein Charakter umso miserabler.“ Die Tagebücher von Joseph Goebbels, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hg. von Elke Fröhlich, München et al. 1995, Teil II Diktate 1941–1945, Band 12, S. 527, am 22. Juni 1944. 51 Strauss an Magda Goebbels am 15. Dezember 1934 sowie Goebbels an Strauss am 28. Dezember 1934, in: Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz [GStAPK], IHA Rep. 94, Nr. 1093a. 52 Siehe Splitt, Richard Strauss 1933–1935, S. 212.

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„mime“. Der Brief wurde von der Gestapo in Dresden abgefangen, an Hitler geschickt und hatte Strauss’ Entlassung als Präsident der RMK sowie als Verbandsführer des Berufsstandes der deutschen Komponisten zur Folge. Dazu Goebbels am 5. Juli 1935: [...] Richard Strauß schreibt einen besonders gemeinen Brief an den Juden Stefan Zweig. Die Stapo fängt ihn auf. Der Brief ist dreist und dazu saudumm. Jetzt muß Strauß auch weg. Stiller Abschied. Keudell muß es ihm beibringen. Diese Künstler sind doch politisch alle charakterlos. Von Goethe bis Strauß. Weg damit! Strauß ‚mimt den Musikkammerpräsidenten‘. Das schreibt er an einen Juden. Pfui Teufel! [...] Rücktritt von R. Strauß durchgesprochen. Wir werden’s ohne Eclat machen.53

Genauso geschah es. Die Zusammenarbeit mit Stefan Zweig und mit jedwedem anderen „Nichtarier“ war damit natürlich unmöglich geworden, auch wenn Strauss das Zweig gegenüber zunächst immer noch nicht einsehen mochte, und an weitere Aufführungen der Schweigsamen Frau war natürlich auch nicht mehr zu denken. Die im Zusammenhang mit dem Rücktritt zunächst geplante Absetzung der Olympischen Hymne von Strauss wurde bald wieder zurückgenommen und der durfte sich sowohl im Inland54 als auch im Ausland – so z. B. als Präsident des „Ständigen Rats für internationale Zusammenarbeit der Komponisten“ – auch weiterhin als nützlich erweisen.55 Somit bleibt als einzige Begrenzung der Kunst von Strauss im NS-Staat das 53 Goebbels-Tb, Teil I, Bd. 2, München et al. 1987, S. 490. 54 Goebels am 5.12.1941: „Abends sitze ich noch eine Zeitlang mit Richard Strauß zusammen. Er hat meine damalige Auseinandersetzung mit ihm gänzlich überwunden und geht jetzt wieder Richtung. Man muß schon versuchen, mit diesem alten Herrn ein erträgliches Verhältnis zu behalten; wer weiß, wie lange er noch lebt; und schließlich ist er doch unser größter und wertvollster repräsentativster Musiker. Seine Frau ist furchtbar; ich habe sie noch dazu als Tischdame und muß mich den ganzen Abend mit ihr unterhalten; eine wahre Seelenmarter.“ Ebenda, Teil II, Bd. 2, S. 436. 55 „Ich empfange eine Delegation des Ständigen Ausschusses der europäischen Komponisten, die unter der Führung von Richard Strauß bei mir zu Besuch erscheinen. Es sind eine ganze Reihe namhafter Musikautoren dabei, u. a. der Finne Kilpinen, der Schwede Atterberg und aus Deutschland Egk, Höffer, Trapp und Graener. Es ist uns gelungen, bei diesen Besprechungen wiederum Richard Strauß für fünf Jahre als Präsidenten durchzusetzen.“ Goebbels-Tb, Teil II, Bd. 4, S. 545, am 17. Juni 1942.

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Verschwinden der Schweigsamen Frau von den deutschen Bühnen und die Unmöglichkeit, weiterhin mit Zweig zusammenzuarbeiten. Wäre es nach Goebbels gegangen, hätte Strauss ab der Jahreswende 1943/44 Aufführungsprobleme bekommen, aber Hitler hielt seine schützende Hand über Strauss, obwohl der „ein ganz windiger Charakter“56 sei. Strauss hatte sich geweigert, nach dem Reichsleistungsgesetz zwei ausgebombte ledige Ingenieure im Nebenhaus seines Anwesens unterzubringen, und sich dieserhalb an Heinz Drewes, Hans Frank und auch an Hitler gewandt. Dazu Goebbels am 25. Januar 1944: „Das Urteil des Führers über Richard Strauß ist gefällt. Er will zwar nach meinem Vorschlag nicht, daß die Werke von Richard Strauß eine Beeinträchtigung erfahren, aber der Kontakt führender Nationalsozialisten mit seiner Person muß unterbunden werden.“57 Dazu nochmals am 4. März 1944: „Der Führer will nicht, daß Richard Strauß Unbill angetan wird. Er hat sich nur sehr über ihn geärgert, daß er sich in der Frage der Aufnahme von Evakuierten so schofel benommen hat. Trotzdem sollen seine Werke ungehindert aufgeführt werden.58 Und zehn Tage später erfahren wir auch den Grund für Hitlers Haltung. Am 14. März 1944 berichtete Goebbels von einer kleinen musikgeschichtlichen Vorlesung des „Führers“: Musik von Bach im Rundfunk sei unverzichtbar, weil Bach ein wesentlicher Bestandteil deutschen Kulturgutes sei. Bach sei „gleichsam der Tektoniker der deutschen Musik“, der aber die Farbe fehle. Dieses farbige „Gepräge“ finde sich „unter Zugrundelegung der tektonischen Auffassung der Musik“ bei Beethoven, Wagner und Bruckner. Richard Strauß dagegen hat die tektonische Unterlage der Musik fallen lassen und ergeht sich nur noch in phosphoreszierenden Farbschilderungen. Während Bach eine Vorläufererscheinung der deutschen Musik ist, handelt es sich bei Strauß um eine Dekadenzerscheinung. Trotzdem aber gehören natürlich alle diese Musiker zum Kulturgut des deutschen Volkes, und wir müssen sie pflegen, wo immer wir das können.59

Und das geschah im Sommer 1944 noch einmal ausführlich. Aus Wien berichtete Strauss Goebbels am 16. Juni 1944 von „erfolgreichen Strausswo56 57 58 59

Ebenda, Bd. 12, S. 527. Ebenda, Teil II, Bd. 11, S. 169. Ebenda, S. 407. Ebenda, S. 473.

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chen“, die am Vortag beendet worden seien und von seinen „Rundfunkaufnahmen mit den prächtigen Philharmonikern“. Deshalb könne er, Strauss, sich erst jetzt für das „kostbare“ Geburtstagsgeschenk bedanken, das Goebbels ihm habe zukommen lassen. Gemeint war eine Gluck-Büste von Jean-Antoine Houdon, die „Freund Drewes“ enthüllt habe, während nebenan „das Schneiderhanquartett ein reizendes Quartett“ von Joseph Haydn gespielt habe. Außerdem müsse er, Strauss, sich noch entschuldigen, den Minister mit „2 Blitztelegrammen“ wegen einer Reise in die Schweiz überfallen zu haben.60 Wenn Goebbels am 27. November 1936 in der Berliner Philharmonie anlässlich der Jahrestagung von RKK und „Kraft durch Freude“ stolz bilanzieren konnte: Wir haben ein deutsches Theater, einen deutschen Film, eine deutsche Presse, ein deutsches Schrifttum, eine deutsche bildende Kunst, eine deutsche Musik und einen deutschen Rundfunk. Der früher oft gegen uns vorgebrachte Einwand, es gäbe keine Möglichkeit, die Juden aus dem Kunst- und Kulturleben zu beseitigen, weil deren zu viele seien und wir die leeren Plätze nicht neu besetzen könnten, ist glänzend widerlegt worden. [Beifall] Ohne jede Reibung und Stockung wurde dieser Personal-, System- und Richtungswechsel durchgeführt. Und niemals waren in Deutschland die deutschen Künstler so geehrt, die Künste so begehrt und geachtet wie heute.61 –

dann ist festzuhalten, dass Richard Strauss auf seinem Gebiet an dieser „Erfolgsbilanz“ tatkräftig mitgewirkt hat. Die Spruchkammer in Garmisch-Partenkirchen, die über Strauss’ Rolle im NS-Staat zu befinden hatte, konnte diese und andere Details schwerlich kennen, aber das wäre auch nicht nötig gewesen. Wer, wie Strauss, noch 1943 und 1944 Einkommen von 128.924,– RM bzw. 111.348,– RM erzielt hat – eine Reichsmark entspricht etwa 10 € – und sein Vermögen vom 1. Januar 1939 zum 1. Januar 1940 von 499.000,– RM auf 798.000,– RM erhöhen konnte, bei dem hätte man durchaus die Frage nach einem Nutznießertum 60 Strauss an Goebbels am 16. Juni 1944, in: GStAPK, IHA Rep. 94, Nr. 1093a. 61 Zitiert nach: Deulig-Tonwoche Nr. 257 vom 02.12.1936, in: Fritz Bauer Institut, Cinematography of the Holocaust, http://www.cine-holocaust.de/eng/index.html (Abruf am 14. Mai 2013).

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stellen können, zumal der Spruchkammer die offiziellen Zahlen ja vorlagen. Aber dieser Belastungsbereich der Entnazifizierung hatte während der späten 1940er Jahre kaum noch Bedeutung.62

62 Siehe Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Bonn 21982, S. 590f.

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Radikale Gleichschaltung und Rückbruch statt „Neubau“

Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte der Reichsmusikkammer Oliver Rathkolb

Heinz Ihlert, Geschäftsführer und Mitglied des Präsidialrates der Reichsmusikkammer (RMK), gab im Jahre 1935 eine Selbstdarstellungsbroschüre zur RMK heraus.1 Er begann seine Geschichte mit der Konstruktion einer schon im Mittelalter Ende des 13. Jahrhunderts existierenden frühen Reichsmusikkammer, der sogenannten Nicolai-Bruderschaft. Die Nicolai-Bruderschaft ist das erste Mal urkundlich 1288 in Wien überliefert. Sie war eine Vereinigung von Spielleuten, die sich um die Kirche St. Michael, die es auch heute noch gibt, angesiedelt hatte und die sich als frühe Zunft organisierte, nachdem ihre Mitglieder vorher als ehrlose Personen in Wien entrechtet und eingesperrt worden waren. Dies war die frühmittelalterliche Legitimation für Ihlert. Gerhard Splitt hat bereits versucht, die wirklichen Traditionen von frühen Plänen für Musikerorganisationen im 19. Jahrhundert zu rekonstruieren,2 beginnend mit Franz Brendel, aber auch mit Richard Wagners Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen aus dem Jahre 1848 in der Verbindung mit seinem antisemitischen Pamphlet „Das Judentum in der Musik“. Ohne auf diese frühen Studien an dieser Stelle eingehen zu können, möchte ich die These dieses „Rückbruchs“ bei der Gründung der RMK ausführen, da offensichtlich einige NS-Funktionäre und federführend Heinz Ihlert mit Gustav Havemann und anderen, die an der Konzeption der RMK beteiligt waren, ebenfalls diese historische Legitimation suchten. Wichtig war hier die scheinbar neue, revolutionäre RMK. Joseph Goebbels propa1 Heinz Ihlert, Die Reichsmusikkammer: Ziele, Leistungen und Organisation Band 7 (= Schriften der Deutschen Hochschule für Politik 2), Berlin 1935. 2 Gerhard Splitt, Die „Säuberung“ der Reichsmusikkammer. Vorgeschichte – Planung – Durchführung, in: Horst Weber (Hg.), Musik in der Emigration 1933–1945. Verfolgung, Vertreibung, Rückwirkung, Stuttgart 1994, S. 12ff.

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gierte dies als einen revolutionären Akt der Nationalsozialisten, aber gleichzeitig bemühten sich er und andere, die alte Kammeridee zu rekonstruieren, wofür sich die These vom konstruierten Rückbruch anbietet. Es war den Nationalsozialisten gerade in dieser frühen Herrschaftsstabilisierungsphase zwischen 1933 und 1935 extrem wichtig, ambivalente Strategien umzusetzen. Auf der einen Seite sollten revolutionäre ideologische, politische Maßnahmen gesetzt werden, auf der anderen Seite wurde gleichzeitig Kontinuität signalisiert, d. h., die revolutionäre Maßnahme wurde in einen langen historischen Weg eingebunden. Ein zweites prägendes Leitmotiv in dieser Frühphase der RMK ist die Tatsache, dass kritische politische Beobachter, auch wenn sie damals noch mit dem NS-Regime zusammenarbeiteten, wie der konservative Oberbürgermeister von Leipzig Carl Friedrich Goerdeler,3 in einer Denkschrift bereits im September 1934 erkannten, dass diese Vorgangsweise einen Versuch der Nationalsozialisten darstellte, die klassischen staatlichen Strukturen zu durchbrechen. Die Reichskulturkammer (RKK) mit ihren verschiedenen Untergliederungen, speziell auch die von ihm erwähnte RMK, seien so etabliert worden, dass damit fachliche „Zuständigkeiten der öffentlichen Verwaltungen […] in Anspruch genommen werden“4 konnten. Anhand einzelner Beispiele, mit denen er sich offensichtlich in Leipzig auseinanderzusetzen hatte, zeigte Goerdeler, dass dieses System ein Versuch war, sich mit einer politisch gesteuerten Institution, die scheinbar unabhängig als Kammer etabliert wurde, nicht nur auf eine Art gewerkschaftliche Institution zurückzuziehen, sondern auch staatliche Kompetenzen zu reklamieren. So gab es in Leipzig eine heftige Diskussion um den Leiter einer Musikhochschule, der gegen den Willen der Staatsverwaltung von der RMK eingesetzt wurde. Interessant ist auch, dass Goerdeler in seiner Denkschrift argumentierte, dass das RKM-Regime ein viel zu zentralistisches Modell sei und überhaupt nicht in die Deutsche Kulturlandschaft passe. München beispielsweise würde sich durch die „in Berlin ausgeklügelten Richtlinien nicht wirklich etwas sagen lassen“.5 Zudem erkannte er deutlich, dass es gerade in dieser Frühphase 1934/35 noch eine heftige Auseinandersetzung um Kom3 Carl Friedrich Goerdeler, Denkschrift zur deutschen Innenpolitik (August/September 1934), in: Onlinedatenbank Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945, (abgerufen am 23. Juni 2013), S. 26ff. 4 Ebenda, S. 26. 5 Ebenda, S. 27.

Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte der Reichsmusikkammer  |

petenzen in der Frage der Musikkulturpflege zwischen Reichspropagandaministerium, Reichserziehungsministerium, diversen Kulturkammern der Deutschen Arbeitsfront, der Hitlerjugend etc. gegeben hatte. Goerdeler war ein kluger politischer Konservativer, jedoch in dieser Phase auch „kurzsichtiger“ Politiker. Erst spät erkannte er, was der deutsche Jurist und Exilant Ernst Fraenkel auf brillante Weise bereits im Jahre 1937 auf den Punkt brachte, indem er zu seinen Analysen, wie der NS-Staat funktioniert, eine Broschüre publizierte in Form eines Aufsatzes zum Thema Das Dritte Reich als Doppelstaat – geteilt in den Normen-Staat auf der einen Seite und den Maßnahmen-Staat auf der anderen.6 Diese Schrift erschien in einer zum Buch erweiterten Ausgabe 1941 im New York Exil unter dem Titel The Dual State.7 In der Übertragung dieser Gedankenfigur bestand die Funktion der RMK darin, auf der einen Seite mit einer breiten Palette an Normen das Musikleben zu reglementieren und kontrollieren und auf der anderen Seite in der Musikbürokratie politische Maßnahmen zu setzen. Gerade in den Jahren 1933/34 wurde eine Reihe führender Theaterdirektoren auf lokaler Ebene einfach von NS-Funktionären auf die Straße befördert oder berühmte Dirigenten, ohne objektive Grundlage, kurz entschlossen hinausgeworfen. In diesem Sinne war die RMK auch der Versuch, hier abseits der klassischen staatlichen normativen Systeme, ein neues – politisch zentral kontrolliertes – Regelwerk einzuführen. Für mich repräsentierte die RMK, um Ernst Fraenkel weiterzudenken, eine Mischung aus normenstaatlichen und maßnahmenstaatlichen Elementen, wobei der Versuch gemacht wurde, hier über eine „Scheinautonomie“ Eingriffe im Musikleben zu organisieren und durchzuführen. Splitt hat bereits perfekt die Planungen für die RMK im Rahmen des Reichskartells der deutschen Musikerschaft um Havemann, Ihlert und andere analysiert.8 Ich möchte mit dem „Endprodukt“ beginnen, das wieder diese doppelten Strategien des NS-Regimes zeigt: Einerseits sprach Goebbels am 15. November 1933 bei der Eröffnung der RMK von einer totalen 6 Reprint in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften. Band 2 Nationalsozialismus und Widerstand, hg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 1999, S. 504–519. 7 Ernst Fraenkel, The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941. 8 Gerhard Splitt, Richard Strauss 1933–1935. Ästhetik und Musikpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, Pfaffenweiler 1987.

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Revolution.9 Von Grund auf sollte alles neu gestaltet werden, er sprach von National-Romantik, die das „deutsche Leben wieder lebenswert macht“. Andererseits wählte er als Repräsentanten für die RMK die traditionell prominentesten Persönlichkeiten des Musiklebens: Für die Leitungsposition den Star-Komponisten Richard Strauss und als Vizepräsidenten den bedeutendsten deutschen Dirigenten dieser Zeit, Wilhelm Furtwängler, obwohl sich im Hintergrund Havemann und andere durchaus berechtigte Hoffnungen auf diese Posten gemacht hatten. Doch obwohl Havemann in der Planungsphase als künftiger Präsident der RMK aufgetreten war, suchte sich Goebbels keinen eingeschworenen Parteigenossen aus dem Kampfbund für deutsche Kultur, sondern einen Hochkulturrepräsentanten aus einem bürgerlichen Umfeld. Bezeichnenderweise wurde diese Entscheidung damals offen kommentiert und als Stärke des nationalsozialistischen Systems ausgewiesen. So schrieb Gerhard Tischer in Die Musik im November 1937 zur ersten Arbeitstagung der RMK in Berlin: „Es ist symptomatisch, dass die nationalsozialistische Regierung zur obersten Führung der Kammer die Männer Richard Strauss, den stärksten unter den deutschen Komponisten von Weltgeltung, und Wilhelm Furtwängler, den größten unter den Reproduzierenden, berief, die beide nicht Parteimitglieder sind.“10 Es war diese Doppelstrategie in der Aufbauphase des NS-Regimes, die die RMK prägte, obwohl die Zielsetzung natürlich von Anfang an klar war. Für Goebbels bedeutete dieser Festakt in der Berliner Philharmonie auch letzten Endes einen Erfolg gegen andere Konkurrenten innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung. So plante Arbeitsminister Robert Ley immer wieder, die Berufsverbände in den Einfluss der Deutschen Arbeitsfront zu bringen, Goebbels wiederum versuchte, Ley bei Hitler als Marxisten zu denunzieren. Die Etablierung der RMK war für Goebbels ein wirklicher Erfolg in Richtung totaler Kulturhegemonie mit bestimmten Ausnahmen, die sich vor allem in Berlin aufgrund der politischen Stärke von Göring natürlich anders akzentuierten als im Rest von Deutschland. Dass Goebbels zunehmend sich auch gegen seine Widersacher behaupten konnte, verdankte er nicht zuletzt der Etablierung der 9 Tonausschnitte der Ansprache von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels anlässlich der Eröffnung der Reichskulturkammer in der Berliner Philharmonie, 15. November 1933, in: Deutsches Historisches Museum und Deutsches Rundfunkarchiv (Hg.), 1933 – der Weg in die Katastrophe, Berlin 2000. 10 Zitiert nach Nina Okrassa, Peter Raabe. Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872–1945), Wien 2004, S. 206.

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RMK als Baustein innerhalb der RKK, um vor allem den Kampfbund für deutsche Kultur zurückzudrängen. Dies war wichtig, da es zwischen 1933 und 1934 (Goebbels erwähnte es auch in seiner Rede) eine Reihe wilder Entlassungen gegeben hatte, etwa Intendantenwechsel in Baden-Baden, Berlin, Bielefeld und Chemnitz bis hin zu Zittau, die primär auf Interventionen regionaler NS-Parteifunktionäre beziehungsweise des Kampfbundes für deutsche Kultur zurückzuführen waren. Nach diesem ersten Erfolg des Reichspropagandaministeriums Ende 1933 und dem Coup, die prominentesten lebenden deutschen Musiker für die Formalfunktionen zu gewinnen, kam es Mitte 1935 zu einer eklatanten Krise. Der Grund ist bekannt: der Rücktritt von Richard Strauss, erzwungen am 13. Juli 1935, nachdem sein Briefwechsel mit Stefan Zweig abgefangen worden war. Doch es hatte zuvor einen zweiten internen Rücktritt gegeben, der in der Literatur weniger für Aufregung gesorgt hat, nämlich der erzwungene Rücktritt von Gustav Havemann aufgrund seiner Fürsprache für Paul Hindemith, obwohl eigentlich Furtwänglers entsprechende Aktivitäten ihm ein warnendes Beispiel hätten sein müssen.11 Dennoch versuchte er in einer direkten Korrespondenz mit verschiedenen Ministern und Adolf Hitler selbst, Hindemiths Erfolge in der Türkei zu thematisieren, um diesen wieder in das deutsche Musikleben zu integrieren. Daraufhin wurde Havemann am 3. Juli 1935 in einem kurzen Telefonat einfach abgesetzt.12 Was jetzt begann, war eine Art innerer politischer Feldzug in der Bürokratie der RMK. Hans Hinkel, der hier eine wichtige Rolle spielte, begann seine Agenten in Marsch zu setzen und das System umzudrehen.13 Er erklärte in internen Berichten, dass man der Reichsmusikerschaft einen viel zu starken gewerkschaftlichen Charakter gegeben habe, dies irrsinnigen Schaden angerichtet hätte und beispielsweise die Einzelerfolge in der Arbeitsbeschaffung eigentlich gar nicht so groß gewesen seien. Ferner wäre insbesondere der finanzielle Schaden we11 Ebenda, S. 269. 12 Ebenda, S. 198 sowie Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I Aufzeichnungen 1923–1941, Band 3/1 April 1934 – Februar 1936, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hg. von Elke Fröhlich, München 2005, S. 257f. (Eintrag vom 5. Juli 1935, der sich auf den 3. Juli 1935 bezieht). 13 Siehe auch Friedrich Geiger, „Einer unter hundertausend“. Hans Hinkel und die NSKulturbürokratie, in: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil  II 1933–1966, hg. von Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister (= Musik in Dresden 5), Laaber 2002, S. 47–61.

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sentlich höher anzusetzen, sodass die Erfolge im Bereich der Arbeitsbeschaffung (auf die noch einzugehen sein wird) vor allem ein Verdienst des Geschäftsführers Ihlert seien. Zum Beleg dieser Vorwürfe sprach Hinkel von Protektionswirtschaft übelster Art, in 22 Fällen wären leitende und nachgeordnete Angestellte untereinander verwandt. Als praktische Folge dieser Bestandsaufnahme integrierte Hinkel die RMK ab 1935/36 noch stärker in den Verband des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP). Wenn man über die RMK spricht, handelte es sich daher nicht um eine auf den ersten Blick zu vermutende, scheinbar autonome Institution, sondern um eine Kammer, die auf allen Ebenen vom RMVP geprägt und beeinflusst wurde. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Hinkel als Reichskulturwart 1937 bei der Eröffnung der Gau-Kulturwoche signalisierte, es gebe keine unpolitischen Künstler mehr. Bemerkenswert an seiner Rede in Dessau am 14. März 1937 war, wie er sich in seiner Einleitung offen mit dem Problem auseinandersetzte, dass in der ersten Phase der Machtergreifung „der Führer als untalentiert, unkünstlerisch, amusisch bezeichnet wurde, der den kulturellen Fragen fernstehe“.14 Wenn die Medienpräsenz von Hitler nach der Machtergreifung in den Jahren 1933 bis 1935 retrospektiv aus der Perspektive der Forschung unter dem Aspekt „Kontakte mit Künstlern“ reflektiert wird, also Inszenierungen von Künstlern beim Tee bei Adolf Hitler und vieles andere mehr ins Zentrum stellt,15 dann zeigt sich, dass hier ganz bewusst gegen dieses Image gearbeitet wurde, dass der Nationalsozialismus tatsächlich „der beste Freund des deutschen Künstlers sei“.16 Gezielt wurde entsprechend daran gearbeitet, das Image von Hitler und den Nationalsozialisten als eine unkultivierte, kunstferne, kulturlose, proletarische, sozialistische Revolutionärsbande innerhalb weniger Jahre ins Gegenteil zu verkehren. Gleichzeitig deponierte Hinkel ohne Vorbehalte, „dass kein Künstler vergessen dürfe, dass er im Rahmen seiner Aufgaben politisch zu handeln und politisch zu denken und politisch zu schaffen hat“.17 14 Zitiert nach Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-R Kiel 2004, S. 32. 15 Siehe dazu Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991. 16 Zitiert nach dem bei Prieberg abgedruckten Bericht, Handbuch Deutsche Musiker, S. 3043f. 17 Ebenda.

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Das zentrale Element dieser Politik war von Anfang an auch der Versuch der RMK, mit Berufsverboten von jüdischen Künstlern und Künstlerinnen in dieser ersten Phase rassistisch auf das Musikleben einzuwirken.18 Da es noch keinen „Arierparagraphen“ gab, bestand für Juden und Jüdinnen noch die theoretische Möglichkeit, Mitglied einer Einzelkammer oder bei der RKK zu werden. „Nichtarier“ und sogenannte „fremdstämmige Ausländer“ mussten jedoch einen besonderen Nachweis erbringen. Ein „Nichtarier wird deshalb Zuverlässigkeit und Eignung besonders nachweisen müssen.“19 Die Ausnahmevorschriften der besagten Beamtengesetzgebung konnten sinngemäß auch hier herangezogen werden. Das führte dazu, dass zumindest im Jahr 1934 1.024 nichtarische RMK-Mitglieder verzeichnet wurden, die diese Hürde überwinden konnten, also nicht grundsätzlich als nicht geeignete Träger und Verwalter deutschen Kulturguts ausgegrenzt und mit Berufsverbot belegt wurden. Übrigens war der größte Teil dieser Gruppe (ungefähr 900 Personen) in Berlin/Brandenburg tätig. Rosenberg vermerkte gehässig in seinem Tagebuch, dass Goebbels völlig unfähig sei, sich gegen die „Judengenossen auch durchzusetzen“.20 Bereits im August 1935, und dies ist sicherlich auf eine Intervention von Goebbels zurückzuführen, begann die RMK mit einem umgekehrten Prozess: Nun wurden zunehmend sogenannte „Ausgliederungen“ vorgenommen, ein Euphemismus für politisch und rassistisch motivierte Ausschlüsse von jüdischen Musikern und Musikerinnen aus der RMK. Diese offen rassistische Politik wurde in Folge beschleunigt, vor allem nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938. Überdies wurden alle Fälle von sogenannten „Nichtariern“, einschließlich sogenannter Dreiviertel-, Viertelund Halbjuden, direkt an die RMK gezogen, wobei die letzte Entscheidung wieder von Goebbels selbst und dem Reichspropagandaministerium getroffen wurde. Was war nun das Besondere an der RMK, die stark am Gängelband des RMVP gewesen ist? Zuvörderst ist zu nennen, dass es Goebbels und seiner Bürokratie innerhalb relativ kurzer Zeit gelang, einen Zwangszusammenschluss von unterschiedlichen Vertretungen von Musikern und Musikerinnen zustande zu bringen, um auf der einen Seite eine Registrierung vorzu18 Siehe hierzu den Beitrag von Sophie Fetthauer in diesem Band. 19 Richtlinien für die Aufnahme von Nichtariern in die Fachverbände der Reichsmusikkammer vom 23. April 1934, siehe Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 33. 20 Ebenda, S. 50.

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nehmen; dies entsprach der ursprünglichen Idee einer Lizenzkarte, wurde aber über die Mitgliedschaft in der RMK ein zentrales Element der politischen und rassistischen Kontrolle und führte zu den erwähnten Ausschlussmaßnahmen für jüdische Künstler und Künstlerinnen ab 1935. Auf der anderen Seite wurde durch eine breite Reglementierung versucht, eine Rechtskontrolle durchzusetzen – das reichte zum Beispiel von Genehmigungspflichten zum Engagement von Kulturorchesterverboten, von Konzertvereinigungen mit Polizisten bis hin zu geplanten Musikfestkontrollen –, eine Regelung, die dann wieder aufgehoben wurde. Hier wurde sehr deutlich, dass die NS-Propagandaführung diese Institution benutzte, um einen rechtlichen Rahmen zu liefern, d. h., den politischen Maßnahmenstaat in Form eines Normensystems umzusetzen und damit den gesamten Musikbetrieb, und zwar nicht nur die Berufsmusiker, sondern auch zunehmend sogenannte nebenberufliche Musiker in den politischen Griff zu bekommen, um über diesen Umweg auch das gesamte Laienmusikerwesen zu kontrollieren, ohne hier direkt eine Mitgliedschaft zu konstruieren. Eine weiterer inhaltlich wichtiger Punkt war, dass ab 1935 begonnen wurde (sehr stark geprägt auch von der neuen Führung der RMK durch Peter Raabe), sogenannte Bach-Händel-Schütz-Feiern zu propagieren.21 Diese Feiern waren an sich sehr geschickt angelegt. Raabe machte deutlich, dass es jetzt darum gehe, nicht mehr bürgerliche Konzertpflege zu organisieren, sondern die Musik unter das Volk zu bringen. Man erkennt auch in diesem Projekt den Versuch, den bürgerlichen Konzertsaal aufzulösen und Musik als Kulturgut möglichst allen gesellschaftlichen Schichten zugänglich zu machen. Interessant ist, dass man solche Initiativen immer mit ideologischen Codes verknüpfte, um nicht einen individuellen oder intellektuellen Kunstgenuss zu fördern, sondern ein gemeinsames kollektives und auch instrumentalisiertes Musikerleben zu erreichen. In diesem Zusammenhang spielte eine weitere inhaltliche Strategie der RMK, der „Tag der deutschen Hausmusik“, eine zentrale Rolle. Diese bemühte sich ebenfalls die Politik zu forcieren, den klassischen bürgerlichen Konzertsaal aufzubrechen, die Musik unter die deutschen Menschen zu bringen und Laienkräfte stärker zu integrieren.22

21 Ebenda, S. 26. 22 Völkischer Beobachter, Wiener Ausgabe, 18. November 1943.

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In diesem Zusammenhang möchte ich die Frauenfrage analysieren, ein Thema, das trotz einer interessanten Arbeit von Claudia Friedel über Komponistinnen23 leider in der Literatur sehr vernachlässigt wird und noch sehr viele Lücken aufweist. Denn anlässlich der Hausmusiktage betonte gerade Raabe immer wieder, dass „die Frau im deutschen Musikleben einen beachtlichen Platz einnimmt“.24 Die Zahlen, die er zitierte, sind sehr niedrig. Er kam auf sechs hauptamtliche und 41 nebenberufliche Komponistinnen, bei Dirigentinnen schwieg er sich überhaupt aus.25 Tatsache ist aber, wie die Statistiken der RMK zeigen, dass natürlich auch viele Frauen Mitglied der RMK waren. Selbst im Jahre 1935, mit dem Stichtag 31. März, gab es in der sogenannten Reichsmusikerschaft insgesamt rund 90.000 Personen, davon 69.000 Männer und 21.000 Frauen,26 die sich auf Bereiche wie gemischte Chöre, Frauenkapellen und andere mehr verteilten. Da es im Zuge des Zweiten Weltkriegs ein massives Problem gab, Nachwuchsmusiker adäquat auszubilden, wurde die Verpflichtung von Frauen plötzlich umso stärker forciert, was hinsichtlich des offiziellen traditionellen Frauenbildes kommentarbedürftig war. Jede Begründung begann mit der Behauptung, dass Frauen eigentlich in die Familie gehörten, aber unter den speziellen Zeitumständen Ausnahmebedingungen möglich wären. Auf diese Weise versuchte Raabe, eine Art Barriere zu brechen. Zahlen aus dem Jahr 1941 dokumentieren einen Bedarf von jährlich 4.509 Orchestermusikern, aber nur 1.600 kamen als Nachwuchs in die Ausbildung. Frauen waren allerdings nach wie vor sehr stark im Bereich der reproduzierenden Musik vertreten, zum Beispiel als Sängerinnen. Diese doppelbödige Frauenpolitik war entsprechend patriarchalisch organisiert, und auch Raabe sprach immer sehr väterlich herablassend über Frauen. Während des Kriegs erfolgte nur eine vorsichtige Öffnung in der Frauendebatte, auch Orchester blieben nach wie vor sehr frauenfeindlich. Dies war auch bei Dirigentinnen der Fall, von denen es durchaus einige gegeben hat. Die Dirigentin Marta Linz dirigierte sogar 1935 das Berliner Philharmonische Orchester,27 aber ansonsten blieben 23 Claudia Friedel, Komponierende Frauen im Dritten Reich: Versuch einer Rekonstruktion von Lebensrealität und herrschendem Frauenbild, Hamburg 1995. 24 Frauen im deutschen Musikleben, in: Allgemeine Sänger-Zeitung 34 (1940), Heft 5, S. 39, zitiert nach Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 37. 25 Ebenda. 26 Ihlert, Reichsmusikkammer, S. 15. 27 Friedel, Komponierende Frauen, S. 129.

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Frauen meist auf den Ausbildungsbereich beschränkt, als Musiklehrerinnen, Klavierlehrerinnen und in vergleichbaren Lehrpositionen. Andere Bereiche, in denen sich die Aufgabenfelder und auch die Propaganda der Reichsmusikkammer änderten, lassen sich hier nur erwähnen, etwa die tragische Geschichte, als man Kriegsversehrte ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg in den Musikbetrieb reintegrieren wollte.28 Auch das Ziel, die Programmgestaltung des deutschen Musiklebens seit dem 2. September 1939 total zu kontrollieren, lässt sich hier nur streifen. Dies bedeutete zum Beispiel im März 1942, dass die „Herstellung, Verbreitung und Aufführung musikalischer Werke von Autoren der Vereinigten Staaten zu unterbleiben hatte“.29 Ein weiteres spannendes Feld, das trotz einer Reihe von Studien30 weiterhin hohen Forschungsbedarf aufweist, ist bei einem geweiteten Blick auf das Thema Jazz die Irritation der Nationalsozialisten über „Abweichungen“ im Bereich der Unterhaltungsmusik. Hierzu findet sich relativ viel Material, da überdurchschnittlich viele Interventionen und Denunziationen in der RMK landeten, die sich immer auf deutsche Unterhaltungs- und Tanzmusik bezogen. Bereits im Jahre 1939 brach zum Beispiel im Gau Magdeburg/Anhalt eine solche heftige Debatte aus. Das Land versuchte, die Wiedergabe ausländischer Schlagermusik nach Möglichkeit hintanzuhalten, auch das aktive Musizieren, die sogenannte „Hotbläserei“, war genauso untersagt wie das „übermäßige Ziehen und Jaulen auf den Instrumenten [...]“.31 Dies ist eine skurrile Geschichte, die aber ernsthaft im Westdeutschen Beobachter als aktuelles Problem der Säuberung der Unterhaltungs- und Tanzmusik am 16. Jänner 1939 thematisiert wurde. Diese Situation intensivierte sich nach Kriegsbeginn, und auch seitens der RMK wurde versucht, durch entsprechende Weisungen praktischen Einfluss zu nehmen. Dies ging so weit, dass man sich 1943 ständig mit Denunziationen beschäftigte. Ein Do28 Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 6036. 29 Die Musik 34 (1942), Heft 6 März, S. 215. 30 Siehe zum Beispiel Michael H. Kater, Different Drummers: Jazz in the Culture of the Nazis, New York 1992 sowie Bernd Polster (Hg.), „Swing Heil“. Jazz im Nationalsozialismus, Berlin 1989. 31 Online Datenbank Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Parteikanzlei, Weiterleitung einer Beschwerde 14. April 1943 bis 11. Mai 1943, Original Bundesarchiv (BArch), Sig. NS 18-44288. Siehe auch ebenda, Durch die Parteikanzlei. Herbeiführung einer Stellungnahme der Reichsmusikkammer, Regest 45019, 9. November 1943 bis 25. Februar 1944, BArch NS 18 alt 45019.

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kument aus dem Aktenbestand der Parteikanzlei der NSDAP zeigt, dass sich der Gauleiter aus Sachsen heftig beschwerte, als während einer Jubiläumsfeier der UFA Musik gespielt wurde, die er „als eine ganz üble Musik empfindet und der Kapellmeister hört nicht auf“.32 Aufschlussreich ist die sehr raffinierte Abwickelung dieser Denunziation, die fast ohne Folgen für den Kapellmeister blieb. Dass sich die Nationalsozialisten mit Unterhaltungsmusik auseinandersetzten, hängt meiner Meinung nach mit innerer geschickter psychologischer Kriegsführung zusammen: Je schlechter die Kriegslage wurde, umso wichtiger und bedeutender wurde der gezielte Einsatz von Unterhaltungsmusik im Reichsrundfunk33 zur Beruhigung und Entspannung im totalen Krieg. U-Musik war sozusagen die emotionale Beruhigungspille für das Volk. Dazu gehörte auch der Einsatz von „Wiener Musik“ im Stil von Johann Strauß. Zuletzt vermuteten bereits Fritz Trümpi 201134 – und davor Clemens Hellsberg im Jahr 199235 – in ihren Publikationen den Dirigenten Clemens Krauss als Initiator der Johann-Strauß-Konzerte ab 1939/1941. So schreibt Trümpi: „Denkbar ist, dass die Urheberschaft bei Clemens Krauss lag, der mit den Wiener Philharmonikern seit 1929 reine Johann-Strauß-Konzerte aufführte“36 – vor allem bei den Salzburger Festspielen. Die 2014 im Notenarchiv-Depotkellerabteil der Wiener Philharmoniker gefundene Mappe mit Verträgen und Korrespondenzen mit der Reichsrundfunkgesellschaft machen diese These und zwei bisher zu wenig mit Quellenmaterial dokumentierte Annahmen wesentlich präziser, dass nämlich die Initiative zu diesen Konzerten ebenso wie zu den Verhandlungen von Clemens Krauss ausging und dieser auch die ersten Gespräche mit der Reichsrundfunkgesellschaft in Berlin vorbereitete. Das Alleinstellungsmerkmal, das dem Neujahrskonzert heute als globalem „Musik-Label“ attestiert wird, traf weder 1939 noch in den Jahren zwischen 1941 und 1945 zu, wie die dünnen Musikbeschreibungen im Völki32 Ebenda. 33 Siehe dazu Völkischer Beobachter, Wiener Ausgabe, 29. Oktober 1943, 20 Jahre Großdeutscher Rundfunk: „gehobene Unterhaltungsmusik“ versus „volksfremde und zersetzende Elemente“! 34 Fritz Trümpi, Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester, Wien 2011, S. 257. 35 Clemens Hellsberg, Demokratie der Könige, Zürich 1992, S. 570. 36 Trümpi, Politisierte Orchester, S. 257.

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schen Beobachter oder dem zweitgrößten Presseorgan NS-Deutschlands, der Wochenschrift „Das Reich“, dokumentieren. Natürlich passte die vom Krieg ablenkende Wirkung der „Walzer-Musik“ perfekt als ein Mosaikstein in das Schema nationalsozialistischer Propaganda- und vor allem Rundfunkpolitik – dazu gehörten aus Berliner Sicht Wolfgang Amadeus Mozart genauso wie Franz Léhar oder eben Johann Strauß. Abschließend soll im Sinne einer Conclusio prägnant versucht werden, eine Art Kommentar auf den Rückblick des Präsidenten der RMK Peter Raabe vom Dezember 194337 abzugeben. Dort erwähnte er den großen Erfolg der RMK bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Eine Auswertung der internen Statistiken hingegen zeigt, dass das nur teilweise gelungen ist, bestenfalls eine Reduktion der Arbeitslosigkeit um 50% bei Musikern und Musikerinnen mit einer extrem niederen Einkommenslage in den ersten Jahren 1934 und 1935 ist festzustellen. 100 RM als monatliches Durchschnittseinkommen betraf ungefähr 60% aller Musiker in dieser Zeit. Der Propagandaslogan, „die RMK hat Arbeit geschaffen“, hatte tiefgreifend faktisch nicht funktioniert und beschränkte sich, wie die internen Statistiken zeigen, auf die Bereiche, in denen die RMK Juden und Jüdinnen entlassen hatte, deren Stellen nachzubesetzen waren. Im inhaltlichen Bereich verwies Raabe auf das Bach-Händel-SchützFest und die Durchführung musikalischer Großveranstaltungen anlässlich der Olympischen Spiele 1936, letztlich eine dürftige Bilanz. Hingegen gab es einen nachweislichen Einfluss auf den Musikunterricht. Auch der Tag der deutschen Hausmusik repräsentierte zunehmend im Zweiten Weltkrieg eine symbolische Brücke zwischen Front und Heimat und spielte eine wichtige strategische Rolle. Was die Organisationsstärke betrifft, so verzeichnete die RMK – und es gab 1939 meines Wissens nach keine jüdischen Mitglieder mehr – insgesamt im Bereich der Berufsmusiker und Musikerinnen 3.500 Komponisten, 6.500 Solisten, Konzertbegleiter und hauptberufliche Kirchenmusiker, 8.300 Kapellmeister und Orchestermusiker sowie 126.000 Kapellmeister und Unterhaltungsmusiker. Das ist der große Kern. Aber auch der Versuch, die Laienmusik zunehmend zu beeinflussen mit über 16.000 Männerchören, über 2.500 gemischten Chören und 5.700 Kirchenchören, ist hinzuzurechnen. 37 Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer Dezember 1943, Rückblick/Statistik III, zitiert nach Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 6034ff.

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Dies mündet abschließend in die Frage, ob die RMK ein Instrument der totalen Kontrolle oder der Versuch war, auf einer semiautonomen Ebene Musikern eine Anstellung zu verschaffen und dafür ein Regulativ zu entwickeln. 1941 gab Peter Raabe eine klare Antwort,38 die auch 1933 und 1934 so bereits absehbar war: „Die Totalitätsforderung des Nationalsozialismus schließt es in sich, dass sich die Organisationen allen Kunstwesens lückenund fugenlos einfügen in die Gesamtpolitik des Reiches.“ Vor allem unter massivem Einfluss des RMVP (auch teilweise durch Denunziationen und Interventionen seitens der Gruppen um Alfred Rosenberg) war es rasch gelungen, die RMK ganz im Sinne einer totalitären Institution zu entwickeln und auch im Zuge der 1930er und 1940er Jahre der jeweiligen politischen und militärischen Situation anzupassen. In den Jahren 1933/34 und noch 1935 diente die RMK zur Herrschaftslegitimierung. Sie fungierte als Signal an die konservativen bürgerlichen Schichten, um zu verdeutlichen: Es gibt zwar eine Revolution, aber es ist eine kontrollierte, deutsche nationale Revolution mit den bedeutendsten Vertretern der deutschen Musik an der Spitze. Ab 1935/36 begann eine radikale Phase mit massiven Auseinandersetzungen, die ab 1938/39 – leider spielt hier der Anschluss Österreichs auch eine zentrale Rolle – zu einer Verschärfung antisemitischer Maßnahmen führte, die im Musikleben wesentlich rascher als in anderen Bereichen umgesetzt wurden. Innerhalb weniger Tage waren die rassistischen Berufsverbote noch vor der Einführung der NS-Legistik durch österreichische Kollaborateure, NSDAP-Mitglieder und Funktionäre umgesetzt.39 Ab 1939/40 hatte die RMK eine letztlich militärische Funktion als Brücke zwischen Front und Heimat, um den Musikbetrieb zu moderieren. Gerade in dem Moment, als der Bombenkrieg begann, waren aus der Sicht des NS-Regimes sogenannte Soft-Factors und die Möglichkeit, in eine andere Welt zu flüchten, in den Konzertsaal zu gehen und Musik zu hören, extrem wichtig, um eine Revolution von innen zu verhindern. Zeitzeugenberichten in Erinnerungen dokumentieren diese These: Je hoffnungsloser die Kriegslage, umso bedeutender wurde die rein politische Funktion des Musikbetriebs, umso systemstabilisierender wurde die Unterhaltungsmusik ebenso 38 Peter Raabe, Was die Reichsmusikkammer nicht ist, in: Die Musik 33 (1940/41), Heft 6 März, S. 190. 39 Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet, S. 44–58.

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wie der Unterhaltungsfilm. Ich glaube, dass auch hier die RMK in einer völligen Änderung auch ihrer Maßnahmen eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat und damit letzten Endes mitwirkte, den II. Weltkrieg zu verlängern.

„Unerlaubtes“ Musizieren und Unterrichten

Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer nach Paragraph 28 der „Ersten Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes“1 Sophie Fetthauer

Die Ausgrenzung jüdischer Musiker und Musikerinnen aus dem deutschen Musikleben nach dem Machtantritt der Nazis im Jahr 1933 ist inzwischen in zahlreichen Studien und aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben worden. Wenig bekannt ist jedoch nach wie vor, wie sich die neu erlassenen Gesetze, Verordnungen und Anordnungen auf die berufliche und persönliche Situation der Musiker im Detail auswirkten. Zeigte in der Anfangsphase des NS-Regimes vornehmlich das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 19332 durch Entlassungen von Sängern, Dirigenten und Orchestermusikern aus staatlichen bzw. städtischen Opernhäusern, Theatern und Orchestern seine Folgen, so griff das „Reichskulturkammergesetz“ vom 22. September 19333 mit den damit verbundenen Durchführungsverordnungen vom 1. und 9. November 19334 auch in die Belange aller übrigen Musiker ein, da es den Musikerberuf grundsätzlich von der Mitgliedschaft in einer der Kammern der Reichsmusikkammer (für einige Berufsgruppen auch in der Reichstheater- bzw. in der Reichsschrifttumskammer) abhängig machte. Nach der Errichtung der Reichsmusikkammer erhielten die meisten Musiker jüdischer Herkunft zunächst die Mitgliedschaft in dieser Zwangsorga1 Bei dem folgenden Artikel handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung von: Sophie Fetthauer, „Unerlaubtes“ Musizieren und Unterrichten. Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer nach Paragraph 28 der „Ersten Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes“, in: Musikkulturgeschichte heute. Historische Musikwissenschaft (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Band 26), hg. von Friedrich Geiger, Frankfurt am Main et al. 2009, S. 149–163. 2 Siehe Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 175–177. 3 Ebenda, S. 661f. 4 Siehe ebenda, S. 797–800 und S. 969.

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nisation, indem sie als Mitglieder der bereits vor 1933 bestehenden Berufsverbände, die nun „gleichgeschaltet“ und der Reichsmusikkammer einverleibt wurden, kollektiv eingegliedert wurden. Neben dem regulären Fragebogen für die Aufnahme in die Reichsmusikkammer mussten sie allerdings auch einen sogenannten „Nichtarierfragebogen“ mit Angaben zu ihrer „Abstammung“ beibringen5 und wurden auf dieser Grundlage dann in gesonderten „Nichtarier“-Mitgliederlisten erfasst.6 Nachdem am 5. Februar 1935, noch unter dem Reichsmusikkammerpräsidenten Richard Strauss, die „Anordnung zur Befriedung der wirtschaftlichen Verhältnisse im deutschen Musikleben“7 erlassen worden war, die u. a. Anweisungen bezüglich der Zwangsmitgliedschaft, der Kontrollen und der Rolle der Polizei enthielt, erfolgte ab Mitte August 1935 durch den gerade neu ernannten Präsidenten der Kammer Peter Raabe – quasi im Vorgriff auf die am 15. September 1935 erlassenen „Nürnberger Gesetze“ – der Ausschluss der meisten Instrumentalisten, Sänger und Pädagogen jüdischer Herkunft aus dem Fachverband B Reichsmusikerschaft. Grundlage für das damit verbundene Verbot, weiterhin beruflich musikalisch tätig zu sein, war Paragraph 10 der Ersten Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes. Andere Berufsgruppen wurden erst etwas später ausgeschlossen: die meisten Komponisten jüdischer Herkunft etwa im Jahr 1937 und Musikverleger teilweise erst 1938.8 Sogenannte „jüdisch versippte“ Musiker wurden ebenfalls meistens erst 1937 ausgeschlossen.9 Einsprüche gegen die Kammerausschlüsse waren zwar möglich, wurden in aller Regel jedoch von der 5 Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep. 243-01, Band 52, Bild-Nr. 339-339: Rundschreiben des Fachverbandes B Reichsmusikerschaft der Reichsmusikkammer, gez. Henrich, Geschäftsführer, gez. Stietz, Ausweisabteilung und Kartei, vom 15. 6. 1934. 6 Siehe z. B. ebenda, Band 14, Statistik über nichtarische Mitglieder, 18. Juni 1934. – Bundesarchiv Berlin (BArch), R 56 II/15, „Liste über Nichtarier“, [1935]. 7 Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 42, 19. Februar 1935, S. 1f. 8 Siehe Sophie Fetthauer, Musikverlage im „Dritten Reich“ und im Exil (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil 10), Hamburg 2004, S. 35. 9 Im Bestand des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin sind mindestens 900 Personalakten von Musikern jüdischer Herkunft überliefert, aus denen sich diese Zeitangaben rekonstruieren lassen. Siehe zu Komponisten jüdischer Herkunft z. B. die Personalakte Egon Dammann (RK R 5, Bild-Nr. 24502464) und zu sogenannten „jüdisch versippten“ Musikern die Personalakte Wilhelm Schosland (RK R 24, Bild-Nr. 1072-1098).

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nächsten Instanz, dem Präsidenten der Reichskulturkammer bzw. Hans Hinkel, der seit dem 1. Mai 1935 Geschäftsführer der Reichskulturkammer und für die „Überwachung“ aller Künstler jüdischer Herkunft zuständig war,10 und seinem „Sonderreferat“ abgelehnt. Für die weitere Berufstätigkeit wurden die Musiker an den Reichsverband der Jüdischen Kulturbünde oder an den Reichsverband der nichtarischen Christen verwiesen, da die Berufsverbote für Veranstaltungen im Rahmen dieser Organisationen nicht galten.11 Die Einhaltung der Berufsverbote wurde durch Kontrollbeamte der Reichsmusikkammer regelmäßig überwacht und die von ihnen festgestellten Verstöße mit Ordnungsstrafen geahndet. Die Praxis der Reichsmusikkammer, Ordnungsstrafen gegen solche Musiker zu verhängen, die sich ohne Berufserlaubnis musikalisch betätigten, ist u. a. in zwei Quellenbeständen aus Berlin dokumentiert: zum einen in den Beständen „Berlin Document Center“ und „Reichskulturkammer – Zentrale einschließlich Büro Hinkel“ im Bundesarchiv Berlin, zum anderen im Bestand „Reichsmusikkammer Landesleitung Berlin“ im Landesarchiv Berlin. Die Bestände, die sich teilweise überschneiden, enthalten u. a. von der Reichsmusikkammer angelegte Personalakten, darunter eine Reihe von Akten zu jüdischen Musikern aus Berlin sowie weitere, meist weniger umfangreiche Fälle von Ordnungsstrafverfahren gegen nicht jüdische Musiker. Auch sind in den Beständen Dienstanweisungen und Formularvorlagen des Präsidenten der Reichsmusikkammer überliefert, die darüber Auskunft geben, in welcher Weise die Ordnungsstrafverfahren von den Mitarbeitern der Kammer durchzuführen waren. Die so dokumentierten Ordnungsstrafverfahren, die einen Baustein im Verfolgungsapparat des NS-Staats darstellen, geben Einblick in eine Seite des Berliner Musiklebens, die in scharfem Kontrast zum glänzenden Musik10 Friedrich Geiger, „Einer unter Hunderttausend“. Hans Hinkel und die NS-Kulturbürokratie, in: Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister (Hg.), Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil II 1933–1966 (= Musik in Dresden 5), Laaber 2002, S. 47–61. 11 Siehe zahlreiche Biographien jüdischer Musiker aus Berlin, die 1935 mit einem Berufsverbot belegt wurden, im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hg. von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer, Hamburg 2005ff. (http://www.lexm.uni-hamburg.de), z.  B. Chaim Leiser Ader (1901), Kurt Albrecht (1904), Bernard Alemany (1904–1993), Hermann Alexander (1876), Paul Alterthum (1893), Richard Altmann (1888– 1942?), Wilhelm Siegfried Altmann (1898), Pepi Berta Arak (1895–1941) u. v. a.

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leben dieser Stadt steht, wie es sonst oft beschrieben wird: Kontrolleure der Reichsmusikkammer suchten Spielstätten ebenso wie Privatwohnungen von Musikern auf, prüften ihre Mitgliedskarten und Beitragszahlungen, zogen die Polizei für Vernehmungen der Musiker, aber auch ihrer Schüler, Kollegen und Arbeitgeber heran, lieferten sich manchmal sogar Verfolgungsjagden, konfiszierten Instrumente und bewirkten schließlich über einen fest vorgeschriebenen Dienstweg die Verhängung von Ordnungsstrafen sowie auch von Passsperren, die die ohnehin häufig schon eingeschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten der Musiker bei Weitem überstiegen, sie an der Ausreise aus Deutschland hinderten und sie in eine letztlich lebensbedrohliche Lage brachten. Die für die Ordnungsstrafen der Reichsmusikkammer relevanten Paragraphen, auf die in den Verfahren standardmäßig Bezug genommen wurde, finden sich in der Ersten Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes vom 1. November 1933. Paragraph 4 legte zunächst fest, dass alle, die „bei der Erzeugung, der Wiedergabe, der geistigen oder technischen Verarbeitung, der Verbreitung, der Erhaltung, dem Absatz oder der Vermittlung des Absatzes von Kulturgut“12 mitwirkten, Mitglied in einer der Einzelkammern der Reichskulturkammer sein mussten. Paragraph 10 regelte sodann die Möglichkeit der Antragsablehnung oder des nachträglichen Mitgliedsausschlusses im Falle fehlender „Zuverlässigkeit und Eignung“,13 und Paragraph 28 ermöglichte schließlich die Verhängung von Ordnungsstrafen durch die Präsidenten der Einzelkammern bei Verstößen durch jeden, 1. der entgegen der Vorschrift des § 4 dieser Verordnung nicht Mitglied der Kammer ist und gleichwohl eine der von ihr umfaßten Beschäftigungen ausübt, 2. der als Mitglied der Kammer oder kraft seiner Verantwortung in einem Fachverband den Anordnungen der Kammer zuwiderhandelt, 3. der als Mitglied der Kammer oder kraft seiner Verantwortung in einem Fachverband der Kammer gegenüber falsche Angaben macht.14

12 Reichsgesetzblatt, I, 1933, S. 797. 13 Ebenda, S. 798. 14 Ebenda, S. 799f.

Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer  |

Nachdem 1935 die meisten Mitglieder jüdischer Herkunft aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen worden waren, wurde die Frage der Ordnungsstrafen akut, da arbeitslose jüdische Musiker immer wieder Versuche unternahmen, doch noch durch Musik ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Das galt sowohl für Privatmusiklehrer, die in ihren Wohnungen weiterhin „arische“ Schüler unterrichteten, als auch für Unterhaltungsmusiker, die in den Gaststätten der Stadt sowie in den Lokalen der nahe gelegenen Ausflugsziele als Alleinunterhalter oder Kapellenmitglieder tätig waren und dort, manchmal auch nebenberuflich, von Tag zu Tag ein Auskommen zu finden versuchten. Armut und Abhängigkeit von Wohlfahrtseinrichtungen waren vor allem bei den Unterhaltungsmusikern nach der Weltwirtschaftskrise und dem Wegfall vieler Arbeitsplätze durch die Einführung von Radio und Tonfilm kein Einzelfall und wurden durch die Ordnungsstrafen noch verschärft. Um die Abläufe der Kontrollen und Ordnungsstrafverfahren zu vereinheitlichen, erging am 24. Oktober 1936 an alle Kreis-, Ortsmusikerschaftsund Nebenstellenleiter ein Rundschreiben des Präsidenten der Reichsmusikkammer, das die sogenannte Dienstanweisung II (Ordnungsstrafverfahren) enthielt.15 Kontrollen und Anzeigen sollten dieser Anweisung zufolge ab dem 1. November 1936 nach folgender Maßgabe ablaufen: Die Kontrolleure der Reichsmusikkammer hatten die Aufgabe, sich in einer Spielstätte oder in einer Privatwohnung zunächst auszuweisen und, ohne die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen, die Mitglieds- bzw. Tagesausweise der hauptbzw. nebenberuflich tätigen Musiker zu prüfen. Musiker ohne Spielgenehmigung sollten am weiteren Musizieren, Unterrichten etc. gehindert und zur Vernehmung durch die Polizei vorgeladen werden. Bei Problemen sollte die Polizei unmittelbar hinzugezogen werden, damit diese dann die Kontrolle, Behinderung und Vernehmung sowie die Beschlagnahmung der Instrumente durchführen konnte. Vernehmungen sollten grundsätzlich nicht vor unbeteiligtem Publikum stattfinden und außerdem „nationale Feiern“ durch die Kontrollen nicht gestört werden. Auch durften Musiker, die ihre Mitgliedskarten nicht bei sich führten, deren Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer den Kontrolleuren jedoch bekannt war, nicht am Musikmachen gehindert werden. Erstmalige Vergehen von Berufsmusikern waren mit Verwarnungen zu ahn15 LAB, A Rep. 243-01, Band 48, Bild-Nr. 161-166: Rundschreiben des Präsidenten der Reichsmusikkammer, begl. Donath, an alle Kreis-, Ortsmusikerschafts- und Nebenstellenleiter vom 24. Oktober 1936 mit Anlagen.

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den, und Nebenberuflerbescheinigungen – bis auf Ausnahmen – erst nach dreimaligem Verstoß einzuziehen. Die an den jeweiligen Landesleiter gerichteten Anzeigen sollten erstens aus dem ausgefüllten Anzeigenvordruck, zweitens dem Amtshilfeersuchen für die Vernehmung bei der Polizei und drittens der „verantwortlichen Vernehmung“ (d. h. einem Protokoll der Vernehmung durch einen Kontrollbeamten der Reichsmusikkammer auf dem Polizeirevier) bestehen. Darüber hinaus sollten sie Auskunft über die Höhe der beantragten Ordnungsstrafe und, für den Fall der späteren Zwangsvollstreckung, über die wirtschaftliche Lage der Angezeigten geben. Hinweise darauf, wie in diesem Zusammenhang mit Musikern jüdischer Herkunft umzugehen sei, enthielt die Dienstanweisung II nicht. Dieser in der Dienstanweisung II vorgegebene Ablauf der Kontrollen und Anzeigen lässt sich anhand der bereits erwähnten, im Bundesarchiv Berlin sowie im Landesarchiv Berlin überlieferten Personalakten der Reichsmusikkammer konkret nachvollziehen. Es handelt sich dabei um Akten, die von einer Einrichtung des NS-Staats und ihren Bediensteten angelegt wurden, ein Umstand, der die Perspektive festlegt, durch die die Ordnungsstrafverfahren heute betrachtet werden können: Vorgefertigte Formulare mit standardisierten Eintragungen und von den immer gleichen Kontrollbeamten und ihren Vorgesetzten formulierte Berichte und Vernehmungsprotokolle prägen das Bild.16 Einzig die in wenigen Fällen erhaltenen Einspruchsschreiben der Musiker – in einem Fall auch die Korrespondenz eines Rechtsanwalts – deuten auf einen anderen Blickwinkel hin. Die überlieferten Akten betreffen überwiegend Mitglieder bzw. ehemalige Mitglieder des Fachverbandes B Reichsmusikerschaft der Reichsmusikkammer. Weniger umfangreich und folgenschwer waren jene Fälle, bei denen nebenberuflich tätige „arische“ Musiker wegen fehlender Tagesausweise angezeigt wurden.17 Recht ausführliche Akten liegen dagegen über „nichtarische“ Musiker vor, die von Kontrolleuren der Reichsmusikkammer „erwischt“ wurden. Am häufigsten richteten sich hier die Anzeigen gegen Musikpädagogen jüdischer Herkunft, die „arische“ Schüler unterrichteten, 16 Dass auch die Vernehmungsprotokolle von den Kontrollbeamten ausgefüllt und die Aussagen von ihnen formuliert wurden, wird insbesondere an den Protokollen des Kontrolleurs Erich Woschke deutlich, dessen Schrift sich in einer Reihe von Personalakten identifizieren lässt. 17 LAB, A Rep. 243-01 Reichsmusikkammer Landesleitung Berlin, Bände 148, 179, 194, 204 und 211.

Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer  |

oder um ebensolche Instrumentalisten und Sänger, die ohne Spielerlaubnis auftraten. Darüber hinaus ging es auch um „unerlaubtes“ bzw. „unzulässiges“ Arrangieren, Notenschreiben und Vertreiben von Noten sowie um falsche Namensangaben.18 Während das im Zusammenhang mit der Zensur verwendete Adjektiv „unerwünscht“ auch auf den ideologischen Aspekte eines Verbots hinwies und gewisse Spielräume für Interpretationen ließ, betonte das im Schriftverkehr immer wieder verwendete Adjektiv „unerlaubt“ (teilweise auch „unzulässig“) hingegen den Bezug auf das Gesetz und das darin enthaltene Verbot. Ein typischer Fall für ein Ordnungsstrafverfahren ist der des Sängers Hellmuth Blumenthal-Menthalow (geb. am 14. November 1898 in Oranienburg). Er hatte seine Ausbildung 1921 bis 1925 bei dem Tenor Max Gießwein erhalten und wurde wie die meisten Musiker jüdischer Herkunft im August 1935 aufgrund von Paragraph 10 der Ersten Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen. Seine Beschwerde gegen das Berufsverbot vom 22. August 1935 wurde nach Erteilung einer bis zum 1. April 1936 befristeten Spielgenehmigung am 30. März 1936 endgültig zurückgewiesen. Für die weitere Berufstätigkeit wurde er an den Jüdischen Kulturbund verwiesen. 1937 wurde Blu18 Siehe folgende Fälle, in denen Kontrollberichte verfasst und anschließend teilweise Anzeigen erstattet wurden, aufgrund deren Ordnungsstrafen verhängt oder zumindest angedroht wurden (Lebensdaten, soweit bekannt, in Klammern). 1.  „Unerlaubtes“ Unterrichten: Lydia Biermann (1887–1980), Felix Karl Brandes (1879–1959), Rosebery d’Arguto (1890–1943), Wilhelmine EibenschützWnuzcek (1878–1957), Erna Freyberg (1888), Esther Kaß (1903–1977), Herbert Klüger (1889–1943), Fritz Masbach (1867–1960), Felicitas Anna Reich (1911), Gabriele Ruge (1911), Elsa Schiller (1897–1974), Fanny Warburg (1871–1969), Ernst Weißler (1887–1972), Else Wertheim (1881–1943), Leo Ziegler (Leopold Ziegelroth) (1872–1957), Margarete Ziegler-Bouché (Ziegelroth) (1877–1957). 2.  „Unerlaubtes“ Musizieren: Hellmuth Blumenthal-Menthalow (1898–1994), Fritz Cohn (1905–1941), Isaak Paul Friedländer (1901–1942?), Josef Kimelmann (1898–1978), Herbert Klüger (1889–1943), Georg Kunz (1907), Carl Lee (1894), Ernst Lee (1897–1942?), Max Leuschner (1915), Rudolf Margolinski (1900– 1942?), Richard Mohaupt (1904–1957), Bruno Wilhelm Rosenberger (1906), Fredo Schaul (1893), Hugo Strauß (1869–1944), Arthur Zimmermann (1902). 3.  „Unerlaubtes“ Arrangieren bzw. Notenschreiben: Adolf Wohlauer (1893– 1943?). 4. „Unerlaubter“ Notenhandel: Nikolaus Weiss. 5. Falsche Angaben zu Namen: Georg Cohn (1900–1975). Siehe hierzu die meisten dieser Biographien im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit.

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menthal-Menthalow, der inzwischen von einer Militärrente und einem Einkommen als Telefonist lebte, von einem Kontrollbeamten der Reichsmusikkammer beim „unerlaubten“ Musizieren angetroffen. Bei einem Verhör am 18. August 1937 gab er dazu folgendes „Geständnis“ zu Protokoll: Am 5.7.37 wurde ich von dem Kapellmeister Gomez zur aushilfsweisen Tätigkeit von Fall zu Fall als Sänger bestellt, da die Kapelle in größter Verlegenheit war und das Engagement davon abhing, dass sie einen spanischen Sänger bekamen. Als Entgelt erhielt ich pro Stunde 2 RM. Ich habe nicht gewußt, dass eine ganz kurze, stundenweise Aushilfstätigkeit einer Genehmigung bedarf, sonst hätte ich mir dieselbe von der Reichs-Kulturkammer mit größter Wahrscheinlichkeit besorgt und hätte diese, zumal ich Schwer-Kriegsbeschädigter bin, für eine Ausländer-Kapelle und da es sich um ausländisches Kulturgut handelte, auch erhalten. Es war lediglich der Wunsch, meinem Kollegen[,] mit dem ich jahrelang gearbeitet habe, zu helfen. Zum Schluß möchte ich noch bemerken, dass ich eine musikalische Tätigkeit seit 30.3.36 nicht mehr ausübe.19

In der Anzeige fasste der Mitarbeiter der Reichsmusikkammer Max Andress den Vorgang dann wie folgt zusammen: „B. gibt zu als Sänger tätig gewesen zu sein. Die Ausrede[,] nicht gewußt zu haben, dass eine ‚stundenweise‘ Beschäftigung genehmigungspflichtig ist, ist sehr fadenscheinig. Ich bitte um schärfste Bestrafung.“20 Hellmuth Blumenthal-Menthalow wurde daraufhin zu einer Ordnungsstrafe in Höhe von 25,– RM, (wie in allen anderen Fällen auch) zahlbar innerhalb von zehn Tagen, verurteilt, die er in Raten von 5,– RM abzahlte. Nicht immer liefen die Kontrollen der Mitarbeiter der Reichsmusikkammer, wie vorgeschrieben, „unauffällig“ ab. Im Fall des Akkordeonisten Arthur Zimmermann (geb. am 11. April 1902 in Berlin), der ebenfalls im August 1935 aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen worden war, kam es zum Beispiel zu einer regelrechten Verfolgungsjagd, wie der Kontrolleur Otto Föhl in seinem Bericht mitteilte. Dieses Dokument sei hier in voller Länge 19 BArch, ehem. BDC, Hellmuth Blumenthal-Menthalow, Bild-Nr. 1110-1112: Protokoll der Vorladung von Hellmuth Blumenthal Menthalow vom 18. August 1937. 20 Ebenda, Bild-Nr. 1107: Anzeige von Max Andress gegen Hellmuth Blumenthal vom 4. September 1937.

Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer  |

mitgeteilt, weil es belegt, dass quasi polizeiliche Aufgaben auch von einfachen Verwaltungsbeamten übernommen wurden: Anlässlich einer Kontrolle im Lokal Andree, Andreasstr. 44 stellte ich den jüdischen Musiker Zimmermann bei Ausübung der unerlaubten musikalischen Tätigkeit fest. Meiner mehrmaligen Aufforderung[,] seine Ausweise zu zeigen, kam er nicht nach und behauptete, keine Papiere bei sich zu haben. Darauf forderte ich Z. auf, sein Akkordeon einzupacken und mitzukommen. Auch das verweigerte Z. Die Gäste im Lokal nahmen bereits eine drohende Haltung gegen mich an. Ich machte die Tochter des Wirtes, die ihren abwesenden Vater vertrat, darauf aufmerksam, dass ich einen Beamten holen wolle und sie in der Zeit den Z. nicht aus dem Lokal herauslassen solle. Während dieses Gespräches versuchte Z. durch die hinteren Räume des Lokals zu entfliehen, geriet jedoch in die Küche. Als ich draussen auf der Suche nach einem Beamten an dem Lokal wieder vorbeikam, rief mich die Wirtstochter sehr erregt herein. (Sie hatte die Tür des Lokals von innen verriegelt, da Z. Anstalten machte, aus dem Lokal zu entkommen.[)] Jetzt forderte ich Z. noch einmal auf, mitzukommen[,] und als ich mit ihm auf die Strasse trat, stellten sich drei Männer zwischen Z. und mich, um ihm Gelegenheit zur Flucht zu geben. Z. lief auch sogleich in Richtung Gr. Frankfurterstr. über den Fahrdamm und ich hinterher. Als ich ihn eingeholt hatte und am Arm festhielt, rief er laut um Hilfe und riss sich wieder los, lief schnell die Gr. Frankfurterstr. in Richtung Straussberger Platz entlang. Nach ca. 100 m. holte ich Z. zum zweiten Male ein. Inzwischen hatten sich 25-30 junge Burschen angesammelt, die gegen mich Stellung nahmen und versuchten Z. zu befreien. Dieses gelang den Burschen auch und Z. lief wieder laut um Hilfe schreiend davon[,] wobei er versuchte ein vorüberfahrendes Auto anzuhalten[,] um zu entkommen, der Schofför [sic] jedoch weiterfuhr. Nachdem ich ihn nun zum 3. Mal gestellt hatte, wobei die Horde Burschen immer hinter mir her lief und uns auch einholte, entstand ein Handgemenge, in dem ich Z. mit meiner linken Hand festhielt und mich mit der rechten Hand gegen die Horde Burschen verteidigte. Auf den Auflauf und die Hilferufe des Z. kam ein Schupobeamter herbeigeeilt, welchen ich um Beistand bat. Dann wurde Z. dem Pol.Rev. 89 zugeführt. Nach den Feststellungen ging ich mit dem betr. Beamten in das Lokal Andres zurück und erfuhr dort, dass Z. von den Gästen Bier erhalten hat. Der Beamte ging in das nebenanliegende Lokal von Burger, Andreasstr. 45, wo ihm bestätigt wurde, dass Z. zuvor dort gespielt, gesammelt und Geld erhalten hat[.] Somit ist Z. des Bettel-Par. 361 Z. 4 überführt. Bei Durchsuchung der Taschen des Z. wurde festgestellt, dass sich Rm. 1,11 in 10-, 5- und 1 Pfennigstücken darin befanden und [er] im Besitze eines Passes ist, aus

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dem hervorgeht, dass Z. polnischer Staatsangehöriger ist und bis zum Februar 1937 Aufenthalts-Genehmigung hat. Das Verhalten des Z. während seiner Festnahme und auch auf dem Polizeirevier lässt m. E. nach darauf schliessen, dass Z. sicher noch irgend ein anderes Vergehen begangen haben muss und sich darum unter allen Umständen einer Feststellung zu entziehen versuchte.21

Der Akte zum Fall Arthur Zimmermann ist nicht zu entnehmen, ob er am Ende des Verfahrens mit einer Ordnungsstrafe belegt wurde. Vielmehr geht aus dem oben zitierten Bericht hervor, dass der Kontrolleur an eine weitergehende Bestrafung dachte, da er den sogenannten „Bettel-Paragraphen“ (§ 361, Nr. 4) des Strafgesetzbuchs ins Spiel brachte, auf dessen Grundlage „Bettler“ mit einer Haftstrafe und Arbeitsdienst bestraft werden konnten.22 Die Begründungen der Ordnungsstrafen liefen immer nach demselben Schema ab: Zunächst wurde der bereits erfolgte Ausschluss aus der Reichsmusikkammer aufgrund von Paragraph 10 angeführt, sodann die gegebenenfalls bereits erfolgte Ablehnung des dagegen eingelegten Einspruchs und zuletzt die aktuelle Anzeige. Damit wurde Bezug auf Punkt 1 und 2 des Paragraphen 28 der Ersten Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes genommen.23 Nur gelegentlich wurde auch Punkt 3, in dem es um Falschaussagen ging, zur Stützung der Anzeigen mit herangezogen. Ein Schreiben der Reichsmusikkammer an die Gesangslehrerin Lydia Biermann (geb. am 16. September 1887 in Königsberg, Ostpreußen) vom 11. Juni 1938, in dem ihr die Verhängung einer Ordnungsstrafe von 200,– RM mitgeteilt wurde, enthielt zum Beispiel folgende standardisierte Begründung: Durch Entscheidung vom 19. August 1935 wurde Ihr Antrag auf Aufnahme in die Reichsmusikkammer auf Grund des § 10 der 1. Durchführungsverordnung abgelehnt. Durch diese Entscheidung wurde Ihnen mit sofortiger Wirkung jede weitere Berufsausübung auf einem zur Zuständigkeit der Reichsmusikkammer gehörenden Gebiet entzogen. 21 Ebenda, RK Z 34, Arthur Zimmermann, Bild-Nr. 2886-2887: Kontrollbericht von Otto Föhl über Arthur Zimmermann vom 10. Oktober 1936. 22 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich mit Erläuterungen und Nebengesetzen (= Guttagsche Sammlung Deutscher Reichsgesetze 2), bearb. von Eduard Kohlrausch, 31. Aufl., Berlin / Leipzig 1934, S. 454–457. 23 Reichsgesetzblatt, I, 1933, S. 799f.

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Durch Bescheid vom 28. April 1938 – N 20/37 – wurde Ihnen mitgeteilt, dass Ihre Beschwerde über meine Entscheidung von dem Herrn Präsidenten der Reichskulturkammer zurückgewiesen worden ist. Nach einem mir vorliegenden Bericht des Landeskulturwalters Gau Ber lin, Landesleiter für Musik, vom 17. Mai 1938 wurde in Ihrer Wohnung festgestellt, dass Sie weiterhin unzulässiger Weise arische Schüler unterrichten.24

In der Anordnung zur Befriedung der wirtschaftlichen Verhältnisse im deutschen Musikleben vom 5. Februar 1935 hieß es, dass „Personen, die den Bestimmungen dieser Anordnung zuwiderhandeln, […] gemäß § 28 der 1. Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz mit einer Ordnungsstrafe bis zu 1000 RM bestraft werden“25 können. Dieses Strafmaß wurde oft nicht ausgeschöpft, nicht selten aber auch, wie die überlieferten Fälle zeigen, weit überschritten. Ebenso wie die Mitgliedsbeiträge der Reichsmusikkammer waren auch die als Ordnungsstrafen zu zahlenden Beträge progressiv gestaffelt und richteten sich nach dem Verdienst der Musiker. Anders als bei den Mitgliedsbeiträgen, für die die Tabellenentgelte belegt sind (diese lagen gestaffelt zwischen 1,– RM bei einem Einkommen bis 100,– RM und maximal 20,– RM bei einem Einkommen von mehr als 1.000,– RM),26 kann man bei den Ordnungsstrafen das Verhältnis zwischen monatlichem Einkommen und Strafgebühr nur ungefähr anhand der überlieferten Verfahren rekonstruieren: Absolute Geringverdiener wurden demnach mit Ordnungsstrafen in Höhe etwa eines Monatseinkommens bestraft (25,– bis 50,– RM), etwas besser Verdienende mussten bis zum Zweifachen eines Monatseinkommens (100,– bis 500,– RM) und gut verdienende Musiker bis zum Siebenfachen eines Monatseinkommens (1.000,– bis 3.000,– RM) zahlen.27 Der höchste in 24 BArch, ehem. BDC, Lydia Biermann, RK R 3, Bild-Nr. 510: Brief des Präsidenten der Reichsmusikkammer, gez. Wachenfeld, begl. Donath, an Lydia Biermann vom 11. Juni 1938. 25 Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 42, 19. Februar 1935, S. 2. 26 LAB, A Rep. 243-01, Band 48, Bild-Nr. 161-166: Rundschreiben des Präsidenten der Reichsmusikkammer, gez. Ihlert, an alle Ortsmusikerschaften vom 18. 7. 1936, Anlage, S. B1, Bild-Nr. 172. 27 Zum Vergleich: Ein verheirateter Reichsangestellter der Vergütungsgruppe III (niedrigste Stufe: Angestellte mit vorwiegend mechanischer Tätigkeit) erhielt laut Tarif seit 1932 je nach Ortsklasse in der Anfangsvergütung zwischen 117,50 und 138,66 RM und in der Endvergütung zwischen 168,73 und 196,23 RM sowie in der Vergütungsgruppe XIII (höchste Stufe: Gruppen-, Sektions- und Abtei-

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den Verfahren vorgeschlagene Satz für eine Ordnungsstrafe lag bei 5.000,– RM.28 Die Ordnungsstrafen bewegten sich demnach auf einem viel höheren Niveau als die Mitgliedsbeiträge. Es passen allerdings nicht alle überlieferten Fälle in das genannte Schema. Die an das Einkommen gekoppelte Bemessung der Ordnungsstrafen galt zum Beispiel nicht bei wiederholten Ordnungsstrafen, auch wenn es sich um Erwerbslose bzw. Bezieher von Wohlfahrts- und Arbeitslosengeldern handelte. Hier sind trotz der geringen Einkommen (meist aus nichtmusikalischen Ausweichtätigkeiten) Strafen in Höhe von bis zu 300,– RM nachweisbar.29 Es ist anzunehmen, dass es für die Bemessung der Ordnungsstrafen keine fest vorgegebenen Richtlinien gab. Vielmehr ergibt sich aus den vorliegenden Dokumenten, dass sie im Zusammenspiel der verschiedenen an den Verfahren beteiligten Instanzen festgelegt wurden. Dazu gehörte der anzeigende Kontrolleur (Ortsmusikerschaft), der den ersten Vorschlag machte, die Landesleitung der Reichsmusikkammer und die entscheidungsbefugten Sachbearbeiter der Kammer. Bei der Festlegung der Ordnungsstrafen galt vermutlich das Prinzip, dass man die Musiker individuell möglichst hart treffen wollte, ohne dabei zu riskieren, dass sie am Ende überhaupt nichts zahlen konnten. In der „Dienstanweisung II“ hieß es dementsprechend, dass am Schluss des Anzeigenvordrucks „die Höhe der beantragten Ordnungsstrafe unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage und der Aussichten einer etwaigen Zwangsvollstreckung zu berücksichtigen“30 sei. Im Ordnungsstrafverfahren gegen den Pianisten Carl Lee (geb. am 6. Mai 1894 in Berlin) wird deutlich, dass die Bestrafung von Musikern jüdischer Herkunft dabei besonderen Maßstäben unterlag. Dort hieß es zu der Bemessung der Ordnungslungsleiter beim Ministerium) in der Anfangsvergütung 503,61 RM und in der Endvergütung 965,65 RM. Siehe Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 1935, hg. vom Statistischen Reichsamt, Berlin 1936, S. 304. 28 BArch, ehem. BDC, Rosebery d’Arguto, RK Z 34, Bild-Nr. 86: Formular der Landesleitung Berlin. Ebenda, Fritz Masbach, RK N 25, Bild-Nr. 2288-2289: Anzeige von Erich Woschke gegen Fritz Masbach [1938]. 29 Ebenda, Herbert Klüger, ehem. BDC, RK N 20, Bild-Nr. 2222-2224: Brief der Reichsmusikkammer, Abteilung VII, gez. Doßmann, begl. Donath an Herbert Klüger vom 1. August 1939. 30 LAB, A Rep. 243-01, Band 48, Bild-Nr. 161-166: Rundschreiben des Präsidenten der Reichsmusikkammer, begl. Donath, an alle Kreis-, Ortsmusikerschafts- und Nebenstellenleiter vom 24. Oktober 1936, S. 6, Bild-Nr. 164.

Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer  |

strafe, dass diese „bei Nichtariern das übliche Maß überschreiten [muss], um die erforderliche abschreckende und Sühnewirkung zu erzielen.“31 Manche Musiker wurden gleich mehrfach von Kontrollbeamten der Reichsmusikkammer angezeigt und mit Ordnungsstrafen belegt. In diesen Fällen wurden die Ordnungsstrafen von Mal zu Mal gesteigert. Der Unterhaltungsmusiker und Klavierlehrer Herbert Klüger (geb. am 17. November 1889 in Berlin) wurde zum Beispiel, nachdem er im Restaurant „Wilhelmshöhe“ in Pichelsdorf bei einer Kontrolle erwischt worden war, im Februar 1937 zunächst mit einer Ordnungsstrafe von 25,– RM belegt.32 Im Januar 1939 folgte eine Ordnungsstrafe von 100,– RM, da er diesmal in der Gaststätte „Schröder“ in der Frankfurter Allee beim „unerlaubten“ Musizieren angetroffen worden war.33 Schließlich wurde im August 1939 eine dritte Ordnungsstrafe in Höhe von 300,– RM verhängt. Vorgeworfen wurden ihm diesmal Auftritte in mehreren Lokalen (Restaurant „Heumann“, Restaurant „Brunnenstraße“, „Berliner Kindl“, Restaurant „Kuß“) sowie die Erteilung von Musikunterricht an insgesamt acht Schüler seit dem Jahr 1936.34 Die Folge der Berufsverbote und der damit verbundenen Ordnungsstrafen war, dass die betroffenen Musiker aus ihrem selbst gewählten Beruf dauerhaft herausgedrängt wurden. Sofern sie nicht im Rahmen des Jüdischen Kulturbundes tätig werden konnten oder wollten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich eine Stellung in einem anderen Tätigkeitsbereich zu suchen. So sind in den Akten unter anderem Ausweichstätigkeiten als Kellner,35 Vertreter,36 Telefonist,37 Wirtschaftshilfe in einer Pension,38 Elektromonteur39 und anderes belegt, also überwiegend Arbeiten, die keine spezielle Ausbildung erforderten. 31 BArch, ehem. BDC, Carl Lee, RK R 16, Bild-Nr. 1956: Formular der Landesleitung Berlin Ordnungsstrafe Carl Lee betreffend, 1938–1939. 32 Ebenda, Herbert Klüger, ehem. BDC, RK N 20, Bild-Nr. 2280: Brief des Präsidenten der Reichsmusikkammer (Rü/W) an Herbert Klüger vom 9. Februar 1937. 33 Ebenda, Bild-Nr. 2244: Brief der Reichsmusikkammer, Abteilung VII, gez. Doßmann, begl. Donath, an Herbert Klüger vom 6. Januar 1939. 34 Ebenda, Bild-Nr. 2222-2224: Brief der Reichsmusikkammer, Abteilung VII, gez. Doßmann, begl. Donath, an Herbert Klüger vom 1. August 1939. 35 Ebenda, Ernst Lee, RK R 16, Bild-Nr. 2008-2126. 36 Ebenda, Fredo Schaul, RK R 23, Bild-Nr. 146-148. 37 Ebenda, Hellmuth Blumenthal-Menthalow, RK R 3, Bild-Nr. 1058-1114. 38 Ebenda, Else Wertheim, RK Z 34, Bild-Nr. 2150-2162. 39 Ebenda, Georg Kunz, RK R 16, Bild-Nr. 1034-1056.

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Durch die Berufsverbote waren die Musiker jüdischer Herkunft ohnehin schon beim Erwerb des Lebensunterhalts eingeschränkt und teilweise auf die Unterstützung von Wohlfahrtseinrichtungen angewiesen. Die Ordnungsstrafen brachten nun manchen von ihnen an das absolute wirtschaftliche Limit. Im besten Fall gelang es ihnen noch, eine Ratenzahlung zu bewirken, im schlechtesten Fall wurde eine Zwangsbeitreibung und Pfändung in die Wege geleitet. Der Pianist Carl Lee, am 19. August 1935 als sogenannter „Halbjude“ aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen, wurde im April 1938 wegen eines „unerlaubten“ musikalischen Auftritts im „Prager Haus“ in Berlin-Wilmersdorf mit einer Ordnungsstrafe in Höhe von 100,– RM belegt. Lee, der eine Frau und ein Kind zu versorgen hatte, mit denen er in einer Einzimmerwohnung in einem Hinterhaus wohnte, arbeitete Anfang Februar 1938 noch in Heimarbeit für die Firma Wagner in Berlin-Wilmersdorf und verdiente zwischen 20,– und 30,– RM pro Woche. Ab März des Jahres war er dann arbeitslos und erhielt eine wöchentliche Erwerbslosenunterstützung von 17,10 RM. Diese wurde später gestrichen, da seine Frau durch Näharbeiten etwas zum Einkommen der Familie beitrug. Die Ordnungsstrafe stellte somit einen Betrag dar, den er nicht auf einmal aufbringen konnte. Er legte zunächst mündlich, dann auch schriftlich Einspruch ein, wurde damit aber zurückgewiesen. Hingegen wurde seiner Bitte, Raten zahlen zu dürfen, stattgegeben. Allerdings konnte er auch die vier ab dem 1. Juli 1938 fälligen Monatsraten in Höhe von 25,– RM nicht vollständig aufbringen. Bis Anfang Oktober 1938 zahlte er zusammen 30,– RM und am 1. November 1938 noch einmal 5,– RM, die er nach eigenem Bekunden vom Essen abgespart hatte. Ob Carl Lee weitere Raten zahlte, geht aus seiner Akte nicht hervor. Im August 1939 schrieb er an die Reichsmusikkammer, dass er Soldat geworden sei und seinen Zahlungen nicht mehr nachkommen könne.40 Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die verbleibende Strafe aufgrund des Gnadenerlasses des Führers und Reichskanzlers für die Zivilbevölkerung vom 9. September 1939 schließlich gestrichen.41 Dieser Erlass schrieb Straffrei-

40 Ebenda, Carl Lee, RK R 16, Bild-Nr. 1946-2002. 41 Ebenda, Bild-Nr. 2000: Brief des Präsidenten der Reichsmusikkammer, Abteilung VII, gez. Doßmann an Carl Lee vom 30. November 1939.

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heit u.  a. bei „Ordnungsstrafe[n] von nicht mehr als eintausend Reichsmark“42 vor. Ein anderes Beispiel ist der Gesangslehrer Leo Ziegler (Leopold Ziegelroth) (geb. am 18. April 1872 in Ostrowo, Posen). Nach einer Kontrolle seiner Ehefrau, der Gesangslehrerin Margarete Ziegler-Bouché (Margarete Ziegelroth) (geb. am 18. Juli 1877 in Poppelsdorf bei Bonn), die durch ihre Ehe als „jüdisch versippt“ galt und ebenfalls keine „arischen“ Schüler mehr unterrichten durfte,43 wurde auch gegen Leo Ziegler von einem Kontrollbeamten der Reichsmusikkammer eine Ordnungsstrafe in Höhe von 500,– RM bewirkt.44 Noch 1945/1946 schrieb Ziegler in seinem Antrag auf Anerkennung als „Opfer des Faschismus“: „Hatte die 500 Mark nicht, habe sie mit vieler Mühe bei Freunden zusammengeborgt. Muß heute noch ratenweise zurückzahlen“,45 und „1938 zu 500 RM. Strafe verurteilt, weil ich angeblich unterrichtet haben soll. Trotz Nachweis, dass Beschuldigung falsch war, Berufung verworfen. Meine beiden Töchter mußten meine Frau & mich mit ihren geringen Einkommen unterhalten. Häufig konnten wir nicht das Notwendigste einkaufen.“46 Ordnungsstrafen waren (und sind) per definitionem keine „kriminellen Strafen“. Auch im Konversationslexikon Das kluge Alphabet in der Ausgabe von 1935 heißt es, dass sie der „leichtere[n] Ahndung von Verstößen (Gegensatz: kriminelle Strafe)“47 dienten. Dabei stellte der Jurist Hans Pechstein in seiner Dissertation Vom alten und neuen Sinn der Ordnungsstrafe bereits 1942 fest, dass nach 1933 „die Häufigkeit und Bedeutung der einzelnen Ordnungsstrafen so ungemein [angestiegen sei], dass sie die Kriminalstrafe zum Teil ganz in den Hintergrund“48 gedrängt habe. Dennoch war mit den 42 43 44 45

Reichsgesetzblatt, I, 1939, S. 1753. BArch, ehem. BDC, Margarethe Ziegelroth, RK Z 34, Bild-Nr. 2832-2866. Ebenda, Leopold Ziegelroth, RK Z 34, Bild-Nr. 2818-2826. Centrum Judaicum Berlin (CJB), CJA, 4.1, Opfer des Faschismus Akte Nr. 3223 Leo Ziegelroth, Fragebogen, Magistrat der Stadt Berlin, Hauptausschuß „Opfer des Faschismus“, Leopold Ziegelroth, 27. Dezember 1945. 46 Ebenda, Fragebogen für Verfolgte der nazistischen Sondergesetzgebung, Magistrat der Stadt Berlin, Hauptausschuß „Opfer des Faschismus“, Leopold Ziegelroth, 23. Oktober 1946. 47 Siehe Anonym, Ordnungsstrafen, in: Das kluge Alphabet. Konversations-Lexikon in zehn Bänden, Band 7, Berlin 1935, S. 261f. 48 Hans Pechstein, Vom alten und neuen Sinn der Ordnungsstrafe (Dissertation an der Julius-Maximilians-Universtität Würzburg), Breslau-Neukirch 1942, S. 57.

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Ordnungsstrafen und der dahinterstehenden „Reichskulturkammergesetzgebung“ insgesamt eine Situation geschaffen worden, die zur Kriminalisierung führte, indem zwei voneinander völlig unabhängige Tatbestände – jüdische Herkunft einerseits und Musikerberuf andererseits – in einen Zusammenhang gebracht wurden, der Denunziationen, Anzeigen, Kontrollen, Polizeiverhöre, zwangsweise Beitreibungen, Passsperren und anderes in den Alltag der Musiker einbrechen ließ. Es war die ursächliche Verknüpfung dieser zwei in ihrem Ursprung eigentlich absolut nicht kriminellen Tatbestände, die diesen harten Zugriff des NS-Staats auf Musiker jüdischer Herkunft ermöglichte. Manchmal gaben die Verfahren sogar Anlass für noch schwerer wiegende Anzeigen. Dies war nicht nur, wie oben bereits beschrieben, bei Arthur Zimmermann der Fall („Bettel-Paragraph“), sondern zum Beispiel auch bei Georg Kunz (geb. am 11. Januar 1907 in Berlin), der sich neben seiner Tätigkeit als Elektromonteur auch als Unterhaltungsmusiker betätigt hatte und dafür am 21. Februar 1940 mit einer Ordnungsstrafe von 1.500,– RM belegt worden war. In einem Brief der Rechtsabteilung der Reichsmusikkammer an den Präsidenten der Kammer vom 22. Januar 1940 wurde Kunz aufgrund der vorhergegangenen Vernehmungen des Straftatbestandes der „Rassenschande“,49 der Gefängnis- und KZ-Haft nach sich ziehen konnte, bezichtigt und die Bitte ausgesprochen, die Gestapo einzuschalten. Die Rechtsabteilung schrieb: Der Kapellenleiter Czinsky, dem nicht bekannt war, daß Kunz Nichtarier ist und bei dem ich deshalb auch von der Stellung eines Strafantrages Abstand nehmen werde, machte den Kontrollbeamten Seifert darauf aufmerksam, daß Kunz zu einer Arierin Beziehungen habe, die wahrscheinlich auch intimer Natur sind. Ich teile dies mit, da ich zu erwägen bitte, die Geheime Staatspolizei von diesem Vorgang in Kenntnis zu setzen.50

Das Ordnungsstrafsystem förderte demnach auch das Denunziantentum, und manche Anzeige kam überhaupt erst durch eine Denunziation zustan49 Julia Schulze Wessel, Artikel Rassenschande, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hg. von Wolfgang Benz et al., Stuttgart und München 1997, S. 659. 50 BArch, ehem. BDC, Georg Kunz, RK R 16, Bild-Nr. 1036-1037: Brief der Rechtsabteilung (Rü/Kl) an den Präsidenten der Reichsmusikkammer vom 22. Januar 1940.

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de.51 Der Strafverhängung gingen polizeiliche Vernehmungen von Kollegen, Arbeitgebern und Schülern aus dem engsten Umfeld der Musiker voraus, die zu Aussagen führten, die die Befragten im Normalfall vielleicht nicht gemacht hätten – zumal auch dem einen oder anderen der Befragten Ordnungsstrafen drohten. Während der oben erwähnte Kapellenleiter Czinsky offenbar um eine Anzeige herumkam, sah der Kontrollbeamte Erich Woschke zum Beispiel in der Tatsache, dass die „arische“ Frau Schwieger die „jüdische“ Gesangslehrerin Fanny Warburg in Anspruch genommen hatte, eine „Unzuverlässigkeit“ nicht nur der Lehrerin, sondern auch der Schülerin und bat deshalb in seinem Kontrollbericht über Fanny Warburg darum, auch im Falle der Schülerin Schwieger ein Verfahren in die Wege zu leiten.52 Die Ordnungsstrafverfahren schufen so eine Atmosphäre des Misstrauens und griffen weit in die Privatsphäre der Musiker ein. Das galt für die Kontrollbesuche der Mitarbeiter der Reichsmusikkammer in den Privatwohnungen insbesondere der Musikpädagogen, aber in gewisser Weise auch für die Pfändung von Instrumenten. Die Gesangslehrerin Lydia Biermann wurde, wie oben bereits zitiert, am 11. Juni 1938 mit einer Ordnungsstrafe belegt, weil sie weiterhin Unterricht an „arische“ Schüler erteilt hatte. Bereits am 7. September 1938 wurde ihr Flügel gepfändet und mit einem Pfandsiegel versehen. Erst Anfang 1940 sollte dieses Siegel aufgrund des Gnadenerlass des Führers und Reichskanzlers für die Zivilbevölkerung wieder entfernt werden. In der Wohnung der Musikerin stand damit über Monate ein Instrument, das sie nicht benutzen konnte, weder für berufliche noch für private Zwecke.53 Mancher Musiker bekam sein Instrument auch gar nicht mehr zurück. Der Unterhaltungsmusiker Georg Kunz büßte im Zusammenhang mit einem Ordnungsstrafverfahren wegen „unerlaubten“ Musizierens 1940 sein Saxophon ein.54 Er erhielt sein Instrument wohl nicht mehr zurück, 51 Siehe z. B. ebenda, Esther Kaß, RK R 13, Bild-Nr. 2364-2366: Brief von Esther Kaß an die Reichskulturkammer, Landeskulturwalter Gau Berlin vom 9. Dezember 1940. 52 LAB, A Rep. 243-01 Reichsmusikkammer Landesleitung Berlin, Band 249, Film: A 5608, Fanny Warburg, Kontrollbericht von Erich Woschke über Fanny Warburg vom 17. März 1938. 53 BArch, ehem. BDC, Lydia Biermann, RK R 3, Bild-Nr. 520: Brief der Reichsmusikkammer, Abteilung VII, gez. Doßmann, begl. Donath an Lydia Biermann vom 3. Januar 1940. 54 Ebenda, Georg Kunz, RK R 16, Bild-Nr. 1036-1037: Brief der Rechtsabteilung (Rü/Kl) an den Präsidenten der Reichsmusikkammer vom 22. Januar 1940.

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denn in einem Fragebogen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gab er 1945 an, dass sein Saxophon und zudem auch eine Klarinette und eine Geige „durch die Nazis geraubt“ worden seien und er „z. Z. keine Instrumente in Besitz“55 habe. Einen lebensbedrohlichen Aspekt erhielten die Ordnungsstrafen dann, wenn sie mit Passsperren verbunden wurden, mit denen verhindert werden sollte, dass Musiker sich ins Ausland absetzten und sich damit einer Zahlung bzw. Pfändung entzogen. Die Mitarbeiter der Reichsmusikkammer konnten Passsperren allerdings nicht im Alleingang in die Tat umsetzen, sondern mussten zu diesem Zweck einen Antrag beim Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda stellen. Über den Abschluss der Ordnungsstrafverfahren wollte das Ministerium dann eigens informiert werden. Der Arbeiterchordirigent, Gesangslehrer und Komponist Rosebery d’Arguto56 (geb. am 25. Dezember 1890 in Mława) war für die Reichsmusikkammer in Polen zum Beispiel nicht mehr erreichbar. Gegen ihn war nach einer Unterrichtskontrolle wegen „unerlaubter“ musikerzieherischer Tätigkeit am 11. Juli 1938 eine Ordnungsstrafe in Höhe von 1.000,– RM verhängt worden.57 Dagegen legte er im August 1938 schriftlich sowie durch persönliche Vorsprache Beschwerde ein. Da Rosebery d’Arguto die polnische Staatsangehörigkeit besaß, war eine Passsperre bei ihm nicht möglich, und so konnte die Reichsmusikkammer gegenüber dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda im Dezember nur noch konstatieren, dass er laut Auskunft des Polizeipräsidiums „bereits am 28. Oktober 1938 nach Polen verzogen zur Abmeldung gelangt“58 und das Ordnungsstrafverfahren daraufhin abgeschlossen worden sei. Was die Reichsmusikkammer in ihrem Schreiben nicht ausführte, war, dass hinter der „Abmeldung“ die erste Massendeporta-

55 CJB, Fragebogen der Jüdischen Gemeinde Berlin, Georg Kunz, 23. November 1945. 56 Siehe Ernst Lindenberg, „Rosebery d’Arguto – Vorkämpfer der Arbeiterchorbewegung, in: Musik und Gesellschaft 21 (1971), Heft 4, S. 231–240. 57 Siehe zu den Details von Rosebery d’Argutos Berufsverbot und der Ordnungsstrafe durch die Reichsmusikkammer: Friedrich Geiger, Musik in zwei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin, Kassel et al. 2004, S. 103f. 58 BAB, ehem. BDC, Rosebery d’Arguto, RK Z 34, Bild-Nr. 26: Brief der Reichsmusikkammer, Abteilung VII, gez. Doßmann, begl. Donath, an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 19. Dezember 1938.

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tion polnischer Juden stand,59 die am 28. Oktober 1938 stattgefunden hatte, nachdem Polen erklärt hatte, Pässe von im Ausland lebenden Staatsbürgern nur noch bis zum 31. Oktober des Jahres zu verlängern.60 Hier kamen sich die Aktionen der verschiedenen Institutionen des NS-Staates gegenseitig in die Quere. Als Rosebery d’Arguto, um seine Angelegenheiten zu ordnen, 1939 mit einer vierwöchigen Aufenthaltsgenehmigung zurück nach Berlin kam, verhaftete ihn die Gestapo. Ob das alte Ordnungsstrafverfahren dabei noch eine Rolle spielte, bleibt allerdings unklar. Er wurde als „staatenloser Jude“ in das KZ Sachenhausen verschleppt und 1943 im KZ Auschwitz ermordet.61 Im Gegensatz dazu konnte die Reichsmusikkammer auf dem Dienstweg über das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda bei dem Unterhaltungsmusiker und Pianisten Ernst Lee (geb. am 24. April 1897 in Dresden)62 eine Passsperre bewirken. Er wurde zweimal mit Ordnungsstrafen belegt, weil er ohne Spielerlaubnis in verschiedenen Gaststätten von einem Kontrolleur der Reichsmusikkammer beim Musizieren angetroffen worden war, und zwar am 1937 mit 25,– RM und am 29. April 1938 mit 100,– RM. Da er als Kellner nicht viel verdiente, durfte er schließlich Raten zahlen, zunächst monatlich 5,– RM, dann monatlich 3,– RM. Der Versuch, den Betrag durch Pfändung einzutreiben, schlug fehl, da er nichts besaß. Im Dezember 1938 erging schließlich die Aufforderung der Reichsmusikkammer an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, gegen Lee eine Passsperre zu verhängen, da man fürchtete, er könne das Land verlassen. Im Februar 1939 erfolgte die Nachricht, der Pass sei „sichergestellt“ 59 Juliane Brauer, Musikalische Gewalt und Über-Lebens-Mittel Musik. Teil 2 „Ein Mensch mit großer Würde“ – Der Berliner Arbeiterchor-Dirigent Rosebery d’Arguto im Konzentrationslager Sachsenhausen, in: mr-Mitteilungen 64 (musica reanimata. Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke e. V.), Berlin 2008, S. 13. Juliane Brauer gibt versehentlich 1937 als Jahr der Deportation an. In der Literatur wird zudem teilweise angegeben, Rosebery d’Arguto sei bereits 1934 zurück nach Polen gegangen. Siehe Shirli Gilbert, Music in the Holocaust. Confronting life in the Nazi ghettos and camps, Oxford 2005, S. 136. 60 Siehe Anonym, Artikel Deportation, in: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Band 1, hg. von Eberhard Jäckel, Peter Longerich und Julius H. Schoeps, München und Zürich 1995, S. 316f. 61 Brauer, Musikalische Gewalt und Über-Lebens-Mittel Musik, S. 13 und 18. 62 Es liegt kein Beleg darüber vor, dass Ernst Lee mit dem oben genannten Carl Lee verwandt war.

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worden.63 Ob die Passsperre nach dem „Gnadenerlaß des Führers und Reichskanzlers für die Zivilbevölkerung“ aufgehoben wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Ernst Lee gelang die Flucht ins Exil zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr. Er wurde verhaftet, am 19. Oktober 1942 aus dem Berliner Polizeigefängnis nach Riga deportiert und gilt als verschollen.64 Nicht in allen Fällen wurde am Ende eines Verfahrens eine Ordnungsstrafe verhängt. Es gab zum Beispiel Anzeigen, wo die Sachlage dies letztlich nicht erlaubte. Die Klavierlehrerin Wilhelmine Eibenschütz (geb. am 17. Januar 1879 in Krakau) wurde etwa nicht mit einer Ordnungsstrafe belegt, weil der Unterricht, den sie ihrem als „arisch“ geltenden Enkelsohn auf dem Klavier gab, nicht als kammerpflichtige Tätigkeit eingestuft wurde,65 und die Pianistin Esther Kaß (geb. am 23. Juli 1903 in Kairo) konnte nicht belangt werden, weil „das vorübergehende unentgeltliche Zeigen von Griffen [auf einem Instrument] nicht als eine Erteilung von kammerpflichtigem Musikunterricht“66 eingestuft wurde. Zwar sind zwei Fälle belegt, in denen Kontrollbeamte der Reichsmusikkammer das Repertoire, das gespielt wurde, beanstandeten, dies führte aber nicht zu der Verhängung von Ordnungsstrafen, und zwar deshalb, weil Fragen der Zensur durch das „Reichskulturkammergesetz“ und seine Durchführungsverordnungen nicht geregelt wurden und somit nicht in den Zuständigkeitsbereich der Kontrollbeamten gehörten. 1934 beschwerte sich zum Beispiel die Kontrollabteilung der Reichsmusikkammer über den Unterhaltungsmusiker Jonny Schwersenz (geb. am 15. Januar 1903 in Posen), da er zusammen mit seiner Kapelle im Restaurant „Deutsches Haus“ in der Frankfurter Allee einen angeblich anstößigen Schlager gespielt hatte. Ihm wurde allerdings wegen Beitragsrückstands zunächst die Ausweiskarte und im August 1935 aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Mitgliedschaft in der 63 BArch, ehem. BDC, Ernst Lee, RK N 23, Bild-Nr. 2762-2778 und RK R 16, BildNr. 2008-2126. 64 Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, Berlin: Bundesarchiv, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html (abgerufen am 3. Juni 2014). 65 BArch, ehem. BDC, Wilhelmine Eibenschütz, RK R 6, Bild-Nr. 2388-2389: Brief des Landeskulturwalters, Gau Berlin, Landesleiter Musik, Rechtsabteilung, gez. Rückert, an den Präsidenten der Reichsmusikkammer vom 27. Januar 1939. 66 Ebenda, Esther Kaß, RK R 13, Bild-Nr. 2360: Brief der Rechtsabteilung, gez. Zimmerreimer, begl. Vollmer an die NSDAP, Gau Berlin, Kreis VIII, Ortsgruppe Orankesee vom 6. Dezember 1941.

Die Ordnungsstrafverfahren der Reichsmusikkammer  |

Reichsmusikkammer entzogen, von einer Ordnungsstrafe war in diesem Zusammenhang aber nicht die Rede.67 Auch der Zimbalist Moritz Schubert (geb. am 5. April 1878 in Preßburg), der in der Bar „Budapest bei Nacht“ in der Uhlandstraße im Rahmen eines „Zigeunerliederpotpourris“ ein „jüdisches Ghettolied“ zum Vortrag gebracht hatte, wurde im Sommer 1935 nicht mit einer Ordnungsstrafe belegt. Er wurde wenig später wie die meisten anderen jüdischen Musiker als sogenannter „Volljude“ aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen.68 In den seltensten Fällen hatten die Musiker die Möglichkeit, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen. Nur im Fall des Komponisten Richard Mohaupt (geb. am 14. September 1904 in Breslau), der als „jüdisch versippt“ galt, ist überliefert, dass es ihm mit Hilfe eines Anwalts gelang, die bereits verhängte Ordnungsstrafe niederzuschlagen und die Passsperre zu stoppen, so dass ihm die Flucht ins Exil noch gelang.69 Anzumerken bleibt, dass es eine ganze Reihe von Ordnungsstrafverfahren gab, bei denen aus den Akten heute nicht mehr hervorgeht, ob am Ende eines Verfahrens tatsächlich eine Ordnungsstrafe verfügt wurde. Möglich ist einerseits, dass die Verfahren abgebrochen wurden, ohne dass dies in der Akte vermerkt wurde, andererseits könnten auch die Akten unvollständig überliefert sein. Dies ist etwa bei Leo Ziegler der Fall, der bei seinem Antrag auf Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ 1945 und 1946 angab, dass er mit einer Ordnungsstrafe von 500,– RM belegt worden sei,70 während in der Personalakte der Reichsmusikkammer nur ein Kontrollbericht mit einem Vorschlag für eine Ordnungsstrafe vorliegt. Das Schreiben mit der entsprechenden Verfügung fehlt hingegen.71 Anhand der von der Reichsmusikkammer initiierten Ordnungsstrafverfahren lässt sich aufzeigen, wie der NS-Staat mit Hilfe weniger Paragraphen ein Verfahren schuf, mit dem Musiker jüdischer Herkunft zur Einhaltung der Berufsverbote gezwungen werden konnten, und das, obwohl die relevanten Paragraphen ebenso wie die Dienstanweisung II (Ordnungsstrafverfah67 Siehe ebenda, Jonny Schwersenz, RK R 25, Bild-Nr. 1324: Sonderbericht von Max Andress über Jonny Schwersenz vom 5. September 1934. 68 Ebenda, Moritz Schubert, RK R 24, Bild-Nr. 2208-2242. 69 Ebenda, Richard Mohaupt, RK N 27, Bild-Nr. 260-482. 70 Siehe CJB, CJA, 4.1, Opfer des Faschismus Akte Nr. 3223 Leo Ziegelroth. 71 BArch, ehem. BDC, Leopold Ziegelroth, RK Z 34, Bild-Nr. 2818-2826.

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ren) keine direkten Vorgaben zum Vorgehen gegenüber Musikern jüdischer Herkunft enthielten. Gemäß der Dienstanweisung II wurden die Ordnungsstrafen von der Reichsmusikkammer bei der Durchsetzung des Berufsstandsprinzips eingesetzt. So hieß es, dass es nicht das Ziel sei, „der Kammer durch den Eingang von Strafgeldern finanziellen Nutzen zu bringen, sondern durch eine sinnvolle Erziehung der Nebenberufler den planmäßigen Arbeitseinsatz der Berufsmusiker zu sichern.“72 In der Realität wurden die Ordnungsstrafen, wie es an den überlieferten Fällen deutlich wird, jedoch auch gezielt dazu genutzt, um insbesondere bei Musikern jüdischer Herkunft die Befolgung der Berufsverbote zu erzwingen. Dabei brachten die von der Reichsmusikkammer verhängten Ordnungsstrafen die Musiker in eine Situation, die von Denunziationen, Kontrollen, Verhören, Verlust der Privatsphäre, wirtschaftlicher Not und Verhinderung der Emigration gekennzeichnet war. So ersetzten die Ordnungsstrafen zwar vielerorts die Kriminalstrafen, erlangten aber durch die Art und Weise ihrer Anwendung zugleich einen kriminalisierenden Charakter. Im Übrigen brachte dort, wo sich die Gelegenheit bot, auch die Reichsmusikkammer echte Kriminalstrafen ins Spiel, ein Vorgang, der einmal mehr deutlich macht, dass die Kontrollverfahren weit über den ursprünglich formulierten Zweck hinausgingen.73

72 LAB, A Rep. 243-01, Band 48, Bild-Nr. 161-166: Rundschreiben des Präsidenten der Reichsmusikkammer, begl. Donath, an alle Kreis-, Ortsmusikerschafts- und Nebenstellenleiter vom 24. Oktober 1936, S. 6, Bild-Nr. 164. 73 Siehe die oben genannten Beispiele, bei denen der sogenannte „Bettel-Paragraph“ oder der Vorwurf der „Rassenschande“ ins Spiel gebracht wurden.

„Führer aller schaffenden Musiker“

Paul Graener als nationalsozialistischer Kulturpolitiker Andreas Domann Die Sonne sinkt in brennendem Rot im Westen, der Abend dämmert aus den Tälern herauf. Der Hof der Feste liegt im Schatten. Da – Kommandos erschallen: die Bergische HJ. zieht ein in die Burg ihrer Väter. Fackel und Fanfaren, singende Jungen besetzen Wehrgang und Zinnen, die im Lichtschein sich spiegeln. Einer entzündet den Pylon in der Mitte des Hofes. Leuchtend schlägt die Flamme in den Abendhimmel. Fanfaren, die Bannfahnen, der Spielmannszug und Chor ziehen ein, nehmen um die Feuerschale Aufstellung. Fanfaren.1

Es bedarf keiner besonderen Phantasie, um sich unter dem Eindruck dieser zeitgenössischen Schilderung einer nationalsozialistischen Propagandaveranstaltung ein Bild von dem martialisch-archaischen Ambiente zu machen, von dem sich Mitwirkende wie Zuschauer gefangen nehmen lassen sollten. Doch hätte der Autor dieses Berichts die Bezeichnung „Propagandaveranstaltung“ wohl als unangemessen zurückgewiesen. Denn zumindest vordergründig handelte es sich um die Abschlusskundgebung einer Komponistentagung im Jahr 1938. Komponistentagungen wurden zur NS-Zeit seit 1934 jährlich vom Berufsstand bzw. von der späteren Fachschaft Komponisten der Reichsmusikkammer veranstaltet; zunächst in Berlin und seit 1936 auf Schloss Burg an der Wupper, dessen Innenhof die Kulisse des eingangs geschilderten Spektakels abgab.2 Dort wurden die Komponistentagungen mit den schon seit 1934 bestehenden „Burgmusiken“ verbunden.3 Paul Graener – seit 1935 Leiter der Fachschaft Komponisten und zugleich Vizepräsident der Reichsmusikkammer – wandte sich im weiteren Verlauf des Schauspiels an die Ju1 Erhard Krieger, Berichte über die Tagungen der deutschen Komponisten auf Schloß Burg an der Wupper, Aus den Programmheften der Tagungen, in: derselbe, Musische Besinnlichkeiten. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1939, S. 118f. 2 Erhard Krieger, Das innere Reich deutscher Musik. Lehre deutscher Musikkultur, Köln 1937, S. 64ff. 3 Ebenda, S. 61–64.

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gend als „Fackelträger deutschen Wesens und deutscher Musik“. Es gelte, so Graener, „im deutschen Musikraum ein verlorengegangenes Gelände zurückzuerobern, das uns in den dunklen Jahren der Zersplitterung und inneren Zersetzung verlorenging.“4 Dieses „verlorengegangene Gelände“ war für ihn das exklusive der musikalischen Hochkultur, die von niederem Amüsement nichts wissen will.5 Zuvor schon hatte er, in seiner Rede vor Arbeitern der Metallindustrie zu einem „Werkkonzert bei der Firma Kronprinz A. G.“6 – ebenso Bestandteil der 1938er Komponistentagung –, vor einem Verfall des musikalischen Niveaus gewarnt.7 Wie Musik zu klingen hatte, die seinen Forderungen an die Gegenwartsmusik genügte, illustrierte Graener den Tagungsteilnehmern mit der Aufführung seines Turmwächterliedes. Orchestervariationen über ein Gedicht von Goethe.8 Die zwischen Spätromantik und Klassizismus changierende Idiomatik dieser Musik blieb indes auf der Tagung eher die Ausnahme, vergleichbar am ehesten noch mit Hans Pfitzners Duo für Violine und Cello mit Begleitung eines kleinen Orchesters. Denn dominiert wurde die Tagung von Werken, von denen zum einen angenommen wurde, sie seien leichter goutierbar, zum anderen, sie dienten eher der geforderten politischen Gesinnung. So wurden auf dem angesprochenen „Werkkonzert“ u. a. Adolf Clemens’ Soldaten heraus oder Waldemar von Bausznerns Deutschland heiliger Name gespielt.9 In unmittelbarer Nachbarschaft zu Graeners Turmwächterlied erklang Friedrich Welters Nach Ostland, ein Chorzyklus nach ostpreußischen Volksliedern.10 „Fünf ausgesucht schöne Volkslieder“, wie in einer zeitgenössischen Rezension zu lesen ist, „sind hier kunstmäßig-klangvoll gesetzt, und diese Wechselwirkung von Hochkultur und Volkskunst zeitigt ein in seiner Art sehr schönes Erlebnis.“11 Ohnehin sei es um eine „schöp4 Krieger, Berichte über die Tagungen, S. 119. 5 Paul Graener, Der Komponist im neuen Deutschland (Rede auf der Tagung des Berufsstandes der deutschen Komponisten), in: Zeitschrift für Musik [ZfM] 102 (1935), Heft 10, S. 1087. 6 3. Tagung der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer vom 6.–9. Mai 1938 auf Schloß Burg an der Wupper (Programmheft), hg. von der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, Solingen 1938, S. 23. 7 Krieger, Berichte über die Tagungen, S. 117f. 8 Programmheft zur 3. Tagung der Fachschaft Komponisten, S. 22. 9 Ebenda, S. 23. 10 Ebenda, S. 22. 11 Horst Büttner, Dritte Tagung der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, in: ZfM 105 (1938), Heft 6, S. 604.

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ferische, fruchtbare Spannung zwischen Hochkultur und Volksmusik“12 gegangen, so auch in Armin Knabs Männerchor Deutscher Morgen, Hermann Ungers Fahneneid oder in Camillo Hildebrands Hymne der Arbeit.13 Daneben wurde ein Konzert unter dem Titel Neue Unterhaltungsmusik mit Werken von Paul Lincke, Eduard Künneke und anderen geboten.14 Schließlich wurden die „Grüße des Reichspropagandaministers und des dringend verhinderten Hans Hinkel“ überbracht und die Teilnehmer für „die wichtigen volkspolitischen Aufgaben der Musik“15 sensibilisiert. Dass die propagandistische Botschaft, wenn sie im Gewand eines Werkes wie Graeners Turnwächterlied daherkommen sollte, sich nicht jedem Zuhörer spontan zu erschließen vermochte, muss auch Erhard Krieger – Initiator dieser Tagungen – gespürt haben, der diesen Mangel durch eine rasch nachgereichte Deutung des Werkes auszugleichen suchte – allerdings in recht nebligen Formulierungen, die dieses Werk als eines „der bedeutendsten der Gegenwartsmusik“ feiern, weil es das „Lebensgesetz deutschen Menschentums“ zum Ausdruck bringe.16 *** Die Komponistentagung auf Schloss Burg, das nach der Vorstellung ihres Initiators zu einer „Ordensburg der deutschen Musik“17 werden sollte, illustrierte Konflikte zwischen dem Komponisten und Kulturpolitiker Graener auf der einen und dem strukturellen Aufbau der Reichsmusikkammer, dem staatlichen Machtapparat und den Ansprüchen der NS-Propaganda auf der anderen Seite. Wurde Paul Graener – so ließe sich die Frage knapp umreißen – in diesem Spannungsfeld dem Anspruch gerecht, „Führer aller schaffenden Musiker“18 zu sein? Der Eindruck, den die 1938er Tagung hinterlässt, ist der 12 Ebenda, S. 602. 13 Ebenda sowie Programmheft zur 3. Tagung der Fachschaft Komponisten, S. 21f. 14 Ebenda, S. 20. Siehe zu den dort aufgeführten Werken auch Krieger, Berichte über die Tagungen, S. 115 sowie Büttner, Dritte Tagung der Fachschaft Komponisten, S. 604f. 15 Ebenda, S. 606. 16 Erhard Krieger, Paul Graener. Bauherrntum deutscher Musik, in: Musische Besinnlichkeiten. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1939, S. 93. 17 Krieger, Berichte über die Tagungen, S. 109. 18 Hans Hinkel, Reichstagung des Berufsstandes der deutschen Komponisten auf Schloß Burg. Die Ansprache des Reichskulturwalters Hans Hinkel, in: ZfM 103 (1936), Heft 6, S. 700.

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eines „Führers“, der längst zum Gefolgsmann degradiert wurde. Es dürfte kaum dem Geschmack Graeners entsprochen haben, dass das Programm die leichtere Muse feierte – nicht wegen ihres propagandistischen Auftrags, sondern wegen ihres nach seinem Urteil geringeren ästhetischen Wertes. Eine naheliegende, doch vielleicht nicht entscheidende Ursache, die zu der offensichtlichen musikpolitischen Ohnmacht Graeners geführt haben kann, war sein Anspruch als Komponist, mit dem er gegenüber politischen Forderungen blind war und der aus einer so trüben wie wenig originellen Mischung nationalistischer und reaktionärer Versatzstücke bestand. Nicht so sehr dürfte es das Problem gewesen sein, dass er aus dieser Haltung alles vermeintlich „Intellektuelle“19 und „Internationale“20 in der Kunst ebenso befehdete wie er „artfremde musikalische Experimente“21 verdammte. Ausschlaggebender dafür, dass er die NS-Musikpolitik nicht aktiv mitgestaltete, war seine gegen das „niedere Amüsierbedürfnis“22 gerichtete Hochkulturideologie. Machte er Konzessionen ans Volkstümliche, so waren sie konservativer Ästhetik und nationalsozialistischer Ideologie geschuldet, einem „Bekenntnis zu Volk und Staat“,23 ebenso wie seine Klage, in der zeitgenössischen Musik, an deren Pflege es ihm besonders lag,24 könne das Volk nicht mehr mitsingen.25 Doch so enthusiastisch Graener den Nationalsozialismus begrüßte und Adolf Hitler als denjenigen feierte, der „Glanz und Wahrheit der deutschen Kunst wieder erstehen ließ“,26 so wenig Gespür hatte er für die musikpolitischen Prioritäten der nationalsozialistischen Führung. Joseph Goebbels war sich dagegen der politisch-propagandistischen Bedeutung der Unterhaltungsmusik voll19 Paul Graener, Aufklang, in: Die Musik 25 (1933), Heft 9 Juni, S. 642. 20 Paul Graener, Rückblick und Ausblick, in: Ernst Adolf Dreyer (Hg.), Deutsche Kultur im Neuen Reich – Wesen, Aufgabe und Ziel der Reichskulturkammer (= SchlieffenBücherei. Geist von Potsdam 7), Berlin 1934, S. 55f. Siehe auch seine Rede auf dem zweiten deutschen Komponistentag, in: Die Einheit. Mitteilungen des Berufsstandes der deutschen Komponisten, Dezember 1935, Heft 5, S. 7–10. 21 Graener, Der Komponist im neuen Deutschland, S. 1091. 22 Ebenda, S. 1087. 23 Ebenda, S. 1087. 24 Paul Graener, Ziel, Absichten und Arbeit des Berufsstandes der deutschen Komponisten. Rede des Führers des Berufsstandes der deutschen Komponisten, in: ZfM 103 (1936), Heft 6, S. 702. 25 Graener, Aufklang, S. 641. 26 Paul Graener, Ein Volk lebt ewig in seiner Kunst, in: ZfM 106 (1939), Heft 4, S. 354 (Gruß zu Hitlers Geburtstag).

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kommen bewusst.27 Unverblümt verbreitete Peter Raabe, als Präsident der Reichsmusikkammer von Goebbels als gesinnungstreuer Nachfolger Richard Strauss’ eingesetzt,28 den eigentlichen Zweck der NS-Musikpolitik. Die Musik habe die Aufgabe, an das Volk heranzukommen und ihm die Freude zu bringen, „die es zur Arbeit und zum Lebenskampfe stählt“.29 In diesem Sinne wäre es „eine würdige Aufgabe für die deutschen Tonsetzer […], gute, leicht eingängliche, aber nicht leicht wiegende Unterhaltungsmusik zu schreiben.“30 Von der gereizten Stimmung zwischen Raabe und Graener, die sich an der unvereinbaren Bewertung des Stellenwertes der leichten Musik entzündete, zeugt ein knapper Tagebucheintrag von Goebbels: „Prof. Raabe hält mir langen Vortrag. Ich stütze seine Autorität. […] Gegen Graener hat er recht. Das ist ein Weihnachtsmann. Raabe muß die Musik näher ans Volk bringen.“31 Dass es zu diesem Spannungsverhältnis zwischen Graeners künstlerischen Ansprüchen und der Politik kommen konnte, lag allerdings nicht allein an den Erfordernissen der NS-Propaganda im Bereich der Musik, sondern war auch Folge eines gesellschaftspolitischen Leitbildes, das die einzelnen Bereiche der Gesellschaft in Stände gegliedert wissen wollte – zum einen als ideologischen Ersatz für das marxistische Klassendenken, zum anderen als Versuch, das eigene politischen Handeln historisch zu legitimieren. Eine ständische Gesellschaft sollte als „Volksgemeinschaft“ zusammengehalten werden und sich dem autoritären Führungsanspruch nationalsozialistischer Politik und Propaganda unterwerfen.32 Die Mittelalterbeschwörung, für die wiederum Schloss Burg an der Wupper die passende Kulisse bot, war in der NS-Propaganda ein verbreitetes Phänomen,33 so auch in der Musik27 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I Aufzeichnungen 1923–1941, Band 9, hg. von Elke Fröhlich, München 1998–2005, S. 35f. (5. Dezember 1940) und S. 327 (22. Mai 1941). Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil 2 Diktate 1941–1945, Band 2, S. 120 (15. Oktober 1941) und S. 246f. (7. November 1941). 28 Zum erzwungenen Rücktritt von Strauss siehe Goebbels-Tagebücher I, Band 3/I, S. 257 (5. Juli 1935). 29 Peter Raabe, Die Musik im Dritten Reich, in: ZfM 101 (1934), Heft 7, S. 728. 30 Ebenda, S. 729. 31 Goebbels-Tagebücher I, Band 3/II, S. 285 (10. Dezember 1936). 32 Volker Dahm, Anfänge und Ideologie der Reichskulturkammer. Die „Berufsgemeinschaft“ als Instrument kulturpolitischer Steuerung und sozialer Reglementierung, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), Heft 1, S. 75. 33 Gordon Wolnik, Mittelalter und NS-Propaganda. Mittelalterbilder in den Print-, Ton- und Bildmedien des Dritten Reiches, Münster 2004.

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politik. Erhard Krieger zufolge ist die mittelalterliche „Gemeinschaft des deutschen Volkes [...] gegliedert in Stände, Gilden, Zünfte, die tatsächlich alle Menschen in gemeinschaftsbildendem Sinne berufsständisch erfassen“, womit sie „gegen abtrünnige, d. h. sich außerhalb dieser Ganzheit stellende Individualerscheinungen rücksichtslos, diese zerstörend“34 reagiert. Der berufsständische Aufbau der Gesellschaft, den die nationalsozialistische Politik verfolge, der „gesunde Neubau dieses Ständewesens in ihren arteigenen Organisationen“, entspricht in Kriegers Geschichtskonstruktion derjenigen des Mittelalters.35 So sei es eine „Segenstat für die deutsche Kunst und Kultur“, dass „durch die Reichskulturkammergesetzgebung die Künstler berufständisch für alle Zukunft zusammengeschlossen worden sind und damit ihr Schaffen Ausdruck gemeinsamen Erlebniswillens der Grundwerte unseres Volkstums“ geworden ist.36 In diesem Sinne beschworen Heinz Drewes ebenso wie Graener den „Zunftgedanken“.37 Von einem Berufsstand wurde zum einen gefordert, dass sich seine Mitglieder im Grunde vollkommen homogen und uniform entwickeln, vereint in einem Standeswillen. Zum anderen hatte der Standeswille auch identisch mit den Imperativen der Staatsführung zu sein. Zwischen Graeners Vorstellungen und den Forderungen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda musste daher ein Konflikt offen zutage treten, der typisch für die inneren Spannungen einer Gesellschaft ist, die sich ständisch zu organisieren und zugleich einer autoritären Führung zu unterwerfen hat. Denn weil dem sich im „berufsständischen Aufbau“ gestaltenden Volkswillen von einer politischen Führung vorgegeben wird, in welche Richtung sich dieser Wille zu entwickeln hat, gerät der „Kulturschaffende“ zwangsläufig in eine „Zwitterstellung“, in der er „Führender und Geführter“ zugleich ist.38 Mit den Verweisen auf die Konflikte zwischen Graeners Musikgeschmack und den Forderungen der NS-Propaganda bzw. einer berufsständisch geglie34 Krieger, Das innere Reich, S. 14f. 35 Ebenda, S. 46. Siehe auch Krieger, Paul Graener, S. 101. 36 Ebenda, S. 102. Siehe auch Alfred Morgenroth, Aus der berufsständischen Selbstverwaltung. Arbeitsbericht der Reichsmusikkammer, in: Jahrbuch der deutschen Musik  1 (1943), S. 27–41 sowie Heinz Ihlert, Die Reichsmusikkammer. Ziele, Leistungen und Organisation (= Schriften der Deutschen Hochschule für Politik II. Der organisatorische Aufbau des Dritten Reiches 7), Berlin 1935, S. 8. 37 Mitteilungen der Fachschaft Komponisten, November 1940, S. 4 und S. 9. 38 Dahm, Anfänge und Ideologie der Reichskulturkammer, S. 75f.

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derten Reichsmusikkammer ist gewissermaßen nur die Außenseite seiner Position als Kulturfunktionär berührt, in der er de facto machtlos war und sich letztlich musikpolitischen Entscheidungen zu fügen hatte, die von anderen getroffen wurden. Dass er – so wäre zu mutmaßen – größeren Einfluss gehabt hätte, wenn er in diesen Punkten kompromissbereiter, also letztlich politisch geschickter agiert hätte, kann mit guten Gründen angenommen werden, dürfte aber nicht das Entscheidende für seine politische Ohnmacht gewesen sein. Für diese ausschlaggebend und letztlich auch dafür, dass er 1941 sein Amt aufgeben musste, waren viel eher die Konflikte im Inneren der Reichsmusik- und Reichskulturkammer, die sich zwischen Goebbels und seinem „Reichskulturwalter“ Hans Hinkel auf der einen und Graener auf der anderen Seiten entwickelten. Zwar stand die Reichskulturkammer und damit auch die Reichsmusikkammer – laut Reichskulturkammergesetz – unter der Führung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda,39 sodass der Anspruch, der Präsident der Reichsmusikkammer und dessen Vizepräsidenten würden die „Richtlinien für die Kulturpolitik der Reichsmusikkammer“ festlegen,40 de facto ohnehin kaum eine Grundlage hatte. Musikpolitisch einflussreich war eher die für Musik zuständige Abteilung des Propagandaministeriums, der gegenüber die Reichsmusikkammer lediglich „nachgeordnete und ausführende Dienststelle“ war, sodass auch deren „ständische Selbstverwaltung“ im Grunde nur Schein war.41 Doch bedeutete dies nicht zwingend, dass es unterhalb der Führung des Reichspropagandaministeriums keine weiteren Machtzentren hätte geben können. Im NS-Staat, der nach dem sogenannten Führerprinzip aufgebaut war, gab es letztlich eine unübersehbare Gemengelage größerer und kleinerer „Führer“,42 die freilich nur als solche sich durch39 Karl-Friedrich Schrieber und Karl-Heinz Wachenfeld (Hg.), Musikrecht. Sammlung der für die Reichsmusikkammer geltenden Gesetze und Verordnungen, der amtlichen Anordnungen und Bekanntmachungen der Reichskulturkammer und der Reichsmusikkammer, Berlin 1936, S. 1ff. (Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 sowie Erste Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes, 1. November 1933, § 3). 40 Hans Hinkel (Hg.), Handbuch der Reichskulturkammer, Berlin 1937, S. 95. 41 Martin Thrun, Die Errichtung der Reichsmusikkammer, in: Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein (Hg.), Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, Frankfurt am M. 1984, S. 81. Siehe auch Ihlert, Die Reichsmusikkammer, S. 27. 42 Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, Mün-

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setzen konnten, wenn sie machtbewusste und strategisch geschickte Politik betrieben – doch gehörte dies offensichtlich nicht zu Graeners herausragenden Talenten. Was nun Graener während seiner Tätigkeit als Kulturfunktionär der Reichsmusikkammer beschäftigte, war nicht so sehr die „Führung“ der deutschen Komponisten. Er war auch keine charismatische Autorität, die einen Musikstil hätte durchsetzen können, der kulturpolitisch und ideologisch den NS-Staat gestützt hätte. Stattdessen trieben ihn vor allem der Verteilungsplan der Stagma43 und die Besetzung des Kammer- bzw. Stagmapräsidenten um. Zu Beginn des Jahres 1936 drängte Graener darauf, das Verhältnis zwischen den Komponisten und der Stagma zu klären, das er mit Blick auf die machtpolitische und finanzielle Stellung der Komponisten gegenüber den anderen „Berufsständen“ innerhalb der Stagma als unbefriedigend empfand.44 Er sprach damit einen Konflikt an, der seit Gründung der Stagma bestand und den kurzzeitig Richard Strauss für sich hatte entscheiden können, als er noch der Vorgänger in seinem Amt als Leiter des Berufstandes der Komponisten war.45 So beklagte sich Graener bei Hinkel über eine von Ministerialrat Otto von Keudell vorangetriebene und kurze Zeit später auch beschlossene Änderung der Stagma-Satzung, nach der der geschäftsführende Direktor sämtlichen zukünftigen Satzungsänderungen zustimmen muss; stimmt dieser nicht zu, so liegt die Entscheidung beim Propagandaminister.46 Geschäftsführender Direktor der Stagma war Leo Ritter, der – so Graener – damit de facto deren Präsident wurde. Der Präsidentenposten wurde kurz nach Gründung der Stagma abgeschafft, nachdem ihn Graener, selbst Gründungsmitglied der Stagma, für kurze Zeit innegehabt hatte, ihn aber wegen einer von Richard Strauss durchgesetzten Satzungsänderung schon 1934 wieder aufgeben musste.47 Es widersprach vollkommen Graeners elitärem Selbstverständnis als

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chen 32008, S. 623–635. Wolfgang Benz, Partei und Staat im Dritten Reich, in: Martin Broszat und Horst Möller (Hg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, München 1983, S. 64–82. Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte. Bundesarchiv Berlin [BAarch], Sig. R 56 I / 135, pag. 81–84, 4. Januar 1936, Graener an Hinkel. Albrecht Dümling, Musik hat ihren Wert. 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in Deutschland, Regensburg 2003, S. 193. Ebenda, S. 205f. Ebenda, S. 190 und S. 193f.

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Komponisten, dass erstens die Stagma seit seinem erzwungenen Rücktritt nicht mehr einem Komponisten unterstand und zweitens nach dem ebenfalls erzwungenen Rücktritt von Strauss von den Positionen als Präsident der RMK und Leiter des Berufsstands der Komponisten auch dieser durch die Satzungsänderung von Keudells weiter entmachtet wurde. Denn die Stagma sei „das Produkt der Berufsstände, in allererster Linie der Komponisten. Ohne Berufsstände u. die von ihnen eingebrachte Werke gäbe es keine Stagma.“48 Daher müsse den Vorsitz der Stagma auch ein Komponist innehaben. Über ein halbes Jahr später wandte er sich nochmals mit der Forderung an Hinkel, dass der Reichsmusikkammer ebenso wie der Stagma ein Komponist als Präsident vorstehen solle; sollte diese Umstrukturierung nicht durchsetzbar sein, so wolle er sich aus seinem Amt zurückziehen.49 Obgleich Graener noch beteuerte, es ginge ihm hierbei nicht um seine eigene Person, erinnerte sich später Hinkel, dass er aufgrund seiner erdrückenden wirtschaftlichen Lage den unmöglichen Wunsch geäußert habe, Präsident der Stagma zu werden.50 Goebbels notierte hierzu – wie immer recht knapp – in sein Tagebuch: „Mit Prof. Graener Fragen der Stagma. Er will mehr Geld haben. Soll besser komponieren.“51 Dass die Unterhaltungsmusik bei Graener in Ungnade fiel, war denn auch nicht nur Resultat seines Verdiktes über ihre ästhetische Qualität, sondern seines Argwohns, dass deren Komponisten im Gegensatz zu den Vertretern der ernsten Muse ungleich höheren Profit erzielen konnten: Da haben „Dichter“ und Komponist mit dem Schlager „In München steht ein Hofbräuhaus, eins, zwei, gsuffa…“ in einem Jahr nicht weniger als 30 000 Mk. verdient trotz der niedrigeren Bewertung solcher Musik bei der Abrechnung durch die Stagma. Ich schäme mich, demgegenüber die Ziffer zu nennen, die etwa auf ein Streichquartett entfällt, also auf wertvolle Musik, die unsere Kultur bereichert. Solange die Verfertiger des musikalischen Schundes noch die Möglichkeit haben, solche Summen zu verdienen, werden wir es nicht schaffen.52 48 BAarch R 56 I / 135, pag. 81–84, 4. Januar 1936, Graener an Hinkel. Siehe auch Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 205f. 49 BAarch R 56 I / 135, pag. 76–79, 18. August 1936, Graener an Hinkel. 50 Ebenda, pag. 62–64, 17. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 51 Goebbels-Tagebücher I, Band 5, S. 42 (8. Dezember 1937). 52 Carl Müller-Sohler, Eine Philippica gegen den Schlager. Prof. Paul Graener gegen den musikalischen Schund, in: ZfM 105 (1938), Heft 11, S. 1260. Zusammenfassung und teilweise wörtliche Wiedergabe einer Rede Graeners.

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Dass Graener diese Angabe später als „viel zu hoch gegriffen“53 korrigierte, änderte nichts an seinem missgünstigen Blick auf die profitable „leichte Musik“, obgleich sie – wie er selbst einräumte – von der Stagma niedriger bewertet wurde, denn Komponisten dieser Sparte mussten ein Drittel ihrer Einnahmen, das sogenannte „ernste Drittel“, an die Komponisten der „ernsten Musik“ abgeben.54 Zum 1. April 1937 legte Graener dann die Leitung der Fachschaft Komponisten nieder;55 doch wurde er – zumindest pro forma – kurze Zeit später in seinem Amt wieder eingesetzt.56 Offiziell bekleidete er dieses Amt noch bis 1941. In internen Dokumenten wie in öffentlichen Publikationen wurde Graener nach wie vor als der Leiter der Fachschaft Komponisten bezeichnet.57 Soweit sich die historischen Fakten rekonstruieren lassen, legen sie den Schluss nahe, dass die Aufgabe seines Amtes nicht Graeners eigene Entscheidung gewesen sein dürfte, mit der er die Konsequenz aus seinen gescheiterten Plänen zur Umstrukturierung der Stagma gezogen hätte. Es war vielmehr ein erzwungener Rücktritt, der zwar offiziell als solcher nicht stattfand, Graener aber de facto seines Amtes enthob. Dieser „Rücktritt“ stand in Zusammenhang mit der Umwandlung des Berufsstandes in eine Fachschaft,

53 Paul Graener, Erklärung, in: ZfM 105 (1938), Heft 12, S. 1373. 54 Zum „ersten Drittel“ siehe Bericht von Theodor O. Seeger, in: Die Einheit. Mitteilungen des Berufsstandes der deutschen Komponisten (1935), Heft 5 Dezember, S. 6. 55 BArch R 56 I / 135, pag. 68–69, 23. Juni 1937, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 56 Siehe hierzu Michael Kater, Die Missbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München und Wien 21999, S. 56f. und die abweichende Deutung dieses Sachverhalts bei Knut Andreas, Zwischen Musik und Politik. Der Komponist Paul Graener (1872–1944) (= Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaft 5), Berlin 2008, S. 266. 57 Hinkel bezeichnet ihn 1938 noch als „Betreuer der Komponisten in der Reichsmusikkammer“ (BAarch R 56 I / 135, pag. 51–52, 23. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke) bzw. als „Betreuer der schaffenden Musiker Deutschlands“ (ebenda, pag. 58–59, 19. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke) und als „Führer seines Berufsstandes der Komponisten“ (ebenda, pag. 62–64, 17. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke). In einer Rede zum „Kriegstreffen“ der Komponisten auf Schloss Burg nennt Heinz Drewes Graener „Leiter der Fachschaft Komponisten“ (Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, November 1940, S. 3 und 9). Ebenso die Nachricht des Rücktritts von Graener als „Leiter der Fachschaft Komponisten“ in: Die Musik-Woche 9 (1941), S.  229f., zitiert nach Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-Rom Kiel 2005 (Version: 1.2 – 3), S. 1318.

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die in diesem Jahr vollzogen wurde.58 Diese strukturelle Änderung war offenbar schon ein Jahr zuvor Gegenstand von Überlegungen, die Graener zwar Unbehagen bereiteten, von ihm aber nicht in seinem Sinne beeinflusst werden konnten.59 Am 23 Juni 1937 schrieb Hinkel an Goebbels’ Staatssekretär Hanke: Entsprechend der im Gang befindlichen organisatorischen Neuordnung der Reichsmusikkammer hat bekanntlich Herr Professor Dr. Paul Graener mit Wirkung vom 1. April [des Jahres] den Posten des Leiters der bisherigen Fachschaft Komponisten freigegeben und lediglich – wie der Herr Minister und der Herr Staatssekretär entschieden und genehmigt haben – die Funktionen des Vizepräsidenten der Kammer, entsprechend den Vereinbarungen mit dem Präsidenten Raabe und Generalintendanten Dr. Drewes, beibehalten.60

Als bloße Fachschaft hatten die Komponisten in der Reichsmusikkammer nun keine Sonderstellung mehr; sie waren mit den Fachschaften der Solisten, der Orchester und der Unterhaltungsmusik in einer Abteilung zusammengefasst.61 Damit ging eine weitere Verschlechterung seiner finanziellen Situation einher, um deren Linderung sich wiederum Hinkel kümmerte.62 Die Umstrukturierung der Reichsmusikkammer bedeutete, dass seine Bezüge von 1.000 auf 300 RM reduziert werden sollten, weshalb Hinkel anregte, ihm übergangsweise noch die 1.000 RM für die folgenden drei Monate zu belassen.63 Schließlich sei so schnell nicht eine neue finanziell lukrative Funktion für Graener zu finden und sei er „nicht nur unverschuldet sondern gerade durch sein selbstloses Verhalten gegenüber der notwendig gewordenen or58 Zum Geleit, in: Die Einheit. Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, November 1937, S. 1. 59 BAarch R 56 I / 135, pag. 76–79, 18. August 1936, Graener an Hinkel. 60 Ebenda, pag. 68–69, 23. Juni 1937, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 61 Hinkel, Handbuch der Reichsmusikkammer, S. 98f. Zuvor bildete der Berufsstand der Komponisten allein eine „Reichsfachschaft“, womit er gegenüber den anderen Berufsgruppen der Kammer eine Sonderstellung einnahm, siehe Ihlert, Die Reichsmusikkammer, S. 28. Siehe auch Hugo Rasch, Der deutsche Komponist und seine Standesvertretung, in: Die Musik 33 (1940/41), Heft 6 März, S. 192. 62 BAarch R 56 I / 135, pag. 58–59, 19. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 63 Ebenda, pag. 68–69, 23. Juni 1937, Hinkel an Staatssekretär Hanke.

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ganisatorischen Veränderung in neue finanzielle Schwierigkeiten geraten“.64 Wegen dieser drohenden Reduzierung seiner Bezüge von 1.000 RM auf 300 RM setzte sich Hinkel bei Goebbels’ Staatssekretär Hanke erfolgreich dafür ein, dass Graener weiterhin der „Sprecher der schaffenden Musiker“ bleiben konnte: Ich [...] möchte ihm [Graener], das Einverständnis des Herrn Ministers bzw. des Herrn Staatssekretärs vorausgesetzt, vorschlagen, weiterhin als Vizepräsident der Reichsmusikkammer der Sprecher der schaffenden Musiker in Deutschland zu sein und für diese seine Arbeit wie bisher eine Entschädigung von monatlich RM 1 000.-- zu beziehen.65

Damit war letztlich der Versuch der Absicherung seiner finanziellen Situation der Grund, Graener weiterhin in seinem Amt zu belassen, nicht aber eine sachliche Notwendigkeit, die sich aus der Arbeit der Fachschaft Komponisten ergeben hätte. Graeners Finanzprobleme waren innerhalb der Reichskulturkammer bekannt und nicht gerade förderlich, um seine Position zu stärken. 1938 entscheid Goebbels, ihm ein langfristiges und zinsloses Darlehen über 10.000 RM bei der Stagma zu gewähren.66 Im selben Jahr ließ sich Hinkel Graeners Stagma-Abrechnungen vorlegen,67 woraufhin er sich bei Hanke beklagte, es sei seit Jahren unverändert der Fall, dass er Lösungen für seine finanziellen Probleme finden müsse. Dabei ging es um durchaus erhebliche Summen: Legt man eine jährliche Durchschnittseinnahme von rd. RM 30 000.-- aus Stagma-Tantiemen zugrunde, so ist daraus ersichtlich, dass es vor allem notwendig ist, Graener über das laufende Jahr 1938 hinwegzuhelfen, ihm dann aber die Rückzahlung eines möglicherweise gewährten Darlehens auf mehrere Jahre hinaus – möglichst langfristig – zu genehmigen. Da die Stagma-Tantiemen auch noch 50 Jahre

64 Ebenda. 65 Ebenda, pag. 62–64, 17. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 66 Ebenda, pag. 49, 6. April 1938, Leo Ritter an Hinkel sowie ebenda, pag. 50, 8. März 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 67 Stagma-Rechnung der Jahre 1935/1936 und 1936/1937. BAarch R 56 I / 135, pag. 55–56, 23. Februar 1938, Ritter an Hinkel sowie ebenda, pag. 51–52, 23. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke (Übersicht über Graeners Stagma-Konto).

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nach dem Tode eines Komponisten weiterlaufen, ist eine bankmässig investierte Summe, wie die RM 30 000.--, in jedem Fall sichergestellt.68

Goebbels erteilte darauf die Genehmigung, unter langfristiger Belastung von Graeners Stagma-Konto diesem ein Darlehen bis zur Höhe von 30.000 RM zu beschaffen.69 „Ich habe mich in all diesen Jahren so sehr für die Beseitigung seiner wirtschaftlichen Notlage eingesetzt“, resümierte Hinkel, „dass ich schon in den Geruch kam, ein uneheliches Kind von Prof. Graener zu sein.“70 1940 wandte Graener sich wegen seiner unsoliden Finanzen auch direkt an Goebbels, der offenbar bereit war, ihm wegen eines Engpasses von wiederum 30.000 RM aus der Klemme zu helfen.71 Schien Goebbels Graeners Schulden bis dahin noch einigermaßen gelassen hinzunehmen, so war dies in dem Moment nicht mehr der Fall, in dem Graener seine Finanzen über eine Änderung der Verteilung der Stagma-Tantiemen sanieren wollte. Streitpunkt war das schon erwähnte sogenannte „ernste Drittel“.72 Für Goebbels war dieses eine „glatte Absurdität. Die was können, ernähren z. T. wenigstens die Ernsten, d. h. oft die Nichtskönner. Ich schaffe das gleich ab.“73 Der Beschluss wurde dann kurze Zeit später in den Stagma-Nachrichten veröffentlicht, allerdings mit dem Zusatz, dass Goebbels „großzügiger Weise“ entschieden hätte, dass „der der ernsten Musik infolge des Wegfalls des Ernsten Drittels künftig entstehende Ausfall aus Staatsmitteln ausgeglichen wird“.74 Aufseiten der Komponisten indes schien das keine allzu zufriedenstellende Lösung zu sein. So klagte der Minister in seinem Tagebuch, dass sich die „sogen. ernsten Musiker […] unentwegt von der Unterhaltungsmusik ‚unterhalten‘ lassen“75 68 Ebenda, pag. 51–52, 23. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 69 Ebenda, pag. 47, 27. April 1938, Hinkel an Herrn Direktor Christoffer, Bank für deutsche Arbeit. 70 Ebenda, pag. 62–64, 17. Februar 1938, Hinkel an Staatssekretär Hanke. 71 „Prof. Graener kommt bittend zu mir. Ihm fehlen 30 000 Mk. Ich will versuchen, ihm etwas zu helfen.“ Goebbels-Tagebücher I, Bd. 7, S. 257 (4. Januar 1940). 72 Zum „ersten Drittel“ siehe Theodor O. Seeger, Bericht, S. 6. 73 Goebbels-Tagebücher I, Bd. 8, S. 301 (22. November 1940). 74 Stagma-Nachrichten 17 (1941), S. 340f. Allerdings wird der Sachverhalt hier so dargestellt, dass eine Verteilungsplan-Kommission, der u. a. Graener und Künneke angehörten, am 7. November 1940 die Abschaffung des „ernsten Drittels“ beschlossen habe. Goebbels habe dem Beschluss zugestimmt, zugleich aber entschieden, den finanziellen Verlust der Komponisten aus Staatsmitteln auszugleichen. 75 Goebbels-Tagebücher I, Bd. 9, S. 110 (26. Januar 1941).

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wollen: „Die ernsten Komponisten, vor allem Richard Strauß [sic], mosern immer noch. Sie wollen die Unterhaltungsmusik ausplündern. Ich gebe ihnen noch mal 300 000 Mk dazu. Damit ist aber nun Schluß.“76 Immerhin waren Strauss und Graener zusammen mit Pfitzner die drei Komponisten, die die größten Staatszuschüsse erhielten.77 Goebbels hielt Strauss für „maßlos senil und eigensinnig“. Werner Egk dagegen – eine Gehaltsklasse tiefer als die drei genannten – sei „der Vernünftigste“ und Graener wolle „nur Geld“.78 Konsequenz dieser Querelen war, dass Goebbels darauf kurzerhand entschied, Graener als Leiter der Fachschaft 1941 durch Werner Egk zu ersetzen.79 Offiziell war indes zu lesen, der „Leiter der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, Prof. Dr. h. c. Paul Graener, [hätte] aus Gesundheitsrücksichten um Entbindung von seinem Amte gebeten.“ Goebbels hätte dieser Bitte „unter wärmster Anerkennung“80 seiner geleisteten Arbeit entsprochen. Es kam wohl hinzu – wenn auch eher nebensächlich –, dass Goebbels von Graeners Talent als Komponist bestenfalls mäßig überzeugt war; seine Bemerkung, er sei „kein Genie, aber ein guter Könner“,81 war noch eines der milderen Verdikte; an anderen Stellen disqualifizierte er seine Werke als „brave Handwerksarbeit“82 oder „mittelmäßige Musik“.83 Dass Graener auch im Alltagsgeschäft des Berufsstandes der Komponisten in der Reichskulturkammer kaum Spuren hinterlassen hat, lag dagegen gleichermaßen an ihm selbst wie an der Beschaffenheit seines Amtes. Die eigentliche Arbeit des Berufsstandes der Komponisten war Sache einer untergeordneten Funktionärsebene. Doch ließ er auch hier die Gelegenheit ungenutzt, zumindest Ideengeber oder Initiator der für das Prestige des Berufsstandes innerhalb der NS-Kulturpolitik wichtigen Leistungen zu sein.84 Dies gilt für die eingangs erwähnten Komponistentage, deren Verbindung mit den 76 77 78 79 80 81 82 83 84

Ebenda, S. 116 (30. Januar 1941). Siehe auch ebenda, S. 124f. (4. Februar 1941). Prieberg, Handbuch Deutsche Musik 1933–1945, S. 2329 und S. 2341. Goebbels-Tagebücher I, Bd. 9, S. 165 (1. März 1941). Ebenda, S. 328 (22. Mai 1941). Die Musik-Woche 9 (1941), S. 229f. zitiert nach Prieberg, Handbuch Deutsche Musik 1933–1945, S. 1318. Goebbels-Tagebücher I, Bd. 7, S. 257 (4. Januar 1940). Ebenda, Bd. 2/III, S. 320 (21. November 1933). Ebenda, Bd. 6, S. 355 (22. Mai 1939). Siehe auch ebenda, Bd. 3/I, S. 351 (19. November 1935). Für die alltägliche Arbeit sehr instruktiv ist der zitierte Bericht von Theodor O. Seeger, S. 3–7.

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„Burgmusiken“ auf Schloss Burg von Erhard Krieger, dem Landesleiter der Reichsmusikkammer im Gau Düsseldorf,85 initiiert wurden und deren Gesamtleitung er dann auch innehatte,86 wie für die tägliche Arbeit der Fachschaft, sei es für die soziale und wirtschaftliche Betreuung der Komponisten, sei es für die Redaktion der Mitteilungen der Fachschaft Komponisten oder für die „Versorgungsstiftung der deutschen Komponisten“.87 Letztere wurde von Theodor O. Seeger – Geschäftsführer des Berufstandes der Komponisten – ins Leben gerufen, ebenso wie das „Goebbels-Heim“, ein Alters- und Erholungsheim für Komponisten.88 Er engagierte sich auch für die Betreuung von Komponisten, die als Soldaten am Krieg teilnehmen mussten, und veranstaltete mit deren Werken eigens Konzerte.89 Zu dessen fünfzigsten Geburtstag lobte Graener seine Leistungen als Geschäftsführer ausdrücklich, zugleich auch seine Organisation und Durchführung der Komponistentagungen auf Schloss Burg.90 Zu Beginn des Nationalsozialismus galt Graener dagegen offenbar als vielversprechende Persönlichkeit für politische Ämter; wohl nicht so sehr wegen seines Rangs als Komponist, sondern wegen seines Einsatzes für den Nationalsozialismus noch zur Zeit der Weimarer Republik. Die aus dieser Zeit noch bestehenden Kontakte zu Goebbels und Hinkel brachten ihm dann die Posten des Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer und des Leiters des Berufsstandes der Komponisten ein. 1931 notierte Goebbels in sein Tagebuch: „Prof. Paul Graener, Direktor des Sternschen Konservatoriums. 85 Hinkel, Handbuch der Reichsmusikkammer, S. 109. 86 Burgmusiken auf Schloß Burg a. d. Wupper, in: ZfM 101 (1934), Heft 8, S. 867. 87 Rasch, Der deutsche Komponist, S. 192f.; siehe auch Mitteilungen der Fachschaft Komponisten November 1940, S. 6. 88 „Goebbels-Heim“ in Bad Harzburg, „Haus der Versorgungsstiftung der deutschen Komponisten“, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten November 1940, S. 21. 89 Hans Stephan, Theodor O. Seeger. Zum 50. Geburtstag, in: ZfM 108 (1941), Heft 3, S. 184f. Siehe hierzu auch Morgenroth, Aus der berufsständischen Selbstverwaltung, S. 33f. sowie Theodor O. Seeger, Ein Jahr Betreuung der feldgrauen Komponisten, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, November 1940, S. 19f. 90 BAarch R 56/II 183, Paul Graener, Theodor O. Seeger zum 50. Geburtstag am 13. Februar 1941. Eine nachdenkliche Betrachtung, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, Februar 1941, ohne Seitenzahl. Siehe auch Krieger, Berichte über die Tagungen der deutschen Komponisten auf Schloß Burg an der Wupper, S. 107 und S. 111.

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Will ganz bei uns sein. Scheut deshalb keine Sorgen und Verfolgungen. Ich rate ihm, klug statt stark zu sein. Solche Männer können uns unerkannt mehr nützen als erkannt. Macht einen außerordentlich geistigen und künstlerischen Eindruck. Ich habe ihn ganz gefangen.“91 Obgleich er erst am 1. April 1933 in die NSDAP eintrat und deshalb als „Märzgefallener“ weder den Status eines „Alten Parteigenossen“ oder gar eines „alten Kämpfers“ genießen konnte, nütze es ihm, dass er seit 1930 Mitglied in Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“92 war. Er übernahm dort die Funktion eines Obmanns der „Gruppe Musik“, in der er für die Abteilung „Erziehung“ zuständig war.93 Dieser Kampfbund war eine Propagandaorganisation, deren Aufgabe darin bestand, vor allem im kulturell gebildeteren bürgerlichen Milieu für den Nationalsozialismus zu werben; die NSDAP war freilich aus politischen Gründen bemüht, ihre organisatorische und ideologische Nähe zum Kampfbund für deutsche Kultur zu verschleiern. Durch seine dortige Mitgliedschaft, durch sein Renommee als Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und als Direktor des Stern’schen Konservatoriums seit 1930 wurde die Parteiführung auf Graener aufmerksam.94 Aus dieser Zeit kannte er auch Hinkel, unter dessen Leitung die Berliner Sektion des Kampfbundes für viele Prominente des kulturellen Lebens attraktiv wurde.95 Zwar verlor der Kampfbund 1934 – umbenannt in die Nationalsozialistische Kulturgemeinde – durch Goebbels Aufbau der Reichskulturkammer an Einfluss,96 doch dürfte sein Stellenwert für die NS-Propaganda und -Kulturpolitik in den frühen Tagen des Nationalsozialismus kaum zu unterschätzen sein.97 *** Soweit die stummen Relikte und Dokumente es zulassen, ein Bild mit ausreichender Detailschärfe von Graeners Kooperation mit dem NS-Regime zu 91 92 93 94

Goebbels-Tagebücher I, Bd. 2/II, S. 142 (6. November 1931). Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, S. 2475. Ebenda, S. 5856f. Alan E. Steinweis, Weimar Culture and the Rise of National Socialism: The „Kampfbund für deutsche Kultur“, in: Central European History 24 (1991), Heft 4, S. 417. 95 Ebenda, S. 416. 96 Ebenda, S. 420. 97 Ebenda, S. 420f.

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zeichnen, mag die Frage angemessen erscheinen, welchen historischen Interpretationsspielraum Graeners Wirken als NS-Kulturfunktionär gewährt. Lassen Graeners Verstrickungen und Rivalitäten mit den braunen Machthabern mehr zu als den offensichtlichen Befund, dass er dem Anspruch, „Führer der deutschen Musiker“ zu sein, nicht gerecht wurde? Das Ansinnen, am Kulturpolitiker Graener etwas allgemein Charakteristisches oder Typisches erkennen zu wollen, das sich ebenso auch aus vergleichbaren Biographien herausdestillieren ließe, ist weder methodisch noch sachlich gerechtfertigt. Es wäre höchst prekär, vom Individuellen aufs Allgemeine zu schließen und von den – ohnehin nur bedingt identifizierbaren – Symptomen auf eine Diagnose zu schließen, die in vergleichbaren Fällen ebenso gestellt werden könnte, so sie denn mehr zu sein beansprucht als die Wiedergabe von Allgemeinplätzen. Wenn sich am Beispiel Graeners überhaupt etwas zeigen lässt, das über den individuellen Fall hinaus auch verallgemeinerbare Aussagen zulässt, so dürften sich diese nicht primär auf handelnde Einzelpersonen, sondern vielmehr auf nationalsozialistische Herrschafts- und Machtstrukturen beziehen. Einem aufgeblähten Verwaltungsapparat zum Trotz bestimmten im NS-Staat nicht autonome staatliche Strukturen das Maß persönlicher Handlungsspielräume, sondern vorrangig ein dichtes Geflecht persönlicher Beziehungen und Rivalitäten sowie konkurrierender, von Einzelpersonen aufgebauter Machtzentren, die in ein politisch bewusst einkalkuliertes Chaos mündeten.98 Weder ein vermeintlich sicherer Funktionärsposten noch die vorbehaltlose Anerkennung und Übernahme der NS-Ideologie – und Graener war nach eigener Einschätzung ein „guter Nationalsozialist“99 – konnten dem Einzelnen Handlungsspielräume garantierten. Graener gelang es nur bedingt, in seinem Sinne und zu seinem Vorteil die NS-Kultur- und Musikpolitik zu prägen, was seiner eher unterentwickelten Fähigkeit zu effizientem und geschicktem machtpolitischen Handeln geschuldet war. In der Musikpolitik blieb er bedeutungslos; im Blick auf die Versuche, seine Unfähigkeit im Umgang mit Geld zu kompensieren, indem er in regelmäßigen Abständen Sonderzuwendungen vom NS-Staat eintrieb, konnte er dank seiner guten Beziehungen zu Hinkel deutlich erfolgreicher agieren.

98 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band, S. 623–635. Benz, Partei und Staat im Dritten Reich. 99 BAarch R 56 I / 135, pag. 76–79, 18. August 1936, Graener an Hinkel.

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Werner Egk als Leiter der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer

Friedrich Geiger

Am Mittag des 10. Juli 1941 wurde der Komponist und Dirigent Werner Egk, damals vierzig Jahre alt, als Nachfolger seines Kollegen Paul Graener zum neuen Leiter der Fachschaft Komponisten innerhalb der Reichsmusikkammer ernannt.1 Rund dreißig Jahre später blickte Egk in seiner Autobiographie Die Zeit wartet nicht auf dieses Amt zurück. Die Berufung, so der Komponist, traf mich aus heiterem Himmel. Bevor ich annahm, ging ich in das Büro der Fachschaft, um herauszufinden, was das war. Ich fand einen trüben Laden, die Fiktion eines nur auf dem Papier wahrnehmbaren Zusammenschlusses der Komponisten. Eine schlecht gelüftete Stube, einen finsteren Gang, eine schlampige Registratur, ein paar verdiente Hintern auf den Stühlen, Fliegen an den Fenstern. Was trieb die Besatzung? Erließ sie vielleicht Verordnungen? Nein, das durfte sie nicht. Was mir noch besser gefiel: Sie durfte Verordnungen nicht einmal durchführen. Dafür durfte sie organisieren, zum Beispiel Konzerte feldgrauer Komponisten. Im Falle der Annahme des Amtes hatte ich kaum Verpflichtungen außerhalb des Beirates der STAGMA [= Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte]. Ich beriet mich mit meinen Freunden. „Du mußt es machen“, sagten alle. Ich nahm an, hoffte etwas zu erreichen und riskierte es zu scheitern.2

Diese späte Schilderung knüpfte nahtlos an die Verteidigungslinie an, die Egk bereits in den Jahren 1946 und 1947 in seinem Entnazifizierungsverfahren verfolgt hatte. Der öffentliche Kläger hatte damals auf eine Einstufung des Komponisten in die zweithöchste von fünf Kategorien plädiert, nämlich 1 Anonym, Einführung von Werner Egk, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, hg. von der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, Berlin, Dezember 1941, S. 2. 2 Werner Egk, Die Zeit wartet nicht, Percha und Kempfenhausen 1973, S. 345.

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als „Nutznießer seiner politischen Beziehungen während der Gewaltherrschaft“. Dabei spielte die Tatsache, dass Egk als Leiter der Fachschaft Komponisten ein führendes Amt innerhalb der Reichsmusikkammer bekleidet hatte, eine bedeutende Rolle. In der Klageschrift vom 7. Juli 1947 erscheint dieser Punkt an erster Stelle: „Es ist bekannt, dass zumal in jenem fraglichen Zeitpunkt seitens des Propagandaministeriums ein derartiger Posten nur einem Mann übertragen worden ist, der politisch im Sinne des Nationalsozialismus einwandfrei war und von dem nicht eine gegnerische Betätigung angenommen oder erwartet werden konnte.“3 Die Leitung der Fachschaft diente in der Argumentation der Anklage also als Beweis für die guten politischen Beziehungen Egks zu den Machthabern, von denen der Komponist dann persönlich profitiert habe. Bei dem letztlich erfolgreichen Versuch, diesen Vorwurf zu entkräften – Egk wurde im Oktober 1947 freigesprochen −, baute er, wie gesehen, vor allem auf drei Argumente. Erstens habe er dieses Amt nicht angestrebt, sondern sei durch das Regime zu seiner eigenen Überraschung berufen, dann von Freunden zur Annahme der Berufung gedrängt worden. Zweitens sei die Fachschaft eine ganz unbedeutende und unpolitische Institution gewesen, ihre Leitung ein unbezahltes Ehrenamt. Und drittens habe er in dieser Position nicht nur niemandem geschadet, sondern sogar etlichen geholfen.4 Wenn im Folgenden auf diese von Egk genannten Punkte genauer eingegangen wird, interessieren vor allem jene hoch wirksamen Interessensverflechtungen zwischen den Systemen der Kunst und der Diktatur, die im Entnazifizierungsverfahren auf den juristischen Begriff der Nutznießerschaft heruntergebrochen wurden. Da Egks Argumente offenkundig ins Zentrum dieser Problematik zielen, scheint es sinnvoll, den Gang der Erörterung an ihnen zu orientieren. Es wird also um folgende Fragen gehen: Wie und warum kam Egk zu diesem Amt? Welche Aufgaben und Funktionen besaß die Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer? Und wie lässt sich Egks Handeln als ihr Leiter charakterisieren?

3 Klageschrift des öffentlichen Klägers bei der Spruchkammer München-Land vom 7. Juli 1947, Staatsarchiv München, SpK A K 339, Egk, Werner (im Folgenden: Spruchkammer-Akte), Blatt 39. 4 Siehe Egks Aussagen im Protokoll der Verhandlung, ebenda, Blatt 42–57, sowie die spätere Darstellung in Die Zeit wartet nicht, S. 346f.

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I. Der Auslöser für Egks Berufung scheint jener legendäre, von verschiedenen Seiten beschriebene Eklat zwischen Joseph Goebbels und Richard Strauss am 28. Februar 1941 gewesen zu sein, bei dem es um die Verteilung der Tantiemen zwischen den Komponisten des sogenannten ernsten und des unterhaltenden Genres ging. Goebbels wollte das „Ernste Drittel“ abschaffen, also den im Verteilungsplan der STAGMA festgelegten Vorwegabzug von einem Drittel der Gesamteinkünfte zur Verteilung an Komponisten „ernster Musik“. Nach Auffassung des Propagandaministers sollte die Unterhaltungsmusik „das Publikum, nicht die ernste Musik unterhalten“.5 Strauss hingegen betrachtete die STAGMA, wie er damals an Julius Kopsch schrieb, als „ein reines Privatunternehmen der ernsten Komponisten, die törichterweise viel zu viel U-Komponisten darin aufgenommen haben und Schlagerfabrikanten an Tantiemen beteiligen, auf die sie von Rechts wegen keinen Anspruch haben“.6 Infolge dieser Meinungsverschiedenheit kam es zu einem Termin beim Minister, bei dem Goebbels Strauss im Beisein von Egk, Graener und Leo Ritter rüde abkanzelte.7 Aus der Sicht von Goebbels, die wir aus seinen Tagebüchern kennen, erwies sich Egk während der Verhandlung als „der Vernünftigste“ der Delegation, während Strauss sich „maßlos senil und eigensinnig“ gezeigt und Graener „nur Geld“8 gewollt habe. Instinktsicher erkannte Goebbels hier jene pragmatische Begabung, die Egk zeit seines Lebens an den Tag legte und wohl zu nutzen verstand. Hinzu kam, dass der Propagandaminister, ebenso wie Hitler selbst, schon seit längerem Egks Musik außerordentlich schätzte. Aus mehreren Tagebucheintragungen geht hervor, dass beide Nazigrößen „Werner Egk für das stärkste Talent unter unserem 5 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hg. von Elke Fröhlich, 9 Bände in 14 Teilbänden und Registerband, München 1998– 2007 (im Folgenden: Goebbels-Tagebücher), Eintrag vom 4. Februar 1941. 6 Brief an Julius Kopsch vom 27. Dezember 1940, in: Der Strom der Töne trug mich fort. Die Welt um Richard Strauss in Briefen, hg. von Franz Grasberger, Tutzing 1967, S. 406f. Eine ausführliche Darstellung der Kontroverse um das „Ernste Drittel“ findet sich bei Albrecht Dümling, Musik hat ihren Wert. 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in Deutschland, Regensburg 2003, S. 222–231. 7 Eine Mitschrift des Gesprächs bietet Maria Publig, Richard Strauss. Bürger – Künstler – Rebell. Eine historische Annäherung, Graz 1999, S. 215. Vgl. auch die Schilderung der Szene bei Egk, Die Zeit wartet nicht, S. 341–344. 8 Goebbels-Tagebücher, Eintrag vom 1. März 1941.

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musikalischen Nachwuchs“ hielten, wie Goebbels am 1. Juni 1939 notierte.9 Daher förderten sie ihn nach Kräften. Neues Licht auf die enge Beziehung zwischen Egk und den Machthabern um diese Zeit wirft ein erst seit kurzem bekannter Brief des Komponisten an seinen Verleger Ludwig Strecker. Am 6. März 1939 schrieb ihm Egk ausführlich über einen Empfang in der Reichskanzlei, zu dem er geladen worden war, nachdem Hitler und Goebbels am 31. Januar von einer Aufführung seiner Oper Peer Gynt begeistert worden waren. Mit kaum verhohlenem Stolz berichtete Egk: Und nun noch ein kurzes Stimmungsbild aus Berlin. Ich hatte Gelegenheit den Führer persönlich zu sprechen und er beglückwünschte mich aufs herzlichste. Herr Dr. Goebbels sagte mir wörtlich, dass ich mich darauf verlassen könne, dass er dafür sorgen werde, dass das Stück sich nicht nur in Berlin sondern in ganz Deutschland durchsetzt. Zu andern äusserte sich der Führer ganz übereinstimmend hervorragend. Er wolle das Stück noch vier bis fünfmal ansehen, er beneide Herrn Tietjen, dass es diesem vergönnt gewesen sei mich zu entdecken und nicht ihm! […] Auch er werde persönlich dafür sorgen, dass das Stück überall gespielt werde und Ähnliches mehr! Herr Dr. Goebbels gab in meiner Gegenwart Anweisung, dass bei der nächsten Peer Aufführung in Berlin neue Besprechungen im Angriff und V[ölkischen]. B[eobachter]. erscheinen, dass beim nächsten Führerbesuch offizielle Mitteilung an die Presse gemacht würde und dass ich ihn in Zukunft wenn mich der Schuh noch drücken sollte immer persönlich ihn [sic] erreichen könnte. [Der Reichsdramaturg] Herr Dr. Schlösser sagte er würde noch 24 Briefe an die Theater schicken unter anderem mit der Mitteilung der Stellungnahme des Führers und wenn ich wollte würde er auch selbst noch einen Aufsatz schreiben und so weiter.10

Dass Egk kein Nutznießer des NS-Regimes gewesen sei, wird man nach der Lektüre dieses Briefes kaum mehr behaupten wollen. Tatsächlich lassen sich in der Folge zahlreiche Aufführungen von Peer Gynt nachweisen, so bei den 9 Ebenda, Eintrag vom 1. Juni 1939. 10 Brief von Egk an Ludwig Strecker, 6. März 1939, Archiv des Schott-Verlags, Mainz, Schachtel „Briefe 8072 bis 8366“ (April 1937 bis November 1948). Zuerst veröffentlicht in: Michael Custodis und Friedrich Geiger, Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel (= Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 1), Münster 2013, S. 26.

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„Reichsmusiktagen“ in Düsseldorf im Mai 1939, ferner Inszenierungen in Dresden, Darmstadt, Osnabrück, Halle, Prag, Frankfurt am Main, nochmals Dresden, Essen und Paris.11 Dass die Führung des Regimes schon unter künstlerischem Gesichtspunkt große Hoffnungen auf den Komponisten setzte, ist offensichtlich. Als dieser sich bei der erwähnten, für Strauss unseligen Unterredung überdies als geschickter Politiker erwies, zögerte Goebbels nicht lange, zumal Graener zu dieser Zeit auch aus anderen Gründen in Misskredit geraten war.12 Schon wenige Wochen später, am 22. Mai 1941, notierte der Propagandaminister: „Graener wird durch Werner Egk ersetzt.“13 Dies lässt wiederum Egks Aussage im Spruchkammerverfahren glaubwürdig erscheinen, er sei am 4. Juni 1941 – also knapp zwei Wochen später − von Hans Hinkel, dem Geschäftsführer der Reichskulturkammer, telegraphisch aufgefordert worden, auf „Anordnung des Ministers“ umgehend in Berlin vorstellig zu werden. Dort habe ihn, so Egk, „Hinkel aufgefordert die Fachschaft zu übernehmen“.14 Für den Komponisten mag dies „aus heiterem Himmel“ gekommen sein, wie es in der Autobiographie heißt. Doch seine Berufung ergab sich zwar nicht zwangsläufig, aber doch folgerichtig aus seiner großen Nähe zum Regime, von der Egk bis dahin schon enorm profitiert hatte. Nachdem er das Amt angenommen hatte, intensivierte sich die Förderung noch. So drängte Hinkel bei einer Sitzung der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft am 15. November 1941 darauf, „Werner Eyks [sic] Schaffen im Rundfunk mehr herauszustellen“, wie es im Protokoll heißt.15 Und als für den 8. Juli 1942 im besetzten Paris Egks „dramatische Tanzdichtung“ Joan von Zarissa unter der Leitung des Komponisten als französische Erstaufführung auf das Programm der Großen Oper gesetzt worden war, sahen sich die Vertreter der Presse im Vorfeld unmissverständlich instruiert: „Die Zeitungen werden gebeten, sich

11 Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-ROM, Kiel 2004, S. 1314. 12 Siehe Knut Andreas, Zwischen Musik und Politik. Der Komponist Paul Graener (1872–1944), Berlin 2008, S. 273f. sowie den Beitrag von Andreas Domann in diesem Band. 13 Goebbels-Tagebücher, 22. Mai 1941. 14 Am 5. August 1946 eidesstattlich bestätigte Aussage Egks gegenüber einem Ermittler im Münchner Rathaus, Spruchkammer-Akte, Blatt 153. 15 Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 1320.

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gute Berichte zu verschaffen“, so lautete die Anweisung auf der Kulturpolitischen Pressekonferenz vom 26. Juni 1942.16

II. Aufgrund der allgemein schlechten Überlieferung zur Reichsmusikkammer sind die Aktivitäten der Fachschaft Komponisten am ausführlichsten über ihre Mitgliederzeitschrift dokumentiert. Sie hieß zunächst Die Einheit, ab 1937 dann etwas nüchterner Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer und erschien in loser Folge, meist ein bis zwei Mal pro Jahr. Ihre Lektüre vermittelt in erster Linie das Bild eines berufsständischen Interessenverbandes, wobei Fragen des Urheberrechts die größte Rolle spielten. Einmal jährlich fand der sogenannte „Deutsche Komponistentag“ statt, in dessen Zentrum, umrahmt von Konzerten, Fachtagungen zu wechselnden Themen standen.17 Dort hielten Vertreter des Regimes wie Hinkel oder Heinz Drewes programmatische Reden, doch davon abgesehen lässt sich eher wenig ideologischer Druck ausmachen. Eher schon eilten die Komponisten selbst gehorsam voraus, indem sie beispielsweise ergebene Grußadressen an Hitler, den „ersten Künstler der deutschen Nation“, absetzten.18 Hatte die Fachschaft Mitte der 1930er Jahre rund 3000 Mitglieder,19 so war deren Anzahl 1941, als Egk sein Amt antrat, auf das Doppelte angewachsen.20 Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich nicht um einen kontinuierlichen Zuwachs handelte, der auf natürlichem Weg zu Stande gekommen wäre. Vielmehr hatten einerseits rassistische Massenausschlüsse – Goebbels sprach von „Entjudung“21 – seit 1935 den ursprünglichen Mitgliederbestand erheblich dezimiert. Andererseits hatte die territori16 Ebenda, S. 1323. 17 Zur Komponistentagung 1936 siehe Albrecht Riethmüller, Komposition im Deutschen Reich um 1936, in: Archiv für Musikwissenschaft 38 (1981), Heft 4, S. 241–278. 18 Die Einheit (1937), Heft 6 November, S. 4. 19 Nach Heinz Ihlert, Die Reichsmusikkammer. Ziele, Leistungen und Organisation, Berlin 1935, S. 27. 20 So zumindest die in den Presseberichten anlässlich von Egks Ernennung kolportierte Zahl (z. B. in dem Artikel „6000 deutsche Komponisten schaffen“ in den Leipziger Neuesten Nachrichten vom 23. Juli 1941). 21 Goebbels-Tagebücher, Eintrag vom 5. Oktober 1935.

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ale Ausdehnung des NS-Staats seit 1938 für zahlreiche Neuzugänge aus den besetzten Gebieten gesorgt. Nimmt man das lebhafte Presseecho auf Egks Ernennung als Maßstab für die Bedeutung der Fachschaft, so scheint sie zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung doch einiges Gewicht besessen zu haben. Ausführliche Berichte über seine Amtseinführung erschienen unter anderem in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, dem Hamburger Fremdenblatt, den Münchner Neuesten Nachrichten, dem Neuen Wiener Tagblatt und der Deutschen Zeitung Norwegen.22 Dass Egk in allen Artikeln mit sehr ähnlichen, teilweise wörtlich übereinstimmenden Formulierungen zitiert wird, lässt darauf schließen, dass er auf einer Pressekonferenz oder ähnlichem über seine Pläne Auskunft gab. Als oberstes Ziel nannte er die Förderung der zeitgenössischen Musik, ihre Verankerung im Repertoire der Bühnen und Konzerthäuser und die Unterstützung von Arbeitskreisen für neue Musik. Ferner müsse die Stellung des schöpferischen Künstlers gegenüber dem nachschöpferischen gestärkt werden, der Komponist müsse höheres Prestige genießen als der Interpret. Hierzu sollten strengste Leistungsmaßstäbe beitragen, eine „Reinigung der Fachschaft von Nichtskönnern“23 sei durchzuführen. „Der strenge Anspruch auf Leistung sei selbst dann unerläßlich“, so der neue Leiter, „wenn damit die Ausscheidung von kulturfremden Elementen und notorischen Dilettanten aus unseren Reihen verbunden sei. Dann ließe sich das höchste Ziel erreichen: Die Erkenntnis von der überragenden Bedeutung des Schöpfertums innerhalb der deutschen Gesamtkultur im Bewußtsein der Nation zu erwecken und zu vertiefen.“24 Mit der „Ausscheidung von kulturfremden Elementen“ redete Egk hier ausdrücklich der rassistischen Ausgrenzungspraxis innerhalb der Reichsmusikkammer das Wort. Schließlich hob Egk die „Konzerte feldgrauer Komponisten“ hervor, die er auch in der Autobiographie erwähnt. Dabei handelte es sich um Konzerte mit Musik von Mitgliedern der Fachschaft, die der Wehrmacht angehörten und zur Aufführung ihrer Werke Heimaturlaub erhielten. „Wie unsere gewaltige Zeit“, so wird Egk zitiert, „so strebt auch das Musikschaffen mächtig vorwärts. Selbstverständlich werden noch Jahre vergehen, bis dieses gewal22 Siehe die Ausschnittsammlung in der Akte BArch VBS 100, 230000, 3703. 23 „Die neue Jugend ist angetreten. Werner Egk über seine Aufgaben und Pläne“, in: 12 Uhr Blatt [o. D., Mitte Juli 1941]. 24 Einführung von Werner Egk.

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tigste Ringen unserer Geschichte im musikschöpferischen Erlebnis Ausdruck gefunden hat. Nahezu ein Zehntel der deutschen Komponisten stehen im feldgrauen Rock an der Front. Sie werden es in erster Linie sein, die die überwältigenden Erlebnisse des Krieges einmal schöpferisch gestalten“.25 Solche Sätze erklären, weshalb Hitler dem Komponisten zum 1. September 1943 durch Hinkel das „Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ohne Schwerter“ verleihen ließ26 – also für Verdienste um die sogenannte „Heimatfront“ bzw., wie die Stiftungsverordnung bestimmt, „für besondere Verdienste bei der Durchführung von sonstigen Kriegsaufgaben, bei denen ein Einsatz unter feindlicher Waffeneinwirkung nicht vorlag“.27 Diese Auszeichnung war alles andere als trivial, sondern zeigt, dass die „Konzerte feldgrauer Komponisten“ für die militaristische Politik des Regimes wertvoll waren. Nicht nur wurden sie in der Öffentlichkeit, wie auch Egk 1941 in der Begrüßungsrede vor einem der Konzerte hervorhob, als „Symbol für die Verbindung zwischen Heimat und Front“28 wahrgenommen, sie sollten auch suggerieren, dass die Wehrmacht kulturelle Werte repräsentierte. So unbedeutend und unpolitisch, wie Egk sie im Nachhinein darstellte,29 war die Fachschaft demnach keineswegs.

25 Die neue Jugend ist angetreten. 26 Schreiben Hinkels an Egk vom 9. November 1943, in: Akte BArch VBS 100, 230000, 3703. 27 Verordnung über die Stiftung des Kriegsverdienstkreuzes, in: Reichsgesetzblatt vom 24. Oktober 1939, Nr. 209, Seite 2069. 28 Zitiert nach Carl Müller-Sohler, Konzerte mit Werken feldgrauer Komponisten, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, Dezember 1941, S. 3f. 29 Siehe z. B. auch die Anlage zum Fragebogen der Militärregierung vom 16. Oktober 1945, Spruchkammerakte Egk, Blatt 236ff: „Mit der Stellung des Fachschaftsleiters war weder ein Einkommen noch die Befugnis verbunden, wichtige Entscheidungen zu treffen, nachdem sämtliche wesentliche Funktionen schon vor 1941 von der Reichsmusikkammer an das Propagandaministerium übergegangen waren, vor allem auch die Kulturpolitik. Der Tätigkeitsbereich der Fachschaft umfasste die Erteilung beruflicher Auskünfte über Autorenverträge, Plagiatsangelegenheiten und ähnliches. Ferner die Verwaltung der Witwen- und Waisenkasse und der Versorgungsstiftung deutscher Komponisten unter einem Kurato[rium] und verschiedene soziale Hilfseinrichtungen wie z. B. die Bereitstellung von Notenpapier an ausgebombte Komponisten und dergleichen mehr, bis dann auch diese letzteren Tätigkeiten von der Musikabteilung des Ministeriums übernommen wurden.“

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III. Wie Egk als Leiter der Fachschaft Komponisten agierte, ist insgesamt nicht leicht einzuschätzen, weil die rund vier Jahre seiner Amtszeit sich nur lückenhaft rekonstruieren lassen. Immerhin sind aber einige Initiativen dokumentiert, die einen Eindruck vermitteln. Formal gesehen trifft seine Aussage vor der Spruchkammer, „berufliche Interessen meiner Kollegen“30 vertreten zu haben, durchaus zu. An erster Stelle stand dabei die Frage der Tantiemen, die auch bei seiner Berufung schon eine wesentliche Rolle gespielt hatte. Die Position, für die Egk stand, war schon im November 1940 in den Mitteilungen der Fachschaft nachzulesen, also auch Goebbels vermutlich bekannt. Während der Arbeitstagung der Fachschaft Komponisten, die Ende Oktober 1940 auf Schloss Burg bei Remscheid stattfand, wandte sich Egk laut dem in der Mitgliedszeitschrift abgedruckten Protokoll scharf gegen eine Denkschrift des Komponisten Norbert Schultze, worin dieser einen neuen Verteilungsplan zugunsten der unterhaltenden Musik gefordert hatte, und brach eine Lanze für die Belange der sogenannten „ernsten“ Musik. Inhaltlich vertrat er damit genau die Position, die Strauss in Opposition zu Goebbels gebracht hatte. Denn der Propagandaminister schätzte den Wert der Unterhaltungsmusik für die „Volksgemeinschaft“ weit höher ein als den der „ernsten“, eine Ansicht, der Egk hier vehement widersprach und sich damit die Sympathie seiner Kollegen sicherte. Er tat dies allerdings weit geschickter als Strauss, indem er seine Argumente aus dem Fundus nationalsozialistischer Kulturideologie bezog. Große Werke der deutschen Kunst wie Beethovens Neunte Symphonie, so Egk, verpflichten den einzelnen zu einer höheren Ordnung, bedürfen der geistigen Mitarbeit und wenden sich an die seelische Erlebniskraft. Im Gegensatz dazu stehen die Werke, welche der Unterhaltung dienen. Diese wenden sich häufig, ja vorzüglich an das Instinktive, Triebhafte, üben eine Reizwirkung aus und leben von der Wirkung auf jene Art von Gefühl, die zu nichts verpflichtet. [… So] unterscheiden sie sich von den kulturell wertvollen Werken in jedem Fall dadurch, daß sie immer peripherisch und nie total sind. […] Ich bin tief davon überzeugt, daß es unser Volk viel ärmer machen würde, wenn zwar auf den zahllosen Tanzböden, in den Bars, 30 Spruchkammerakte Egk, Blatt 153.

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auf den Rheindampfern, in Biergärten, Seebädern, Varietés und Zirkuszelten weiter musiziert würde, aber die im Vergleich dazu wenigen Stätten ernster Musik verstummen müßten! (Spontaner, starker Beifall.) Der Gradmesser für die Lebenskraft eines Volkes ist sein Kulturbedürfnis und seine Kulturfähigkeit!31

Zwei Jahre später übrigens äußerte sich Egk in einem Zeitungsartikel nochmals ausführlich über Unterhaltungsmusik.32 Um seinen Dienstherrn nicht zu verprellen, schlug er nun einen ironischen Ton an, in dem die Position der „ernsten“ Komponisten weiterhin anklingt, ohne allzu konfrontativ zu wirken: Unterhaltungsmusik ist die Musik, die uns das Rasieren, das Gurgeln, das Abendessen im Restaurant und sogar das Kaffeetrinken zum Vergnügen macht und die uns das Vergnügen, wie zum Beispiel das Kartenspielen und das Nichtstun, zum Genuß erhebt. […] Eine Musik, die niemanden unterhält, jede Unterhaltung stört und ihrem Autor den Unterhalt nicht verdient, ist keine Unterhaltungsmusik, sondern entweder überhaupt nichts oder ein ernster Fall. […] Die Hersteller dieses Zaubermittels [= der Unterhaltungsmusik] sind eifrig bemüht, es immer wieder zu verbessern und studieren zu diesem Zweck die Harmonielehre und den Kontrapunkt. Ich will nicht sagen, daß sie das nicht tun sollten, aber was mir auffällt, ist der Umstand, daß die wenigsten von ihnen auf den Gedanken gekommen sind, sich mit den Physiologen, den Psychologen und den Politikern zu verbünden, da doch die Unterhaltungsmusik mindestens ebensosehr ein politisches, psychologisches und physiologisches Phänomen darstellt als ein musikalisches.

Der Artikel ist ein gutes Beispiel für jenen ambivalenten, auf eine hofnarrenhafte Weise kritischen Duktus, den Egk später als Beleg für seinen inneren Abstand zum Regime heranzuziehen pflegte. Ein weiteres Feld, auf dem der Komponist für die Belange seiner Berufsgenossen eintrat, war die Oper, an der er im Übrigen selbst genuines Interesse hatte. Im Bestand der Reichskulturkammer ist eine Denkschrift vermut31 Diskussionsbeitrag von Werner Egk während der Arbeitstagung auf Schloss Burg, 28. Oktober 1940, im Rahmen der Arbeitstagung der Fachschaft Komponisten vom 26.–28. Oktober 1940 auf Schloß Burg und in Remscheid, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, November 1940, S. 11f. 32 Werner Egk, Unterhaltungsmusik, in: Der Westen, Berlin-Wilmersdorf, Ausgabe vom 3. Oktober 1942.

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lich aus dem Jahr 1941 überliefert, worin er Hinkel konkrete Vorschläge machte, wie zeitgenössische Komponisten gefördert werden könnten. Was ihn, so Egk, als Leiter der Fachschaft Komponisten interessieren muss, ist die Frage des organischen Weiterwachsens eines deutschen Opernrepertoires. Wenn diese Frage nicht gelöst wird, dann wird die deutsche Opernbühne in sehr kurzer Zeit zu einem reichlich überfluteten Repräsentationsmuseum geworden sein.33

Egks Ziel war daher die Förderung des zeitgenössischen Opernschaffens. Dafür sollten auf je zehn Neueinstudierungen an deutschen Opernhäusern verpflichtend „zwei Erstaufführungen eines lebenden deutschen Autors“ entfallen, wobei Egk klarstellte: „Als deutsche Autoren gelten nur reichsdeutsche Autoren“. Ferner sollte für jede Uraufführung eines ausländischen Werkes in Deutschland im Gegenzug ein deutsches Werk in dem betreffenden Land zur Aufführung kommen. Eine Reaktion Hinkels auf diese Vorschläge ist nicht überliefert. Ein anderes Beispiel zeigt indessen, wie Egks Kompetenzen an ihre Grenzen stoßen konnten. Im Mai 1942 leitete er einen vierköpfigen Fachausschuss, der Vorschläge für die Verteilung eines Staatszuschusses von insgesamt 100.000 Reichsmark an „Komponisten ernster Musik“ machen sollte. Der Ausschuss bedachte unter anderem auch Boris Blacher und Hermann Reutter. Dagegen schritt Hinkel ein. Die beiden wurden von der Zuschussliste gestrichen, Blacher mit der ausdrücklichen Begründung, er sei „Vierteljude“. Stattdessen wurden Paul Höffer, Eugen Kornauth und Egk selbst, die sich als Mitglieder des Ausschusses nicht selbst vorgeschlagen hatten, mit jeweils 4000 Reichsmark bedacht, was der zweithöchsten Verteilungskategorie entsprach. Mit diesem Kompromiss konnte Egk leben und erklärte sich einverstanden.34 Überhaupt betrieb Egk über weite Strecken eine Politik der vollen Brieftasche. Am 23. September 1941 sprach er auf einer Versammlung österreichischer Komponisten in Wien, wie es in einem Bericht heißt,

33 Vorschläge Oper (o. D., vermutlich Ende 1941 in Vorbereitung auf die für Januar 1942 geplante Komponistentagung), in: BArch VBS 100, 230000, 3703. 34 BArch VBS 100, 230000, 3703.

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zu den die Ostmark besonders interessierenden Fragen. Als die kulturträchtigste Musiklandschaft Deutschlands wäre die Ostmark dazu berufen, das gesamtdeutsche Musikleben in noch weit reicherem Maße zu befruchten als bisher. Insbesondere müßten die Nachteile, die den Komponisten der Ostmark aus der langen Abgeschiedenheit vom musikalischen Leben des Reiches erwachsen wären, durch regere Wechselbeziehungen und ständigen Austausch allmählich ausgeglichen und wettgemacht werden.35

Dies waren keine leeren Worte, wie er am 21. Oktober 1941 in Wien auf einer „Versammlung der Mitglieder und Tantiemenbezugsberechtigten“ der ehemaligen Österreichischen Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (AKM) deutlich machte. Nach dem sogenannten „Anschluss“, im August 1938, war die AKM in die STAGMA überführt worden und die Versammlung diente dazu, bei deren ehemaligen Mitgliedern für diese Maßnahme zu werben. Dies gelang nicht zuletzt, indem sie durch eine zweimalige Nachausschüttung günstig gestimmt wurden. Kein Wunder, dass der Bericht des Stagma-Geschäftsführers Leo Ritter „von der stark besuchten Versammlung mit allgemeiner Zustimmung entgegengenommen“36 wurde. Indem Egk hier, wie er meinte, lediglich die Interessen seiner Kollegen vertrat, arbeitete er unmittelbar der Popularität und damit der Expansionspolitik des NS-Regimes zu. Ausgeschlossen von den Zuwendungen, die Egk großzügig verteilte, blieben die aus rassistischen Motiven ausgegrenzten ehemaligen Mitglieder der Fachschaft. Dass Egk in seinem Amt mit Fragen der Abstammungsfeststellung zumindest gelegentlich befasst war, belegt ein Brief, den Boris Blacher am 16. Februar 1942 an ihn als Leiter der Fachschaft richtete.37 Darin verteidigt sich Blacher gegen Vorwürfe wegen seiner Großmutter väterlicherseits und Egk leitete das Schreiben auf dem Dienstweg weiter. Für die spätere Angabe des Komponisten, er habe vielen Mitgliedern der Fachschaft in bedrängter Lage geholfen, finden sich kaum belastbare Belege. Sie muss deswegen nicht falsch sein, zumal solche Unterstützungen naturgemäß in den seltensten Fällen dokumentiert wurden. Auf der anderen Seite ist 35 Komponistenversammlung in Wien, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, Dezember 1941, S. 5. 36 Die Wiener Tage der A.K.M., ebenda. 37 Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 477.

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zumindest eine Angelegenheit nachweisbar, in der Egk sich einem seiner Schutzbefohlenen gegenüber wenig solidarisch verhielt. Der Komponist Heinrich Kaminski, damals Mitte fünfzig, galt wegen seiner polnischen Großeltern väterlicherseits als sogenannter „Vierteljude“. Als solcher war er zwar in der Reichsmusikkammer geduldet, befand sich jedoch in prekärer Lage, da ständig mit Angriffen aus dem Amt Rosenberg zu rechnen war.38 Einige seiner Werke waren bei Schott erschienen, und im August 1941 erkundigte sich Ludwig Strecker bei Egk über Kaminski − anscheinend ging es um weitere Inverlagnahmen. Doch Egk winkte ab: Zu Kaminski möchte ich Ihnen nicht besonders raten, zu mindesten dann nicht, wenn Sie nicht die Sicherheit haben, daß seine Werke jetzt auch bei Veranstaltungen gespielt werden dürfen, welche in irgendeiner Weise von der öffentlichen Hand bezuschusst sind. Ich persönlich bezweifle, dass er in solchen Veranstaltungen gespielt werden darf. Selbst wenn er vom Staat eine Unbedenklichkeitserklärung hat, wird er von der Partei weiter bekämpft werden, vorausgesetzt, dass sein Abstammungsnachweis nicht 100%ig in Ordnung ist.39

Grub Egk demnach hier einem Mitglied der von ihm geleiteten Fachschaft das Wasser ab, so war er andererseits auch zu forcierter Förderung von Komponisten in der Lage. Am 18. November 1942 sandte er Strecker unter dem Briefkopf der Fachschaft ein offizielles, mit „Heil Hitler!“ gezeichnetes Schreiben, das die Inverlagnahme von Klavierliedern eines gewissen Rolf Ehrenreich nachdrücklich anempfahl.40 Gleichwohl scheint Strecker dem Hinweis nicht gefolgt zu sein. Jedenfalls lassen sich keine gedruckten Kompositionen Ehrenreichs nachweisen, der unter anderem als Korrepetitor in Bayreuth tätig war und Wolfgang Wagner Kompositionsunterricht erteilte.41 ***

38 Ebenda, S. 3517 und S. 3521. So richtete Herbert Gerigk am 2. Juni 1942 an die Parteikanzlei den Vorschlag, „jüdische Mischlinge“ wie Blacher, Kaminski und andere in den Kulturkammerausweisen zu kennzeichnen, siehe ebenda S. 8382. 39 Werner Egk an Ludwig Strecker, 18. August 1941, Archiv Schott, Mainz. 40 Werner Egk an Ludwig Strecker, 18. November 1942, ebenda. 41 Siehe Einhard Luther, „Keiner wie er“ – Max Lorenz, Berlin 2009, S. 134.

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Resümierend wird man − im Vergleich zu Figuren wie etwa Herbert Gerigk − zwar kaum sagen können, dass Egk als Leiter der Fachschaft Komponisten zu den verheerendsten Protagonisten der NS-Musikpolitik gehört habe. Doch dass es sich bei diesem Amt „nicht um eine politische Angelegenheit gehandelt“ habe, wie der Komponist der Spruchkammer weiszumachen versuchte, geht entschieden an der Realität vorbei. Wie gesehen, beförderte seine Tätigkeit unmittelbar politische Ziele des NS-Regimes. Insofern trifft die Annahme der Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 1947, Egk habe „als Leiter der Fachschaft Komponisten die Gewaltherrschaft durch Einsetzen seines persönlichen Ansehens wesentlich unterstützt“, uneingeschränkt zu. Doch es profitierte nicht nur das Regime von ihm, sondern auch er von dem Regime. Was immer wir von seinen Initiativen in diesem Amt nachvollziehen können, zeigt sich stets eng mit seinen persönlichen Interessen verschränkt. Die Einstufung als „Nutznießer“ wäre somit vollauf berechtigt gewesen.

Führung und Verwaltung

Heinz Drewes als Leiter der Musikabteilung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (1937–1944) Martin Thrun

Der Name Heinz Drewes, des 1903 in Gelsenkirchen geborenen Musikers, Dirigenten, Musikwissenschaftlers und NS-Funktionärs, war im Fachschrifttum, das sich der Aufarbeitung von Musik und Musikleben des NS-Staats zuwandte, von Anbeginn präsent. Fand er zunächst bei Joseph Wulf oder Fred K. Prieberg nur beiläufig Erwähnung, ohne dass die Reichweite seiner vielfältigen administrativen Tätigkeit hätte kenntlich werden können, 1 so sind doch spätestens seit den Studien von Michael H. Kater,2 Pamela M. Potter,3 Rainer Sieb4 und mehr noch seit dem Erscheinen der Tagebücher von Joseph Goebbels, der Raabe-Monographie von Nina Okrassa5 oder Priebergs Handbuch Deutsche Musiker 1933–19456 manche Konturen seines Wirkens greifbar geworden. Trotzdem scheint es verfrüht zu sein, die vorliegenden, wenn auch vermehrten Mosaiksteine zu einem Ganzen zusammen1 Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963, S. 120, 134 und 140f.; Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 173, 267, 276–278, 298, 355f., 401 und 408. 2 Michael H. Kater, Die mißbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München und Wien 1998, S. 46–49, 109f., 280, 298, 361–364 und 438. 3 Pamela M. Potter, Die „deutscheste“ der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 2000, S. 170f., 198, 206 und 286. 4 Rainer Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik. Zum Aufbau von Organisationsstrukturen für die Musikarbeit in den Gliederungen der Partei, Diss. Osnabrück 2007, S. 83f., 125–128, 136, 199 und 212. Online-Ressource unter http://d-nb.info/985 631791/34#page=1&zoom=auto,0,842 (Abruf am 1. Mai 2014). 5 Nina Okrassa, Peter Raabe. Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872–1945), Weimar und Wien 2004, u. a. S. 202f., 296–304, 311–322, 365f. und 369–372. 6 Fred K. Prieberg, Handbuch deutsche Musiker 1933–1945, CD-R Kiel 2004.

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zufügen, zumal die Sichtung der die Person betreffenden publizistischen oder archivalischen Überlieferung noch längst nicht abgeschlossen ist. Nicht minder trifft dies auf den Mitarbeiterstab der von ihm seit dem 1. Februar 1937 geleiteten Musikabteilung des „Reichsministeriums für Volksauf­klärung und Propaganda“ (RMVP) zu, der bei wechselnder personeller Besetzung etwa 25 Fachleute zählte, darunter eine Frau. Erschwerend kommt hinzu, dass das im sog. Führerstaat praktizierte Delegationsprinzip die allbekannte Frage nach persönlicher Verantwortung aufwirft, die zugleich auch eine von Schuld oder Mitschuld sein kann, eine Frage, auf die eine befriedigende Antwort kaum zu finden ist. Fest steht, dass Heinz Drewes – im Unterschied zu Musikfunktionären der älteren Generation wie Richard Strauss, Peter Raabe, Wilhelm Furtwängler oder Paul Graener – von Anbeginn im Windschatten der NSDAP Karriere machte und sich dem Propagandaapparat des NS-Staats willig zur Verfügung stellte. Wenn unter den bezeichneten Voraussetzungen der Versuch unternommen wird, das Profil eines der NSDAP seit 1930 angehörenden Spitzenfunktionärs7 und dessen administrative Tätigkeit im Kontext seines Mitarbeiterstabs zu skizzieren, dann geschieht dies in der Annahme, dass es im Urteil der Nachwelt im Wesentlichen darauf ankommt, erstens die machtzentrierende musikpolitische Gewalt der Drewes unterstehenden Musikabteilung herauszustellen, zweitens das Profil der Akteure, d. h. den Mitarbeiterstab kenntlich zu machen und drittens die Inszenierungen des sog. ,nationalsozialistischen Kulturwillens‘, die Propaganda spezifisch ,deutscher‘ Musikinteressen zu akzentuieren.8 Hierbei werde ich vor allem auf die mir bekannte schriftliche Überlieferung rekurrieren, jedoch auch gelegentlich auf Stellungnahmen zurückgreifen, die mir zwischen 1979 und 1982 in Interviews von Zeitzeugen bekannt geworden sind, etwa in Gesprächen mit Heinz Drewes, seinem Stellvertreter Fritz von Borries oder Otto C.A. zur Nedden. Der Wert von Oral History wird in diesen und ähnlichen Fällen strittig bleiben, da sich die Aussagen der Befragten, teils diktiert von Rechtfertigungszwängen, in einer schwer zu entziffernden Mischung von Dichtung und Wahrheit bewegen, weshalb die Überlegung naheliegen könnte, ob 7 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 1237. 8 Aus Raumgründen muss hier auf den Versuch einer detaillierteren Beschreibung von Arbeitsabläufen in den Referaten der Musikabteilung und die dazugehörige Diskussion relevanter überlieferter Archivalien verzichtet werden.

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nicht die Stellungnahmen solcher Zeitzeugen in letzter Instanz weit mehr Auskunft geben über die Schachzüge beschönigender Vergangenheitsbewältigung als über die befragte Sache selbst. Ähnliche Zweifel am Wahrheitsgehalt lassen sich nicht minder der archivalischen Überlieferung von Dokumenten unterschiedlichster Provenienz oder den Druckzeugnissen von Tagebüchern, Briefen oder Memoiren entgegenbringen.

Scheingesetzliche Grundlagen Im Folgenden interessiert vor allem der Machtbereich des RMVP, und zwar die auf ministerieller Ebene agierende, 1936 selbständig gewordene Musikabteilung. Zu ihrer Vorgeschichte gehört, was sich von selbst versteht, der am 13. März 1933 erfolgte Beschluss zur Gründung des neuen Ministeriums, der den 35jährigen Joseph Goebbels in sein längst angestrebtes Amt hob.9 Wäre es nach seinem Willen gegangen, hätte er die Bezeichnung seines Ministeriums gerne nachgebessert, den Ausdruck Propaganda – seines „bitteren Beigeschmacks“10 wegen – gemieden und ihm den Namen „Reichsministerium für Kultur und Volksaufklärung“ gegeben, was Hitler jedoch im Frühjahr 1934 aus unbekannten Gründen ablehnte.11 Mit der Umbenennung hätte nach außen hin besser deutlich werden können, wie sehr das Ministerium ungeniert Künste und Künstler in seine Gewalt nahm, wie dann auch die Frage unabweisbar gewesen wäre, welchen Begriff von Kultur sich der NS-Staat inmitten der von ihm verantworteten Tyrannei und Barbarei zurechtlegte. Andererseits hatte die Beibehaltung der Bezeichnung Propaganda dennoch ihr Gutes, weil offenkundig wurde, dass kalkuliertes Marketing, Produktma-

9 Daniel Mühlenfeld, Vom Kommissariat zum Ministerium. Zur Gründungsgeschichte des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, in: Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, hg. v. Rüdiger Hachtmann und Winfried Süß (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 22), Göttingen 2006, S. 72–92. 10 So äußerte sich Joseph Goebbels am 16. März 1933 vor Vertretern der Presse, zitiert nach: Wolfram Werner, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Bestand R 55 (= Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs 15, Koblenz 1979), S. IX. 11 Ebenda.

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nagement, Werbung und Reklame das wesenlose Geschäft des Ministeriums waren. Zur Vorgeschichte gehört gleichfalls, dass sich das Tempo der Gleichschaltung derart überschlug, dass Goebbels nicht einmal die sog. gesetzlichen Grundlagen abwartete – etwa das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches (30. Januar 1934) oder das Reichstheatergesetz (15. Mai 1934) –, die die bisherige Kulturhoheit der Länder an Reichsministerien delegierten. Vielmehr traf er bereits vor dem Hintergrund des Reichskulturkammergesetzes vom 22. September 1933 weitreichende Vorkehrungen, um Künste und Künstler in seine Regie zu nehmen, selbst wenn dies zu langwierigen Machtkämpfen führen sollte, aus denen er letzten Endes mehr oder minder siegreich hervorging.

Auf- und Abbau von Abteilungen für Theater, Musik und Kunst Im Spätsommer 1933 wurden die ersten Umrisslinien einer Musikabteilung erkennbar, die Goebbels seinem neuen Ministerium einverleibte. Der erste detailliert ausgearbeitete Geschäftsverteilungsplan vom 1. Oktober 1933 wies insgesamt sieben ministerielle Abteilungen auf, deren Aufgabe und Sinn darin bestand, dass sie dem Minister und seinen Staatssekretären in unmittelbarer Nähe (auch räumlicher Nähe) zu Diensten waren.12 Ihre Anzahl stieg bis 1936 auf zehn13 und erreichte mit 17 ihren höchsten Stand im Jahre 1943.14 Die Vermehrung ergab sich mitunter aus der Aufspaltung von Abteilungen. Ihrem Zuwachs entsprach die steigende Zahl der im Ministerium beschäftigten Mitarbeiter von anfangs rund 350 auf etwa 1.500 im Jahre 1942.15 12 Ebenda, VIII. 13 Geschäftsverteilungsplan des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 10. Februar 1936 (Berlin 1936). 14 Jan-Pieter Barbian, Art. Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd.  5 (Organisationen, Institutionen, Bewegungen), hg. von Wolfgang Benz, Berlin und Boston 2012, S. 526. 15 Ebenda, S. 526. Über Interna des Ministeriums – vor allem auch personelle Belange – informiert das Nachrichtenblatt des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (1933–1945).

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Den Bereichen Theater, Musik und Kunst wurde zunächst nur eine einzige Abteilung (Abt. VI) zugestanden;16 1935 sah man sie in die beiden Sektionen Abt. VI „Theater“ und Abt. IX „Musik und bildende Kunst“ aufgeteilt,17 ein Jahr darauf erhielten Musik und Bildende Kunst je ihre eigene Abteilung (Abt. X bzw. Abt. IX).18 Kriegsbedingt änderte sich im September 1944 der bürokratische Apparat abermals, indem die Sparten Theater, Musik und Bildende Kunst in der Abteilung Kultur (Kult) zusammengefasst wurden.19 Vom Jahre 1933 her gesehen, hätte man anno 1944/45 meinen können, alles sei beim Alten geblieben, wenn nicht inzwischen weite Flächen des Verwaltungszentrums Berlin in Schutt und Asche gesunken wären, darunter auch Gebäudekomplexe des Ministeriums und nachgeordneter Dienststellen. Unter den sieben im Herbst 1933 eingerichteten ministeriellen Abteilungen befand sich die bereits erwähnte „Abt. VI. Theater, Musik und Kunst“ (vgl. Anhang 1).20 Ihre Leitung hatte Goebbels dem zum Ministerialdirektor avancierten Schauspieler und Parteimitglied Otto Laubinger (1892–1935) übertragen, der in Personalunion das Amt des ersten Präsidenten der Reichstheaterkammer innehatte.21 Nach den Angaben in Dresslers Kunsthandbuch besaß die überschaubare Abteilung 1934 neben ihrem Leiter lediglich fünf Referenten (Sigmund Graff,22 Otto von Keudell,23 Eberhard Wolfgang Möller,24 Rainer 16 Dresslers Kunsthandbuch. Zehnte Ausgabe, Erster Band, Halle und Berlin 1934, S. 4–7. 17 Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik, S. 125. 18 Geschäftsverteilungsplan des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 10. Februar 1936, S. 20. 19 Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, September 1944, o. S. (S. 2); vgl. auch Boris von Haken, Der „Reichsdramaturg“. Rainer Schlösser und die Musiktheater-Politik in der NZ-Zeit, Hamburg 2007, S. 214. 20 Die Anhänge fungieren als wesentlicher Bestandteil dieses Beitrags und erleichtern das Verständnis des Haupttextes. 21 Mühlenfeld, Vom Kommissariat zum Ministerium, S. 82f. Anm. 73. 22 In den Erinnerungen des Schriftstellers Sigmund Graff (1898–1979) begegnet man dem Kapitel Rainer Schlösser, der Reichsdramaturg, das die Kunstpolitik des NS-Staats sehr verharmlost, siehe Von S.M. zu N.S. Erinnerungen eines Bühnenautors (1900 bis 1945), München-Wels 1963, S. 195–224. 23 Die Tätigkeit von Otto von Keudell wird anschließend gesondert thematisiert. 24 Der Schriftsteller Eberhard Wolfgang Möller (1906–1972) hatte sich in der nationalsozialistischen Thingspielbewegung mit seinem Frankenburger Würfelspiel (1936) einen Namen gemacht. Das Stück wurde im Volksmund als „Frankfurter Würstchenspiel“ verspottet.

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Schlösser,25 Schwebel26) sowie drei Expedienten.27 Mit welchen musikalischen Aufgaben sie befasst war, wurde an dieser Stelle mit einem einzigen, alles und nichts sagenden Wort angezeigt: „Musikpflege“.28 Was dies konkret bedeutete, konnte nach außen hin nicht sichtbar werden. Demgegenüber gewann die Theatersektion, genauer gesagt das Referat „Dramaturgie“ unter dem im August 1933 berufenen „Reichsdramaturgen“ Rainer Schlösser, rasch an Profil, zumal ihm das Reichstheatergesetz vom 15. Mai 1934 einen ungeahnten Handlungsspielraum zukommen ließ, der neben der reichsweiten Kontrolle und Lenkung deutscher Bühnen auch Zensurmaßnahmen einschloss;29 sämtliche Angelegenheiten des professionellen Theaters fielen in die Zuständigkeit des Reichsdramaturgen, was bedeutete, dass die Musiktheater-Politik hier ihren zentralen Sitz erhielt, während unterdessen noch offenblieb, wie das Machtzentrum von Musikpolitik i. e. S. beschaffen sein würde. Vorübergehend schienen die Präsidenten der Reichsmusikkammer (RMK), Richard Strauss oder Peter Raabe, der Ansicht zu sein, sie verkörperten solch ein Zentrum von Macht, was sich jedoch als Irrtum herausstellte. Nach dem Tod Laubingers (1935) leitete Schlösser die selbständig gewordene Theaterabteilung und war als dessen Nachfolger bis 1938 der zweite Präsident der Reichsthea­terkammer. Die von der Abteilung abgetrennten Referate Bildende Kunst und Musik gingen ihren eigenen Weg. Am 1. April 1933 hatte Goebbels eine merkwürdig schillernde Figur, den zuvor im Reichsministerium des Innern tätigen Verwaltungsjuristen, Ministerialrat und Märzgefallenen Otto von Keudell (1887–1972), in das RMVP übernommen; als Stellvertreter Laubingers leitete er das Referat „Musik und 25 Zu Rainer Schlösser liegen zwei Monographien vor: von Haken, Der „Reichsdramaturg“ sowie Stefan Hüpping, Rainer Schlösser (1899–1945). Der „Reichsdramaturg“, Bielefeld 2012. 26 Dresslers Kunsthandbuch, S.  6. Min.BD Hofrat Schwebel dürfte, wie in späterer Zeit, für Haushaltsangelegenheiten zuständig gewesen sein (Geschäftsverteilungsplan des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 10. Februar 1936, S. 20). 27 Dresslers Kunsthandbuch, S. 6. Als Expedienten werden genannt: Krüger, Spode und Witschaß; zur späteren Personalstruktur der Theaterabteilung siehe von Haken, Der „Reichsdramaturg“, S. 13f. 28 Dresslers Kunsthandbuch, S. 5; auf weitere Aufgaben des Referats „Musik und Kunst“ verweist von Haken, Der „Reichsdramaturg“, S. 13 Anm. 12. 29 Ebenda, S. 13 und 51ff.

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Kunst“, aus dem spätestens 1935 eine eigenständige ministerielle Abteilung hervorging.30 Zu seinen Aufgaben gehörten – was sehr weit formuliert war – die Kunstpflege und Pflege des Musikwesens im In- und Ausland sowie das Tanzwesen,31 dem er in ganz besonderem Maße zugetan war, weshalb man ihn im Nachhinein als „ministeriellen Tanzpolitiker“32 apostrophierte. Was außerdem über Keudells musikbezogene Tätigkeit bislang bekannt wurde, verweist vor allem auf die Auseinandersetzung mit Urheberrechtsfragen und die Umgestaltung von Urheberrechtsgesellschaften.33 Auf Dauer überforderten ihn die Amtsgeschäfte; seit 1934 litt er an nervlichen Erkrankungen, so dass ihm nach und nach Amtsbefugnisse und auch sonstige Ämter – im Reichskultursenat und anderswo – entzogen wurden.34 Selbst wenn sich seine definitive Abberufung bis zum Juli 1936 hinzog, konnte er seit seiner Erkrankung in der Abteilung kaum mehr Fuß fassen.35 Nicht zufällig wurde sein Referat im Mai 1935 personell verstärkt und Ernst Ludwig eingestellt.36 Im Juli 1935 beauftragte Goebbels den nahezu kaltgestellten Ministerialrat Keudell, die erzwungene Demission des Reichsmusikkammerpräsidenten Richard Strauss in die Wege zu leiten. „Jetzt muß Strauß auch weg“, so lautet seine bekannte Tagebucheintragung vom 5. Juli 1935. Und weiter: „Stiller Ab-

30 Ebenda, S. 13. 31 Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik, S. 125. 32 Lilian Karina und Marion Kant, Tanz unterm Hakenkreuz. Eine Dokumentation, Berlin 1996, S. 138. 33 Albrecht Dümling, Musik hat ihren Wert. 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in Deutschland, Regensburg 2003, S. 185f., 194, 198–200, 202f., 205f. und 211. 34 Karina und Kant, Tanz unterm Hakenkreuz, S. 165–167; siehe auch Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 199. 35 In der Folgezeit sah Keudell seiner Entbindung von Amtsgeschäften entgegen; am 9. Juli 1936 wurde er als kommissarischer Regierungspräsident nach Marienwerder/Ostpreußen abgeschoben, siehe Karina und Kant, Tanz unterm Hakenkreuz, S. 165. Im Dezember 1935 war es zu einem neuerlichen Eklat gekommen: „v. Keudell macht mir eine Weihnachtsfreude: Schickt die B..bilder als deutsche Kunst nach… In meinem Namen noch obendrein. Na, dem hab’ ich den Marsch geblasen.“ Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, Teil I Aufzeichnungen 1924–1941, Band 2, hg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte, München et al. 1987, S. 558 (24. Dezember 1935). 36 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 4351.

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schied. Keudell muß es ihm beibringen.“37 Er erledigte den Auftrag, der Strauss’ Demission zur Folge hatte. Dass ihm diese Aufgabe überhaupt zufiel, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stellung seines Amtes. Der Abteilungsleiter – der verlängerte Arm des Ministers oder Staatssekretärs – war dem Präsidenten der RMK übergeordnet. Er war an keinerlei Weisungen von Präsidenten der Einzelkammern gebunden; selbst die Geschäftsführer der Reichskulturkammer besaßen ihm gegenüber keinerlei Weisungsbefugnis. Im Geschäftsverteilungsplan der neugeschaffenen Musikabteilung X vom 10. Februar 1936 fand Keudell keine Erwähnung mehr.38 Inzwischen wurde die Abteilung kommissarisch geleitet. Unverändert lauteten die Arbeitsgebiete: „Musik im Inland“ und „Deutsche Musik im Ausland“, während die Zuständigkeit für das Tanzwesen an die Theaterabteilung überging.39 Zu den wenigen Mitarbeitern zählten zu diesem Zeitpunkt, abgesehen vom Büropersonal, zwei Fachreferenten, und zwar der zuvor schon erwähnte Ernst Ludwig, der als musikbeflissener promovierter Wiener Jurist, vormaliger Magistratsbeamter und Parteimit­glied 1934 in Berlin Zuflucht gesucht hatte (vermutlich infolge des Verbots der NSDAP in Österreich);40 neben ihm wirkte ein Amtsrat namens Klaus, der als vormaliger Mitarbeiter des Auswärtigen Amts seit mehreren Jahrzehnten in ministeriellen Diensten stand.41 Zeitgleich mit dem Amtsantritt von Drewes wurde Ludwig am 1. Februar 1937 zu dessen Stellvertreter ernannt;42 offenbar verlief die Zusammenarbeit nicht reibungslos, sonst hätte Goebbels im Januar 1938 wohl kaum bemerkt, Drewes solle sich von Ludwig und Peter Raabe von Heinz Ihlert trennen, damit Ruhe herrsche;43 am 31. Juli 1938 schied Ludwig, sicherlich nicht unbegründet, auf eigenen Wunsch aus seinem Amt.44 37 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 2, S. 490 (5. Juli 1935). 38 Geschäftsverteilungsplan des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 10. Februar 1936, S. 20. 39 Karina und Kant, Tanz unterm Hakenkreuz, S. 167; von Haken, Der „Reichsdramaturg“, S. 14. 40 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 4351. 41 Mitteilung von Dr. Heinz Drewes (Gespräche mit dem Verfasser vom 2. Oktober 1979 und 18. Februar 1980). 42 Nachrichtenblatt des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (1937, lfde Nr. 27). 43 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 3, München et al. 1987, S. 419 (Eintrag vom 29. Januar 1938). 44 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 4351.

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Herkunft aus dem Weimarer Kreis um Hans Severus Ziegler „Aber wer als Nachfolger?“ – Diese Frage stellte sich Goebbels bereits am 11. Januar 1936, nachdem Keudells Abschiebung feststand.45 Die Antwort hierauf ließ nahezu ein Jahr lang auf sich warten. Erst im August des Jahres unternahm Goebbels erkennbare Schritte, um die vakante Stelle zu besetzen, wobei nun offenbar nicht mehr an einen Juristen gedacht war, sondern an einen Musikwissenschaftler oder Musiker. Wohl auf Empfehlung von Hans Severus Ziegler bewarb sich zunächst, vom Weimarer Deutschen Nationaltheater kommend, der Musikwissenschaftler und Chefdramaturg Otto zur Nedden, ohne erfolgreich zu sein46 (womöglich aufgrund von Gerüchten, die den § 175 des Strafgesetzbuches betrafen47). Ein weiterer Kandidat war Heinz Drewes, der sich laut Goebbels Tagebuch am 24. Oktober vorstellte,48 am 4. November den Zuschlag erhielt49 und die Stelle am 1. Februar 1937 antrat.50 Überblickt man die Biographie von Heinz Drewes, so deutet nichts darauf hin, dass er vor 1929 dem Fahrwasser der NSDAP nahestand. Nach dem Abitur nahm er 1922 sein Studium an der Berliner Humboldt-Universität auf und verfolgte daneben musikpraktische Stu­dien, deren Ziel der Kapellmeisterberuf war. In Berlin studierte er fünf Semester lang – neben Philosophie und Kunstgeschichte – Musikwissenschaft bei Johannes Wolf, Hermann Abert, Curt Sachs und Georg Schünemann;51 sein pianistisches Talent soll er nach einem Zeugnis von Erich Roeder in Ferruccio Busonis Tafelrunde unter Beweis gestellt haben.52 Ferner studierte er in Berlin Tonsatz 45 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 2, S. 563 und 566. Das Notat vom 11. Januar 1936 (S. 563) lautet: „Funk: Keudell und Scheuermann müssen weg! Nicht mehr zu halten. Aber wer als Nachfolger?“ 46 Ebenda, S. 655 (5. August 1936). 47 Okrassa, Peter Raabe, S. 297. 48 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 2, S. 706 (Eintrag vom 24. Oktober 1936). 49 Ebenda, S. 715 (4. November 1936). 50 Nachrichtenblatt des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (1937, lfde Nr. 27). 51 Die nachfolgenden Angaben orientieren sich am „Lebenslauf“, den Heinz Drewes im Anhang seiner Dissertation publizierte, Maria Antonia Walpurgis als Komponistin [Diss. Köln 1933], Borna-Leipzig 1934, S. 123. 52 Erich Roeder, Heinz Drewes. Zum 40. Geburtstag am 24. Oktober 1943, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1944, im Auftrage der Abteilung Musik des Reichsministeri-

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oder Komposition bei Wilhelm Klatte und Heinz Tiessen und war zeitgleich Kapellmeisterschüler von Rudolf Krasselt in Hannover und Ernst Praetorius in Weimar. Infolge einer Anstellung am Stadttheater Liegnitz unterbrach er 1924 das Studium. Nachdem er im Mai 1925 als Assistent von Gustav Brecher am Leipziger Opernhaus unterkam, nahm er sein Studium wieder auf und fand in Theodor Kroyer seinen Doktorvater, der 1932 von Leipzig nach Köln berufen wurde, so dass sich Drewes veranlasst sah, sein Dissertationsvorhaben 1933 in Köln zu beenden. Alles in allem wirkt die Fortsetzung des Universitätsstudiums wie der Aufenthalt auf einem Nebengleis, zumal Drewes von 1926 bis 1929 am Weimarer Deutschen Nationaltheater als Solorepetitor oder Kapellmeister engagiert war, und zwar wie zuvor unter Ernst Praetorius. Ende der 1920er Jahre wirkten neben ihm am Weimarer Theater u.  a. die Kapellmeister Ernst Nobbe und Karl Fischer sowie die Repetitoren Paul Sixt, Helmut Fellmer und Hildegard Neupert.53 Es lässt sich nur vermuten, dass er zusammen mit Ernst Nobbe, seit 1928 NSDAP-Mitglied,54 und Paul Sixt55 Kontakt zum Kreis um Hans Severus Ziegler fand. Von der völkischen Bewegung kommend hatte sich Ziegler inmitten der Zwanziger Jahre dem Nationalsozialismus verschrieben und agitierte spätestens seit seiner ersten Begegnung mit Hitler (1925) als thüringischer Chefideologe, der radikalsten Antirepublikanismus, Antimodernismus und Antisemitismus in die Kulturpolitik hineintrug. Sein Einfluss wuchs in Thüringen und anderswo umso stärker, je mehr Zulauf die Partei fand.56 Aufgrund von Sparmaßnahmen soll Drewes 1929 entlassen worden sein.57 Dies mag etwa der Zeitpunkt gewesen sein, als er sich dem Kreis um Ziegler näherte. Im Vorfeld seiner Anstellung im RMVP lagen Ermittlun-

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ums für Volksaufklärung und Propaganda hg. von Hellmuth von Hasse und Albert Dreetz, Leipzig und Berlin 1944, S. 104f. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 41 (1930), S. 641. Holm Kirsten, „Weimar im Banne des Führers“. Die Besuche Adolf Hitlers 1925–1940, Weimar und Köln 2001, S. 176. Paul Sixt war wie Heinz Drewes der NSDAP 1930 beigetreten, siehe Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 1237 und 6653. Siehe das Kapitel Hans Severus Ziegler: Der „Kulturdiktator“ von Weimar, in: Kirsten, „Weimar im Banne des Führers“, S. 108–113. Irina Kaminiarz, „Entartete Musik“ und Weimar, in: Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Na­tionalsozialismus, hg. von Lothar Ehrlich et al., Köln und Weimar 1999, S. 279.

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gen zu seinem beruflichen Werdegang und seinen kulturpolitischen Aktivitäten vor. Aktenkundig wurde die Auskunft: Kulturpolitisch ist Dr. Drewes seit 1929 [sic!] in der Bewegung tätig. Er ist u. a. als Mitarbeiter des ‚National­sozialist‘ und des ‚Völkischen Beobachters‘ hervorgetreten. [Auf ] Empfehlung des damaligen stellvertretenden Gauleiters [und] jetzigen

Staatsrates Dr. H. S. Ziegler, wurde er an das Lan­destheater in Altenburg berufen. Im Jahre 1930 gründete [er den] Kampfbund für deutsche Kultur in Altenburg. Sein Eintritt in die NSDAP erfolgte ebenfalls im Jahre 1930.58

Genau betrachtet fiel Drewes’ Altenburger Anstellung in die sog. Ära Frick. Nach der Wahl vom Dezember 1929 hatte Wilhelm Frick als Fraktionsmitglied der NSDAP das Amt des Staatsministers für Inneres und Volksbildung in der kurzlebigen thüringischen Koaliti­onsregierung (23. Januar 1930 – 1. April 1931) übernommen; ihm stand als Referent für Kul­tur und Theater Hans Severus Ziegler zur Seite, von dessen personalpolitischen Entschei­ dungen Drewes profitierte, als er 1930 zum Ersten Kapellmeister am Landestheater Altenburg berufen und bald darauf zum Generalmusikdirektor bzw. Generalintendanten ernannt wurde.59 Unter maßgeblicher Beteiligung Zieglers bot die Ära Frick 1930/31 einen grausigen Ausblick darauf, was nationalsozialistische Kunst-, Literatur-, Musik-, Film- oder Schulpoli­tik in Wirklichkeit bedeutete, wofür der aus 58 Zitiert nach: Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik, S. 126. Erich Roeder kam 1944 auf die Herkunft Drewes’ aus dem Kreis um Ziegler wie folgt zu sprechen: „In der überlieferungsstolzen Musenstadt im Herzen Deutschlands erlebte er [Drewes] zugleich die Kampfzeit. Thüringen mit Weimar an der Spitze war das erste deutsche Land mit nationalsozialistischer Verwaltung. Hier führte Wilhelm Frick, einer der ersten Mitkämpfer Adolf Hitlers, die Regierung. Hier lebte und wirkte der älteste völkische Dichter und Bekenner unserer Zeit: Adolf Bartels. Und hier wuchs neben Baldur v. Schirach ein bedeutender Kreis junger nationalsozialistischer Künstler und Kämpfer in seine Zukunftsaufgaben hinein: unter ihnen Hans Severus Ziegler, nachher Staatsrat und Generalintendant des Nationaltheaters, Rainer Schlösser, der spätere Reichsdramaturg, und, mit beiden in Freundschaft verbunden, Heinz Drewes. Er verdankt nicht zuletzt dieser Zeit seine reiche kulturpolitische Erfahrung, sein Wissen um das, worauf es ankommt“ (Heinz Drewes, S. 105). Herr Dr. Albrecht Dümling wies mich im Rahmen der hier dokumentierten Tagung freundlicherweise darauf hin, dass laut Personalakte der Reichskulturkammer Drewes erst am 1. Dezember 1931 der NSDAP beitrat. 59 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 1237.

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Zieglers Feder stammende Erlass Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum (22. April 1930) ein hinreichend deutliches Beispiel bot, wie dann auch die Praxis von Zensurmaßnahmen in Theater und Konzert einen deutlichen Begriff davon gab, was nach 1933 reichsweit gang und gäbe werden sollte.60 Übrigens soll Ziegler angeregt haben, das Amt des Reichsdramaturgen zu schaffen und es Rainer Schlösser zu übertragen.61 Vor diesem Hintergrund stellt sich in neuem Licht noch einmal die Frage: Wer sollte Drewes dem Propagandaministerium empfohlen haben, wenn nicht Ziegler?62 Von dem Fa­natiker, der seit 1936 das Deutsche Nationaltheater in Weimar als Generalintendant leitete, ging 1938 die Initiative zur Ausstellung „Entartete Musik“ aus, die in Düsseldorf, Weimar und Wien zu sehen war.63 Zur Nedden, Nobbe und Sixt unterstützen seine Vorbereitungen je auf ihre Weise von Weimar aus,64 Drewes von Berlin aus; die Ex60 Burkhard Stenzel, Das Deutsche Nationaltheater in Weimar. Symbol und Schauplatz kultureller Praktik um 1930, in: Weimar um 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, hg. von Lothar Ehrlich und Jürgen John, Köln et al. 1998, S. 235f. 61 Mitteilung von Prof. Dr. Otto C. A. zur Nedden (Gespräch mit dem Verfasser vom 28. Januar 1982). 62 Nach einem Zeugnis von Hermann Reutter (Brief an Fred K. Prieberg vom 20. Februar 1963) soll Peter Raabe den Werdegang von Drewes wie folgt beurteilt haben: „Wenn Sie nicht die schmutzige Protektion von Hans Severus Ziegler genössen, wären Sie heute dritter Kapellmeister in Kottbus“. Fred K. Prieberg, Musik und Macht, Frankfurt am Main 1991, S. 291 Anm. 173. 63 Albrecht Dümling und Peter Girth, Entartete Musik. Zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938. Eine kommentierte Rekonstruktion, Düsseldorf 21988. Die Dokumentation enthält u.  a. ein Faksimile des Pamphlets von Hans Severus Ziegler, Entartete Musik. Eine Abrechnung, Düsseldorf 1938. Siehe ferner Albrecht Dümling, „Entartete Musik“. Zur Rezeption der Ausstellung in Düsseldorf, Weimar und Wien 1938–1939, in: Beiträge ’90. Österreichische Musiker im Exil (= Beiträge der Österreichischen Gesellschaft für Musik 8), hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Kassel et al. 1990, S. 85–93 sowie „Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz. Ein Projekt der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar zum Kulturstadtjahr 1999, hg. von Hanns-Werner Heister, Saarbrücken 2001. 64 Da es Hans Severus Ziegler an musikalischem Sachverstand mangelte, ließ er sich von seinem Kreis beraten (Adolf Hitler aus dem Erleben dargestellt, Göttingen 1964, S. 237f. und 242ff.). Aus meiner Sicht dürfte Ernst Nobbe der spiritus rector der „Abrechnung“ (s.  o.) gewesen sein. Mit seinem 1936 publizierten Aufsatz Atonalität und Kunstbolschewismus in der Musik lieferte er Ziegler Anregungen, die dieser begierig aufgriff, abgedruckt im Anhang von Nobbes posthum publizierter Dissertation Die thematische Entwicklung der Sonatenform im Sinne der Hegel’schen

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ponate, die in Weimar nicht greifbar waren, ließ sich zur Nedden in der Berliner Preußischen Staatsbibliothek von Georg Schünemann aushändigen.65 Auf die Frage, warum die Ausstellung „Entartete Musik“ über­haupt mit den Düsseldorfer Reichsmusiktagen koordiniert wurde, erhielt ich von Drewes die Antwort, man habe dem alten Kämpfer die Bitte nicht abschlagen können.66 Mit dieser Ant­wort schließt sich ein Kreis, der auf einen Zirkel von Geben und Nehmen verweist und zu­gleich auch klarstellt, dass Drewes, der in Thüringen die die Kunst würgenden Experimente nationalsozialistischer Kulturpolitik von Anfang an miterlebt hatte, alles andere als arglos war, wenn er 1937 von Altenburg nach Berlin ging.

Der Auftrag „Mehr führen als verwalten“ Als Drewes im Februar 1937 seine Tätigkeit in der Musikabteilung aufnahm, waren seit der sog. Machtergreifung vier Jahre vergangen. Die aufreibenden Kompetenzstreitigkeiten zwi­schen Joseph Goebbels, Robert Ley und Alfred Rosenberg hatten nahezu ein Ende gefunden, so dass die musikpolitischen Machtverhältnisse im Großen und Ganzen geklärt schienen.67 Die Fälle Furtwängler (1934), Hindemith (1934) und Strauss (1935) lagen um Jahre zurück, und der schwierigste und langwierigste Fall der Fälle, der „Fall Hindemith“, war am 8. Oktober 1936 mit der Verhängung des Aufführungsverbots endgültig entschieden worden.68 Ein noch ungelöstes Problem stellte der Fortbestand des u. a. vom Rosenberg-Kreis heftig attackierten Allgemeinen Deutschen Musikvereins (ADMV ) dar, dessen Vorsitz am 23. September

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Philosophie betrachtet (= Musik und Nation 2), [Diss. Leipzig 1922] Würzburg 1941, S. 89–91. Mitteilung von prof. Dr. Otto C. A. zur Nedden (Gespräch mit dem Verfasser vom 28. Januar 1982). Mitteilung von Dr. Heinz Drewes (Gespräche mit dem Verfasser vom 2. Oktober 1979 und 18. Februar 1980). Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970. Sammlung Sänger ZSg. 102/62 im Bundesarchiv Berlin (BArch) [Mitschriften aus der Kulturpolitischen Pressekonferenz (1936–1940)]. Die Mitschrift vom 8. Oktober 1936 lautet: „Unter Hinweis auf besondere Vertraulichkeit wurde auch an dieser Stelle Mitteilung gemacht, dass Hindemith künftig aus den Konzertprogrammen ausscheide […]“.

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1935 Raabe, der amtierende Präsident der RMK, übernommen hatte. Zunächst beseitigte Goebbels den Zündstoff, der sowohl dem „Fall Hindemith“ als auch den andauernden Auseinandersetzungen um den ADMV Auftrieb gab: die freie Meinungsäußerung und öffentliche Kritik. Gemeint ist die „Anordnung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda über die Kunstkritik“ vom 27. November 1936,69 kurz auch Verbot der Kritik genannt. Zwei Wochen später verfügte Goebbels gegen den Willen Raabes die Auflösung des ADMV, dem nichts anderes übrig blieb, als im Juni 1937 in Erwartung höherer Gewalt die Selbstauflösung des Vereins vorzubereiten. Für Raabe, der dem Lauf der Dinge tatenlos zusah, bedeutete dies den schleichenden Beginn von Autoritätsverlust,70 der zusätzlich noch dadurch verstärkt wurde, dass Drewes als neuer Spitzenfunktionär in Erscheinung trat. Die Hauptaufgabe der Musikabteilung hatte Walther Funk, Goebbels Staatssekretär, in einem Schreiben vom 24. Dezember 1936 dahingehend präzisiert, dass vom kommenden Lei­ter – gemeint ist Heinz Drewes – „die richtunggebende Führung des gesamten deutschen Musiklebens“71 erwartet werde. Kurz nach dessen Arbeitsbeginn notierte Goebbels am 25. Februar 1937: „Mit Drewes Organisation der neuen Musikabteilung besprochen. Keine Büro­kratie. Guten Mitarbeiterstab suchen. Autorität gegen die Kammer durchsetzen. Mehr führen als verwalten. Den ganzen Verwaltungskram auf die Kammer abwälzen. Drewes macht einen guten Eindruck.“72 Es versteht sich von selbst, dass die „richtunggebende Führung“ der Absprache mit höheren Instanzen bedurfte, wohingegen das Votum Raabes kaum mehr gefragt war. Mit seiner Zurücksetzung war Raabe erneut konfrontiert, als er im Frühjahr 1938 enttäuscht feststellen musste, dass Goebbels’ Versprechen, der RMK künftig anstelle der Feste des ADMV die Veranstaltung von Reichs69 Anordnung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda über die Kunstkritik vom 27. November 1936, abgedruckt in: Das Recht der Reichskulturkammer. Sammlung der für den Kulturstand geltenden Gesetze und Verordnungen, der amtlichen Anordnungen und Bekanntmachungen der Reichskulturkammer und ihrer Einzelkammern (= Guttentagsche Sammlung Deutscher Reichsgesetze 225), Berlin 1943, RKK III, 21, S. 22f. 70 Okrassa, Peter Raabe, S. 280ff. 71 Walther Funk, Schreiben an den Reichsfinanzminister vom 24. Dezember 1936, zitiert nach: Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik, S. 126. Als Quelle wird genannt: BArch, R 2/4931. 72 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 3, S. 57 (25. Februar 1937).

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musikwochen zu überlassen, null und nichtig war. Drewes besaß freie Hand, eigene Wege zu gehen, und schuf die Düsseldorfer Reichsmusiktage. Auf die Devise „Mehr führen als verwalten“, die auf die Etablierung einer neuartigen, musikpolitisch einflussreichen Spitzenposition hinzuweisen scheint, wird zurückzukommen sein.73 Zunächst interessiert, wie die Personalstruktur in der Abteilung und in nachgeordneten Dienststellen beschaffen war.

Parteikonforme Mitarbeit Bevor an die Erweiterung der Musikabteilung überhaupt zu denken war, mussten bürokratische Hürden überwunden werden, die mit der Bewilligung zusätzlicher Stellen zusammen­hingen. Drewes nahm in einem ausführlichen Positionspapier vom Frühjahr 1937 (Vorschläge für 37/38) sieben Referate und die Neueinstellungen von vier Referenten, einem Lektor und drei Expedienten in Aussicht.74 Auf lange Sicht gesehen konnte er sich mit seinen Plänen durchsetzen, jedoch noch nicht im Jahre 1937. Im laufenden Jahr erhielt die Abteilung zwei neue Referenten, den ersten mit Erich Hannemann am 12. Oktober. Der Einstellungstermin war just der Tag, an dem Goebbels notierte: „Unsere Musikabteilung ist nicht in allen Stellen gut besetzt. Dr. Ludwig macht nur Quatsch.“75 Am 15. Dezember 1937 kam als nächster Referent der Musikwissenschaftler Hans Albrecht hinzu. Drewes kannte ihn aus seiner Studienzeit an der Berliner Humboldt-Universität. Hiermit kündigte sich das auch später beibehaltene Prinzip an, dass Drewes Freunde 73 Um einen Begriff von dieser ,Spitzenposition‘ zu erhalten, tut man gut daran, sich klar zu machen, dass Goebbels auf seiner Weisungsbefugnis gegenüber seinen ministeriellen Abteilungen bestand und es selbst den Geschäftsführern der Reichskulturkammer untersagt war, der Theater- oder Musikabteilung Anweisungen zu erteilen. Bezeichnend hierfür ist Goebbels’ Tagebuchnotiz vom 27. Oktober 1940: „[Hans] Hinkel hat wieder mal gegen [Rainer] Schlösser und [Heinz] Drewes taktlos operiert. Ich kann ihm vorläufig noch keine Anweisungsbefugnis über diese Herren geben.“ Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 4, München et al. 1987, S. 371f. 74 Siehe Präsident des Rechnungshofs des Deutschen Reichs, Schreiben an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 31. Mai 1937, gez. Gärtner. BArch R 55/2, pag. 70–74, hier: pag. 71, S. 3. 75 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 3, S. 299 (12. Oktober 1937).

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oder Bekannte in der Musikabteilung beschäftigte. Zu ihnen gehörten neben Albrecht u. a. die Musikwissenschaftler oder Kritiker Erich Roeder und Waldemar Rosen, der Komponist Hanns Ludwig Kormann sowie sein Universi­ tätslehrer Georg Schünemann, schließlich auch – infolge der Vermittlung von Richard Strauss – die Dirigenten Clemens Krauß und Hans Swarowsky.76 Nebenbei sei an dieser Stelle in Be­zug auf Strauss ergänzend bemerkt: Auf Wunsch von Goebbels nahm Drewes 1938 mit Strauss Kontakt auf, um die Narben seiner Demission vergessen zu machen und ihn zu den Düsseldorfer Reichsmusiktagen zu bitten.77 Bekanntlich folgte Strauss der Einladung. Die Versöhnung von Kunst und Politik dokumentierte ein Pressefoto, das Strauss und Goebbels bei ihrer Begrüßung zeigt, während der Vermittler Drewes etwas erhöht zwischen beiden steht.78 Strauss dankte Drewes für den Brückenbau und andere Gefälligkeiten mit der Überlassung von Manuskripten.79 Fortlaufende Kontakte zwischen Strauss und Drewes sind bis mindestens 1944 nachweisbar.80 Einzelheiten zur personellen Besetzung der Abteilung sollen hier nicht weiter verfolgt werden, doch lohnt sich der Blick auf den gesamten Prospekt. Zwischen 1938 und 1941/42 entsprach die Stellenbesetzung in etwa dem Plansoll, während die kommenden Kriegsjahre den Personalbestand ausdünnten (vgl. Anhang 2). Ein ähnlicher Trend ist bei den mit nur wenigen Fachleuten besetzten vier nachgeordneten Dienststellen festzustellen (vgl. Anhang 3). Als „nachgeordnet“ galten sie teils aus fiskalischen Gründen. Die 76 Ich folge hier den Mitteilungen von Dr. Heinz Drewes (Gespräche mit dem Verfasser vom 2. Oktober 1979 und 18. Februar 1980). 77 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 3, S. 419 (Eintrag vom 29. Januar 1938). 78 Das Pressefoto ist als Online-Ressource zugänglich, u. a. unter: ralph-braun.com (Abruf am 11. Mai 2014). In den Mitteilungen und Informationen 2011/1 (S. 21) der Deutschen Johann Strauss Gesellschaft e. V. berichtete Ralph Braun, dass er in einem Forchheimer Antiquariat ein umfangreiches persönliches Erinnerungsalbum aus dem Nachlass von Drewes erwarb, das dessen öffentliche Tätigkeit zwischen 1933 und 1941 dokumentiert. An dieser Stelle danke ich Herrn Braun, dass er mir großzügig Bildmaterial aus dem Konvolut zur Verfügung stellte. 79 Nachweislich gelangten Strauss’ Skizzenbücher zum 2. und 3. Akt der Oper Die Liebe der Danae in den Besitz von Drewes. Die Widmung lautet: „Dr. Heinz Drewes zur Erinnerung an [sic] 25. Jan 1940. Dr. Richard Strauss Garmisch“. Die Skizzenbücher wurden 2014 von der Bayerischen Staatsbibliothek München erworben. Für diesbezügliche Hinweise und Auskünfte danke ich sehr herzlich Frau Dr. Uta Schaumburg (Bayerische Staatsbibliothek, Musikabteilung). 80 Okrassa, Peter Raabe, S. 314 Anm. 210.

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„Reichsmusikprüfstelle“ (gegr. 1938) und die „Reichsstelle für Musikbearbeitungen“ (gegr. 1940) verfügten über einen eigenen Etat, waren allerdings in Räumlichkeiten der Musikabteilung untergebracht. Hingegen handelte es sich bei der „Auslandstelle für Musik“ und dem „Amt für Konzertwesen“ ursprünglich um Einrichtungen der RMK, die sich Drewes im Streben nach Macht und Einfluss untertan machte, wobei die Dienststellen in ihrem bisherigen Domizil verblieben.81 Zwischen 1937 und 1944 arbeiteten in der Musikabteilung mehr als 20  Fachleute mit einer durchschnittlichen Beschäftigungsdauer von etwa vier Jahren (vgl. Anhang 4).82 Die Qualifikation der Mitarbeiter, von denen 13 promoviert waren, deutet auf ein akademisches Milieu hin, bestehend aus drei Juristen und zehn Musik-, Kunst- oder Theaterwissenschaft­lern. Mit neun Personen überwog die Fraktion promovierter Musikwissenschaftler, denen vier Komponisten, ein Dirigent und ein Konzertagent zur Seite standen (die Personalia von vier Mitarbeitern sind bislang unbekannt). Mindestens zwei Drittel der Beschäftigten waren Mitglieder der NSDAP; sieben traten der Partei vor dem 30. Januar 1933 bei. Zu ihnen zählten – was wohl kein Zufall ist – neben Drewes und seinen Stellvertretern Ernst Ludwig bzw. Fritz von Borries zwei Mitarbeiter der Reichsmusikprüfstelle (Hanns Ludwig Kormann und Ludwig Karl Mayer). Priebergs Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945 bietet zahlreiche Hinweise auf Quellen, die belegen, wie sehr sich der Mitarbeiterstab in Wort und Schrift die nationalsozialistische Ideologie zu eigen machte und wie perfekt er die leeren, nicht selten hasserfüllten nationalsozialistischen Phraseologien beherrschte, wenn nicht gar noch steigerte. Im Unterschied zum Präsidenten der RMK Peter Raabe, der sich als engagierter, dem NS-Staat dienender kulturpolitischer Redner hervortat und gesammelte Reden im Druck erscheinen ließ,83 lässt sich bei Drewes eine gewisse Scheu vor Publizität bemerken. Öffentliche Auftritte oder Publikationen beschränkten sich auf wenige, meist repräsentative innen- oder außenpolitisch motivierte An81 Siehe die Hinweise auf die Anschriften der Behörden und Ämter im Deutschen Musiker-Kalender 65 (1943), Band 1, S. 11. 82 Die Musikabteilung, vormals Abteilung X, wurde 1939 umbenannt in Musikabteilung (M), vgl. Nachrichtenblatt des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda Nr. 8 vom 3. Mai 1939, S. 49. 83 Okrassa, Peter Raabe, S. 415–418.

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lässe.84 Zu nennen wären etwa Geleitworte zu den Düsseldorfer Reichsmusiktagen von 1938 und 1939, zur Magdeburger Gaumusikwoche von 1938 oder zum Frankfurter Internationalen Musikfest von 1939; hinzu kamen ein längerer Bericht zur Tätigkeit der Reichsstelle für Musikbearbeitungen und Beiträge für die Jahrbücher der deutschen Musik (1943–44); auf öffentliche Reden oder Ansprachen, die teils im Druck vorliegen, wird man aufmerksam im Kontext von Tagungen, Festen oder sonstigen besonderen Anlässen, etwa auf Schloss Burg (1940), in Wien (1941, 1942), Bad Elster (1942), Köln (1943) oder Krakau (1943).85 Die bebilderte Berichterstattung zur Tagung der Fachschaft Komponisten auf Schloss Burg an der Wupper (1940) zeigte ihn u. a. am fahnengeschmückten Rednerpult oder zusammen mit Werner Egk und Paul Graener, und zwar jeweils vorschriftsmäßig gekleidet in militärähnlicher Dienstuniform.86 Angesichts der Bilddokumente drängt sich der Eindruck auf, man begegne dem ,Security guard der deutschen Musik‘. Die im Druck erschienenen Texte Drewes’ fokussierten die typischen, im Bann totalitärer Politik stehenden Denkfiguren, die einer stolzen, sich überlegen fühlenden, auf Hege­monie und Expansion bedachten Kulturnation das Wort redeten, in der der Musik, der Kunstmusik, die vielberedte Rolle „der schlechthin deutschesten aller Künste“87 zufiel – was auch immer dies heißen mochte. Wenn er 1939 im Vorfeld der zweiten Düsseldorfer Reichsmusiktage überraschenderweise vom „Grundsatz der Freiheit des Schaffens“88 sprach, ließ sich die Augenwischerei mühelos durchschauen. Im Jahr zuvor hatte er den Sinn und Zweck der Ausstellung „Entartete Musik“ dahingehend erläutert, sie habe zumindest demonstriert, wie „deutsche Musik“ nicht beschaffen sein sollte.89 Hätte der NS-Staat den „Grundsatz der Freiheit des 84 Ein Kapitel für sich stellen Drewes’ Auftritte als Konzertdirigent dar, auf die hier nicht weiter Bezug genommen wird. 85 Zahlreiche ausführlichere Hinweise auf Aufsätze und Reden von Heinz Drewes bietet Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 1237–1249. 86 Mitteilungen der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, November 1940, S. 3 und 17. 87 Heinz Drewes, Die Musik im nationalsozialistischen Staat, in: Gaumusikwoche Magdeburg-Anhalt 1938, hg. von Ulf Dietrich, (Dessau) 1938, S. 2. 88 Heinz Drewes (ohne Titel), in: Reichsmusiktage 1939. Düsseldorf 14.–21.Mai, Düsseldorf 1939, o. S. 89 Drewes, Die Musik im nationalsozialistischen Staat, S. 2: „So hatten wir die Frage ‚Was ist neue deutsche Musik?‘ erst überhaupt einmal zu beantworten. Und hier ist mit Doktrinen, Theorien wenig getan. Das Kennzeichnende der musikbolsche-

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Schaffens“ – wie ihn der Artikel 142 der Weimarer Verfassung gebot – respek­tiert, wäre die Musikabteilung ihrer Arbeit so gut wie ledig gewesen.

Konfliktreiche Abgrenzung von Zuständigkeiten Es ist noch einmal auf das Positionspapier Vorschläge für 37/38 zurückzukommen, das dem Präsidenten des Rechnungshofs am 1. April 1937 zwecks Bewilligung neuer Stellen zuging. Nach der Aktenlage ist davon auszugehen, dass dem Rechnungshof der etwa zeitgleich konzipierte Entwurf eines Geschäftsverteilungsplans für die Musikabteilung X (vgl. Anhang 5) in Gänze oder Teilen bekannt war.90 Er wies deutliche Parallelen zur Organisationsstruktur der RMK auf, die der Rechnungshof keineswegs übersah. Der Rechnungshof beantwortete die ihm zugegangene Vorlage mit einer neunseitigen, umsichtig und ausführlich begründeten Stellungnahme, die darauf hinauslief, die Erweiterung der Referate abzulehnen und lediglich die Neueinstellung von zwei Expedienten zur Verstärkung des Büropersonals gutzuheißen. Er argumentierte, dass die beabsichtigte Neustrukturierung zu einer bedenklichen „Zentralisation“ und „starren Steuerung des Musiklebens“ führe, die weder wünschenswert, zweckmäßig noch rechtens sei.91 Im Weiteren scheute der Rechnungshof keine Mühe, akribisch – Punkt für Punkt – nachzuweisen, dass eine nicht unbeträchtliche Überschneidung mit Aufgabenbereichen der RMK zu erwarten sei. Dies habe zur Folge, dass „die verfassungsmässige Zuständigkeit des Selbstverwaltungskörpers praktisch ausgehöhlt“92 werde. Weitblickend ahnte der Rechnungshof Konflikte und wistischen Irrlehren mußte zum Bewußtsein gebracht werden. Dies geschah in anschaulicher Weise gelegentlich der Düsseldorfer Musiktage durch die Ausstellung ‚Die entartete Musik‘. Durch sie ist zumindest klar geworden, wie deutsche Musik nicht sein soll.“ 90 Siehe auch die entsprechenden Dokumente bei Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik, S. 126f. 91 Präsident des Rechnungshofs des Deutschen Reichs, Schreiben an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 31. Mai 1937, gez. Gärtner. BArch R 55/2, pag. 70–74, hier: pag. 71, S. 3. 92 Ebenda, pag. 73, S. 7. Allerdings signalisierte der Rechnungshof ein gewisses Entgegenkommen, falls eine Neuregelung von Zuständigkeiten beabsichtigt sei. „Für die Abgrenzung der Zuständigkeit des Ministeriums auf dem Gebiete der Kulturpflege ist nach der jetzigen Regelung die Teilung der Zuständigkeit in Form einer

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Kollisionen, die die Arbeitsbeziehung zwischen Drewes und Raabe trüben, belasten und läh­men sollten. Überdies nahm er Anstoß daran, dass Drewes das Amt des Vizepräsidenten der RMK innehatte.93 Dass er für das Amt nicht der geeignete Mann war, sah Goebbels ein Jahr später ein und verfügte seine Abberufung. Wie kaum anders zu erwarten, setzte sich das RMVP über die Einwände hinweg. Mit Unterstützung des Staatssekretärs verteidigte Drewes seine Forderungen und unterstrich, dass der Theaterabteilung acht Referenten (bei 138 Angestellten in der Reichstheaterkammer) zur Verfügung stünden, der Musikabteilung jedoch nur zwei (bei 250 Angestellten in der RMK).94 Unter den gegebenen Umständen sei „die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben einer kulturellen Ausrichtung des gesamten deutschen Musiklebens illusorisch“.95 In Anlehnung an die von Goebbels vorgegebene Devise „Mehr führen als verwalten“ beharrte er auf dem Führungsanspruch des RMVP: „Das Ministerium bestimmt die Kulturpolitik, die die Kammer auszuführen hat. Sie untersteht deshalb der Aufsichtstätigkeit des Ministeriums.“96 Nicht zu Unrecht fühlte sich Raabe infolge solchen Anspruchs zurückgesetzt, und es bedurfte etlicher Anstrengungen, um ihm die Neuordnung der Machtverhältnisse, die forcierte Trennung von „Führung“ und „Verwaltung“, klarzumachen. Zwischen August 1937 und November 1938 kam Goebbels in zwölf Tagebuchnotizen auf das angespannte Verhältnis der Trias Goebbels – Raabe – Drewes zu sprechen.97 Hier war die Rede von Krach, Krachma-

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weitgehenden Selbständigkeit des ständischen Aufbaus kennzeichnend. Dafür spricht der umfassende Arbeitsplan der Reichskulturkammer und der Einzelkammern. Ich gehe bei meiner Begutachtung davon aus, dass an dieser Zuständigkeitsverteilung grundsätzlich nichts geändert werden soll, zumal mir dahin gehende Vorschläge oder Massnahmen, abgesehen von einer neuen Fassung der Selbstverwaltungsaufgaben im neuen Geschäftsplan – hier der Reichsmusikkammer –, nicht bekannt geworden sind. Sollte es doch beabsichtigt sein, so würde das eine völlig neue Grundlage für die Beurteilung schaffen.“ Ebenda, pag. 70, S. 2. Ebenda, pag. 73f., S. 8f. Heinz Drewes, Schreiben an die Abteilung I B im Hause vom 3. Juli 1937. BArch R 55/2, pag. 77–78, hier: pag. 77. Ebenda, pag. 78. Ebenda, pag. 77. Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 3, S. 243 (21. August 1937), S. 270 (18. September 1937), S. 273 (21. September 1937), S. 294f. (9. Oktober 1937), S. 307 (19. Oktober 1937), S. 392 (6. Januar 1938), S. 408 (20. Januar 1938), S. 412

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chern, Stänkerfritzen oder Streit- oder Kampfhähnen, die zur Raison gerufen werden müssten. „Ich mache Prof. Raabe“, notierte Goebbels am 9. Oktober 1937, „den Füh­rungsanspruch des Ministeriums und des Staates als Ganzen klar. Er will allein regieren. Bezeichnet mich als wohlmeinenden Dilettanten. Drewes hat ihn nicht klug behandelt. Er droht mit Rücktritt. Aber ich besänftige ihn wieder. Doch von dem Primat des Staates über das öffentliche Leben lasse ich nichts nehmen. Er muß sich mit Drewes vertragen.“98 Im No­vember 1938 schien sich nach langem Hin und Her ein Burgfriede abzuzeichnen,99 der jedoch nicht von langer Dauer war.100 Inzwischen hatte Goebbels mittels einer Verfügung vom 15. April 1938 die Kompetenzverteilung zwischen RMVP und Reichskulturkammer mit allem erdenklichen Nachdruck geregelt. Sie lautete: „Die Abgrenzung der Aufgabengebiete zwischen Ministerium und Kulturkammer ist eindeutig festgelegt: dem Ministerium kommt die politische und kul­turpolitische Führung, den Kammern die berufsständische Betreuung ihrer Mitglieder zu.“101 Damit waren, wenn auch spät, die machtzentrierenden ministeriellen Ambitionen schwarz auf weiß festgeschrieben. Was von Raabe erwartet wurde, war letzten Endes nichts anderes als Subordination, die ihn u. a. vor die Tatsache stellte, dass Drewes ehemalige Mitarbeiter der RMK in seine Abteilung hinüberzog. Die Unterordnung war ihm derart zuwider, dass er hin und wieder zu Rücktrittsgedanken oder Rücktrittsdrohungen Zuflucht nahm und auch entsprechende Schritte einleitete, ohne dass dem Willen je die Tat folgte, vielleicht auch nicht folgen durfte, da sein Rücktritt nicht erwünscht war.102 Die Folge seines Unbehagens war, dass er sich von den großen, vom Propagandaministerium inszenierten Schaubühnen öffentlichen Musikgeschehens zusehends fernhielt. Im Sommer 1937 begleitete er noch die Feierlichkeiten zur Aufstellung der Bruckner-Büste in der Walhalla und enthüllte (23. Januar 1938), S. 419 (29. Januar 1938), S. 451 (10. Juni 1938), S. 457f. (17. Juni 1938) und S. 528 (3. November 1938). 98 Ebenda, S. 294f. (9. Oktober 1937). 99 Ebenda, S. 528 (3. November 1938). Die Stelle lautet: „Drewes und Raabe haben sich geeinigt. Das ist sehr erfreulich“. 100 Okrassa, Peter Raabe, S. 314–322. 101 Änderungen im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, in: Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer 5, Nr. 8 vom 15. April 1938, S. 29. Für die Verifizierung des Zitats danke ich sehr herzlich Herrn Prof. Dr. Gerhard Splitt. 102 Okrassa, Peter Raabe, S. 302–311 und S. 320f.

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die mit einer Hakenkreuzfahne umwickelte Skulptur,103 indes wurde er bei den Reichsmusiktagen von 1938 oder 1939 genauso wenig gesehen wie bei der mit größtem Aplomb aufgezogenen Wiener Mozart-Woche von 1941. Es war Drewes und seinen Mitarbeitern überlassen, bei solchen Anlässen im Schatten ihres Dienstherrn Präsenz zu zeigen, während Goebbels die Hauptreden hielt. Die zitierte Verfügung vom 15. April 1938 ist auch insoweit aufschlussreich, als sie die Aufgaben der Reichskulturkammer bzw. ihrer Einzelkammern auf die „berufsständische Betreuung ihrer Mitglieder“ festlegte. Mochte auch die RMK noch so viele Abteilungen, Fachschaften, Ausschüsse oder Gremien besitzen, die die Bezeichnung Reichsmusikkammer rechtfertigten, so kann doch nichts darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der staatlichen Zwangsorganisation de facto um eine Reichsmusikerkammer mit rund 100.000 Mitgliedern104 handelte, um deren Willen rund 250 Angestellte in der Kammer arbeiteten.105 Neben ihrer fachlichen, auf Berufsgruppen konzentrierten Tätigkeit106 war es ihre vordringliche, von Goebbels streng observierte Aufgabe, sich mit der Sondierung von Ahnenpässen zu befas­sen.107 Was die RMK eigentlich sei, brachte Hanns Ludwig Kormann 103 Ebenda, S. 375ff. 104 Die Anzahl von Mitgliedern in der Reichsmusikkammer wurde 1938 mit 96.000 angegeben, siehe Hans Schmidt-Leonhardt, Die Reichskulturkammer (= Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates 20), Berlin und Wien (1938), S. 24. Hiervon galten ca. 60.000 als Unterhaltungs­musiker, siehe Handbuch der Reichskulturkammer, hg. von Hans Hinkel, Berlin 1937, S. 99. 105 Ungerechnet die Mitarbeiter der Stagma (Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte), zählte die Reichsmusikkammer 1939 282 und 1943 240 Mitarbeiter, siehe Werner, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, XXVI. 106 Alfred Morgenroth, Aus der berufsständischen Selbstverwaltung. Arbeitsbericht der Reichsmusikkammer, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1943, im Auftrage der Abteilung Musik des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda hg. von Hellmuth von Hase, Leipzig und Berlin (1943), S. 27–41. Wie in offiziellen Darstellungen üblich, liest man auch bei Morgenroth, die Schaffung der Reichsmusikkammer sei der Wunsch deutscher Musiker gewesen (ebenda S. 27). Als die Judenverfolgung längst auf Hochtouren lief, schrieb Peter Raabe noch immer: „Die Gründung der Reichsmusikkammer hat einen jahrzehntelang gehegten Wunsch der deutschen Musikerschaft erfüllt.“ Was die Reichsmusikkammer nicht ist, in: Die Musik 33 (1940/41), Heft 6 März, S. 189. 107 Okrassa, Peter Raabe, S. 382.

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(Mitarbeiter der Reichs­musikprüfstelle) gegenüber Drewes in einem internen Schreiben von 1939 auf eine sehr verkürzte, doch zutreffende Formel. Es heißt da, die RMK sei geschaffen worden, um die „Scheinkultur fremdrassigen Einschlags“ im deutschen Musikleben zu beseitigen.108 Ange­sprochen war hiermit eine Aufgabe der Verwaltung, die in den Händen der RMK ruhte, sei es im Zusammenwirken mit dem Sonderreferat Hinkel oder mit den zuständigen ministeriellen Abteilungen II A bzw. BeKa (Besondere Kulturaufgaben).109 Mit anderen Worten: Die auf Machtkonzentration bedachte Musikabteilung nahm nach eigenem Ermessen nahezu alles in ihre Hand und überließ die schändlichen Maßnahmen von ,Arisierung‘ der Verwaltung.

Machtzentrierung und bürokratischer Dirigismus Bei dem Bemühen, die Tätigkeit der Musikabteilung und ihrer nachgeordneten Dienststellen darzustellen, kommt man kaum umhin, von Leitworten Gebrauch zu machen, die in der Verwaltung des öffentlichen Lebens den Ton angaben. Sämtliche Segmente des Musiklebens sieht man eingezwängt in rigiden Dirigismus, der eine Flut von Erlassen, Anordnungen und Verfügungen emporspülte, um das auszuüben, was in der Sprache der Zeit Aufsicht, Betreu­ung, Führung, Fürsorge, Kontrolle, Lenkung, Steuerung oder Überwachung hieß. Meidet man die Sprache der Zeit, liegt es näher, von Despotie, Willkür und Unterdrückung zu reden, wodurch die Sachverhalte klarer werden. Um die Organisationsstruktur der Musikabteilung zumindest ansatzweise näher zu charakterisieren, wird im Folgenden auf die Schnittstelle der Jahre 1941/42 Bezug genom­men. Im Anhang 6, dessen Kenntnisnahme sich begleitend empfiehlt, wird eine Übersicht zur Gliederung von acht Referaten und vier nachgeordneten Dienststellen mitgeteilt. Die an­schließenden Ausführungen verstehen sich als Kommentar hierzu. Die Musikabteilung war – aufs Ganze gesehen – vor allem zuständig für die Kultur­fassade des NS-Staats im Spiegel von subventionierter musikali108 Zitiert nach ebenda, S. 318. 109 Friedrich Geiger, „Einer unter Hunderttausend“. Hans Hinkel und die NS-Kulturbürokratie, in: Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister (Hg.), Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil II 1933–1966 (= Musik in Dresden 5), Laaber 2002, S. 47–61.

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scher Hochkultur, ohne indes auf das Musikleben in seiner gesamten Breite Einfluss nehmen zu können (schon gar nicht auf den Rundfunk). Im Wesentlichen konzentrierte sich die ministerielle Tätigkeit auf die Kontrolle und Lenkung des Opern- und Konzertwesens in ökonomischer, personeller wie in spielplanmäßiger Hinsicht; hierbei spielte die antisemitische Ausrichtung sämtlicher Maß­nahmen zusammen mit dem Gehorsam gegenüber aktuellen politischen Anforderungen die ausschlaggebende Rolle. Der Kulturaustausch, auch „Auslandspropaganda“ genannt, bildete eine eigenständige, überaus kostspielige Säule im System behördlicher Musikpolitik. Die dementsprechenden Aufgaben verteilten sich auf drei Arbeitsstellen (Referate 3–5). Sie kon­trollierten u. a. die Reisen und Studienaufenthalte deutscher und ausländischer Solisten oder Ensembles.110 Um das Arbeitsfeld in vollem Umfang direkt an sich zu binden, nahm die Mu­sikabteilung die bislang der RMK zugeordnete „Auslandsstelle für Musik“ unter ihre Obhut und erklärte sie zu einer nachgeordneten Dienststelle. Selbst wenn die Ziele auswärtiger Politik manchem Wandel unterworfen waren, indem sie sich den Veränderungen der europäischen Landkarte beugten, so blieb doch der Grundgedanke, die „Weltgeltung der deutschen Musik“111 nach außen hin beweisen zu wol­len, stets der gleiche. In Zahlen ausgedrückt, bestand die „Auslandspropaganda“ beispiels­ weise im ersten Kriegswinter 1939/40 darin, dass rund 300 Konzerte von deutschen Solisten, Ensembles oder Orchestern im Ausland gegeben wurden.112 Zum Kulturaus110 Im Zuge der kriegsbedingten Vereinfachung von Verwaltungsarbeit wurde im November 1942 die Zentrale für Kulturaustausch e.V. tätig, siehe Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 2352. 111 Waldemar Rosen, Deutschland im europäischen Musikaustausch, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1943, S. 68. 112 [Heinz] Drewes, Schreiben an den Minister [ Joseph Goebbels] vom 20. März 1940, in: BArch R 55/127, pag. 76–79. Wenn man die Tätigkeit der Musikabteilung im Spiegel des hier zitierten vierseitigen Rechenschaftsberichts betrachtet, den Drewes gegen Ende des ersten Kriegswinters 1939/40 seinem Vorgesetzten vorlegte, dann ergibt sich folgendes Bild: Erwähnung fanden hier zunächst sämtliche Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Konzertlebens und Chorwesens sowie Überlegungen zur Truppenbetreuung in Zusammenarbeit mit der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, ferner die Fortsetzung der Begabtenförderung (Stipendien, Musikpreise, Konzerte junger Künstler, Stunden der Musik) und schließlich die Bilanzen der Stagma. Einen Sonderpunkt bildete die Regelung des nebenberuflichen Musizierens. Den breitesten Raum nahm in dem Bericht die sog. „musikalische Auslandspropaganda“ ein, zu der eine die Länder Bulga-

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tausch im weiteren Sinne gehörte schließlich auch die Beteiligung an internationalen Musikfesten (Referat 3), auf die hier nicht weiter Bezug genommen wird. Von den Zielen auswärtiger Musikpolitik ist in Goebbels Tagebüchern nur selten die Rede, ihre Leitlinien beriet er eher mit Hitler denn mit seinen Mitarbeitern;113 bisweilen über­mittelte er Drewes entsprechende Wünsche114 oder besprach sie direkt mit Künstlern, nicht zuletzt mit Wilhelm Furtwängler.115 Im Gegenzug hielt sich der Respekt vor ausländischer Musik in sehr bescheidenen Grenzen, leicht erkennbar an den unterschiedlich motivierten Verboten sog. feindstaatlicher Musik. Einen Sonderfall stellte – neben der gebilligten Beteili­gung an internationalen Musikfesten – die von Drewes 1942 initiierte „Deutsche Sibelius-Gesellschaft“ dar, die eigens dazu berufen war, den Anschein internationaler Musikverbin­dungen in Kriegszeiten aufrechtzuerhalten.116 Die für innerstaatliche Belange zuständigen Dienstbereiche (Referate 1–2 und 5–8) waren seit Drewes’ Amtsantritt gekennzeichnet vom beständigen Zuwachs an Machtkonzen­tration, den der Rechnungshof des Deutschen Reiches vorhergesehen hatte, wenn er vor einer „starren Steuerung des Musiklebens“ warnte. Das an erster Stelle stehende, von Fritz von Borries geleitete Referat sah ein weites personalpolitisches Aufgabengebiet vor sich, das u.  a. der Förderung von Solisten und Komponisten, Ausschreibung von Wettbewerben, Verleihung von Preisen oder sonstigen Auszeichnungen und rien, Griechenland, Italien, Rumänien und Ungarn betreffende Konzertstatistik vorgelegt wurde, um festzustellen, dass in den beiden zurückliegenden Spielzeiten (1938/39 und 1939/40) die Anzahl der Konzerte von 236 auf 294 stieg, während die Gastspiele auswärtiger Solisten und Ensembles kriegsbedingt um 25 Prozent zurückgingen. Abschließend wurden der beschleunigte Aufbau deutschen Musiklebens in den eingegliederten Ostgebieten in Aussicht gestellt und Gastspiele in den entsprechenden Regionen angeregt. 113 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 4, S. 109 (12. April 1940). 114 Ebenda, Band 3, S. 680 (30. Dezember 1939). 115 Ebenda, Band 4, S. 7f., 55f., 94, 114f. und 352. Nach Aussage von Fritz von Borries litt Drewes aus etlichen Gründen, die hier nicht weiter zu diskutieren sind, unter Furtwänglers Autorität (Gespräch mit dem Verfasser vom 25. September 1981). 116 Ruth-Maria Gleißner, Der „unpolitische“ Komponist als Politikum. Die Rezeption von Jean Sibelius im NS-Staat (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXXVI Musikwissenschaft 218), Frankfurt am Main et al. 2002, S. 132–134 sowie 181–192.

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Ehrungen diente. In Kooperation mit dem nachgeordneten „Amt für Konzertwesen“ liefen hier sämtliche Fäden zusammen, um die Orchesterlandschaft (mit bis zu etwa 135 Orchestern) zu kontrollieren und auf die Besetzung vakanter Dirigentenstellen Einfluss zu nehmen.117 Das juristische Referat 8 führte die Aufsicht über das „Amt für Konzertwesen“,118 das mit Fragen des Urheber-, Verwertungs- und Tarifrechts sowie Rechtsfragen des Musikalienhandels (Leihgebühren) überhäuft war.119 Überdies fiel diesem Referat die Aufgabe zu, mit Konzertdirektionen Kontakt zu halten und Linientreue einzufordern.120 Das für musikalische Opernfragen zuständige Referat 6 kooperierte mit dem Reichs­dramaturgen Schlösser, weshalb ihr Referent nicht im engeren Sinne zu den Mitarbeitern der Abteilung zählte.121 Hier stand Fritz Chlodwig Lange vor ähnlichen Aufgaben der kultur­politischen Begutachtung von Autoren, Textbüchern und Vertonungen wie Ludwig Karl Mayer in der Reichsmusikprüfstelle. Boris von Haken hat deren Tätigkeit, die hinreichend do­kumentiert ist, ausführlich dargestellt.122 Mit welchen Aufgaben das Referat 7 (Unterhaltungsmusik), das nur drei Jahre lang zwischen 1940 und 1942 unter der Leitung von Siegfried Scheffler bestand, befasst war, ist bislang nicht einmal in Ansätzen bekannt geworden. Es lässt sich nur vermuten, dass es in Analogie zum Opernreferat Kontrollfunktionen ausübte. Womöglich kam dessen Einrichtung auf ausdrücklichen Wunsch von Goebbels zustande, der Angelegenheiten der Unter­haltungsmusik in der Abteilung unterrepräsentiert sah, dies umso mehr, je kriegswichtiger sie ihm aus propagandistischen Gründen schien. Bezeichnend sind hierfür Tagebuchnotizen, die nach dem 22. November 1940 greifbar werden: „Drewes ist mir zu viel Theorie. Ich brauche an seiner Stelle einen lebenserfahrenen Mann. Der vor allem auch Musik für die breiten Massen kennt und 117 Hans Joachim Moser, Von der Steuerung des deutschen Musiklebens, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1943, S. 23. Mosers Beitrag beginnt mit einem hochmütigen Lob der „Höchstbegabung unseres Volkes für Musik“. 118 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 653. 119 Otto Benecke, Das Amt für Konzertwesen. Die Organisation des deutschen Konzertwesens im Kriege, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1944, S. 42–48. 120 Überliefert ist ein Protokoll der Sitzung mit den Konzertdirektionen vom 4. April 1940 (3. Arbeitstagung). BArch R 55/949, pag. 185–189. 121 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 653. 122 von Haken, Der „Reichsdramaturg“, S. 14, 50f., 62, 85, 88, 148, 154, 158f., 161–163, 174f, 192f. und 212.

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versteht. Drewes will ich dann wieder zum Theater zurückgeben.“123 Tags darauf thematisierte Goebbels die personelle Situation: „Drewes zeigt sich störrisch. Er hat zu wenig Verständnis für den unterhaltenden Teil der Musik. Dafür will ich einen stellver­tretenden Abteilungsleiter einsetzen, was er nicht will. Ich lasse nochmal in Güte mit ihm verhandeln.“124 Zwei Wochen später insistierte Goebbels abermals auf dem prekären Punkt: „Lange mit Drewes verhandelt. Er muß der Unterhaltungsmusik einen größeren Raum in der Fürsorge einräumen. Die ernste Musik ist gut und wichtig, aber das Volk will gerade in der Jetztzeit Entspannung und Unterhaltung. Drewes ist zu trocken und zu nüchtern. Er muß sich Leute heranholen, die engere Beziehungen zum Leben haben. Er verspricht mir das Allerbeste.“125 Die Aufstellung des Mitarbeiterstabs liefert keinen zwingenden Hinweis darauf, dass Drewes personelle Konsequenzen zog. Dagegen lässt sich im Konzertleben beobachten, dass sich Goebbels womöglich im Alleingang mit populistischen Ideen durchsetzte, etwa wenn er im November 1941 Konzerte unter der als kriegstauglich wie massenwirksam befundenen Devise „Beschwingte Musik“126 anordnete oder Veranstaltungsreihen wie „Frohe Stunden am Nachmittag“127 in Aussicht nahm. Auf gleicher Linie lag die 1942 erfolgte Gründung des „Deutschen Tanz- und Unterhaltungsorchesters“, mit der der weltferne Anspruch auf die „Weltgeltung der deutschen Tanz- und Unterhaltungsmusik“128 einherging. Nur zu gern ignorierten die ,Hüter‘ der Kultur, dass der aus den USA kommende Jazz oder Swing ein überragendes internationales Phänomen darstellte, das im Verlauf der Globalisierung von Kulturprozessen nahezu weltweit Verbreitung und Nachahmung fand. Hiervon war das Deutsche Reich nicht ausgenommen, das sich zwar den Anschein gab, die Idiome anglo-amerikanischer Funktionsmusik (Schlager, Tanz- und Filmmusik) bannen zu wollen, sich jedoch dem unaufhaltsamen 123 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 4, S. 406 (22. November 1940). 124 Ebenda, S. 408 (23. November 1940). 125 Ebenda, S. 419 (5. Dezember 1940). 126 Beschwingte Musik, in: Neues Musikblatt 20 (1941), Nr. 70, S. 5. Die Bekanntgabe lautet: „Im kommenden Winter werden auf Veranlassung von Reichsminister Dr. Goebbels von den deutschen Orchestern Konzerte unter dem Namen ‚Beschwingte Musik‘ veranstaltet, in denen wertvolle Musik heiteren Charakters zu Gehör kommt.“ Siehe auch Heinz Drewes, Das deutsche Musikleben an der Schwelle des fünften Kriegsjahres, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1944, S. 40. 127 Okrassa, Peter Raabe, S. 336. 128 Ebenda, S. 337.

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Globalisierungsprozess nicht entziehen konnte. – Auf anderem Blatt steht das hier nicht weiter interessierende Mas­senmedium des Rundfunks, das Goebbels, je länger der Krieg währte – koste es, was es wolle – in eine Domäne von Unterhaltungsmusik verwandelte.129 Beim Referat 5, dem Presseangelegenheiten und Musikpropaganda im In- und Ausland zugeordnet waren, handelte es sich vermutlich um eine Einrichtung, die sich auf die Presselenkung und speziell auf Sprachregelungen konzentrierte. Womöglich fanden von die­ser Stelle aus Presseanweisungen ihren Weg zur Kulturpolitischen Pressekonferenz und zu diversen streng geheim gehaltenen Pressediensten. In musikpublizistischer Hinsicht hielt sich die Musikabteilung jahrelang zurück und wurde erst ab 1943 auf diesem Gebiet zusehends aktiv. Die von ihr edierten Jahrbücher der deutschen Musik (1943–44), die das Musikgeschehen der Gegenwart in das erwünschte, den eigenen Tatendrang rühmende Licht rückten, setzten hierfür ein erstes Zeichen.

Nachgeordnete Reichsstellen mit „Führerauftrag“ Die nachgeordneten 1938 bzw. 1940 gegründeten Reichsstellen, die Reichsmusikprüfstelle und die Reichsstelle für Musikbearbeitungen, waren bis zum Kriegsjahr 1942 personell gut ausgestattet, wenn nicht gar besser als die Musikabteilung selbst. Ihrem Selbstverständnis nach zu urteilen, erstreckte sich die Arbeit beider Reichsstellen je auf ihre Weise auf restrik­tive und fördernde Maßnahmen. Die Reichmusikprüfstelle hat unter den Aspekten von Vorzensur, Zensur oder des Verbots von Werken, Aufführungen oder Tonträgern von jeher – seit Joseph Wulfs Doku­mentation Musik im Dritten Reich (1963)130 – Beachtung gefunden; in der Folgezeit inte­ressierten insbesondere die von der Prüfstelle herausgegebenen vier Listen unerwünschter und schädlicher Werke (erschienen zwischen dem 1. September 1939 und 15. November 1942) und die ihnen zugrundeliegenden Kriterien. Weniger Beachtung fand demgegenüber der zweite Arbeitsbereich der Prüfstelle, der mit dem Hinweis auf die Überwachung von Konzertprogrammen gemeinnütziger Veranstalter nur 129 Ebenda, S. 337 sowie Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 2377f. 130 Wulf, Musik im Dritten Reich, S. 140f.

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ansatzweise gekennzeichnet ist.131 Wie Drewes 1940 näher ausführte, bestand die zusätzliche Aufgabe der Prüfstelle darin, die gemeinnützigen Konzertveranstalter dazu anzuhalten, zeitgenössischen Werken einen Pro­ grammanteil von mindestens 25 Prozent einzuräumen.132 Mit anderen Worten: Die hier ge­leistete Kontrolle verstand sich zugleich als eine Förderungsmaßnahme für zeitgenössische Komponisten.133 Daneben waren Überlegungen im Gange, die Prozentklausel auf Kammer- und Solistenkonzerte auszudehnen, was unter den Bedingungen kapitalistischer Musikwirt­schaft bedeutet hätte, die privaten Veranstalter bzw. Konzertagenturen unter Kuratel zu stel­len; schließlich wurden Empfehlungen am Konferenztisch der Zwangsverordnung vorge­zogen.134 In Analogie traf die Theaterabteilung unter Schlösser 1942 eine ähnliche Anord­nung, indem sie die Theaterleiter anwies, dass sich unter je zehn Neuinszenierungen min­destens zwei Erstaufführungen zeitgenössischer deutscher Opern befinden sollten.135 Der Auftrag der Reichsstelle für Musikbearbeitungen, der als „Führerauftrag“136 von sich reden machte, bestand darin, „den Werkvorrat der deutschen Opern- und Operetten­bühnen durch Wiedererweckung vergessener oder der Änderung bedürftiger deutscher Tonwerke zu bereichern und das Gegenwartsschaffen durch Erteilung von Staatsaufträgen an befähigte Komponisten zu fördern.“137 Selbst wenn Drewes und Hans Joachim Moser die sog. „Erneuerungsarbeit“ der Dienststelle mit ungewöhnlicher, ins Detail gehender Ausführlichkeit erläuterten,138 ergibt sich daraus kaum ein hinreichender 131 Okrassa, Peter Raabe, S. 316. 132 Ernst Laaff, Komponisten-Tagung auf Schloß Burg, in: Neues Musikblatt 19 (1940), Nr. 59, S. 3. 133 Fritz von Borries, Die Reichsmusikprüfstelle und ihr Wirken für die Musikkultur, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1944, S. 54f. Nach Berechnungen der Reichsmusikprüfstelle war ab der Saison 1940/41 das Plansoll erreicht (ebenda, S. 55); vgl. auch Martin Thrun, Eigensinn und soziales Verhängnis. Erfahrung und Kultur „anderer Musik“ im 20. Jahrhundert, Leipzig 2009, S. 506-509. 134 von Borries, Die Reichsmusikprüfstelle und ihr Wirken für die Musikkultur, S. 55. 135 Thrun, Eigensinn und soziales Verhängnis, S. 508. 136 Bogusław Drewniak, Das Theater im NS-Staat. Szenarium deutscher Zeitgeschichte 1933–1945, Düsseldorf 1983, S. 17. 137 Allgemeine Musikzeitung 68 (1941), S. 319, zitiert nach: Okrassa, Peter Raabe, S. 370. 138 Heinz Drewes, Die Reichsstelle für Musikbearbeitungen, in: Allgemeine Musikzeitung 70 (1943), S. 25–27; Hans Joachim Moser, Von der Tätigkeit der Reichsstelle für Musikbearbeitungen, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1943, S. 78–82.

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Überblick über die Vielzahl von Auftragnehmern und Projekten, wobei erschwerend hinzukommt, dass etliche Vorhaben zwar aktenkundig wurden, jedoch nicht immer zum Abschluss gelangten. Für die Bedeutung des „Führerauftrags“ spricht allein die Tatsache, dass der Reichs­stelle beträchtliche finanzielle Mittel zuflossen, allein im Rechnungsjahr 1943 rund 225.000 RM.139 Von dem Betrag wurden 1943 mindestens 28 Staatsaufträge für Librettos, Opern oder Operetten finanziert sowie sieben Neubearbeitungen von älteren Opern oder Operetten in Auftrag gegeben; hinzu kamen Zuschüsse für Oratorien- und Liedbearbeitungen.140 Bei den Bearbeitungen ging es zum einen, wie Moser sich ausdrückte, um die Neugestaltung von Texten nichtarischer Verfasser („textliche Entjudung“), zum andern um zeitbedingte Text- und Milieuänderungen von Librettos, mit anderen Worten um Säuberungsaktionen, wodurch sich aus der Sicht des für Textfragen zuständigen Reichsdramaturgen eine nicht unbe­denkliche Nähe zu den Aufgaben der Theaterabteilung ergab.141 Immerhin lässt sich anhand mancher Staatsaufträge nachvollziehen, wie die instrumentalisierte Komponistenförderung vonstattenging: Die Sujets von Librettos konnten im Vorhinein abgesprochen, die Textvorla­gen oder Kompositionen im Prozess ihrer Entstehung verfolgt, begutachtet, wenn nicht gar nachreguliert werden.142 Während sich die seit 1943 von der Musikabteilung herausgegebenen Jahrbücher der deutschen Musik (1943–44) der Gegenwart zuwandten, waren zeitgleich andere Kräfte aktiv, die sich im eigenen Hause mit der Vergangenheit, mit der Geschichte von Musik be­schäftigten. Pamela M. Potter hat als erste aufgedeckt, dass im Nachlass von Hans Joachim Moser das Manuskript eines Sammelbandes unter dem Arbeitstitel Die deutsche Musik und ihre Nachbarn überliefert ist. Im Auftrag von Drewes gedieh das Publikationsvorhaben seit 1943 unter der Ägide der Reichsstelle für Musikbearbeitungen, die sich u. a. der Mitarbeit von Hans Engel, Bernhard Engelke, Karl Gustav Fellerer und Reinhold Zimmermann versicherte. Das Projekt, womöglich 139 [Hans Joachim] Moser an Abteilung H im Hause, Schreiben vom 23. Juni 1943. BArch R 55/240, pag. 45 (S. 1–2). 140 Ebenda. 141 In einem Schreiben an den Reichshauptamtsleiter Tießler vom 4. Januar 1943 insistierte Schlösser auf seiner alleinigen Zuständigkeit für Bühnentexte, siehe Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 2357. 142 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 668 und 1292.

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das ,unvollendete Hauptwerk‘ der Musikabteilung, sollte vor allem die musikalische Überlegenheit und den weitreichenden ,deutschen‘ musikalischen Einfluss in annektierten oder besetzten Ländern suggerieren. „Diese Aufsatzsammlung“, so urteilte Potter, „führte das Genre der musikalischen Rechtfertigungen der Außenpolitik und der militärischen Expansion neuen Höhepunkten zu“.143 In der Tat stellte das mehr als frag­würdige ,musikwissenschaftliche‘ Projekt, in dem Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmolzen, den kaum mehr zu überbietenden Gipfelpunkt ministerieller musikpolitischer Ambitionen dar.

Verwaltung statt Führung Wenn man sich an die von Goebbels ausgegebene, an die Adresse des Leiters der Musikab­teilung gerichtete Devise „Mehr führen als verwalten“ erinnert, stellt sich eindringlicher als zuvor die Frage, welches Ziel die „richtunggebende Führung des gesamten deutschen Musiklebens“ hätte verfolgen können. Im Kontext dieser Fragestellung ist es nicht neben­sächlich zu beachten, dass Goebbels nach mehr als dreijähriger Mitarbeit von Drewes der Ansicht war, er habe seinen Auftrag noch immer nicht begriffen. „Er [Drewes]“, notierte Goebbels am 17. September 1940, „versteht noch nicht den Unterschied zwischen Führen und Verwalten. Wer führen will, muß sich von den Lappalien der Verwaltung fernhalten, sonst leidet die Klarheit der Führung darunter“144. Die Harthörigkeit des Mitarbeiters kann kein Zufall sein. Denn die von Goebbels repräsentierte Macht hat sich in Bezug auf die Inhalte kultur- oder musikpolitischer Führung, abgesehen von der Omnipräsenz des Antisemitismus, nirgends klar artikuliert; eher hat er alles dafür getan, dass die Macht unteilbar blieb und Führungsaufgaben i. e. S. überhaupt nicht delegierbar waren. Die musikpolitische Führung, um deren Willen Drewes angeblich sein Amt erhielt, hätte einer ihn leitenden Idee mit daraus ableitbaren Prinzipien bedurft. Anstelle greifbarer Ideen, den Speerwürfen in die Zukunft, erschöpfte sich die Propaganda in Worthülsen. Hierzu gehörte das leere Gerede von deutscher, undeutscher, artfremder, entarteter oder uner-

143 Potter, Die „deutscheste“ der Künste, S. 286f. 144 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 4, S. 327 (17. September 1940).

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wünschter Musik genauso wie die nicht enden wollenden Beschwörungen des sog. nationalsozialistischen Kulturwillens, der das Maß aller Dinge sei. Genau besehen sagten sich solche Begrifflichkeiten von ihrem Inhalt vollkommen los und öffnen sich der Beliebigkeit von Zuschreibungen, weshalb die Begrenzung von Kunst in letzter Instanz nur dadurch zustande gebracht werden konnte, dass von autoritativer Seite her – meist von Hitler oder Goebbels – ein Machtwort ergriffen wurde, das der Willkür nicht entbehrte. Um Beispiele zu geben, sei erwähnt, dass Drewes 1937 einige zeitgenössische Kompositionen als „entartet“ inkriminierte, während Goebbels, der sich Proben fraglicher Stücke anhörte, gegenteiliger Ansicht war: „Aber das ist Unfug. Das ist zwar keine geniale, aber auch keine entartete Musik. [Wolfgang] Fortner etc.“145 Ähnlich lag der Fall, als er die dritte Liste unerwünschter Musik nach eigenem Dafürhalten mit der Bemerkung nachbesserte: „Ich überarbeite die Liste der verbotenen Musik. Da ist von den Banausen etwas zuviel verboten worden. Ich hebe das auf.“146 In Bezug auf die Beurteilung von Jazz war die Lage mehr als verworren. Hanns Ludwig Kormann, der in der Reichsmusikprüfstelle für das Ressort Unterhaltungsmusik zuständig war, soll sich mit Goebbels in Fragen des Jazz derart überworfen haben, dass sein Weggang unausweichlich war.147 Carl Cerff, der in puncto Un­terhaltungsmusik ähnlich wie Kormann den Standpunkt des kulturbeflissenen Hardliners vertrat, bekam von Goebbels 1943 zu hören, er vertrete einen „übernationalsozialistischen Standpunkt“.148 145 Ebenda, Band 3, S. 310 (22. Oktober 1937). 146 Ebenda, Band 4, S. 149 (9. Mai 1940). 147 Rosemarie Reiffenstein gab in ihrer Aussage als Zeugin am 21. Mai 1942 zu Protokoll: „Zum Beispiel sagte er [Kormann], der Minister stände auf dem falschen Standpunkt, daß in heutiger Zeit doch jedes Mittel recht sei, um das Volk aufzupulvern, daß man aus diesem Grunde selbst die Kultur etwas in den Hintergrund drängen müsse und, wenn es das Volk verlangt, die tollste Jazz-Musik bringen müsse, – während er, Kormann, der Meinung sei, daß erstens das Volk diese Musik überhaupt nicht hören wolle und daß man zweitens das Volk zur hochstehenden Musik erziehen und zwingen müsse. Der Minister hätte ihn daraufhin angeschrien, er sei alt und verkalkt […].“ Zwei Tage darauf, am 23. Mai 1942, schied Kormann aus seinem Amt. Die Darstellung des Falles folgt Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 3896f. 148 Goebbels Tagebücher. Aus den Jahren 1942–43, mit andern Dokumenten hg. v. Louis P. Lochner, Zürich 1948, S. 357 (22. Mai 1943). Die Tagebucheintragung lautet weiter: „Wenn es nach ihm [Cerff ] ginge, dann würde die Musik im Rundfunk ausschließlich mit Luren gemacht. So kann man auch keinen Rundfunk für die

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Die Beispiele ähneln einander insofern, als sich Goebbels einen sehr flexiblen, im Vorhinein kaum kalkulierbaren Ermessensspielraum zugestand, wohingegen seine leitenden, mit sog. Führungsaufgaben betrauten Mitarbeiter sich der Geschmeidigkeit ihrer Urteile nie­mals sicher sein konnten (wohl auch nicht sollten) und allen Grund zur Furcht hatten, entwe­der des „Guten“ zu viel oder zu wenig zu tun. Vermutlich war aus Goebbels Sicht der sach­ liche Kern strittiger musikalischer Fragen zweitrangig, ging es ihm doch letzten Endes bei seiner Stellungnahme zur Unterhaltungs-, Tanz- oder Filmmusik um Massenwirksamkeit oder bei der Bewertung zeitgenössischer ernster Musik um die Vermeidung oder Beseitigung parteiinterner Konflikte.149 Anschließend ist darauf zurückzukommen, dass Goebbels dem Auftrag „Mehr führen als verwalten“ die Devise „Keine Bürokratie“ zur Seite stellte (s. o.). Da Drewes offenbar keinerlei Führungsaufgaben vor sich sah, kann es nicht verwundern, dass er in Bürokratie und Verwaltung Zuflucht fand, wodurch just das eintrat, was nicht hätte eintreten sollen. Symptomatisch dürfte hierfür sein, dass er im Frühjahr 1938 einen gewaltigen, mehrere hun­dert Titel zählenden Aktenplan ausheckte, der als Spiegel des gesamten deutschen Musikle­bens ersonnen war.150 Solch ausufernder Ordnungssinn, dessen Kleinkariertheit weder Strauss noch Raabe je in den Sinn kam, musste schlimmstenfalls dazu führen, dass sich Wichtigtuerei, Hybris und Widerbreiten Massen gestalten.“ Zudem lassen sich Ansätze zu einer kollektiven ,Überwachung‘ von Bühnen-, Konzert- oder Rundfunkprogrammen bemerken, bei der ,jeder‘ meinte, mitreden zu müssen. Beispielsweise wandte sich 1940 ein Berliner Opernbesucher an das RMVP mit der Beschwerde über die dortige Erstaufführung von Hans Eberts Oper Hille Bobbe und erging sich hierbei in abfälligen Urteilen wie Negermusik oder undeutsche Musik (Prieberg, Handbuch deutsche Musik, S. 1291). Aus der Rundfunkpraxis ist eine Vielzahl von Hörerzuschriften mit ähnlichen Beschwerden bekannt. 149 Hier ist insbesondere an die prekären Folgen des „Falles Hindemith“ zu erinnern, der mit dem widersinnigen Aufführungsverbot seiner Werke endete. Nicht zu Unrecht sprach Paul Hindemith von einer „völlig idiotischen Anordnung“. Siehe Briefe, hg. v. Dieter Rexroth, Frankfurt am Main 1982, S. 181. Privatim notierte Furtwängler 1937: „Wenn das Verbot aufrechterhalten werden soll, müssten konsequenter Weise die Kompositionen einer ganzen Generation von Musikern verboten werden, die im wesentlichen mit denselben Mitteln und Grundanschauungen wie Hindemith arbeiten.“ Wilhelm Furtwängler, Denkschrift, Typoskript vom Juli 1937, zitiert nach Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 1814. 150 Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 2219–2222.

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sinn wie von selbst organisierten, was zu erkennen dem Rechnungshof nicht schwerfiel. Die von ihm vorhergesagte „Überschwemmung mit Prü­ fungsstoff“151 wurde nach wenigen Jahren sogar öffentlich zugegeben,152 ganz abgesehen davon, dass die prophezeiten Reibereien mit der RMK kein Ende fanden. Goebbels entging gewiss nicht, dass Drewes mit Eifer bei der Sache war. Gelegentlich bezeichnete er ihn als „Fanatiker“ oder „kleinen Tyrann“,153 was nicht ausschließt, dass er in ihm just den Mann fand, den er für seine Zwecke letztendlich brauchte. Nach der Einschät­zung Werner Stephans, der als Ministerialrat in der Presseabteilung des RMVP tätig war, „versagten“ die Leiter der Musikabteilung: „Über drei Eigenschaften sollten die Abteilungs­ leiter des Propagandaministeriums verfügen: sie mußten Fachleute, Verwaltungsspezialisten und zugleich Politiker sein. Derartige Persönlichkeiten aber sind nicht beliebig vermehrbar. Die Musikabteilung z. B. wurde zunächst von einem künstlerisch empfindenden Menschen geleitet, der keinerlei administrative Geschicklichkeit hatte. Sein Nachfolger war ein Bürokrat amusischer Grundhaltung. Beide versagten.“154 Stephan verschwieg die Namen der gemeinten Mitarbeiter: von Keudell und Drewes. Sein Urteil über Drewes, der sich aus Mangel an Führungsaufgaben in die Geschäftigkeit eines Bürokraten flüchtete und Aufgaben der Verwaltung zusätzlich an sich riss, statt sie zu delegieren, lässt sich mühelos nachvollziehen. *

151 Präsident des Rechnungshofs des Deutschen Reiches, Schreiben an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 31. Mai 1937, gez. Gärtner. BArch R 55/2, pag. 70–74, hier: pag. 73, S. 7. 152 von Borries, Die Reichsmusikprüfstelle und ihr Wirken für die Musikkultur, S. 52: „Auf dem Gebiet der Tanz- und Schlagermusik ist es bei der Fülle der erscheinenden Werke kaum möglich, sämtliche neuen Werke im Notentext zu lesen. Hier muß vielmehr der Besuch der Unterhaltungsstätten hinzutreten, um einen Überblick zu gewinnen über das, was gespielt wird, vor allem im Hinblick auf etwaige noch ungedruckte oder in unbekanntem Selbstverlag erschienene Werke“. Siehe hierzu den Hinweis auf die Überforderung der Reichsmusikprüfstelle bei Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 277. 153 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 4, S. 465 (14. Januar 1941) sowie S. 566 (3. April 1941). 154 Werner Stephan, Joseph Goebbels. Dämon einer Diktatur, Stuttgart 1949, S. 92.

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Eine Aufzeichnung aus Goebbels’ Tagebüchern vom 21. September 1937 bietet sich an, um auf das Ende des Zweiten Weltkriegs zu blicken. Sie bezieht sich auf ein Fliegermanöver, den inszenierten Ernstfall: „Gestern: schon ganz früh Fliegeralarm. In Berlin klappt alles. Gut ge­drillt. Mein Ministerium in ‚Brand geschossen‘. Der ganze Wilhelmplatz ‚vernichtet‘. Ein tolles Schauspiel. Hoffentlich wird es niemals ernst. Wir müssen stark sein, daß diese Millio­nenstadt immer gesichert ist.“155 Der Ernstfall trat im März 1945 ein, als Goebbels sein zer­störtes Ministerium vor sich sah und in Sorge geriet, was die im unterkellerten brennenden Gebäude aufgestapelten 500 explosiven Panzerfäuste zusätzlich noch anrichten könnten.156 Goebbels nahm sich am 1. Mai das Leben; Reichsdramaturg Schlösser wurde von russischen Truppen am 2. Mai gefangengenommen, am 30. Juni zum Tode verurteilt; das Urteil wurde am 9. August 1945 durch Erschießung vollstreckt, der Betroffene indes infolge neugeschaf­fener gesetzlicher Grundlagen am 20. Februar 1997 rehabilitiert.157 Drewes überlebte den Krieg als Soldat im ungarischen oder österreichischen Raum, kehrte nach Berlin zurück und ließ sich nach seiner Entnazifizierung im Juni 1946 in der Stadt der Kriegsverbrecherprozesse, in Nürnberg, nieder.158

155 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 3, S. 272. 156 Joseph Goebbels, Tagebücher 1945. Die letzten Aufzeichnungen, Einführung von Rolf Hochhuth, Hamburg 1977, S. 245. 157 Hüpping, Rainer Schlösser (1899–1945), S. 272 und 278. 158 Herbert Henck, Hermann Heiß 1897–1966. Nachträge einer Biografie, Deinstedt 2009, S. 173 Anm. 616.

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ANHANG159 Anhang 1: Abteilungen für Theater, Musik und Kunst im RMVP (1933– 1936) Anhang 2: Mitarbeiter der Abteilung X bzw. M des RMVP unter der Leitung von Heinz Drewes (1937–1944) Anhang 3: Mitarbeiter nachgeordneter Dienststellen der Abteilung X bzw. M des RMVP (1938–1945)

159 Die Übersichten, die Angaben zum Büropersonal beiseitelassen, beruhen im Wesentlichen auf folgenden Quellen: Angang 1: Dresslers Kunsthandbuch, S. 4–7; Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik, S. 125; Geschäftsverteilungsplan des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 10. Februar 1936 (Berlin 1936), S. 20. Anhang 2, 3 und 4: Hesses Musiker-Kalender 60 (1938), Band 1, S. 10; Hesses Musiker-Kalender 61 (1939), Band 1, S. 10; Hesses Musik-Kalender 63 (1941), Band 1, S. 9; Deutscher Musiker-Kalender 64 (1942), Band 1, S. 11; Deutscher Musik-Kalender 65 (1943), Band 1, S. 11; Nachrichtenblatt des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, masch. vervielf. (1933–1945); Prieberg, Handbuch deutsche Musiker. Im Anhang 3 werden als nachgeordnete Dienststellen nur die Reichsmusikprüfstelle, die Reichsstelle für Musikbearbeitungen, die Auslandsstelle für Musik und das Amt für Konzertwesen erwähnt. Ihre Gesamtzahl lag weit höher und umfasste u. a. die RMK, die Stagma, das Berliner Philharmonische Orchester oder das Deutsche Tanz- und Unterhaltungsorchester, siehe Werner, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, S. XXVf. Anhang 5: Undatierter Geschäftsverteilungsplan der Musikabteilung X (BArch R 55/166, Bl. 361f.), abgedruckt in: Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik, S. 126f. Vgl. hierzu die Stellungnahme des Präsidenten des Rechnungshofs des Deutschen Reiches, Schreiben an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 31. Mai 1937, gez. Gärtner (BArch R 55/2, pag. 70–74). Die Stellungnahme lässt erkennen, dass dem Rechnungshof der hier mitgeteilte Geschäftsverteilungsplan vorgelegen haben muss oder er ihm zumindest inhaltlich bekannt war. Daher erfolgt hier die Datierung mit dem Frühjahr 1937 und nicht mit dem von Rainer Sieb vermuteten Jahr 1938 (ebenda, S. 127 Anm. 538). Anhang 6: Hesses Musik-Kalender, 63 (1941), Band 1, S. 9; Deutscher Musiker-Kalender 64 (1942), Band 1, S. 11; Prieberg, Handbuch deutsche Musiker.

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Anhang 4: Mitarbeiter der Abteilung X bzw. M des RMVP und nachgeordneter Dienststellen zwischen 1937 und 1944/45 (mit Angaben zu Lebensdaten, Beruf, Beschäftigungsdauer und Mitgliedschaft in der NSDAP) Anhang 5: Entwurf eines Geschäftsverteilungsplans für die Musikabteilung X des RMVP (ca. Frühjahr 1937) Anhang 6: Referate der Abteilung M des RMVP und nachgeordneter Dienststellen (Stand um 1941/42)

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Anhang 1: Abteilungen für Theater, Musik und Kunst im RMVP (1933–1936) 1933

Abteilung VI: Theater, Musik, Kunst Leitung: Otto Laubinger Stellvertreter: Otto von Keudell Referat: Theaterwesen und Reichsbühnengesetz (Otto Laubinger) Referat: Dramaturgie (Rainer Schlösser) Referat: Musik und Kunst (Otto von Keudell)

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Abteilung VI: Theater Leitung: Otto Laubinger (Nachfolger Rainer Schlösser)



Abteilung IX: Musik und bildende Kunst Leitung: Otto von Keudell [Nach längeren Erkrankungen (seit Spätherbst 1934) am 9. Juli 1936 ausgeschieden; seit dem 8. Mai 1935 Mitarbeit des Musikreferenten Dr. jur. Ernst Ludwig.]

10. 02. 1936 Abteilung X (Musik) Mit der Vertretung beauftragt: Dr. Kurt Biebrach Arbeitsgebiet Musik im Inland: Dr. Ernst Ludwig, Amtsrat Klaus, Regierungsinspektor Witschaß Arbeitsgebiet Deutsche Musik im Ausland: Dr. Ernst Ludwig, Amtsrat Klaus, Regierungsinspektor Witschaß Arbeitsgebiet Haushaltsangelegenheiten: MinBD. Hofrat Schwebel, Regierungsinspektor Witschaß

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Anhang 2: Mitarbeiter der Abteilung X bzw. M des RMVP unter der Leitung von Heinz Drewes (1937–1944)160 Drewes, Heinz (Leiter) Klaus (Referent) Ludwig, Ernst (Referent, stellv. Leiter) Albrecht, Hans (Referent) Hannemann, Erich (Referent) Borries, Fritz von (Referent, stellv. Leiter) Lange, Fritz Chlodwig (Referent) Leinveber, Gerhard (Referent) Goslich, Siegfried (Referent) Rosen, Waldemar (Referent) Rentrop (Referent) Scheffler, Siegfried (Referent) Ottich, Maria (Referentin ½-Stelle) Zusammen

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160 Laut Geschäftsverteilungsplan waren 1942 für die Musikabteilung M insgesamt 10 Referate vorgesehen, siehe Werner, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, S. XIII. Die Praxis sah anders aus. In einem Bericht vom 14. September 1942 bemerkte Fritz von Borris, der stellvertretende Leiter, dass bei Nichtberücksichtigung von Fritz Chlodwig Lange (er gehörte auch zur Theaterabteilung) in der Abteilung M lediglich 5 ½ Referenten tätig seien, siehe Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 653. Die Angaben stehen nicht im Widerspruch zu der tabellarischen Übersicht, wenn man die Zählung der Mitarbeiter auf die Referenten beschränkt und beim Jahr 1942 den Abteilungsleiter (Drewes) und den externen Theaterreferenten (Lange) übergeht.

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Anhang 3: Mitarbeiter nachgeordneter Dienststellen der Abteilung X bzw. M des RMVP (1938–1945) 1. Reichsmusikprüfstelle (gegr. 1. Februar 1938) Drewes, Heinz (Leiter) Mayer, Ludwig Karl (Referent; Bühnenwerke) Roeder, Erich (Referent; Symphonische, Kammerund Vokalmusik) Kormann, Hanns Ludwig (Referent; Unterhaltungsmusik, Schallplatte, Film)

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2. Reichsstelle für Musikbearbeitungen (gegr. 1. Mai 1940) Drewes, Heinz (Leiter) Moser, Hans Joachim (Generalsekretär) Krauß, Clemens (Vorsitzender des Arbeitsausschusses) Schünemann, Georg (Stell. Vorsitzender des Arbeitsausschusses) Swarowsky, Hans (freier Mitarbeiter)

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3. Auslandsstelle für Musik (bis 1937 der RMK angegliedert) Drewes, Heinz (Vorsitzender) Sellschopp, Hans (Leiter) Stade (Mitarbeiter) Günther, Johannes (Mitarbeiter)

1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 x x x x x x x x x x x x ? ? x x ? ? ? ? x x x x x

4. Amt für Konzertwesen (vormals der RMK angegliedert) Drewes, Heinz (Vorsitzender)

Benecke, Otto (Leiter)

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Anhang 4: Mitarbeiter der Abteilung X bzw. M des RMVP und nachgeordneter Dienststellen zwischen 1937 und 1944/45 (mit Angaben zu Lebensdaten, Beruf, Beschäftigungsdauer und Mitgliedschaft in der NSDAP)161

Dr. phil. Albrecht, Hans (Mw) Dr. jur. Benecke, Otto ( Jur) Borries, Fritz von (Komp) Dr. phil. Drewes, Heinz (Dir, Mw) Dr. phil. Goslich, Siegfried (Mw) Günther, Johannes (Kir, Komp) Hannemann, Erich Klaus Kormann, Hanns Ludwig (Komp) Prof. Krauß, Clemens (Dir) Dr. phil. Lange, Fritz Chlodwig (Dram) Dr. jur. Leinveber, Gerhard ( Jur) Dr. jur. Ludwig, Ernst ( Jur) Dr. phil. Mayer, Ludwig Karl (Mw, Dir) Prof. Dr. phil. Moser, Hans Joachim (Mw) Dr. phil. Ottich, Maria (Mw)

Lebensdaten

Beschäftigungsdauer

1902–1961 1896–1964 1892–1983

1937–1939 1934–1944? 1938–1945161

NSDAP-Mitgliedschaft (Datum des Beitritts) 1. April 1933 1. Juni 1940 1. Oktober 1930

1903–1980

1937–1944

1930

1911–1990

1939–1942

1. Oktober 1940

1901–1945 ? ?

1939–1943? 1937–1939? 1936–1945

1. September 1928 ? ?

1889–1965

1938–1942

1. Dezember 1931

1893–1954

1940–1942?

entfällt

1889–1954

1938–1944

1. Mai 1933

? 1891–?

1938–1941 1935–1938

? 1. Dezember 1931

1896–1963

1938–1943

1. Dezember 1931

1889–1967

1940–1945

1. April 1936

1911–1998

1942–1944

entfällt

161 Die Abteilungen Musik, Theater und Bildende Kunst wurden 1944 unter der Leitung von Rainer Schlösser zur Abteilung Kultur (Kult) zusammengefasst; die Leitung des Hauptreferats Musik übernahm Fritz von Borries. Neben ihm wirkten von den Mitarbeitern der ehemaligen Musikabteilung Amtsrat Klaus und Erich Roeder. Die Datierung der Beschäftigungsdauer von Hans Joachim Moser folgt seiner eigenen Angabe, siehe Musik-Lexikon, Band II, M–Z, Hamburg 4 1955, S. 803.

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Rentrop Dr. phil. Roeder, Erich (Mw, Mkr) Dr. phil. Rosen, Waldemar (Mw, Mkr) Scheffler, Siegfried (Komp, Mkr, Dir) Prof. Dr. Schünemann, Georg (Mw) Sellschopp, Hans (Konzertagent) Stade (?)

Lebensdaten

Beschäftigungsdauer

?

1941–1942?

NSDAP-Mitgliedschaft (Datum des Beitritts) ?

1904–1954?

1939–1945

1. Juni 1936

1904–1994

1939–1943

1. Mai 1933

1892–1969

1940–1942

?

1884–1945

1940–1942?

entfällt

1891–1978

1939–1944?

1. Dezember 1931

?

1940–1941?

?

Abkürzungen von Berufsbezeichnungen: Chordir = Chordirektor, Dir = Dirigent, Dram= Dramaturg, Jur = Jurist, Kir = Kirchenmusiker, Komp = Komponist, Mkr = Musikritiker, Mw = Musikwissenschaftler

Anhang 5: Entwurf eines Geschäftsverteilungsplans für die Musikabteilung X des RMVP (ca. Frühjahr 1937) Referat X, 1: Personalangelegenheiten

Personalangelegenheiten sämtlicher Berufs- und Nebenberufskünstler, Auszeichnungen, Titelverleihungen, Stipendien, Instrumenten-Beschaffung, Unterstützungen, Freiplätze an Erziehungsanstalten usw., allgemeine Angelegenheiten der Musikpflege, Angelegenheiten der Dirigenten und Kapellmeister, Generalmusikdirektoren, soweit nicht beim Leiter X. Referat X, 2: Das Musikschaffen

Angelegenheiten der Komponisten, Förderung junger Komponisten, Aufführung neuer Werke, Verbindung zur Fachschaft Komponisten, Angelegenheiten der Stagma (Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte), der Ammre (Anstalt für mechanisch-musikalische Rechte), der B.I.E.M. (Bureau international de l’édition musique-mechanique), Musikalien-Verlag und Musikalien-Handel, Instrumenten-Gewerbe, Musikangelegenheiten bei Funk, Film und Schallplatten-Aufnahmen.

Heinz Drewes  |

Referat X, 3: Musikverbände und Musikveranstaltungen

Berliner Philharmonisches Orchester (Dirigenten, Programme, Konzertveranstaltungen in Berlin, Konzertreisen in Deutschland, Personal- und Besoldungs-Angelegenheiten, NS-Reichssymphonieorchester München, Reichszuschüsse an sonstige Orchester, Grossveranstaltungen des Staates, der Partei und des Ministeriums, soweit hierbei in Frage kommt, Musikfeste und Wettbewerbe, Pflege der deutschen Hausmusik, Volksmusik, Chorwesen (allgemeine Angelegenheiten, Deutscher Sängerbund, Männer-Chöre, Reichsverband der gemischten Chöre, Singakademien, sonstige gemischte Chöre, Frauenchöre), Kirchenmusik-Angelegenheiten. Referat X, 4: Musikerziehung und Musikwissenschaft

Musikhochschulen, Konservatorien und sonstige Musikschulen, sämtliche Musikerziehungsfragen, Musikfragen der Hitlerjugend, Musikwissenschaft, elektromechanische Musik (Verbindung zum Institut für Schwingungsforschung der Technischen Hochschule und zum Institut für deutsche Musikforschung des Erziehungsministeriums). Referat X, 5: Deutsche Musik im Ausland

Bearbeitung der im Ausland aufgeführten deutschen Musik, Entsendung von Orchestern, Chören, Kammermusik-Vereinigungen und Solisten sowie Dirigenten, Mitwirkung im ausländischen Rundfunk, Vermittlung der Anstellung deutscher Künstler als Lehrer und ständiger Dirigenten im Ausland, internationale Wettbewerbe im Ausland, Stiftung von Noten und Liederbüchern, Instrumenten und dergleichen, Archive für „Deutsche Sendestunden im Auslande“ (Grammophonplatten), Regelung der Devisenfrage bei den vorstehenden Aufgaben. Referat X, 6: Ausländische Musik im Inland

Begutachtung der in Deutschland aufgeführten ausländischen Musik in Konzerten, Opern, Rundfunk und Film, fremde Gastdirigenten im Austausch, ausländische Kapellen und Solisten in Deutschland, Verkehr mit dem Devisenkommissar, Musikstudium von Ausländern in Deutschland an Konservatorien und Hochschulen, Musikinstitut für Ausländer in Potsdam. Referat X, 7: Haushaltsangelegenheiten der Abteilung X.

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Anhang 6: Referate der Abteilung M des RMVP und nachgeordneter Dienststellen (Stand um 1941/42) Leitung: Dr. Heinz Drewes 1. Referat: Personalangelegenheiten der Komponisten, Dirigenten und Solisten, zeitgenössi­sches musikalisches Schaffen (Fritz von Borries) 2. Referat: Chorwesen, Volksmusik, Akustik und Musikwissenschaft (Dr. Siegfried Goslich) 3. Referat: Kulturaustausch mit dem Ausland: Künstlerische Angelegenheiten, Musikfeste (Dr. Waldemar Rosen) 4. Referat: Kulturaustausch mit dem Ausland: Verwaltungsangelegenheiten (Amtsrat Klaus) 5. Referat: Presseangelegenheiten und Musikpropaganda im In- und Ausland (Regierungsrat Rentrop) 6. Referat: Musikalische Opernfragen (Dr. Fritz Chlodwig Lange) 7. Referat: Unterhaltungsmusik (Siegfried Scheffler) 8. Referat: Rechtsfragen des Musiklebens, Stagma, gemeinnützige und gewerbsmäßige Konzertveranstaltungen (Dr. Leinveber) Reichsmusikprüfstelle (gegr. 1. Februar 1939) Leiter: Dr. Heinz Drewes Referenten: Dr. Ludwig Karl Mayer (Bühnenwerke) Dr. Erich Roeder (Symphonische, Kammer- und Vokalmusik) Hanns Ludwig Kormann (Unterhaltungsmusik, Schallplatte und Schallfilm) Reichsstelle für Musikbearbeitungen (gegr. 1. Mai 1940) Leiter: Dr. Heinz Drewes Referenten: Prof. Dr. Hans Joachim Moser (Generalsekretär) Prof. Clemens Krauß (Vorsitzender des Arbeitsausschusses) Prof. Dr. Georg Schünemann (Stellv. Vorsitzender des Arbeitsausschusses) Hans Swarowsky (Mitarbeiter)

Heinz Drewes  |

Amt für Konzertwesen (vormals der RMK angegliedert) Vorsitzender: Dr. Heinz Drewes, Leiter: Dr. Otto Benecke Auslandsstelle für Musik (1939 übernommen von der RMK) Vorsitzender: Dr. Heinz Drewes, Leiter: Hans Sellschopp, Mitarbeiter: Johannes Günther, Stade u. a.

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Richard Strauss’ Lied Das Bächlein (1933)

Bekenntnis zur „Führertreue“ oder Camouflage? Jürgen May

Reichmusikkammer-Präsident: Ernennung und Dank Am 15. November 1933 wurde Richard Strauss im Rahmen der Errichtung der Reichskulturkammer durch Joseph Goebbels zum Präsidenten der Reichsmusikkammer ernannt. Dass diese Ernennung erfolgt sei, ohne zuvor seine Einwilligung einzuholen, wie mitunter kolportiert, ist anhand der Quellen hinreichend widerlegt.1 Kurze Zeit später vollendete Strauss in seiner Garmischer Villa eine Liedkomposition mit dem Titel Das Bächlein. Das mit „3. Dezember 1933“ datierte Manuskript trägt die eigenhändige Widmung: „Herrn Reichsminister Dr. Joseph Goebbels zur Erinnerung an den 15. November 1933 verehrungsvoll zugeeignet von Richard Strauss“.2 Strauss bedankt sich also für die Ernennung in aus seiner Sicht durchaus adäquater Weise mit einer kleinen Komposition. Dass Das Bächlein, rein musikalisch betrachtet, innerhalb von Straussʼ Liedschaffen von untergeordneter Relevanz ist, lässt sich kaum bestreiten. Ob das Lied aber deswegen auch in seiner Funktion als Danksagung derart marginalisiert werden kann, wie Michael Walter das in seinem im Jahr 2000 erschienenen Strauss-Band versucht,3 erscheint fragwürdig: Beschäftigte die 1 Gerhard Splitt, Richard Strauss 1933–1935. Ästhetik und Musikpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, Pfaffenweiler 1987, S. 81. Trenner fügt in seiner Strauss-Chronik, ohne Nennung der Quelle, der Erwähnung des Telegramms die Bemerkung an: „Strauss telegraphiert Zustimmung.“ Franz Trenner, Richard Strauss. Chronik zu Leben und Werk, hg. von Florian Trenner, Wien 2003, S. 542. 2 Autograph, Richard-Strauss-Archiv Garmisch (im Folgenden: RSA). RichardStrauss-Quellenverzeichnis, http://rsqv.de/, bearb. von Claudia Heine und Adrian Kech, hg. vom Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen, Stand: 27. September 2013 (im Folgenden: RSQV), Datensatz q00761. 3 Michael Walter, Richard Strauss und seine Zeit, Laaber 2000. Walter erwähnt Das Bächlein lediglich in einer Anmerkung (Anm. 58, S. 400) und bemerkt, dass „das

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Komposition doch, wie sich zeigen wird, ihren Schöpfer über einen Zeitraum von immerhin neun Jahren.

Fragen an Text und Musik Der Text und die Musik des Liedes Das Bächlein ebenso wie das in Straussʼ Nachlass erhaltene Autograph selbst werfen eine Reihe von Fragen auf. Schon bei einem flüchtigen Blick in den Notentext fällt auf, dass die weitgehend liedhaft-schlichte Textvertonung in der mehrfachen Wiederholung der melismatisch gedehnten Worte „mein Führer“ endet. Die Botschaft scheint klar und kann aus dem gegebenen historischen Kontext auch gar nicht anders verstanden werden: Der persönliche Dank an den Minister wird verbunden mit einem Bekenntnis des Komponisten zum „Führer“ Adolf Hitler. Diese wahrlich nicht sehr subtile Hommage darüber hinaus zum Anlass zu nehmen, auch den übrigen Text als Metapher auf Straussʼ Verhältnis zum Regime zu deuten,4 hieße aber nach meiner Einschätzung den eher schlichten und in seiner Metaphorik wenig originellen Text überbewerten. Dass dieser mit seinen gängigen Klischees romantischer Naturlyrik alle möglichen Deutungen zulässt, und im Entstehungskontext des Liedes natürlich auch die von Splitt vorgeschlagene, ist unbestritten. Die Frage ist aber, ob Strauss eine Interpretation in diese Richtung tatsächlich intendiert hat – abgesehen natürlich von der absichtsvollen Emphase des Schlusses – oder ob hinter der Textwahl und der Art der Vertonung nicht vielleicht ganz andere Beweggründe stehen.

Das Gedicht Das Bächlein: Herkunft und Autorschaft Die im Autograph vorgenommene, nachweislich falsche Zuschreibung des Bächlein-Textes an „Göthe“ findet sich bereits in der einzigen bekannten Skizze zum Lied5 sowie auch in allen späteren Quellen, etwa im Autoin Strauss’ Schaffen völlig marginale Lied […] seit Splitts Buch zu merkwürdiger Prominenz in der einschlägigen Strauss-Literatur gekommen“ sei. 4 So bei Splitt, Richard Strauss 1933–1935, S. 88ff. 5 Im Skizzenbuch zur Oper Die schweigsame Frau, f. 2r–3r. The Morgan Library, New York, S9125.S412. RSQV q00762.

Richard Strauss’ Lied Das Bächlein (1933)  |

graph der 1935 entstandenen Orchesterfassung, bis hin zur 1951 erschienenen Erstausgabe der Klavierfassung.6 Man fragt sich, wie dem erklärten Goethe-Kenner Strauss ein solcher Irrtum unterlaufen konnte – sofern es überhaupt ein Irrtum war und Strauss die Zuschreibung nicht wider besseres Wissen absichtlich vorgenommen hat. Tatsächlich nennt Goedeke im Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung, Ausgabe 1912, Das Bächlein unter Goethes unechten Werken und merkt an, es werde „in allen deutschen Lesebüchern für Italiener Goethe zugeschrieben“;7 doch ist kaum anzunehmen, dass Strauss sich auf solch eine Veröffentlichung stützte. Unbekannt bleibt auch, woher Strauss den Text kannte.8 Dass er ihn verwendete, ist wiederum so erstaunlich nicht, denn das Gedicht erfreute sich im 19. Jahrhundert und darüber hinaus offenbar großer Beliebtheit. Es wurde nicht nur als Text veröffentlicht, sondern auch vielfach vertont. In Kinder- und Volksliedsammlungen sowie innerhalb von Liederzyklen lassen sich wenigstens 16 Vertonungen – neben jener von Strauss – nachweisen. Darüber hinaus wurde der Text ins Italienische und ins Englische übersetzt.

6 Noch die 1964 erschienene Gesamtausgabe der Lieder von Richard Strauss nennt Goethe als Textautor; dieser ist im Revisionsbericht aber immerhin mit einem Fragezeichen versehen. Richard Strauss, Lieder. Gesamtausgabe, hg. von Franz Trenner, Band 3 (1964), S. 143 u. Revisionsbericht (ohne Seitenzahlen). 7 Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, dritte neue bearbeitete Auflage, nach dem Tode des Verfassers in Verbindung mit Fachgelehrten fortgeführt von Edmund Goetze, Band 4, III. Abteilung, Dresden 1912, S.  823. Auf welche „Lesebücher“ sich Goedeke konkret bezieht, ließ sich nicht ermitteln. 8 Eine undatierte Niederschrift des Textes von unbekannter Hand, ebenfalls mit der Zuschreibung an Goethe, findet sich in einem der von Strauss seit den 1930er Jahren angelegten Aufzeichnungsheften, RSA, Blaues Heft Nr. 3, Umschlaginnenseite vorn.

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Tabelle 1: Vertonungen des Gedichts Das Bächlein. Die grau unterlegten Vertonungen konnten nur anhand von Sekundärliteratur nachgewiesen werden und wurden von mir nicht eingesehen.

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Unter den in Tabelle 1 aufgelisteten Vertonungen nennt nur diejenige von Vianna da Motta Goethe als Dichter; Knappertsbusch, dessen Komposition nach jener von Strauss entstand, erwähnt lediglich die zweifelhafte Zuschreibung.9 Unbestrittene Favoritin für die Autorschaft ist jedoch die Dichterin Karoline Rudolphi, die gleich in vier Fällen genannt wird; doch findet sich Das Bächlein weder in einer der zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Gedichtsammlungen noch unter den posthum publizierten Werken aus ihrem Nachlass.10 Von wem stammt dann aber der Text des Bächleins wirklich? Die wahre Autorin ist nur in einer einzigen, darüber hinaus ziemlich entlegenen Publikation des Gedichts genannt: im Schweizer Almanach Alpenrosen. In der Ausgabe für das Jahr 1814 findet sich auf S. 100 die früheste nachweisbare Veröffentlichung des Bächleins.11 Als Verfasserin zeichnet eine gewisse „Lotte“ – offenkundig ein Pseudonym, das in verschiedenen Jahrgängen der Alpenrosen wiederholt aufscheint. Die Identität dieser „Lotte“ lässt sich mithilfe des 1825 erschienenen Lexikons Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts zweifelsfrei aufklären: Es handelt sich um „Oth (Charlotte von), geb Wiedemann, geb – – – – in Braunschweig […]. Sie lebt in Bern und ist Verfasserin der unter der Unterschrift L o t t e bekannten gefühlvollen Gedichte.“12

9 Allerdings konnte ich einige der in der Literatur nachgewiesenen Vertonungen nicht selbst überprüfen; Angaben zur Herkunft des Textes fehlen dort häufig. 10 Karoline Christiane Louise Rudolphi, Gedichte, hg. und mit einigen Melodien begleitet von Johann Friederich Reichardt [Berlin 1781], Zweite verbesserte Auflage, Wolfenbüttel 1787; Karoline Christiane Louise Rudolphi, Gedichte. Zweite Sammlung. Nebst einigen Melodien, hg. von Joachim Heinrich Campe, Braunschweig 1787; Caroline Rudolphi, Neue Sammlung von Gedichten, Leipzig 1796; Der Karoline Rudolphi sämtliche Gedichte, Wien und Prag 1805; Caroline Rudolphi, Schriftlicher Nachlaß, [hg. von Abraham Voß], Heidelberg 1835. 11 Alpenrosen. Ein Schweizer-Almanach auf das Jahr 1814, hg. von Kuhn, Meißner, Wyß, u. a., Bern u. Leipzig 1814, S. 100. 12 Carl Wilhelm Otto August von Schindel, Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts, Zweiter Theil M – Z, Leipzig 1825, S. 72.

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Zur Vertonung durch Strauss Bereits Splitt hat darauf hingewiesen, dass die Vertonung des Liedes Das Bächlein „aufs erste Hören hin beinahe von Franz Schubert sein könnte“. 13 Dieser Eindruck resultiert nicht allein aus einem spezifischen Ton oder Stil, dessen sich Strauss hier bedient; vielmehr ist die Komposition durchsetzt mit musikalischen Zitaten aus und Allusionen an Schubert-Lieder. So integriert Strauss gleich in den Takten 5–6 dem Melodieverlauf den Beginn ausgerechnet einer der bekanntesten Goethe-Vertonungen Franz Schuberts: Heidenröslein (Notenbeispiel 1)14 – als wolle er sich bzw. den Widmungsempfänger des Liedes auch musikalisch der Authentizität der Textzuschreibung an Goethe versichern, indem er gewissermaßen Schubert als Zeugen herbeizitiert.

Notenbeispiel 1: oben Strauss, unten Schubert

Mehr aber als das Heidenröslein stand ein anderes Lied Schuberts für die Komposition des Bächleins geradezu Modell, nämlich Wohin? aus dem Zyklus Die schöne Müllerin. Nicht nur die inhaltliche Nähe des Textes zu dem des Bächleins, auch die musikalischen Parallelen zwischen Strauss’ und Schuberts Kompositionen sind unübersehbar. Takt und Tonart G-Dur – im Müllerin-Zyklus die Tonart des Baches – sind identisch; die fortlaufende 16tel-Sextolenbegleitung Schuberts erscheint bei Strauss als 16tel-Triolen. Derartige Parallelen setzen sich in vielen kleineren Details bis zum Schluss fort: Dort entspricht der dreimaligen Wiederholung der Worte „[und 13 Splitt, Richard Strauss 1933–1935, S. 88. 14 Aus bisher unbekannten Gründen wurde Das Bächlein nie in der Originaltonart G-Dur, in der es in der Skizze ebenso wie in der autographen Niederschrift notiert ist, veröffentlicht, sondern in F-Dur. Die hier verwendeten Notenbeispiele stehen in der Originaltonart.

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wand’re] fröhlich nach, fröhlich nach, fröhlich nach“ bei Schubert bei Strauss das dreifache „[der, denk’ ich, wird] mein Führer sein, mein Führer, mein Führer sein!“ Auffälligerweise endet die Gesangsmelodie in beiden Fällen nicht auf dem Grundton, sondern auf der 5. Stufe, D (Notenbeispiel 2).

Notenbeispiel 2: oben Strauss, unten Schubert

Am Ende kehrt auch das zu Anfang des Liedes zitierte Heidenröslein wieder. Zunächst erklingt insgesamt dreimal das charakteristische Sechzehntel-Motiv: zweimal in Originalgestalt (T. 39 und 51), einmal in der Umkehrung (T. 46). Darüber hinaus sind die Schlusswendungen in der Klavierbegleitung von Bächlein und Heidenröslein nahezu identisch (Notenbeispiel 3).

Notenbeispiel 3: links Strauss, rechts Schubert

Es ist offensichtlich: Strauss treibt hier ein Spiel mit Versatzstücken aus zweien der bekanntesten Schubert-Lieder, charakteristischen Elementen, die die Musik seines Liedes von Anfang bis Ende durchziehen. Der Komponist tritt also dem Widmungsempfänger quasi in der Maske Franz Schuberts entgegen, oder, umgekehrt, er maskiert Schubert als Strauss. Dem zugrunde liegenden Text wird darüber hinaus durch das Etikett „Göthe“ eine Echtheit zertifiziert, die ihm in Wahrheit gar nicht eigen ist. Es drängt sich der Schluss auf, dass es sich bei Straussʼ Lied Das Bächlein um eine geschickte

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Camouflage handelt, bei der der Komponist zwar rein oberflächlich betrachtet Goebbels und Hitler seine Reverenz erweist, sich aber gleichzeitig ironisch davon distanziert.

Anmerkungen zu Goebbels, Goethe und Schubert Wie sich noch zeigen wird, deckt sich diese zweifelsohne verlockende Deutung allerdings nicht ganz mit der Realität Strauss’scher Worte und Taten im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Komposition. Vorab aber möchte ich der Frage nachgehen, was es möglicherweise mit der Wahl der in der Verpackung des Liedes präsentierten Künstler, Goethe und Schubert, im Hinblick auf den Widmungsempfänger Joseph Goebbels auf sich hat. Wenngleich nach meiner Kenntnis bislang keine einschlägige Literatur über Goebbels’ kulturelle und ästhetische Prägung und deren Auswirkungen auf seine kulturpolitischen Vorstellungen existiert, so geben doch immerhin seine Tagebucheintragungen sowie einige Publikationen, die das Thema zumindest am Rande berühren, wenigsten hinsichtlich der beiden genannten Künstler einigen Aufschluss. Dass Goethe, ohnehin Leitfigur innerhalb des deutschen Kulturverständnisses, auch für Goebbels eine zentrale Rolle spielte, verwundert nicht. Seine Tagebuchaufzeichnungen über einen Aufenthalt in Weimar im August 1924 belegen darüber hinaus die Brisanz des Identifikationspotentials, das der Dichter für den jungen Goebbels barg: Da oben auf der Höhe hinter dem Hause liegt sein [Goethes] Lieblingsplatz. Ich sitze hier eine Stunde in der namenlosen Stille. […] Ich schreibe aus dieser heiligen Stille ein paar liebe Worte an Else (meine Christiane). Ich bin getränkt mit Weihe und Andacht. Alles Kleine fällt von mir im Angesicht dieser erhabenen Stätte. […] Ich schlendere zum Schillerhaus. […] Da hängt ein Bild von Schiller. Ich meine, eine Ähnlichkeit im Schnitt mit mir feststellen zu können. […] Ich bitte dem großen Kämpfer und Dulder manches ab. Ich machte ihn zu klein, – und Goethe vielleicht zu groß. Vielleicht weil ich selbst zu viel Schiller bin und mehr Goethe vergeblich verlange […].15 15 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und in Verbindung mit dem Bundesarchiv,

Richard Strauss’ Lied Das Bächlein (1933)  |

Einerseits suchte Goebbels also die Identifikation mit dem Dichter, war sich aber gleichzeitig der Vermessenheit dieses Unterfangens bewusst. Angesichts des Scheiterns seiner eigenen Ambitionen als Schriftsteller ist es durchaus als eine Art von Kompensation zu bewerten, wenn er später als Minister seinen Propaganda-Reden häufig bekannte Goethe-Zitate, sei es wörtlich, sei es als Paraphrase, als Allusion oder Montage, integrierte.16 Ähnlich komplex wie Goebbels’ Verhältnis zu Goethe erscheint jenes zu Schubert, dessen liedhafter Ton ja in geradezu idealer Weise der für die nationalsozialistische Musikästhetik charakteristischen Überhöhung der Melodie entsprach.17 Goebbels’ Schubert-Verehrung schlägt sich in Tagebuchnotizen nieder wie: „Schubert kann’s doch noch mit am besten“,18 oder: „Wie glücklich bin ich, daß wir so etwas haben“.19 Auch pflegten er und seine Frau Magda in Mußestunden gemeinsam Schubert-Lieder zu singen.20 Besonders aufschlussreich erscheint in diesem Zusammenhang ein Eintrag über die Mai-Kundgebung 1937 in Berlin: „Die Kundgebung selbst ist sehr schön. Das Heldenrequiem von Gottfried Müller macht tiefen Eindruck. Müller selbst ist ein netter Kerl, fast der junge Schubert. […] Vielleicht ist das der kommende Mann in der Musik.“21 Aber auch Goebbelsʼ Schubert-Bewunderung war nicht ungetrübt, verband ihn mit diesem doch ein traumatisches Erlebnis. Folker Reichert berichtet in seinem Buch über den Historiker Karl Hampe aus dessen Erinnerungen an Goebbels’ Doktorprüfung: Hampe führte als Dekan den Vorsitz. Weil der Kandidat über den romantischen Dichter Wilhelm von Schütz eine Dissertation geschrieben hatte und trotzdem nicht wusste, dass zwei seiner Gedichte von Franz Schubert vertont worden waren, wollte Hampe ihn durchfallen lassen. Wenn es um schubertsche Lieder ging, kannte Teil I, Band 1, München 1987, S. 70f. 16 Brigitte Stocker, „Ein Bocksfuß darf dort alles wagen.“ Joseph Goebbels in der „Dritten Walpurgisnacht“ des Karl Kraus, Diplomarbeit, Wien 2008. Hier besonders der Exkurs: Goebbels als Goethe-Zitierender, S. 65–96. 17 Siehe u. a. Michael Walter, Die Melodie als solche erhebt die Herzen und erquickt die Gemüter. Musikpolitik und Oper nach 1933, in: Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft 1 (1998) Heft 1, S. 1–25. 18 Goebbels, Tagebücher I, Band 1, S. 194. 19 Ebenda, S. 635. 20 Ebenda, Band 2, S. 713f. 21 Ebenda, Band 3, S. 131.

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er kein Pardon. Nur weil sein Doktorvater [= Max von Waldberg] für ihn eintrat, wurde Goebbels gerade noch promoviert. Die ausgedehnte Wartezeit vor der Tür bezeichnete er später als „Tierquälerei“. Er fühlte sich „wie erschlagen“ und „soff“ die ganze Nacht durch.22

Auch wenn Strauss die ganze Dimension der Konstellationen Goebbels – Goethe bzw. Goebbels – Schubert selbstredend nicht bewusst gewesen sein kann, so darf man doch annehmen, dass er aus den Begegnungen mit dem Propagandaminister im Vorfeld seiner Berufung zum Präsidenten der Reichsmusikkammer dessen literarischen und musikalischen Geschmack einigermaßen kannte.23 Mit der Verbindung von Goethe und Schubert jedenfalls traf Strauss exakt Goebbels’ literarische und musikalische Vorlieben.

Verhinderte Uraufführung Unmittelbar nachdem Richard Strauss Das Bächlein komponiert hatte, reiste er in seiner Funktion als Präsident der Reichsmusikkammer für einige Tage nach Berlin, um sich mit den nationalsozialistischen Machthabern über die zukünftige Ausrichtung der deutschen Musikpolitik zu verständigen. Im Gepäck hatte er eine zweite autographe Niederschrift des Goebbels gewidmeten Liedes.24 Am 6. Dezember 1933 notierte der Widmungsempfänger in sein Tagebuch: „Gestern: […] Strauß dediziert mir ein neues Lied. Ich bin darüber sehr erfreut.“25 Eine Gelegenheit, Das Bächlein dem Bewidmeten dann auch zu Gehör zu bringen, bot sich, als Strauss im Februar 1934 anlässlich der ersten Arbeitstagung der Reichsmusikkammer erneut nach Berlin fuhr, genauer: bei einer Abendgesellschaft im Haus des Staatssekretärs Walther Funk, zu der 22 Folker Reichert, Gelehrtes Leben: Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen, Göttingen 2009, S. 233. 23 Die erste persönliche Begegnung zwischen Strauss und Goebbels fand am 23. Juli 1933 in Bayreuth statt, siehe Goebbels, Tagebücher I, Band 2, S. 450, Einträge vom 23. und 24. Juli 1933. 24 Wie auch in anderen Fällen hatte Strauss zwei Autographen des Liedes niedergeschrieben; eines behielt er selbst, das andere verwendet er als Widmungsexemplar. Der Verbleib der Goebbels überreichten Niederschrift ist unbekannt. 25 Goebbels, Tagebücher I, Band 2, S. 462.

Richard Strauss’ Lied Das Bächlein (1933)  |

auch Goebbels und Hitler geladen waren. In einem Brief an seine Frau berichtet Strauss ausführlich über den Abend.26 Man erfährt, dass er „mit Frau Urseleac [sic] […] mein Goebbels gewidmetes Lied einstudiert“ hatte.27 Doch zu der geplanten Aufführung kam es nicht, denn: „Wir mussten aber, als wir abends um ½ 9 Uhr ankamen, hören dass Dr. Goebbels mit 40 Grad Fieber zu Bett läge und nicht kommen könne.“ Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Strauss versucht hätte, dem Propagandaminister seine Dankesgabe bei anderer Gelegenheit zu Gehör zu bringen. Darüber hinaus vermittelt der Brief einen Eindruck von Strauss’ Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Führung, und dabei ist – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – von kritischer Distanz wenig zu spüren. Zwar bemerkt er leicht despektierlich, er habe tags zuvor die Reichsmusikkammer-Sitzung mit einer „abgelesenen Rede eröffnet“, sucht aber gleichzeitig den persönlichen Umgang mit den Repräsentanten des Regimes: Goebbels etwa lädt er über dessen Frau in sein Haus in Garmisch ein, „wo ihm Schlafund Arbeitszimmer zur Verfügung stünden, aber ich glaube, er wird es nicht annehmen. Er will nur 3 – 4 Tage ungestört ein neues Buch fertig machen. Jedenfalls biete ich es ihm noch einmal an.“28 Auch zeigt er sich von Hitler, der sich später am Abend einfindet, spürbar beeindruckt und attestiert ihm, er sei ein Mann von „grossem staatsmännischem Takt und Verantwortungsbewusstsein, […] Wahrhaftigkeit und grösster Anständigkeit.“29

Die Orchesterfassung Bis dahin trug das Goebbels gewidmete Lied schon aufgrund der Gattungszugehörigkeit, mehr noch aber wegen der zunächst vorgesehenen Aufführungssituation den Charakter einer persönlichen, rein privaten Dankeadresse. Hätte Strauss es dabei belassen – Das Bächlein wäre in der Tat eine kaum weiter diskussionswürdige Marginalie geblieben. Im Frühjahr 1935 aber fertigte der Komponist eine Orchesterfassung des Liedes an; sie trägt das Ab26 Richard Strauss an Pauline Strauss, Berlin, 14. Februar 1934. Typoskript mit autographen Korrekturen von Richard Strauss. RSA. 27 Ebenda, S. 1. 28 Ebenda, S. 1. 29 Ebenda, S. 2f.

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schlussdatum: „Garmisch, 6. April 1935.“30 Damit hob er das Lied gewissermaßen aus der Sphäre des privaten Salons empor auf das öffentliche Podium des Konzertsaals – zweifelsohne eine deutliche Aufwertung der Komposition. Über die Gründe, warum Strauss sich des Bächleins erneut annahm und warum gerade zu diesem Zeitpunkt, lässt sich nur spekulieren. Der biographische Kontext bietet für solche Spekulationen allerdings eine Reihe von Anhaltspunkten. Es mag Zufall sein, aber auffälligerweise nahm Strauss die Orchestrierung zu einer Zeit vor, da die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der bevorstehenden Uraufführung der Oper Die schweigsame Frau sich zu manifestieren begannen. Bereits am 17. März hatte es eine „Aussprache mit Goebbels wegen St. Zweig“31 gegeben. Strauss war also die Problematik – wenn vielleicht auch noch nicht in ihrer ganzen Tragweite – zu diesem Zeitpunkt durchaus bewusst. Es liegt nahe zu vermuten, dass Strauss in dieser Situation das tat, womit er in aus seiner Sicht vergleichbaren Situationen – freilich unter anderen politischen Vorzeichen – gute Erfahrungen gemacht hatte: Er versuchte, sich das Wohlwollen der politischen Führung bzw. der Entscheidungsträger zu sichern, indem er ihnen mittels musikalischer Ehrerbietungen entgegenkam. Im Fall der Schweigsamen Frau kam es, das wusste Strauss, letztlich auf Goebbels und Hitler an. Letzterem hatte er am 29. März „die Olympische Hymne vorgespielt u. das Manuskript geschenkt“32 – und zwar ohne äußere Notwendigkeit, sondern auf eigenes Betreiben.33 Auch hier kann ein Zusammenhang zu den drohenden Schwierigkeiten mit der Schweigsamen Frau vermutet werden – wie das übrigens bereits ein aufmerksamer Beobachter im Neuen Wiener Journal vom 5. April 1935 tat.34 Die weiteren Vorgänge um Strauss’ Oper sind bekannt. Der Komponist musste als Präsident der Reichsmusikkammer zurücktreten, und er ging vorerst auf Distanz zur politischen 30 Richard Strauss, Das Bächlein. Autographe Partitur der Orchesterfassung, Österreichische Nationalbibliothek, A-Wn: F59.Clemens-Krauss-Archiv.8/1. RSQV q00763. Fotokopie im RSA. 31 Trenner, Chronik, S. 558. 32 Richard Strauss, zit. nach ebenda, S. 559. 33 Siehe Albrecht Dümling, Zwischen Autonomie und Fremdbestimmung. Die Olympische Hymne von Robert Lubahn und Richard Strauss, in: Richard Strauss-Blätter, Neue Folge, Heft 38, Tutzing 1997, S. 77. 34 Ebenda, S. 80.

Richard Strauss’ Lied Das Bächlein (1933)  |

Führung, wie seine diesbezüglichen Aufzeichnungen belegen.35 Das Bächlein verschwand in der Schublade – vorläufig.

Die Uraufführung der Orchesterfassung Am 19. Juni 1942 dirigierte Clemens Krauss im Rahmen der Berliner Kunstwochen ein Konzert der Berliner Philharmoniker. Auf dem Programm standen ausschließlich Werke von Richard Strauss, darunter Ein Heldenleben und Till Eulenspiegels lustige Streiche. Zwischen den beiden Tondichtungen sang Viorica Ursuleac fünf Lieder des Komponisten mit Orchesterbegleitung, eines davon als Uraufführung: Das Bächlein. Mehrere Tageszeitungen berichteten über das Konzert. Stets wird die Uraufführung des Bächleins erwähnt, doch von einer Widmung des Liedes an Goebbels ist nirgends die Rede.36 Dies deckt sich übrigens mit der autographen Partitur der Orchesterfassung, die ebenfalls die Widmung an den Minister nicht mehr enthält.37 Bedeutet das, dass Strauss sich mit der Orchesterfassung von der Widmung der Klavierfassung distanzierte? Oder waren ihm der Anlass der Komposition sowie die erfolgte Widmung so selbstverständlich gewärtig, dass er dies nicht noch einmal herausstellen zu müssen glaubte? Und – erneut die Frage: Was bewog Strauss, das Lied ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wieder aus der Schublade zu holen und zur öffentlichen Aufführung zu bringen? Ähnlich wie der Zeitpunkt der Orchestrierung des Bächleins scheint auch der Zeitpunkt seiner späten Uraufführung in den Kontext der zeitnahen Geschehnisse zu passen. Nachdem der Eklat um die Schweigsame Frau zu einem 35 Richard Strauss und das 3. Reich (Ausführliche Darstellung der Vorgänge um die Präsidentschaft der Reichsmusikkammer, die Uraufführung der „schweigsamen Frau“, die Differenzen mit Dr. Goebbels etc.). Typoskript-Durchschlag, S. 5, Aufzeichnung vom 24. September 1935. Die Textsammlung ist Teil eines vermutlich aus dem Besitz von Willi Schuh stammenden Konvoluts von Typoskript-Durchschlägen, betitelt: Richard Strauss. Betrachtungen und Erinnerungen (Aus den Notizheften des Meisters, ca. 1932–45). Richard-Strauss-Institut, Garmisch-Partenkirchen. 36 Z.  B. Walter Abendroth, Großer Strauß-Abend. In Anwesenheit des Meisters, in: Berliner Lokal-Anzeiger, Sonntagsausgabe, 21. Juni 1942, 2. Beiblatt verso; Erwin Kroll, Jubel um Richard Strauß, in: Unterhaltungsblatt der Berliner Morgenpost, Sonntag, 21. Juni 1942, verso; Hermann Killer, Richard Strauß – Clemens Krauß, in: Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, Montag, 22. Juni 1942, S. 3. 37 Richard Strauss, Das Bächlein. Autographe Partitur der Orchesterfassung, ÖNB.

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Bruch zwischen Strauss und dem Regime geführt hatten, kam es zunächst 1938 im Zusammenhang mit den Reichsmusiktagen in Düsseldorf und später, nach einem erneuten Konflikt, der sich in dem durch Werner Egk überlieferten Zusammenstoß des Komponisten mit Goebbels Ende Februar 194138 manifestierte, zu einer gewissen Wiederannäherung, zu einer Art Agreement, das Strauss seine Rolle als Repräsentant der deutschen Musik beließ, ohne ihm in musikpolitischen Fragen noch irgendeinen Einfluss zu überlassen. Am 5. Dezember 1941 notiert Goebbels befriedigt in sein Tagebuch: Abends sitze ich noch eine Zeitlang mit Richard Strauß zusammen. Er hat meine damalige Auseinandersetzung mit ihm gänzlich überwunden und geht jetzt wieder Richtung. Man muß schon versuchen, mit diesem alten Herrn ein erträgliches Verhältnis zu behalten; wer weiß, wie lange er noch lebt; und schließlich ist er doch unser größter und wertvollster repräsentativer Musiker.39

Das prominenteste Amt, das diese repräsentative Rolle dokumentierte, war die Präsidentschaft des Ständigen Rates für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten. Dieser hatte allerdings seit 1939 nicht mehr getagt 40 und besaß ohnehin wenige Kompetenzen. Entsprechend beschränkt blieb auch der Einfluss seines Präsidenten. Bemerkenswerterweise trat am 14. und 15. Juni 1942, also wenige Tage vor der Uraufführung des Bächleins, der Ständige Rat nach dreijähriger Unterbrechung wieder zusammen – und zwar in Berlin. Nachdem Strauss als Präsident in seinem Amt bestätigt worden war,41 gab Goebbels tags darauf einen Empfang für die Delegierten der Konferenz, 38 Werner Egk, Die Zeit wartet nicht. Künstlerisches, Zeitgeschichtliches, Privates aus meinem Leben, München 1981, S. 343. Siehe auch Goebbels, Tagebücher I, Band 4, S. 521. 39 Goebbels, Tagebücher II, Band 2, S. 436. 40 Petra Garberding, Musik, Moral und Politik. Richard Strauss, Kurt Atterberg und der Ständige Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten, in: Richard Strauss-Jahrbuch 2011 (= Richard Strauss im europäischen Kontext), hg. von der Internationalen Richard Strauss-Gesellschaft in Wien und dem Richard-Strauss-Institut in Garmisch-Partenkirchen, Redaktion: Günter Brosche und Jürgen May, Tutzing 2011, S. 237. 41 Ebenda, S. 244ff.; siehe auch Berliner Lokal-Anzeiger, Morgenausgabe, 16. Juni 1942, Beiblatt verso.

Richard Strauss’ Lied Das Bächlein (1933)  |

und Strauss dankte bei dieser Gelegenheit dem Minister für dessen Unterstützung der Arbeit des Rates.42 Unter den von mir durchgesehenen Tageszeitungen würdigte allerdings nur eine, der Berliner Lokal-Anzeiger, die Komponisten-Tagung mit zwei kurzen Notizen. Das deutet darauf hin, dass sie aus Sicht des Regimes, und das heißt: des zuständigen Ministers Goebbels, von eher untergeordneter Bedeutung war. Der nämlich widmete sich zur gleichen Zeit weit Wichtigerem, nämlich der Kür des höflichsten Berliners. Über diesen Wettbewerb, den Goebbels in seiner Eigenschaft als Gauleiter von Berlin ausgelobt hatte, berichtete die Presse mehrfach und großflächig.43 Immerhin: Der Zusammenhang der Uraufführung des Bächleins zur neuerlichen Annäherung Strauss’ an das Nazi-Regime – oder, je nach Sichtweise, des Regimes an Strauss – scheint deutlich; und er führt zurück zu der noch immer im Raum stehenden Frage nach der Bewertung der Komposition: Bekenntnis zur „Führertreue“ oder Camouflage? Es erscheint verlockend, hinter der Komposition und Widmung des Liedes Das Bächlein eine Art Tarnung zu vermuten, hinter der Strauss seine wahre Haltung der nationalsozialistischen Führung gegenüber verbarg; und aufgrund von Details wie der Textauswahl, der Zuschreibung des Gedichts an Goethe sowie der musikalischen Gestaltung lässt sich diese Annahme letztlich nicht ganz von der Hand weisen. Auf der anderen Seite versuchte Strauss gerade in der Anfangszeit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht nur, sich politisch an der Spitze der deutschen Musikerschaft zu positionieren; er suchte darüber hinaus unübersehbar auch die persönliche Nähe zur Führungselite der neuen Machthaber. Diese Haltung, auch das ist deutlich, wandelte sich, als Strauss mit seiner eigenmächtigen Musikpolitik und der offenen Missachtung ideologischer Grundsätze, wie sie sich in der Aufführung der Oper Die schweigsame Frau manifestierte, Schiffbruch erlitt. Wenn Strauss ausgerechnet 1942 die Orchesterfassung des Liedes Das Bäch-

42 Berliner Lokal-Anzeiger, Morgenausgabe, 17. Juni 1942, Beiblatt verso. 43 Völkischer Beobachter vom 10. Juni, S. 6, und 16. Juni 1942, S. 6; Berliner Morgenpost vom 11. Juni [S. 3 ], 16. Juni [S. 3] und 17. Juni 1942 [S. 3]; Berliner Lokal-Anzeiger vom 11. Juni 1942, Abendausgabe [S. 3], 15. Juni, Abendausgabe [S. 3], 16. Juni, Morgenausgabe, Beiblatt recto (Titel: „Höflichkeit und Rücksichtnahme gerade im Kriege!“).

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lein in einem offenkundig politisch aufgeladenen Kontext44 aufführte, dann dürfte auch dies nicht ohne Absicht geschehen sein. Denn auch ohne explizite Erwähnung der 1933 vorgenommenen Widmung der Klavierfassung konnte Strauss davon ausgehen, dass diese dem Propagandaminister in Erinnerung geblieben war. Ob diese Erinnerung allerdings durchwegs positiv besetzt war, darf bezweifelt werden – rief Goebbels das Lied doch gleichzeitig eine der eklatantesten Fehleinschätzungen ins Gedächtnis, die ihm im Laufe seiner Karriere als Reichspropagandaminister bei der Besetzung einer Führungsposition unterlaufen war.

44 Die Berliner Kunstwochen waren von Goebbels initiiert worden, um die Hauptstadt auch als kulturelles Zentrum des „Großdeutschen Reiches“ – vor allem Wien gegenüber – aufzuwerten. Goebbels war allerdings bei dem Konzert am 19. Juni nicht anwesend, sondern besuchte „abends eine Verwundeten-Veranstaltung der KddK“, Goebbels, Tagebücher II, Band 4, S. 562.

„Die Geflügelzucht“

Hindemiths Blick auf die Reichsmusikkammer Susanne Schaal-Gotthardt

Den folgenden Ausführungen sei eine Überlegung des 1935 in die Türkei emigrierten Literaturwissenschaftlers Erich Auerbach über Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Geschichtsschreibung vorangestellt. In seiner 1942 verfassten, 1946 publizierten Schrift Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur heißt es: Wer […] das Verhalten der einzelnen Menschen und Menschengruppen beim Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland oder das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten vor und während des gegenwärtigen (1942) Krieges erwägt, der wird fühlen, wie schwer darstellbar geschichtliche Gegenstände überhaupt, und wie unbrauchbar sie für die Sage sind; das Geschichtliche enthält eine Fülle widersprechender Motive in jedem Einzelnen, ein Schwanken und zweideutiges Tasten bei den Gruppen; nur selten kommt (wie jetzt durch den Krieg) eine allenfalls eindeutige, vergleichsweise einfach beschreibbare Lage zustande, und auch diese ist unterirdisch vielfach abgestuft, ja sogar fast dauernd in ihrer Eindeutigkeit gefährdet; und bei allen Beteiligten sind die Motive so vielschichtig, dass die Schlagworte der Propaganda nur durch roheste Vereinfachung zustande kommen – was zur Folge hat, dass Freund und Feind vielfach die gleichen verwenden können. Geschichte zu schreiben ist so schwierig, dass die meisten Geschichtsschreiber genötigt sind, Konzessionen an die Sagentechnik zu machen.1

Diese Schwierigkeit vor Augen, sei im Folgenden der Versuch unternommen, einem der motivischen Stränge im Komplex „Hindemith und das Dritte Reich“ zu folgen, nämlich der Position des Komponisten, Musikers und Hochschullehrers im Verhältnis zu den kulturpolitischen Institutionen der NS-Regierung. Zu diesen, respektive dem „Kampfbund für deutsche 1 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern und München 71982, S. 22f.

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Kultur“ und der „Reichsmusikkammer“, befand sich Hindemith als eine der prominentesten Musikerpersönlichkeiten seiner Generation von Anfang an in einer exponierten Lage. Die Prozesse der fortschreitenden Kontrolle, Reglementierung und Begrenzung des Musiklebens, die von ihnen ausgingen, betrafen zunächst seine künstlerische Tätigkeit als Konzertsolist und Komponist, später auch seine Arbeit als Hochschullehrer. Hindemiths Aktivitäten und Pläne zum Zeitpunkt der sogenannten Machtergreifung sind der Ausgangspunkt für die Darstellung seines Verhältnisses zu diesen kulturpolitischen Institutionen und ihren Protagonisten sowie seiner Einschätzung darüber. Im Oktober 1932 hatte Hindemith nach langem Suchen ein neues Opernprojekt in Angriff genommen. Gemeinsam mit dem Münchner Schriftsteller Ernst Penzoldt arbeitete er am Libretto zu Etienne und Luise nach Penzoldts gleichnamiger Novelle, die 1929 erstmals publiziert worden war. Der Stoff dieser Geschichte ist schnell erzählt: Wenige Tage vor dem Ende des I. Weltkriegs versteckt Luise, Tochter eines glühenden deutschen Patrioten, den entflohenen französischen Kriegsgefangenen Etienne, verliebt sich in ihn und verhilft ihm dann zur weiteren Flucht. Hatte die Novelle schon bei ihrer Erstveröffentlichung im Jahr 1929 – nicht zuletzt auch wegen des politisch durchaus brisanten Stoffes – Penzoldt in Schwierigkeiten gebracht, so war bereits wenige Wochen nach der sogenannten Machtergreifung sowohl für Penzoldt als auch für Hindemith klar, dass ein auf dieser Novelle basierendes Opernprojekt zumindest in der aktuellen politischen Situation keine Chance auf Realisierung auf einer Opernbühne haben konnte. Beide vereinbarten deshalb, den Entwurf zunächst liegen zu lassen und stattdessen an einem neuen Stoff zu arbeiten, der, so Hindemith, „sehr hübsch, harmlos und nächstens außerordentlich aktuell ist […]: Eine heitere Oper über die Eröffnung der ersten Eisenbahnen.“2 Bis zum Sommer 1933 hatte sich indes auch dieser Plan verflüchtigt – offenbar vor allem weil Penzoldt nicht lieferte. Von Beginn des Nazi-Regimes an verfuhr Hindemith nicht nur mit Blick auf seine Opernpläne nach der Devise: Abwarten und auf Beruhigung der 2 Paul Hindemith an Ernst Penzoldt, zwischen 10. und 12. März 1933, zit. nach: Gunther Nickel und Susanne Schaal, Die Dokumente zu einem gescheiterten Opernplan von Paul Hindemith und Ernst Penzoldt, in: Hindemith-Jahrbuch 28 (1999), S. 243.

Hindemiths Blick auf die Reichsmusikkammer  |

Lage hoffen. Auf besorgte Fragen des Verlegers Willy Strecker über die aktuelle Situation an der Berliner Musikhochschule antwortete er Mitte April 1933: „Mir ist bei den ganzen Umänderungen bis jetzt gar nichts passiert“3 – eine Antwort, die nicht zuletzt auch den Verlag beruhigen sollte, der um die Zukunft eines seiner erfolgreichsten Pferde im Stall besorgt war. Anders als die Verleger Ludwig und Willy Strecker, die möglichst rasch eine Klärung darüber herbeiführen wollten, welche Perspektiven Hindemiths Musik im NS-Staat habe, vertrat er selbst die Ansicht: „Da ich […] gesehen habe, dass einige, die sich anbiedern wollten, vollkommen versunken sind, möchte ich, der ich mich ja nicht einmal anbiedern will, diese von Ihnen gewünschte aufklärende Aktion nicht gerade jetzt unternehmen.“4 Wie viele andere war auch Hindemith davon überzeugt, „nur die nächsten Wochen [müsse] man vorübergehen lassen“5 – eine veritable Fehleinschätzung der Lage, die sich, wie wir heute wissen, in den kommenden Monaten nicht entspannen, sondern im Gegenteil, verschärfen sollte. Hindemiths Optimismus speiste sich offenbar nicht zuletzt aus seinen ersten Kontakten mit offiziellen Repräsentanten der kulturpolitischen Institutionen Ende März 1933. Wie aus dem bereits zitierten Schreiben vom 15. April hervorgeht, hatte er mit „obersten Kampfbundleuten eine grosse Unterredung, die sich allerdings nur auf Unterrichtsangelegenheiten bezog. […] Mittlerweile haben sie mich (allerdings nicht hochoffiziell) beauftragt, Pläne zur Änderung des ganzen Kompositions- und Theorieunterrichts einzureichen.“6 Obwohl Hindemith keinen Namen nennt und auch keine Einzelheiten über das Gespräch bekannt sind, ist davon auszugehen, dass sein Hochschulkollege, der Geiger Gustav Havemann, an ihn herangetreten war. Havemann, bislang „Sachreferent für Hochschule“ in der Abteilung Erziehung in der Fachgruppe Musik des Kampfbunds für deutsche Kultur, hatte bereits im Februar 1933 gegenüber dem Staatskommissar im Preußischen 3 Paul Hindemith an den Verlagsleiter Willy Strecker (B. Schott’s Söhne), 15. April 1933. Dieser sowie alle weiteren Briefe zwischen Hindemith und Vertretern des Schott-Verlags werden nach dem im Hindemith Institut Frankfurt aufbewahrten Verlagsbriefwechsel zitiert. 4 Paul Hindemith an Willy Strecker, 15. April 1933. Unter einer „aufklärenden Aktion“ verstanden die Verleger Gespräche mit den „maßgebenden Leuten vom Kampfbund“ (vgl. Brief von Willy Strecker an Paul Hindemith, 5. April 1933). 5 Paul Hindemith an Willy Strecker, 15. April 1933. 6 Ebenda.

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Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung seine Ansprüche auf das Berliner Hochschulrektorat geltend gemacht und – um sich für das Amt schon im Voraus zu empfehlen – konkrete Vorschläge zur Neuordnung des Lehrbetriebs nach der Entlassung der jüdischen Lehrerschaft unterbreitet. 7 Dabei wollte er Hindemith offenbar als Verbündeten gewinnen. Die – wie sich bald herausstellen sollte – irrige Annahme, in dieser Sache auch selbst Personalentscheidungen treffen zu können, veranlasste Hindemith im Mai 1933 dazu, Alban Berg anlässlich eines Zusammentreffens in Wien zu fragen, ob er nicht als Lehrer für Komposition an die Berliner Hochschule kommen wolle. Berg gab das Gespräch mit Hindemith in einem Brief an seine Frau mit den folgenden Worten wieder: „Er: ‚Wollen Sie nicht?‘ – Ich: ‚O ja!‘ – Er: ‚Das lässt sich vielleicht machen!‘ Es wären jetzt zwei Vakanzen (zwei alte Herren). ‚Ich werde sehen und ich glaube bestimmt, dass sich da etwas machen lässt.‘“8 Soweit festzustellen ist, kam es jedoch nicht zu weiteren diesbezüglichen Gesprächen, und festzuhalten bleibt, dass Berg am Ende – natürlich – nicht nach Berlin berufen wurde. Während Hindemiths eigene Position als Hochschullehrer zunächst ungefährdet schien, musste er schon wenige Wochen nach der sogenannten Machtergreifung zur Kenntnis nehmen, dass zahlreiche Veranstalter seine Werke von den Konzertprogrammen strichen. Über erste Restriktionen seine Werke betreffend hatte ihn sein Verleger bereits Anfang April informiert: „Jede kleine Provinzstadt scheint einen Kampfbund-Diktator zu haben, der nach eigenem Ermessen Richtlinien gibt […]. So ist in unserer Gegend z. B. Strawinsky auf die Liste der bolschewistisch-russischen Juden gesetzt worden, deren Werke nicht mehr gespielt werden dürfen; Sie selbst sollen zu 50% mit Ihren früheren Werken als Kultur-Bolschewist verboten sein.“9 Von den Einschränkungen war auch Hindemiths eigene Konzerttätigkeit betroffen. Der umtriebige Konzertsolist und Kammermusiker, der beispiels7 Siehe Fred K. Prieberg, Artikel Gustav Havemann, in: Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-R Kiel 2004, S. 2714. 8 Brief vom 15. Mai 1933, zitiert nach: Alban Berg, Briefe an seine Frau, hg. von Helene Berg, München und Wien 1965, S. 627. Weiter schrieb Berg, er denke nicht daran, den Antrag anzunehmen, „obwohl er jetzt, wo S. [= Arnold Schönberg] nicht mehr in Berlin sein dürfte, viel diskutabler wäre als früher“ – ein deprimierend unsolidarischer Kommentar des Schönberg-Schülers Berg zum Hinauswurf seines ehemaligen Lehrers aus der Preußischen Akademie der Künste. 9 Paul Hindemith an Willy Strecker, 5. April 1933.

Hindemiths Blick auf die Reichsmusikkammer  |

weise im Jahr 1932 in Deutschland 31 meist große, repräsentative Konzerte mit Aufführungen zumeist eigener Werke bestritten hatte, trat von Februar bis Dezember 1933 nur noch 15-mal öffentlich in Deutschland auf.10 Drei Termine davon fielen noch in den Februar, im März war Hindemith an zwei Konzerten mit Aufführungen seiner Sonate für Bratsche allein op. 25 Nr. 1 beteiligt, danach war er bis Ende des Jahres nur noch als Viola d’amore-Spieler bei Konzerten mit Alter Musik engagiert.11 Die unklare allgemeine Lage im (musik-)politischen Berlin sowie die Unsicherheit bezüglich seiner eigenen beruflichen Perspektiven umriss Hindemith Ende Juli 1933 in einem Brief an eine Frankfurter Freundin in der ihm eigenen sarkastischen Art: „Es ist halt Belagerungszustand, vielleicht wird man erschossen, wenn man Briefe schreibt – wer kann’s wissen. Aber Geburtstagsgratulationen sind sicher noch erlaubt. […] Wir schwimmen in dem allgemeinen Sumpf hier herum, so gut es geht. Was passieren wird, wissen wir nicht; wir lassen nach wie vor den lieben Gott walten.“12 Von der erzwungenen Untätigkeit – „ich bin seit einigen Wochen schon aus allem Betrieb heraus“, heißt es in einem Brief an Penzoldt vom Sommer 193313 – lenkte sich Hindemith ab, indem er sich nun endgültig für das Opernsujet Mathias Grünewald entschied. In diesem vom Verleger Ludwig 10 Quelle für diese Information ist Hindemiths eigene Programmzettelsammlung, die im Hindemith Institut Frankfurt aufbewahrt wird. – Im Unterschied dazu war Strawinskys Musik bis in die späten 1930er Jahre hinein nicht verboten, siehe z. B. Joan Evans, Die Rezeption der Musik Igor Strawinskys in Hitlerdeutschland, in: Archiv für Musikwissenschaft 55 (1998), Heft 2, S. 91–109, als erweiterte Fassung Stravinsky’s Music in Hitler’s Germany, in: Journal of the American Musicological Society 56 (2003), S. 525–594. 11 Bei den 15 Auftritten des Jahres 1933 ist auch Hindemiths musikalische Mitwirkung bei der Weihnachtsfeier im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit mitgezählt, in dem der Intendant der Berliner Funkstunde, Hindemiths Schwager Hans Flesch, seit August 1933 inhaftiert war. Im Februar 1934 spielte Hindemith in Lübeck die Konzertmusik für Solobratsche und größeres Kammerorchester op. 48 und dirigierte anlässlich des „Ersten deutschen Komponistentags“ am 18. Februar 1934 die Konzertmusik für Streicher und Blechbläser op. 50. Die Aufführung der Sinfonie „Mathis der Maler“ unter seiner Leitung in Duisburg am 5. Mai 1934 war sein letzter Auftritt mit einem eigenen Werk in Deutschland. 12 Paul Hindemith an Emma Lübbecke-Job, ca. 25. Juli 1933, zitiert nach den im Hindemith Institut Frankfurt aufbewahrten Kopien des Briefwechsels. 13 Paul Hindemith an Ernst Penzoldt, Sommer 1933, zitiert nach: Nickel und Schaal, Dokumente zu einem gescheiterten Opernplan, S. 252.

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Strecker bereits 1932 ins Feld geführten Stoff, den er damals noch aus dramaturgischen Gründen abgelehnt hatte,14 hatte er inzwischen offenbar das übergeordnete politische Potenzial entdeckt, nämlich die Frage nach der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft vor dem Hintergrund politisch unruhiger Zeiten – inspiriert zweifellos von seiner eigenen Situation. Das folgende zähe Ringen um das Libretto und die dazwischen geschobene Komposition der Sinfonie „Mathis der Maler“ boten ihm die Möglichkeit, die Zeit des Hoffens auf eine Entspannung der Lage sinnvoll zu füllen. Weiterhin erschien ihm abwartende Zurückhaltung die angemessene Vorgehensweise. Auch als im Oktober 1933 der Termin zur Uraufführung der Mathis-Sinfonie von Dezember auf das Frühjahr 1934 verschoben wurde, war er alles andere als unglücklich darüber – und dies nicht nur, weil die Komposition zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht fertiggestellt war: „ […] ich glaube, dass es gut ist, noch ein Weilchen zu warten“, schrieb er, immer noch optimistisch und mit der ihm eigenen lapidaren Direktheit, „ich habe sehr stark den Eindruck, dass man allenthalben des Geseichs unserer alten Musikgarde satt ist, aber ich finde, die Leute sollen erst noch richtige Sehnsucht bekommen!“15 Im November 1933 wurde die Reichsmusikkammer gegründet. Damit waren im Kulturleben des NS-Staates nunmehr zwei Institutionen aktiv, die sich gegenseitig die Meinungsführerschaft streitig machten. Alfred Rosenbergs 1928 gegründete Parteiorganisation „Kampfbund für deutsche Kultur“ hatte dabei die schlechteren Karten, da sie nicht staatlich institutionalisiert war und beständig um Einflussbereiche kämpfen musste. Einblick in Hindemiths Eindrücke und Erfahrungen mit der Reichsmusikkammer gewährt ein Gedicht mit dem Titel Die Geflü­gelzucht, das sich in den Hindemith-Archivalien des Schott-Verlags als 23 beschriebene Seiten umfassendes autographes Manuskript sowie – im Nachlass Hindemiths – als achtseitiges Typoskript erhalten hat. Über die Beweggründe zur Niederschrift dieses Ge­dichts ist nichts bekannt. Der von der Hand Willy Streckers stammende Eingangsvermerk „30. Dez. 35“ auf dem Manuskript lässt die Vermutung zu, dass Hindemith das Gedicht als Weihnachtsgabe an seinen Verleger schickte; im Ver14 Paul Hindemith an Willy Strecker, 10. Oktober 1932: „Wesen und Zweck einer Oper um Grünewald könnte doch nur die Malerei sein und man käme ja nicht drum herum den Mann in Begeisterung malen zu lassen; ein für die Musik sehr dürftiges und für meine Begriffe komisches Motiv. Erinnern Sie sich an die Gezeichneten, wo die exaltierte Dame vor der Staffelei in Verzückung gerät?“ 15 Paul Hindemith an Willy Strecker, zwischen 10. und 15. Oktober 1933.

Hindemiths Blick auf die Reichsmusikkammer  |

lagsbriefwechsel wird Die Geflügelzucht allerdings nicht erwähnt. Zu Titel und Sujet des Gedichts ließ sich Hindemith ganz offensichtlich von der kuriosen Häufung von Vogel­namen im Personal der Kammer inspirieren.16 Bereits in einem Brief vom 21. Dezember 1935 an seine Frau Gertrud hatte er „Raben, Hinkel und sonstiges Geflügel“ erwähnt, die „den NSKulturboden bevölkern“.17 Das Gedicht ist deshalb so interessant, weil es aus dem Moment heraus Hindemiths ganz persönliche Einschätzung der allgemeinen musik­ politischen Lage in Deutschland sowie seiner eigenen Situation im Musikle­ ben zu Ende des Jahres 1935 wiedergibt. Es stellt ein Dokument der Selbstreflexion dar, das offenbar ohne jeden äußeren Rechtfertigungsdruck entstanden ist, und bürgt daher für hohe Au­thentizität. Das Gedicht beginnt mit der Personalie Strauss: Der zum Präsident der Kammer ernannte greise Komponist wird als „stolzes Tier“ beschrieben, dem Goebbels’ Verehrung zu Kopfe gestiegen sei und der rücksichtslos von den mit dem Posten verbundenen Privilegien profitiere. Überdies nutze Strauss, das „große Tier“, seine Position zur Mehrung des eigenen Ruhmes aus: Ei legt es auf Ei, begackert sie und sorgt dafür, dass ohne Pause sein Lob in dem Geflügelhof erschallt.

Die Lobbyarbeit von Strauss’ langjährigen Vertrauten Julius Kopsch (1887– 1970) und Hugo Rasch (1873–1947), die dieser innerhalb der Hierarchie der Reichsmusikkammer zu seinen „direkten Beauftragten“ gemacht hatte, wird ebenfalls angesprochen: Wie diese beiden nun durch ihres berühmten Schützers Sorge fette Gehälter, Posten, Ehren häuften, so krähen sie zu jeder Frist in Blättern, auf Kongress und Tagung, 16 Zu den Vogelnamen zählt neben „Strauss“ und „Raabe“ auch der von Hans Hinkel – im hessischen Dialekt das Wort für Hähnchen. 17 Zitiert nach: Paul Hindemith, „Das private Logbuch“. Briefe an seine Frau Gertrud, hg. von Friederike Becker und Giselher Schubert, Mainz und München 1995, S. 127.

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im Radio und was dergleichen noch sonst für Unratsammelstellen, den schon zu aller Hörer Erbrechen posaunten Ruhm des Riesentieres.

Wenige Tage nach der Gründung der Reichsmusikkammer hatte Hindemith in einem Brief an seinen Verleger prognostiziert: „Nach allem was ich hier höre, dürfte im Frühjahr eine gute Konjunktur für meine Sachen einsetzen […].“18 Einer der Gründe für seinen Optimismus zu diesem Zeitpunkt dürfte die Ernennung seines Fürsprechers Gustav Havemann zum Mitglied im Präsidialrat der Kammer gewesen sein. Havemann wiederum fühlte sich angesichts dieses Amtes offenbar legitimiert, die im Frühjahr eingeschlafenen Gespräche über eine hochschulpolitisch relevante Funktion für Hindemith wieder aufzunehmen. Anfang Februar 1934 unterrichtete Hindemith seine Verleger über eine „grosse Besprechung mit einem der Öberschten vom einstweilen noch freiwilligen Arbeitsdienst“ – also Havemann. Er solle gemeinsam mit diesem einen Plan entwickeln, der „die Grundlage für die grosszügigste musikalische Volkserziehung (verbunden mit dementsprechender Komponistenausbildung) bilden wird, die je die Welt gesehen hat.“19 Hindemith, der sich bereits Mitte der 1920er Jahre in seiner Heimatstadt Frankfurt intensiv um die Gründung einer staatlichen Musikhochschule nach Kestenbergschem Vorbild bemüht hatte, muss fasziniert gewesen sein von der Perspektive, in maßgeblicher Position pädagogisch wirken zu können. Allerdings verspürte er keinerlei Neigung, sich in offizieller Funktion zu betätigen: „Ich selbst will mich allerdings nach wie vor aus allem öffentlichen Amtsbetrieb draussenhalten, aber im Hintergrunde denke ich umsomehr zu tun; zumal die Komponistenausbildung für diese Sache will ich in die Hand nehmen, ohne mir allerdings Mehrarbeit aufzuladen: ich hoffe, meinen ganzen Schulbetrieb dann darauf einzustellen.“20 Dieser Brief ist das letzte bekannte schriftliche Dokument, in dem von der Möglichkeit einer prominenten Funktion Hindemiths bei der Musikerausbildung an einer deutschen Musikhochschule die Rede ist.

18 Paul Hindemith an Willy Strecker, 23. November 1933. 19 Paul Hindemith an Willy Strecker, 9. Februar 1934. 20 Ebenda.

Hindemiths Blick auf die Reichsmusikkammer  |

In dieselbe Zeit wie die Unterredung mit Havemann fiel auch Hindemiths Berufung in den sogenannten „Führerrat des Berufstandes deutscher Komponisten“ innerhalb der Reichsmusikkammer. Über die näheren Umstände dieser Ernennung ist kaum etwas bekannt; angeblich soll sich Furtwängler, Stellvertretender Präsident und Mitglied des Präsidialrats der Kammer, dafür eingesetzt haben.21 Wichtiger als das Amt, dessen Übernahme Hindemith selbst an keiner Stelle kommentiert, war ihm offenbar die Möglichkeit, anlässlich des „Ersten deutschen Komponistentags“ am 18. Februar 1934 zum ersten Mal seit fast einem Jahr wieder mit einem eigenen größeren Werk an die deutsche Öffentlichkeit zu treten. Der politischen Dimension dieses Auftritts war er sich dabei sehr wohl bewusst: Ein Konzert mit neuer Musik sollte anlässlich der Musikkammertagung hier sein, das schrieb ich Ihnen schon; anscheinend wird’s aber nichts. Statt dessen findet Sonntag 18. II. ein Konzert statt, in dem neben den Greisen Hausegger, Pfitzner, Graener, Schumann und Strauss auch ich mittue: ich dirigiere die Philharmoniker an Hand des Konzerts für Streicher und Blechbläser. Mehr an offizieller Einführung kann man doch eigentlich kaum verlangen. [...] Das Stück muss natürlich fein herauskommen und sich einigermaßen von dem alten Gedudel abheben – die Zusammenstellung mit dem darauffolgenden Eulenspiegel ist mir natürlich nicht unangenehm.“22

Doch auch die „offizielle“ Einbindung des damals 38-jährigen Hindemith in die Altherrenriege – die, wenn man es recht betrachtet, kaum mehr als das Feigenblatt zur Verhüllung des restaurativen Charakters der Veranstaltung war – konnte offenbar nicht alle Kritiker zum Verstummen bringen. Willy Strecker fügte seiner Gratulation zu Hindemiths „künstlerischem Erfolg in Berlin“ die Bemerkung hinzu: „Etwas Opposition schadet nie und zeigt nur, dass Sie noch nicht in die Kategorie der senilen Greise gehören.“23 Dass Hindemith einer Vereinnahmung seiner Person und seiner Musik durch staatliche Stellen unverändert reserviert gegenüberstand, macht nicht 21 So Paul Zschorlich im Rahmen seiner Rezension der Uraufführung der Sinfonie „Mathis der Maler“: Furtwängler und Hindemith, in: Deutsche Zeitung, Abendausgabe, Nr. 61, 13. März 1934, zitiert nach Prieberg, Handbuch deutsche Musiker, S. 1772. 22 Paul Hindemith an Willy Strecker, 9. Februar 1934. 23 Willy Strecker an Paul Hindemith, 23. Februar 1934.

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nur seine Absicht deutlich, sich, wie bereits zitiert, aus dem „offiziellen Amtsbetrieb draussenhalten“ zu wollen. Auch „eine Art Propagandakonzert, das Havemann veranstalten wollte“, lehnte er ab, „weil ich sehr dagegen bin, dass meine Musik immer wieder die Deckung für alle möglichen Nichtskönner abgeben soll und dass überhaupt immer die heutige Musik als abseitsstehend und extravagant besonders aufgezogen wird.“24 Dieser reservierten Haltung entspricht der Befund, dass er der „Ersten Arbeitstagung der Reichsmusikkammer“, die dem Komponistentag vorausgegangen war, offenbar gänzlich ferngeblieben war – jedenfalls legen dies seine anderweitigen Terminkalendereinträge während dieser Tage nahe.25 Die folgenden Wochen des Frühjahrs 1934 waren der Fertigstellung des Librettos zur Oper „Mathis der Maler“ gewidmet. Der Erfolg bei der Uraufführung der sinfonischen Fassung am 12. März 1934, der zumindest einige der Hindemith-Kritiker vor das Problem stellte, dass ihnen eine Musik gefiel, die sie nicht hätten gutheißen dürfen, erweckte bei Hindemith ebenso wie bei seinen Verlegern zunächst das Gefühl, dass sich das Warten gelohnt habe und eine „Rehabilitierung“ kurz bevorstehe. Sie sollte nach dem Wunsch der Verleger vor allem darin bestehen, dass die Reichsmusikkammer einer Uraufführung der Mathis-Oper in Deutschland zustimmte. Der Verlag baute dabei auf den Einfluss von Wilhelm Furtwängler. Doch ab dem Sommer 1934 erhielten diese Hoffnungen erneut einen Dämpfer. Auf das eingeschränkte Sendeverbot26 von Werken Hindemiths im Rundfunk – angeblich ausgelöst durch die kolportierte Meldung, Hindemith habe sich in der Schweiz abfällig über Hitler geäußert – folgte im November 1934 bekannt24 Paul Hindemith an Willy Strecker, 5. Februar 1934. 25 Hindemith arbeitete in diesen Tagen (13. bis 17. Februar) konzentriert am letzten Satz der Sinfonie „Mathis der Maler“ (Abschluss der Komposition 27. Februar 1934). Am 15. Februar bestritt er gemeinsam mit seinen Trio-Kollegen Simon Goldberg und Emanuel Feuermann ein Kammerkonzert in Hilversum; am 17. Februar hielt er sich ganztägig bei Proben zu einer Aufführung von Hermann Reutters Oratorium Der große Kalender in der Singakademie auf und besuchte abends auch die Aufführung. 26 Willy Strecker schreibt am 12. Juli 1934 an Hindemith, dass „ […] nur auf Grund der immerhin nicht abzuleugnenden Bedeutung Ihrer Werke gelegentliche Sendungen gestattet seien, nur müsse man in Anbetracht der bekannten früheren Einstellung eine strenge Auswahl unter Ihren Werken treffen und dürfe diese Werke nur nach vorheriger Inkenntnissetzung der Reichssendeleitung ins Programm aufnehmen.“

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lich der Eklat um Furtwänglers Hindemith-Apologie, der schließlich zu dessen Rücktritt und Hindemiths Beurlaubung von der Berliner Musikhochschule sowie zu Goebbels’ öffentlicher Verurteilung Hindemiths in seiner Kulturkammerrede vom 6. Dezember 1934 führte. Hindemiths eigene Sicht auf diese Ereignisse ist seinem Gedicht Die Geflügelzucht zu entnehmen, die er selbst in Gestalt einer Gans bewohnt. Er erklärte sich das Missfallen der neuen Machthaber mit seiner eigenen Zurückhaltung beim „Triumphgeschrei“ nach dem Machtwechsel. Dem Adler, der sich zu seinem „Fürsprech“ aufgeschwungen habe, habe man „für einige Zeit den Hals verrenkt“. Und Richard Strauss’ Glückwunschtelegramm zu Goebbels’ Kulturkammerrede verstand er eindeutig als auf seine eigene Person gemünzt, wie sich an seiner Umdichtung erkennen lässt: „Mit beglückter Legeröhre vernahm des Eierbolschewisten Ausschaltung und schwört die Eibelange hochzuhalten Strauss“. Dass Strauss die Ausgrenzung Hindemiths aus dem deutschen Musikleben nicht nur beifällig kommentierte, sondern sich auch aktiv daran beteiligt haben könnte, hatte Willy Strecker bereits im Sommer 1934 anlässlich des gegen Hindemith ausgesprochenen Sendeverbots vermutet: „Die Widersacher sind immer wieder in der Reichsmusikkammer zu finden und ebenso unbelehrbar, wie nicht greifbar. […] Der grosse Richard, der neuerdings gegen alles ‚Atonale‘ zu Felde gezogen ist dürfte für die Stimmung in der Reichsmusikkammer verantwortlich sein.“27 In der Geflügelzucht benannte Hindemith diesbezüglich konkret das unkollegial dominante Verhalten von Strauss und seinen Beratern, dem „Wiedehopf“ Hugo Rasch und dem „kleinen Mistfinken“ Dr. Julius Kopsch: Sie schimpfen auf das Kikeriki Der jungen Hähne; schwören sich, niemals das folgende Geschlecht zu fördern; stets und immer sie und ihresgleichen bestenfalls sind dazu da, das Reich, die Macht und auch die Herrlichkeit ewiglich ganz zu besitzen.

27 Ebenda.

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Strauss’ Zurückhaltung, sich in der Causa Hindemith ausdrücklich auf die Seite des Berufskollegen zu stellen, dürfte nicht nur darin ihre Ursache haben, dass er dessen Musik sowieso nicht wertschätzte. Mit berücksichtigt werden muss auch der Umstand, dass die Verhandlungen um eine Uraufführung von „Mathis der Maler“ von Verleger, Dirigent und Komponist just zu der Zeit vorangetrieben wurden, da Strauss selbst um die Uraufführung seiner Schweigsamen Frau zu kämpfen hatte, die aufgrund ihres jüdischen Librettisten Stefan Zweig im Fokus der Kritik stand. Dass Hindemiths Mathis und Strauss’ Schweigsame Frau durchaus in direkter Konkurrenz zueinander gesehen werden konnten, hat zumindest auch Willy Strecker erkannt: Strauss’ Oper, die Ende Juni 1935 in Dresden uraufgeführt worden war, hätte als Wiederaufnahme in der darauffolgenden Saison den Anteil von Novitäten im Spielplan der Bühnen erhöhen und damit die Aussichten auf eine Uraufführung von „Mathis der Maler“ zusätzlich erschweren können.28 Überdies dürfte Strauss im Zuge des „Falles Hindemith“ wohl auch der Rücktritt von Furtwängler als musikalischer Leiter der Berliner Staatsoper sehr gelegen gekommen sein: Furtwängler hätte sich in diesem Amt weniger gut auf eine Bevorzugung von Strauss-Opern festlegen lassen können als Strauss’ Protégé Clemens Krauss, der im Dezember 1934 Furtwänglers Nachfolge in Berlin antrat.29 Es sind, soweit ersichtlich, keine Dokumente vorhanden, die belegen, dass Strauss tatsächlich aktiv an Hindemiths – wie dieser sie nannte – „Ausschaltung“ sowie an der Verhinderung der Uraufführung von „Mathis der Maler“ beteiligt war.30 Gleichwohl unternahm der Verlag erst dann wieder 28 In einem Brief vom 29. Juni 1935 versuchte Willy Strecker gegenüber Hindemith diesbezüglich allerdings Optimismus zu verbreiten: „Ob Richards geschwätzige Frau bei den Intendanten viel Gegenliebe finden wird, ist zweifelhaft. Sie scheint mir etwas senil und schwierig.“ – Dass die Schweigsame Frau nach nur drei Aufführungen in Dresden abgesetzt wurde und auch an keiner weiteren Bühne gespielt wurde, konnte Strecker zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. 29 Entsprechende Vermutungen wurden Ende 1934 / Anfang 1935 von der ausländischen Presse aufgestellt, siehe hierzu Herbert Gerigk, Auslandspresse und deutsche Musikpolitik, in: Die Musik 27 (1935), Heft 4 Januar, S. 248ff. 30 Strauss hat sich – nachdem die Dresdner Uraufführung der Schweigsamen Frau offiziell zugesagt war – im Frühjahr 1935 dafür stark gemacht, dass Hindemiths Beurlaubung von der Hochschule aufgehoben würde. Siehe den Brief von Fritz Stein an Ludwig Strecker, 6. April 1935, Hochschulakte Paul Hindemith (Kopie im Hindemith Institut Frankfurt).

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verstärkt Versuche, eine Uraufführung an einer deutschen Bühne zu erreichen, nachdem Strauss im Juli 1935 als Präsident der Reichsmusikkammer entlassen worden war. Die Umstände dieser Entlassung werden auch in der Geflügelzucht thematisiert. Demzufolge war Hindemith darüber im Bilde, dass die nach außen hin als „Rücktritt aus Altersgründen“ deklarierte Entscheidung in Wirklichkeit eine Entlassung war, mit der Strauss nicht gerechnet hatte. Seine Verse deuten auch darauf hin, dass eine Intrige von Julius Kopsch gegen Strauss mit für diese Entscheidung verantwortlich war:31 Das hindert nicht, daß prompt der kleine Mistfink beim Herrn der Farm sich anschmiert, indem er seinen großen Gönner beklatscht. Der eigensüchtige Mann ist wildempört und wütet fast wie jener, als er ihn kopiert. Weil er sich das nicht bieten lassen kann, schickt er um ein paar starke Männer. Die machen nicht viel Federlesen; sie haben unsern Freund gefasst und aus der Farm hinausgeführt. Und in den Blättern war zu lesen, den Vogel hindere die Schwäche des Alters, weiterhin die große Verantwortung der Eieraufsicht zu tragen. In einer Pose gekränkter Unschuld steht das blöde Getier nun draussen vor den Mauern und wartet, ob nicht einer spreche ein Wort, das ihn zurückruft. Nicht ein Ton erschallt, ohne Bedauern hat man ihn ziehen sehen. Keine Rede ist mehr von ihm und seinem Ei. Was ihm so wichtig scheint, einerlei 31 Siehe dazu auch Gerhard Splitt, Richard Strauss 1933–1935. Ästhetik und Musikpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, Pfaffenweiler 1987, S. 44f.

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ist es den anderen; nicht einer weint ihm eine Träne nach. Bald ist er nicht mehr als ein beliebiger Spatz. Dem Wiedehopf ging alles sehr zu Herzen. Fröstelnd sprach er nur den Satz: „Er hat es doch so gut gemeint.“

In Strauss’ Nachfolger Peter Raabe sowie in Staatskommissar Hans Hinkel, der Raabe als „Propagandachef“ zur Seite gestellt wurde, setzte Hindemith nochmals neue Hoffnungen in eigener Sache. Raabe hatte sich Anfang Juli 1935 bei Goebbels über die „ungerechte Behandlung Hindemiths“ beklagt,32 und auch gegenüber Hindemith selbst schien er seine Solidarität signalisiert zu haben.33 Doch nur wenige Tage später teilte er kurz angebunden mit: „Sehr geehrter und lieber Herr Hindemith. Wie ich nun erfahren habe, ist in Ihrer Angelegenheit im Augenblick gar nichts zu machen!“34 In der Geflügelzucht kommentierte Hindemith Raabes Wankelmütigkeit: Um nun bei seinem reizbaren Herrn durch ein Gebot, das diesem nicht gefällt, in Ungnad nicht zu fallen, unterlässt er es, die Eierfrage auch von fern nur zu berühren. Schlimmer als zuvor liegt alles nun im argen.

Am Ende blieben Hindemith nur Verbitterung und Resignation darüber, dass sich weder Raabe noch Hinkel zu einer eindeutigen Stellungnahme durchringen konnten: 32 Siehe die Erinnerungen des Sohnes Felix Raabe, Freundliche Erinnerung an unfreundliche Zeiten [1974/75], zitiert nach: Nina Okrassa, Peter Raabe. Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872–1945), Köln 2004, S. 257 (Anm.). 33 Hindemith schreibt am 3. August 1935 an Willy Strecker von „mündlich gemachten Versprechungen“, die er von Raabe nun „schriftlich bestätigt bekommen“ wolle. In seinem Taschenkalender ist für den 4. August 1935 ein Treffen mit Raabe vermerkt. 34 Peter Raabe an Paul Hindemith vom 17. August 1935, Hindemith Institut Frankfurt.

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So werfen sie Erlaubnis und Verweigerung wie eine faule Gurke hin und her und glauben, dass die Angst und Lüge hie verdecken könnte, was Vortrefflichkeit der Ware und der Käufer gute Meinung, der Fleiß des Vogels und zum Schluss die Zeit entscheiden.

Hindemith hat – vom Zeitpunkt der Niederschrift der Geflügelzucht Ende Dezember 1935 aus gerechnet – noch etwas mehr als ein Jahr lang weiter ausgeharrt und darauf gewartet, dass sich doch noch eine Verbesserung seiner Situation ergebe. Doch das Gegenteil war der Fall. Im Oktober 1936 erging ein offizielles Aufführungsverbot seiner Werke,35 und wenig später mehrten sich auch die Anzeichen dafür, dass seine Position an der Berliner Musikhochschule gefährdet war.36 Während er nun, um einer Entlassung zuvorzukommen, selbst die Kündigung seiner Professur erwog,37 ermunterten ihn die Leiter des Schott-Verlags weiter zum Ausharren in Deutschland und vor allem zu weiterem Engagement für eine Uraufführung von „Mathis der Maler“ an einer deutschen Bühne. Selbst als sein Entschluss, die Hochschulstelle zu kündigen, unumstößlich war, versuchte Willy Strecker den Komponisten noch vor dem letzten Schritt – der Emigration – zurückzuhalten: Ich weiss, Du tust nichts Übereiltes aber wenn mit einer Kündigung unbedingt zu rechnen ist, so verstehe ich, dass es Dir lieber ist, wenn sie durch Dich kommt, wie von der anderen Seite. Lasse Dir aber noch ein Hintertürchen offen, für den Fall [dass] eine Stimmungsänderung doch noch eintreten sollte, während Du fort bist. Jedenfalls musst Du Deinen Wohnsitz in Deutschland beibehalten. Man betrachtet 35 Johannes Petschull (B. Schott’s Söhne) an Ludwig Strecker, 11. Oktober 1936: „Auf Anordnung des Ministers hat Raabe ein Aufführungsverbot erlassen müssen. Es ist durch Rundschreiben bereits den Dienststellen bekannt gegeben worden.“ 36 Offenbar rückte nun als Argument gegen Hindemith die nichtarische Abstammung seiner Frau Gertrud – einer Tochter des jüdischen Frankfurter Opernkapellmeisters Ludwig Rottenberg (1864–1932) – weiter in den Vordergrund: Im Januar 1937 wurde Hindemith zur Abgabe von „Abstammungsurkunden“ aufgefordert. Brief von Fritz Stein an Paul Hindemith, 23. Januar 1937, Hochschulakte (Kopie im Hindemith Institut Frankfurt). 37 Willy Strecker an Paul Hindemith, 8. März 1937: „Ist die Hochschulstellung unhaltbar, so verstehe ich Deinen Wunsch eines freiwilligen Rücktrittes […].“

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Dich sonst als Emigrant, während Dich nichts hindert, Auslandsverpflichtungen, auch in Basel für einige Wochen oder Monate im Jahr anzunehmen, genau wie in der Türkei. Uns würde man als Verlag wahrscheinlich verbieten, Deine Werke zu drucken und zu verbreiten, Dich zu honorieren. Man gäbe uns bestimmt keine Devisen-Genehmigung für Zahlungen im Ausland und überwachte gerade diesen Punkt mit besonderer Schärfe.38

Doch auch Warnungen vor den finanziellen Unwägbarkeiten eines Lebens im Exil konnten Hindemith nicht mehr umstimmen. Mit einem Schreiben an Fritz Stein vom 22. März 1937 – einen Tag vor der Abreise zu seiner ersten USA-Tournee – kündigte er seine Stellung an der Berliner Musikhochschule, im August 1938 verließ das Ehepaar Hindemith Deutschland und emigrierte in die Schweiz. Aus der Distanz der Exilsituation entwickelte Hindemith einen durchaus selbstkritischen Blick auf seine Haltung zum NS-Regime. „Ich komme mir immer vor wie die Maus, die leichtsinnig vor der Fallentüre tanzte und auch hineinging; zufällig, als sie gerade mal draußen war, klappte die Türe zu!“, schrieb er am 27. März 1939 an seine Frau Gertrud.39 Rückblickend diagnostizierte er hier dieselbe Unentschlossenheit bei der eigenen Verhaltensstrategie im Umgang mit einem totalitären Regime und seinen Institutionen, wie sie auch Béla Bartók in einem Brief an Sándor Veress vom 3. März 1939 formulierte: Wenn jemand hier bleibt, obwohl er weggehen könnte, zeigt er sich – ließe sich sagen – stillschweigend mit all dem einverstanden, was sich hier ereignet. Und das könnte man nicht einmal öffentlich dementieren, weil es nur Unheil brächte und so das Hierbleiben vollends sinnlos würde. Andererseits könnte man sagen: In welchen Kot auch immer der Karren eines Landes geriet – jeder sollte zu Hause bleiben und mithelfen, wie er eben kann. Die Frage ist lediglich: Besteht auf absehbare Zeit Anlass zur Hoffnung, dass man wirkungsvolle Hilfe leisten kann? Hindemith hat das in Deutschland während 5 Jahren versucht, aber es scheint, dass sein Vertrauen erschöpft ist. Ich – aber das ist meine ausschließlich private Haltung – habe keine Hoffnung. Gewisse Arbeiten (noch wenigstens für ein Jahr lang) kann ich nur hier fortführen, weil sie auf Museumsmaterial angewiesen sind. Andererseits sehe ich 38 Willy Strecker an Paul Hindemith, 16. März 1937. 39 Zitiert nach Hindemith, „Das private Logbuch“, S. 357.

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nirgends ein Land, wohin es der Mühe wert wäre auszuwandern, wenn ich mehr als einfaches Weiterwursteln wollte. Vorläufig bin ich völlig ratlos, obwohl mein Gefühl mir sagt, dass jeder, der kann, weggehen sollte. Aber ich will andere nicht in dieser Richtung beeinflussen.40

Hindemith hat den Teufelskreis dieser Ratlosigkeit mit dem Entschluss zur Emigration 1938 endlich durchschlagen und konnte Anfang 1939 in einem Brief an Gertrud Hindemith resümieren: „Ich denke mir, wie schrecklich es geworden wäre, wenn man auch in diesem kastrierten Zustand von machtlosem Geschehenlassen und allzu fein versteckter Auflehnung versunken wäre. Seien wir froh, dass wir uns davon freigemacht haben und hoffen wir, dass wir uns auch weiterhin immer dieser Freiheit erfreuen!“41 Eine Freiheit, die ihm die Zwangsjacke der von der Reichsmusikkammer bestimmten NS-Kulturpolitik nicht mehr gestattete.

40 Andreas Traub, Bartóks Gedanken zur Emigration. Ein verschollen geglaubter Brief von Béla Bartók an Sándor Veress, in: Dissonanz 74 (2002), S. 26f. 41 Zitiert nach Hindemith, „Das private Logbuch“, S. 323.

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„Der Taktstock als Waffe“

Zum Kriegseinsatz deutscher Dirigenten Oliver Bordin Wenn man so will, ist die höchste Dirigierkunst die zu wissen, wann man nicht dirigieren sollte.1 (Herbert von Karajan) Große Hochachtung bringt der Führer Furtwängler entgegen. Er hat sich in nationalen Fragen tadellos benommen; das werden wir ihm nach dem Kriege nicht vergessen. Der Führer hat auch angeordnet, daß ihm ein Bunker gebaut wird. Es wäre für ihn, so sagt er, eine schreckliche Vorstellung, daß Furtwängler einem Bombenangriff zum Opfer fallen könnte.2 (Goebbels-Tagebücher – 4. März 1944)

Zu Beginn seines Standardwerks Die mißbrauchte Muse stellte Michael Kater eine wesentliche Frage: „Wenn klassische Musik im Dritten Reich stattfand [...], in wessen Auftrag gab es sie, und in wessen Interesse lag sie?“3 Die Aufarbeitung dieses Diskurses stellt nicht allein ein vielschichtiges Forschungsproblem dar, sondern sie sollte auch Gegenstand erinnerungskultureller Arbeit sein – spielte die sogenannte Klassik als Kunstform und Medium für die fragmentarische ästhetische Weltanschauung des Dritten Reiches doch eine ausnehmend exponierte Rolle,4 die ex post auf das historische Bewusst1 Richard Osborne (Hg.), Herbert von Karajan, Dirigieren – das ist vollkommenes Glück, München 1990, S. 128. 2 Ralf Georg Reuth (Hg.), Joseph Goebbels. Tagebücher, Bd. 5: 1943–1945, München 2 1992, S. 2013. 3 Michael Kater, Die mißbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, dt. Ausg. München 1998, S. 15. 4 Siehe hierzu unter anderem Albrecht Riethmüller, Vorwort, in: derselbe (Hg.), Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, Stuttgart 2006, S. 7–10.

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sein unweigerlich rückkoppelte. Letzteres gilt besonders für die symphonische Musik und deren Protagonisten in den 1930er und 1940er Jahren, als einem Bereich, der sich seit Kriegsende mit einem Paradigma unmittelbar in Reibung befand, das Aleida Assmann wie folgt beschrieb: „Solange das Tätergedächtnis in ein selbstbezügliches nationales Gedächtnis eingeschlossen bleibt, werden sich die Externalisierungsstrategien der Schuldabwehr und die heroischen Werte der Ehre und des positiven Selbstbildes immer wieder gegen die Annahme eines negativen Gedächtnisses versperren.“5 Gegenüber jenem primär auf selektivem Vergessen beruhenden Verarbeitungsmuster verzeichnete Assmann einen von ihr jüngst als „ethische Erinnerungskultur“6 klassifizierten erinnerungspolitischen Wandel. Diesen führte sie sowohl auf ein neues „Bewusstsein für die transgenerationellen Langzeitfolgen traumatischer Geschichtserfahrung“ als auch eine „Globalisierung des Gedächtnisses“ zurück. Einzelnationen, so Assmanns These, können vor dem Hintergrund der stetig wachsenden transnationalen Verflechtungen „ihre mythisierenden Selbstbilder und Erinnerungskonstruktionen […] nicht mehr so unselbstkritisch aufrechterhalten“ sowie sich ferner „immer weniger leisten, die Opfer ihrer eigenen Geschichte zu vergessen.“7 Auch wenn die psychologisierenden, dem Konzept „therapeutischer Kulturwissenschaft“ verpflichteten Deutungen Assmanns mit gewisser Vorsicht gehandhabt werden sollten,8 umreißt der oben geschilderte Gedanke eine Problematik, von der Musikwissenschaft und Musikkultur in hohem Maße betroffen sind. Der im Grunde bis heute als apodiktisch empfundene Widerspruch zwischen „sauberer“ respektive „erhabener“ Kunst und der hässlichen politischen Realität des Nationalsozialismus mag dabei eine gewisse Rolle gespielt haben. Ungleich relevanter erscheint indes ein verklärend-apotheotischer Umgang mit Künstlerlegenden, die qua mutmaßlicher Unsterblichkeit als unantastbar gelten. 5 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 112. 6 Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 32. 7 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit , S. 114ff. 8 Siehe hierzu Cornelia Siebeck, „In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar“? – Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Assmannschen Gedächtnisparadigma, in: René Lehmann et al. (Hg.), Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und Kulturwissenschaftliche Analysen, Wiesbaden 2013, S. 78f.

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Wie weit dieses Denken in der Vergangenheit tatsächlich reichte, zeigt sich unter anderem daran, dass Fred Prieberg sich in seinem Furtwängler-Buch keineswegs zu schade war, Angriffe gegen den großen Dirigenten als Verschwörung eifersüchtiger und künstlerisch zweitrangiger jüdischer Exilanten darzustellen.9 Bedenkt man den anklägerischen Habitus seiner Schriften, respektive seinen Umgang mit mutmaßlichen „Geschichtsfälschern“ im Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945,10 erscheint die Distanz zwischen Priebergs moralischen Ansprüchen an andere Autoren und dem eigenen Handeln bezeichnend: Ein derart unreflektierter Antagonismus zwischen dem einsam strahlenden deutschen Genie Furtwängler und ihm diese künstlerische Größe neidenden, internationalen Juden irritiert und weckt dunkle Erinnerungen an die kulturpessimistischen Auslassungen eines Richard Wagner, für den es, wie man weiß, keine jüdischen Komponisten gegeben hatte, solange die Musik eine vor vitaler (germanischer) Energie strotzende Kunst gewesen sein soll.11 Funktionale, Opfer- und Täterrollen vertauschende Argumentationsmuster zeugen von der Notwendigkeit einer Problematisierung musikkultureller Geschichtsbilder und Erinnerungsmuster. Peter Cornelißen etwa betonte hinsichtlich des heutigen Unterrichts an Schulen und Universitäten, dass „[a]n die Stelle eines vielerorts leer laufenden Erinnerungsimperativs […] letztlich das Ziel der Bildung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins […] rücken“ müsse.12 Neben einem allgemeinen Verständnis für die Historizität von Erinnerung und deren Textualisierung sowohl in historiographischen Schriften als auch archivarischen Quellen erfordert die Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsbe9 Fred K. Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 12f.: „[W]aren es nicht die im Reich verbliebenen Musiker ganz generell, die es fertiggebracht hatten, ihre ehemaligen jüdischen Kollegen vergessen und überflüssig zu machen? So weit diese ‚Verräter‘ prominent genug waren, verbat sich ein Angriff gegen ihre künstlerische Qualität. Es reichte indessen hin, sie als Lakaien Hitlers zu denunzieren. Beliebteste Zielscheibe dieser Kampagne des Hasses: Wilhelm Furtwängler.“ 10 Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, CD-R, Kiel 2004. 11 Siehe hierzu u. a. Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen Bd. 5, Leipzig 31897, S. 66–85. Für wertvolle Einblicke in Rara aus dem Nachlass Dieter Lorenz dankt der Verfasser der Familie. 12 Christoph Cornelißen, Der Beitrag von Schulen und Universitäten zu Erinnerungskulturen, in: Peter Gautschi und Barbara Sommer Häller (Hg.), Der Beitrag von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen, Schwalbach 2014, S. 33.

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reich „Musikleben und -kultur im Dritten Reich“ eine breite Perspektivierung, die im Idealfall nebengeordnete Felder wie Musikverlagswesen, Rundfunk, Phonoindustrie, Orchestermanagement, Musikkritik und -literatur, musikalische Bildung (insbesondere an den Konservatorien) sowie die musikpolitischen Aktivitäten von Propagandaministerium (RMVP), Amt Rosenberg und der SS gleichberechtigt miteinschließt. Wenn im Folgenden ein kleiner Beitrag zum Themenkomplex der „deutschen“ klassischen Musik im Krieg geliefert werden soll, sind im Grunde alle oben aufgezählten Bereiche zu berücksichtigen, selbst dann, wenn sie nicht explizit genannt werden, figurieren diese Akteure doch in Verbindung mit der kompositorischen und performativen musikalischen Praxis ein komplexes – keineswegs unsichtbares – Netzwerk, das nur solange es nicht als solches erkannt wird, für den wissenschaftlichen Beobachter eine Blackbox darstellt. Im Mittelpunkt dieses Beziehungsgeflechts steht die Reichsmusikkammer als soziales Gleichschaltungs- und Ausgrenzungswerkzeug, das die Existenz einer unpolitischen oder gar unrassischen Musik grundsätzlich negierte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Rassismus und Kultur nicht – wie man aus heutiger Sicht vermuten könnte – Gegensätze darstellten, sondern eine selbstaffirmative Einheit bildeten. Andreas Strippel konstatierte vor dem Hintergrund der NS-Volkstumspolitik über diese Beziehungen, dass „[k]ultureller Distinktionsgewinn […] schon immer ein Bestandteil von Rassismus“ gewesen sei und „Reinheitsvorstellungen sowohl der Abwehr des Anderen als auch der Normierung des Eigenen“ gedient hätten. In der Folge, und das ist bekannt, wurde in der ideologischen Musiktheorie jeder Takt und jede Note an der eschatologisch-bipolaren Weltsicht des Nationalsozialismus gemessen und musikalische Äußerung entweder als germanisch, respektive urmusikalisch, klassifiziert oder als artfremd, volksfremd, jüdisch bzw. bolschewistisch verfolgt und aussortiert.13 Die laufenden Personendiskurse zu Protagonisten wie Richard Strauss, Wilhelm Furtwängler, Werner Egk oder Heinz Drewes sind vor diesem Hintergrund zweifelsohne notwendig, sie stellen indes nur die Spitze des Eisberges dar. 13 Zu den quasireligiösen Dimensionen dieses Schwarz-Weiß-Denkens siehe die in ihrer Konsequenz mutige Studie von Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998.

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Zeichnet man die Interaktion von Größen wie Strauss, Pfitzner, Furtwängler oder auch Hans Knappertsbusch mit den tiefenstrukturellen Prozessen der nationalsozialistischen Kulturpolitik systematisch nach, spielt neben der Ideologisierung und Rassifizierung musikalischer Werke und der Klangkörper, welche sie aufführten, das Motiv der politischen Vereinnahmung eine zentrale Rolle – egal ob diese mit oder gegen Einverständnis der Betroffenen stattfand. Joseph Goebbels, von jeher vom Wunsch erfüllt, sich als Kultusminister in Szene zu setzen,14 war im Zuge dessen nicht nur bestrebt, in den Vorgang des musikalischen Schaffens einzugreifen, sondern machte – wie Gerhard Splitt in seiner Strauss-Monographie treffend zusammenfasste – auch das Privatleben, die persönliche „Lebensführung“ von Künstlern zum Objekt „staatspolitischer Normen“.15 Dieses Ziel wurde von anderen NS-Instanzen flankiert. Komponisten, Dirigenten und Musiker waren damit aus Sicht des nationalsozialistischen Staates keine Künstler im uns geläufigen Sinne mehr, sondern sie waren kulturelle ‚Soldaten‘. Kann man mit solchen Soldaten Krieg führen? Die Idee, performative musikalische Akte als Teil eines nach eigenem Anspruch total geführten Weltkrieges zu begreifen, erscheint aus heutiger Sicht grotesk. Im zum totalen Krieg gehörenden totalen Staat des Dritten Reichs, der den Wert von Musik primär an den Kriterien Rassenreinheit und funktionsästhetische Nutzbarkeit maß, war diese Auffassung hingegen ganz selbstverständlich, was sich insbesondere am Diskurs zur Musikpolitik selbst zeigt, der nach 1945 vor allem durch das gleichnamige Kapitel in den Quellenkompilationen Joseph Wulfs angestoßen wurde.16 Die große Bedeutung der Politisierung von Musik für das NS-Regime wird hier besonders greifbar anhand eines Ausschnitts aus der 1944 erschienenen Zweitauflage des Buchs Musik 14 Siehe hierzu Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945, Frankfurt am Main 2012, S. 50ff. Siehe auch Goebbels-Tagebücher Band 2, S. 759f. Nachdem der Propagandaminister am 1. Februar 1933 noch in der Hoffnung schwelgte, Bernhard Rust werde sein „Statthalter im Kultusministerium“, hatte Hitler am 3. des Monats für Faits Accomplis gesorgt: „Man übergeht mich mit eisigem Boykott. Nun bekommt Rust den Kultus. Ich schaue in den Mond. Das ist so deprimierend. Ich mag garnicht [sic] mehr daran denken.“ 15 Gerhard Splitt, Richard Strauss 1933–1935. Ästhetik und Musikpolitik zu Beginn der Nationalsozialistischen Herrschaft, Pfaffenweiler 1987, S. 2. 16 Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1989, S. 139–151.

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im Volk, das aus der Feder des heute weitestgehend unbekannten Musikreferenten der Reichsjugendführung, Wolfgang Stumme, stammte. Dort wurde unter anderem bemerkt: „[W]enn der Begriff Musikpolitik nicht schon vor einem Menschenalter geprägt worden wäre, hätte er im Laufe des vergangenen Jahrzehnts in Deutschland entstehen müssen.“;17 eine Überhöhung der braunen „Begrenzung“ musikalischer Kunst, die Stumme im Weiteren mit implizitem Verweis auf die Reichsmusikkammer fortführte: Was aber die nationalsozialistische Musikpolitik […] im Besonderen auszeichnet, ist die Tatsache, dass die erste Verwirklichung musikalischer Forderungen durch ein Staatswesen dargestellt und nicht nur Ruf und Programm des einzelnen bleibt. Musikpolitik bedeutet uns heute: Einsatz der Musik als volksbildende und staatserhaltende Lebensmacht und Förderung des Schutzes und vor allem des Wachstums der deutschen Tonkunst als blutgebunden-seelischer [sic] Ausdrucksform und demgemäß als eines Mittels höherer Erkenntnis und höherer Entwicklung unserer Rasse. Musikpolitik ist somit – wie selbstverständlich die gesamte Kunstpolitik – eine wesentliche Teilaufgabe der politischen Volks- und Menschenführung.18

Berücksichtigt man sowohl die rassistischen als auch die massenpsychologischen Prämissen, mit denen NS-Ideologen operierten, wird deutlich, dass der Weg von der Musikpolitik zum Musikkrieg nicht weit war, wobei in Abweichung vom bekannten Clausewitz’schen Bonmot die „Mittel“ die gleichen blieben – ein Konzert bleibt ein Konzert, egal für wen und mit welcher Motivation es dargeboten wird. Wie tief der Gedanke vom „Taktstock als Kriegswaffe“ dabei realiter im nationalsozialistischen Denken verankert war, zeigt ein mit Geheimvermerk versehener Bericht des Sicherheitsdienstes der SS (SD), der als Abschrift in der Korrespondenz des Leiters der Musikabteilung im Amt Rosenberg, Herbert Gerigk, erhalten ist.19 Das mit „Stellungnahme zur Frage des Einsatzes 17 Wolfgang Stumme, Musik im Volk, Berlin 1944, zit. nach ebenda, S. 139. 18 Ebenda. 19 Unterlagen des Leiters des Amtes Musik Bereichsleiter Dr. Gerigk, in: Bundesarchiv [BArch] Berlin-Lichterfelde NS 15/73 [im Folgenden zitiert als Stellungnahme]. Der Verfasser dankt stellvertretend für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesarchivs Sven Scholz herzlich für die tatkräftige Unterstützung seiner Recherchen. Zu Gerigk siehe auch den Artikel in Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2005,

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der deutschen Musik im Ausland“20 überschriebene Dokument gewährt tiefe Einblicke in nationalsozialistisches Denken über Musik und soll daher im Folgenden vor- und damit zugleich neu zur Diskussion gestellt werden. Im Fokus stehen dabei vorrangig drei Fragen: 1. Welche Hoffnungen und Ziele verbanden die beteiligten NS-Instanzen mit dem „Einsatz der deutschen Musik“ im Krieg? 2. Wie ist vor diesem Hintergrund das Engagement der beteiligten Musiker, besonders der Dirigenten, moralisch zu bewerten? 3. In welchem Zusammenhang stehen die geschilderten Sachverhalte mit Goebbels’ Reichsmusikammer?

Vorbemerkungen zur Quelle Betrachtet man das Schreiben, fällt zunächst der Absender auf. Dieser war niemand Geringerer als der „Chef der Sicherheitspolizei und des SD Amt III“, in anderen Worten: das Reichssicherheitshauptamt (RSHA).21 Die musikpolitische Stellungnahme, die im Folgenden kommentiert werden soll, stammt somit von einer zentralen und einschlägig berüchtigten Stelle in Heinrich Himmlers und Reinhard Heydrichs Polizei- und Terrorapparat. A priori sind einige Anmerkungen zur Quelle anzubringen: Die für das Amt Musik angefertigte Abschrift ist auf den 27. Dezember 1934 datiert. Bei der Jahreszahl handelt es sich jedoch um einen offensichtlichen Zahlendreher, da das RSHA erst im September 1939 gegründet wurde. Auch werden im Text ausschließlich Sachverhalte diskutiert, die sich zwischen 1941 und 1943 abgespielt haben. Dieses Detail ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil der Absender „SD Amt III“ im Laufe der Zeit für unterschiedliche Dienststellen stand: Handelte es sich bis März 1941 um den Auslands- und Abwehrgeheimdienst der SS, wurde dieser im Zuge einer Umstrukturierung zum neuen Amt IV. Als Amt III firmierte seither die Abteilung „Deutsche Lebensgebiete – SD-Inland“ unter dem (wie Himmler S.  179f. sowie Prieberg, Handbuch, S. 1984–2050. Siehe auch diverse Stellen in Pamela M. Potter, Most German of the Arts, Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler’s Reich, Yale 1998. 20 Stellungnahme, S. 1. 21 Ebenda.

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ihn spöttisch nannte) „Gralshüter des Nationalsozialismus“ Otto Ohlendorf.22 Was genau der Auslöser für den SD-Bericht war und wer ihn aus welcher Motivation heraus angefordert hat, ist schwer abschätzbar. Da Herbert Gerigk das Schreiben nur als Zweitleser über Rosenbergs „Amt Außendienst und Berichterstattung“ erhalten hat,23 erscheinen hier zwei Varianten möglich: So wäre zunächst denkbar, dass das Rosenberg-Lager die SS um ein Statement zu deutschen Symphoniekonzerten in den besetzten Gebieten gebeten hatte, um die entsprechenden Äußerungen für eigene Propagandazwecke einsetzen zu können. In Betracht zu ziehen wäre aber auch das Anliegen, sich in Kriegszeiten über musikpolitische Grundsatzfragen auszutauschen, um kriegspropagandistisch an einem Strang ziehen zu können. Ob Gerigk als einer „der blutrünstigsten Autoren der nationalsozialistischen Musikwissenschaft“24 den Bericht selbst in Auftrag gegeben hatte, respektive was er mit den darin enthaltenen Informationen anzufangen wusste, ist unklar. Ähnlich wie Reinhard Bollmus dies für die wissenschaftspolitischen Interventionsbemühungen des Amtes Rosenberg skizzierte, lässt sich schließlich auch im musikpolitischen Bereich eine Divergenz zwischen „verhängnisvolle[r] Wirkung“25 und realer machtpolitischer Schwäche verzeichnen. Tatsächlich ist über die Herkunft und Autorschaft des Schreibens nichts bekannt. Der direkt unter dem gesperrten Hinweis „G e h e i m!“ zu findende Zusatz „Sd-Bericht [sic] zu Inlandsfragen“ belegt jedoch, dass die vorliegende Stellungnahme zu einer ursprünglich Meldungen aus dem Reich genannten Reihe gehört, in der Spitzelberichte als nachrichtendienstliche

22 Zur Geheimdienst-Karriere Ohlendorfs und seiner Täterschaft als Leiter der Einsatzgruppe D siehe unter anderem David Kitterman, Otto Ohlendorf. „Gralshüter des Nationalsozialismus“, in: Ronald Smelser und Enrico Syring (Hg.), Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, Paderborn 2000, S. 379–393 sowie Klee, Personenlexikon, S. 443. 23 BArch NS 15/73. 24 Ulrich Drüner und Georg Günther, Musik und „Drittes Reich“, Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen der Nationalsozialismus in der Musik, Wien 2012, S. 42. 25 Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner, Studien zum Machtkampf im Nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 9.

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„Meinungsforschung“ für die inneren Machtzirkel des NS-Systems mehrmals wöchentlich zusammengestellt wurden.26 Für die damit verbundene geheime Auswertung von „Alltagssorgen, Gerüchte[n], politische[n] Meinungsäußerungen der ‚Volksgenossen‘“27 war Ohlendorf nach Gründung des RSHA gezielt ausgewählt worden, da er als unbequem galt und somit gesichert schien, dass er auch unangenehme Informationen in ungeschönter Offenheit weiterleiten würde.28 Dabei bediente er sich, laut eigener Aussage im Nürnberger Prozess, eines Überwachungsnetzwerks von rund 30.000 Verbindungsleuten,29 von denen jeder wiederum über eigene Informanten verfügt haben dürfte; die Dunkelziffer an inoffiziellen Informationszuträgern und Denunzianten ist kaum abzusehen. Dass sowohl Ohlendorf als auch sein SS-interner Förderer Reinhard Höhn30 den SD als „Korrektiv der NS-Diktatur“31 sahen, musste zwangläufig zu Spannungen mit den Parteidienststellen führen – war die mit diesem Sendungsbewusstsein verbundene Schonungslosigkeit bei den Eliten des Dritten Reichs doch keineswegs erwünscht, was, wie Heinz Höhne zusammenfasste, für den Reichsführer-SS auf Dauer zum Problem wurde: Vor allem ein Mann dachte anders über die Partei, einer, in dem sich die ganze Schizophrenie der SS-Intellektuellen am wunderlichsten widerspiegelte: Er konnte in einem Zug ein Riesenheer von Spitzeln dirigieren und von einer Ablösung der Partei durch einen Kulturorden nationalsozialistische Edelinge träumen. Himmlers

26 Siehe die umfangreiche Edition von Heinz Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Bände 1–17, Herrsching 1984. 27 Michael Wildt, Einleitung, in: derselbe (Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003, S. 18. 28 Siehe hierzu unter anderem Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1976, S. 198. 29 Wildt, Einleitung, S. 18. 30 Zur Bedeutung Höhns siehe unter anderem den entsprechenden Artikel bei Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 6), S. 76. Siehe auch Ausführungen in: Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 13), Stuttgart 1966, S. 880f. 31 Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf, S. 217.

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Unglück wollte, daß dieser Mann an der Spitze des Inland-SD stand: Otto Ohlendorf.32

Vor dem Hintergrund dieser Konflikte wundert es kaum, dass Martin Bormann verhindern wollte, die als defätistisch geltenden SD-Berichte Hitler zur Kenntnis zu geben. Auch Himmler hatte zu den in seinem Auftrag erstellten Meldungen ein zwiespältiges Verhältnis,33 gab manches der Papiere aus der Abteilung des „intellektuellen“34 Ohlendorf zerrissen zurück, ohne auf diese Arbeit wirklich verzichten zu können, da, wie David Kitterman resümierte, „[n]ach dem katastrophalen ersten Winter des Russlandfeldzuges […] das schwindende Vertrauen der Bevölkerung offenkundig“35 war. Nachdem die Zahl der Meldungen unter dem Vorzeichen von Stalingrad drastisch eingeschränkt worden war, verursachte eine, offenkundig von der Selbstwahrnehmung des Propagandaministers abweichende, kritische SD-Beurteilung der berühmten Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 schließlich einen Eklat. In der Folge wurden die Papiere umbenannt in Berichte zu Inlandsfragen und der Empfängerkreis – bei gleichzeitigem Ausbau der polizeilichen Zuständigkeiten des SD – restriktiv eingeschränkt.36 Dieser kontinuierliche Kompetenzwechsel setzte sich ab 1943 im Zuge von Himmlers Ernennung zum Reichsinnenminister fort, sodass die Berichte schließlich verboten wurden, um das Verhältnis des Reichsführer-SS zu Martin Bormann nicht unnötig zu belasten.37 Der vorliegende Bericht stammt aus der für Kulturbelange zuständigen SD-Amtsgruppe III C, die von Wilhelm Spengler geleitet wurde. In dieser existierte ein Unterreferat III C 3 für „Volkskultur und Kunst“, für das Hans Rößner38 zuständig war – wie Spengler hochrangiger SS-Funktionär und 32 Ebenda, S. 389. 33 Ebenda, S. 219f.: „Anfangs hatten dem Reichsführer-SS die präzisen Ohlendorf-Berichte gefallen; als die Partei aber immer argwöhnischer wurde, rückte der opportunistisch-vorsichtige Himmler von dem SD-Mann ab, zumal ihm die steifbelehrende Art dieses ‚Gralsritters des Nationalsozialismus‘ (Himmler) missfiel.“ 34 Michael Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches (Studien zur Zeitgeschichte 6), München 21997, S. 345. 35 Kitterman, Otto Ohlendorf, S. 384–387. 36 Kater, „Ahnenerbe“, S. 345 sowie Kitterman, Otto Ohlendorf, S. 387f. 37 Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf, S. 394. 38 Zu Rößners Vita siehe die ausführliche biographische Skizze bei Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes,

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von Haus aus Germanist. Im Unterschied zu seinem Vorgesetzten, der durch eine Beteiligung an Himmlers Hexen-Sonderauftrag, Partisanenbekämpfung an der Ostfront sowie seinem Nachkriegsengagement für die Stille Hilfe, einer Organisation zur Unterstützung von NS-Kriegsverbrechern eindeutig und kontinuierlich exponiert war,39 gehörte Rößner zu den unscheinbareren Vertretern des RSHA und korrespondierte später für den Piper-Verlag als unerkannter NS-Täter unter anderem mit Hannah Arendt.40 Ebenso unauffällig wie Rößner selbst wirkte dessen Mitarbeiter, SS-Hauptsturmführer Heinz Nagel, Musikbearbeiter im Reichssicherheitshauptamt und Kulturreferent in den SD-Unterabschnitten Allenstein sowie ab 1940 Frankfurt am Main. Über Nagel ist abgesehen von wenigen Eckdaten in Priebergs Handbuch so gut wie nichts bekannt.41 Dass es sich bei ihm um den Verfasser der Stellungnahme handelt, kann indes als wahrscheinlich gelten, da sich zumindest vereinzelt Korrespondenz zwischen ihm und Rosenbergs Amt Musik nachweisen lässt: So bat Nagel am 27. Februar 1944 Herbert Gerigk um ein Gutachten zu Peter Raabes Abhandlung Wege zu Weber.42 Von der Tatsache abgesehen, dass Wilhelm Spengler als mutmaßlicher geheimpolizeilicher Verfolger des in der geisteswissenschaftlichen Abteilung des Reichserziehungsministeriums tätigen Ministerialrats Herman-Walther Frey am Rande eines weiteren musikwissenschaftlich relevanten Diskurses begegnet,43 ist über mögliche Kontakte zwischen dem SD Amt III C, den Hamburg 2002, S. 386ff. sowie Grüttner, Biographisches Lexikon, S. 141f. und Klee, Personenlexikon, S. 504. 39 Zu Spenglers Vita siehe Grüttner, Biographisches Lexikon, S. 163f. sowie Klee, Personenlexikon, S. 591. 40 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 799: „Hannah Arendt indessen hat nie erfahren, mit wem sie in all den Jahren vertrauensvoll korrespondierte“. Siehe auch Michael Wildt, Korrespondenz mit einem Unbekannten. Hannah Arendt und ihr Lektor, SS-Sturmbannführer Dr. Hans Rößner, in: Lutz Hachmeister und Friedemann Siering (Hg.), Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München 2002, S. 238–261. Zu Rößners Nachkriegskarriere als Verlagsleiter beim Insel Verlag und bei Piper siehe Gerd Simon, Germanistik und Sicherheitsdienst, in: Wildt, Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit, S. 198. 41 Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 4790f. 42 Ebenda, S. 2036f. 43 Siehe Oliver Bordin, Herman-Walther Freys wissenschaftspolitische Bedeutung – eine Skizze, in: Herman-Walther Frey: Ministerialrat, Wissenschaftler, Netzwerker – NS-Hochschulpolitik und die Folgen, hg. von Michael Custodis (= Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 2), Münster 2014, S. 116–119.

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Ämtern für Wissenschaft und Volksbildung des Rust-Ministeriums sowie den Musikabteilungen der Häuser Goebbels und Rosenberg wenig bekannt. Vor dem Hintergrund, dass die Akteure Rößner und Spengler in der bisherigen Forschungsliteratur zur NS-Musikpolitik nicht berücksichtigt wurden, kommt der möglichen Urheberschaft Nagels großes Interesse zu, insbesondere weil Spenglers Abteilung in der Forschung bisher vorrangig als „Germanisten-Nest“44 klassifiziert worden ist. Aufgrund fehlender Herkunftsnachweise spielt die Autorenfrage des SD-Berichts nur eine nachgeordnete Rolle, da hinsichtlich der Fragen zur Reichsmusikkammer, die der vorliegende Tagungsband stellt, die fassbaren institutionellen Vorgänge und ideologischen Aussagen innerhalb des Berichts bereits ausreichend Ansatzpunkte liefern. In diesem Zusammenhang muss ferner darauf hingewiesen werden, dass das Papier an diesem Ort nicht zum ersten Mal behandelt, sondern nach Kenntnisstand des Verfassers erstmals beiläufig von Prieberg im Karajan-Artikel des Handbuchs Deutsche Musiker 1933–1945 erwähnt wurde.45 In größerem Umfang thematisiert wurde das Dokument von Fritz Trümpi in dessen 2011 erschienener Studie zur Geschichte der Wiener und Berliner Philharmoniker.46 Da der Inhalt des Schreibens dort keineswegs erschöpfend kommentiert und insbesondere auf den brisanten Absender des Berichts nicht eingegangen wurde, erscheint es sinnvoll, jene Stellungnahme zur Frage des Einsatzes der deutschen Musik in den Kontext derjenigen diskursiven Vorzeichen zu rücken, in den sie eigentlich gehört, nämlich die übergeordneten Themenkomplexe „Zweiter Weltkrieg“ und „Reichsmusikkammer“.

Die „Stellungnahme zur Frage des Einsatzes der deutschen Musik im Ausland“ Aufhänger des SD-Berichts war eine „Konzertreise, welche die Berliner Philharmoniker im Oktober dieses Jahres [sc. also 1943] nach Bukarest, Kronstadt, Budapest und Agram [sc. Zagreb] führte“.47 Über diese Kriegskonzerte 44 Simon, Germanistik und Sicherheitsdienst, S. 191. 45 Prieberg, Handbuch, S. 3560. 46 Fritz Trümpi, Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus, Wien 2011, S. 293ff. 47 Stellungnahme, S. 1.

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ist generell wenig bekannt und es finden sich in der Literatur nur vereinzelt ungenaue Hinweise dazu. Dies gilt auch für die Lexika von Ernst Klee und Prieberg, in deren Personenartikeln zum Dirigenten Hermann Abendroth die Reise jeweils vermerkt ist.48 Eines der Konzerte ist jedoch durch eine Fotoserie dokumentiert, deren Negative im Freiburger Staatsarchiv im Nachlass des Fotografen Willy Pragher liegen.49 Über die Balkan-Reise allgemein heißt es im SD-Bericht, sie hätte „nicht nur in Musikkreisen, sondern weiter hinaus bei vielen kulturpolitisch interessierten Persönlichkeiten zu lebhaften Meinungsäusserungen“ geführt. Ferner wird angemerkt, „die Balkanreise der Berliner Philharmoniker“ habe „den Ausgangspunkt für eine Reihe von grundsätzlichen Stellungsnahmen zur Frage des Einsatzes der deutschen Musik im Ausland“50 gebildet. Namen werden nicht genannt. Welche „kulturpolitisch interessierten Persönlichkeiten“ für die Position der SS hier maßgebend waren, ist somit im wahrsten Sinne des Wortes Geheimsache. Ähnliches gilt für die persönliche Identität des Verfassers oder der Verfasser. Dies mag indes nicht sonderlich verwundern, wenn man bedenkt, dass das SD-Amt III eigentlich nicht für Kulturpolitik, sondern für wesentlich delikatere Belange zuständig war. Entsprechend charakterisierte Michael Wildt das RSHA als „spezifisch nationalsozialistische Institution neuen Typs“, die als „konzeptionelle[r] wie exekutive[r] Kern einer weltanschaulich orientierten Polizei […] auf rassische ‚Reinhaltung‘ des ‚Volkskörpers‘ sowie die Abwehr und Vernichtung der völkisch definierten Gegner“51 ausgerichtet war. Was machte ausgerechnet Symphoniekonzerte für diese, der SS verbundenen und in der Wahl ihrer Methoden keineswegs zimperlichen Geheimdienstleute interessant? Dem Bericht lässt sich hierzu entnehmen: Unter Berücksichtigung der erheblichen Schwierigkeiten sowohl personeller, materieller, organisatorischer und verkehrsmässiger Art, die unter den heutigen Verhältnissen besonders schwer ins Gewicht fallen, gehört die Balkanreise der Berliner 48 Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2007, S. 9: „1943 zwecks Kulturpropaganda Konzerte in Krakau, Bukarest, Budapest und Agram (Zagreb)“ sowie Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 49. 49 Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, Sammlung Willy Pragher I: Rumänienbilder Bühne (Filmnegative, Ordner 286). 50 Stellungnahme, S. 1 (Unterstreichungen im Original). 51 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 13.

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Philhamoniker zu großzügigsten und umfangreichsten Veranstaltungen der deutschen Kulturpolitik während des Jahres 1934 [recte: 1943]. Im Gegensatz zu anderen großangelegten Unternehmungen dieses Jahres, wie der Konzertreise der Wiener Philharmoniker nach Schweden oder dem Gastspiel der Berliner Staatsoper in Lissabon, hat die Balkanreise der Berliner Philharmoniker sowohl hinsichtlich ihrer Vorbereitung als auch ihres kulturpolitischen Erfolges zahlreiche kritische Stimmen ausgelöst.52

Diese Aussage ist insofern bemerkenswert, als sie die erwähnte Balkanreise nicht nur formal mit dem übergeordneten Kriegszusammenhang kontextualisiert, sondern darüber hinausgehend an militärischen Faktoren – Personal, Material, Verkehrsmittel und „Feindwirkung“ – bemisst. Verfasserintention war es dabei offensichtlich, vor dem Hintergrund dieser kriegerischen Ratio auf ein Missverhältnis zwischen Aufwand und Effizienz hinzuweisen. Dies zeigt sich insbesondere im nachfolgenden Satz, in dem es zu den erwähnten „kritischen Stimmen“ heißt: „Die erstrebte positive Beeinflussung werde [...] in ihr Gegenteil verkehrt.“ In einer Zeit, in der die Feuilleton-Metapher des deutschen Orchesters, dass ausländische Städte „erobert“, einen eigenwilligen Beiklang hatte,53 verdeutlicht dies das eigentliche Interesse der SS: Es geht um positive Beeinflussung, um die Vereinnahmung anderer Völker für Kultur und Kriegsziele des expansiven Dritten Reiches. Dies bestätigt die Kernthese Misha Asters, das „Berliner Philharmonische Orchester“ habe „der deutschen Kulturpropaganda als eine nicht einmal geheime Waffe“ gedient, „die den jeweiligen Notwendigkeiten der Kulturkriege entsprechend eingesetzt wurde.“54 Jene Ansprüche mussten indes gar nicht von außen an das Orchester herangetragen werden, sondern entsprachen offensichtlich dem Selbstverständnis, mit dem Gerhart von Westermann als in Propagandafragen durchaus fachkundiger „Betriebsführer“ die Geschicke der Berliner Philharmoniker betreute.55 So äußerte Westermann 1940 in einem Über Geltung und

52 Stellungnahme, S. 1. 53 Siehe Trümpi, Politisierte Orchester, S. 295. 54 Misha Aster, Das Reichsorchester. Das Berliner Philharmonische Orchester und der Nationalsozialismus, München 2007, S. 282. 55 Westermann war zuvor von 1935 bis 1938 Abteilungsleiter für „Weltanschauung“ beim Kurzwellensender Berlin gewesen. Darüber hinaus war und blieb er durch seine vielfältigen Funktionen unter anderem in der Reichsrundfunkkammer und

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Einsatz deutscher Musik im Ausland betitelten Aufsatz für das von Wilhelm Ehmann und Friedrich Blume geleitete Organ Deutsche Musikkultur: Die Weltgeltung der deutschen Musik ist unbestritten. Diese allgemein anerkannte Vorherrschaft auf einem so wesentlichen Kulturgebiet beruht in allererster Linie auf der Bedeutung der klassischen deutschen Musik. Es ist ein feststehendes Phänomen, daß die entscheidende Entwicklung der Kunstmusik, wie wir sie in der klassischen Musik erkennen, fast ausschließlich eine Domäne deutschen Geistes war. […] Vor unserer klassischen Musik empfindet das gesamte Ausland Ehrfurcht, fast Scheu, die Werke unserer Meister werden als großartige Manifestation deutschen Geistes überall bewundert und gefeiert.56

In der Folge belegte Westermann diese ganz auf den Zeitgeschmack abgestimmte musikhistorische Deutung durch Beobachtungen zur abendländischen Musikgeschichte und dem europäischen Musikleben, um schließlich auf den Auslandseinsatz seines eigenen Orchesters sowie die Bedeutung der Reichsmusikkammer zu sprechen zu kommen: Nur das allerbeste, nur die führende Qualität deutscher Musik muß im Auslande herausgestellt werden, denn wir dürfen nicht übersehen, […] daß in der schaffenden und nachschaffenden Musik im Ausland Spitzenleistungen erreicht werden, denen wir ebenfalls Spitzenleistungen gegenüberstellen müssen, um unsere Vorherrschaft nicht nur zu erhalten, sondern immer weiter auszubauen. Die zentrale Musikorganisation im Reich ist dafür Bürge, daß keine Mittelmäßigkeit über unsere Grenzen hinausdringt, daß vielmehr bewußt und wohlüberlegt nur die wertvollsten Kräfte deutscher Musikkultur im Auslande herausgestellt werden. Es ist für mich nur zu naheliegend […], den so starken Auslandseinsatz des Berliner Philharmonischen Orchesters anzuführen. Das Berliner Philharmonische Orchester, seit der Machtübernahme das deutsche Reichsorchester, hat bereits seit Jahrzehnten immer wieder Auslandsreisen unter führenden deutschen Dirigenten durchgeführt. Von besonderer Bedeutung war dabei die Zusammenarbeit mit einem so genialen Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler, unter dessen Führung das Berliner Philhardem Ständigen Rat für die Internationale Zusammenarbeit der Komponisten gut mit dem RMVP vernetzt. Siehe Prieberg, Handbuch, S. 7718f. 56 Gerhard von Westermann, Über Geltung und Einsatz deutscher Musik im Ausland, in: Deutsche Musikkultur 6 (1941), Heft April/Mai, S. 1.

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monische Orchester sich den Ruf des europäischen Spitzenorchesters erwarb. […] Höchste Achtung und warme Begeisterung, das waren die Gefühle, die die Kriegskonzerte der Berliner Philharmoniker bei ihren ausländischen Zuhörern erweckten. Und die gleichen Gefühle wurden ausgelöst durch die Tatsache, daß ein Orchester von mehr als hundert zum allergrößten Teil noch jungen Musikern im Dienste der Kultur tätig sein kann in der Zeit der Hochspannung eines gigantischen Kampfes, an dem das ganze deutsche Volk beteiligt ist. So dokumentiert sich die Größe und Kraft Deutschlands auch in seinem Kulturwillen durch den lebensvollen Beweis, daß sein Kulturleben während des Krieges nicht nur uneingeschränkt weiterlebt, sondern in stetem Aufwärts und Vorwärts begriffen ist.57

Jene „Ehrfurchts-Strategie“ zielte freilich nicht auf alle Schichten, sondern explizit auf die ausländischen Eliten ab, sofern diese von den deutschen Besatzern überhaupt als würdig erachtet wurden. Hierbei ist zu beachten, dass für Joseph Goebbels und seine Untergebenen gerade in Osteuropa musik- und rassenpolitische Aspekte eng miteinander zusammenhingen – was sich etwa in dem Anspruch äußerte, dem polnischen Volk jede Form von Hochkultur grundsätzlich verbieten zu wollen.58 Der in den Gerigk-Papieren überlieferte SD-Bericht ist bezüglich des erwünschten Publikums explizit: „Wenn diese Beanstandungen auch nur in wenigen Kreisen laut werden, so handelt es sich aber gerade um die maßgeblichen und einflussreichen Persönlichkeiten, deren Gewinnung nicht zuletzt die Aufgabe solcher Veranstaltungen sei.“59 Tatsächlich war die Bespitzelung und Instrumentalisierung der höheren Schichten die eigentliche Geschäftsgrundlage des Sicherheitsdienstes, sodass diese Eliten-Fokussierung zunächst einmal nicht überrascht. Zur diesbezüglichen Arbeitsteilung zwischen Sicherheitsdienst und Gestapo bemerkte Carsten Schreiber, „die V-Leute des SD“ hätten „eine sinnvolle Ergänzung zu den Denunzianten und Agenten der Gestapo“ gebildet, da sie „in ganz anderen sozialen Schichten operierten.“60 Diese Beobachtung ist nicht zuletzt deshalb von einiger Bedeutung, da es zu den Markenzeichen des SD 57 Ebenda, S. 3f. 58 Zum Generalgouvernement siehe die ausführlichen Schilderungen in: Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 404ff. 59 Stellungnahme, S. 2. 60 Carsten Schreiber, „Eine verschworene Gemeinschaft“. Regionale Verfolgungsnetzwerke des SD in Sachsen, in: Wildt, Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit, S. 84.

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gehörte, Persönlichkeiten für seine Zwecke einzusetzen, die, wie Schreiber weiter ausführt, „ansonsten jede Zusammenarbeit als einen unter ihrem Niveau stehenden Spitzeldienst kategorisch abgelehnt hätten.“61 An der Stellungnahme aus den Gerigk-Papieren erscheint gerade aus musikwissenschaftlicher Sicht frappierend, dass sie es keineswegs beim politischen Diskurs belässt, sondern ästhetisch argumentiert. Angereichert mit Idealen, die Eckhard John als „Arsenal germanischer Kontinuitätsphantasien“ charakterisiert hat,62 wird die Kunstform Musik zur hyperpropagandistischen Wunderwaffe. Als Ursprung der damit zusammenhängenden Vorstellung, dass Musik einen realitätstrübenden Einfluss auf die menschliche Wahrnehmung habe, lässt sich dabei entfernt Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes [1918–1922] verorten: Eben darin beruht für uns Menschen der unnennbare Zauber der Musik und ihre wahrhaft erlösende Kraft, daß sie die einzige Kunst ist, deren Mittel außerhalb der Lichtwelt liegen, welche für uns längst mit der Welt überhaupt gleichbedeutend geworden ist, so daß Musik allein uns gleichsam aus der Welt herausführen […] und uns die süße Täuschung einflößen kann, […] eine Täuschung, die darauf beruht, daß der wache Mensch von einem einzelnen seiner Sinne beständig derart beherrscht ist, daß er aus den Eindrücken seines Ohres nicht mehr eine Welt des Ohres bilden kann, sondern sie nur noch seiner Augenwelt einfügt.63

Die im SD-Bericht repräsentierte Konzeption eines musikalischen Kriegseinsatzes steht allerdings für eine gänzlich neue Qualität, schienen dem Geheimdienst der SS doch noch abstrakteste Ideengebilde billig genug, mittels Musik auf die Psyche von Verbündeten und Feinden einzuwirken, um sie von der geistigen wie materiellen Überlegenheit der deutschen Kriegsmacht zu überzeugen. So heißt es in der Stellungnahme weiter:

61 Ebenda, S. 85. 62 Eckhard John, „Deutsche Musikwissenschaft“. Musikforschung im „Dritten Reich“, in: Anselm Gerhard (Hg.), Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikwissenschaft zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung, Stuttgart 2000, S. 258. 63 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Berlin 1978, S. 565.

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Durch einen planmäßigen Einsatz der deutschen Musik könne Deutschland im Ausland noch sehr starke Einflüsse ausüben [sic]. Von allen geistigen Schöpfungen der deutschen Kultur besitzt die Musik die weitaus stärkste Wirkung und bewähre ihre zwingende Kraft gerade in Zeiten politischer Spannungen, in denen alle Maßnahmen der Propaganda ihre Wirkung verlieren.64

In der Formulierung, „Deutschland könne noch sehr starke Einflüsse ausüben“, kommt dem auf den ersten Blick unauffälligen „noch“ eine hohe Bedeutung zu: Denn durch den Stalingradwinter 1942/43 sowie die Invasion auf Sizilien im Sommer 1943 deutete sich im Kriegsverlauf längst eine Wende an, die für das Dritte Reich nicht nur militärische, sondern auch außenpolitische Probleme generierte. Der SD-Bericht akzentuiert in diesem Kontext, in welcher Weise gerade die Auslandseinsätze des Berliner Philharmonischen Orchesters nicht nur für das Propagandaministerium, sondern auch für die SS als kulturpolitischer Strohhalm herhalten mussten. Zweck der Konzerte war aus Sicht des SD-Auslandsgeheimdienstes schließlich „[d]ie starke mitreißende Wirkung, welche den deutschen kulturellen Veranstaltungen im Ausland erst ihren eigentlichen Sinn verleihe.“65 In dieser Aussage bündelt sich letztlich, was Friedrich Geiger als „rezeptionsorientierten Ansatz“66 der nationalsozialistischen Musikpolitik bezeichnete. In der von der Auslandsabteilung des SD anvisierten Nutzung von Symphoniekonzerten als wahrnehmungsverändernder „Deutscher Droge“ steckte indes zugleich noch etwas anderes: Die für den Nationalsozialismus nicht untypische Verformung kultureller Paradigmen des 19. Jahrhunderts nach sowohl technokratischen als auch amodernen Idealen. So finden sich hier einerseits die Idee des Geniekults sowie andererseits die Wahrnehmung sublimer künstlerischer Größe als Rausch und Weihespiel. Beide Konzepte werden jedoch nicht als Teil von Kunstgenuss, sondern als Mittel zur Manipulation und geistigen Kriegsführung angeführt. Diese Aspekte waren in der nationalsozialistischen Weltanschauung eng an die Genie- und Kultfigur des Führers gekoppelt. Genau hier sahen der oder die Berichterstatter des SD einen Missstand, der die Effizienz und den Wirkungs64 Stellungnahme, S. 2. 65 Ebenda. 66 Friedrich Geiger, Musik in zwei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin, Kassel 2004, S. 146: „Der musikpolitische Ansatz im NS-Staat fokussierte weniger auf die Machart der Werke, sondern primär den Eindruck, den sie auf den Hörer machten.“

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grad der Kriegswaffe Taktstock in Frage stellte. Denn nicht irgendjemand durfte die Propagandakonzerte leiten, sondern der Erfolg war, wie es explizit hieß, „in entscheidendem Masse von dem Einsatz einer großen Dirigentenpersönlichkeit abhängig.“67 An dieses Postulat waren im Kern zwei Namen geknüpft: „Nach allen vorliegenden Äusserungen ist diese zwingende Kraft, die im gesamten Ausland die deutsche Musik zum stärksten kulturpolitischen Faktor macht, vor allem bei W. Furtwängler und H. v. Karajan vorhanden.“68 Untermauert wird dies durch den Hinweis auf ein Gastspiel, dass die Berliner Staatsoper im Mai 1941 unter Leitung von Karajan im besetzten Paris gegeben hatte und das nicht nur, wie es hier heißt, „nach übereinstimmenden deutschen und französischen Äusserungen den Erfolg aller deutschen Veranstaltungen vor dem Kriege bei weitem übertroffen“, sondern vor allem „noch über Monate hinaus das Denken vieler einflußreicher französischer Kreise beherrscht“ haben soll. Dieser Habitus kam nicht von ungefähr – war die Idee einer Beherrschung menschlichen Denkens durch den Einsatz deutscher Musik aus Sicht der SS doch ein attraktives Konzept. Die Option, Musikkultur als weltanschauliches Rauschgift zu instrumentalisieren, wurde dabei einerseits gezielt in Betracht gezogen, andererseits jedoch die Gründlichkeit in der Umsetzung vermisst: So sei „[d]ie bleibende Wirkung dieses deutschen Erfolges […] dadurch beeinträchtigt worden, dass die Aufführungen einmalige Höhepunkte darstellten und nicht in entsprechender Weise fortgesetzt und ausgewertet wurden.“69 Dieses aus heutiger Sicht illusorisch erscheinende, nach SD-Empfinden jedoch kriegswichtige Anliegen wurde durch einen weiteren, nicht unwesentlichen Gesichtspunkt konterkariert: die Befindlichkeiten der Künstler Karajan und Furtwängler. Dass besonders Letzterer dabei im Mittelpunkt des Interesses stand, mag teils Furtwänglers damaligem Status als „Nr. 1“ geschuldet gewesen sein. Darüber hinaus bot er genau das, was die Schutzstaffel suchte: Die Aura eines übermenschlichen Genies, das sein Publikum mit deutscher Tonkunst in seinen Bann zieht und berauscht; ein Mythos der unter anderem in Fritz Steins überschwänglichem Personenartikel aus der ersten MGG überliefert ist, wo es über den Dirigenten heißt, er habe „seine 67 Stellungnahme, S. 2. 68 Ebenda. 69 Beide Zitate ebenda.

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Hörerschaft mit magischer Suggestionsgewalt zum Gemeinschaftserlebnis großer Kunst“ gezwungen.70 Dass Furtwängler seinen Nimbus als Kulturbotschafter in den Dienst des Dritten Reichs stellte, als nach Michael Kater „sich das Leichentuch des Krieges über Europa senkte,“71 daran kann kein Zweifel bestehen. Indessen formulierte Kater diese Einschätzung in den 1980er Jahren mit der Einschränkung, Furtwängler habe diese Rolle nur „im großen und ganzen akzeptiert“.72 Diese Relativierung hat insofern ihre Berechtigung, als Furtwängler zwar in Satellitenstaaten auftrat, offensichtlich aber genug Instinkt besaß, um die besetzten Gebiete zu meiden, was ihn vom jüngeren Karajan unterschied, der offenkundig nicht nur keinerlei Skrupel hatte, im Mai 1941 in der Pariser Opéra Garnier mit dem Ensemble der Berliner Staatsoper Die Entführung aus dem Serail und Tristan und Isolde aufzuführen, sondern auch Konzerte unter anderem 1940 in Warschau sowie 1944 in Bukarest zu leiten.73 Gerade Karajans Gastspiel in Frankreich – an dem als Co-Dirigent der später im Rahmen der Balkanreise eingesetzte Johannes Schüler teilnahm74 – ist durch mehrere Fotografien dokumentiert, die den Dirigenten mit der von ihm zeitlebens sehr geschätzten Pariser Isolde Germaine Lubin75 zeigen. Da Lubin zu den prominentesten Sängerinnen ihrer Zeit gehörte, als deutschfreundlich galt und ab 1944 als mutmaßliche Kollaborateurin interniert wurde,76 ist der Gedanke naheliegend, dass diese Aufnahmen (sofern sie nicht eigens zu diesem Zweck entstanden) von deutscher Seite auch für die 70 71 72 73

Fritz Stein, Artikel Wilhelm Furtwängler, in: MGG Band 4, Kassel 1955, Sp. 1157. Kater, Mißbrauchte Muse, S. 384. Ebenda. Alan Riding, And the Show went on. Cultural Life in Nazi-Occupied Paris, New York 2010, S. 154, Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 3559f. sowie Klee, Kulturlexikon, S. 296. 74 Ebenda, S. 550. 75 Noch kurz vor seinem Tod bekräftigte Karajan dies gegenüber seinem englischen Biographen Richard Osborne: „[…] voll Grazie und Noblesse, die wundervollste Isolde, der ich je begegnet bin, besser als all die überdimensionierten deutschen Isolden.“ Osborne, Karajan Gespräche, S. 96. 76 Siehe hierzu unter anderem Eva Weissweiler, Die Erbin des Feuers, Friedelind Wagner. Eine Spurensuche, München 2013, S. 141: „[D]ie Lubin war tatsächlich sehr deutschfreundlich, hatte Kontakte bis in die höchsten NS-Spitzen, beste Beziehungen zu den deutschen Militärs und ein Verhältnis mit einem hohen Besatzungsoffizier, Hans-Joachim Lange.“ Siehe zur Bekanntschaft von Lubin mit Hitler auch Rider, And the Show went on, S. 155. Zum Status als Kollaborateurin und

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Kriegspropaganda genutzt wurden, war die Reise doch auf persönliche Weisung Hitlers erfolgt.77 Während Karajan sich sowohl im besetzten Paris als auch in Polen in eindeutiger Weise exponiert hatte, bestätigt der Bericht des SD Amt III das tradierte Bild von Wilhelm Furtwängler. So wird dort verzeichnet, dieser habe „in den letzten Jahren nur im neutralen oder befreundeten Ausland, aber niemals in den besetzten Gebieten dirigiert [...], obwohl er gerade dort nachhaltige Wirkungen erzielt hätte.“78 Auf den ersten Blick scheint es bemerkenswert, dass sich Furtwängler (allem Opportunismus zum Trotz) im Dritten Reich Freiheiten genommen hat, die außerhalb der Reichsmusikkammer selbst bei den geheimpolizeilichen Organen der SS für Unmut sorgten. Dass Misha Aster dennoch – wie Kater zuvor – den Mythos vom moralisch-verantwortungsbewussten, nicht in besetzten Gebieten in Erscheinung tretenden Furtwängler hinterfragte,79 war indes nicht nur epistemisch betrachtet legitim, sondern erscheint auch hinsichtlich ethisch-erinnerungskultureller Implikationen notwendig. So stellt sich hier die grundsätzliche Frage, inwiefern es nicht einem moralischen Bankrott gleichkommt, wenn die Tatsache, dass etwas Bestimmtes nicht getan wurde, als universelles Exkulpationsinstrument herhalten muss. Darüber hinaus sollte in diesem Kontext nicht vergessen werden, dass der Hochmut, mit dem Furtwängler sich bestimmten Auslandseinsätzen verweigert haben mag, unmöglich gewesen wäre ohne die stillschweigende Patronage des obersten Machtzirkels, der dem Spitzenreiter aller gottbegnadeten Dirigenten gegen Kriegsende noch einen persönlichen Bunker gebaut hätte.80 Indessen schienen im Herbst 1943 auch andere Dirigenten wenig Interesse daran zu zeigen, auf dem Balkan und (wie anfangs geplant) in der Türkei für das Dritte Reich sogenannte „Wirkungen“ zu erzielen: das Engagement durch die Berliner Staatsoper siehe Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 2004. 77 Offizieller Anlass war die Erwerbung eines Hauses, in dem einst Richard Wagner lebte, durch die Stadt Paris. BA R 55/20506, fol. 3ff.; auszugsweise abgedruckt auch ebenda, S. 2315. 78 Stellungnahme, S. 2. 79 Aster, Das Reichsorchester, S. 286 sowie Kater, Mißbrauchte Muse, S. 385: „Standard-Biographien Furtwänglers haben den Versuch unternommen, den Dirigenten freizusprechen. Das kann nicht nur für die Periode vor dem Krieg nicht glaubhaft gemacht werden.“ 80 Ebenda, S. 386.

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Die schwierigste Aufgabe habe darin bestanden, für diese repärsentative [sic] deutsche Veranstaltung überhaupt einen Dirigenten zu finden. H. von K a r a j a n, der ursprünglich für diese Konzertreise vorgesehen war, lehnte ab, da ihm sein bisheriges Honorar nicht mehr bewilligt wurde und auch anderweitige Schwierigkeiten entstanden. F u r t w ä n g l e r, dessen honorarforderung [sic] wesentlich höher ist, habe an den Konzerten auf dem Balkan kein Interesse gezeigt und lediglich für Istanbul und Ankara eine unverbindliche Zusage für März oder April des nächsten Jahres gegeben, unter der Bedingung, dass seine anderweitigen Verpflichtungen sowie sein Gesundheitszustand hierdurch nicht beeinträchtigt würden. E. J o c h u m und H. K n a p p e r t s b u s c h lehnten ebenfalls ab; schließlich sagten H. A b e n dr o t h und J. S c h ü l e r zu. Für die Leitung eines Konzerts in Bukarest wurde der rumänische Dirigent G e o r g e s c u verpflichtet.

Mit Ausnahme von George Georgescu und Furtwängler verbindet (vom späteren Status als gottbegnadet abgesehen) alle genannten Dirigenten ein zentrales Kriterium: Sie haben einschlägig Kulturpropaganda für das Dritte Reich im besetzten Ausland betrieben und, bis auf Karajan, alle dem mit Hans Pfitzner befreundeten Schlächter von Polen Hans Frank mindestens einmal in Krakau ihre Aufwartung gemacht.81 Hans Knappertsbusch hatte im direkten Auftrag des Reichspropagandaministers in den Jahren 1941 und 1942 bereits ähnliche Herbsttourneen in den Ostgebieten absolviert; ein engagierter Einsatz, der mit der (nach 1945 erfolgreich eskamotierten) offen pro-nazistischen Haltung des Dirigenten zweifelsfrei zu erklären ist.82 Die zweite dieser Reisen ist auch durch eine von den Berliner Philharmonikern ans RMVP gestellte Anfrage zu den Tagesgeldsätzen in den einzelnen Län81 Zu Knappertsbusch siehe Klee, Kulturlexikon, S. 317f.: „Einsätze zwecks Kulturpropaganda, unter anderem: Juni 1938 mit den Wiener Philharmonikern Rahmenprogramm zur Reichstheaterfestwoche in Wien mit Goebbels-Rede, Februar 1940 Dirigent der Wiener Philharmoniker im besetzten Krakau (sechs Wochen nach Errichtung des Generalgouvernements!), am 12.9.1941 mit den Berliner Philharmonikern – am Tag der Eröffnung der Ausstellung Germanenerbe im Weichselraum – im besetzten Krakau (Diensttagebuch Frank).“ 82 Siehe hierzu unter anderem Kater, Mißbrauchte Muse, S. 82: „Argwöhnisch gegenüber Juden und anderen angeblich zersetzenden Elementen im Kulturellen Leben der Republik [sc. von Weimar], wurde er [sc. Knappertsbusch] bereits Jahre, bevor Hitler an die Macht kam, von den Nationalsozialisten als einer der ihren reklamiert.“

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dern dokumentiert, die vom 27. Juli 1942 stammt und in der es ausdrücklich hieß: „Auf Weisung des Herrn Reichsministers Dr. Goebbels sollen die Berliner Philharmoniker im September eine Balkantournée unternehmen, die in sämtliche Balkanländer führt.“83 Dass für 1943 fernerhin zunächst bei Eugen Jochum angefragt wurde, erscheint aus nationalsozialistischer Sicht ebenfalls plausibel, hatte dieser doch bereits im Jahr 1934 deutlich Position bezogen, als er für Hitler in Hamburg Arno Parduns Siehst Du im Osten das Morgenrot (Volk ans Gewehr) dirigierte.84 Dieser weitestgehend vergessene Propagandaschlager beschäftigt noch heute den Verfassungsschutz als Verletzung von § 86a StGB durch die rechte Szene.85 Neben der allgemeinen historischen Belastung des Liedes ist hierfür die vierte Strophe maßgeblich, die lautet: „Jugend und Alter, Mann für Mann, umklammern das Hakenkreuzbanner. Ob Bürger, ob Bauer, ob Arbeitsmann: sie schwingen das Schwert und den Hammer für Hitler, für Freiheit, für Arbeit und Brot; Deutschland erwache und Juda den Tod!“86 Dass Musikschaffende nach Kriegsende nicht gewusst haben wollen, wem sie sich nach der Machtergreifung dienstbar gemacht haben, erscheint in Anbetracht solcher Sachverhalte unglaubwürdig. Immerhin gastierte Jochum nicht nur 1940 im besetzten Oslo, sondern auch 1943 in Litzmannstadt bzw. Łodz, wo sich zu diesem Zeitpunkt ein Ghetto mit rund 160.000 Juden befand. Die Litzmannstädter Zeitung hatte am 11. Mai 1943 über dieses Konzert bemerkt: „Durch Veranstaltungen dieser Art [...] werden neue Kräfte, die wir für die Eindeutschung dieser Stadt einsetzen müssen, lebendig“.87 Die von Martin Elste noch 2003 in der MGG II vorgetragene Schutzbehauptung, Jochum habe in „Distanz zu Partei und Staat“ gestanden, lässt sich 83 BArch R 55/246, fol. 65. Siehe auch in Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 2343. 84 Ebenda, Handbuch, S. 3421. Zur Bedeutung des Liedes siehe Drüner und Günther, Musik und „Drittes Reich“, S. 59. 85 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abt. Verfassungsschutz Berlin und Ministerium des Innern des Landes Brandenburg Abt. Verfassungsschutz (Hg.), Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus, Eine Information des Verfassungsschutzes, Berlin und Potsdam 2007–2008, S. 21. 86 Zit. nach Prieberg, Handbuch, S. 5130. 87 Siehe hierzu unter anderem den Artikel von Ernst Klee, Heitere Stunden in Auschwitz. Wie deutsche Künstler ihre mordenden Landsleute im besetzten Polen bei Laune hielten, in: Die Zeit, 25. Januar 2007. Online unter www.zeit.de/2007/05/A-Auschwitz (Abruf am 5. Mai 2014).

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vor diesen Hintergründen kaum aufrechterhalten.88 Im Hinblick auf die Balkan-/Ostreise von 1943 hatte indes auch Jochum einen Fehler: Er war nicht Furtwängler, ein Makel, mit dem nicht zuletzt diejenigen Dirigenten behaftet waren, die schließlich in die Bresche sprangen. Das waren für ein Konzert in Krakau Johannes Schüler89 sowie für die restlichen Gastspiele der spätere „Furtwängler der DDR“ Hermann Abendroth. Auch wenn sich in dem in die Neuauflage der Enzyklopädie MGG übernommenen, beklemmend nichtssagenden Artikel aus der Feder von Karl Laux – eines, wie Albrecht Riethmüller ihn charakterisierte, Verbreiters „nationalsozialistischen Schreckens in der DDR“90 – keine Hinweise auf diese Konzerte finden,91 war Abendroth, dem derselbe Autor in der Blume-MGG von 1949 noch typisches Deutschsein und wortwörtlich „geistige Überlegenheit“92 attestiert hatte, zu diesem Zeitpunkt bereits ein routinierter musikalischer Krieger, der sich im Ausland durch fünf Wehrmachtskonzerte in Skandinavien sowie Anfang 1943 ein deutschtümelndes Beethovenfest in Paris profiliert hatte, an dem auch Elly Ney beteiligt war.93 Misha Aster fand im Bundesarchiv einen Brief des Orchestergeschäftsführers Karl Stegmann an das Goebbels-Ministerium, aus dem hervorgeht, dass Abendroth bereits 1936 mit den Berliner Philharmonikern eine Balkan-Reise unternommen hat.94 Dies deckt sich mit den Angaben bei Peter Muck, der solche Tourneen unter Abendroth und Knappertsbusch für die Jahre 1936, 1941, 1942 und 1943 dokumentierte.95 Beide Dirigenten, Abendroth und Schüler, besaßen das Wohlwollen Hitlers, waren im Dritten Reich prominent und wurden 1944 als unersetzlich und gottbegnadet eingestuft. Den nötigen Starappeal, um auf dem Balkan 88 Martin Elste, Artikel Eugen Jochum, in: MGG2 Personenteil Bd. 9, Kassel et al. 2003, Sp. 1073f. 89 Klee, Kulturlexikon, S. 550 sowie Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 6346. 90 Siehe die Podiumsrunde zum Einfluss Herman-Walther Freys auf die Musikwissenschaft, in: Custodis, Herman-Walther Frey, S. 146. Laux Rhetorik in der NS-Zeit ist insbesondere dokumentiert in Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 4155–4159. 91 Karl Laux, Artikel Hermann Abendroth, in: MGG2 Personenteil Band 1, Kassel et al. 1999. 92 Karl Laux, Artikel Hermann Abendroth, in: MGG Band 1, Kassel 1949, Sp. 35f. 93 Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 46 und 48. 94 Aster, Reichsorchester, S. 189 sowie Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 43. 95 Peter Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester: Darstellung in Dokumenten, Band 1, Tutzing 1982.

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für Begeisterung zu sorgen, besaß insbesondere Abendroth jedoch anscheinend nicht. So urteilte der SD, einmal mehr Insiderquellen andeutend: „Von guten Kennern der Landesverhältnisse wird bemerkt, dass die Konzertreise trotz des äusseren Erfolges nicht die durchschlagende [sic] Wirkung erzielt habe, die durch den Einsatz eines so hervorragenden Orchesters an und für sich möglich gewesen wäre.“96 Während sich die Allegorisierung von symphonischer Musik mit panzerbrechenden Geschossen in den allgemeinen militärischen Ton stimmig einfügt, wird unter Verweis auf Landeskenner (vermutlich Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes) erklärt, wo das Problem lag: Furtwängler sei zusammen mit den Berliner Philharmonikern zu einem bestimmten Begriff geworden, so dass sein Fehlen leicht zu falschen Auslegungen Anlass gebe. Die Feststellung, dass das Orchester in vielen anderen Hauptstädten unter Furtwängler gespielt habe, aber auf dieser Reise von weniger berühmten Dirigenten geleitet wurde, führe bei der Empfindlichkeit der Balkanvölker leicht zur Verstimmung und zum Gefühl einer Behandlung als zweitklassiges Land.97

Diese Feststellung zeugt zunächst von einer dem Kriegsverlauf geschuldeten Unsicherheit, schienen Abendroth und Knappertsbusch für die angeblich so empfindlichen Balkanvölker doch vor der Katastrophe von Stalingrad durchaus noch gut genug gewesen zu sein. Das Resümee des SD-Berichtes zielt indes mittelbar auch gegen Furtwängler und die von ihm zelebrierte künstlerische Selbstbestimmung ab, wenn konstatiert wird: Das „Hauptgewicht der Konzertreisen im Ausland habe sich [...] stärker als zuvor von der rein künstlerischen auf die kulturpolitische Seite verlagert“ und „[j]ede Veranstaltung werde damit zu einer Angelegenheit des Reichsinteresses“. Letzteres, so der Bericht weiter, „schließe aber ein, dassdie [sic!] Vorbereitung der Reisen, insbesondere die Auswahl der Dirigenten nicht von persönlichen Wünschen und Interessen abhängig sein dürfe.“98 Der bedeutungsvolle Terminus des „Reichsinteresses“ diente auf diese Weise als Aufhänger für schwerwiegende Forderungen: Für künstlerische Autonomie, seit Gründung der Reichmusikkammer ohnehin Luxus weniger Ausnahmemusiker, hatte es nach Willen des 96 Stellungnahme, S. 3. 97 Ebenda. 98 Alle ebenda, S. 4.

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SD in Kriegszeiten keine Schutzräume mehr zu geben. Vielmehr vertrat man die Auffassung, dass Furtwängler und Karajan ihren Dienst an vorderster musikpolitischer Front zu leisten hätten – egal, ob sie nun wollten oder nicht. Nicht zuletzt das Agentur- und Veranstaltungswesen war hier ein Dorn im Auge, so dass es für die erwünschte Wirksamkeit angezeigt schien, den „Einsatz der deutschen Musik im Ausland“ mit militärischen und nicht mit zivilen Methoden zu organisieren. So heißt es gegen Ende des Berichts ganz unverblümt: Man bezeichnet es deshalb vielfach als erstaunlich, dass die persönlichen Verhandlungen mit den Dirigenten über reichswichtige Konzerte heute noch in der gleichen Weise verlaufen wie vor dem Kriege und hält es für unbedingt erforderlich, auch die Tätigkeit der grossen Dirigenten unter dem Gesichtspunkt der geistigen Kriegsführung als Kriegseinsatz anzusehen.99

Ausblick Dass die romantische Vorstellung vom musikalisch Schönen als begriffsloser Kunst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs nicht ganz zufällig eine neue Blüte erlebte, ist bereits vielerorts diskutiert und kommentiert worden. Besonders prominent von Albrecht Riethmüller, der die Problematik wie folgt zusammenfasste: Wurde das Zweite und Dritte Reich durch aus Tönen geflochtene Kränze vergoldet, so wurde Musik nun eine Hauptstimme in dem reich und farbig instrumentierten Nachkriegsstück, dessen Botschaft – den Genozid an der eigenen und der europäischen Bevölkerung übertönend – hat versichern sollen, dass es außer einem versprengten Häuflein von Bösewichtern in einem der Musik so zugewandten Volk schwerlich Nazis hätte geben können. Jene Vertreter der Musik, die in den Jahren zuvor haben erfahren wollen oder lernen müssen, dass ihre Kunst eine unmittelbare gesellschaftliche Relevanz zu besitzen und eine staatliche Rolle zu spielen habe, profitierten im Nu von der Rückbesinnung auf alte, gegenteilige Vorstellungen wie denen, das Künstler weltfremd seien, Musik mit Politik ohnehin nichts zu tun habe

99 Ebenda.

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und das Schöne das Gute sei und daher mit dem Bösen nie und nimmer verbandelt sein könne, schon gar nicht in rebus musicis.100

Noch Jahrzehnte nach Kriegsende galt Begriffslosigkeit als Ausweis der Schuldunfähigkeit sowohl musikalischer Werke, als auch derjenigen, die sie komponierten, interpretierten und erforschten. Dieses Paradigma entsprach vitalen Interessen sowohl der Akteure des Musiklebens als auch einer NS-Musikwissenschaft, die sich bedingungslos – wie Anselm Gerhard es ausdrückte – „prostituiert“101 hatte. Ulrich Drüner und Georg Günther konstatierten im Rahmen ihrer musikbibliographischen Studien insbesondere über die Erstauflage der MGG, sie habe die Tonkunst der NS-Zeit „zu einer fast politikfreien ‚Insel der Seligen‘ umfunktioniert“.102 Dies lässt sich ex post als sozial konstruierte Coping-Strategie werten. Die im vorigen diskutierte Quelle aus dem Winter 1943 spricht hier eine andere, unmissverständliche Sprache. Für die Aufarbeitung von Musik- und Musikwissenschaft im Dritten Reich ist es umso bedeutsamer, dass solche Äußerungen nicht verloren gehen oder in Vergessenheit geraten. Dies erscheint vor allem wichtig, um den Bezug zur historischen Mentalität der NS-Akteure nicht zu verlieren – eine erinnerungskulturelle Herausforderung, die nicht zuletzt das Problem der Generationenbildung und -identitäten streift: Es erklärt sich schließlich von selbst, dass Angehörige der sog. Flakhelfer-, HJ- und Kriegskinder-Generation103 auf Personendiskurse über im Nachkriegsdeutschland wirkmächtige Dirigenten wie Karajan oder auch Karl Böhm mit dem Gedächtnisreservoir von Zeitzeugen reagieren. Konkret auf den Gegenstand dieser Abhandlung übertragen, geht es dabei wohlgemerkt nicht um die Frage eines „richtig“ oder „falsch“ konstruierten Erinnerns an die musikalischen Kriegseinsätze des Dritten Reiches, son100 Riethmüller, Deutsche Leitkultur Musik, S. 8. 101 Anselm Gerhard, Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin, in: ders., Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin?, S. 8. 102 Drüner und Günther, Musik und Drittes Reich, S. 11 und 334. 103 Bernd Weisbrod, German Generations. The Anxiety of Belonging in Modern German History, in: Kirsten Gerland et al. (Hg.), Generation und Erwartung. Konstruktionen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Göttingen 2013 (= Göttinger Studien zur Generationsforschung 12), S. 274f. Die Flakhelfer-Jahrgänge spielen mittelbar auch in der Diskursarbeit Aleida Assmanns eine Rolle als älteste „Architekten, Planer und Betreiber der deutschen Erinnerungskultur“. Siehe hierzu Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 13.

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dern vielmehr um ein generelles Verständnis für die Korrelation von eigener Identität und Geschichtsdeutung. Dass es sich bei Letzterer um ein soziales Konstrukt handelt, stellt im Grunde eine Binsenweisheit dar. Umso irritierender mutet es an, wenn Aleida Assmann konstatiert, die „Überzeugung […], dass auch die Ordnung der Zeitstufen einer kulturellen Formung unterliegt“, sei Anzeichen einer aktuellen „Wende in unserem Zeitbewußtsein“,104 zumal gerade Musikwissenschaftler, mit geistesgeschichtlichen Schablonen à la ‚Barock‘, ‚Romantik‘ etc. bestens vertraut, hier schwerlich eine grundsätzlich neue Entwicklung verorten dürften. Anhand solcher Postulate manifestiert sich die Gefahr, dass der Trend „Erinnerungskultur“ in einem um seiner selbst willen generierten Diskurs versandet. Im Umkehrschluss gewährt der in den Gerigk-Papieren überlieferte SD-Bericht in der Tat authentische und somit wertvolle Einblicke in nationalsozialistisches Denken über Musik, ohne dass dies an einer konkreten Person festgemacht werden kann. Umso mehr wirft das Schreiben ein bezeichnendes Licht auf die langfristige Wirkungsmacht der Reichsmusikkammer als systematischer Begrenzerin musikalischer Kunst: Denn die Forderung, Musikern vom Schlage eines Furtwängler das Recht auf künstlerische und persönliche Selbstbestimmung abzusprechen, ist letztlich nicht mehr als die letzte Konsequenz jener Gleichschaltung und Ideologisierung von Musik, die ab 1933 in Gestalt der Reichsmusikkammer sowohl eine institutionalisierte Plattform als auch ein soziales Zwangsinstrumentarium erhielt. Wenn aber bereits eine Instanz wie das SD Amt III, das mit Musikkultur per se nichts zu tun hatte, in die entsprechende Kerbe schlug, deutet dies an, dass in den zehn Jahren zuvor in den Reichsmusikkammer-Abteilungen B „Fachverband der Reichsmusikerschaft“ und C „Amt für Konzertwesen“ ganze Arbeit geleistet worden war. Das in den Papieren von Herbert Gerigk erhaltene Schreiben steht hier für einen Höhepunkt des Missbrauchs toter wie lebender Musikschaffender als Kultur-Soldaten. Dass dies in dieser Form nicht nur denkbar, sondern auch praktikabel wurde, ist somit nicht zuletzt das Verdienst von Joseph Goebbels und unabsichtlich-williger Marionetten wie Richard Strauss, jenes (wie Hans Joachim Moser ihn noch 1944 nannte) „Reichsaußenministers in musicis“.105 Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei zentrale Gesichtspunkte resümieren, die im Folgen104 Ebenda, S. 210. 105 Splitt, Strauss, S. 20f.

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den thesenhaft und zum Teil bewusst in Frageform zusammengefasst wurden: 1. Über den im vorigen kommentierten SD-Bericht hinausgehend rückte der von Peter Muck kolportierte zeitgenössische Spitzname „Vorkämpfer der Fallschirmjäger“106 das Berliner Philharmonische Orchester bereits in die Nähe des kulturellen Soldatentums. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die von Misha Aster beschriebene Verwendung des Ensembles als quasi-militärischer Einheit, die unter Nutzung des Transportnetzes der Wehrmacht Europa bereiste.107 War dies nur ein von außen auf das Orchester projiziertes „militärisches Image“ oder doch vielmehr Teil eines Habitus’, den das sogenannte Reichsorchester im Ausland tatsächlich an den Tag legte? Eine an diese Zusammenhänge anknüpfende Folgefrage wäre ferner, ob und inwieweit das tradierte Geschichtsbild von den Berliner Philharmonikern in den Kriegsjahren einer auf den Kriegsdiskurs selbst fokussierten Revision bedarf, insbesondere mit Blick auf die Taktstock-Akteure Knappertsbusch und Abendroth. 2. Die Tatsache, dass Joseph Goebbels bekanntermaßen persönlich die Reiseziele des Orchesters bestimmte und sich auch die Absegnung der Dirigenten explizit vorbehielt,108 rückt die Reichsmusikkammer als Instanz musikpolitischer Kriegsführung verstärkt in den Fokus. Welche Auswirkungen sollte dies auf den wissenschaftlichen Blick haben, mit dem jene Begrenzerin musikalischer Kunst bislang aufgearbeitet worden ist und noch aufzuarbeiten sein wird – wohlgemerkt unter dem besonderen Vorzeichen, dass sowohl das Rosenberg-Lager als auch die SS offensichtlich gewillt waren, sich in diese Belange einzumischen?

106 Muck, Einhundert Jahre BPhO Band II, S. 151. 107 Aster, Reichsorchester, S. 305: „Oft reiste das Orchester in Militärtransportzügen, die zu den bequemeren Transportmitteln gehörten. Auf der Tournee nach Polen, Österreich und auf dem Balkan im Jahr 1942 reiste das Berliner Philharmonische Orchester ausschließlich in Zügen der Wehrmacht. Diese Züge hatten meist Speisewagen, was in planmäßigen Zügen nicht unbedingt der Fall war, und boten, je nach Platz und entsprechender Berechtigung, auch Betten. Zudem hatten Züge der Wehrmacht Vorfahrt auf verstopften Bahnlinien, so dass für die pünktliche Ankunft des Orchester gesorgt war.“ 108 Ebenda, S. 282 und 288.

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Obgleich abseits jener Goebbels’schen Worthülse der „Stählernen Romantik“ so etwas wie eine originär-nationalsozialistische Musikästhetik nie existiert hat,109 darf ein weiterer Aspekt nicht vergessen werden: Die im musikalischen Kriegseinsatz verwendeten Ensembles sowie deren Dirigenten stritten in den Konzert-, Opern-, und Ballsälen Europas nicht allein für den NS-Staat, das RMVP sowie den eigenen Ruhm, sondern gerade die Berliner Philharmoniker verkörperten mit ihren Programmen110 sehr wohl eine nationalistisch-konservative Ästhetik, deren Haupteigenschaften Anti-Modernismus und Kulturchauvinismus sich bereits in den 1920er herauskristallisiert hatten. Die mit dieser Haltung einhergehende musikalische Einflussangst und Fixierung auf die gerne als germanischer Volksbesitz vereinnahmte Dur-Moll-Tonalität111 kulminierte in Mosers Geschichte der deutschen Musik in der Äußerung: „[…] Negersysteme sind nur für Negergehirne zuständig; wer in ihnen sein Heil sucht, erkläre offen seinen Austritt aus der musikalischen Rassengemeinschaft der Weißen Welt.“112 „Negersystem“ konnte von der blue note über Pentatonik bis hin zu Ganztonleitern und Pentolen alles 109 Giselher Schubert, The Aesthetic Premises of a Nazi Conception of Music, in: Michael H. Kater und Albrecht Riethmüller (Hg.), Music and Nazism, Art under Tyranny, 1933–1945. Laaber 22004, S. 64–74. 110 Nach Kenntnisstand des Verfassers sind die Konzert-Programme der Balkanreisen von 1943 nicht erhalten. Sie dürften sich jedoch im Wesentlichen am Standard „Beethoven, Brahms, Wagner, Schubert und Richard Strauss“ orientiert haben, siehe hierzu: Aster, Das Reichsorchester, S. 285: „Dieses Repertoire entsprach dem propagandistischen Anliegen der Konzerte, für deutsche Kultur zu werben, zeigte das Orchester aber auch von seiner besten Seite.“ 111 Eckhard John schilderte in diesem Zusammenhang das von Joseph Müller-Blattau ersonnene Ideologem eines „nationalsozialistischen Moll“, das als germanischer „Urbesitz des vorzeitlichen Volkstums“ keineswegs von dem „volkfremden System der Kirchentonarten“ abgeleitet sein könne. Eckhard John, Der Mythos vom Deutschen in der Deutschen Musik: Musikwissenschaft und Nationalsozialismus, in: derselbe et al. (Hg.), Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Freiburg im Breisgau 1991, S. 172. 112 Hans Joachim Moser, Geschichte der deutschen Musik Band 2.2 Vom Auftreten Beethovens bis zur Gegenwart, Stuttgart 1924, S. 505. Siehe auch ebenda, S. 499: „Und wieder, wie zu Zeiten des 30jährigen Krieges zeitigt heute der staatliche Zusammenbruch zunächst eine beängstigende Widerstandsminderung gegen eine Sintflut von geringwertigen tonkünstlerischer Einfuhrgütern – nur daß diese Fremdherrschaft uns nicht mit Feuer und Schwert auferlegt wurde, heute aber auf den Traumfittichen des pazifistisch-internationalistischen Schlagworts sich entnervend in die Seelen vieler deutscher Musiker senkt.“

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sein, was jenseits der Musiksprache der spätromantischen Meister exotisch anmutete. Der sprichwörtliche schwarze Mann wurde auf diese Weise zum Schreckgespenst stilisiert, das mittels Überfremdung durch undeutsche und damit zwangsläufig rassisch minderwertige Elemente auf die Vernichtung der wertvollen deutschen Tonkunst hinwirkte. Bedenkt man, wie präpotent dieses Paradigma in der Nachkriegszeit noch war, wird nur zu deutlich, dass somit auch auf diesem Gebiet – insbesondere vom sogenannten Reichsorchester – Schlachten geschlagen wurden, um den gegenüber dem musikalischen Resteuropa an den Tag gelegten Isolationismus zu legitimieren. Eine wesentliche Rolle für den wissenschaftlichen Umgang mit diesen Beobachtungen spielt das von Friedrich Geiger verzeichnete Paradoxon einer Zeitgeschichte respektive Politikwissenschaft, die ihren cultural turn vollzog, ohne sich realiter ernsthaft kulturgeschichtlich zu orientieren.113 Tatsächlich dürfte dieses Phänomen weniger in wirklichem Desinteresse begründet liegen als vielmehr dem Umstand, dass „normale“ Historiker und Politologen sich für musikhistorische Details und funktionsästhetische Fragestellungen nicht zuständig fühlen und angesichts des deutlich anders gelagerten Fachhintergrunds mit den entsprechenden Diskursen auch überfordert sind. Grosso modo bleibt sowohl die historische als auch die erinnerungskulturelle Auseinandersetzung mit der Rolle der klassischen Musik im Dritten Reich auf diese Weise eine wichtige Grauzonenarbeit, die in Zukunft für sowohl musikgeschichtlich als auch allgemeinhistorisch bewanderte Forscher noch eine Reihe von Desideraten bereithält. Dokumente wie die Stellungnahme zur Frage des Einsatzes der deutschen Musik im Ausland des SD Amt III mögen hier auf den ersten Blick als Marginalie des übergeordneten RMK-Diskurses erscheinen. Als historiographisches Detail scheint jenes Papier indes nicht unwesentlich zu sein, insbesondere weil es sich beim SD Amt III keineswegs – wie nach dem Krieg von den Tätern kolportiert – um ein harmloses Meinungsforschungsinstitut handelte, sondern um eine terrorstaatliche Behörde.114 Wenn es Routine war (wie Karajan 1946 gegenüber den amerikanischen Militärbehörden behauptete),115 im Ausland das Horst Wessel-Lied zu dirigieren, dann hätten er, 113 Geiger, Musik in zwei Diktaturen, S. 12. 114 Zu diesem relativierenden Nachkriegsmythos siehe u.  a. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 382f. 115 Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 20.

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Knappertsbusch, Abendroth und all die anderen dies folglich entsprechend laut tun müssen. Anders hätte schwerlich übertönt werden können, was gleichsam im Verantwortungsbereich des SD und der Einsatztruppen lag und von Adorno in den Minima Moralia wie folgt beschrieben wurde: Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht.116

Was die Soldaten des Taktstocks mit denen an den Gewehren unleugbar verband, waren die Medaillen, denn bei der Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes zweiter Klasse an Hans Knappertsbusch Ende Januar 1943 sowie an Hermann Abendroth exakt ein Jahr später dürften gerade die wiederholten Kriegsreisen in Osteuropa ein entscheidendes Kriterium gewesen sein.117 Der Gegenstandsbereich „Dirigenten im Krieg“ verdeutlicht somit in greifbarer Weise, wie sehr Erinnerungskultur und Kulturerinnerung untrennbar miteinander verbunden sind.

116 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951], in: Gesammelte Schriften 4, Frankfurt am Main 2003, S. 70. 117 Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker, S. 3755 und S. 39.

Bürokratie versus Ideologie?

Nachkriegsperspektiven zur Reichsmusikkammer am Beispiel von Fritz Stein Michael Custodis

Im heutigen Wissen über ihre ideologischen Zielsetzungen gilt eine aktive Mitwirkung in der RMK zumeist als biografisch belastend. Bei den ersten Bemühungen in der Nachkriegszeit, mittels Entnazifizierungsverfahren die Mitwirkung in NS-Organisationen moralisch und juristisch zu bewerten, vermitteln die in Spruchkammerakten dokumentierten Entlastungsschreiben, Zeugenaussagen und Befragungsprotokolle einen gegenteiligen Eindruck. Hier wurde der RMK von allen Seiten überwiegend der Charakter einer rein bürokratischen Institution ohne politische Implikationen zuerkannt, ohne dass die Gründe für diese kollektive Einschätzung präzise formuliert worden wären. Ein Stück weit muss daher offenbleiben, wie viel die Ankläger in den Spruchkammerverfahren tatsächlich über die RMK wussten, da sie unterschiedlichsten Berufsgruppen entstammten und einige unter ihnen als Opfer des NS-Regimes unter den Folgen ihrer Verfolgung und Inhaftierung noch immer litten. Darüber hinaus wäre denkbar, dass angesichts der zeitgleich von den Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erzwungenen Auseinandersetzung der Deutschen mit den mörderischen Folgen des NS-Rassenwahns der Einsatz von Musikern in militärischen Verbänden und für propagandistische Veranstaltungen gravierender gewichtet wurde als die Mitwirkung in einer musikspezifischen Verwaltungsorganisation. Die im Berliner Landesarchiv erhaltene, umfangreiche Spruchkammerakte von Fritz Stein illustriert diese Spannweite von Innenansichten zur RMK aus der Zeit vor 1945 und ihrer späteren Außenwahrnehmung durch Nicht-Musikfachleute sehr genau. Denn mit Stein als 1933 eingesetztem Direktor der Berliner Musikhochschule, Leiter des Chores von Hitlers SS-Leibstandarte, RMK-Fachschaftsleiter für Chorwesen und Volksmusik (von 1933 bis 1939), letztem Leiter des Staatlichen Instituts für deutsche Musikforschung sowie des aus den Resten der Musikhochschulen zusammengezogenen „Musikinstituts bei der Universität

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Berlin“1 musste sich ein hochrangiger Vertreter des deutschen Musiklebens verantworten, was ein gutes Fallbeispiel abgibt, um sich der Bewertung der RMK durch ehemalige Protagonisten und Kritiker anzunähern. Der im Jahr 1879 geborene Max Reger-Freund Stein hatte als Dirigent und Musikwissenschaftler eine respektable Doppelkarriere absolviert und vor seiner Berufung nach Berlin mehr als ein Jahrzehnt in Personalunion als Generalmusikdirektor und musikwissenschaftlicher Ordinarius in Kiel gewirkt. Mit seiner 1932 einsetzenden Mitgliedschaft im Kampfbund für deutsche Kultur, wo er ab Juli 1933 für ein Jahr der Fachgruppe Musik vorstand,2 war Stein schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten politisch eindeutig positioniert, so dass er mit dem Wechsel in die Reichshauptstadt und der vom Kampfbund eingefädelten Übernahme der Hochschule3 alle Tätigkeiten zielstrebig im Sinne des neuen Systems ausrichtete und seine

1 Stein gab mit Datum vom 4. Juni 1945 in einem Memorandum Die Lage der Staatlichen Hochschulen für Musik und für Musikerziehung im Umbruch eine Übersicht der zurückliegenden Monate: „Im Zuge der ‚Massnahmen für den totalen Krieg‘ wurden die Staatliche Hochschule für Musik (Fasanenstr. 1) und die Staatl. Hochschule für Musikerziehung (die frühere Akademie für Kirchen- und Schulmusik, im Charlottenburger Schloss und in der Hardenbergstr. 36) stillgelegt. Die noch zum Studium berechtigten Kriegsversehrten, Kriegerwitwen und Examenssemester wurden vom Reichserziehungsministerium im ‚Musikinstitut bei der Universität Berlin‘ zusammengefasst und ich zu dessen Leiter ernannt. Rein formell untersteht also der Restbestand der beiden Musikhochschulen noch der Universität Berlin.“ In: Akte C Rep. 031-01-02 Nr. 71 im Landesarchiv Berlin [= Entnazifizierungsakte], Blatt 28. Siehe auch Christine Fischer-Defoy, Kunst Macht Politik. Die Nazifizierung der Kunst- und Musikhochschulen in Berlin, Berlin 1988, S. 222. 2 Schreiben von Fritz Stein an die Berliner Ortsgruppe „Schill“ der NSDAP vom 30. Juli 1933, in: Bundesarchiv Berlin [BArch], Sig. RK Do 117, auch zitiert in Fischer-Defoy, Kunst Macht Politik, S. 318f. Siehe auch Steins Entlassungsschreiben als Fachgruppenleiter im Kampfbund vom 28. März 1934 und die spätere Umdeutung der rein formalen Ämterübergabe zur Degradierung in seiner 21seitigen Rechtfertigungsschrift Berufliche Tätigkeit seit 1933; Verhältnis zur NSDAP vom 1. Juli 1947, in: Entnazifizierungsakte, Blatt 48f. 3 Joseph Wulff, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963, S. 104 und Albrecht Dümling, Auf dem Weg zur „Volksgemeinschaft“. Die Gleichschaltung der Berliner Musikhochschule ab 1933, in: Musik in der Emigration 1933–1945. Verfolgung, Vertreibung, Rückwirkung, hg. von Horst Weber, Stuttgart und Weimar 1994, S. 87.

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Vorstellungen auch publizistisch untermauerte.4 Nach dem erzwungenen Rücktritt von Richard Strauss als Präsidenten der RMK dürfte es für Stein zudem von Vorteil gewesen sein, dass der Strauss-Nachfolger Peter Raabe – sieben Jahre älter als Stein und ebenfalls Dirigent und Musikwissenschaftler – von ihm im Jahr 1916 in Jena über Die Entstehungsgeschichte der ersten Orchesterwerke Franz Liszts promoviert worden war, so dass die beiden über langjährige persönliche Verbindungen verfügten. Mit einem energischen Schreiben vom 30. Juli 1933 bat Stein die Berliner Ortsgruppe Schill, trotz der verhängten Aufnahmesperre beschleunigt Mitglied der NSDAP werden zu dürfen. Dabei berief er sich auf die Unterstützung Hans Hinkels, des gerade zum Staatsrat und Sonderbeauftragten im Goebbels-Ministerium aufgestiegenen Kampfbund-Funktionärs, und versicherte ehrenwörtlich, er sei mit dem Herzen seit vielen Jahren der herrlichen Bewegung Adolf Hitler’s zugetan […]. Ich habe mit meiner Familie seit 1925 bei jeder Abstimmung für die Partei gestimmt und in den letzten Jahres des öfteren erhebliche Beiträge für die nationalsozialistische Partei gespendet, wie aus den Quittungen, die ich wohl noch in Kiel finden werde, erweisen kann. Als im Dienste der Stadt Kiel stehender Generalmusikdirektor und als preussischer Beamter in meiner Eigenschaft als Universitätsprofessor konnte ich nicht offiziell der Partei beitreten, da dadurch meine öffentliche Wirksamkeit unmöglich geworden wäre. Am 27. April ds. Js. hat mich Herr Kultusminister Rust nach vorheriger genauer Erkundigung über meine Person und meine politische Einstellung zum kommissarischen Direktor der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik in Charlottenburg berufen. In bin arischer Abstammung.5 4 Siehe etwa seine Antrittsrede als kommissarischer Direktor der Berliner Musikhochschule, abgedruckt in: Wulf, Musik im Dritten Reich, S. 101 f. sowie seinen Artikel Musikkultur und Musikerziehung. Gedanken und Erfahrungen aus dem Bereich einer Hochschule für Musik, in: Deutsche Musikkultur [hg. im Auftrag des Staatlichen Instituts für deutsche Musikforschung zu Berlin in Verbindung mit Peter Raabe, Fritz Stein, Christhard Mahrenholz, Heinrich Besseler, Joseph Müller-Blattau, Wilhelm Ehmann von Hans Engel] 1, (1936/1937). 5 Schreiben von Stein an die Berliner Ortsgruppe „Schill“ der NSDAP vom 30. Juli 1933. Siehe auch ein Begleitschreiben an Hinkel vom selben Tag, BArch, Sig. RK Do 117. In seinem auf den 25. August 1948 datierten Fragebogen gab er unter Punkt 108 an, bei der Novemberwahl 1932 für die Deutsche Volkspartei gestimmt

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Dieses eindringliche Werben blieb allerdings erfolglos, so dass Stein erst zum 1. März 1940 ein Parteibuch erhielt.6 Daraus den Schluss zu ziehen, wie Stein es in seinem Spruchkammerverfahren versuchte, er sei den Nationalsozialisten wegen seiner exponierten Ämter suspekt gewesen, verkehrte die Sachlage, wie seine zahlreichen Ehrungen belegen: So berief man ihn zum 15. November 19357 in den Reichskultursenat und dekorierte ihn 1936 mit einer „Olympiaauszeichnung 1. Klasse“,8 am 5. Februar 1937 mit dem „Grossen Ehrenzeichen f. Mitglieder d. Reichskultursenats“9 und anlässlich seines sechzigsten Geburtstags 1939 mit der Goethemedaille, dem höchsten Orden für Wissenschaft und Kunst. Darüber hinaus widmete man ihm das Dezember-Heft der Zeitschrift für Musik als Festschrift, in der, neben anderen „Fachgenossen, Freunden und Schülern“ (wie im Untertitel ausgewiesen), u. a. Friedrich Blume, Karl Hasse, Hans Joachim Moser, Peter Raabe, Adolf Sandberger, Arnold Schering, Max Seiffert und Kurt Thomas gratulierten.10 Zur Illustration der musikalischen Vielseitigkeit des Jubilars zu haben, sowie unter dem folgenden Punkt 109, im März 1933 „vermutl. NSDAP“ gewählt zu haben. In: Entnazifizierungsakte (ohne Paginierung). 6 BArch, Sig. RK Do 117. Mit verschiedenen in seiner Entnazifizierungsakte enthaltenen Schreiben nahm Stein zu seinem Parteieintritt Stellung, am ausführlichsten in seiner am 1. Juli 1947 abgefassten 21seitigen Schrift Berufliche Tätigkeit seit 1933; Verhältnis zur NSDAP (Entnazifizierungsakte, Blatt 55): „Hätte ich übrigens die e r n s t l i c h e [sic] Absicht gehabt, nach 1933, als die Mitgliederaufnahme offiziell gesperrt war, in die Partei einzutreten, so wäre mir dies mit Unterstützung und Empfehlung führender Parteigenossen, wie Minister Rust, Goebbels u. a., mit denen ich dienstlich in persönliche Berührung kam, leicht möglich gewesen.“ 7 Lebenslauf aus dem Jahr 1948, S. 3, ebenda. 8 Siehe den Personalfragebogen vom 18. Juni 1945, ebenda, Blatt 25f. 9 Fragebogen vom 25. August 1948, ebenda. 10 Siehe zu den Hintergründen dieser Festschrift und ihrer im Impressum nicht ausgewiesenen Redaktion durch Wolfgang Steinecke: Michael Custodis, Wolfgang Steinecke und die Gründung der Internationalen Ferienkurse, in: Traditionen, Koalitionen, Visionen. Wolfgang Steinecke und die Internationalen Ferienkurse in Darmstadt, hg. von demselben, Saarbrücken 2010, S. 64. Zu seinem 80. Geburtstag 1959 erschien eine weitere Festschrift für Stein, diesmal als Sonderdruck der Mitteilungen des Max Reger-Instituts, dem der persönliche Reger-Vertraute Stein von 1955 bis zu seinem Tod 1961 als Kuratoriumsmitglied angehörte. Neben Glückwünschen von Friedrich Blume, Joseph Haas, Karl Hasse und Carl Wendling sowie Artikeln von Hermann Grabner, Karl Hasse, Hans Joachim Moser, Ottmar Schreiber und Oskar Söhngen enthielt diese Schrift eine Gratulation des Herausgebers Hans Mersmann, der dem Jubilar für persönliche Unterstützung während der NS-Zeit

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druckte man auch zwei Fotografien ab, die Stein als Dirigent des Chors von Hitlers SS-Leibstandarte zeigen, als man am Vorabend des 50. Führergeburtstags am 19. April 1939 dem Diktator in der Reichskanzlei ein vorgezogenes Geburtstagsständchen brachte. Wie seinem auf den 25. August 1948 datierten Fragebogen zu entnehmen ist, bekam er ferner am 30. Januar 1943 das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse („erhalten als Hochschuldirektor beim 10jähr. Bestehen v. ‚KdF‘ [= Kraft durch Freude]“) sowie im Dezember 1943 das Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse in Würdigung seiner Konzerte im Dienste der Wehrmacht;11 in einem Lebenslauf aus dem Jahr 1948 notierte er hierzu summarisch: „1940–44 Zahlreiche Wehrmachtskonzerte mit dem Kammerorchester der Hochschule im Inland und in den besetzten Gebieten“.12 Bereits drei Monate nach Kriegsende stellte Stein mit Datum vom 9. August 1945 einen Antrag auf „Rehabilitierung als Künstler (Dirigent und Musikpädagoge) und Wissenschaftler“.13 In diesem Schreiben hielt er fest, „als einziger unter allen Berliner Hochschulleitern“ als „Nicht-Parteigenosse“ in sein Amt als Direktor der Musikhochschule berufen worden und erst am 1. März 1940 in die Partei „geraten“ zu sein. Ergänzend zu seinen Bürgen nannte er vier weitere Kollegen – die Professoren Hermann Grabner, Paul Höffer, Heinz Tiessen und Richard Rössler –, die als „Fachmusiker“ mit seiner „speziellen Hochschularbeit aus langjähriger Zusammenarbeit“ vertraut und alle nicht Mitglieder der NSDAP gewesen wären. Als Zeugen, dass er in seiner „Hochschularbeit nie parteipolitisch aktiv tätig, sondern im Gegenteil stets bemüht war, unsachlichen Parteieinflüssen entgegenzuwirken“, berief er sich u. a. auf die Studierenden der Hochschule, seinen langjährigen Assistenten Sergius [sic] Celibidache, „den jetzigen Leiter des Rundfunkorchesters“, sowie Max Kayser, der als „Halbarier [sic] besonders heftigen Angriffen ausgesetzt war und für den ich trotzdem bis zuletzt eingetreten bin.“

dankte. Festgabe für Fritz Stein zur Vollendung seines Lebensjahres am 17. Dezember 1959, hg. im Namen des Max Reger-Instituts Bonn von Hans Mersmann, Dezember 1959. 11 Fragebogen vom 25. August 1948, in: Entnazifizierungsakte (unpaginiert). Dort findet sich unter Punkt 29 zusätzlich die Angabe, dass er an der Hochschule auch für die Ausbildung von Musikmeistern der Wehrmacht zuständig war. 12 Lebenslauf aus dem Jahr 1948, S. 3, ebenda. 13 Schreiben von Fritz Stein vom 9. August 1945 an die Kammer für Kunstschaffenden, ebenda, Blatt 10.

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Als eines der frühesten Dokumente findet sich in der Akte ein Lebenslauf vom 15. Juni 1945, der dem ersten Antrag beigefügt war und auf neun Seiten ausführlich Auskunft über seinen Werdegang als Künstler, Wissenschaftler und Pädagoge gab.14 Ganz dem Ideal des unpolitischen Künstlers verpflichtet, war Kern und Stern unserer pädagogischen Arbeit […] stets, unsere Schüler im Geiste unserer großen Meister zur Handwerkstreue und Ehrfurcht vor den ewigen Werten der Musik zu erziehen, zum selbstlosen Dienst an der Mission des Künstlers, jenseits von hohlem Virtuosentum und Podiumseitelkeit die seelischen und geistigen Kräfte der Meistermusik zu erleben und weiterzutragen in aufgeschlossene Herzen.15

Des Weiteren sei er nach den Angriffen gegen den an seiner Hochschule als Kompositionsprofessor lehrenden Paul Hindemith für diesen eingetreten, habe „wegen der Aufführung geistlicher Chorwerke mit dem Hochschulchor“ Spannungen mit der Studentenführung ausgestanden und sei von Herbert Gerigk im Amt Rosenberg „immer wieder als ‚Judenfreund‘“ verdächtigt worden, „wobei er [= Gerigk] nie vergaß, zu erwähnen, daß meine jüngste Schwester mit einem Mischling verheiratet war und meine einzige Tochter einen Mischling zum Manne hat.“ Zum Beweis der Richtigkeit seiner Angaben, die den bürokratischen, ideologisch unverdächtigen Charakter seiner Tätigkeiten unterstreichen sollten, berief sich Stein darauf, „entgegen dem bereits im März durchgegebenen Geheimbefehl, im Katastrophenfall die Akten, insbesondere alle Personalakten, zu vernichten“, 16 die Unterlagen gerettet zu haben und sie jederzeit vorlegen zu können. Im Verlaufe des Verfahrens führte er dieses Argument mehrmals an, ohne dass in seiner Spruchkammerakte vermerkt wäre, ob er jemals tatsächlich auch Unterlagen beibrachte oder ein Angehöriger der Spruchkammer Akteneinsicht verlangt hätte. 14 Ebenda, Blatt 20–24. Mit Datum vom 6. Juni 1945 rechtfertigte Stein seine Karriere gegenüber dem ihm offensichtlich unbekannten Ministerialrat Dr. Otto von Rottenburg und fasste den Zustand der Musikhochschule während der zurückliegenden letzten Kriegswochen zusammen. Ebenda, Blatt 27. 15 Lebenslauf vom 15. Juni 1945. Ebenda, Blatt 22. 16 Alle Zitate ebenda, Blatt 22f.

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Rhetorisch geschickt ließ Stein auf diese Selbstdarstellung als befehlsverweigernder Beamter die Schilderung seiner Ehrenämter und Verbandsposten folgen, deren Annahme er als Hochschuldirektor nicht habe ausschlagen können.17 Konkret bezog er sich auf seine Mitgliedschaft im Senat der Preußischen Akademie der Künste, im Präsidialrat der Reichsmusikkammer sowie im Reichskultursenat, um sogleich das „dekorative Scheindasein“ dieser Runde zu betonen, „nach nur wenigen Sitzungen hat er seit Kriegsbeginn überhaupt nicht mehr getagt“, und zu resümieren: Auch in diesen musikorganisatorischen Bereichen habe ich, wie ich erforderlichenfalls nachweisen kann, stets versucht, gegen engstirnige Maßnahmen anzukämpfen, so im „Amt für Chorwesen“, das ich im Rahmen der Reichsmusikkammer einige Jahre führte, gegen die unverantwortliche Zerschlagung der Arbeitergesangvereine, die Ausschaltung der Lehrerdirigenten, die Boykottierung der geistlichen Musik und vieles andere.18

Zwei Monate nach Einreichen des Rehabilitationsantrags hakte Stein am 5. Oktober 1945 nach – er hatte bis dahin keine Antwort erhalten – und begann sein sechsseitiges Schreiben mit einer Aufzählung von „Gutachten über meine Einstellung zu den Mischlingen unter den Studierenden, die ich bis zuletzt an der Hochschule gehalten und geschützt habe.“19 Als nächsten Punkt beschrieb er erneut seinen „unentwegten und bis zuletzt“ geführten Kampf gegen „jene unwürdige Boykottierung Paul Hindemiths“, für den er bei Reichserziehungsminister Bernhard Rust vorgesprochen haben will, um ihn von der Kündigung Hindemiths als Lehrer an seiner Hochschule abzubringen, sowie ein gemeinsames Gespräch mit dem Komponisten und Richard Strauss im Hotel Adlon. Hindemith habe ihm dies mit einer auf den 5. Juli 1937 datierten persönlichen Widmung seiner Unterweisung im 17 Seine Verteidigungsschrift Berufliche Tätigkeit seit 1933; Verhältnis zur NSDAP ergänzte hierzu (ebenda, Blatt 53f.): „Einen solchen Ruf von seiten [sic] eines Reichsministeriums – also einer höchsten Staats- und Parteistelle! – abzulehnen, konnte für einen Staatsbeamten wohl kaum in Frage kommen.“ 18 Ebenda. 19 Sechsseitiges Rechtfertigungsschreiben von Fritz Stein vom 5. Oktober 1945, ebenda, Blatt 11–13. Anhand wörtlich und sinngemäß übernommener Passagen ist nachzuvollziehen, dass es ihm zwei Jahre später als Grundlage für die zitierte Verteidigungsschrift Berufliche Tätigkeit seit 1933; Verhältnis zur NSDAP diente.

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Tonsatz gedankt, so dass Stein auf dessen erfolgreiche Rückberufung nach Berlin hoffte, damit Hindemith ihm „als Kronzeuge bestätigen kann, in welchem Geiste sachlicher Verantwortung ich meine Hochschule geleitet habe und stets bemüht war, störenden Parteimaßnahmen entgegenzuwirken.“20 Resultat dieser erfolgreichen Hochschularbeit, so Stein weiter, sei ein künstlerisches und pädagogisches Aufblühen seiner Einrichtung in den Jahren bis zum Kriegsausbruch gewesen, ganz entgegen der Zeittendenz, in der „so viele Schulen heruntergewirtschaftet worden“ seien. Als dritten Punkt der Verteidigungsschrift führte Stein zum Beweis seiner gänzlich unpolitischen, nur künstlerischen Gesichtspunkten verpflichteten Berufungspolitik – die faktisch seiner stramm antisemitischen Personalpolitik widersprach21 – eine Auflistung von 34 Hochschullehrern an, denen ohne Parteibuch der Sprung an sein Haus gelungen sei, unter ihnen Heinrich Kaminski, Ernst Pepping, Hanns Niedecken-Gebhard, Hugo Distler und Wilhelm Furtwängler. Im vierten, abschließenden Punkt deutete er (unter Hinweis auf nähere Ausführungen in seinem Lebenslauf ) überblickshaft „manche Spannungen mit der Studentenführung“ an. Zwei Jahre später ergänzte Stein hierzu, dass diese Auseinandersetzungen sowie Differenzen mit der Vertretung des NS-Dozentenbunds an der Hochschule erst ein Ende gefunden hätten, als die beiden Ämter von seinem Assistenten im Kammerorchester Kermich bzw. seinem Vertrauten, dem stellvertretenden Hochschuldirektor Franz Rühlmann, übernommen worden seien, so dass sowohl die bis zu diesem Amtswechsel ausgestandenen Schwierigkeiten als auch die anschließende Beruhigung zu seinen Gunsten gewertet werden müssten.22 Da er „12 Jahre an leitender Stelle stand und in dieser Zeit wohl hunderte 20 Dümling erwähnt Steins Weigerung, eine zugunsten Hindemiths formulierte Unterschriftensammlung zahlreicher Studierender und einiger weniger Hochschullehrer im Dezember 1934 auf dem Dienstweg an das zuständige Ministerium weiterzureichen, da ein solcher Schritt gegen das Führerprinzip verstoße. Dümling, Auf dem Weg zur „Volksgemeinschaft“, S. 99. Fischer-Defoys Studie ist zu entnehmen, dass Stein sich durchaus für Hindemith einsetzte, um ihm beispielsweise elektroakustische Forschungen mit Friedrich Trautwein zu ermöglichen und Goebbels über Hinkel 1935 von der Qualität des Mathis-Librettos zu überzeugen. Siehe Fischer-Defoy, Kunst Macht Politik, S. 90f., S. 125f., den auf S. 325 zitierten Brief von Hindemith an Stein vom 21. Februar 1935 sowie Steins auf S. 326f. abgedruckten Brief an Wilhelm Furtwängler vom 22. März 1937. 21 Ebenda, S. 70f und Dümling, Auf dem Weg zur „Volksgemeinschaft“, S. 90ff. 22 Siehe seine Ausführungen vom 1. Juli 1947, in: Entnazifizierungsakte, Blatt 53.

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von Bewerbungen um Lehrstellen oder unsachliche Wünsche von Betriebsgenossen ablehnen musste“, habe er „naturgemäss Feinde, die nun die Gelegenheit, sich zu rächen, gekommen glauben.“ Alle gleich nach Kriegsende gegen ihn aufgekommenen „niederträchtigen“ Denunziationen habe er als „haltlos“ zwar sofort ausräumen können, doch da ihm seit März 1945 kein Gehalt mehr gezahlt worden sei und er mit seiner Familie im Luftkrieg allen Besitz verloren habe, bat Stein eindringlich um Gelegenheit zu seiner Verteidigung, um wieder künstlerisch tätig und damit berufstätig werden zu dürfen.23 Aufgrund umfangreicher Vorermittlungen dauerte es noch viele Monate, bis nach diesen ersten Schreiben aus der zweiten Jahreshälfte 1945 Steins Entnazifizierungsverfahren eröffnet wurde. Aus dieser Zwischenzeit datieren einige belastende Zeugenaussagen, beispielsweise von Walter Rumpel, Cellist beim Berliner Rundfunk, der mit Aktenvermerk vom 24. September 1946 zu Protokoll gab, dass Stein im „Dritten Reich folgende in Fachkreisen bekanntgewordene Definition der Jazz-Musik gegeben [habe]: ‚Jazz-Musik ist eine Mischung von Negergeilheit und Judenfrechheit‘.“24 Diese Aussage und ihre explizite Mischung aus Rassismus, Antisemitismus und Geringschätzung von Unterhaltungsmusik sollte in der mündlichen Verhandlung zwei Jahre später eine wichtige Rolle spielen, worauf zurückzukommen sein wird. Nachdem Stein mit Antrag vom 13. April 1946 um die Eröffnung seines Verfahrens gebeten hatte, wurde ihm, wie aus einer Anlage zur Geschäftsordnung hervorgeht, am 31. Oktober 1946 ein Fragebogen zugeschickt, zeitgleich mit einer Anfrage bei der Bezirksverwaltung (die am 8. November beantwortet wurde25) sowie einer bei der Polizei (welche laut Aktennotiz am 24. Februar 1947 reagierte26). 23 In seiner Stellungnahme vom 1. Juli 1947 gab er an, seit Oktober 1945 „einen bescheidenen Lebensunterhalt mit einer kleinen Organistenstelle“ bei der Third Church of Christ, Scientist zu bestreiten (ebenda). Siehe hierzu auch Anlage C zum Fragebogen vom 25. August 1948 mit den Angabe eines monatlichen Verdienstes von RM 200 (ebenda, unpaginiert). 24 Entnazifizierungsakte, Blatt 32. 25 Die Entnazifizierungskommission beim Magistrat der Stadt Berlin für Kunstschaffende hatte bei der übergeordneten Kommission des Verwaltungsbezirks Berlin-Charlottenburg ein Rechtshilfeersuchen gestellt, um vorhandenes Material über Stein zu erhalten, das dort aber nicht existierte. Ebenda, Blatt 34. 26 Ebenda, Blatt 1 und 33.

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Wegen einer längeren Krankheit und um weitere Entlastungsschreiben einzuholen,27 hatte Stein bei der Entnazifizierungskommission für Kunstschaffende beim Berliner Magistrat um Terminaufschub gebeten. Mit seinem Antrag vom 7. Mai 1948 wurde das Verfahren schließlich eröffnet und Stein fügte seinem Fragebogen als Anlagen einen Lebenslauf und zwanzig Entlastungszeugnisse bei (u. a. von Heinz Tiessen, Martin Miederer, 28 Max Seiffert, Friedrich Blume, Eberhard Preussner, Max Planck und Kurt [sic] Vötterle). Sein Bemühen, im Einklang mit seinen künstlerischen Überzeugungen sich als rein sachlich agierender, unpolitischer Verwaltungsmann darzustellen, der nie selbst ideologisch tätig geworden sei, sondern nur Befehle und Anweisungen entgegengenommen, ausgeführt und sogar zuletzt missachtet habe, brachte in den entscheidenden Stadien seines Entnazifizierungsverfahrens allerdings nicht den erhofften Erfolg, so dass man ihn am 10. Mai 1948, wie aus einer Aktennotiz hervorgeht, „auf das Schwierige seines Falles“29 hinwies. Für die mündliche Verhandlung, die schließlich drei Monate später am 25. August 1948 stattfand, hatte er um die Vorladung diverser Zeugen gebeten: Max Kayser und Marie-Luise Mansfeld (für Aussagen über sein Verhalten gegenüber „Mischlingen“), Heinz Tiessen und Hermann Grabner (für das Lehrerkollegium), Hochschulamtmann Emil Schäfer (als Zeuge für seine Verwaltungs- und Geschäftsführung), Dr. Reinhard 27 Nach einer Aktennotiz vom 6. Oktober 1947 hatte Stein sogar erwogen, seinen Entnazifizierungsantrag zurückzuziehen. In: Entnazifizierungsakte, Blatt 46. 28 Miederer, Parteimitglied seit 1933 und Angehöriger der SS im Rang eines Sturmbannführers, der ab 1939 zudem als Mitarbeiter des SD dem Geheimdienst der SS zuarbeitete, bezeichnete sich verharmlosend in seinem Persilschein vom 1. März 1947 als „ehemaliger Musikreferent im Reichserziehungsministerium“. Siehe zu Miederer und der Verortung der Musik in der Ministerialbürokratie des Reichserziehungsministeriums Oliver Bordin, Herman-Walther Freys wissenschaftspolitische Bedeutung – eine Skizze, in: Herman-Walther Frey: Ministerialrat, Wissenschaftler, Netzwerker. NS-Hochschulpolitik und die Folgen, hg. von Michael Custodis, Münster 2014 (= Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 2), S. 91–144. Miederer schien sich seiner Sache sehr sicher, so dass er bei seiner erfolgreichen Bewerbung als Gemeindedirektor im friesischen Neuenburg die Herausgabe seiner alten Personalakte verhindern konnte. Wenige Jahre später benannte man in Würdigung seiner dortigen Verdienste einen Weg nach ihm, der erst im Jahr 2007 umbenannt wurde, nachdem man zufällig seine Vita etwas genauer untersucht hatte. Siehe http://www.nwzonline.de/zetel/in-bewerbung-ns-vergangenheit-verschwiegen _a_5,1,589818264.html (Abruf am 8. März 2014). 29 Ebenda, Blatt 94.

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Limbach (Mitarbeiter des W.-Sulzbach-Verlags und ehemals ehrenamtlicher Leiter des „Reichsverbands der gemischten Chöre Deutschlands“ für seine Tätigkeit als Leiter des „Amtes für Chorwesen und Volksmusik“ in der RMK), Oberkirchenrat Dr. Oskar Söhngen (zur Bestätigung seines konzessionslosen Einsatzes für geistliche Musik) sowie Helene Härter (die Frau eines jüdischen Bankdirektors und bis zur Zerstörung des Hauses Steins Untermieterin, für sein Verhalten gegenüber Juden). Der in seiner musikhistorischen Bedeutung prominenteste Zeuge, dessen Rolle als Steins langjähriger Vertrauter von der entsprechenden Forschung bislang nicht berücksichtigt wurde,30 war ein gerade 33-jähriger Musiker, der seit dem 1. Oktober 1945 den NS-belasteten Wilhelm Furtwängler als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker vertrat: Sergiu Celibidache, „der nahezu 6 Jahre der Hochschule angehörte und mir persönlich in den letzten Semestern als Assistent nahestand, also meine Haltung und den Geist, der in der Hochschule wirksam war, – zumal als Ausländer – objektiv beurteilen konnte […].“31 Im Verlauf der mehrstündigen Verhandlung, die im Wortlautprotokoll überliefert ist, zog die gut vorbereitete Kommission Steins schriftliche Darstellungen, die er im Zwiegespräch wiederholte, stark in Zweifel. Die entsprechenden Rückfragen, in diesem Fall von Kommissionsmitglied Vogel, richteten sich aber nicht gegen seine Mitwirkung im Reichskultursenat sowie in der Reichsmusikkammer – hier folgte man in weiten Teilen seiner Deutung, es habe sich im Falle des Senats um ein Scheingremien sowie bei der RMK um eine Behörde gehandelt, die Verwaltungsaufgaben ausgeführt habe: Vogel: Aber als Abteilungsleiter in der Reichsmusikkammer hatten Sie eine wirkliche Tätigkeit entsprechend den nationalsozialistischen Anordnungen? Stein: Ja, ja, das war eine rein organisatorische Aufgabe, die Vertretung der Chöre. Ich habe mich auch da sehr bald in Gegensatz gesetzt, sogar zu Peter Raabe, dem Präsidenten der Musikkammer. Ich kannte ihn von Jena her, er hat dort 30 Insbesondere bei Klaus Lang wären entsprechende Ausführungen zu Celibidaches Berliner Zeit vor und nach 1945 zu erwarten gewesen, siehe: Klaus Lang, Celibidache und Furtwängler. Der große philharmonische Konflikt in der Berliner Nachkriegszeit, Augsburg 2010. 31 Schreiben von Fritz Stein an die Entnazifizierungskommission für Kunstschaffende beim Magistrat Berlin vom 7. Mai 1948, in: Entnazifizierungsakte (unpaginiert).

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bei mir promoviert. Trotzdem waren wir in scharfem Gegensatz. Im Jahre 1939 wurde das Amt für Chorwesen aufgelöst. Der damalige Vizepräsident der Musikkammer, Ihlert, hat mir erklärt, wir hätten zu wenig getan. Seit 1939 hörte auch diese Tätigkeit auf.32

Strittig dagegen waren die eindeutigen Verpflichtungen des Musikers Stein im Bereich der Politik, als er länglich berichtete, wie es zu seiner Chorleitung bei der SS-Leibstandarte Adolf Hitler gekommen war. Seiner Darstellung nach sei ihm im März 1939 von Sepp Dietrich, SS-General und Kommandeur der Leibstandarte, kurzfristig übermittelt worden, Hitler wolle zu seinem Geburtstag im April von seiner Leibstandarte einige Lieder vorgetragen bekommen. Bereits in seiner im Vorjahr 1947 abgefassten Erklärung Berufliche Tätigkeit seit 1933; Verhältnis zur NSDAP hatte Stein anekdotenreich geschildert, wie Hitler im Ersten Weltkrieg mit seiner damaligen Einheit den von Stein geleiteten Kriegsmännerchor Laon gehört habe, so dass er diese Aufforderung als Befehl empfand und als Herausforderung annahm: Da – ich bekenne es offen – reizte mich die Aufgabe, in so kurzer Zeit mit dem jungen, unverbrauchten Chormaterial eine künstlerische Leistung zu vollbringen; ich erklärte mich bereit, die Verantwortung für das Gelingen zu übernehmen, wenn mir die Sänger, befreit von jedem militärischen Dienst zu uneingeschränkter Probenarbeit in den nächsten Tagen zur Verfügung gestellt würden. Das wurde mir zugesagt, und so probte ich in Zlinn 14 Tage bis zu 7 Stunden mit dem Erfolg, dass der Chor am Vorabend des 20. April in der Reichskanzlei vor Hitler und einem kleinen Kreis seiner engsten Mitarbeiter ein anspruchsvolles Programm vortragen konnte. Eine Weiterarbeit mit dem Chor verhinderten die späteren politischen und militärischen Ereignisse.33

Hinsichtlich seiner eigenen politischen Einstellung räumte Stein im weiteren Gang der mündlichen Vernehmung ein, „mit einer gewissen Gutgläubigkeit eben als unpolitischer Mensch der Machtübernahme durch die Partei gegenübergestanden“ zu haben. Denn „vaterländisch“ und „religiös“ überzeugt, habe er an eine „vaterländische Aufgabe“ geglaubt:

32 Protokoll der mündlichen Verhandlung am 25. August 1948, ebenda, S. 5f. 33 Entnazifizierungsakte, Blatt 55.

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Ich sah, wie die ausländischen Regierungen unsere Regierung anerkannten. Ich sah, wie an den Feiertagen das ganze diplomatische Corps dem Adolf Hitler seine Aufwartung machte. Ich sagte mir als unpolitischer Mensch, ganz in meine künstlerische Aufgabe vertieft, da scheint sich etwas Ordentliches anzubahnen. Aber je länger es ging, desto mehr merkte ich, was gespielt wurde. Zuerst wurde es mir klar, als die Judenverfolgungen einsetzten.34

Als Gegen- und Zerrbild dieser Einstellung konfrontierte ihn das Kommissionsmitglied Schmidt mit seiner „recht fragwürdigen Kritik der Jazzmusik“35 und traf damit einen wunden Punkt, bei dem Stein kurzzeitig die Fassung verlor. Bereits elf Jahre zuvor hatte dieser eine Anfrage des Down-BeatMagazins zur Bedeutung des Jazz in der deutschen Musikausbildung als irrelevant zurückgewiesen36 und blieb auch jetzt bei seiner Meinung: „Ich hasse den Jazz über alles“. Schmidt und sein Kollege Vogel, die dank eines Hinweises bereits Kenntnis von einer ähnlichen rassistischen Äußerung Steins hatten,37 hakten nach und Stein stolperte prompt über seine alten Überzeugungen: Schmidt: Gleich danach die Nigger und die Juden. Stein: Bach hat bei atonaler Musik immer von teuflischem Geplärre geredet. Für mich ist Jazzmusik teuflisches Geplärre. In meinen Wehrmachtskonzerten habe ich immer versucht, die Soldaten zu Bach zu führen. Es gelang uns auch; denn die Jungens verlangten Zugaben von Bach. Vogel: Herr Professor, Sie sprechen mit einer solchen Selbstverständlichkeit von „Ihren Wehrmachtskonzerten“ und „Ihren Jungens“, dass man glauben könnte, wir sind noch im Jahre 1944 und nicht 1948.38

Die anschließende Diskussion, in der man ihm regimetreue Schriftstücke vorhielt, blieb für Stein zunächst heikel, bis mit dem ersten aufgerufenen 34 Ebenda, Vernehmungsprotokoll, S. 4. 35 Ebenda, S. 10. 36 Am 11. Juni 1937 antwortete er dem Down-Beat-Korrespondenten Duncan MacDougald: „Die Frage der Jazz-Musik ist in Deutschland zur Zeit in keiner Weise aktuell […].“ Zitiert nach Fischer-Defoy, Kunst Macht Politik, S. 328. 37 Siehe den zitierten Aktenvermerk zur Aussage des Cellisten beim Berliner Rundfunk, Walter Rumpel, vom 24. September 1946, in: Entnazifizierungsakte, Blatt 32. 38 Ebenda, Protokoll der mündlichen Vernehmung, S. 10f.

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Zeugen Sergiu Celibidache ein erklärter Fürsprecher auftrat. Celibidache eröffnete seine Vernehmung mit einem Statement: Ich möchte über einen Vorfall aussagen: 1942 hiess [sic] es, die Türkei ginge wahrscheinlich in den Krieg. Man wusste nicht, auf welcher Seite. Ich habe in der Hochschule darüber Äusserungen [sic] und wurde deshalb angezeigt. Ich sollte ausgeschlossen werden. Ich wurde dann zu Prof. Stein gebeten, er hat mir gesagt: „Bitte halten Sie Ihr Maul. Sie wissen, wie es steht. Ich bin ganz Ihrer Ansicht.“39

An dieser Stelle ist einzuflechten, dass ein ähnlicher Vorfall zwei Jahre früher dokumentiert ist und Celibidaches RMK-Karteikarte, die ihn als „Komponist Student (a capella-Chor d. Hochschule f. Musik)“ verzeichnet, die handschriftliche und vom Reichssicherheitshauptamt am 23. Oktober 1941 gestempelte Aufschrift trägt: „Über den Obengenannten liegt folgende Notierung vom 26. 7. 1940 vor: C. hat versucht einen Brief staatsabträglichen Inhalts ins Ausland zu senden.“40 Daraus resultierte die Einschätzung, dass gegen seine „Verwendung vor der Truppe“ Bedenken bestünden. Auf Rückfrage von Kommissionsmitglied Vogel, ob diese Begebenheit von 1942 „vor Stalingrad“ stattgefunden habe, ergänzte Celibidache: Celibidache: Die Deutschen waren noch sehr auf der Höhe. Prof. Ansorge hat es weiter angezeigt, ich sollte ausgeschlossen werden. Ich verdanke es Prof. Stein, dass ich immer weiter in der Hochschule blieb. Ich habe versprochen, nicht wieder zu sprechen. Wir haben uns vielleicht eine halbe Stunde unterhalten. Ich habe seine Einstellung kennengelernt. Sie war alles andere als nazistisch. […] Ich habe täglich mit ihm gearbeitet, habe seinen Chor geleitet. Er hat in der Hochschule nichts Politisches von uns verlangt, zu uns Ausländern war er wie ein Vater. Stein: Haben Sie bemerkt, dass ich den Hitler-Gruss [sic] befohlen habe? Celibidache: Nein. Ich habe die Zeit dort erlebt. Ich weiss [sic], dass er für die Ausländer, die dort zweitklassig waren, immer ein Beschützer und wie ein Vater war. 39 Ebenda, S. 14. 40 Karteikarte der Reichsmusikkammer für Sergin [sic] Celibidache im Bundesarchiv Berlin. Ob Celibidache tatsächlich diesen Vorfall meinte und ihn bei seiner Aussage vor Steins Spruchkammer folglich aus dem Kopf falsch datierte oder ob von zwei unabhängigen Vorfällen auszugehen ist, muss bislang offenbleiben.

Nachkriegsperspektiven zur Reichsmusikkammer  |

Wenn auch nicht bei allen von Stein aufgerufenen Leumundszeugen davon ausgegangen werden kann, dass sie der Kommission bekannt waren – so dass sie von ihm vermutlich nach bestimmten Kriterien („Mischlinge“, „Verwaltung“, „Kollegium“, „geistliche Musik“, „RMK“, „Juden“) ausgewählt wurden –, dürfte die Wirkung von Celibidaches Erscheinen vor der Spruchkammerkommission von dessen Bekanntheit profitiert haben. Denn auch wenn er sich als Steins langjähriger Assistent und Schüler zu erkennen gab, sprach Celibidache zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im August 1948 als amtierender Dirigent der Berliner Philharmoniker und Nachfolger von Furtwängler. Dass hier aber doch nur der Auftritt eines Stellvertreters statt des Platzhirschen selbst stattfand – der wiederum, wie im Fall von Werner Egk, durchaus bereit war, für hochgradig NS-belastete Kollegen einzutreten41 –, und aus der Nachfolge nur ein Interim werden sollte, lag zu dieser Zeit in Berlin durchaus in der Luft. Wie aus Unterlagen im Berliner Landesarchiv hervorgeht, die Entwürfe für Celibidaches erste Dienstverträge mit dem Orchester und dem Berliner Magistrat enthalten,42 hatte man im Vorjahr 1947 vertraglich mit ihm zwar einig werden wollen, ohne dabei aber Furtwängler zu vergraulen. Wie diplomatisch unterwürfig etwa der zuständige Leiter der Abteilung beim Berliner Magistrat, Dr. Alfred Berner, sich bemühte, kurz nach Furtwänglers Entnazifizierung im Winter 1946 alle Pläne für das Orchester (einschließlich der Absprachen mit Celibidache) abzustimmen, dokumentiert ein Brief vom dritten Weihnachtstag: Wir begrüssen [sic] es mit grosser [sic] Freude, dass die eingehenden Untersuchungen der Entnazifizierungs-Kommission zu dem Ergebnis geführt haben, Ihrer Rückkehr in das künstlerische Leben Deutschlands den Weg zu öffnen. Ebenso wie es für Sie eine Genugtuung sein wird, Ihr Recht gefunden zu haben, ist es für uns 41 Siehe zu Furtwänglers Engagement für Egk: Michael Custodis und Friedrich Geiger, Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel (= Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 1), Münster 2013, S. 130ff. 42 Siehe etwa den Briefentwurf der Magistratsabteilung für Kunst vom 15. Januar 1947 an Celibidache sowie ein umfangreiches Gesprächsprotokoll vom 5. Dezember 1946 mit Major Bitter, Celibidache, Orchestermitgliedern und Magistratsangehörigen, in dem seine auf den 1. September 1945 rückdatierte Übernahme des Postens als Chefdirigent diskutiert wurde, in: Landesarchiv Berlin, Akte 3 Rep. 014 Nr. 2178.

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|  Michael Custodis

ein Gewinn, dass uns dadurch Ihre Persönlichkeit als die eines grossen Künstlers frei von jedem kleinlichen Makel zurückgeschenkt wurde. Unser grösstes Interesse gilt naturgemäß der Frage, in welchem Ausmasse [sic] Sie wieder im Berliner Musikleben tätig sein wollen. Wie Ihnen wahrscheinlich bekannt ist, wird das Berliner Philharmonische Orchester seit dem Zusammenbruch der tragenden Reichsbehörden von der Stadt Berlin subventioniert. Wir sind also nicht nur ideell, sondern auch materiell an der Tätigkeit des Orchesters beteiligt und stehen zurzeit vor der Aufgabe, für diese Zusammenarbeit eine verbindliche Rechtsform zu finden. Unter anderem ist beabsichtigt, mit dem derzeitigen Dirigenten, Herrn Sergiu Celibidache, einen Vertrag abzuschliessen [sic]. Als Leiter der für diese Aufgaben zuständigen Abteilung des Magistrats stehe ich jedoch auf dem Standpunkte, keine rechtsverbindlichen Massnahmen [sic] zu treffen, ohne mit Ihnen über diese Fragen Fühlung genommen zu haben, denn es ist unser Wunsch, – und wir sind uns darin mit dem Philharmonischen Orchester und auch Herrn Celibidache völlig einig – dass die Oberleitung wieder in Ihre Hände gelegt wird. Darum scheint es mir notwendig, mich recht bald mit Ihnen über Ihre Absichten unterhalten zu können. Mit der Bitte, mich wissen zu lassen, wann wir zu einer diesbezüglichen Besprechung in meinem Amt zusammentreffen können, bin ich mit vorzüglicher Hochachtung43

Zurück zu Steins Spruchkammerverfahren bemühte er in seinem Schlusswort noch einmal das Spannungsfeld von Bürokratie und Ideologie, in dem er als Künstler versucht habe zu bestehen. Sein Wunsch nach einer abschließenden Entnazifizierung richte sich daher vor allem auf die Aufhebung seines Berufsverbotes: Wenn ich gelegentlich Konzessionen machen musste, tut mir das aufrichtig leid. Ich möchte zum Schluss sagen: wenn ich eine Schuld auf mich geladen habe, so habe ich das in diesen dreieinhalb Jahren wirklich gebüsst [sic]. Ich denke nicht an die materielle Seite meiner Situation, dass ich dreifach ausgebombt bin, seit 4 Jahren meine Familie nicht gesehen habe, das kommt nicht in Frage. Aber dass ich dreieinhalb Jahre aus meinem Beruf ausgeschlossen bin, das war eine Strafe, die bitter genug ist.44 43 Durchschlag des Schreibens von Alfred Berner an Furtwängler vom 27. Dezember 1946, in: ebenda. 44 Entnazifizierungsakte, Protokoll der mündlichen Vernehmung, S. 22.

Nachkriegsperspektiven zur Reichsmusikkammer  |

Nach eingehender Beratung kam die Kommission zur Überzeugung, dass Fritz Stein ein „überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus“ gewesen sei. Da er zum einen in der Hauptverhandlung aber Zeugen hatte aufbringen können, die seinen Einsatz für Bedrängte und rassisch Verfolgte bestätigten, und er zum anderen inzwischen Siebzigjährig und seit 1945 nur noch in untergeordneter Stellung tätig sei, befürwortete man trotz schwerwiegender Verfehlungen die Weiterleitung seines Entnazifizierungsantrags an die zuständige Militärbehörde, womit das Verfahren endete. Obgleich seine Mitwirkung in der Reichsmusikkammer in der mündlichen Verhandlung kaum eine Rolle gespielt hatte, kam sie in der Urteilsbegründung bei der Aufzählung seiner Verstrickungen in den NS-Staat doch an zentraler Stelle zur Sprache. Dort stellte man seine Ämter als Präsidialrat und Fachschaftsleiter auf eine Ebene mit seiner Mitwirkung im Kampfbund für deutsche Kultur, im Reichskultursenat sowie der NSDAP-Mitgliedschaft. Bei der ideologischen Gewichtung dieser Positionen allerdings bestätigt sich der Eindruck einer markanten Polarisierung von Bürokratie und Ideologie, wenn die Kommission in ihrer Begründung feststellte: „Als Mitglied des Reichskultursenates und des Präsidialrats der ehemaligen Reichsmusikkammer hat der Appellant [sic] keine politische Aktivität gezeigt. Die Tätigkeit des Appellanten als Fachschaftsleiter Musik beschränkte sich auf künstlerisches Gebiet.“45 Es bleibt festzuhalten, dass zum Zeitpunkt von Steins Entnazifizierung im Herbst 1948 die für das Musikleben wesentlichen Netzwerke längst wieder aktiv waren und angesichts der Skepsis, mit der man in der Öffentlichkeit wie der Musikerschaft der Spruchkammerpraxis begegnete, eine Beschäftigung mit der Reichsmusikkammer keine Priorität hatte. Wie der Vorlauf zu Steins Verfahren sowie die mündliche Verhandlung zeigen, war die Kommission einer Bewertung der RMK als NS-Institution keineswegs ausgewichen. Deren Strukturen sowie die Konsequenzen der von ihr ausgeführten Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen auf die Biografien zahlloser, in Deutschland verbliebener wie exilierter Musiker ließen sich aber noch kaum absehen und hätten viel Zeit und Personal für gründliche Aktenstudien und Zeugenbefragungen erfordert. Bei der Beurteilung von politisch Belasteten konzentrierte man sich daher zunächst auf offensichtliche, schwere und gut

45 Ebenda.

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nachweisbare Verfehlungen, nach denen sich angesichts der Fülle zu bearbeitender Fälle rasch solide Urteile fällen ließen. Aus Sicht der an der RMK beteiligten Protagonisten, die in der Nachkriegszeit umgehend die Restitution ihrer Machtkartelle in Angriff nahmen und sich hierbei wirkungsvoll gegenseitig schützten, war es entsprechend wünschenswert, eine Mitwirkung in der Reichsmusikkammer als Dienst an der Kunst und lästige Verwaltungsaufgabe zu verniedlichen, um den Schein aufrechtzuerhalten, dass die politische Lenkung der Musik allein vom Reichspropagandaministerium ausgegangen sei. Aus der heutigen Distanz, die viele dunkle Bereiche kleiner und größerer Biografien inzwischen erschlossen und quellenkritisch als filigrane Verschleierungen oder plumpe Lügengebäude offengelegt hat, ist dagegen unstrittig, dass die RMK als Verwaltungs- und Steuerungsorgan nicht außerhalb der NS-Politik angesiedelt, sondern ein nicht unbedeutender Bestandteil des Goebbels-Imperiums war, welches der eigenen propagandistischen Natur nach Dinge größer oder kleiner inszenierte, als sie eigentlich waren.

Nachlese Albrecht Riethmüller

Die Tagung über die Reichsmusikkammer hat Aufmerksamkeit auch im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefunden.1 Der ausführliche sachliche Bericht mündete indessen in einen auffällig tendenziös gegen mich als einen der Tagungsleiter gerichteten Schluss: Dem Liszt-Forscher und Dirigenten Peter Raabe, Nachfolger von Strauss im Amt des Reichsmusikkammerpräsidenten, wurde kein eigener Vortrag gewidmet. Auch Nina Okrassa, die im Jahr 2004 eine abwägende, keineswegs tribunalistische Biographie über Raabe geschrieben hatte, war nicht anwesend. Albrecht Riethmüller von der Freien Universität Berlin, der die Tagung zusammen mit Michael Custodis von der Universität Münster leitete, erklärte Raabe für „inkompetent“, zu einer „bedeutungslosen Figur“. Albrecht Dümling, ebenfalls nicht unter den geladenen Referenten, entgegnete darauf aus dem Publikum, Raabe habe 1938 gegen die Ausstellung „Entartete Musik“ protestiert, seine Teilnahme an deren Eröffnung abgesagt und seinen eigenen Rücktritt als Reichsmusikkammerpräsident eingefordert, was Goebbels untersagt habe. Riethmüller bezeichnete daraufhin diese Art des Widerstands als lächerlich. Für ihn waren nur zwei Handlungsweisen „das Mindeste dessen, was man tun konnte“, nämlich: „sich umbringen oder weggehen“. Nun denn, wenn ein deutscher Professor heute solch einen Mut am Tagungstisch bekundet, darf man wohl feststellen, dass die Menschheit in siebzig Jahren einen gewaltigen Fortschritt gemacht habe.

I. Lassen wir einmal die Peinlichkeit beiseite, dass der Musikkritiker aus Anmaßung oder Bevormundung glaubt bestimmen zu sollen, wer zu einer Veranstaltung eingeladen und was dieser dabei tun sollte,2 so ist doch anzumer1 Jan Brachmann, War es Bekenntnis oder Camouflage?, Ausgabe vom 12. Juli 2013. 2 Zunächst war zwar angedacht, Albrecht Dümling als Referenten zu gewinnen, aber das erledigte sich von selbst, nachdem er im Vorfeld der Tagung den Mitver-

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ken, dass er den entscheidenden Zusammenhang unterschlagen hat, in dem die Formel von Emigration und/oder Suizid gebraucht worden war und den der vorgenannte Albrecht Dümling in einer eigenen Rezension für ein anderes Blatt so beschrieben hat:3 Sogar der Ort der Tagung, das Clubhaus der Freien Universität Berlin, stand in einem Bezug zum Thema: In dieser schönen Villa am Zehlendorfer Waldsee hatte einmal Friedrich Georg Knöpfke, der erste Direktor der Funk-Stunde Berlin, gelebt. Da er in diesem ersten Hörfunk-Sender Deutschlands auch nach dem 30. Januar 1933 die Meinungsfreiheit verteidigte, wurde er von der Gestapo verhaftet und misshandelt. Am 14. September 1933, zwei Monate vor der feierlichen Eröffnung der Reichskulturkammer, nahm sich Knöpfke das Leben. Dass die Kultur nun der Propaganda diente, hätte dieser mutige Mann nicht gebilligt. Es war damals gefährlich, auf solchen Ansichten zu insistieren.

Nachdem der Medienvertreter sich umgebracht hatte, verließ die Familie ihr Haus und floh nach Südamerika. Als dann in der Schlussdiskussion der Tagung die Rede auf den „Widerstand“ kam, den der Kammerpräsident Raabe geleistet haben soll, brachte ich die Geschichte des Hauses, in dem wir uns befanden, noch einmal in Erinnerung, weil es mir wie eine Verhöhnung jenes verzweifelten Menschen vorkam, Raabe bloß deshalb schon zu einem Widerständler zu erklären, weil er einmal die nie verwirklichte Absicht geäußert hat, sein präsidiales Amt niederzulegen, und dennoch bis zum Staatsuntergang Vasall der Durchsetzung der rassistischen NS-Kulturpolitik geblieben ist. Schon früh in der Bundesrepublik Deutschland war es hagiographischen Stimmen in der Musikologie gelungen, dem wenige Wochen vor Kriegsende verstorbenen, noch nicht im Ruhestand befindlichen ranghöchsten Nazi-Musikfunktionär ein Image zu verpassen, das nicht zuletzt unter Verwendung des Klischees einer unpolitischen Musik einen zum Wohle der anstalter Michael Custodis publizistisch in die Nähe der Quellenfälschung gerückt hat, um den Musikologen Friedrich Blume gegen Custodis in Schutz zu nehmen, der Blumes akademische Karriere im Dritten Reich kritischer betrachtet hatte, als Dümling es gefiel. Ob Dümling den ihm bekannten Journalistenkollegen Brachmann als Kombattanten mitbrachte oder als Sprachrohr verwendete, bleibe dahingestellt. 3 Von Musikern ersehnt, durch Goebbels ausgehöhlt. Eine Berliner Tagung zur Reichsmusikkammer, in: Neue Musikzeitung 62 (2013), Nr. 9 (September).

Nachlese  |

Musikerschaft unermüdlich tätigen Vertreter von Standesinteressen hervorhebt. Das eigentlich Krude an dem FAZ-Artikelschluss steckt in der Bemerkung, dass an Raabe etwas Widerständlerisches sein müsse, weil Goebbels ihm den Rücktritt abgeschlagen und Raabe es dabei belassen hat. (Auch Raabes unmittelbarer Chef Goebbels kuschte stets, wenn ihm sein unmittelbarer Chef verboten hat, was der Minister sich eigentlich gewünscht hat, etwa den Expressionismus als NS-Kunstform oder die Scheidung von seiner Frau Magda Quandt.) Die Verklärung noch des unscheinbarsten Aktes, ja sogar Nicht-Aktes zu einem Akt des Widerstands gehört zu jener Weißwäscherei, wie sie seit 1945 betrieben wird und gerade im Blick auf Musiker und in deren Schlepptau auf Musikwissenschaftler nach wie vor lästige Konjunktur hat. Raabe noch nach so vielen Jahrzehnten als Widerständler hinstellen zu wollen, zeigt, welcher Stillstand in den Köpfen bestimmter Zirkel nach wie vor herrscht, und erinnert lebhaft an das, was der Historiker Johannes Fried von der Universität Frankfurt a. M. an Familien untersucht hat, nämlich dass diese bis zur Halsstarrigkeit geleugnet haben, dass es in der Familie ein Mitglied gebe, das naziverstrickt gewesen sein könnte. Die historische Forschung ist längst nicht mehr dort, wo einzelne Mitglieder der Musikerfamilie verharren.

II. Prompt rief der Standpunkt des Zeitungsartikelschlusses Sympathisanten auf den Plan und löste Ewiggestrigen die Zunge, wie eine anonyme Leserzuschrift zeigt, deren Verfasser – der Handschrift nach zu urteilen, ein schon betagtes Semester – mich nun als „geistiges Ferkel“ auszumachen wusste (siehe Abbildung 1). Für den Fall, dass der Code den Jüngeren inzwischen nicht mehr vertraut ist, sei darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Ausdruck vor Jahrzehnten in betulicheren akademischen Kreisen als Chiffre gebräuchlich war, um größte Abscheu zu zeigen, während man sich nicht herabließ direkt zu sagen, was man meinte. Die anderen Wörter, die da stehen – insbesondere „Schmarotzer“ – sind deutlich genug für den Hintergrund der Gesinnung, die hier aufscheint. Der Sache nach nicht unähnlich, aber ohne die feige Anonymität ging am 15. Juli vom Server der Universität Erlangen folgende E-Mail ein:

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Abbildung 1. Zuschrift, von der Deutschen Post abgestempelt am 14. Juli 2013 in deren Briefzentrum 80, das heißt München

Nachlese  |

Sehr geehrter Herr Riethmüller, ich lese im Bericht der FAZ vom 12. Juli von Ihrem Auftritt auf der Tagung zur „Reichsmusikkammer“, Ihrer Reaktion nämlich auf den Hinweis von Albrecht Dümling. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass die Art von Widerstand, die Sie als lächerlich bezeichnen, Tausende, die mutiger waren als ihre Zeitgenossen, ins Konzentrationslager und dann auch ums Leben gebracht hat? Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass die gleiche Antwort, die Sie einem Kritiker des Regimes gegeben hätten: „Wenn es Ihnen nicht passt, dann wandern Sie doch aus oder begehen Sie Selbstmord“, ihm auch von einem Oberscharführer hätte gegeben werden können und nicht selten wahrscheinlich sinngemäß gegeben worden ist. Denken Sie bitte über das Brutale in Ihrer Äußerung nach! Die Verachtung gegenüber Pharisäern und spät geborenen Widerstandskämpfern Ihres Schlages, die in der Schlussbemerkung des Berichterstatters Jens Brachmann zum Ausdruck kommt, kann ich nachempfinden. Mit freundlichen Grüßen Prof. Dr. A[lbrecht]. Winnacker

Diese Einlassung ist in der Sache abwegig und im Ton unappetitlich. Es will scheinen, als ob der Leserbriefschreiber die Person, um die es ging, nicht zur Kenntnis nimmt: den Präsidenten einer Kammer, die auch für Arbeitserlaubnis und Berufsverbot der Musikerschaft zuständig war, wobei Raabes Unterschrift Schicksale besiegelt hat. Die Verwechslung von Opfern und Tätern erscheint hier heillos. Aber der Leserbriefschreiber geht noch weiter. Nachdem der Verfasser des FAZ-Artikels am Ende mich sozusagen zum Abschuss freigegeben hat, steckt Winnacker, Seniorprofessor an der Universität Heidelberg und zuvor Inhaber eines Lehrstuhls für Werkstoffe der Elektrotechnik an der Universität Erlangen-Nürnberg, nun mich gewissermaßen in die Uniform eines Mannes der Waffen-SS. Gegen alle Grundsätze ethischen Verhaltens beim Schreiben wird mir in Anführungszeichen ein erfundenes Zitat in den Mund gelegt, um daran das „Brutale“ dieser Äußerung zu geißeln. Dazu passt dann jene nach 1945 stets wieder von Vertretern der Eliten bemühte Chiffre des Oberscharführers, mit der man damals Leute zu bezeichnen pflegte, die man als Inbegriff des Bösen und Inkarnation des Nationalsozialismus betrachtete; für die Brutalität musste ein niederer Unteroffiziersrang herhalten, kein feiner Offiziersrang oder die Generalität. Die eigentümliche Art, mit Dingen aus der Nazizeit umzugehen, hat der Leserbriefschreiber auch an anderer Stelle schon demonstriert, dort mit Hilfe der Gedankenfiguren der verharmlosenden Ahnungslosigkeit, kurzum der Ig-

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noranz als Methode: Sein Vater Karl, damals im Management der IG Farben und später Vorsitzender des Marburger Universitätsbundes, war 1943 (als der Sohn noch ein Baby war) im Dienste seiner Firma zu Besuch im Konzentrationslager Auschwitz. In einem jüngeren Buch über die Geschichte des Chemieunternehmens wird darauf eingegangen und durch Bemühen der oral history unter anderen Statements folgendes eingerückt:4 „Mündliche Mitteilung von Albrecht Winnacker zu einem Aufenthalt Karl Winnackers in Auschwitz: Ter Meer habe ihm damals auf seine Frage was dort geschehe, gesagt: ‚Was in Auschwitz passiert, wollen Sie nicht wissen.‘“ Im Rahmen der Versuche, nach langen Jahrzehnten endlich die Nazizeit ihrer Vorgängerinstitution aufzuarbeiten, hat die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften im Juni 2013 – unmittelbar vor der Tagung über die Reichsmusikkammer – eine Ausstellung im Foyer der Akademie organisiert. Bei der Vernissage hat ihr Präsident, Günter Stock, darauf hingewiesen, dass die Entlassungsurkunden für die ca. 30 „nichtarischen“ Akademiemitglieder und Mitarbeiter sämtlich die Unterschrift eines der damaligen Sekretare der Akademie, nämlich die von Max Planck tragen. Man muss das, fügen wir hinzu, sagen können und dürfen, ohne gleich devot hinzusetzen zu müssen, dass er irgendwie doch Widerständler war. Stock schmerzte es zudem zu berichten, dass damals keinerlei Solidarisierung der „arischen“ Akademiemitglieder mit den Ausgestoßenen bekannt geworden sei. So sah wohl das Widerständlerische der Wissenschaftselite damals aus. Auch von Professor Raabe, der sich selbst als den obersten Musiker des Reiches bezeichnete, ist nicht bekannt geworden, dass er Solidarität mit denen gezeigt hätte, die in seinem Namen aus der Kammer ausgeschlossen worden sind oder denen eine Mitgliedschaft in ihr versagt geblieben ist. Die Gründe sind undurchsichtig, warum jemand noch immer glaubt, sich schützend vor einen überzeugten Nazi-Kulturfunktionär stellen zu müssen. Der verklärende Blick auf den Kammerpräsidenten als Mann irgendeines Widerstandes kann in letzter Instanz wohl nur den Zweck haben, die alten Kämpfer der Bewegung, soweit sie auf musisch-kulturellem Gebiet tätig waren, uns selbst heute noch als Vorbilder hinstellen zu wollen. An der Geschäftsgrundlage der Nazi-Kulturpolitik, dass Deutschland nicht durch Musik von Juden, 4 Stephan H. Lindner, Hoechst. Ein I.G. Farben Werk im Dritten Reich, München 2005, S. 417, Anm. 524. Wir vertrauen darauf, dass es sich um eine verlässliche Publikation handelt und die Mitteilung korrekt wiedergegeben ist.

Nachlese  |

von Schwarzen und von anderen „Untermenschen“ besudelt werden dürfe, sondern seinen reinrassischen deutsch-arischen Musiktraum zu träumen habe, daran hat in der Reichsmusikkammer, wie es scheint, niemand im Ernst gezweifelt. Der staatliche Glaube an die Suprematie des Deutschen und der Glaube der Musiker an die Hegemonie der deutschen Musik bildeten eine fatale Melange.

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Autorinnnen und Autoren

Oliver Bordin, Doktorand im Fach Musikwissenschaft an der Universität Münster Michael Custodis, Dr. phil., Professor für Musikwissenschaft an der Universität Münster Andreas Domann, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Köln Sophie Fetthauer, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg Friedrich Geiger, Dr. phil., Professor für Musikwissenschaft an der Universität Hamburg Jürgen May, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Richard-StraussInstitut, Garmisch-Partenkirchen Oliver Rathkolb, Dr. iur. Dr. phil., Professor für Geschichte an der Universität Wien Albrecht Riethmüller, Dr. phil., Professor für Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin Susanne Schaal-Gotthardt, Dr. phil., Direktorin des Hindemith-Instituts Frankfurt a.M. Gerhard Splitt, Dr. phil., Professor für Musikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg Martin Thrun, Dr. phil., Privatdozent für Musikwissenschaft an der Universität Leipzig

Personenregister

A Abendroth, Hermann 201, 212, 213, 217, 220 Abert, Hermann 109 Ader, Chaim Leiser 49 Arendt, Hannah 199 Albrecht, Hans 115, 116, 139, 141 Albrecht, Kurt 49 Alemany, Bernard 49 Alexander, Hermann 49 Alterthum, Paul 49 Altmann, Richard 49 Altmann, Wilhelm Siegfried 49 Andress, Max 54, 67 Arak, Pepi Berta 49 Assmann, Aleida 190, 215, 216 Aster, Misha 202, 209, 212, 217 Auerbach, Erich 163 B Barlach, Ernst 16 Bartels, Adolf 111 Bártok, Béla 178 Bausznern, Waldemar von 70 Beethoven, Ludwig van 29, 95, 212, 218 Benecke, Otto 140, 141, 145 Berg, Alban 166 Berner, Alfred 235 Biebrach, Kurt 138 Biermann, Lydia 53, 56, 63 Blacher, Boris 97–99 Blume, Friedrich 203, 212, 224, 230, 240 Blumenthal-Menthalow, Hellmuth 53, 54

Bollmus, Reinhard 196 Bormann, Martin 198 Borries, Fritz von 102, 117, 125, 134, 139, 141, 144 Brandes, Felix Karl 53 Braun, Ralph 116 Brecher, Gustav 110 Brendel, Franz 33 Bruckner, Anton 29, 121 Brüning, Heinrich 19, 20 Busch, Fritz 19, 23 Busoni, Ferruccio 109 C Celibidache, Sergiu 225, 231, 234–236 Cerff, Carl 132 Clemens, Adolf 70 Cohn, Fritz 53 Cohn, Georg 53 Cornelißen, Peter 191 Custodis, Michael 239, 240 D Dammann, Egon 48 d’Arguto, Roseberry 53, 64, 65 Darré, Walther 16 Dietrich, Sepp 232 Distler, Hugo 228 Dix, Otto 16 Drewes, Heinz 12, 29, 30, 74, 78, 79, 92, 101, 102, 108–118, 120–127, 129–136, 139–141, 144, 145, 192 Drüner, Georg 215

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|  Personenregister

Dümling, Albrecht 111, 239, 240, 243 E Ebert, Hans 133 Egk, Werner 12, 28, 82, 87–100, 118, 160, 192, 235 Ehmann, Wilhelm 203 Ehrenreich, Rolf 99 Eibenschütz-Wnuzcek, Wilhelmine 53, 66 Einstein, Alfred 20 Elste, Martin 211 Engel, Erich 18 Engel, Hans 130 Engelke, Bernhard 130 F Fellerer, Karl Gustav 130 Fellmer, Helmut 110 Fischer, Karl 110 Flesch, Hans 167 Föhl, Otto 54 Fortner, Wolfgang 132 Fraenkel, Ernst 35 Frank, Hans 29, 210 Freyberg, Erna 53 Frick, Wilhelm 16, 17, 111 Fried, Johannes 241 Friedel, Claudia 41 Friedländer, Isaak Paul 53 Fuchs, Martina 8 Funk, Walther 114, 156 Furtwängler, Wilhelm 7, 12, 27, 36, 37, 102, 103, 113, 125, 133, 171–174, 189, 191–193, 203, 207–210, 212–214, 216, 228, 231, 235, 236

G Geiger, Friedrich 206, 219 Georgescu, George 210 Gerhard, Anselm 215 Gerigk, Herbert 99, 100, 194, 196, 199, 204, 205, 216, 226 Gluck, Christoph Willibald 30 Gießwein, Max 53 Goebbels, Joseph 7, 10–12, 23, 25, 27–30, 33, 35–37, 39, 72, 73, 75, 77, 79, 81–84, 89–92, 95, 101, 103–109, 113–116, 120–122, 124–128, 131–135, 147, 154–162, 169, 173, 176, 189, 193, 195, 200, 204, 210–212, 216–218, 223, 224, 228, 238, 239, 241 Goebbels, Magda 27, 155, 241 Goerdeler, Carl Friedrich 34, 35 Goethe, Johann Wolfgang von 28, 70, 149, 151, 152, 154–156, 161 Goldberg, Simon 172 Göring, Hermann 11, 16, 36 Goslich, Siegfried 139, 141, 144 Grabner, Hermann 224, 225, 230 Graener, Paul 12, 28, 69–85, 87, 89, 91, 102, 118, 171 Graff, Sigmund 105 Grünewald, Mathias 167–168 Günther, Georg 215 Günther, Hans F.K. 16 Günther, Johannes 140, 141, 145 H Haas, Joseph 224 Haken, Boris von 126 Hampe, Karl 155 Hannemann, Erich 115, 139, 141 Hanke, Karl 77–81

Personenregister  |

Härter, Helene 231 Hasse, Karl 224 Hausegger, Siegmund von 171 Havemann, Gustav 33, 35–37, 165, 170–172 Haydn, Joseph 30 Heckel, Erich 16 Hellsberg, Clemens 43 Heydrich, Reinhard 195 Hildebrand, Camillo 71 Himmler, Heinrich 11, 195, 197–199 Hindemith, Gertrud 164, 177–179 Hindemith, Paul 7, 12, 37, 113, 114, 133, 163–179, 226–228 Hinkel, Hans 12, 37, 38, 49, 71, 75–81, 83–85, 91, 92, 94, 97, 115, 123, 169, 176, 223, 228 Hitler, Adolf 15, 16, 18, 23–29, 36–38, 72, 89, 90, 92, 94, 99, 103, 110, 111, 125, 132, 148, 154, 157, 158, 172, 191, 193, 198, 208–212, 221, 223, 225, 232–234 Höffer, Paul 28, 97, 225 Hofmannsthal, Hugo von 18 Höhn, Reinhard 197 Höhne, Heinz 197 Houdon, Jean-Antoine 30 I Ihlert, Heinz 33, 35, 38, 108, 232 J Jochum, Eugen 211, 212 John, Eckhard 205 K Kaminski, Heinrich 99, 228

Karajan, Herbert von 12, 189, 200, 207– 210, 214, 215, 219 Kaß, Esther 53, 63, 66 Kater, Michael H. 7, 101, 189, 208, 209 Kayser, Max 225, 230 Kessler, Harry Graf 18 Keudell, Otto von 28, 76, 77, 105–109, 134, 138 Kimelmann, Josef 53 Kippenberg, Anton 22 Kitterman, David 198 Klatte, Wilhelm 110 Klee, Ernst 201 Klüger, Herbert 53, 59 Knab, Armin 71 Knappertsbusch, Hans 151, 193, 210, 212, 213, 217, 220 Knöpfke, Friedrich Georg 240 Kokoschka, Oskar 16 Kopsch, Julius 21, 89, 169, 173, 175 Kormann, Hanns Ludwig 116, 117, 122, 132, 140, 141, 144 Kornauth, Eugen 97 Krasselt, Rudolf 110 Krauß, Clemens 140, 144 Krauss, Clemens 116, 141 Krieger, Erhard 71, 74, 83 Kroyer, Theodor 110 Kummer, Susanne 8 Künneke, Eduard 71, 81 Kunz, Georg 53, 62, 63 L Lange, Fritz Chlodwig 126, 139, 141, 144 Lange, Hans-Joachim 76 Laubinger, Otto 105, 106, 138 Laux, Karl 212

249

250

|  Personenregister

Lee, Carl 53, 58, 60 Lee, Ernst 53, 65, 66 Léhar, Franz 44 Leinveber, Gerhard 139, 141, 144 Leuschner, Max 53 Ley, Robert 36, 113 Limbach, Reinhard 231 Lincke, Paul 71 Linz, Marta 41 Lorenz, Dieter 191 Lubin, Germaine 208 Ludwig, Ernst 107, 108, 115, 117, 138–141

Neupert, Hildegard 110 Ney, Elly 212 Niedecken-Gebhard, Hanns 228 Nobbe, Ernst 110, 112 Nolde, Emil 16 O Ohlendorf, Otto 196–198 Okrassa, Nina 7, 101, 239 Ooyen, Johannes van 8 Ottich, Maria 139, 141

P Pardun, Arno 211 M Pechstein, Hans 61 MacDougald, Duncan 233 Penzoldt, Ernst 164, 167 Mann, Thomas 22 Pepping, Ernst 228 Mansfeld, Marie-Luise 230 Pfitzner, Hans 70, 82, 171, 193, 210 Marc, Franz 16 Planck, Max 230, 244 Margolinski, Rudolf 53 Potter, Pamela M. 101, 130, 131 Masbach, Fritz 53 Praetorius, Ernst 110 Mayer, Ludwig Karl 117, 126, 140, 141, 144 Pragher, Willy 201 Mersmann, Hans 224 Preussner, Eberhard 230 Miederer, Martin 230 Prieberg, Fred K. 101, 117, 191, 199–201 Möller, Eberhard Wolfgang 105 Mohaupt, Richard 53, 67 R Morgenroth, Alfred 122 Raabe, Peter 7, 10, 12, 27, 40, 41, 44, 45, Moser, Hans Joachim 126, 129, 130, 140, 48, 73, 79, 101, 102, 106, 108, 112, 114, 141, 144, 216, 218, 224 117, 120–122, 127, 133, 169, 176, 177, Mozart, Wolfgang Amadeus 44, 122 199, 223, 224, 239–241, 243, 244 Muck, Peter 212, 217 Rasch, Hugo 21, 169, 173 Müller, Gottfried 155 Reger, Max 222, 224 Müller-Blattau, Joseph 218, 223 Reich, Felicitas Anna 53 Reichel, Peter 24 N Reichert, Folker 155 Nagel, Heinz 199, 200 Reiffenstein, Rosemarie 132 Nedden, Otto C.A. 102, 109, 112, 113 Reucker, Alfred 23

Personenregister  |

Reutter, Hermann 97, 112, 172 Riethmüller, Albrecht 212, 214, 239, 243 Ritter, Leo 76, 89, 98 Roeder, Erich 109, 111, 116, 140–142, 144 Roller, Ulrich 27 Rosen, Waldemar 116, 139, 142, 144 Rosenberg, Alfred 11, 17, 39, 45, 84, 99, 113, 168, 192, 194, 196, 199, 200, 217, 226 Rosenberger, Bruno Wilhelm 53 Rößner, Hans 198–200 Rössler, Richard 225 Rottenberg, Ludwig 177 Rottenburg, Otto von 226 Rudolphi, Karoline 151 Ruge, Gabriele 53 Rühlmann, Franz 228 Rumpel, Walter 229 Rust, Bernhard 11, 193, 200, 223, 224, 227 S Sachs, Curt 109 Sandberger, Adolf 224 Sauckel, Fritz 16 Schäfer, Emil 230 Schaul, Fredo 53 Schaumburg, Uta 116 Scheffler, Siegfried 126, 139, 142, 144 Schering, Arnold 224 Schiller, Elsa 53 Schiller, Friedrich 154 Schirach, Baldur von 111 Schlösser, Rainer 90, 106, 111, 112, 115, 126, 129, 130, 135, 138, 141 Schmidt, Wolfgang 233

Schmidt-Rottluff, Karl 16 Schosland, Wilhelm 48 Scholz, Sven 194 Schönberg, Arnold 166 Schreiber, Carsten 204, 205 Schreiber, Ottmar 224 Schubert, Franz 152–156, 218 Schubert, Moritz 67 Schüler, Johannes 208, 212 Schünemann, Georg 109, 113, 116, 140, 142, 144 Schütz, Heinrich 40, 44 Schütz, Wilhelm von 155 Schuh, Willi 24–26, 159 Schultze, Norbert 95 Schultze-Naumburg, Paul 16 Seeger, Theodor O. 83 Seiffert, Max 224, 230 Sellschopp, Hans 140, 142, 145 Sibelius, Jean 125 Sieb, Rainer 101, 136 Sixt, Paul 110, 112 Söhngen, Oskar 224, 231 Spengler, Oswald 205 Spengler, Wilhelm 198–200 Splitt, Gerhard 33, 35, 121, 148, 152, 193 Stange, Hermann 27 Stegmann, Karl 212 Stein, Fritz 178, 207, 221–237 Steinecke, Wolfgang 224 Stephan, Werner 134 Stock, Günter 244 Strauß, Hugo 53 Strauß, Johann 43, 44 Strauss, Alice 25 Strauss, Franz 21

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252

|  Personenregister

Strauss, Richard 12, 15, 17–30, 36, 37, 48, 73, 76, 77, 82, 89, 91, 95, 102, 106–108, 113, 116, 133, 147–149, 151–154, 156–162, 169, 171, 173– 176, 192, 193, 216, 218, 223, 227, 239 Strauss, Pauline 18 Strecker, Ludwig 90, 99, 177 Strecker, Willy 165, 168, 171–174, 176, 177 Strippel, Andreas 192 Swarowsky, Hans 116, 140, 144 T Thomas, Kurt 224 Tiessen, Heinz 110, 225, 230 Tietjen, Heinz 19, 90 Tischer, Gerhard 36 Toscanini, Arturo 23 Trümpi, Fritz 43, 200 U Unger, Hermann 71 V Vogel, Alex 231, 233, 234 Veress, Sándor 178 Vianna da Motta, José 151 Vötterle, Karl 230

W Wagner, Richard 22, 29, 33, 191, 209, 218 Wagner, Wolfgang 99 Waldberg, Max von 156 Walter, Bruno 21 Walter, Michael 147 Warburg, Fanny 53 Welter, Friedrich 70 Wendling, Carl 224 Weißler, Ernst 53 Weiss, Nikolaus 53 Wertheim, Else 53 Westermann, Gerhart von 202, 203 Weyer, Christoph 8 Wiedemann, Charlotte von 151 Wildt, Michael 201 Winnacker, Albrecht 243, 244 Winnacker, Karl 244 Wohlauer, Adolf 53 Wolf, Johannes 109 Woschke, Erich 52, 63 Wulf, Joseph 101, 128, 193 Z Ziegler, Hans Severus 17, 109–112 Ziegler, Leo 53, 61, 67 Ziegler-Bouché, Margarete 53, 61 Zimmermann, Arthur 53–56, 62 Zimmermann, Reinhold 130 Zweig, Stefan 21, 22, 25, 27–29, 37, 158, 174

SEBASTIAN WERR

HEROISCHE WELTSICHT HITLER UND DIE MUSIK

Das frühe Interesse Hitlers an Musik und Theater ließ Einstellungen reifen, die für seine Selbstwahrnehmung und die eigene Inszenierung, aber auch für das Musikleben und die Musikpolitik im »Dritten Reich« von großer Tragweite waren. Obgleich über Hitlers Nähe zu Musik und Theater viel geschrieben wurde, sind Fragen offen. Insbesondere die Verbindungen Hitlers zu Richard Wagner und die Rezeption dessen Werkes durch die Nationalsozialisten weisen Widersprüche auf. Einerseits sah Hitler in dem Komponisten eine Symbolfigur der antisemitisch-deutschnationalen Bewegung Österreichs, andererseits war sein Opernenthusiasmus wesentlich durch Aufführungen jüdischer Künstler geprägt. Hitler entwickelte sich über die Welt der Oper hinaus in die Politik hinein, das »Heroische« wurde ihm dabei zur Leitkategorie. Er entwarf Bühnenbilder, konzipierte Opernhäuser, versuchte sich an einem eigenen Musikdrama. Vor allem aber machte er sich die sinnlichen Inszenierungstechniken und -künste der Oper zu Eigen für seine politischen Auftritte. Sebastian Werr wirft ein neues Licht auf Hitlers musikalische wie theatralische Begeisterung, die nachhaltig seine Persönlichkeit, sein Auftreten und Handeln geprägt und beeinflusst hat. 2014. 300 S. 36 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22247-5

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ERIK LEVI (ED.)

THE IMPACT OF NAZISM ON TWENTIETH-CENTURY MUSIC (EXIL.ARTE-SCHRIFTEN, BAND 3)

The impact of Nazism on twentieth-century music was immense as evidenced by this volume featuring seventeen essays by a group of internationally recognised scholars. The range of enquiry is extraordinarily wide, covering the issue of „Inner Emigration“ during the Third Reich and remigration in the Netherlands after the Second World War, as well as the work of exiled composers such as Korngold, Weill, Weigl, Ullmann, Eisler, Achron, Goldschmidt and Gál. In addition, there are penetrating discussions of the employment of Handel’s music in the Jewish Cultural League, Nazi musical censorship in occupied Poland and the fate of émigré musicians and musicologists in wartime Britain. Three chapters detail the musical relationship between Franco’s Spain and the Third Reich. 2014. 354 S. ZAHLR. NOTENBSP. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-79543-8

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HARTMUT KRONES (HG.)

GEÄCHTET, VERBOTEN, VERTRIEBEN ÖSTERREICHISCHE MUSIKER 1934 – 1938 – 1945 (SCHRIFTEN DES WISSENSCHAFTSZENTRUMS ARNOLD SCHÖNBERG, BAND 1)

Der Band „Geächtet, verboten, vertrieben“ faßt die Ergebnisse einer Reihe von Symposien zusammen, die das am Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien beheimatete „Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg“ in den letzten Jahren in Wien, Linz, New York, Mexico City und Jalapa durchgeführt hat. Thema ist insbesondere die 1938 bis 1945 stattfindende Ächtung, Vertreibung und Ermordung zahlreicher österreichischer Musiker und Komponisten durch die Nationalsozialisten, doch werden auch der Entzug jeglicher Lebensgrundlagen, der ab 1934 die in einem Naheverhältnis zur Sozialdemokratie stehenden Komponisten traf, sowie das damalige Verbot aller sozialdemokratischen Kulturvereinigungen in den Blick genommen. 2014. 608 S. ZAHLR. S/W-ABB. UND NOTENBSP. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77419-8

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