Im Bann der Plattformen: Die nächste Runde der Netzkritik 9783839433683

The digital world in the post-Snowden age: we know that we are under surveillance, but we keep on going as if it had no

157 43 2MB

German Pages 268 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Danksagungen
Einleitung
Was ist das Soziale in den sozialen Medien?
Nach dem Social-Media-Hype
Eine Welt jenseits von Facebook
Hermes am Hudson
Die Einkommensmodelle des Internets
Die Moneylab-Agenda
Der Bitcoin und sein Nachleben
Netcore in Uganda
Jonathan Franzen als Symptom
Urbanisieren als Verb
Erweiterte Updates
Occupy und die Politik der Organisierten Netzwerke
Bibliographie
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Im Bann der Plattformen: Die nächste Runde der Netzkritik
 9783839433683

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Geert Lovink Im Bann der Plattformen

Digitale Gesellschaft

Geert Lovink, niederländischer Medientheoretiker, Internetaktivist und Netzkritiker, ist Leiter des Institute of Network Cultures an der Hochschule von Amsterdam (networkcultures.org) und Professor für Medientheorie an der European Graduate School. Er gilt als einer der Begründer der Netzkritik. Bei transcript bereits erschienen: »Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur« (2008) und »Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur« (2012).

Geert Lovink

Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Korrektorat: Dagmar Buchwald, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3368-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB-ISBN 978-3-7328-3368-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagungen  | 7 Einleitung Vorbereitungen auf ungewöhnliche Entwicklungen  | 11 Was ist das Soziale in den sozialen Medien?  | 29 Nach dem Social-Media-Hype Was tun mit der Informationsüber flutung?  | 45 Eine Welt jenseits von Facebook Die Alternative Unlike Us  | 59 Hermes am Hudson Medientheorie nach Snowden  | 73 Die Einkommensmodelle des Internets Ein persönlicher Bericht  | 87 Die Moneylab-Agenda Jenseits der Kultur des Freien  | 103 Der Bitcoin und sein Nachleben  | 123 Netcore in Uganda Die I-Network-Gemeinschaft  | 143 Jonathan Franzen als Symptom Internet-Ressentiment  | 163

Urbanisieren als Verb Die Kar te ist nicht die Technologie  | 189 Erweiterte Updates Fragmente der Netzkritik  | 209 Occupy und die Politik der Organisierten Netzwerke  | 229

Bibliographie  | 257

Danksagungen

Im Bann der Plattformen ist das fünfte Buch in einer Buchserie über kritische Internetkultur, die ich vor fünfzehn Jahren zu schreiben begonnen habe. Es erschien zuerst im Juni 2016 in englischer Sprache bei Polity Press, betreut von John Thompson und seinem Team, und ist nun nach Zero Comments (2008) und Das halbwegs Soziale (2012) meine dritte Veröffentlichung bei transcript. Für ihre Unterstützung danke ich Sabine Niederer, Leiterin des CreateIT Knowledge Centres und Geleyn Meyer, Dekanin der Fakultät für Media & Creative Industries an der Hochschule von Amsterdam (HvA), zu der auch unser Institute of Network Cultures (INC) gehört. 2013 hat Geleyn Meyer die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass meine Teilzeitstelle in eine Vollzeitstelle umgewandelt werden konnte. Im Zuge dieser Umstellung habe ich auch meine Tätigkeit in der Abteilung für Medienwissenschaften an der Universität Amsterdam (UvA) aufgegeben, wo ich seit 2006 an der Gestaltung des einjährigen Masterstudiengangs Neue Medien beteiligt war. Die jüngste Phase an der HvA war von unsicherer Finanzierung und einer Zentralisierung der angewandten Forschung mit Ausrichtung auf die Kreativwirtschaft geprägt. Trotz der Kürzungen der Kulturfördermittel in den Niederlanden und einem wachsenden Druck, sich auf den kommerziellen Bereich auszurichten, konnte das INC eine Reihe von Forschungsnetzwerken, Publikationsreihen und Konferenzen unter Titeln wie »Unlike Us: Alternatives in Social Media« (2011–13), »MyCreativity Sweatshop: an Update on the Critique of the Creative Industries« (2014), das »Hybrid Publishing Toolkit: Research into Digital Publishing Formats« (2013–14), »Society of the Query: the Politics and Aesthetics of Search Engines« (2013), »MoneyLab: an Ongoing Collective Investigation into Internet Revenue Models« (2014–15) und »The Art of Criticism: a Dutch/Flemish Initiative on the Future of Art Criticism« (2014–16) veranstalten. Anfang 2015 wurde eine unabhängige Abteilung des INC eingerichtet, das Publishing Lab, das von Margreet Riphagen geleitet wird. Sehr viele Ideen entstanden im Rahmen meiner zweitägigen Masterklassen, die ich auf der ganzen Welt betreut habe. Besonders danken möchte ich Larissa Hjorth and Heather Horst vom Digital Ethnography Research Centre

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Im Bann der Plattformen

der RMIT University in Melbourne für ihre Einladungen in den Jahren 2013 und 2014, Henk Slager vom Masterprogramm der Hogeschool voor de Kunsten (HKU) in Utrecht für unsere langjährige Zusammenarbeit, Florian Schneider an der Art Academy Trondheim, Wolfgang Schirmacher für die alljährlichen 3-Tage-Treffen an der European Graduate School in Saas-Fee (wo ich meine ersten vier Ph. D.-Studenten betreut habe), Christiane Paul von der New School, durch deren Einsatz ich zwischen 2010 und 2012 drei Klassen betreuen konnte, Leah Lievrouw von der UCLA, Michael Century vom Rensselaer Polytechnic Institute, Ingrid Hoofd, damals noch an der National University of Singapore, and Mariela Yeregui, die meinen Besuch in Buenos Aires organisiert hat. Immer gibt es auch Kollaborationen, und es ist eine große Leidenschaft von mir, mich mit anderen auszutauschen, um dabei die diskursiven Grenzen zu erweitern und aus den eigenen unsichtbaren Prämissen herauszutreten. In diesem Buch gibt es drei Ko-Autorschaften, die ich erwähnen muss. Zuerst die mit Ned Rossiter, meinem Freund und Kommentator meiner Arbeit, mit dem gemeinsam ich das Konzept der organisierten Netzwerke entwickelt habe (ein Projekt, das demnächst auch im Mittelpunkt einer eigenständigen Publikation stehen wird). Zweitens die Ko-Autorschaft mit dem INC-Botschafter und Nachrichten-Kenner Patrice Riemens, mit dem ich gemeinsam das Bitcoin-Kapitel geschrieben habe. Und schließlich die Zusammenarbeit mit Nathaniel Tkacz von der Warwick University, mit dem ich schon 2009 das Critical-Point-ofView-Netzwerk und 2012 das MoneyLab-Projekt ins Leben gerufen habe und der hier gemeinsam mit mir das Kapitel über die MoneyLab-Agenda geschrieben hat. In Los Angeles hat Peter Lunenfeld mich dazu ermuntert, in die zeitgenössische amerikanische Literatur einzutauchen. Ich danke ihm für die Gastlichkeit und Freundschaft, die ich nun schon über fast zwei Jahrzehnten genieße. Der Essay über Jonathan Franzen ist ihm gewidmet. Das Uganda-Kapitel zu schreiben wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige Unterstützung durch Ali Balunywa, einem meiner ehemaligen Master-Studenten an der Universität Amsterdam, der meinen Besuch in Uganda im Dezember 2012 organisiert hat. Darüber hinaus möchte ich auch Joost Smiers, Sebastian Olma, Mieke Gerritzen, Daniel de Zeeuw (re: lulz) und Michael Dieter für unsere ermutigenden Gespräche in Amsterdam danken; Margreet Riphagen, Miriam Rasch und Patricia de Vries für ihre großartige Arbeit am INC; Henry Warwick für die Zusammenarbeit an unserem Offline-Bibliothek-Projekt; Saskia Sassen für ihre außergewöhnliche Unterstützung und Bernard Stiegler und Franco Berardi für ihre Freundschaft. In der Zeit, in der dieses Buch geschrieben wurde, starb Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in Frankfurt an einem Herzinfarkt. In seinem Fall war das Rettungsteam nicht rechtzeitig zur Stelle.

Danksagungen

Er war im gleichen Alter wie ich (* 1959). Während der letzten Jahre hat Frank mich, vor allem über sein Lieblingsmedium Twitter, immer wieder ermuntert, ein breiteres Publikum für meine Arbeit zu suchen, trotz der beträchtlichen politischen Differenzen zwischen uns. Ebenso wie er erlebe ich den direkten Austausch mit amerikanischen Kollegen als sehr motivierend, um europäische Alternativen zu entwickeln. Trotz mancher Entmutigungen und Rückschläge in der letzten Zeit wurde das Buch in seinem Geist geschrieben, um eine unabhängige öffentliche europäische Diskussion und Infrastruktur zu entwickeln. Dies ist eines von vielen Themen auf meiner zukünftigen Agenda: die Begegnung von Medientheorie und Logistik. Einige der Kapitel wurden schon vor einer Weile von Morgan Currie in Los Angeles redigiert. Einen großartigen Job hat Rachel O’Reilly in Berlin gemacht, die das gesamte Buch, unterstützt von meinem langjährigen Übersetzer Andreas Kallfelz, lektorierte. Social Media Abyss/Im Bann der Plattformen ist Linda Wallace, der Liebe meines Lebens, und unserem DJ-Sohn Kazimir gewidmet, die nach dem außergewöhnlichsten Überleben eine so starke Gemeinschaft gebildet haben.

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Einleitung Vorbereitungen auf ungewöhnliche Entwicklungen

Sloganismus: »Der Anfang ist nah.« (Anonymous) – »Das Internet kommt mir wie eines der billigen Magazine vor, die ich im Wartezimmer meines Zahnarztes automatisch in die Hand nehme. Unwiderstehlich, aber sinnlos.« (Johanna DeBiase – Pump and Dump) – »Von Journalisten kann man nicht erwarten, dass sie die Dinge dauerhaft verändern.« (John Young) – »Das steht aber so auf Facebook!« – »Dein schlimmster Feind ist nicht der, der auf der Gegenseite steht. Es ist die Person, die die Stelle besetzt, von der aus du kämpfen würdest, aber nichts tut.« (Georgie BC) – »Künstler überleben, indem sie etwas Anderes machen.« (X) – »Wenn du eine Nadel im Heuhaufen finden willst, brauchst du erst mal einen Heuhaufen.« (Dianne Feinstein) – Alles Luftige erstarrt zu versteinerten Institutionen – »Setz dein bestes LinkedIn-Gesicht auf.« (Silvio Lorusso) – »Die meisten inspirierenden Zitate, die mir im Internet zugeschrieben werden, sind Blödsinn, den ich nie sagen würde.« (Albert Einstein – er hat nur Low-Impact-Journale gelesen) – »Es gibt kein kostenloses Mittagessen. Keine kostenlose Suchmaschine. Keine kostenlose Webmail. Keinen kostenlosen Cloud-Speicher.« (Mikko Hypponen) – Der Cyberspace: Unser Heim der Nutzlosen Wahrheit – »Jeder hat einen Plan, bis er eins aufs Maul kriegt.« (Mike Tyson) – »In diesem Gespräch fehlt deine Stimme.« (Vimeo) – »Fördere dich doch selbst« (Get Real) – »Das Internet der Diebe« (Christian McCrea) – Operationale Theorie des katastrophischen Alltags – »Beschleunige deinen Ausstieg: Die Politik der (System-)Migration.« (E-Book-Titel)

Im Bann der Plattformen beschreibt das Zusammenschrumpfen eines Horizonts, vom unbegrenzten Raum, der das Internet einmal war, zu einer Handvoll Social Media Apps. In diesem globalen Niedergang haben die IT-Giganten wie Google und Facebook ihre Unschuld verloren. Den vorhandenen Steuerungsmodellen fehlt der nötige Konsens, um noch funktionieren zu können. Seit Snowden wissen wir, wie kompromittiert das Silicon Valley ist, das nicht nur die privaten Daten seiner Nutzer weiterverkauft, sondern sich auch an

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Im Bann der Plattformen

staatlicher Überwachung beteiligt. Zum ersten Mal ist es Wellen des Aktivismus ausgesetzt, angefangen bei Wikileaks, Anonymous und Snowden bis hin zu Protesten gegen Google-Busse, Uber und Airbnb. Die öffentliche Meinung ist umgeschlagen, und während diese Netzkultur zunehmend auf Ablehnung stößt, verwandeln sich Kontoversen in offene Konflikte. Viele haben das Mem der »Sharing-Ökonomie« inzwischen als Betrug erkannt. Die selbstevidente kalifornische Ideologie funktioniert nicht mehr. Zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des gleichnamigen Essays1 wird die Vorherrschaft der einst mächtigen Libertären endlich angefochten – aber was kann an ihre Stelle treten? Bei der Untersuchung dieser Frage begann ich mit den Architekturen der sozialen Medien und mit Internet-Ertragsmodellen, um schließlich zu Dingen zu kommen, die organisatorisch anstehen: Wie können Protestbewegungen, von Occupy bis Bangkok, ihre Präsenz erhöhen und sich besser untereinander verbinden? Werden aufflammende Proteste sich in politische Parteien umformen oder wird der anarchistisch dezentrale Ansatz beibehalten? Es scheint, als ob post-1848 wieder aufleben würde. Warten wir auf unsere Version der Pariser Kommune? Die gegenwärtige Stagnation, obwohl immer wieder unterbrochen von Wellen des Widerspruchs, deutet allerdings darauf hin, dass wir uns in einer post-revolutionären Zeit befinden, in der das ancien régime zwar seine Legitimation verloren hat, trotzdem aber an der Macht bleibt, während die Gegenkräfte weiterhin auf der Suche nach Organisationsformen sind. Nach den Snowden-Enthüllungen finden sich die Internetnutzer in einer Spannungssituation, die die pragmatische Ingenieursklasse, in deren Händen bislang die Steuerung des Internets lag, immer vermeiden wollte. Keiner ist mehr geschützt, aber angeblich können alle unbesorgt sein. Die letzten zwanzig Jahre waren für die sozialen Medien eine Zeit der Konsolidierung, in die auch der Trend vom Personal Computer zum Smartphone und von den klassischen zu den aufstrebenden Märkten fällt.2 Das pathetische Statement dieser Kampagne lautet, dass »das Internet zerbrochen ist«, aber die Wahrnehmung unserer Niederlage käme wohl besser in der Maxime »Wir haben den Krieg verloren« zum Ausdruck, denn es ist unklar, wer es repariert und wie es wieder

1 | 2015 ist es zwanzig Jahre her, dass die Nettime-Mailingliste gegründet wurde, und zwanzig Jahre, dass Richard Barbrook und Andy Cameron ihren berühmt-berüchtigten Aufsatz über die kalifornische Ideologie schrieben. Das Institute of Network Cultures hat anlässlich dieses Jubiläums im November 2015 eine Neuedition des Essays herausgegeben. Siehe: http://networkcultures.org/publications/ 2 | Zu Statistiken über soziale Medien, siehe: www.pewinternet.org/2015/08/19/mo​ bile-messaging-and-social-media-2015/

Einleitung

aufgebaut werden soll.3 Der ursprüngliche Techno-Optimismus unter weißen, männlichen Geeks, dass ein freies und offenes Internet, zusammengehalten von »Rebellencode«, alles überstehen wird, ist von einer digitalen Version des Staatsmonopolkapitalismus verdrängt worden, wie ihn Lenin einst definiert hat. Das unschuldige Zeitalter des Laissez-Faire-Konsenses ist endgültig Vergangenheit. Wird die Infrastruktur des Kapitalismus jemals wichtig genug genommen werden, um sie nicht einem Haufen von Freibeutern zu überlassen?

R eden wir über P l at tform -K apitalismus Brachten die achtziger Jahre die Medientheorie hervor und waren die Neunziger das Jahrzehnt der Netzwerke, so leben wir nun im Bann der Plattformen. Wie der Begriff andeutet, geht die Tendenz dahin, sich nach oben zu orientieren – zu zentralisieren, zu integrieren, zusammenzufassen. Während sich die Netzwerk-Ideologie ihrer dezentralen Natur rühmte, verkündet die Plattformkultur stolz, dass die Menschheitsfamilie endlich ein gemeinsames Zuhause gefunden hat.4 In seinem Paper von 2010 führte Tarleton Gillespie feinsäuberlich die verschiedenen Gründe auf, warum sich aus den Nachwehen des Dotcom-Crashs heraus das Plattform-Konzept entwickelte. Laut Gillespie wurde der Begriff »Plattform« strategisch gewählt, um die gegensätzlichen Aktivitäten der Online-Dienste als neutralen Boden für DIY-Nutzer und größere Medienproduzenten darzustellen und gleichzeitig der Kollision von Privatsphäre und Überwachungsaktivitäten, Gemeinschafts- und Werbeinvestitionen die Tür zu öffnen.5 »Plattform« verweist auch auf die Vereinigung von und mit 3 | Radikale Optionen sind begrenzt, und es hat auch noch niemand konkrete Vorschläge eines »cut-ups« des Internets gemacht (nicht einmal in einem künstlerisch-subversiven Sinne à la William Burroughs). Die Angst vor einer »Balkanisierung« sitzt tief. Heute träumt keiner mehr von einem schrägen Paralleluniversum (und nicht mal Silk Road und andere Dark-Web-Initiativen verwirklichen so etwas). Interoperabilität ist das unausgesprochene Apriori aller Kommunikationssysteme. Die einzig verbliebene Option ist Kryptographie. 4 | Am 27. Aug. 2015 »kam Facebook auf die bis dahin beispiellose Rekordmarke von einer Milliarde Nutzer am Tag. ›Das war das erste Mal, dass wir diesen Meilenstein erreicht haben, und wir fangen gerade erst an, die ganze Welt zu verbinden‹, schrieb Mark Zuckerberg.« http://money.cnn.com/2015/08/27/technology/facebook-one-billionusers-​s ingle-day/index.html 5 | Tarleton Gillespie, »The politics of platforms«, in: New Media & Society, vol. 12, no. 3, 2010, S. 248–350. Er schreibt: »Plattformen sind üblicherweise flach, nichtsagend und für jeden offen.« Sie sind »vorwegnehmend, aber nicht ursächlich«. Schon das Wort selbst »suggeriert ein progressives und egalitäres Arrangement, das denen, die

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Im Bann der Plattformen

verschiedenen Akteuren  – durch eine Vielfalt von Anwendungen  – zu einer höheren Synthese. Wie wäre es, wenn wir alles disliken würden? Positive Reformer werden mit allen Mitteln versuchen, uns von der Erforschung der verborgenen Kräfte negativer Ermächtigung abzuhalten. Die Macht der Kritik wird schnell als »extrem« (wenn nicht gar terroristisch) schlechtgemacht. Mit der Angst vor einer Masse, die plötzlich nicht mehr »folgt«, kehren alte Traumata des gewalttätigen populistischen Mobs zurück – und diese Angst ist auf der Ebene der (Selbst-)Organisation im Zeitalter des Plattform-Kapitalismus nicht anders. Wo werden die amorphen kollektiven Energien hinfließen, nachdem wir das Internet überhitzt haben? Warum fällt es so schwer, sich eine Welt vorzustellen, in der alle Plattformen oder ›Vermittler‹ wie Google, Facebook und Amazon ausgemustert wurden, nicht nur die alten, sondern auch und besonders die neuesten und coolsten? Gemeinsam mit vielen anderen fordere ich eine kritische Theorie der Vermittler, die in ihrem Wesen technisch, kulturell und ökonomisch ist.6 In seinem Essay Digital Tailspin stellt der Berliner Netzkritiker Michael Seemann die Forderung nach »Plattform-Neutralität« auf, wobei er gleichzeitig auch die Fallstricke im Auge behält, die mit dem Begriff »Neutralität« verbunden sind.7 Er spricht sich auch für »Filter-Souveränität« als neuer Form von Informationsethik aus. Auf der positiven Seite erkennt Seemann an, dass »das bedeutendste Feature dieser Plattformen in den unbegrenzten, vielfältigen Netzwerkeffekten liegt, die sie haben können«. Es ist wichtig, dass die Debatte über die sozialen Medien die Kultur des Lamentierens überwindet, die die bürgerliche Fixierung auf den Verlust der Privatsphäre begleitet. Ein besseres Verständnis für die politische Ökonomie der privaten Daten zu bekommen sich auf sie begeben, Unterstützung verspricht.« – »Der Begriff bewahrt ein populistisches Ethos: ein Repräsentant, der deutlich und entschlossen zu seiner Wählerschaft spricht. In jeder möglichen Bedeutung von ›Plattform‹ erscheinen Ebene und Zugänglichkeit sowohl als ideologische wie auch als physische Features.« 6 | Siehe Sascha Lobo am 3. Sept. 2014 auf Spiegel Online über Plattform-Kapitalismus: www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/sascha-lobo-sharing-economy-wie-bei-uber-ist-​ plattform-kapitalismus-a-989584.html, und Sebastian Olma, »Never Mind the Sharing Economy: Here’s Platform Capitalism«, am 16. Okt. 2014, http://networkcultures.org/​ mycreativity/2014/10/16/never-mind-the-sharing-economy-heres-plat ​f orm-capita​lism/ 7 | Michael Seemann, Digital Tailspin, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2015, S. 39–42. In seinem strategischen Text behauptet Seemann, dass »Plattformen die Infrastruktur schaffen, auf deren Basis die nächste Gesellschaft agieren wird. In Zukunft wird jede politisch aktive Person lernen müssen, mit ihnen umzugehen.« Mehr dazu im Gespräch zwischen Seemann und Sebastian Giessmann auf der Re:publica, Berlin, Mai 2015, https://www.youtube.com/watch?v=-_2C1eO21SE&feature=youtu.be

Einleitung

ist eine gute Sache – trotzdem muss dies nicht automatisch in ein politisches Programm übersetzt werden. Für Seemann ist »Kontrollverlust« ein wichtiger, neu definierter Ansatzpunkt, um aktuelle Strategien zu entwickeln.8 »Die wirksamste Methode, uns von der Plattform-Abhängigkeit zu befreien, ist der Auf bau dezentralisierter Plattformen.« Für eine Weile war WhatsApp eine solche Alternative, als Zufluchtsort vor Facebook, bis Facebook es dann gekauft hat. In den letzten Jahren gab es eine kleine Zahl von Versuchen, »PlattformStudien« als eigene Disziplin einzuführen, bislang ohne großen Erfolg.9 Auf eine umfassende Theorie des »Plattform-Kapitalismus« müssen wir wohl noch eine Weile warten. Schafft es die Plattform-Gesellschaft, zwei Jahrzehnte nach Manuel Castells’ klassischer Trilogie der Netzwerk-Gesellschaft, das gleiche Publikum zu erreichen wie Thomas Piketty oder Naomi Klein? Während das Internet in die Gesellschaft heute voll integriert ist, lässt sich das für die akademischen Anstrengungen in diesem Feld nicht behaupten. Dafür gibt es zum Teil institutionelle Gründe. Die Internet-Forschung sitzt immer noch zwischen allen Fakultätsstühlen, da sie sich weder als eigenständige Disziplin etablieren durfte, noch von anderen Disziplinen engagiert aufgegriffen wurde. Trotzdem ist die Geschwindigkeit, mit der sich dieses Forschungsfeld entwickelt, nach 25 Jahren immer noch atemberaubend und macht es überforderten Intellektuellen weiterhin schwer, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Ihnen bleibt nur die Rolle, die Auswirkungen der IT-Entwicklung in einem sich rasant erweiternden Spektrum von Feldern nachträglich zu erfassen. In diesem Monopolstadium sind die Märkte fingiert und ein reines Glaubensmodell für verwirrte und betäubte Außenseiter. Während Wall Street, Silicon Valley und Washington DC konvergieren, statt zu konkurrieren (wie die offizielle Lesart immer noch besagt), wird die Macht selbst zu einer Black Box, mit dem Algorithmus als seiner perfekten Allegorie. Und Algorithmen haben Folgen, wie Zeynep Tufekci so klar beschrieben hat. Ihre Analyse der 8 | Hans Maarten van den Brink hat in seiner kleinen, auf Holländisch erschienenen Anthologie ähnlich argumentiert, wo er den »Verlust der Unabhängigkeit« der klassischen Medienmacher als Ausgangspunkt sah, um eine neue öffentliche Medienlandschaft zu gestalten. Siehe: Hans Maarten van den Brink (Hg.), Onaf, over de zin van onafhankelijkheid in cultuur en media, Amsterdam: Nieuw Amsterdam Uitgevers, 2013. 9 | Einen naheliegenden Hinweis gibt hier die den Plattform-Studien gewidmete MIT-Buchreihe, die 2009 von Nick Montfort und Ian Bogost ins Leben gerufen wurde: https://mitpress.mit.edu/index.php?q=books/series/platform-studies. Ein anderer wäre Anne Helmonds PhD an der Universität von Amsterdam (online veröffentlicht im August 2015) mit dem Titel »The Web as Platform: Data Flows in Social Media«. URL: www.anne​h elmond.nl/2015/08/28/disser ​t ation-the-web-as-platform-data-flows-in-​ the-so​c ial-web/#respond

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Im Bann der Plattformen

Ferguson-Proteste von 2014 verdeutlicht hellsichtig die Macht der kontingenten Beziehung zwischen Facebooks algorithmischen Filtern und politischen Ursachen und Wirkungen, die Unmöglichkeit von Netzneutralitäts-Regeln in Krisenzeiten und die merkwürdige, unverständliche Logik hinter dem, was bei Twitter jeweils »trending« ist – und was nicht.10 Die Digitalisierung und Vernetzung aller Felder des Lebens hat sich noch nicht verlangsamt; immer noch gibt es dort draußen viele »unschuldige« untermedialisierte Bereiche. Aber am beunruhigendsten ist die von Frank Pasquale in seiner Studie Black Box Society minutiös beschriebene Verschleierung der Technologie selbst. Das Bestreben einer eher angewandten Netzkritik, wie sie am Institute of Network Cultures betrieben wird, geht dahin, konkret bestimmte Online-Dienste zu untersuchen, wie Suchmaschinen, soziale Medien, Wikipedia oder Online-Video. Aber was haben wir mit solchen Fallstudien gewonnen? Arrangieren wir bloß die Deckbestuhlung auf der Titanic um? Welchen Status hat die spekulative kritische Theorie im Licht einer wachsenden Kluft zwischen den Sozial- und den Geisteswissenschaften? Können wir sicher sein, dass in der Entwicklung neuer und alternativer Werkzeuge der wirksamste Weg liegt, um die gegenwärtigen Plattformen zu unterminieren? Dass unser »Thermidor«-Moment in der Internetentwicklung gekommen ist, macht auch die »Clickbait«-Technologie deutlich. Um Clickbaiting handelt es sich, wenn ein Herausgeber mit Überschriften versehene Links setzt, die Leute zum Klicken animieren, ohne dass genauere Hinweise darauf gegeben werden, zu welchen Inhalten der Link eigentlich führt.11 Das ist die BoulevardPresse 2.0, Gleichschaltung im globalen Maßstab.12 Clickbaits wecken Neugier auf einen amorphen Raum. Die präsentierten Artikel sind dabei nicht wirklich Nachrichten, aber erscheinen so, indem sie formal und technisch zwischen Websites und sozialen Medien eingestreut werden. Doch die Clickbait-Technologie wird sich nicht mehr lange halten, da die meisten sie inzwischen als üble Technik zur Generierung von Online-Werbeeinnahmen durchschaut haben; die Medienunternehmen müssen also bald nach anderen Mitteln Ausschau halten, um das Publikum anzuziehen. Es gibt auch eine Facebook-Version von Clickbaiting. Man konnte allerdings beobachten, dass Facebook begann, Seiten 10 | Zeynep Tufekci, »What Happens to #Ferguson Affects Ferguson«, https://medium. com/message/ferguson-is-also-a-net-neutrality-issue-6d2f3db51eb0#.5pofu5uqw, 14. Aug. 2014. 11 | Siehe: Forbes, 26. Aug. 2014. 12 | Siehe auch: »When Clicks Reign, the Audience is King« von Ravi Somaiya, NYT, 16. Aug. 2015: »Es gab Beschwerden aus verschiedenen Ecken der Medienwelt, dass die Qualität der Online-Nachrichten nachgelassen habe und es nun eine stärkere Ausrichtung auf das Virale gebe, auf Kosten der Substanz.« http://mobile.nytimes. com/2015/08/17/business/where-clicks-reign-audience-is-king.html?re​f errer=&_r=0

Einleitung

mit Strafen zu belegen, »die exzessiv sich wiederholende Inhalte posten und zum like-baiting einladen. Like-baiting findet statt, wenn ein Posting die NewsFeed-Leser sofort zum Liken, Kommentieren oder Sharen auffordert.«13 Die globalen Nachrichten zum Zeitgeschehen sind mittlerweile vollständig interaktiv geworden. Nehmen wir die Taboola-Software, die den Administratoren von Nachrichtenseiten hilft, ihre Inhalte genauer anzupassen. Der Gründer von Taboola erklärt: »Auf jeden, der ein Content-Element hasst, kommen etliche, die es lieben und draufklicken. So registrieren wir es als beliebten Artikel und lassen es stehen, damit noch mehr Leute draufklicken und es sehen können. Wenn niemand draufgeklickt oder dazu getwittert hat, nehmen wir es runter.«14 In der letzten Zeit haben wir eine kulturelle Verschiebung weg vom aktiven, bewussten Nutzer und hin zum Subjekt als fügsamem und ahnungslosem Diener gesehen. In Abwandlung dessen, was Corey Robin über Konservative schreibt, könnten wir sagen, dass wir die Internet-Nutzer bedauern und sie als Opfer betrachten. In der öffentlichen Wahrnehmung hat der Nutzer die Seiten gewechselt und sich von einem ermächtigten Bürger in einen hoffnungslosen Loser verwandelt. Nun ist das Genre, in dem wir mitspielen, zu einem tragischen geworden, aber wir wissen nicht recht, was eigentlich die Handlung ist, welche Wiederholungen oder Geschichten (siehe Franzen) überhaupt verwendet werden. Die Stimmung des Nutzers ist gedrückt, da er sich gleichzeitig der Rechtschaffenheit seines Anliegens und der Unwahrscheinlichkeit seines heroischen Triumphs sicher ist. Ob wir reich oder arm sind oder irgendwo dazwischen stehen, dieser Nutzer ist einer von uns.15 Aber warum sollte aus der unbestreitbaren Niederlage Bescheidenheit hervorgehen? Frömmigkeit ist nicht mit Würde kompatibel. Wie können die Nutzer ihr Schicksal wieder in die eigene Hand nehmen, in dieser »verwalteten Welt«, um einen Begriff aus dem Universum Adornos und Horkheimers aufzugreifen? Dies ist vielleicht erst dann möglich, wenn die Infrastruktur der Überwachung abgebaut ist. Ähnlich wie die nukleare Bedrohung durch die Umstände des Kalten Krieges wurde mit den Snowden-Files nun das Wissen darüber, wie Kameras, Bots, Sensoren und Software verwendet werden, klar offengelegt. Erst wenn die Technologie ausgemustert und neutralisiert ist, kann die kollektive Angst sich auflösen. Ein erster Schritt besteht darin, »die Dinge sichtbar zu machen«, wie Poitras, Greenwald, Appelbaum, Assange und so viele andere es bereits tun. 13 | www.sociallyquantum.com/2015/05/facebook-is-going-to-suppress-click.html 14 | Siehe: www.bbc.com/news/business-29322578, 30. Sept. 2014. 15 | Corey Robin, The Reactionary Mind, New York: Oxford University Press, 2011, S. 98–99. Es ist hier wichtig, den Konservativen zu de- und repolitisieren, als eine Figur, die sich innerhalb eines weiteren technokulturellen Kontexts bewegt und darin eingebunden ist.

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Im Bann der Plattformen

Das ist die »Berlin-Strategie«16, die gerade im Gange ist: eine kritische Masse zivilgesellschaftlicher und technointelligenter Non-Profit-Organisationen zu schaffen, die unbarmherzig das bürgerliche Bewusstsein mit einem nie endenden Strom von Enthüllungen belästigen.17

S ilicon -R e alpoliti k »Krieg ist Leben, Frieden ist Tod« ist einer der Orwellschen Slogans in Dave Eggers Silicon-Valley-Parabel The Circle. Wie nehmen diese Motive in der Ära der monopolistischen Konsolidierung Gestalt an? In diesem digitalen Zeitalter der Totalen Integration gibt es keine alten Industriegiganten mehr, die gestürzt werden müssen. Die heutigen Barone leben in Mountain View – und wollen mit Krieg und imperialer Besatzung nichts zu tun haben. Statt unseres Bildes der Bay-Area-Industrien als zufälliger technischer Evolution der »Whole Earther«, die umgeformt, vereinnahmt und korrumpiert wurde, würde ich eine andere Lesart des Silicon Valley vorschlagen: als Degeneration des libertären Konservatismus, in Gegensatz zu seinen Behauptungen. Mein Führer ist hier Corey Robins’ The Reactionary Mind, ein Buch, das für den InternetKontext ungemein erhellend ist. Robins Beobachtungen zwingen uns, unsere Denkrichtung zu verschieben und in Silicon Valley keine gefallenen Hippies 16 | Berlin wird weithin als (globales) Zentrum von Computerhackern, Geeks und Zivilgesellschaftsaktivisten wahrgenommen, kombiniert mit einer bescheidenen Start-Up-Kultur und einer weiterhin florierenden Kunstszene, die alle von den noch erschwinglichen Mieten, günstigen Lebenshaltungskosten und einer guten öffentlichen Infrastruktur profitieren. Auch die hier erreichte kritische Masse erleichtert es NGOs und Kampagnen, von Berlin aus zu operieren (z. B. TacticalTech und irights.info). 17 | In ihrem Bericht über die Transmediale 2015 in Berlin schreibt die norwegischaustralische Wissenschaftlerin Jill Walker: »Bis jetzt war das Programm größtenteils auf eine einseitige Kritik an Datifizierung und sozialen Medien beschränkt, die so simplifizierend ist, dass sie alles nur noch schlimmer macht. Die Liste all der Dinge, denen wir auf der Spur sind, herunterzubeten, ist cool. Aber wenn das mal erledigt ist, bringt es einen wirklich weiter, dasselbe im Prinzip immer neu zu wiederholen?« http://jilltxt. net/?p=4221. Die Berlin-Strategie ist natürlich die bessere Antwort auf einen solchen interpassiven Blick, der die naive Erforschung von Big Data verteidigt und Kritik zu einem subjektiven Lamentieren kleinredet. Die Berliner Digital-Rights-Szene agiert durch Bildung von Koalitionen, um zentrale Internet-Kontroversen auf langfristige politische Agenden zu setzen. Sie gründet sich dabei auf ein starkes Netzwerk diverser Initiativen, die verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entstammen, vom Chaos Computer Club über Transmediale und Berliner Gazette bis zu netzpolitik.org und ihren re:publica-Versammlungen.

Einleitung

mehr zu sehen, die ihre fortschrittlichen Ziele verraten haben, sondern ihre grausame und zugleich unschuldige Mentalität als reaktionär zu verstehen, nur darauf ausgerichtet, die wachsende Macht der konservativen 1 Prozent weiter zu stärken. Die echten Hippies haben sich vor langer Zeit zur Ruhe gesetzt, und ihr Erbe war leicht zu tilgen.18 Diese Perspektive gibt uns die Freiheit, das »geschwächte moralische Rückgrat« der Dotcom-Ära und ihren »verschwundenen Kampfgeist« zu erkennen. Das Problem an der bürgerlichen Gesellschaft, wie Robin sie beschreibt, ist ihr Mangel an Vorstellungskraft. »Frieden ist angenehm, und beim Angenehmen geht es um momentane Befriedigung.« Frieden »löscht die Erinnerung an konflikthafte Spannungen, heftigen Streit, den Luxus, uns selbst zu definieren, weil wir wissen, gegen wen wir uns auflehnen«.19 Nachdem das Silicon Valley seine Unschuld verloren hatte, brauchte es erst mal etwas Zeit, um zu realisieren, dass es sich nun für Krieg und Konflikt rüstete. Im Unterschied zu den meisten Washingtoner Think Tanks kalkuliert das Silicon Valley mit der Apokalypse und nicht gegen sie. Sein implizites Motto ist immer: »Es kann losgehen!« Über die Neo-Konservativen bemerkt Robin dagegen, dass »ihr Endspiel, falls sie eins haben, in einer apokalyptischen Konfrontation zwischen Gut und Böse, Zivilisation und Barbarei besteht – Kategorien, die der von der amerikanischen Freihandels- und GlobalisierungsElite kultivierten Vision einer Welt ohne Grenzen diametral entgegengesetzt sind.«20 Eine solche Bereitschaft zum Konflikt gibt es im Valley nicht. Googles Überidentifikation mit seinem alten Slogan Don’t be Evil und dessen spätere Preisgabe sagen alles. Entgegen dieser anfänglichen Mentalität, Gutes tun zu wollen, müssen wir lernen, uns in die Gedankenwelt des Risikokapital-Gurus Peter Thiel zu versetzen, der bereit ist, mit dem Bösen zu denken, und einer der wenigen, der offen über die autistischen Tendenzen der Techno-Elite spricht. In seinem Buch Zero to One formuliert er seine vier Regeln für Start-ups so: »1. Mut zum Risiko ist besser als Banalität. 2. Ein schlechter Plan ist besser als gar keiner. 3. Konkurrenz verdirbt das Geschäft. 4. Der Vertrieb ist genauso wichtig wie das Produkt.« In seiner Analyse haben sich im Silicon Valley nach 18 | Unabhängig von der Bedeutung historischer Studien wie der von Fred Turner an der Stanford University oder des Netzkultur-Kreises um Michael Stevenson und die Webcultures-Mailingliste (webcultures.org) tendieren sie doch immer zu Erklärungen aus der und für die Vergangenheit und leider nicht für die Gegenwart. Die Brüche seit den späten neunziger Jahren, als die Geschäfts- und Finanzwelt Einzug hielten – in Kombination mit einer bereits in den siebziger Jahren vollzogenen »konservativen Revolution« –, sind einfach zu groß gewesen, um die historische Gegenwart des Internets deutlich artikulieren zu können. 19 | Corey Robin, The Reactionary Mind, S. 171–173. 20 | Corey Robin, The Reactionary Mind, S. 183.

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dem Dotcom Crash zunächst andere Maximen herausgebildet, die besagen, dass Unternehmen »schlank« bleiben müssen und besser ungeplant agieren. »Man sollte nicht wissen, wohin das Unternehmen steuert, denn Planung gilt als überheblich und unflexibel. Stattdessen sollte man ausprobieren und das Unternehmertum als agnostisches Experiment begreifen.«21 Aber auch diese Denkweisen spiegeln nur die Logik der Kriegswirtschaft wider, die mit kaltem Zynismus betrieben wird und auf den naiven Idealismus der Fürsprecher des freien Markts herabblickt. Peter Thiel rügt offen das Hobbessche Status-quo-Denken. Frank Pasquale kommt hingegen zwar zu ähnlichen Schlussfolgerungen, aber bringt auch einen neuen sozialen Realismus zum Ausdruck. Während der Wettbewerb gedämpft wird und die Kooperation verstärkt, »zielen die meisten Start-ups heute darauf ab, nicht mehr mit Google und Facebook zu konkurrieren, sondern von ihnen gekauft zu werden. Statt auf einen Wettbewerb zu hoffen, der vielleicht niemals eintritt, müssen wir sicherstellen, dass die natürliche Monopolisierung, die bei Suchmaschinen und sozialen Netzwerken eingetreten ist, sich nicht zu sehr zu Lasten der übrigen Wirtschaft auswirkt.«22 Im Klappentext für Julian Assanges When Google met Wikileaks werden die unterschiedlichen Positionen zwischen dem Hacker und Whistleblower Assange und dem GoogleManager Eric Schmidt folgendermaßen dargestellt: »Für Assange basiert die befreiende Kraft des Internets auf seiner Freiheit und Staatenlosigkeit. Für Schmidt ist Emanzipation gleichbedeutend mit den Zielen der US-amerikanischen Außenpolitik und davon angetrieben, nicht-westliche Länder an westliche Unternehmen und Märkte anzuschließen.«23

E in kurzes U pdate zur A ufmerksamkeit Schauen wir einmal, was sich bei der Internet-Theorie in den letzten Jahren getan hat. Lässt man die üblichen Techno-Optimisten und Silicon-Valley-Marketinggurus beiseite, sind hier vor allem zwei Richtungen einer näheren Betrachtung wert. Der amerikanische Ansatz, vertreten durch Nicholas Carr, Andrew Keen und Jaron Lanier, die in erster Linie Wirtschaftsautoren sind, oder  – aus dem akademischen Bereich kommend  – Sherry Turkle, kritisiert an den sozialen Medien vor allem deren Oberflächlichkeit: der schnelle, kur21 | Peter Thiel, Zero to One – Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet, S. 25–26. 22 | Frank Pasquale, The Black Box Society, The Secret Algorithms That Control Money and Society, Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 2015, S. 141. 23 | Julian Assange, When Google Met Wikileaks, New York/London: O/R Books, 2014. Wenn Thiel die Rolle des rechten Libertären spielt, ist Eric Schmidt der vernünftige Realpolitiker, den europäischen Sozialdemokraten nicht unähnlich.

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ze Austausch der Menschen in ihren »Echokammern« (der sogar das Gehirn schädigen kann, wie Carr zu beweisen versucht hat) führt zu Vereinsamung und zu einem Verlust an Konzentrationsfähigkeit. Dagegen hat in jüngerer Zeit Petra Löffler aus Weimar mit ihrer Arbeit über die Rolle der Zerstreuung in den Arbeiten von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer diesen Bedenken eine europäische Note gegeben.24 Die in diesem Buch weiter hinten folgende Fallstudie über das europhile »Netz-Ressentiment« des amerikanischen Schriftstellers Jonathan Franzen lässt sich vielleicht zwischen diesen Positionen einordnen. Die Netzkritik kann nicht so tun, als ob sie diese sehr realen Sorgen um Informationsüberflutung, Multitasking und Konzentrationsverlust nichts angingen, und Wissenschaftler wie Trebor Scholz und Melissa Gregg befassen sich mit ihnen auch explizit. Trotzdem ist es auch gut, solche Ängste manchmal zu vergessen und sich mit den eigentlichen Wurzeln zu beschäftigen, die den unter Druck stehenden ›timelines‹ der sozialen Medien zugrunde liegen. Im Kontrast zur moralistischen Wende in den US-amerikanischen Mainstream-Kanälen betonen europäische Autoren wie Bernard Stiegler, Ippolita, Mark Fisher, Tiziana Terranova und Franco Berardi (mich selbst zähle ich auch dazu) den breiteren ökonomischen und kulturellen Kontext (der Krise) des digitalen Kapitalismus, der seine eigenen »pharmakologischen« Wirkungen erzeugt (und in direkter Linie zur Selbstregulierung durch Medikamente führt).25 Für diese Autoren ist ein den Körper einbeziehender Ansatz nötig, um den einfachen Rückzug in den »Offline-Romantizismus« zu überwinden – eine Option, die allzu leicht wahrgenommen wird, wenn wir das Gefühl haben, dass 24 | Petra Löffler, Verteilte Aufmerksamkeit, Eine Mediengeschichte der Zerstreuung, Zürich: diaphanes, 2014. Siehe auch mein Interview mit ihr, das sich auf die Verbindung zwischen ihrem geschichtlichen Material und der gegenwärtigen Debatte richtet, »The Aesthetics of Dispersed Attention, an Interview with German Media Theorist Petra Loeffler«, veröffentlicht auf der Nettime-Liste am 24. Sept. 2013 und in NECSUS #4, Nov.ember 2013, www.necsus-ejms.org/the-aesthetics-of-dispersed-attention-aninterview-with-german-media-theorist-petra-loffler/, sowie ihren Vortrag auf Unlike Us #3, Amsterdam, März 2013. Mehr dazu in Kapitel 2. 25 | Für Bernard Stiegler sind diese Spannungen auch ein Symptom und haben damit zu tun, dass die sogenannten »analogen Natives«, die immer noch die meisten unserer Institutionen kontrollieren, die junge Generation mit sich alleingelassen haben. »Hauptziel der Pharmakologie der Massenmedien ist es, die Weitergabe von Rezepten zwischen den Generationen zu ersetzen. Solche Rezepte, die immer den Eintritt in eine Verbindlichkeit ausmachen, werden durch die Kontrolle des Verhaltens ersetzt, das ständig durch Marketing – und seine wichtigsten Transportmittel, die Produktionen der Programmindustrie – transformiert wird.« Bernard Stiegler, States of Shock, Stupidity and Knowledge in the 21st Century, Cambridge: Polity Press, 2015, S. 219.

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unsere Körper nicht mehr Schritt halten und die Routine die Herrschaft übernimmt. Die Politik des Internets inklusive seiner Interface-Ästhetik sollte über Sloterdijks Mentaltraining, bei dem er vorschlägt, die Versuchungen der Technologie durch genau abgestimmte lebensverändernde Routinen zu »meistern«, hinausgehen. Die Verschreibung von Therapeutika ist immer zu kombinieren mit einer politisch-ökonomischen Haltung gegenüber der Finanzialisierung der Wirtschaft, den Auswirkungen der Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit mit ihren unsichtbaren Infrastrukturen und der Rolle des Klimawandels, während wir gleichzeitig das Digitale verarbeiten. Abgesehen von unseren Gefühlen und Ressentiments gegenüber einer Technologie, die uns mit ihrem Übermaß an Daten überwältigt, was machen wir, wenn es, wie David Weinberger sagt, »zu groß ist, um es erfassen zu können«, und die hübsche informationsgraphische Auf bereitung uns auch keine einfachen Antworten gibt?26 Egal ob wir nun sensible nordamerikanische Wirtschaftstheoretiker sind oder mehr auf der europäischen Linie liegen, der gegenwärtige Abschwung in der kritischen Theorieproduktion zum Thema Zerstreuung und Disziplinierung der Arbeit kann nur bedeuten, dass uns dies erhalten bleibt. Trotzdem kann es immer noch vorkommen, dass sich moralische Meme einschalten und zum Beispiel das öffentliche Starren auf Smartphones plötzlich uncool werden lassen. Ein Autor, der sich mit der These der Informationsüberflutung produktiv auseinandergesetzt hat, ist Evgeny Morozov. In seiner Studie To Save Everything, Click Here präsentierte er eine übergreifende Theorie, die die oberflächlichen Medien- und Repräsentationsanalysen hinter sich lässt. Im Zentrum dieses kritischen Projekts steht eine IT-Marketingtaktik, die er »Solutionismus« nennt. Kostensenkung und Disruption sind zu eigenständigen Zielen und Industrien geworden, die auf alle Bereiche des Lebens angewendet werden können – und werden. Nach seinem ersten Buch über amerikanische Außenpolitik und das Internetfreiheits-Programm der ehemaligen Außenministerin Hillary Clinton dehnte Morozov seine Analysen auf das Gesundheitssystem (das »quantifizierte Selbst«), Logistik, Mode, Bildung, Mobilität und die Kontrolle öffentlicher Räume aus. Er warnte uns, dass Technologie soziale Probleme nicht lösen kann: Das müssen wir selbst tun. Während er gegenüber der menschlichen Natur skeptisch bleibt, lautet seine Botschaft, dass Programmierer die Komplexität menschlicher Gewohnheiten und Traditionen berücksichtigen und sich mit plakativen Behauptungen zurückhalten sollten.27 26 | David Weinberger, Too Big to Know, New York: Basic Books, 2012. 27 | Mehr zu Morozov in meiner Besprechung von Save Everything, Click Here vom 23. Apr. 2013 in Open Democracy, www.opendemocracy.net/geert-lovink/eugene-moro​ zov-attacks-internet-consensus-single-handed. Mit Morozovs Angriff auf das, was er »McLuhanesken Medienzentrismus« nennt, in diesem Fall Internetzentrismus, stimme

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Anfang 2015 nahm Morozov einen interessanten Kurswechsel vor. In einem ausführlichen Interview mit der New Left Review wird der Besitz der IT-Infrastrukturen zum Dreh- und Angelpunkt: »Sozialisiert die Datenzentren!« – »Ich werfe die Frage auf, wer sowohl die Infrastruktur als auch die über sie verteilten Daten betreiben und besitzen soll, denn ich glaube nicht, dass wir es weiter akzeptieren können, wenn alle diese Dienste nur vom freien Markt bereitgestellt und erst im Nachhinein reguliert werden.«28 Den europäischen Versuch, Google zu regulieren, lehnt er ab.29 Aber ein europäischer Suchalgorithmus wird auch nicht funktionieren. »Google wird seine Vormachtstellung behaupten, solange seine Herausforderer nicht dieselben zugrundeliegenden Nutzerdaten haben. Um weiterhin eine Rolle zu spielen, müsste Europa sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Daten und die Infrastruktur, die sie hervorbringt (Sensoren, Mobiltelefone etc.), der Schlüssel zu fast allen Bereichen wirtschaftlicher Aktivität sein werden.« Der Grund, weshalb Europa nicht viel gegen seine Abhängigkeit von US-amerikanischen Konzernen machen kann, liegt darin, dass Gegenmaßnahmen »sich direkt gegen das richten würden, wofür das neoliberale Europa heute steht.« Morozov ist der Meinung, dass ein Unternehmen niemals die Daten der Bürger besitzen dürfte. »Den Bürgern müssen ihre Daten selbst besitzen können, ohne sie zu verkaufen, um besser eine gemeinschaftliche Planung ihres Leben zu ermöglichen.«

ich nicht überein. Aus meiner Sicht brauchen wir viel mehr kritische Wissenschaftler, die das Internet sehr ernst nehmen und anfangen, sich von innen mit seinen Funktionen auseinanderzusetzen, als einer Technologie, einer Kulturtechnik, einer Industrie und Infrastruktur der politischen Ökonomie, und es nicht bloß im Cultural-Studies-Stil als populistische Oberfläche deuten. Techno-Determinismus ist eine wichtige Phase in einer solchen Lernkurve, während ein breiteres Verständnis der neoliberalen Gesellschaft (und seiner Geschichte) eine weitere wesentliche Säule bleibt. Auch Künstler, Aktivisten und Programmierer kommen in Morozovs Universum nicht vor oder erscheinen höchstens als Dummköpfe. 28  |  Evgeny Morozov, »Socialize the Data Centres!«, New Left Review 91, Jan./Feb. 2015, S.  4 5–66; https://newleftreview.org/II/91/evgeny-morozov-socialize-the-data-centres 29 | Laut Stephen Fiedler, der für das Wall Street Journal aus Brüssel berichtet, wird Europa sich weder für eine Regulierung im alten Stil entscheiden noch das chinesische Modell wählen (bei dem Amazon einfach durch Alibaba und Google durch Baidy ersetzt wird). Stattdessen liefe es eher auf ein Insider-Modell hinaus. Nach Meinung von Günther Oettinger von der Europäischen Kommission sollten »die führenden europäischen Industrieunternehmen digitale Plattformen aufbauen, die die Zukunft beherrschen« (22. Mai 2015). Dies hieße aber nicht nur, amerikanischen Unternehmen Einhalt zu gebieten, sondern würde auch europäische Start-ups entmutigen, und das gilt natürlich auch für zivilgesellschaftliche Initiativen.

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D as I nterne t als technosoziales U nbe wusstes Nachdem es sich zu einer allgemeinen Infrastruktur für alles gewandelt hat, tritt das Internet nun in seine Reifephase ein. Unser Problem mit den sozialen Medien ist nicht ihre »Verdinglichung«. Auch liegt die Herausforderung unserer Zeit nicht in einer im Hintergrund stattfindenden »Rationalisierung«. In The Uprising konstatiert Franco Berardi, dass »im digitalen Zeitalter Macht immer damit zu tun hat, die Dinge einfach zu machen«.30 Während das moderne Zeitalter der Bildung für alle und des Klassenkompromisses, das sich unter dem Schirm von Wohlfahrtstaat und Kaltem Krieg entwickelt hatte, ausläuft, übernehmen Datifizierung und Finanzialisierung als die zwei Seiten der neoliberalen Kontrollgesellschaft die Regie. Dagegen muss es eine »universale Vernunft des Digitalen« geben, nur worin besteht die? Ohne einen Plan oder eine Entscheidung in Sicht bietet sich das Digitale als bequeme, aber auch unhinterfragte neue Norm dar. Es gibt nichts mehr, was verifiziert werden muss, nichts Neues zu sehen (außer süßen Katzen). Die ratlosen New-School-Nutzer, die voll mit ihrem Alltagsleben ausgelastet sind, haben nun die Apps installiert, sich registriert, einen Account angelegt und die Nutzungsbedingungen bestätigt, um in die Welt der Reibungslosigkeit zu gelangen. Seid willkommen im Reich des unterschwelligen Komforts, der unerträglichen Leichtigkeit des Wischens, Klickens und Likens.31 Hierin liegt die These dieses Buchs: die kommende Herausforderung ist nicht die Allgegenwart des Internets, sondern seine Unsichtbarkeit. Aus diesem Grund ist Big Brother der falsche Bezugsrahmen. Soziale Medien sind alles andere als monströse Maschinen. Das süße »Auge« des Bildschirms bietet ein Schauspiel, das mühelos unsere Aufmerksamkeit zerstreut. Die geistige Kontrolle wird subtiler und manifestiert sich nicht mehr in exemplarischen Bildern und Objekten. Die sozialen Medien sammeln ihren Einfluss im Hintergrund. Hier brauchen wir den Input einer neuen Generation von Techno-Psychoanalytikern, die die in Vergessenheit geratene Disziplin der Massenpsychologie, ausgehend von Freud und Canetti, auf den aktuellen Stand bringen, um die heutigen Zustände des kollektiven Unbewussten zu erklären. Im Gegenzug sollten diese Einsichten mit einer neuen Gruppe von Soziologen geteilt werden, die die Abstraktion der Arbeit (in der Folge von Digitalisierung und Automatisierung) durchdenken. Wie könnte die Soziologie von Big Data weggelockt werden und mal wieder zur kritischen Theorie beitragen? Braucht man einen neuen Methodenstreit, oder kann man der regressiven Begeisterung für 30 | Franco Berardi, The Uprising: On Poetry and Finance, Los Angeles: Semiotext(e), 2012, S. 15. Berardi bezieht sich hier auf einen Brief von Bill Gates an John Seabrook. 31 | Geschrieben im Dialog mit der Einleitung von Bernard Stieglers States of Shock, S. 3.

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quantitative Analysen anders begegnen? Natürlich muss unsere expressionistische Wissenschaft auch ihren eigenen defensiven, depressiven Zustand überwinden. Eine Möglichkeit, dies zu tun, bestünde in einer radikalen Neubewertung der »französischen Theorie« und der mechanischen Art, wie Theorie in der jüngsten Zeit praktiziert wurde.32 Es ist immer schön, von Schwärmen zu träumen und die vernetzte Multitude zu proklamieren (und vor deren dunkler Seite zu warnen), aber genauso wichtig ist es, neue Formen von Sozialität zu entwerfen, die diese Energien nutzen, zum Beispiel in Plattformen für »kollektive Aufmerksamkeit«, die eher auf langfristige Kollaborationen ausgelegt sind als auf spontane Einmaltreffen.33 Die Macht von Konzepten, die implementiert werden und ein eigenes Leben entwickeln, ist immer noch aktuell, und es gibt viele Beispiele dafür, auch in diesem Buch. Wo findet man Mitstreiter, mit denen man gemeinsam arbeiten und leben, die man lieben und um die man sich kümmern möchte? Wie können wir uns neue Organisationsformen vorstellen, die sowohl horizontal als auch vertikal sind, mit Verbindungen nach außen und einer reichen inneren Struktur? Sind wir bereit für politische Dating-Portale und hyper-lokales soziales Signaling? Was wäre ein Like mit technischen Konsequenzen? Wie können wir über das simple »Klicktivismus«-Niveau von Avaaz hinausgehen und skalierbare lokale Organisationen bilden, die gleichzeitig auf akute Ereignisse reagieren können und eine langfristige Agenda verfolgen? Wie kann Peer-to-Peer-Solidarität aus-

32 | Ein möglicher Weg dorthin läge in einer kritischen Neu-Lektüre klassischer Texte und ihres Erbes, wie zum Beispiel bei Bernard Stiegler in seinem 2012 erschienenen Buch States of Shock. Er untersucht hier vor allem die »postmoderne« Phase im Werk von Lyotard, um darüber parallele Strömungen in der Philosophie und Verschiebungen in der Wissensindustrie aus der Perspektive einer politischen Ökonomie des Digitalen zusammenzudenken. Eines seiner Urteile: »Die Schwammigkeit der politischen und ökonomischen Aussagen der Philosophie scheint sich, im Nachhinein, zu einer fürchterlichen Blindheit gegenüber dem, was anfangs mit der konservativen Revolution und den ersten Schritten hin zur Finanzialisierung durchsickerte, zu entwickeln.« (S. 100) Ein anderer Ansatz ginge in Richtung von Andrew Culps Blog Anarchist Without Content, der einen radikalen Wechsel vom Fröhlichen Deleuze zum Dunklen Deleuze vorschlägt. »Wozu soll Freude in dieser Welt des zwanghaften Positivismus gut sein? Es ist an der Zeit, von der Kapelle in die Krypta hinabzusteigen. Wir haben genug, um einen Gegenkanon zu errichten.« Das Dark-Deleuze-Glossar enthält Konzepte wie: Weltzerstörung, Asymmetrie, Unterbrechung, Entfaltung, das Katastrophische oder die Kraft des Falschen. URL: https://anarchistwithoutcontent.wordpress.com/ 33 | Zur Definition von »Plattformen für kollektive Aufmerksamkeit« siehe: http://capsconference.eu/ und http://ec.europa.eu/digital-agenda/en/collective-awareness-plat​ forms-sus​t ain​a bility-and-social-innovation

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sehen?34 Aus diesem Grund bleibt auch die Anonymous-Episode von 2009– 2012, die Gabriele Coleman präzise dokumentiert hat 35, so nachhaltig subversiv und inspirierend, trotz aller tragischen Fehler und Vertrauensbrüche, die mit langen Freiheitsstrafen für Barrett Brown und andere endeten.36 Bei der Frage »Was tun?« kommt es nicht nur darauf an, wie man die Führer der Welt auf ihren Gipfeltreffen anspricht, sondern auch, wie man eine digitale Sensibilität gestaltet, um direkte und dauerhafte Verbindungen zu noch unbekannten Anderen zu bilden. Im Übrigen, wie Michael Seemann schreibt: »Dezentrale Herangehensweisen werden nur funktionieren, wenn man die Daten offen hält. Nur offene Daten können zentral abgefragt und gleichzeitig vor Entwendung geschützt werden.«37 Bietet das »föderierte Web« eine mögliche Alternative zur Zentralisierungsstrategie des Status quo? Was bedeutet es, wenn wir uns zusammenschließen? Föderation ist offenkundig ein altes politisches Konzept, das den freiwilligen Zusammenschluss zu einer größeren staatlichen Einheit bezeichnet. Im Internet-Kontext geht eine Föderation über direkte Peer-to-Peer Verbindungen hinaus und bezieht sich auch auf Protokolle und Governance-Fragen. Aber können wir auch von einer Föderation von Fähigkeiten sprechen? Wenn wir Daten aus verschiedenen Quellen vermischen und sie in unserem Browser zusammenbringen, widersetzen wir uns der Logik der zentralen Datensilos. Könnte das eine wirksame Antwort auf den unhinterfragten Aufstieg der Datenzentren sein? Man kann dieses Vorgehen natürlich leicht als rein technische Lösung abtun. Aber Smari McCarthys Vorschlag für einen technischen Ausweg aus dem Faschismus (Engineering Our Way Out of Fascism) sollte als strategischer Beitrag ernst genommen werden.38 Faschismus ist hier 34 | Ein Beispiel dafür könnte das Kunstprojekt von Ine Poppe und Sam Nemeth sein, die während ihres Urlaubs auf der griechischen Insel Lesbos mit Flüchtlingen aus Syrien in Kontakt kamen. Sie befreundeten sich mit einem von ihnen, Ideas, und beschlossen, seiner Reise auf WhatsApp zu folgen. Ihr Blog: http://ideasodyssey.blogspot.nl/. Ein Bericht dazu: http://mashable.com/2015/07/03/syrians-europe-whatsapp-refugees 35 | Gabriele Coleman, Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy: The Many Faces of Anonymous, London/New York: Verso, 2014. 36 | Siehe: https://freebarrettbrown.org/ »Barrett Brown ist ein inhaftierter amerikanischer Journalist. Er galt als inoffizieller Sprecher von Anonymous, bevor er seine Verbindung zu dem Kollektiv 2011 beendete. 2012 stürmte das FBI sein Haus, und im selben Jahr wurde er in 12 Punkten angeklagt, die mit dem Stratfor-Hack von 2011 zusammenhingen. Den umstrittensten Anklagepunkt, der in Verbindung zu den gehackten Daten stand, ließ man fallen, trotzdem wurde Brown 2015 zu 63 Monaten Haft verurteilt. 37 | Michael Seemann, Digital Tailspin, S. 43. 38 | Smari McCarthy, Engineering Our Way Out of Fascism, ein Keynote-Vortrag auf der Free-Software-Konferenz FSCONS 2013, entstanden unter dem Eindruck der Snowden-

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definiert als der »perfekte Zusammenschluss von Staat und Geschäftswelt«. Heutige Fragen der politischen Organisation sind in ihrem Kern technologisch. Diejenigen, die mit Machiavelli, Hobbes, Hegel oder Schmitt argumentieren, wiederholen die Probleme der herrschenden Eliten und versuchen implizit, soziale Bewegungen und ihre Dynamik durch einen übergeordneten Körper (die Partei), der politischen Dissens koordinieren und kontrollieren soll, auszuschalten. Technologie ist immer politisch, hierauf kann man sich leicht einigen; schwieriger ist es aber, sich klarzumachen, dass Politik im Kern technisch ist. Wir fühlen uns von der Reinheit des abgetrennten Reichs der Intrige angezogen, wo Interessen aufeinanderprallen und Machtspiele ausgetragen werden, statt uns mit dem Erbe von Albert Speer auseinanderzusetzen: wir Programmierer sind Hacktivisten und Geeks; der Technokrat ist immer der andere. Wir brauchen eine Verschiebung von der Aufmerksamkeitsökonomie zu einem Web der Intentionen. Die Strategie sollte sein, das Soziale herauszukristallisieren durch »Netzwerke mit Konsequenzen«. Die gegenwärtigen Architekturen der sozialen Medien zielen nur auf Wert (im Sinne von Geschäft). Sie verfolgen Geschehnisse und vermarkten Nachrichten (ohne sie zu produzieren) für ein Publikum, dessen Vorlieben dann an den höchsten Bieter verkauft werden können. Die Abstraktion ist unser schwarzes Loch. Eine Lösung wären hier fokussierte Nutzergruppen (auch bekannt als organisierte Netzwerke), die außerhalb der Like-Ökonomie und ihrer schwachen Links operieren können. Gegenseitige Hilfe jenseits der Empfehlungsindustrie. Teilen ohne Airbnb und Uber. Eine Renaissance des kooperativen Internets ist möglich.39 Wir sollten die vielfältigen Anstrengungen, allgemeine Software und passende Maschinensprachen zu entwickeln, nicht abschreiben, denn sie sind unsere Enthüllungen, http://smarimccarthy.is/2014/05/28/engineering-our-way McCarthys Zielvorgabe ist, »alles zu dezentralisieren, alles zu verschlüsseln und alle Endpunkte zu verschließen«, um anschließend diese Dienste den nächsten fünf Milliarden Leuten zur Verfügung zu stellen. »Unterm Strich: wenn man Software entwickelt, aber dies nicht zum Wohle der gesamten Menschheit, hilft man nur den Faschisten.« 39 | Siehe den Sonderteil in The Nation vom 27. Mai 2015 mit Beiträgen von Janelle Orsi, Frank Pasquale, Nathaniel Schneider, Pia Mancini und Trebor Scholz. Die Autoren diskutieren die Frage, wie technische Plattformen für das Gemeinwesen geöffnet werden können. »Wir haben eine Wahl: die Plattformen weiter so zu nutzen, dass sie die Wohlstandskluft vergrößern, oder technische Plattformen als Gemeingut zu errichten.« (Janelle Orsi) Entscheidend sind gemeinsames Eigentum und Kontrolle. Trebor Scholz schlägt vor, Apps zu entwickeln, die die Kooperation zwischen Plattformen erlauben. »Um gute digitale Arbeit zu verwirklichen, müssen Gleichgesinnte sich organisieren, Kerne der Selbstorganisation bilden und für demokratische Rechte von Cloud-Arbeitern kämpfen.«

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einzige tragfähige Strategie gegen die monopolistischen Vermittler. Wir müssen eine verführerische Mischung aus Föderalismus und »Re-Dezentralisierung« finden. Die Ästhetik kollektiver Sinnhaftigkeit feiern und Werkzeuge entwickeln, die unsere Wertprinzipien in die Gesellschaft einschreiben. Das wird nur möglich werden, wenn wir uns auf allen Ebenen von den kostenlosen, eingebauten Gegen-Monetarisierungsverfahren verabschieden, sodass das Geschenk wieder zu einer wertvollen Geste wird statt einer ungreif baren, versteckten Voreinstellung. Um dort hinzukommen, müssen wir das Netzwerk als eine eindeutige Form wiedergewinnen, klar abgegrenzt von der Arbeitsgruppe, der Partei oder den alten Hierarchien in Unternehmen, Armeen und religiösen Organisationen. Wie verhält sich das Netzwerk als soziale Praxis zur Kooperative als rechtlicher Form? Diese Art strategischen Denkens erlaubt es uns, den »retikulären Pessimismus« abzuschütteln, der laut Alex Galloway behauptet, »dass es aus den Fesseln der Netzwerke kein Entkommen gibt«.40 »Netzwerke sind ein Modus der Vermittlung wie jeder andere auch«, folgert er. Richten wir also unsere Aufmerksamkeit auf die unverhofften organisatorischen Möglichkeiten, die vor uns liegen  – innerhalb und außerhalb des Netzwerks. Lasst uns die Ränder wieder neu besetzen und Netzwerke als neue institutionelle Formen begreifen.

40 | David Berry/Alex Galloway, »A Network is a Network is a Network: Reflections on the Computational and the Society of Control«, in: Theory, Culture & Society, 2015.

Was ist das Soziale in den sozialen Medien?

Schlagzeilen für die Wenigen: »Vergessen Sie bei der nächsten Einstellungsrunde die Persönlichkeitstests, schauen Sie einfach nur in das Facebook-Profil der Bewerber.« – »Stephanie Watanabe hat Donnerstag Nacht fast vier Stunden damit verbracht, sich mit etwa 700 ihrer Facebook-Freunde zu entfreunden – und ist immer noch nicht fertig.« – »Facebook-Entschuldigung oder ins Gefängnis: Mann aus Ohio muss sich entscheiden.« – »Studie: Facebook-Nutzer werden unfreundlicher« – »Frauen achten mehr darauf, wer Zugang zu ihren persönlichen Daten hat.« (Mary Madden) – »Alle herausgeputzt, und nirgendwo kann man hingehen.« (Wall Street Journal) – »Ich bemühe mich inzwischen, sozialer zu sein, denn ich will nicht allein sein, und ich will Menschen treffen.« (Cindy Sherman) – »In 30 % der Profil-Updates ging es um Gefühle von Wert- oder Hoffnungslosigkeit, Schlafstörungen oder zu viel Schlaf und um Konzentrationsschwierigkeiten, nach den Kriterien der American Psychiatric Association alles eindeutige Symptome einer Depression.« – »Suche nach Berliner Polizeibeamtem, der auf Facebook mit Nazi-Gruß zu sehen ist.« – »Fünfzehnjährige jammert und verflucht ihre Eltern auf Facebook. Der angewiderte Vater nimmt einfach die Pistole und zerschießt ihren Laptop.«

Der Gebrauch des Begriffs ›sozial‹ im Kontext der Informationstechnologie reicht bis in die Anfänge der Kybernetik zurück. Eine Unterdisziplin der Soziologie wurde geschaffen, die Soziokybernetik, die das »Netzwerk der sozialen Kräfte, die das menschliche Verhalten beeinflussen«1, und seine Fähigkeiten, Informationssysteme zu modifizieren und zu optimieren, untersuchen sollte. In den achtziger Jahren, als die Software-Produktion sich schon weit entwickelt hatte, tauchte das Soziale in Form von ›Groupware‹ wieder auf. Zur gleichen Zeit wies Friedrich Kittler von der materialistischen Schule der deutschen Medientheorie die Rede von ›sozial‹ als irrelevant und unsinnig zurück (Computer rechnen, sie greifen nicht in die menschlichen Beziehungen ein, 1 | https://en.wikipedia.org/wiki/Sociocybernetics

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also Schluss damit, unsere irdischen, allzu menschlichen Wünsche auf elektronische Schaltkreise zu projizieren).2 Den ganzheitlichen Hippies der WiredSchule war dieses zynische alt-europäische Maschinendenken jedoch egal, sie orientierten sich lieber an einer positiven, menschenbezogenen Sichtweise, die Computer als Werkzeuge der persönlichen Befreiung feierte, eine Haltung, aus der Steve Jobs später ein Designprinzip und eine Marketingmaschine machte. Bevor die IT-Industrie Mitte der neunziger Jahre vom Dotcom-Risikokapital übernommen wurde, bestand fortschrittliches Computerarbeiten vor allem in der Entwicklung von Werkzeugen und war auf die Zusammenarbeit von zwei oder mehr Personen ausgerichtet; nicht auf ›Teilen‹, sondern darauf, den Job zu erledigen. Das Soziale bedeutete hier Austausch zwischen isolierten Knotenpunkten. Gleichzeitig war die kalifornisch individualistische Ausrichtung auf coole Interfaces und Benutzerfreundlichkeit – nicht zuletzt aufgrund ihrer ›alternativen‹ Anfänge – immer auch von Investitionen in den Gemeinschaftsaspekt der Netzwerke begleitet. Allerdings bedeutet dieses kalifornische ›Soziale‹ nur Teilen unter Nutzern. Mit kollektivem Eigentum oder Versorgung der Allgemeinheit hat es nicht viel zu tun. Tatsächlich waren Computer immer Hybride zwischen dem Sozialen und dem Posthumanen. Seit den Anfängen ihres industriellen Lebens als gigantische Rechenmaschinen sah man bereits die Möglichkeit und auch Notwendigkeit, verschiedene Einheiten aneinanderzukoppeln.3 In seinem unveröffentlichten Essay »Wie Computer-Netzwerke sozial wurden« zeichnet der Medientheoretiker Chris Chesher aus Sydney die historische und interdisziplinäre Entwicklung einer ›Offline‹-Wissenschaft nach, die die Dynamik menschlicher Netzwerke erforscht – von der Soziometrie und der Analyse sozialer Netzwerke (die bis in die 1930er Jahre zurückgeht) über Granovetters Studie zu »weak ties« (1973) und Castells’ Netzwerkgesellschaft (1996) bis hin zu aktuellen technowissenschaftlichen Analysen, die sich unter dem Dach der Actor Network Theory versammeln. Der entscheidende konzeptionelle Schritt liegt im Übergang von Gruppen, Listen, Foren und Netzgemeinschaften zur Ermächtigung locker miteinander verbundener Individuen in Netzwerken. Diese Verschiebung hatte bereits in den neoliberalen neunziger Jahren begonnen und wurde durch immer leistungsfähigere Computer, wachsende Speicherkapazitäten und Bandbreite sowie vereinfachte Schnittstellen auf inzwischen immer kleineren (mobilen) Geräten verstärkt. Hier liegt der Einstieg in das Imperium des Sozialen. 2 | Diese Referenz geht zurück auf Chris Cheshers Manuskript »How Computer Networks Became Social« für die für 2015 geplante, aber dann stornierte Publikation von Chris Chesher, Kate Crawford und Anne Dunn, Internet Transformations: Language, Technology, Media and Power, London: Palgrave Macmillan. 3 | Es wird zum Beispiel selten erwähnt, dass bereits 1953 zwei Computer an unterschiedlichen Standorten in der Lage waren, über Modems miteinander zu ›reden‹.

Was ist das Soziale in den sozialen Medien?

Wenn wir uns die Frage stellen, was dieses ›Soziale‹ in den heutigen sozialen Medien tatsächlich bedeutet, könnten man als Ausgangspunkt auch sein Verschwinden nehmen, das der französische Soziologe Jean Baudrillard beschreibt, wenn er die Verwandlung von Subjekten in Konsumenten untersucht. Baudrillard zufolge hat das Soziale in einem bestimmten Moment seine historische Rolle verloren und ist in die Medien implodiert. Ist das Soziale nun aber nicht mehr diese einst bedrohliche Mischung aus politisierten Proletariern, verbitterten Arbeitslosen und verdreckten Clochards, die die Straßen bevölkern und bereit sind, egal unter welcher Flagge, die nächste Gelegenheit zum Aufstand zu ergreifen, wie manifestieren sich soziale Elemente dann im Zeitalter der digitalen Vernetzung? Die ›soziale Frage‹ ist vielleicht nicht gelöst, aber im Westen hatte man jahrzehntelang das Gefühl, sie sei neutralisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war vor allem instrumentelles Wissen gefragt, wie das Soziale zu organisieren ist, was dazu führte, dass die Beschäftigung mit dem Sozialen, auf konzeptioneller und technischer Ebene, an einen eher geschlossenen Zirkel von Experten delegiert wurde. Können wir jetzt, inmitten eines globalen ökonomischen Abschwungs, eine Rückkehr oder gar Wiedergeburt des Sozialen beobachten? Oder ist die ständige Rede vom Aufstieg der ›sozialen Medien‹ bloß eine zufällige linguistische Koinzidenz? Können wir, noch in den nicht enden wollenden Nachwehen der Finanzkrise von 2008 steckend, von einem wachsenden sozialen und Klassenbewusstsein sprechen, und falls ja, kann das auch auf den elektronischen Bereich übergreifen? Trotz Arbeitslosigkeit, wachsender Einkommensunterschiede und der Erfolge der Occupy-Proteste scheint ein global vernetzter und sich schnell ausbreitender Aufstand unwahrscheinlich. Proteste entfalten eher dort ihre Wirkung, wo sie lokal sind, unabhängig von ihrer Präsenz im Netz. ›Meme‹ reisen dagegen mit Lichtgeschwindigkeit und verbreiten die Grundideen. Aber wie können die getrennten Bereiche von Arbeit, Kultur, Politik und vernetzter Kommunikation so in einem globalen Kontext verknüpft werden, dass Informationen (z. B. über Twitter) und zwischenmenschliche Kommunikation (E‑Mail, Facebook) auf die Ereignisse in der realen Welt tatsächlich Einfluss nehmen? Hier müssen wir unsere Überlegungen zum Sozialen in einen größeren strategischen Zusammenhang stellen, der über die typische ›Social-Media-Frage‹ hinausgeht. Vielleicht werden ja all die säuberlich verwalteten Kontakte und Adressbücher eines Tages überquellen und den virtuellen Bereich verlassen, wie der Erfolg der Dating-Sites nahezulegen scheint. Aber teilen wir Informationen, Erfahrungen und Gefühle nur, um uns in ihnen zu bespiegeln, oder konspirieren wir vielleicht auch, um als ›soziale Schwärme‹ in die Wirklichkeit einzudringen und Ereignisse in der sogenannten ›echten Welt‹ zu schaffen? Werden Kontakte zu Kameraden mutieren? Natürlich haben die sozialen Medien einige der organisatorischen Probleme des Sozialen gelöst,

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mit denen die Baby-Boomer-Vorstadt-Generation vor 50 Jahren zu tun hatte: Langeweile, Isolation, Depression, unerfülltes Begehren. Wie hat sich die Art, wie wir uns begegnen, heute verändert? Haben wir eine unbewusste Angst vor (oder sehnen wir uns nach) jenem Tag, an dem unsere lebensnotwendige Infra­ struktur zusammenbricht und wir uns wirklich gegenseitig brauchen? Oder sollen wir das Simulakrum des Sozialen eher als organisierte Agonie deuten und uns auf den Verlust der Gemeinschaft nach dem Auseinanderbrechen von Familien, Ehen, Freundschaften usw. einstellen? Mit welcher Logik stellen wir diese ständig wachsende Sammlung von Kontakten sonst zusammen? Ist der Andere, umbenannt in ›Freund‹, mehr als unser zukünftiger Kunde oder ›Lebensretter‹ in unseren prekären Geschäftspraktiken? Welche neuen Formen der sozialen Imagination gibt es bereits? Oder mag am anderen Ende dieser Fragen vielleicht, als Antwort auf die täglichen Belastungen durch das ›Soziale‹, das künftige Kulturideal in der Einsamkeit liegen, wie Nietzsche und Ayn Rand nahegelegt haben?4 Wann wird unsere Administration der Anderen in etwas gänzlich Neues umschlagen? Wird das Befreunden einfach über Nacht weg sein, wie so viele andere medienabhängige Praktiken, die im digitalen Nirwana verschwunden sind: Usenet-Foren, Telnet-Server-Verbindungen oder das früher weitverbreitete HTML-Programmieren der eigenen Websites? Das Containerkonzept ›soziales Web‹ stand einmal für eine bunte Sammlung von Websites, von MySpace über Digg, YouTube und Flickr bis zu Wikipedia. Fünf Jahre später war der Begriff um allerlei Hard- und Software (nicht mehr nur PCs und Laptops) ergänzt und in ›soziale Medien‹ umfirmiert worden. In diesem Projekt lag wenig Nostalgisches, kein Revival des einst gefährlichen Potentials des ›Sozialen‹ im Sinne des wütenden Mobs, der das Ende der wirtschaftlichen Ungleichheit forderte. Stattdessen wurde, um im Vokabular Baudrillards zu bleiben, das Soziale als ein reines Simulakrum, das aus sich heraus bedeutungsvolle und dauerhafte Beziehungen schafft, wiederbelebt. Während wir uns durch die virtuellen globalen Netze bewegen, sehen wir uns immer weniger an traditionelle Rollen in Gemeinschaften wie Familie, Kirche, politischer Partei, Gewerkschaft oder Nachbarschaft gebunden. Aus den historischen Subjekten, die einst als Bürger oder Angehörige einer Klasse definiert und entsprechend mit bestimmten Rechten ausgestattet waren, wurden Subjekte mit Handlungsmacht: dynamische Akteure, genannt Nutzer, Kunden, die sich beschweren, und Prosumer. Das Soziale steht nicht mal mehr im Bezug zur Gesellschaft – eine Erkenntnis, die uns Theoretikern und Kritikern 4 | »Deshalb gehe ich in die Einsamkeit, – um nicht aus den Zisternen für Jedermann zu trinken. Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben […]« Friedrich Nietzsche, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, in: Werke in drei Bänden, München 1954, Band 1, S. 1244–1245.

Was ist das Soziale in den sozialen Medien?

Probleme bereitet, da unsere empirische Forschung belegt, dass Menschen trotz ihres äußerlichen Verhaltens immer noch recht fest in bestimmte kulturelle, lokale und besonders hierarchische Strukturen eingebettet bleiben. Doch befreit von allen metaphysischen Werten wird das Soziale zu einem Platzhalter für eine Art zwischenmenschlicher Schutthalde, die nach der neoliberalen Zerstörung der ›Gesellschaft‹ übriggeblieben ist, eine lose Sammlung von ›schwachen Bindungen‹. Als Begriff fehlt ihm sowohl der religiöse Unterton anderer Begriffe wie ›Gemeinschaft‹ als auch die retroaktive anthropologische Konnotation des ›Stamms‹. Um es in Marketingbegriffen auszudrücken, das gegenwärtige ›Soziale‹ ist bloß das, was technisch und vage ›offen‹ ist – der Raum zwischen dir und mir und unseren Freunden. Entsprechend manifestiert sich das Soziale nicht länger als Klasse, Bewegung oder Mob, und es wird auch nicht mehr institutionalisiert wie während der Nachkriegsjahrzehnte des Wohlfahrtsstaates. Selbst die postmoderne Phase der Desintegration und des Niedergangs scheint vorbei. Heutzutage manifestiert sich das Soziale in Netzwerk-Form. Seine Praktiken bilden sich jenseits der institutionellen Strukturen des 20. Jahrhunderts und führen zu einer Aushöhlung der Konformität. Das Netzwerk wird zur eigentlichen Gestalt des Sozialen. In den Vordergrund rücken, zum Beispiel für Politik und Wirtschaft, die ›sozialen Fakten‹, wie sie in Netzwerkanalysen und korrespondierenden Datenvisualisierungen dargestellt werden. Der institutionelle Teil des Lebens verwandelt sich in etwas vollständig Anderes, zu einer banalen, sich verlierenden Basis sozialer Daten, die schnell in den Hintergrund der Diskussion, in ein entferntes Universum der Probleme abgleitet. Man würde gern optimistisch bleiben und die Vorstellung aufrechterhalten, dass es zwischen den formellen Machtstrukturen innerhalb der Institutionen und dem wachsenden Einfluss informeller Netzwerke irgendwann einmal eine Synthese geben wird. Aber es deutet wenig darauf hin, dass dieser Dritte Weg nützlich oder überhaupt realistisch ist. Das PR-getriebene Glaubensmodell, dass die sozialen Medien eines Tages in funktionelle Institutionen und Infrastrukturen integriert werden, erscheint in einem Zeitalter wachsender Spannungen und knapper Ressourcen als bloßer New-Age-Optimismus. Innerhalb dieser Spannungen kann das Soziale wie ein Wunderkleber erscheinen, um historische Schäden entweder zu reparieren oder zu übertünchen, oder es kann sich blitzschnell in hochexplosives Material verwandeln. Diese Explosivität lässt sich nie ganz unterdrücken, nicht einmal in autoritären Staaten. Die sozialen Medien als Hintergrundrauschen zu ignorieren, rächt sich ebenso. Aus diesem Grund stellen Institutionen, von Krankenhäusern bis zu Universitäten, auch Schwärme von temporären Beratern ein, die die sozialen Medien für sie in die Hand nehmen. Die sozialen Medien erfüllen das Versprechen von Kommunikation als Austausch: statt Antworten zu unterbinden, fordern sie Reaktionen oder zu-

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mindest eine technische Idee der Reziprozität. Ähnlich wie Baudrillard frühere Medienformen umriss, sind heutige Netzwerke »reziproke Räume von Rede und Antwort«5, die die Nutzer dazu verführen, etwas zu sagen, egal was. Später änderte er seine Meinung und gab den Glauben an den emanzipatorischen Effekt von »Talking Back to the Media« auf. Den symbolischen Tausch wiederherzustellen hat nichts gebracht – doch inzwischen wird genau diese Funktion den Nutzern der sozialen Medien als Geste der Befreiung angeboten. Für den späten Baudrillard zählte stattdessen nur noch der überlegene Standpunkt der schweigenden Mehrheit. In ihrem 2012 erschienenen Pamphlet Demokratie! Wofür wir kämpfen weichen Michael Hardt und Antonio Negri der Diskussion der größeren sozialen Dimensionen von Gemeinschaft, Zusammenhalt und Gesellschaft aus. Was sie wahrnehmen, ist unbewusstes Sklaventum: »Manchmal sehnen sich Menschen nach ihrer Knechtschaft, als handele es sich um ihre Erlösung.«6 Es ist primär der Anspruch des Individuums, der diese Theoretiker an den sozialen Medien interessiert, nicht das Soziale als Ganzes. »Könnte es sein, dass wir mit unserer freien Meinungsäußerung und Kommunikation, unserem ununterbrochenen Bloggen, Twittern und Surfen die repressiven Kräfte eher noch unterstützen, statt uns ihnen zu widersetzen?« Für uns, die Vernetzten, lassen sich Arbeit und Muße nicht mehr voneinander trennen. Aber warum zeigen Hardt und Negri kein Interesse an der ebenso offensichtlichen Tatsache, dass die Vernetzung untereinander auch fruchtbare Seiten hat? Hardt und Negri machen den Fehler, die soziale Vernetzung auf eine Medienfrage zu reduzieren, als ob Internet und Smartphones nur dafür genutzt würden, Informationen nachzuschlagen. Zur Rolle der Kommunikation bemerken sie: »Nichts kann die körperliche Nähe und die physische Kommunikation ersetzen, die Grundlage der politischen Intelligenz und Voraussetzung des politischen Handelns sind.« (S. 24) Hinter den Links der sozialen Medien stecken also wohl nur Banalitäten, ein wahres Universum süßer Frechheiten. Aber so bleibt die echte Natur des online vernetzten Soziallebens außerhalb des eigenen Horizonts und wird gar nicht näher untersucht. Das Zusammentreffen des Sozialen mit den Medien muss ja nicht zu einer Art hegelianischen Synthese erklärt werden, als die Richtung, in die sich die Weltgeschichte notwendig hin entwickelt; trotzdem ist es nötig, die starke, wenn auch abstrakte Konzentration sozialer Aktivitäten ›dort draußen‹, auf den Plattformen der Gegenwart, zu theoretisieren. Hardt & Negris (aussichtsloser) Aufruf, der Ver5 | Jean Baudrillard, »The Masses: Implosion of the Social in the Media«, übers. v. Marie Maclean, New Literary History, vol. 16, no. 3, »On Writing Histories of Literature« (Frühjahr 1985), S. 577–589, www.jstor.org/stable/468841 6 | Michael Hardt/Antonio Negri, Demokratie: Wofür wir kämpfen, Frankfurt a. M.: Campus, 2013, S. 21.

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netzung abzuschwören, trifft nicht das Problem. Wie sie selbst sagen, müssen wir »vor allem neue Wahrheiten schaffen, wie sie nur von Singularitäten in Netzwerken geschaffen werden können« (S. 45). Wir brauchen beides, Vernetzung und Camps. In ihrer Version des Sozialen »schwärmen wir wie Insekten« (S. 46) und agieren als »dezentralisierte Multitude von Singularitäten, die horizontal kommunizieren« (S. 46). Aber die wirklichen Machtstrukturen und Reibungen, die aus – oder entlang – dieser Konstellation hervorgehen, müssen erst noch angesprochen werden. Während mit dem Online-Sozialen noch gehadert wird, scheint die Suche nach den relevanten Resten der europäischen Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts ein zwar tapferes, aber letztlich unproduktives Vorhaben zu sein. Das macht die Prekaritätsdebatte über Marx und die Ausbeutung durch Facebook so verzwickt.7 Besser wäre es, den Prozess der Sozialisation erst einmal zu nehmen wie er ist und unsere wohlgemeinten politischen Überzeugungen zurückzuhalten (und zum Beispiel die Bedeutung der ›Facebook-Revolutionen‹ für den arabischen Frühling und die ›Bewegung der Plätze‹ nicht zu übertreiben). Die Funktionsweise der sozialen Medien ist subtil, informell und indi7 | Siehe den Dialog »The $ 100bn Facebook question: Will capitalism survive ›value abundance‹?« auf der Nettime-Liste Anfang März 2012. Brian Holmes schreibt dort in mehreren Beiträgen: »Was ich an diesem Diskurs über das sogenannte Web 2.0 sehr einengend fand, ist der Gebrauch des Marxschen Ausbeutungsbegriffs im strengen Sinne, wonach die Arbeitskraft durch die Produktion einer Ware, für die man einen Gegenwert zurückbekommt, entfremdet wird.« […] »Jahrelang hat mich eine sehr verbreitete Denkverweigerung erschreckt. Das Erschreckende an ihr ist, dass sie sich auf Europas größten politischen Philosophen, Karl Marx, stützt. Sie besteht in der Behauptung, dass soziale Medien uns ausbeuten, dass Spielen Arbeit ist und Facebook die neue Ford Motor Company.« […] »Der ›Vereinnahmungsapparat‹, den Deleuze und Guattari eingeführt und die italienischen Autonomisten und die Pariser Multitude-Gruppe zu einer wahren politischen Ökonomie weiterentwickelt haben, macht etwas sehr Ähnliches, allerdings ohne das Konzept der Ausbeutung.« […] »Soziale Medien beuten einen nicht aus wie ein Firmenchef. Aber sie verkaufen ausdrücklich ihre Statistiken darüber, wie du und deine Freunde und Kommunikationspartner eure Fähigkeiten und Wünsche umsetzt, an böse Firmen, die versuchen, eure Aufmerksamkeit zu erlangen, euer Verhalten zu konditionieren und euch von eurem Geld zu trennen. In diesem Sinne versuchen sie euch zu kontrollieren, und du erzeugst einen Wert für sie. Aber das ist nicht alles. Denn du machst auch etwas mit ihnen, etwas Eigenständiges. Das Verstörende an den Theorien zu ›Playbour‹ ist, sie wollen nicht wahrhaben, dass wir alle, unabhängig davon, dass wir ausgebeutet und kontrolliert werden, auch sprudelnde Quellen von potentiell autonomer, produktiver Energie sind. Die Weigerung, darüber nachzudenken – eine Weigerung, die leider hauptsächlich in der Linken verbreitet ist – lässt dieses autonome Potential unerforscht und teilweise ungenutzt.«

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rekt. Wie etwa könnte die soziale Wende in den neuen Medien in all ihrer Kälte und Intimität verstanden werden, analog zu den Analysen der israelischen Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch Cold Intimacies 8, ohne sie gleich als gut oder schlecht zu bewerten? Die Literatur über Medienindustrie und Informationstechnologie scheut vor der Komplexität dieser Fragen zurück. Vorteile wie Zugänglichkeit oder Benutzerfreundlichkeit können nicht erklären, was die Leute ›da draußen‹ im Netz suchen. Ähnliche Grenzen finden sich auch bei den (professionellen, neoliberalisierten) Vertrauensdiskursen, die ebenfalls versuchen, die neuen Informalitäten mit der zunehmend juristischen Logik von Regeln und Regulierungen zu überbrücken. Auch wenn uns das Fach Soziologie vorerst erhalten bleibt, hat die oben beschriebene ›Tilgung des Sozialen‹ zum Bedeutungsverlust sozialer Theorien im Rahmen kritischer Internetdebatten beigetragen. Gegen diese Tendenz könnte eine webbasierte Soziologie, die sich von den real/virtuell-Dichotomien befreit und ihren Forschungsbereich nicht auf die ›sozialen Implikationen der Technologie‹ eingrenzen lässt (indem sie sich zum Beispiel auf die Erforschung von Internetsucht konzentriert), eine entscheidende Rolle bei der Untersuchung der immer stärkeren Verflechtung von Klassenverhältnissen und Mediatisierung spielen. Eva Illouz schrieb mir zu dieser Frage: »Wenn die Soziologie uns traditionellerweise dazu aufrief, unsere Intelligenz und Wachsamkeit für die Kunst der Unterscheidung einzusetzen (zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, Lebenswelt und Kolonisierung der Lebenswelt etc.), besteht die neue Herausforderung darin, dieselbe Wachsamkeit in einer sozialen Welt aufzubringen, die diese Unterscheidungen konsequent außer Kraft setzt.« 9

Der Amsterdamer Websoziologie-Pionier und SocioSite-Redakteur Albert Benschop schlägt vor, die Unterscheidung von real und virtuell ganz aufzugeben. In einer Adaption des Thomas-Theorems, eines Klassikers der Soziologie, lautet Benschops Slogan: »Wenn die Leute Netzwerke als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen auch real.« Anders ausgedrückt, das Internet ist für Benschop nicht nur irgendeine ›Second-Hand-Welt‹. Seine materielle Virtualität beeinflusst unsere Wirklichkeit. Dasselbe gilt für das Soziale. Es gibt kein Second Life mit alternativen gesellschaftlichen Regeln und Konventionen. Deshalb besteht laut Benschop strenggenommen auch kein Bedarf an einem weiteren wissenschaftlichen Fach.10 Die Diskussion über die Form des Sozia-

8 | Eva Illouz, Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism, Cambridge: Polity Press, 2007; dt.: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007. 9 | Privater E‑Mail-Austausch, 5. März 2012. 10 | Albert Benschop, Virtual Communities, www.sociosite.org/network.php

Was ist das Soziale in den sozialen Medien?

len betrifft uns alle und darf nicht von Geeks und Start-up-Unternehmern erdichtet und in Besitz genommen werden. Wir sind hier mit dem zentralen Unterschied zwischen den alten Massenmedien und dem heutigen Paradigma des sozialen Netzwerks konfrontiert. Die sozialen Medien schaffen die menschlichen Kuratoren der alten Medien ab und verlangen gleichzeitig unsere dauerhafte Mitwirkung als klickende Nutzer. Doch die Maschinen werden nicht die für uns wichtigen Verbindungen herstellen, egal wie sehr wir Gedanken und Gefühle delegieren oder versuchen, unser soziales Kapital aufzublähen. Wir schalten in einen Zustand der ›Interpassivität‹ um, wie er zum Beispiel von Pfaller, Žižek und van Oenen11 diskutiert wurde. Doch dieses Konzept ist immer noch hauptsächlich deskriptiv und analytisch wenig brauchbar. Die aktuellen Nutzungsarchitekturen und -kulturen der sozialen Medien kann es nicht infrage stellen. Außerdem rührt die Kritik dieser Aspekte nicht primär von einer verborgenen, unterdrückten Offline-Sentimentalität her. Der Eindruck ist durchaus berechtigt, nicht nur einem Übermaß an Information, sondern auch an Lebensgeschichten anderer Menschen ausgesetzt zu sein, soweit dies durch das obligatorische ›Opt in‹ der partizipativen Medien vorgegeben ist. Wir alle brauchen hin und wieder mal eine Pause vom sozialen Zirkus (aber wer kann es sich schon leisten, die Verbindungen auf unbeschränkte Zeit zu kappen?). Die Definition des Persönlichen im Verhältnis zum Sozialen wird entsprechend nachgebessert. Das ›Soziale‹ in den sozialen Medien fordert uns auf, unsere persönliche Geschichte als etwas zu erleben, mit dem wir uns versöhnt und das wir, um überhaupt teilnehmen zu können, überwunden haben (etwa in Bezug auf die Familie, das Dorf oder den Vorort, Schule, Hochschule, Kirche und Arbeitskollegen); gleichzeitig sollen wir die gegenwärtigen und früheren Formen unseres Selbst mit Stolz präsentieren, es sogar lieben, unser Selbst zur Schau zu stellen. Die soziale Vernetzung wird erlebt im Sinne einer realen Möglichkeit: Ich könnte diese oder jene Person kontaktieren (aber mache es trotzdem nicht). Von nun an werde ich meine bevorzugten Marken zu erkennen geben (auch wenn ich nicht danach gefragt wurde). Das Soziale ist die kollektive Fähigkeit, sich miteinander verbundene Subjekte als temporäre Einheit vorzustellen. Die Kraft und Tragweite, was es potentiell bedeuten kann, sich mit vielen zu verbinden, wird auch von vielen empfunden. Martin Heideggers »wir rufen nicht, wir werden gerufen« läuft an diesem Punkt ins Leere.12 Im Netz wird man direkt von Bots kontaktiert, und die Sta11 | Siehe: Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivität, Hamburg: Plilo Fine Arts, 2008, und Gijs van Oenen, Nu even niet! Over de interpassieve samenleving, Amsterdam: van Gennep, 2011. 12 | Siehe Avital Ronell, Das Telefonbuch, Berlin: Brinkmann & Bose, 2001 (orig. The Telephone Book, Lincoln: University of Nebraska Press, 1989), S. 11: »Und dennoch

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tus-Aktualisierungen der anderen kommen ungehindert durch, egal ob relevant oder nicht. Auf Facebook lässt sich kein abgeschiedenes Leben führen. Man erhält Freundschaftsanfragen ohne Sinn. Für den passiven Empfänger ist Filterversagen der Normalfall. Und ist man einmal im betriebsamen Fluss der sozialen Medien, kommt von der Software der Aufruf zum Sein, mit der Bitte um Antwort. Hier gelangt die coole und entspannte postmoderne Indifferenz als quasi-subversive Haltung an einen Endpunkt, denn sich nicht daran zu stören, ist genauso bedeutungslos. Wir sind sowieso keine Freunde. Algorithmen haben das für uns entschieden. Also, warum auf Facebook bleiben? Vergiss Twitter. Lösche WhatsApp. Coole Statements – aber sie treffen nicht den Punkt. Der Nutzer lebt nicht mehr im System der Neunziger. Niemand kann sich mehr auf die einfältig souveräne Position der Gleichgültigkeit gegenüber dem Sozialen zurückziehen. Das Schweigen der Masse, von dem Baudrillard sprach, erscheint uns als Utopie heute fremd. Die sozialen Medien sind ein geschickter Trick gewesen, um die Leute zum endlosen Reden zu bringen. Ihr Suchtpotential ist unleugbar. Wir alle sind reaktiviert worden. Die Obszönität der durchschnittlichen Meinungen und die alltägliche Prostituierung von Details unseres Privatlebens sind nun fest in Software eingebettet und beschäftigen Milliarden Nutzer, die nicht mehr den Ausgang finden. Gibt es überhaupt einen Weg, aus dem Sozialen auszusteigen, ohne dass es jemand bemerkt? Baudrillards Beispiel für den Ausstieg war damals die Meinungsumfrage, die die authentische Existenz des Sozialen unterminiert. So setzte er an die Stelle der traurigen Vision der Masse als entfremdeter Daseinsform eine ironische und objektzentrierte. Aber heute, dreißig Jahre weiter in der Medienära, ist selbst diese Vision internalisiert worden. Im Facebook-Zeitalter werden unsere Präferenzen durch hocheffiziente Programme zur Datengewinnung kontinuierlich und ohne unsere unmittelbare Beteiligung aufgezeichnet. Diese algorithmischen Rechenprozesse finden im Hintergrund statt und halten jedes Detail fest, von einzelnen Klicks über Keywords bis zu den reinen Tastaturbewegungen. Für Baudrillard ist diese »positive Absorption in die Trans-

sagst Du ›Ja‹, fast automatisch, plötzlich, manchmal unwiderruflich. Dass Du abnimmst heißt, dass der Anruf durchgekommen ist. Es heißt mehr: Du bist sein Empfänger, stehst auf, um seinem Anspruch nachzukommen, um eine Schuld zu zahlen. Du weißt nicht, wer anruft oder wozu Du aufgerufen wirst, und doch leihst Du Dein Ohr, gibst etwas auf, erhältst eine Anweisung.« Der historische Fall ist hier der Telefonanruf, den Heidegger 1933 von den Sturmtruppen der SA erhielt. (S. 15) Heidegger führte seine Beziehung zum Nationalsozialismus auf diesen Anruf zurück. Ronell will beweisen, dass er hier in eine Falle getappt ist: »Ich möchte dieser Spur nachgehen bis zu einem bestimmten Tag, einem Ereignis. Ich werde den gleichen Anruf mehrere Male entgegennehmen und dann versuchen, darüber hinauszugehen.« (S. 27)

Was ist das Soziale in den sozialen Medien?

parenz des Computers«13 noch schlimmer als Entfremdung. Die Öffentlichkeit hat sich in eine Datenbank aus Nutzern verwandelt. Für den »bösen Geist des Sozialen« gibt es keine andere Möglichkeit sich auszudrücken, als wieder auf die Straßen und Plätze zurückzukehren, gelenkt und beobachtet von aus allen Blickwinkeln twitternden Smartphones und filmenden Digitalkameras. Das ›Subjekt als User‹ hat dagegen noch weniger Optionen: man kann etwas in die Kommentarspalten schreiben, was irgendwie nach Rede klingt, oder weiter stummer Zuschauer bleiben, während Gelegenheitsdissoziale als Trolle auftreten. Ähnlich wie Baudrillard das Ergebnis von Meinungsumfragen als subtile Rache des gemeinen Volks am politischen und medialen System umdeutete, sollten wir heute die objektive Wahrheit der großen sozialen Datenanalysen infrage stellen, die von den »Stacks«, ein von Bruce Sterling 2012 vorgeschlagenes Kürzel für Microsoft, Google, Apple und Facebook, geliefert werden.14 Die Nutzer werden von einer Armee dienstfertiger und unermüdlich arbeitender Software-Bots unterstützt und sind gleichzeitig von riesigen Mengen falscher und inaktiver Accounts umgeben. Einen Großteil des Datenverkehrs produzieren die Server untereinander, ohne jegliche Nutzerbeteiligung.15 Dieser Herausforderung wird sich die objektorientierte Philosophie noch stellen müssen – einer Kritik der nutzlosen und leeren Kontingenz. Das System der sozialen Medien versetzt uns nicht mehr in einen »Zustand der Betäubung«, als den Baudrillard vor Jahrzehnten das Medienerlebnis beschrieb. Stattdessen führt es uns zu coolen Apps und anderen Produkten, die uns elegant den Geschmack des gestrigen Tages aus dem Kopf vertreiben. Einfach nur klicken, antippen und rüberziehen, dann die ganze Plattform zur Seite legen und was anderes finden, um uns wieder einzuloggen und weiter abzulenken. Online-Dienste können sehr schnell leergefegt sein, binnen Wo13 | Baudrillard, »The masses«: www.jstor.org/stable/468841 14 | Siehe: www.theatlantic.com/technology/archive/2012/12/bruce-sterling-on-why-​​ it-stopped-making-sense-to-talk-about-the-internet-in-2012/266674/. Sterling schrieb: »2012 wurde deutlich, dass es immer weniger Sinn macht, über ›das Internet‹, ›den PCMarkt‹, ›Telefone‹, ›Silicon Valley‹ oder ›die Medien‹ zu reden, und es viel sinnvoller ist, sich einfach nur mit Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft zu befassen. Diese fünf vertikal organisierten amerikanischen Silos erzeugen die Welt in ihrem Abbild neu. Wenn man Nokia, Hewlett Packard oder ein japanisches Elektronikunternehmen ist, haben sie einem den ganzen Sauerstoff weggenommen. Um diese fünf riesigen Organisationen herum wird im nächsten Jahr noch eine Menge passieren. Sie konkurrieren nie direkt miteinander, aber alle sind sie von ›Disruption‹ fasziniert.« 15 | »Der Großteil des Internetverkehrs geht laut Incapsulas Bot Traffic Report 2014 auf das Konto von Bots. In diesem Jahr waren 56% der Website-Besucher Bots, wobei 29% als bösartig und 26% als gutartig eingeschätzt wurden.« URL: www.scmagazine.com/ bot-traffic-overall-decreased-from-2013-incapsula-report-says/article/390564/

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chen haben wir Passwort, Icon oder Bookmark vergessen. Wir müssen gegen die neuen Medien der Web-2.0-Ära nicht mehr auf begehren oder sie wegen ihres aufdringlichen Umgangs mit unserer Privatsphäre unter Protest verlassen. Im Normalfall scheiden wir von ihnen im Frieden, im Wissen, dass sie dort draußen bleiben werden wie die guten alten HTML-Geisterstädte der Neunziger, und führen so die Paradoxien der ewigen Wiederkehr fort. Baudrillard formulierte die Anfänge dieser Situation in den Tagen der alten Medien so: »Das ist unser Schicksal, ausgesetzt den Meinungsumfragen, Informationen, der Öffentlichkeit, den Statistiken: ständig konfrontiert mit der vorweggenommenen statistischen Verifizierung unseres Verhaltens, absorbiert durch die permanente Brechung unserer kleinsten Bewegungen müssen wir uns nicht mehr unserem eigenen Willen stellen.«16 Er beschrieb den Schritt in die Obszönität, der mit der permanenten Darstellung der eigenen Vorlieben stattfindet (in unserem Fall auf den Plattformen der sozialen Medien). Es gibt eine »Redundanz des Sozialen«, einen »beständigen Voyeurismus der Gruppe in Bezug zu sich selbst; sie muss zu allen Zeiten wissen, was sie will. […] Das Soziale wird besessen von sich selbst; durch diese Selbst-Information, diese permanente Selbst-Vergiftung.« Der Unterschied zwischen der Situation in den achtziger Jahren, als Baudrillard diese frühen Thesen schrieb, und der gegenwärtigen dreißig Jahre später liegt in der Öffnung aller Lebensbereiche für die Logik der Meinungsumfragen. Nicht nur haben wir zu allen möglichen Ereignissen, Ideen oder Produkten eine persönliche Meinung, diese informellen Urteile sind auch für Datenbanken und Suchmaschinen von Interesse. Und die Leute sprechen über Produkte aus eigenem Antrieb, sie brauchen keine Anreize von außen mehr. Wenn Twitter fragt »Was passiert?«, geht es um das gesamte Spektrum des nicht kodierten Lebens. Alles, selbst der kleinste Informationsfunke, den das Online-Publikum liefert, ist (potentiell) bedeutsam, kann als viral und trendbestimmend markiert und der Datenanalyse unterzogen werden, um, einmal gespeichert, für die Verknüpfung mit weiteren Details zur Verfügung zu stehen. Diese Apparaturen der Datenerfassung sind gegenüber den Inhalten, die die Leute kommunizieren, völlig indifferent – wen interessieren deine Ansichten schon? Im Endeffekt sind es alles bloß Daten, die zu ihren Daten werden, bereit zur Auswertung, Rekombination und gewinnbringendem Verkauf. »Victor, lebst du noch?«17 Das hat nichts mit Partizipation, Erinnern oder Vergessen zu tun. Was wir übermitteln, sind die nackten Signale, dass wir noch am Leben sind. 16 | Baudrillard, »The masses«, a. a. O., S. 580. 17 | Der Standardsatz von Professor Professor, der Figur eines Bayern, dessen Englisch einen starken deutschen Akzent hat, in der BBC-Zeichentrickserie The Secret Show von 2007.

Was ist das Soziale in den sozialen Medien?

Eine dekonstruktive Herangehensweise an die sozialen Medien sollte sich nicht wieder mit einer Neulektüre des Freundschaftsdiskurses (»von Sokrates zu Facebook«) oder der Analyse des Online-Selbsts abmühen. Genauso könnte auch das ›Interpassivitäts‹-Konzept die Bedeutung von Pausen und Auszeiten hervorheben (»buchen Sie Ihren Offline-Urlaub noch heute«), aber diese Kritikansätze haben sich längst totgelaufen. Viel eher benötigen wir starke ›Kybernetik 2.0‹-Initiativen, die in der Nachfolge der ursprünglichen Macy-Konferenzen (auf denen zwischen 1946 und 1953 die Grundlagen der Kybernetik gelegt wurden) die kulturelle Logik innerhalb der sozialen Medien untersuchen, die Selbstreflexivität im Code wieder zur Geltung bringen und danach fragen, mit welchen Software-Architekturen sich die soziale Online-Erfahrung radikal ändern und umorganisieren ließe. Wir brauchen den Beitrag der kritischen Geistes- und Sozialwissenschaften, um den Dialog mit der Informatik auf Augenhöhe zu führen. Könnten die ›Software Studies‹ einer solchen Aufgabe gewachsen sein? Es wird sich zeigen. Die digitalen Geisteswissenschaften, die ihren Schwerpunkt einseitig auf die Datenvisualisierung legen und von Forschern ohne Computererfahrung als arglosen Opfern betrieben werden, haben bislang keinen guten Start gehabt. Wir brauchen keine weiteren Werkzeuge für die Unwissenden, sondern eine neue Generation von Geisteswissenschaftlern mit technischen Fähigkeiten. Wir benötigen Forschungsprogramme, in denen Kritische Theorie und Kulturwissenschaften die Führung haben, organisiert von softwarekompetenten Theoretikern, Philosophen und Kunstkritikern, die über Malerei und Film schon hinausgekommen sind. Gleichzeitig muss die unterwürfige Haltung von Kunst und Geisteswissenschaften gegenüber den exakten Wissenschaften und der Industrie abgelegt werden. Die Geisteswissenschaften sollten sich nicht masochistisch der digitalen Herrschaft unterwerfen. Wir brauchen einen mutigen Gegenschlag. Aber der wird nicht kommen, wenn wir weiterhin wegschauen. Wie kann die Philosophie zu einer solchen Bewegung beitragen? Es ist nicht mehr nötig, weiterhin das westliche männliche selbstidentische Subjekt zu sezieren und mit den befreiten Cyberidentitäten, auch bekannt als Avatare, die sich durch die virtuellen Spielwelten bewegen, zu vergleichen. Überfällig ist vielmehr eine digital fundierte, postkoloniale Theorie lebendiger Netzwerke und Organisationsformen. Welche Rolle spielen hier Affekte? Auf theoretischer Ebene müsste Derridas Befragung des westlichen Subjekts auf die nicht-menschliche Handlungsmacht von Software ausgedehnt werden (wie von Bruno Latour und seinen ANT-Anhängern beschrieben). Nur dann können wir zu einem besseren Verständnis der Kulturpolitik der Aggregatoren kommen, der vergessenen Rolle der Suchmaschinen und den nie endenden Redaktionskriegen bei Wikipedia. Aus Sicht der Soziologie steht die Betonung von Big Data als ›Renaissance des Sozialen‹ klar für eine ›positivistische Wissenschaft der Gesellschaft‹. Bis-

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lang ist jedoch noch keine kritische Schule in Sicht, die uns wirklich helfen würde, die soziale Aura des Bürgers als Nutzer zu analysieren. Stattdessen ist der Begriff ›sozial‹ mit seiner zynischsten Reduktion auf Daten-Pornographie höchst effizient neutralisiert worden. Wiedergeboren als cooles Konzept für proprietäre Plattformen und, im Gegenzug, wirtschaftsnahe angloamerikanische Medientheorien, manifestiert sich ›das Soziale‹ weder als Gegenstimme noch als Subkultur. Vielmehr organisiert es das Selbst als techno-kulturelle Entität, als Spezialeffekt der Software, deren Echtzeit-Feedback viele Nutzer abhängig macht. In der heutigen Internet-Debatte hat das Soziale ebenso wenig mit der sozialen Frage wie mit irgendeiner verborgenen Erinnerung an sozialistisches Denken oder Sozialismus als politischem Programm zu tun. Gleichzeitig ist die Online-Erfahrung dank der einfachen Nutzbarkeit von Facebook auch zu einer tief humanen geworden: das Ziel dieses Humanen ist der Andere, nicht die Information. Idealerweise ist der Andere auch online, genau jetzt. Die Kommunikation funktioniert am besten, wenn sie rund um die Uhr läuft, global, mobil, schnell und knapp. Besonders geschätzt wird der direkte Austausch mit befreundeten Nutzern im schnellen Chat. Hier sind die sozialen Medien in Bestform. Wir sind eingeladen »einfach die Gedanken, die wir gerade haben, rauszulassen – unabhängig von ihrer Substanz oder wie sie mit anderen Gedanken zusammenhängen«.18 Den Standard setzen die Präsenz und der operative Stil der Jungen (sagt die Forschungsliteratur). Wir erschaffen eine soziale Skulptur, und dann verlassen wir sie, wie die meisten konzeptuellen und partizipatorischen Kunstwerke, damit anonyme Arbeiter sie anschließend wieder wegräumen. Das ist der Glaube und das Schicksal aller sozialen Medien, an die man sich irgendwann einmal als (auch) historisch besondere Form von Nicht-Zusammensein im Post-9/11-Jahrzehnt erinnern wird, fröhlich vergessen, sobald die nächste Zerstreuung unsere ewige Gegenwart verzehrt. Man sagt, die sozialen Medien seien aus virtuellen Gemeinschaften hervorgegangen (Howard Rheingold hat das in seinem gleichnamigen Buch von 1993 so beschrieben), aber ist es für uns wichtig, immer wieder auf das genealogisch korrekteste Bild zurückzukommen? In jeden Fall ist es zweifelhaft, dass Facebook und Twitter in ihrer aktuellen Form als Plattformen für Millionen immer noch authentische Online-Gemeinschaftserfahrungen schaffen. Was zählt, sind Trendthemen, die nächste Plattform und die neuesten Apps. Irgendwann einmal werden die Geschichtsschreiber von Silicon Valley erklären, wie die sozialen Netzwerke aus den Überresten der Dotcom-Krise hervorgegangen sind, als ein paar Überlebende der E-Commerce-Blase noch brauchbare Elemente der Web-1.0-Ära rekonfigurierten, und sie werden dabei die Ermächtigung des Nutzers als Content-Produzenten hervorheben. Das Erfolgsgeheimnis des 18 | www.nytimes.com/2012/02/25/us/25iht-currents25.html?_r=1

Was ist das Soziale in den sozialen Medien?

Web 2.0, das 2003 an den Start ging, lag in der Verbindung von (freien) Uploads digitalen Materials und der Möglichkeit, die Beiträge anderer Leute zu kommentieren. Interaktivität besteht immer aus diesen zwei Bestandteilen: Aktion und Reaktion. Chris Cree definiert soziale Medien als »Kommunikationsformate, die nutzergenerierte Inhalte öffentlich zugänglich machen und einen gewissen Grad an Nutzer-Interaktion erlauben«19, eine problematische Definition, die auch schon für einen großen Teil der früheren Computerkultur gelten könnte. Es reicht nicht, soziale Medien auf Hochladen und Selbstdarstellung zu reduzieren. Sie bloß als One-to-Many-Marketingkanäle zu betrachten, wird ihnen nicht gerecht; der persönliche One-on-One-Austausch und die kleinteiligen Mechanismen der viralen Verbreitung gehören genauso dazu. Andrew Keen weist in Digital Vertigo (2012) darauf hin, dass das ›Soziale‹ in den sozialen Medien in erster Linie ein leerer Container ist. Das Internet wird – eine seiner beispielhaft hohlen Formulierungen – »zum konnektiven Gewebe des Lebens im 21. Jahrhundert«. Das Soziale erscheint hier als Flutwelle, die alles niederwalzt, was ihr im Weg ist. Keen warnt davor, dass wir in einer anti-sozialen Zukunft enden, die von der »Einsamkeit des isolierten Menschen in der vernetzten Masse« geprägt ist.20 Eingesperrt in die SoftwareKäfige von Facebook, Google und deren Klons, werden die Nutzer darin bestärkt, ihr Sozialleben auf das ›Teilen‹ von Informationen zu reduzieren. Der Bürger als Vermittler seiner selbst sendet fortlaufend seinen Seinszustand an eine amorphe, empfindungslose Gruppe von ›Freunden‹. Keen gehört zu einer wachsenden Zahl vor allem US-amerikanischer Kritiker, die auf die schädlichen Nebenwirkungen der extensiven Nutzung sozialer Medien hinweisen. Doch sei es nun Sherry Turkles Tirade gegen Vereinsamung, Nicholas Carrs Warnungen vor Konzentrations- und Intelligenzeinbußen, Evgeny Morozovs Kritik an der utopistischen NGO-Welt oder Jaron Laniers Sorgen über Kreativitätsverlust – was all diese Kommentatoren verbindet, ist, dass sie nichts dazu sagen, was das Soziale denn sonst sein könnte, wenn es nicht durch Facebook oder Twitter definiert wird. Das Problem ist die verstörende Natur des Sozialen, das als Revolte zurückkehrt, mit einer unbekannten und oft unerwünschten Agenda: vage, populistisch, islamistisch und getrieben von nichtsnützigen Memen. Der Andere als Marktchance, -kanal oder -hindernis? Du entscheidest. Nie war es so leicht, unsere persönliche Umgebung ›automatisch zu quantifizieren‹. Wir folgen unseren Blog-Statistiken, der Zahl unserer Tweets, Followings und Followers auf Twitter, gehen die Freunde von Freunden auf Facebook durch oder kaufen auf Ebay ein paar hundert ›Freunde‹, die unsere zuletzt 19 | Mehr unter: http://successcreeations.com/438/definition-of-social-media/#ixzz​ 1nJmIQl1c 20 | Andrew Keen, Digital Vertigo, New York: St. Martin’s Press, 2012, S. 13.

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hochgeladenen Bilder zuverlässiger ›mögen‹ werden, als die wirklichen es jemals könnten, und werfen die Gerüchteküche über unser jüngstes Outfit an. Hören wir mal, wie der RSS-Erfinder und Ur-Blogger Dave Winer die Zukunft in diesem Bereich sieht: »Beginne einen Fluss, indem du die Feeds der Blogger, die du am meisten verehrst, und die anderen Nachrichtenquellen, die sie lesen, zusammenfasst. Teile deine Quellen mit deinen Lesern, im Bewusstsein, dass fast niemand nur Quelle oder nur Leser ist. Vermenge alles. Kreiere eine Ideensuppe und schmecke sie regelmäßig ab. Schließe jeden, der dir wichtig ist, so schnell und so automatisch wie möglich an, trete das Gaspedal durch und nimm den Fuß von der Bremse.«

So kleben Programmierer in diesen Tagen alles zusammen und verbinden Nutzer mit Datenobjekten und wieder mit Nutzern. Das ist heute das Soziale.

Nach dem Social-Media-Hype Was tun mit der Informationsüberflutung?

»Auf eine Facebook-Reputation kann man keine Hypothek aufnehmen.« (Jaron Lanier) – Anfragen ignorieren lernen – »Manchmal gehe ich gegen 3 Uhr morgens, wenn ich zwar hundemüde bin, aber trotzdem nicht einschlafen kann, auf meinen Twitter-Account, lese banalen Unsinn, der meinen Zorn über die Menschheit hochtreibt, und spiele Tom Waits, um meinen Glauben wiederzugewinnen.« (Mickey MacDonagh) – Stimmungsregulierung – »Ich bin kein Prophet. Meine Tätigkeit besteht darin, Fenster zu öffnen, wo es vorher nur Wände gab.« (Michel Foucault) – »Dummheit ist die neue Klugheit.« (ProfJeffJarvis) – »Ich weiß, wie es endet: eines Tages werde ich zum ›Web-Feind‹ erklärt und liquidiert. Mein Gott, warum ist Internet-Theorie oft so ätzend?« (Evgeny Morozov) – Cataclysmic Communications Inc. – Wachsende Irrelevanz von iEnhancement – »Facebook muss den Nutzern mitteilen, dass sie getrackt werden.« (NY Times) – »Mein Datensatz ist größer als deiner.« (Ian Bogost) – »Foren sind die dunkle Materie des Webs, die B-Movies des Internets. Aber sie sind wichtig.« (Jeff Atwood) – Der unvermeidliche »Haben wir das nicht schon siebzehn Mal durchgekaut?«Thread – »Da sich die Welt auf einen entgeisterten Zustand hinbewegt, müssen wir auch einen entgeisterten Blick auf sie werfen.« (Jean Baudrillard) – Hunter hat es als »zu ignorieren« markiert.

Die Debatte über die ›sozialen Medien‹ bewegt sich von der Diskussion und Erforschung ihrer Nebenwirkungen wie Einsamkeit (Sherry Turkle), Dummheit (Andrew Keen) oder Veränderungen der Gehirnstruktur (Nicholas Carr) hin zu Fragen ihrer ethischen Gestaltung. Anders ausgedrückt, wie sollen wir unser rastloses Leben bewältigen?1 Die Foucaultsche Wende zur Ethik und den Technologien des Selbst setzte ein, als wir die ersten Phasen des Hypes, des 1 | Dieses Kapitel führt Überlegungen im ersten Kapitel meines Buchs Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, mit dem Titel »Psychopathologie der Informationsüberflutung«, Bielefeld: transcript, 2012, fort.

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Crashs und der Massennutzung hinter uns gelassen hatten und begannen, uns ernsthaft mit der langfristigen Bedeutung von Plattformen zu beschäftigen. Lässt sich mit Smartphones noch ein sinnvolles Leben führen oder bleibt uns nichts anderes übrig als sie auszuschalten und zu vergessen? Müssen wir uns für den Rest des Lebens mit dem gegenseitigen Retweeten unserer Nachrichten auf die Nerven gehen? Können wir mal im Valley anrufen und nachfragen, wann die soziale Mode ein für alle Mal vorbei ist? Wir scheinen schon fast für die nächste Phase bereit zu sein. Zeit für ein letztes #Lolcat-Bild. Die bekannten Tropen vom Untergang des Abendlandes werden wieder hervorgeholt, ein Jahrhundert nach Spenglers faustischer Verarbeitung des ersten Weltkriegs (aber diesmal akkurat beschrieben von der sambischen Ökonomin Dambisa Moyo2). Während es für den breiten Zugang zu sozialen Netzwerken keine Hindernisse mehr gibt, müssen die Theorien, die weiterhin deren utopische und demokratische Bedeutung vor Augen haben, angepasst werden. Wo war das Internet in Syrien 2012? Internet-Netzwerke haben den Aufstieg des Islamischen Staats 2014 eher erleichtert als aufgehalten. Der Mainstream-Internetdiskurs ist inzwischen verpufft. Wer erinnert sich noch an die guten alten Zeiten der ›nützlichen Idioten‹ à la Steven Johnson, Clay Shirky oder Jeff Jarvis? Wie kämpfte Evgeny Morozov gegen sie, um die MemHerrschaft über den US-amerikanischen liberalen Meinungsraum zu gewinnen? Wo sind all die Techno-Evangelisten geblieben? Es scheint fast, als ob das Internet all das geworden ist, was keiner wollte.3 Sind die sozialen Medien der Sargnagel der meinungsbildenden Klasse, die von den ganzen Shitstorms einfach beiseitegeschoben wird? Mit Sicherheit tragen sie zur Erosion der Mainstream-Glaubwürdigkeit bei.4 »Twitter ist nur ein riesiges Durcheinander von Schwüren, Wünschen, Erlassen, Petitionen, Plädoyers, Gesetzen, Klagen und Kränkungen.«5 Wer hilft uns bei unserer Suche nach den Regeln, Pflichten

2 | Dambisa Moyo, How the West was Lost, London: Penguin Books, 2011, dt. Der Untergang des Westens: Haben wir eine Chance in der neuen Wirtschaftsordnung? München: Piper, 2010. 3 | »Was das Internet alles ist: Das Organon des Weltgeistes, die Basis-Technik für die globale Demokratie, der neue Kristallpalast, der universale Basar. Zugleich ein digitales Bahnhofsviertel, bestenfalls ein virtueller Hyde-Park, in dem jeder Erregte von seiner Gemüsekiste herab pestet.« In: Zeilen und Tage, Notizen 2008–2011, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012, S. 325. 4 | Siehe die Artikelserie der Wochenzeitung Die Zeit über Wahrheit und Propaganda im Internet-Zeitalter vom Juli 2015: www.zeit.de/2015/26/journalis​m us-medien​k ri​ tik-luegenpresse-vertrauen-ukraine-krise 5 | James Gleick, »Librarians of the Twitterverse«, New York Review of Books, 16. Jan. 2013: www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2013/jan/16/librarians-twitterverse/

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und Verboten der vernetzten Kommunikation? Wo ist der stoische Ruhepunkt im Meer der populistischen Empörung? Internet und Smartphones werden bleiben und sich reibungslos mit dem krisengeplagten neoliberalen Zeitalter verbinden, das von wirtschaftlicher Stag­ nation, populistisch geschürten Ängsten und dem Spektakel der Medien geprägt ist. Die Frage ist nicht mehr, welches Potential die ›Neuen Medien‹ haben und welchen Einfluss sie auf die Gesellschaft nehmen, sondern wie wir mit der Wirklichkeit dieser Unwirklichkeit klarkommen. Dies ist nicht der Foucault von Überwachen und Strafen, sondern der spätere, der über die ethische Sorge um das Selbst geschrieben hat. Wie soll man die ›Kunst des Lebens‹ gestalten, wenn so viel gleichzeitig passiert? Die Forschung zu Blogs hat das Generieren von Inhalten durch Web-2.0-User als Selbstdarstellungsmaschine beschrieben und bereits Foucaults Genealogie des Geständnisses ins Spiel gebracht. Kritische ›Selfie‹-Studien deuten auf eine ähnliche ›Kultur des Narzismus‹ hin.6 Nachdem anfangs vor allem das ›Selbstermächtigungs‹-Potential des Netzwerks betont wurde, hat sich das Interesse nun der Ästhetik mentaler und physischer Gesundheit zugewandt. Kann man von einer ›Ethik der Vernetzung‹ sprechen, die uns eine Orientierung dafür gibt, was wir sagen und wann wir den Mund halten, was wir speichern und wann wir beitreten, wann wir ausschalten und wo wir uns beteiligen sollen? Und wie kann das Leben des Einzelnen in dieser Ära standardisierter Güter und Dienstleistungen noch zu einem Kunstwerk werden? Während die meisten künstlerischen, aktivistischen und akademischen Arbeiten den Charakter der sozialen Medien als Technologien der Herrschaft betonen, erkunden die Autoren, die ich hier diskutiere, die Möglichkeit, unseren Lebensstil zu ändern. Hippies gestalten Therapien, Hipster schreiben Apps, doch die souveräne Haltung, mit der man die unruhigen Signale unseres technologischen Alltags einfach ignoriert, kann nicht jeder einnehmen. Im Übrigen ist Ablenkung nicht ›nur schlecht‹. Als nützliches animalisches Erbe, das tief in unser menschliches System eingeschrieben ist, hilft sie uns, potentielle Gefahren verschiedensten Ursprungs zu erfassen. Ist es immer noch als Ge6 | Hierzu ist die erneute Lektüre von Christopher Lasch, The Culture of Narcissism, American Life in an Age of Diminishing Expectations, New York: Warner, 1979 (dt. Das Zeitalter des Narzissmus, München: Steinhausen, 1980), lohnend. Der Untertitel dieses Klassikers könnte leicht aktualisiert und in einen Gegenwartsbezug gestellt werden. Vor allem seine Frage »Haben wir uns in uns selbst verliebt?« ist beantwortet worden. »Nachdem das therapeutische Denken die Religion als formenden Rahmen der amerikanischen Kultur ersetzt hat, droht sie nunmehr auch die Politik […] abzulösen.« (S. 31) Wir können alle bestätigen, dass dieser Prozess abgeschlossen ist und in ein demokratisches Defizit mündete und dass verringerte Erwartungen zu neuen Formen von Unzufriedenheit und Protest geführt haben.

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schenk zu betrachten, wenn wir uns auf mehrere Aufgaben gleichzeitig konzentrieren können? Das Baby-Boomer-Denken meldet sich zurück, aber manche dieser Gedanken sind auch wirklich ernst zu nehmen. Blicken wir auf Europa, tauchen wir in die Vergangenheit ein und diskutieren das Werk der deutschen Literaturwissenschaftlerin Petra Löffler, von der 2014 ein Buch über die Geschichte der Aufmerksamkeit im 20. Jahrhundert erschien. Ihr Ansatz bei dieser Frage ging weniger von der Medienarchäologie aus als von der hermeneutischen Diskursanalyse. Aus ihrer Perspektive beginnen der erwartete Niedergang der Konzentrationsfähigkeit und das wachsende Unvermögen, längere und komplizierte Texte zu lesen, die Zukunft der Forschung als solcher zu gefährden. Die sozialen Medien machen die Sache nur noch schlimmer. Die Menschheit ist, wieder einmal, im Niedergang, diesmal mit eifrigem Multitasking auf dem Smartphone. Während der Bildungssektor und die IT-Industrie die Verwendung von Tablets im Klassenzimmer anpreisen (mit MOOCs als heißestem Trend), gibt es nur eine Handvoll Experten, die vor den Langzeitfolgen warnen. Das Fehlen einer ernsthaften Diskussion und politischen Auseinandersetzung macht den Weg frei für eine Reihe populärer Mythen. Schnell polarisiert sich die Debatte, und jedes Unbehagen wird auf das Generationenproblem und Technophobie-Vorwürfe verkürzt. Dennoch treten bei Millionen Bildschirmarbeitern offensichtliche und multiple Krankheitsbilder auf, von Augenschäden über ADHS und damit zusammenhängenden Medikationsproblemen (Ritalin), Karpaltunnelsyndrom und RSI bis zu Haltungsschäden durch unergonomische Arbeitsplätze und den daraus resultierenden weitverbreiteten Bandscheibenproblemen. Auch über Mutationen des Gehirns wird spekuliert (siehe z. B. die Arbeit des deutschen Psychiaters Manfred Spitzer). Gibt es bei dieser besorgniserregenden Verbreitung postmoderner Krankheiten noch Raum für die ›heilenden Wirkungen des Tagträumens‹? Überraschend zeigen Löfflers Recherchen, dass für Autoren wie Kracauer und Benjamin Ablenkung tatsächlich etwas Positives war. Und Michel de Montaigne hat schon sehr früh Zerstreuung als Tröstung für die leidende Seele empfohlen. Löfflers Analyse des frühen Kinos zeigt uns die aufkommende Unterhaltungskultur als ein Anrecht der Arbeiterklasse und Element der nötigen Regeneration ihrer Arbeitskraft. Zerstreuung wurde als sehr reale, klassenbasierte Forderung betrachtet, nicht nur als Verschwörung der Machthabenden, um ihre Leute auszutricksen. Aus dieser Perspektive wird Aufmerksamkeit zu einer disziplinierende Macht. In einem von mir geführten Interview mit Löffler stellt sie fest: »Von Philosophen wie Kant oder Psychologen wie Ribot ausgehend, glaube ich, dass ein gewisses Maß an Zerstreuung nicht nur für das Gleichgewicht im Leben notwendig ist, sondern auch ein

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normaler körperlicher und geistiger Zustand.« 7 Laut Löffler leben wir in einer von Unsicherheit geprägten Übergangszeit. »Aus diesem Grund sind Formeln, die einfache Lösungen versprechen, hochwillkommen. Neurologische Konzepte basieren oft auf einseitigen Modellen der Beziehung zwischen Körper und Geist, und sie lassen oft die Rolle von sozialen und Umwelteinflüssen aus. Von Wissenschaftshistorikern wie Canguilhem und Foucault kann man lernen, dass psychiatrische Modelle von Hirnschäden und mentalen Anomalien nicht nur soziale Ängste widerspiegeln, sondern auch ein Wissen darüber herstellen, was als normal definiert wird. Und es ist an uns als Beobachter solcher Diskurse, die heutigen Ängste zu benennen. Trotzdem würde ich Zerstreuung nicht als Metapher bezeichnen. Sie ist tatsächlich eine konkrete Phase des Körpers und ein Bewusstseinszustand. Sie ist real. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man sie als Unvermögen oder Krankheit betrachtet und einfach Pillen schluckt oder die elektronischen Geräte ausschaltet.«

Die Frage, die auf dem Tisch liegt, ist, um wieder mit Foucault zu denken, wie man Herrschaft minimiert und neue Technologien des Selbst ausformt. Warum die Internetindustrie ihre eigenen Monster der Zentralisierung und Kontrolle großgezogen hat (mit dem Kartell von Google, Facebook, Apple und Amazon), während sie das Gegenteil versprach, bleibt vorerst ungeklärt. Verständlicherweise hüllen sich die Gründerväter des Internets bei diesem Thema in Schweigen und werden hinsichtlich ihrer direkten Verantwortung für die Entwicklung des Internets auch nicht hinterfragt. Wir wissen, dass sie Teil des Problems sind und nicht Teil der Lösung. Mehr Sorgen machen wir uns aber über unser eigenes Überleben in Bezug auf unsere Räume des Denkens und Handelns. Welche Techniken können effizient das soziale Rauschen und die endlosen, Aufmerksamkeit heischenden Datenfluten reduzieren? Welche Art von Online-Plattformen unterstützen nachhaltige Organisationsformen? Wir reden hier nicht bloß von Filtern, um Spam zu löschen oder die digitalen Spuren der/des Ex zu ›killen‹. Wie die aktuelle Internetdiskussion zeigt, dreht sich (wie schon in der Ethik des Aristoteles) alles um Gewohnheit, Übung und Wiederholung. Es gibt keine endgültige Lösung. Wir werden ständig an den Fähigkeiten, uns zu fokussieren, arbeiten müssen, um gleichzeitig für neue Tendenzen und historische Seitenwege offen zu bleiben, auch wenn sie die Grundlagen unserer Orientierung in Frage stellen. Das ist nicht nur eine Frage der fairen Verteilung von Aufmerksamkeit. Wann heißen wir das Andere willkommen und wann soll das Fremde abgeblockt werden? Wann hören wir mit dem Suchen auf und fangen mit dem Machen an? Es gibt Zeiten, in denen das 7 | Geert Lovink, »The aesthetics of dispersed attention: An interview with German media theorist Petra Löffler« in: Necsus, Herbst 2013, www.necsus-ejms.org/the-aestheticsof-dispersed-attention-an-interview-with-german-media-theorist-petra-loffler/

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ganze Arsenal der Echtzeitkommunikation abgefeuert werden muss, um sich zu mobilisieren und das Spektakel für eine Weile zu beherrschen, bis dann der Abend kommt und die Zeit, sich zu entspannen und andere Pforten der Wahrnehmung zu öffnen. Aber wann überhaupt kommen diese Zeiten? Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Facebooks dieser Welt öffentlich zu kritisieren allein nicht reicht. Es gibt die Hoffnung, dass irgendwann die Langeweile überwiegt und die Nutzer weiterziehen, um ein paar Wochen oder Monate nach ihrem letzten Logout die angesagten Social-Media-Plattformen einfach zu vergessen (wie es mit Bibo, Hyves, StudiVZ, Orkut und MySpace schon passiert ist). Mit Eltern, Familie und Lehrern auf derselben Plattform zu sein, ist nicht cool. Und man kann annehmen, dass auf die heroische Geste Einiger, die sich abmelden, irgendwann der stille Exodus der Vielen folgt. Auf lange Sicht mag dies sogar unvermeidlich sein, doch verringert die andauernde Wanderung vom einen zum nächsten Service ebenso wenig das allgemeine Gefühl der Rastlosigkeit wie das Unbehagen an einem Zustand fortwährend produzierter Ahnungslosigkeit und kulturell herbeigeführter Zweifel. Dem belgischen Pop-Psychiater und Autor von Borderline Times Dirk de Wachter zufolge kämpft die westliche Bevölkerung mit einem chronischen Gefühl der Leere. Als seinen deutschen Gefährten könnte man den Psychiater Manfred Spitzer sehen, der in seinem Buch Digitale Demenz behauptet, dass die Nutzung von Tablets und sozialen Medien in der Schule zu schlechterem Sozialverhalten und Depression führen würde. Dabei unterzieht er die intensive Nutzung sozialer Medien einer umfassenderen gesellschaftlichen Analyse, die Netzwerke, ADHS und Globalisierung direkt miteinander in Beziehung setzt. Statt soziale Medien als Zeitgeist-Symptom eines einzelnen unangreif baren Bösen zu interpretieren, sollten wir die Internetfrage jedoch eher im Sinne eines Zusammenspiels von Kulturen des Gebrauchs und den technischen Prämissen der Gründer und Programmierer angehen. Es ist nötig, tägliche Rituale der Netzwerksouveränität zu schaffen. Wir dürfen uns nicht mehr im endlosen Browsen, Surfen oder Searchen verlieren. Doch das erscheint inzwischen sowieso wie ein nostalgisches Neunziger-Jahre-Verhalten (bleib dabei!), während die Gefahr eines »Rienisme« (de Maistre) eher darin liegt, dass technosoziale Routinen inhaltslos werden, es gar nichts mehr zu berichten gibt und zwischen Langeweile und Technologie keine Unterscheidung mehr möglich ist. Um die Zeit im Aufzug oder auf dem Bahnsteig zu überbrücken, wird einfach planlos über das Smartphone gewischt. Dabei wäre es genau für solche Momente wichtig, entschiedene Formen der Loslösung von der virtuellen Welt zu entwickeln. Die Frage ist: wie verliert man das Interesse an Dingen, die als lebenswichtig gestaltet wurden? Das ist ein anderes Thema als die Dialektik von Erinnern und Vergessen im späten 20. Jahrhundert. Bei Facebook gibt es nichts gesellschaftlich Ereignisreiches zu erinnern (hauptsächlich Trennungen und Scheidungen). Haften

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bleiben eher die Mikrotraumata: die falsche Bemerkung, die Begegnung mit der/dem Ex, der Stalker und Drangsalierer, das peinliche Foto. Letzten Endes ist das alles bloß Traffic. In einer solchen Geschichte der kybernetischen Umwelt bleibt es ungeklärt, wie ereignislose Ereignisse, etwa am Ufer des CyberFlusses zu sitzen und auf das vorbeiziehende Wasser zu starren, zu verwalten sind.8 Soziale Medien sind auch wegen ihrer ›Tyrannei des Informellen‹ fluide, zu nebensächlich und unabgeschlossen, um richtig gespeichert und somit auch erinnert zu werden. Viktor Mayer-Schönberger, der Autor von Delete: The Virtue of Forgetting in the Digital Age, mag zwar recht haben, dass alle digitalen Informationen gespeichert werden können und werden, und auch, dass sie kaum je wieder verloren gehen. Die Architektur der heutigen sozialen Medien entwickelt sich jedoch genau in die andere Richtung. Viel Glück bei der Suche nach dem Tweet, der E-Mail oder der Facebook-Statusaktualisierung von vor fünf Jahren, die im Nachhinein plötzlich wichtig erscheint. Die StreamingDatenbanken, die als temporäre Referenz- und Update-Systeme von den Suchmaschinen kaum erfasst werden, sind gefangen im Ewigen Jetzt des Selbst. Wenn wir den Blick auf die Internetdebatte eingrenzen, wird uns klar, dass das New-Age-Denken, das die wilden Neunziger prägte, langsam an Boden verliert. Der holistische ›Body-and-Mind‹-Ansatz ist von immer neuen Wellen gesellschaftlicher Konflikte außer Kraft gesetzt worden. Der New-Age-Flügel ist vor der negativen Kritik in Deckung gegangen, besonders was seine neoliberale Ausrichtung betrifft. Trotz allem, Google kann (offenkundig) immer noch nicht böse sein. Wir nutzen die Technologie immer noch mit dem Ziel, zu ›gedeihen‹ (»to thrive«). Unserem kollektiven Orakel Wikipedia zufolge ist »Gedeihen ein Zustand jenseits des bloßen Überlebens, der Wachstum und positive Entwicklung impliziert«. In dieser positivistischen Perspektive ist unser Wille angeblich stark genug, um die Maschinen so ›zurechtzubiegen‹, dass sie letztendlich für uns arbeiten, und nicht umgekehrt. Nicht die IT-Welt muss sich ändern, es liegt alles nur an uns! Nach diesem Modell von Technologie müssen wir uns nur als bewusste Bürger-Kunden zusammentun, dann wird die Business-Community schon folgen. Und natürlich gibt es keine Facebook-Verschwörung (etwa eine Zusammenarbeit mit CIA und NSA), denn ›wir‹ selbst sind Facebook. Wir sind seine Angestellten, Investoren, ersten Nutzer, App-Entwickler, Social-Media-Vermarkter und so weiter. Wir können zwar (für einen Moment) wegen der NSA richtig in Rage geraten, aber ein genereller Verdacht gegenüber dem Geschäftsmodell von Internet-Start-ups ist irgendwie keine Thema.

8 | Der Fluss ist eine Lieblingsmetapher des RSS-Erfinders und Bloggers David Winer, der aus dieser Idee eine ganze Philosophie der sozialen Medien gemacht hat. Siehe: www.scripting.com

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Diejenigen, die die arglistigen Ziele der sozialen Medien unterstützen, während sie sie naiverweise für eine leicht zugängliche Macht des Guten halten, leben weiter in der Vorstellung, sich bei einem Selbstoptimierungskurs angemeldet zu haben. Sie gehen ganz darin auf, in den fortlaufenden Strömen von Tweets, Status-Updates, Pings und E-Mails zu ›gedeihen‹, bis die Zeit für das nächste Gadget gekommen ist. Antworten auf diesen irregeleiteten Optimismus geben Bücher aus dem Regal für Ratgeberliteratur wie The Information Diet (2012) des kalifornischen IT-Experten Clay Johnson, der über Verfettung auf der Informationsebene schreibt und wie man deren Symptome erkennt.9 Johnson erörtert die Zutaten einer ›gesunden‹ Informationsdiät und wie wir eine Datenkompetenz entwickeln, die uns (auch) hilft, zu den Informationen einen Zugang zu bekommen. Informationsverfettung tritt auf, wenn der gesellschaftliche Konsens, was wahr und was falsch ist, verschwindet und jedes merkwürdige Informationspartikel den Status von elementarem ›Wissen‹ erlangen kann. Für Johnson sind die Parallelen zwischen Informations- und Nahrungskonsum real und gehen über das Metaphorische hinaus. Es gibt für ihn keine Informationsüberflutung, vielmehr ist alles eine Frage des bewussten Konsums. Mit der ganzen Macht der Zerstreuung zurechtzukommen, ohne sich der Ratgeberliteratur auszuliefern, erfordert ein etwas differenzierteres Denken. Warum sollen wir unser Leben überhaupt als etwas sehen, das wir in erster Linie zu managen haben? Geht es nicht eher darum, dass wir erleben wollen, wie unsere Arbeit, unser Leben und unser Selbst noch auf etwas hinauslaufen? Wir können so viele Fakten aufnehmen, wie wir wollen, aber oft weigern sie sich, ein System zu ergeben. Manche sprechen davon, dass online mentale Vorgänge einen Schutzschild gegen die auf uns einfließenden Informationen erzeugen, sodass nur wenige Infobits richtig verarbeitet werden können. Jean Baudrillard hat diese Gelassenheit Zeit seines Lebens hochgehalten und nannte sie »passive Indifferenz«. Nun ist sie zur kulturellen Norm geworden, und das Ergebnis ist häufiger ein Art ›epistemische Abschottung‹. Wenn wir permanent interaktiven Echtzeitmedien ausgesetzt sind, entwickeln wir ein geschwächtes Zeitgefühl und Konzentrationsstörungen. Johnson stellte bei sich selbst einen Abbau des Kurzzeitgedächtnisses fest. Ständiges Überkonsumieren von Spezialwissen kann auch zu einem verzerrten Gefühl von Hyperrealität führen. Der infovegane Ausweg bestünde darin, an der Willenskraft zu arbeiten, die trainierbar ist und helfen kann, die Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen. Manche installieren RescueTime auf dem Desktop, eine Software, die aufzeichnet, worauf man seine Aufmerksamkeit verwendet, und einem wöchentlich eine Produktivitätsauswertung zustellt. 9 | Clay A. Johnson, The Information Diet, A Case for Conscious Consumption, Sebastopol, CA: O’Reilly, 2012.

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Das größere Thema ist eine Art von Training, stellte Peter Sloterdijk schon 2009 in Du mußt dein Leben ändern fest.10 Am merkwürdigsten und radikalsten am anthropotechnischen Ansatz, wie er ihn nennt, ist der Gegensatz, den er zur rationalen Welt der IT-Ingenieure bildet, er ist weder linear noch disruptiv, sondern zyklisch. Es geht Sloterdijk nicht um Konzepte und Fehlerbeseitigung, sondern um echte Trainingseinheiten. Die Selbstoptimierung muss aus dem Inneren dieser (techno-)kulturellen Turnhalle kommen. Körperliche Übungen erfordern regelmäßige Wiederholung, sonst sind sie nutzlos. Wenn wir als Individuen und in sozialen Beziehungen überleben und gleichzeitig (potentiell süchtig machende) Gadgets und Online-Plattformen nutzen wollen, müssen wir in einen wirklichen Fitness-Modus gelangen – und ihn beibehalten. Der Besuch einer Gruppe Anonymer Social-Media-Abhängiger mag in extremen Fällen hilfreich sein, Durchschnittsnutzer brauchen jedoch oft nur kleine, undramatische Anreize, um fortlaufende Momente und Prozesse der Loslösung von und des besseren Umgangs mit der Welt der Gadgets in Gang zu setzen. Wiederholung als Methode, etwas zu lernen und zu verbessern, wird in einer Welt, in der ständige Verbesserungen und Paradigmenwechsel praktisch über Nacht stattfinden und eingeplante Obsoleszenz die Regel ist, oft für konservativ und anti-innovativ gehalten. Trotzdem bestärkt uns Sloterdijks Beharren auf Übungseinheiten und Wiederholung, verbunden mit Richard Sennetts Eintreten für fachliches Können (in The Craftsman), im Einsatz von Werkzeugen (etwa des Tagebuchs), mit deren Hilfe wir uns am Morgen Ziele setzen und am Abend über die Fortschritte, die wir während des Tages gemacht haben, reflektieren. Dabei muss auch die disruptive Natur von Echtzeitnachrichten und sozialen Medien in diesem Modell einen Platz bekommen. Es ist klar, dass Sloterdijk zur Nutzung von Informationstechnologie eine ambivalente Haltung hat. Sie spielt für ihn erstaunlicherweise sogar kaum eine Rolle. In seinen 2012 erschienen Tagebuchnotizen aus den Jahren 2008–2011 mit dem Titel Zeilen und Tage habe ich auf 637 Seiten genau eine Stelle gefunden, die sich explizit auf das Internet bezieht, und er beschreibt es dort als universalen Basar und »Hyde-Park-Gemüsekiste«. Dasselbe könnte auch über Slavoj Žižek gesagt werden, der offen zugibt, dass er nicht der hippste Philosoph der Welt ist.11 Auch wenn beide intensiv von ihren Laptops, dem Internet und Wikipedia Gebrauch machen, ist das (bislang?) kein ernsthafter Untersuchungsgegenstand für sie. Jenseits symbolischer Zurückweisungen, Ausstiegsprivilegien und attraktiver Slogans gibt es keine einfachen Maßnahmen zur Behebung unserer ak10 | Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009. 11 | Siehe sein Interview mit Salon.com: https://www.salon.com/2012/12/29/sla​v oj_​ zizek_i_am_not_the_worlds_hippest_philosopher/

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tuellen Datenkrise. Was machen wir mit dem Datenrelativismus, der mentalen Erschöpfung und unseren täglichen Rückenproblemen? Anti-Stress-Apps wie StayFocussed und Freedom (»hält Computernutzer bis zu acht Stunden am Stück vom Internet fern«) herunterzuladen ist eine Möglichkeit. Aber wir können das Problem nicht einfach durch immer neue Apps lösen. Es geht auch nicht darum, die Technologie als solche zu überwinden, sondern nur bestimmte Gewohnheiten, besonders solche, die mit manchen beliebten und zeitfressenden Anwendungen zusammenhängen. Anders als bei Wissen, das wir uns aneignen oder einfach mitbekommen und dann speichern, interpretieren, verbreiten und erinnern, müssen wir konstant an unserer Haltung, wie wir mit Informationsüberlastung und Multitasking umgehen, arbeiten, sonst geht unsere ›Kondition‹ verloren und wir fallen in einen früheren Modus von Panik und Indifferenz zurück. Für Howard Rheingold ist das kein neues Thema. Er beschäftigt sich explizit mit der Balance zwischen einem gelassenen Geist und einem intelligenten Umgang mit der Computeroberfläche. In seinem Buch Net Smart: How to Thrive Online (2012) greift er auf die Hirnforschung der siebziger Jahre und das ›Neuro-Linguistische Programmieren‹ zurück, um der Überwältigung durch andauernde Ströme von Status Updates entgegenzutreten und eine geistige Distanz zur Szene herzustellen.12 Es geht einfach darum, wieder Herr der Lage zu werden, Selbstvertrauen und Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Hier kommt eine Bewegung des taktischen Abstandnehmens zum Zug; die Suchtmetapher führt in diesem Kontext in die Irre. Es geht nicht um die totale Involvierung, der der komplette Rückzug folgt. Im Fall der sozialen Medien ist Letzteres aus ökonomischen und sozialen Gründen oft gar nicht mal möglich. Wer kann sich schon leisten, sein oder ihr soziales Kapital einfach aufs Spiel zu setzen? Rheingold weiß das und bietet seinen Lesern deshalb eher ein Spektrum praktischer Anleitungen, wie man des Meisters Medien meistert. Er ist kein brillanter Polemiker, und seine Auseinandersetzung mit der aktuellen US-amerikanischen Technoskeptizismus-Welle ist nicht überzeugend (immerhin verbrachte er den Großteil seines Lebens in der Bay Area mit der Erkundung der spirituellen und kollektiven Dimensionen der Online-Kommunikation). Aber er benennt eine Reihe nützlicher digitaler Fertigkeiten. Was Net Smart und die Online-Video-Vorlesungen, die Rheingold über die Jahre zu diesem Thema produziert hat, so unwiderstehlich macht, ist ihre Relevanz für den ganz gewöhnlichen Alltag. Darauf, utopische Botschaften zu verkünden oder gnadenlos die Absichten der IT-Giganten auseinanderzunehmen, verzichtet er. Er ist weder hartgesottener Silicon-Valley-Visionär à la Kevin Kelly oder Stuart Brand noch kontinentaleuropäischer Kritiker. Als 12 | Howard Rheingold, Net Smart: How to Thrive Online, Cambridge (Mass.): MIT Press, 2012.

Nach dem Social-Media-Hype

Chronist der technologischen Entwicklung durchlief er nicht die klassische amerikanische Akademikerlauf bahn, obwohl er in den letzten Jahren auch in Stanford gelehrt hat. Vor allem ist er ein brillanter und gleichzeitig differenziert argumentierender Lehrer, der auf »innere Disziplin statt auf asketischen Rückzug« vertraut. Net Smart ist im Wesentlichen ein Pamphlet für öffentliche Bildung. Selbstkontrolle und andere Social-Media-Kompetenzen müssen gelehrt werden. Wir werden nicht mit ihnen geboren und müssen erst lernen, wie wir ›Echtzeit-Datenpflege‹ praktisch umsetzen. In Anlehnung an Daniel Siegel, den Autor von The Mindful Brain (dt. Das achtsame Gehirn), fordert er, dass wir aus dem automatisierten Leben aufwachen müssen. Laut Siegel geht es um mehr als einfaches »Gewahrsein«: »Es beinhaltet, gewisser Aspekte des Geistes selbst gewahr zu sein. Statt auf Automatik geschaltet und achtlos zu sein, hilft uns die Achtsamkeit, aufzuwachen.«13 Wie viele von uns diesen Geisteszustand gegenüber den Freuden der Zerstreuung bevorzugen, ist allerdings eine andere Frage. Zeit totzuschlagen, indem man in eskapistische soziale Medien eintaucht, in Nicht-Orte und umgeben von Nicht-Leuten, ist weitverbreitet und beliebt, wie wir alle wissen. Das ist die zynische Vernunft des »Ich bin mir bewusst, dass ich mir nicht bewusst bin«. Was Rheingold uns lehrt, sind Tricks, um das Gehirn zu trainieren, zum Beispiel bestimmte Atemübungen, und diese dann in Gewohnheiten zu verwandeln. Das Buch schließt mit der Feststellung, dass »die aufkommende digitale Kluft zwischen jenen verläuft, die wissen, wie man die sozialen Medien für individuellen Gewinn und kollektive Aktion nutzt, und jenen, die es nicht wissen«. Am aussagekräftigsten wird Net Smart für mich, wenn Rheingold über »Crap Detection« (›Müll-Erkennung‹) schreibt und dabei direkt in den Desktop hineinzoomt. »Crap Detection« ist ein Ausdruck aus den 1960ern, der für eine kritische Haltung gegenüber dem gebotenen Informationsspektrum steht und sicher eine Renaissance verdient. Welchen politischen, religiösen und ideologischen Hintergrund hat die Person, die sich da äußert? Machen wir doch mal einen Faktencheck. Heutzutage gibt es online dafür schon zahlreiche Werkzeuge, aber nur wenige wissen davon. Die verbreitete Inkompetenz im Umgang mit Suchmaschinen ist ein klassischer Fall. Ernest Hemingway und Neil Postman haben beide dafür plädiert, dass jeder (idealerweise) einen eingebauten ›Crap Detector‹ haben sollte. In unseren Zeiten, in denen auf einen Journalisten (der traditionell für das Faktenchecken zuständig ist) zehn PR-Manager und Kommunikationsberater kommen, müssen die Internetnutzer ihre Hausaufgaben zunehmend selber machen. Immer mehr Leute entdecken, dass man nicht immer glauben darf, was man liest. Wie aber analysiert man die Pseudoinformationen der Think Tanks, Spindoktoren und Berater? Andere Kapitel setzen Medienmanipulationen traditionelle Werte entgegen, aber verbinden 13 | Daniel J. Siegel, Das achtsame Gehirn, Freiburg: Arbor, 2014, S. 25.

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sie gleichzeitig mit detailliertem Wissen darüber, wie das ganze Spektrum an Online-Recherchetools mit Blick auf Funktionalität und Nutzerfreundlichkeit eingesetzt werden kann. Rheingold legt seinen Desktop komplett offen: sein Bildschirm ist groß, eine Vielzahl an Menus ist gleichzeitig geöffnet, und trotzdem hat er alles im Griff. Dies wird auch persönliches ›Dashboard-Design‹ genannt – aber wir wissen noch zu wenig darüber, denn die Einrichtung der Arbeitsoberfläche gilt als private, sogar schambehaftete Angelegenheit. Rheingold nutzt in Bezug auf Desktop-Management den Begriff »Infotention«, was er als »Synchronisierung der eigenen Aufmerksamkeitsgewohnheiten mit den Informationstools« definiert, mit dem Ziel, »Informationen besser zu finden, zu steuern und zu verwalten«. Soziale Medien werden oft als notwendige und unverzichtbare Kommunikationskanäle dargestellt. Für Rheingold und Johnson ist klar, dass sie von Dauer sind. Der scheidenden europäischen Babyboomer-Generation mögen diese Plattformen dagegen als Vehikel des Nihilismus erscheinen, eine Art Drogen, die für sie das Gefühl nähren, ausgeschlossen zu sein und nicht mehr mit ins Boot zu kommen. Verlinken, Liken und Sharen erhalten die systemische Langeweile und den ›Rienisme‹ aufrecht, die wir als Konsequenz einer übersteigerten und kommerzialisierten Eventkultur erleben. Insofern ist man dann doch erstaunt, wenn man How to Thrive in the Digital Age von Tom Chatfield liest, ein Buch aus der Alain de Bottons »School of Life«-Reihe, die sich als Neuerfindung der Gattung Selbsthilfebücher versteht.14 Keine moralistischen Warnungen und wohlmeinenden Ratschläge mehr, wie der von Evgeny Morozov, der Smartphone und Internetkabel angeblich in einer Schatztruhe verstaute, wenn er eine Deadline hatte. Chatfields Ausweg besteht überraschenderweise darin, das Feld zu politisieren, im Geiste des arabischen Frühlings und von Occupy, Wikileaks, Anonymous, Piratenparties und Protestaktionen für das Recht auf Online-Anticopyright-Peer-to-Peer-Austausch (wie zum Beispiel in Form von Kim Dotcoms Plattform ›Mega‹). Wir haben schon genug Tipps bekommen, wie wir Zeit gewinnen, indem wir unser Smartphone nicht benutzen. Offline-Romantizismus als Lifestyle-Lösung ist ein toter Gaul.15 Selbst ›Slow Politics‹ hat in dieser Hinsicht mehr anzubieten als wahnhaften post-digitalen Pastoralismus. Es kann befreiend sein, all diese sich beschleunigenden 14 | Tom Chatfield, How to Thrive in the Digital Age, London: PanMacmillan, 2012. 15 | Siehe zum Beispiel den ambivalenten Bericht Paul Millers über sein Jahr ohne Internet: https://www.theverge.com/2013/5/1/4279674/im-still-here-back-online-after-ayear-without-the-internet. Sein Fazit: »Du musst keine einjährige Internetdiät machen, um herauszufinden, dass deine Schwester Gefühle hat.« Eine kollektive Anstrengung in diese Richtung ist auch der von Reboot organisierte »National Day of Unplugging« (http:// nationaldayofunplugging.com/about-us/), der darauf zielt, »Verbindungen wiederzubeleben und jüdisches Leben voller Bedeutung, Kreativität und Freude neu zu denken.«

Nach dem Social-Media-Hype

Ereignisse loszulassen, für eine Weile gar nichts zu machen, den Niedergang zu erfahren, so zu tun, als ob man im Einklang mit der Natur lebe, und einfach eine wohlverdiente Pause zu genießen. Aber was dann? Was uns (immer noch) interessiert, sind neue kollektive Lebensformen. Plötzlich finden wir uns verwickelt in Geschehnisse, Geschichten, Situationen und Begegnungen, die uns all die plärrenden E-Mails, Tumblr-Bildkaskaden und das Business-as-usual auf Twitter vergessen lassen. Wann hat das lange Warten ein Ende? Es lohnt sich, hier noch einmal zu Petra Löffler zurückzukehren, die ich zu Adornos moralistischer Haltung und seiner Ablehnung der Medien als leichter Form der Unterhaltung, befragt habe. Wenn er noch am Leben wäre, fragte ich sie, was würde er wohl zum Internet sagen? Löffler antwortete: »In Adornos Denken der Negativität ist die Kunst eine autonome und alternative Sphäre der Gesellschaft. Und es ist die Andersheit und Autonomie der Kunst, durch die sie die Macht gewinnt, die kapitalistische Ordnung zu unterminieren. Aus diesem Grund ist es für diese Denker keine Sache der Moralität, wenn sie die Medien der populären Massenunterhaltung ablehnen. Es ist eine ›ontologische‹ Frage, denn diese Medien geben keinen Raum, die Form der Existenz in der kapitalistischen Gesellschaft zu reflektieren.«

Löffler hat dennoch festgestellt, dass Adornos Position nicht so endgültig ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. »Als ich die Dialektik der Aufklärung las, stellte ich überrascht fest, dass für Adorno und Horkheimer der totale Exzess der Zerstreuung, in einer extremen Ausprägung, der Kunst nahekommt. Dieser Gedanke, so scheint mir, korrespondiert mit Siegfried Kracauers Utopie der Zerstreuung aus den 1920er Jahren in seiner Auseinandersetzung mit modernen Massenmedien, vor allem mit dem Kino. In diesem Abschnitt sagen Adorno und Horkheimer, was für mich revolutionär ist, dass nichts weniger als die Akkumulation und Intensivierung der Zerstreuung dazu fähig ist, das Ziel der Negation zu erfüllen, das ursprünglich der Kunst zugeschrieben wurde, denn es verändert den Stand des Subjekts in der Gesellschaft komplett. Mit diesem Gedanken im Hintergrund wäre es wirklich lustig, und am Ende auch viel weniger elitär, darüber zu spekulieren, was Adorno über das Internet zu sagen hätte.«

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Eine Welt jenseits von Facebook Die Alternative Unlike Us

Geek-Zitate für eine Post-Geek-Kultur: »An Checkpoints wird heute oft ein Facebook-Passwort verlangt, egal ob von Regierungssoldaten oder vom Islamischen Staat.« – »Das Ich ist nicht zu retten.« (Ernst Mach) – »Ich habe Angst vor dem Tag, wenn sich die Technologie mit unserer Menschlichkeit überlappt. Die Welt wird nur eine Generation von Idioten haben.« (Albert Einstein) – »Ich kann einen Ford, Toyota, BMW oder Smart kaufen und fahre auf denselben Straßen und tanke dasselbe Benzin. Alles an ihnen ist austauschbar, außer dem Schlüssel, mit dem ich sie öffnen und den Motor anlassen kann. Das ist ein gutes Modell dafür, wie unser Kommunikationssystem funktionieren sollte, und zwar auf allen Ebenen.« (Dave Winer) – »Habe eine Meinung, sei ein Autor.« – »Die Idee, das Soziale zwischen ›kollaborativ‹ und ›individuell‹ aufzuteilen, klingt für mich, wie wenn man das Tierreich in ›Ameisen‹ und ›Pumas‹ aufteilen würde.« (Hellekin) – »Es ist ein kleiner Schritt von der Verbreitung zur Zerstreuung …« – »Die meisten Räder müssen neu erfunden werden.« – »Weder Informationen noch Drogen machen jemals glücklich, wenn man sie hat, aber wenn man sie nicht hat, geht es einem schlecht.« (Michel Serres) – »Ich habe meine eigene Privatsphäre verletzt. Jetzt verkaufe ich alles. Aber wie viel bin ich eigentlich wert?« (Federico Zannier) – »Ich bin nicht antisozial. Ich bin nur nicht nutzerfreundlich.« (Geek-Phrase)

Ob wir nun mitten in einer neuen Internetblase sind oder nicht, unbestritten ist, dass die Nutzung von Internet und Smartphone von den sozialen Medien beherrscht wird. Der Siegeszug von Apps und webbasierten Diensten für die direkte Kommunikation zwischen Nutzern und die damit verbundene explosionsartige Ausbreitung informeller Dialoge, fortlaufender Uploads und nutzergenerierter Inhalte haben den Aufstieg einer ›partizipatorischen Kultur‹ vorangetrieben. Das Informationszeitalter wird von einer Handvoll Social-Media-Plattformen beherrscht. Doch die Frage, wie mit Einfluss und Wirkung der sozialen Medien umzugehen ist, führt zu wachsenden Spannungen. Warum finden wir uns immer wieder in geschlossenen, zentralisierten ›Walled

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Gardens‹ wieder, wenn die ursprüngliche Ideologie des Internets doch immer noch offene und dezentralisierte Systeme verspricht? Die Start-ups sind für die Monopole keine Bedrohung mehr, da sie sowieso darauf aus sind, früh verkauft zu werden. Warum lassen sich die Nutzer so leicht auf diese Plattformen locken und warum fällt es ihnen so schwer, sie wieder zu verlassen? Ist es die menschliche Natur oder einfach nur das falsche Design naiver Hippies, die sich in konservative Machtmenschen verwandelt haben? Sind uns die langfristigen Kosten bewusst, die die Gesellschaft für die einfache Nutzung und die unkomplizierten Schnittstellen der geliebten ›kostenlosen‹ Dienste bezahlen wird? Das immer schnellere Wachstum der sozialen Medien ist etwas komplett Neues und der Hauptgrund für die tiefe Verunsicherung unter Geeks, Künstlern, Geisteswissenschaftlern und Aktivisten. Wir sind (immer noch) alle damit beschäftigt, uns zu befreunden, Ranglisten zu erstellen, zu empfehlen, zu retweeten, Kreise zu bilden, Fotos und Videos hochzuladen und den Status zu aktualisieren.1 Aber trotz der massiven Nutzerbasis bleibt das Phänomen der sozialen Online-Vernetzung fragil und in seiner Natur sekundär. Das Soziale ist fluid und verflüchtigt sich so leicht ins Große Nichts. Wie viele Social Media Websites hat es nicht schon gegeben? Wer erinnert sich noch an Friendster? Die plötzliche Implosion von MySpace2 war phänomenal und passierte parallel mit dem Niedergang von Bebo in Großbritannien und StudiVZ in Deutschland. Es wird immer noch vermutet, dass der Fall von Google, Twitter 1 | Siehe Terry Eden: »Wirklich alle, die ich kenne, machen tolle Sachen! Natürlich gibt es gelegentlich Klagen über das lästige Pendeln oder ein verpasstes Weihnachtsgeschenk. Aber jeder ist permanent so nervtötend optimistisch. Ich frage mich, was das für die geistige Gesundheit bedeutet. Wenn man nur noch die unerbittliche Heiterkeit all seiner Freunde sieht, kann es sehr quälend sein, sich selbst mal nicht so gut zu fühlen. Die ganzen Freunde sind dauernd im Urlaub an exotischen Orten, kaufen neue Autos und machen aufregende Karrieren. Und man selbst sitzt da in seiner Unterwäsche und fragt sich, ob es eine lebensverändernde Erfahrung sein könnte, statt YouTube lieber Vimeo zu benutzen … Es geht nicht mehr darum, mit den Nachbarn Schritt zu halten – jetzt muss man mit jedem konkurrieren, den man jemals getroffen hat, koste es was es wolle.« http://shkspr.mobi/blog/2012/12/why-facebook-makes-me-feel-like-a-loser/ 2 | Auf Facebook schrieb Dick El Demasiado folgenden Eintrag: »Ich habe gerade entdeckt, dass das angeblich neugestaltete Myspace alle Dialoge und Interaktionen zwischen den Nutzern gelöscht hat. Ohne eine einzige Vorwarnung, bloß wegen einer neuen Marketingstrategie, haben sie das bisschen Menschliche aus ihrem Service einfach ausradiert. Das heißt, eine ganze Generation hat ihre Liebesmitteilungen, ihre FanDialoge, ihren interkulturellen Austausch und ihre ersten Kontaktaufnahmen verloren. Wenn Anne Frank auf Myspace gewesen wäre, wüssten wir heute nichts mehr von ihren Gefühlen.« (28. Juli 2013, via Josephine Bosma)

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und Facebook nur ein Software-Meisterstück entfernt ist  – und die Verfechter ›alternativer‹ Social-Media-Optionen nehmen diese Idee weiterhin als ihre Prämisse. Nie war vorgesehen, dass die ›protokollogische‹ Zukunft stationär wäre: es wird immer erwartet, dass das Internet uns genug Raum gibt, um alle möglichen techno-politischen Interventionen zu gestalten. Statt immer nur die Formel vom Start-up, das zum Mega-Unternehmen wird, nachzubeten, sollte man seine Kräfte besser darauf verwenden, das Internet immer wieder neu zu erfinden als wirklich unabhängige öffentliche Infrastruktur, die sich effektiv gegen Einflussnahme von Unternehmen und staatliche Kontrolle wehren kann. Die politische Agenda der Social-Media-Kritiker ist jedoch ambivalent. Die dominanten Plattformen sollen untersucht und kritisiert, aber nicht unbedingt reguliert werden. Es gibt ohnehin keinen Hinweis, dass Brüssel gewillt wäre, dies innerhalb eines Zeitraums zu tun, in dem es noch eine Wirkung hätte. Aber es gibt andere kulturelle Muster, auf die man setzen kann: an irgendeinem Punkt wird sich Langeweile einstellen und die Marotte des Sich-Befreundens zu Ende gehen. Der große Motor hinter der Befreiung ist Indifferenz. Es ist schon subversiv, darüber nachzudenken, dass Freunde und Familie neue Wege finden müssen, um dein Leben zu überwachen. Auch nach soundso vielen Updates hat man seinen Status in der Gesellschaft noch immer nicht verbessert, und plötzlich ist der Drang da, die eigene Zeit woanders zu verschwenden. Wie studiert man halbgeschlossene ephemere Räume? Ich beobachte, wie PhD-Studenten aus neuen Einsichten der jüngst etablierten Disziplin der ›Software Studies‹ Gewinn ziehen. Allerdings riskieren sie auch, dass ihr Forschungsgegenstand schon verschwunden ist, bevor sie ihre Dissertation abgeben können. Es ist immer möglich, eine ›Black Box‹-Theorie3 zu formulieren, um die algorithmischen Kulturen solcher Social Networking Websites zu untersuchen. Was aber, wenn die Algorithmen für uns Nicht-Geeks tatsächlich eine Black Box bleiben? Werden die Internet-Studien dann zu einem Smalltalk, der unbedeutenden Einflüssen nachgeht und als Unterabteilung der Kulturwissenschaften endet? Dies könnte geschehen, und nicht nur wegen der mangelnden Informatik-Kenntnisse unter Kunst- und Geisteswissenschaftlern. Wir haben es hier auch mit sehr realen Firmengeheimnissen, Informationsschranken und Patentkriegen zu tun. Zu einem großen Teil sind die Untersuchungen über soziale Medien noch von quantitativen und sozialwissenschaftlichen Vorgehensweisen beherrscht, die an über Programmierschnittstellen 3 | Siehe die Ph. D.-Arbeit von Taina Bucher, »Programmed Sociality: A Software Studies Perspective on Social Networking Sites«, Faculty of Humanities, University of Oslo, 2012, http://tainabucher.com/. Sie entwickelt hier eine differenzierte Theorie der sozialen Medien als Black Boxes, wobei sie auf die ursprüngliche, aus der Kybernetik stammende Bedeutung des Konzepts zurückgreift.

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(APIs) gewonnenen Daten und auf diesen basierenden Visualisierungen herumdoktern. In der ersten Phase der Social-Media-Forschung entwickelte sich im Rahmen der akademischen Association of Internet Research ein sozialwissenschaftlicher Schwerpunkt, verbunden mit Namen wie danah boyd und Lisa Nakamura. Die Forschungsprojekte untersuchten zum Beispiel alltäglichen Online-Rassismus oder die moralische Panik angesichts der Nutzung sozialer Medien durch Jugendliche und beschäftigten sich mit Themen wie Gender, Datenschutz und Identitätsdiebstahl. Oft stützten sie sich auf die (veralteten) Theorien der Selbstrepräsentation von Erving Goffman, Michel Foucaults Konzept der Technologien des Selbst oder graphbasierte Analysen sozialer Netzwerke und richteten ihre Untersuchungen zum Beispiel auf Einflussnehmer wie Lobbyisten und Think Tanks oder (News)Hubs. Allerdings mangelte es in dieser frühen Phase am Willen, sich auch anderswo nach Wissen und Analyseinstrumenten umzuschauen und die Begegnung mit den Geisteswissenschaften sowie Kunst und Design zu suchen. Der politischen Ökonomie der aufstrebenden Social Media-Giganten wurde fast keine Aufmerksamkeit geschenkt, ganz zu schweigen von den Techies in ihrem eigenen Universum und der Internet Society, die sich nur um technische und regulatorische Dinge kümmerte. Die verschiedenen Herangehensweisen von Sozialwissenschaften und Technologieforschung sind nie wirklich zusammengekommen – die Gelegenheit, eine multi-disziplinäre Tradition der kritischen Internetforschung zu begründen, wurde verpasst. Klarer Nutznießer dieses Nicht-Zusammentreffens war das Silicon Valley selbst, das, statt einer kritischen Öffentlichkeit gegenübertreten zu müssen, sich viel lieber in die Exklusivität von TED-Konferenzen und ähnlichen Geschäftsnetzwerken zurückzog bzw. sich an ›lokalen‹ Treffpunkten ausbreitete. Die Forschung über soziale Medien als lediglich ›supplementär‹ gegenüber der kritischen Medienforschung und ihren Debatten abzutun, ist genauso unplausibel, wie Social-Media-Unternehmer als die schlimmsten Finger des Kapitalismus zu betrachten. Selbst wenn Twitter und Facebook über Nacht verschwänden, Befreunden, Liken und Ranken würden sich als in Software eingebettete Gewohnheiten weiter verbreiten. Die Schönheit und Tiefe der sozialen Medien hat damit zu tun, dass sie ein neues Verständnis klassischer Dichotomien wie kommerziell/politisch, informelle Netzwerke/Öffentlichkeit als Ganzes, Nutzer/Produzenten, künstlerisch/standardisiert, Original/Kopie, Demokratisierung/Entmächtigung verlangen. Doch machen wir diese Dichotomien hier nicht zum Ausgangspunkt, sondern hinterfragen einmal die Logik des sozialen Netzwerkens selbst. Welchen Wert beinhaltet das Netzwerk für uns überhaupt? Ist es ein menschliches Grundbedürfnis, ein soziales Sicherheitsnetz um uns herum zu schaffen, um gegen die Isolation zu kämpfen? Oder ist es eine eher immanente Tendenz, unsere Liste an Freunden, potentiellen

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Kunden und sozialen Zirkeln zu vergrößern? Ist das Netzwerk die neue Kirche, unsere einzigartige Version des Dorfstammes? Was ist es sonst? Die heutigen Social-Media-Plattformen sind zu groß und zu geschlossen, als dass irgendjemand sie anständig und unabhängig erforschen könnte  – außerhalb ihrer firmeneigenen Datenorganisation. Anders gesagt, wir sind hierbei von den Unternehmen und ihren Marketingfirmen abhängig. Was wir aber entwickeln müssen, sind Methoden, spezifische Prozessabläufe festzuhalten und sie in richtige Geschichten zu verwandeln. Zur Erinnerung, es gibt keine Psychoanalyse ohne die Erklärungsmacht des Falls und seiner substantiellen Basis. Das Problem liegt also nicht nur in der Mutation des Untersuchungsgegenstands, sondern im wirklichen Verschwinden von Inhalt. Bis wir die Literatur durchforstet, das Feld theoretisiert, spezifische kritische Konzepte entwickelt, unsere methodologischen Überlegungen fixiert und die Datensätze zusammengestellt haben, hat sich unser Forschungsobjekt schon wieder dramatisch verändert. Die Untersuchungen laufen Gefahr, nichts weiter als historische Akten zu produzieren, gefüllt mit Netzwerk-Gutachten und abgeleiteten ethischen Betrachtungen.4 In einer Abwandlung von Einsteins Quantentheorie könnten wir sagen, dass die Objekte sich nicht verändern, weil wir sie beobachten, sondern weil wir sie erforschen. Doch selbst dieser umgekehrte idealistische Gedanke trifft nicht zu. Der Hauptgrund für die Vergeblichkeit der Forschung ist, dass sich unsere kollektive Obsession viel stärker auf die Wirkungen der Technologie richtet als auf ihre Architektur. Das passiert ebenso häufig bei vereinfachten, nutzerfreundlichen und informellen Netzwerken wie bei komplexen Systeme. Auf den ersten Blick präsentieren sich die sozialen Medien als perfekte Synthese aus der Massenproduktion des 19. Jahrhunderts (in diesem Fall von Netzwerken) und Geschichte im Werden (siehe den Arabischen Frühling 2011). Hier ist erstaunlich wenig ›differance‹ im Spiel. In diesem Sinne sind sie weniger postmoderne ›Maschinen‹ als geradlinige, moderne ›Produkte‹ der Neunziger-Jahre-Welle der digitalen Globalisierung als Massenkultur. In den neuesten Forschungstrends können wir eine zunehmende Abwendung von der ›Ausbeutungs‹-These der sozialen Medien zugunsten quantitativer Analysen feststellen, die auch die ›Like Economy‹ einschließen. Der Ein4 | In ihrer Ph. D.-Arbeit über Trolls, »This Is Why We Can’t Have Nice Things«, bringt Whitney Philips dieselbe Befürchtung zum Ausdruck: »Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nicht mehr an einer Studie über ein aufkommendes subkulturelles Phänomen arbeitete. Ich war eher Chronistin eines subkulturellen Lebensstils. […] Und ich hatte viele schlaflose Nächte wegen der Vorstellung, dass meine Dissertation schon überholt wäre, bevor sie überhaupt fertig ist.« S. 45. Inzwischen wurde sie veröffentlicht unter dem Titel: This Is Why We Can’t Have Nice Things: Mapping the Relationship between Online Trolling and Mainstream Culture, Cambridge (Mass.): MIT Press, 2015.

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fluss der Monopole und ihre Neigung zu Kontrolle und Paranoia sind schon zu offenkundig und alltäglich geworden, um noch als Forschungsergebnis präsentiert zu werden. Die Machtarrangements in der IT-Industrie, von IBM und Microsoft bis Google und Facebook, sind allgemein bekannt. Normale User wollen aber nicht den sozialen Tod riskieren und können es sich nicht leisten, aus der informellen Reputationsökonomie herauszufallen; so fühlen sie sich gezwungen, der Herde zu folgen. Wir müssen uns alle noch an die zwei Gesichter der vernetzten Wirklichkeit gewöhnen: Netzwerke sind perfekt auf ein schnelles Wachstum eingerichtet, sodass die ersten Nutzer sogleich neue Öffentlichkeiten bilden können. Und ausgestattet mit Risikokapital kann eine Technologie oder Anwendung für ein mögliches öffentliches Netzwerk in kürzester Zeit von einem Monopol aufgekauft werden. Im Gegensatz zu dieser Realität der Geschwindigkeit und der Größe gibt es aber auch die verteilte, dezentralisierte, informelle und quasi-private Seite der Netzwerke. In der letzten Zeit haben die Social-Media-Konzerne den Schwerpunkt immer mehr auf die erste gelegt und in ihrer Besessenheit von Hyper-Wachstum um jeden Preis die zweite vernachlässigt. Wie ich in diesem Buch deutlich mache, ist die gewaltige Popularität der sozialen Medien nicht als ›Wiederauferstehung‹ des bereits untergegangenen Sozialen zu verstehen. Das Online-System ist nicht eingerichtet worden, um dem Anderen zu begegnen (was durch die Popularität von Dating-Websites auch eher bestätigt als konterkariert wird). Wir bleiben unter ›Freunden‹. Das Versprechen der sozialen Medien (wenn es denn eines gibt) liegt eher darin, Verteidigungssysteme einzurichten und zu betreiben, die, in computergenerierter Informalität, Gemeinschaftsgefühle eines verlorenen Stammes wiederherstellen können. Das Soziale – diese einst gefährliche Kategorie der Klassengesellschaft im Emanzipationsprozess – ist angesichts massiver Haushaltskürzungen, Privatisierungen und erschöpfter öffentlicher Ressourcen in die Defensive geraten. Der kritische Modus der Situationisten läuft hier ins Leere. In dieser Gesellschaft der Suchanfrage ist Facebook alles andere als spektakulär. Es ist weder tragisch noch skandalös. Im besten Fall ist es süß und mitleiderregend. In der abgeschlossenen Sphäre der sozialen Medien hat der kritische Apparat der Repräsentationstheorie nur eine begrenzte Reichweite. Wir müssen anders herangehen und noch radikaler denken, was Baudrillard über den »Tod des Sozialen«5 schrieb. Die von ihm geschilderte Implosion des Sozialen in den Medien geschah zwanzig bis dreißig Jahre vor der Geburt von Facebook: in einer Bewegung weg vom chaotischen und potentiell gefährlichen Leben der Menschenmassen in den Straßen zu den regulierten Verkehrsströmen der 5 | Jean Baudrillard, The Masses: Implosion of the Social in the Media, übers. v. Marie Maclean, New Literary History, vol. 16, no. 3, »On Writing Histories of Literature« (Frühjahr 1985), S. 577, www.jstor.org/stable/468841

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letzten Reste des öffentlichen Raums und weiter zu einer postfordistischen Interaktivität innerhalb der eingehegten Sphären von Wohnungen, Cafés und Büroräumen. Die Renaissance des modischen Konzepts des ›Sozialen‹ im Web 2.0 war nicht Teil einer retromanischen Anstrengung, die soziale Frage des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert wiederzubeleben. Hier gibt es keinen Klassenkampf. Die Kernidee der sozialen Medien liegt nicht darin, zu einem Omegapunkt der Geschichte zurückzukehren, Hiroshima und Auschwitz zu umgehen und die Entwicklung der Menschheit an irgendeinem bequemen oder fingierten anderen Punkt weiterzuführen. Diese Art Idee des Sozialen dient nichts anderem als der Wertschöpfung. Die Social-Media-Frage dreht sich um Begriffe wie Aggregation, Data Mining und Profiling und bestätigt dabei Hannah Arendts Beobachtung, dass sich die soziale Frage als politischer Faktor innerhalb des Konzepts der Ausbeutung artikuliert.6 Die algorithmische Ausbeutung der Mensch-Maschine-Interaktion setzt bewusst darauf, dass die dunklen Elemente des Sozialen (Mob-Verhalten, aber auch SystemSelbstmorde) beherrscht werden können. In Anbetracht der weitreichenden und ehrgeizigen Anstrengungen, Alternativen aufzubauen, scheint es wichtig, einmal einzugrenzen, was mit dem Begriff ›soziale Medien‹ eigentlich genau gemeint ist. Manche würden da an die Tage der frühen Cyberkultur zurückdenken und den Gemeingut-Aspekt der ›virtuellen Gemeinschaften‹ hervorheben. Dieser etwas katholische Begriff hat seine Vorrangstellung in den späten 1990ern eingebüßt, als Start-up-Firmen, mit Risikokapital und ›silly money‹ von Investmentbanken und Pensionsfonds ausgestattet, die Szene fluteten. Im goldenen Zeitalter der Dotcom-Manie wandelte sich das Verständnis des Internets als öffentlicher Domäne und Gemeingut zum Bild einer elektronischen Shopping Mall. Die Nutzer galten nicht mehr als globale Bürger des Cyberspace, sondern wurden als Kunden angesprochen. In den Jahren 2000/2001, als der Dotcom-Crash eine globale Finanzkrise auslöste, kam diese Entwicklung zu einem plötzlichen Stillstand. Und gemeinsam mit der durchgreifenden Überwachungskultur nach 9/11 hat diese Geschichte einen mächtigen Einfluss auf die Internetfreiheit genommen. Um seine Vorherrschaft im weitweiten IT-Markt wiederzugewinnen, musste sich das Silicon Valley neu erfinden und startete eine Renaissance-Bewegung unter dem Label Web 2.0. Diese Reinkarnation amerikanischen Unter6 | Siehe Hannah Arendts Kapitel über die soziale Frage in: Hannah Arendt, Über die Revolution, München: Piper, 1963, S. 77: »Die Marx’sche Transformation der sozialen Frage in einen politischen Faktor ersten Ranges kommt im Begriff der Ausbeutung zum Ausdruck. Ausbeutung besagt, dass Armut nicht ›natürlich‹ ist, sondern die Folge davon, dass eine Gruppe von Menschen sich in den Besitz der Gewaltmittel zu setzen gewusst hat und so zur ›herrschenden‹ Klasse wurde.« https://archive.org/stream/OnRe​ volution/ArendtOn-revolution_djvu.txt

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nehmergeists ließ den Nutzer erst ans Steuer, nachdem die Unternehmen aus der entscheidenden ›Mainstreaming‹-Phase der Internetkultur bereits ihren Vorteil gezogen hatten und vom Ausbau der Breitbandnetze und der Ankunft des mobilen Internets nach vorne getragen wurden. Der wichtigste Slogan der Web-2.0-Ära war »nutzergenerierte Inhalte«. Mit Google als Hauptakteur verschoben sich die Profite weg von der Produktion und dem Verkauf kostenpflichtiger Inhalte und hin zur Ausbeutung von Nutzerdaten. Ob Bloggen, Photo-Sharing oder soziale Vernetzung, die Idee war immer, Komplexität und Nutzerfreiheit zu reduzieren und als Gegenleistung durch benutzerfreundliche Schnittstellen, freie Dienste ohne vertragliche Bindung und große Datenbanken mit kostenlosen Inhalten, durch die man sich durchklicken kann, zu ersetzen. Die Ideologie des Web 2.0 feiert die überall sprießenden Start-ups ob ihrer ›Vielfältigkeit‹ und begleitet sie auf populären Nachrichtenseiten der US-amerikanischen Westküste – man denke an TechCrunch und Hacker News, aber auch Slashdot, Wired, Mashable und ReadWriteWeb, neben den verschiedenen Aktivitäten der O’Reilly Verlagsgruppe und Konferenzen wie SXSW (Austin), LeWeb (Paris) und The Next Web (Amsterdam). Aber der eigentliche Begriff ›soziale Medien‹ markiert einen Medienwechsel, der durch Konsolidierung und Integration charakterisiert ist. Wenn wir über soziale Medien sprechen, beziehen wir uns im Wesentlichen auf Akteure wie Facebook, Twitter, Tumblr, Instagram und Pinterest, auf LinkedIn (als professionelles Netzwerk), Google+ (für Experten) oder Academia.edu, sowie auf Post-Blogging-Plattformen à la longreads.com und medium.com. Diese Reduktion findet unbewusst statt, was perfekt die (von den Unternehmen) gewünschte Übereinkunft auf einen allgemeinen Kommunikationsstandard illustriert, der in diesem dynamischen Umfeld bisher noch nicht möglich ist. In den sozialen Medien manifestiert sich eine Verschiebung von den HTMLbasierten Verlinkungspraktiken des offenen Webs zum Liken und Empfehlen innerhalb der geschlossenen Systeme. Die indirekte und oberflächliche ›Like Economy‹ verhindert, dass ihre Nutzer verstehen, worum es im offenen Web eigentlich geht. Mit Info-Handlungen wie Befreunden, Liken, Empfehlen und Updaten führen die sozialen Medien neue Schichten unsichtbaren Codes zwischen einem selbst und den anderen ein. Das Ergebnis ist die programmierte Reduktion komplexer sozialer Beziehungen und eine Verflachung sozialer Welten (siehe Zadie Smith in ihrem Beitrag für die New York Review of Books 7), in der es nur noch ›Freunde‹ gibt. Google+ wurde als Antwort auf die Möglichkeiten dieser New-Age-Weltsicht ins Leben gerufen, für ein Programmieren ohne Antagonismen. Das ist der Widerspruch des demokratisierten Internets: 7 | Zadie Smith, »Generation Why?«, www.nybooks.com/articles/archives/2010/nov/​ 25/generation-why/

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während viele von der vereinfachten Technologie profitieren, leiden wir alle unter den Kosten genau dieser Einfachheit. Facebook ist gerade wegen seiner technischen und sozialen Einschränkungen beliebt. Wir brauchen auf jeden Fall ein besseres Verständnis von Schnittstellen und Software und davon, wie unsere Daten in der Cloud gespeichert sind. Wir haben keinen Zugang zum Code mehr, und Bewegungen, die dieses Problem erkannt haben, sehen sich inzwischen im »Krieg gegen den Universal-Computer«, wie es Cory Doctorov auf dem 28. Chaos Computer Congress in Berlin im Dezember 2011 beschrieben hat.8 Während wir weiterhin offene Daten fordern, Open Source Browser nutzen und über Netzneutralität und Copyright streiten, sperren ›Walled Gardens‹ wie Facebook die Welt der technologischen Entwicklung aus und entwickeln eine ›Personalisierung‹, bei der Nachrichten außerhalb des eigenen Horizonts gar nicht mehr in die eigene Informationsökologie eindringen können. Ein anderer wichtiger Wendepunkt, der uns vom Web 2.0 zu den sozialen Medien brachte, war die Ankunft der Smartphones und Apps. Das Web 2.0 basierte immer noch ganz auf PCs. Die Rhetorik der sozialen Medien betont dagegen Mobilität: die Lieblings-Social-Media-Apps sind auf dem Handy installiert und werden immer mitgeführt, egal wo man gerade ist. Das Ergebnis ist Informationsüberflutung, Abhängigkeit und eine weitere Schließung des Internets, das nur mobile Echtzeit-Applikationen begünstigt und uns zunehmend in beschleunigte historische Energiefelder hineinzieht, wie die Finanzkrise, den arabischen Frühling und die Occupy-Bewegung. Im Juli 2011 ging das auf die Alternativen zu den sozialen Medien ausgerichtete Forschungsnetzwerk Unlike Us an den Start, gegründet vom Institute of Network Cultures in Zusammenarbeit mit Korinna Patelis (damals Cyprus University of Technology, Limassol). Die Einführungsveranstaltung fand am 28. November 2011 auf Zypern statt. Es folgten eine zweieinhalbtägige Konferenz mit Workshops vom 2. bis 11. März 2012 in Amsterdam und eine weitere, noch ein Jahr später und ebenfalls in Amsterdam.9 Im Februar 2013 kam der Unlike Us Reader raus, bald gefolgt von einer Sonderausgabe des Online-Journals First Monday. Die klassische Kampagne der Unlike-Us-Ära ist Europa vs. Facebook und wurde initiiert vom damaligen Wiener Jurastudenten Max Schrems.10 Die Snowden-Enthüllungen im Juni 2013 hatten zu dieser 8 | Cory Doctorow, »Lockdown, the Coming War on General-purpose Computing«, http://boingboing.net/2012/01/10/lockdown.html 9 | Für weitere Informationen über das Unlike-Us-Netzwerk, seine Mailingliste, kommende Veranstaltungen sowie das Blog und (wissenschaftliche) Veröffentlichungen siehe: http://networkcultures.org/wpmu/unlikeus/ 10 | http://europe-v-facebook.org/EN/en.html. Mehr zu seiner Sammelklage: https:// www.fbclaim.com/ui/page/faqs?lang=en

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Zeit einen starken Einfluss auf die Bemühungen, Alternativen zu den sozialen Medien zu fördern. Die Agenda der Geeks und Aktivisten erweiterte sich währenddessen drastisch, von individuellen Apps und Software-Initiativen bis zur Zukunft des Internets insgesamt.11 Dabei mussten die Alternativen nicht nur dezentralisiert und nicht-kommerziell, sondern von nun an auch mit kryptographischem Datenschutz auf allen Ebenen ausgestattet sein. Auf praktischer Ebene war das eigentlich mehr, als ein verstreuter Haufen von Hacktivisten, der von einem europäischen Zentrum für angewandte Forschung zusammengebracht wurde, bewältigen konnte. So traf sich die Unlike-Us-Gemeinde nach einiger Zeit nur noch in sporadischen, wenn auch interessanten Debatten auf der Mailingliste – ein deutliches Zeichen dafür, dass wir nie auch nur im Ansatz der Aussicht auf ein Verschwinden der sozialen Medien nahegekommen sind. Während sich sozialwissenschaftliche Unterfangen wie das von Christian Fuchs vor allem einer (marxistischen) Analyse der politischen Ökonomie der sozialen Medien widmeten12, war für Unlike Us vor allem ein breiter künstlerischer und geisteswissenschaftlicher Blickwinkel wichtig, der z. B. »WebÄsthetik« (untersucht von Vito Campanelli13) oder den aktivistischen Einsatz kleiner Peer-to-Peer-Netzwerke einschloss. Kritik und Debatten über alternative Medien sind hier jeweils an einer ästhetischen Agenda orientiert.14 Auch wenn die in den Unternehmenssilos Verbliebenen verständlicherweise einen Bedarf an praktischer Anleitung haben15, kann die kritische Forschung hier nicht stehenbleiben. Ein anderes soziales Netzwerk ist möglich. Sollten wir das semi-zentralisierte Modell einer globalen ›Föderation‹ wieder ins Auge fassen oder uns weiter für radikal dezentralisierte Modelle starkmachen? Kann ein ›föderiertes soziales Web‹ jemals mehr sein als eine Art unausgegorene Dritter-Weg-Alternative? 11 | Siehe z. B. die Berliner Konferenz am 1. Aug. 2013, mit Vorträgen von Christian Grothoff, Carlo von lynX, Jacob Appelbaum und Richard Stallman, https://gnunet.org/ internetistschuld. Der Slogan dazu lautete: »You broke the Internet. We’ll make ourselves a GNU one.« 12 | Christian Fuchs, Social Media – a Critical Introduction, London: Sage, 2014. 13 | Vito Campanelli, Web Aesthetics, Rotterdam: INC/NAi Publishers, 2010. 14 | Zu den künstlerischen Projekten in diesem Kontext zählen z. B. Crystal Pillars von Constant Dullaart, FriendFracker von Lozano-Hemmer & Reed (http://lozano-hemmer. com/friendfracker.php), Incautious Porn (http://incautious.org/), Owen Mundys www. commodify.us/, Julien Deswaefs Bot auf Facebook (http://loveMachine.cc), der Whatever-Knopf (www.shifteast.com/the-whatever-button-likes-it-all/) und Löhne für Facebook von Laurel Ptak (http://wagesforfacebook.com/). 15 | Wie z. B. Paolo Gerbaudo erörtert in: Tweets and the Street: Social Media and Contemporary Activism, London: Pluto Press, 2012.

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Zu den bekanntesten Social-Media-Alternativen gehören das spanische Netzwerk Lorea, das 2011 stark von den spanischen ›Indignados‹ genutzt wurde, und New Yorker Start-ups wie Diaspora, bei dem es allerdings nach einem erfolgreichen Fundraising von 200.000 Dollar über Kickstarter ein ziemlich katastrophales Ende gab: Erst gelang es nicht, unter den Aktivisten eine breitere Anhängerschaft zu gewinnen, und dann führte der Selbstmord eines der Gründer zu einer vollständigen Implosion. Erst mehrere Jahre später, nachdem der Code des Projekts offengelegt und der Community übergeben worden war, konnte die Plattform wiederhergestellt werden. Dazu kam, dass die meisten Social Media-Alternativen, wie April Glaser und Libby Reinish in einer Kolumne des Slate-Magazins feststellten, immer noch »zentralisierte Server, die kinderleicht auszuspionieren sind«16, nutzten. Weitere Initiativen wie Crabgrass, Friendica, Libertree, pump.io, hyperboria, GNU Social, the Dark Web Social Network und das IndieWeb-Toolkit existieren schon eine ganze Weile (in verschiedenen Abwandlungen), doch keine hat jemals eine kritische Masse erreicht, nicht einmal innerhalb der Aktivisten-Gemeinschaft.17 Die Anziehungskraft kommerzieller Projekte wie Instagram (heute ein Tochterunternehmen von Facebook) und Snapchat hat die allgemeine Stellung der großen Player nicht geschwächt. Die meisten amerikanischen Social Media Start-ups hatten nichts gegen Risikokapital und ließen sich leicht in das altbekannte Geschäftsmodell von schnellem Wachstum, Überwachung und Auswertung ihrer Nutzerdaten zwingen. Dies war auch der Fall bei Ello, das mit seinem Anti-Werbungsprinzip einen vorübergehenden Hype als potentielle Facebook-Alternative auslöste: »Wir glauben, ein soziales Netzwerk kann ein Werkzeug der Ermächtigung sein. Kein Werkzeug zum Täuschen, Nötigen und Manipulieren, sondern ein Ort, um sich zu verbinden, etwas zu kreieren und das Leben zu feiern. Du bist kein Produkt.«18 Immerhin hatte es ein gekonntes Design, ein Aspekt, dem die meisten Alternativen kaum Beachtung schenkten.19 Die ›Richard-Florida-These‹, dass Angebote, die zuerst 16 | April Glaser/Libby Reinish, »How to Block the NSA from your Friends List«, Slate, 17. Juni 2013, www.slate.com/blogs/future_tense/2013/06/17/identi_ca_diaspora_​ and_friendica_are_more_secure_alternatives_to_facebook.html 17 | Einen guten Einblick in die alternativen Social-Media-Projekte bietet die Arbeit von Robert Gehl, einem Forscher aus Salt Lake City und aktiven Mitglied von Unlike Us. Siehe sein Buch Reverse Engineering Social Media: Software, Culture, and Political Economy in New Media Capitalism, Philadelphia: Temple Press University, 2014, und seine Website www.robertwgehl.org/ 18 | https://ello.co/, Zitat vom 24. Sept. 2014, als der Dienst gestartet wurde. 19 | Michael Dieter schrieb dazu auf der Unlike-Us-Liste: »Es liegt etwas wirklich Reizvolles darin, wie sie bestimmte Erwartungen des Mainstream-Nutzererlebnisses umkehren, kritisch kommentieren und ihren offenkundigen Mangel an Features zu etwas

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von gegenkulturellen Künstler-, Schwulen-, Lesben- etc. Szenen, »den ›frühen Vögeln‹ der Kreativwirtschaft«, aufgegriffen werden, sich bald danach zum Mainstream wandeln, erwies sich nicht mehr als zutreffend. Christian Fuchs warf in die Debatte ein: »Werbefrei zu sein reicht nicht aus – entscheidend ist, dass man nicht-kapitalistisch ist, wenn man eine Alternative zu Facebook sein will. Ello macht nirgendwo klar, ob es nun ein gewinnorientiertes Unternehmen ist, ein Hobby-Projekt, ein Haufen Künstler oder eine Kooperative. Es scheint seinen rechtlichen Status zu verbergen, und das ist ein Problem. Ello sagt, es sei ein ›öffentliches Netzwerk‹. Aber man ist nur wirklich öffentlich, wenn man entweder ein öffentlicher Dienst ist oder im Allgemeinbesitz. Was Ello ist, ist unklar – und dass es seinen rechtlichen Status und sein Verhältnis zum Kapitalismus nicht bekanntmacht, finde ich beunruhigend.« 20

Daily Dot stellte die naheliegende Frage: »Was, wenn der Zweck eines sozialen Netzwerks tatsächlich soziale Vernetzung wäre, statt Geld zu machen?«21 Innerhalb weniger Wochen war das Kapitel für die meisten auf der Unlike-UsListe beendet. Letzten Endes bekam Ello dann auch sein Risikokapital22 und schaffte es innerhalb eines Jahres, immerhin über eine Million regelmäßiger Nutzer zu gewinnen. Auf die Größenordnung von Facebook zu kommen, könnte nur gelingen, wenn neue Initiativen gewillt wären, ganze Adressbücher zu importieren (möglichst hinter dem Rücken ihrer neuen Nutzer), um ein Hyperwachstum sicherzustellen. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir die Erwartungen an Alternativen herunterschrauben und uns auf die spezifischen Einflüsse der neu gebildeten Netzwerke konzentrieren statt auf Statistiken und Quantitäten (Klicks pro 1.000 Seitenbesuche, Likes). Unabhängig davon ist die Vorstellung, alle persönlichen Daten wie Fotos oder Profil-Updates auf nahtlose Weise von Facebook umzusiedeln zu können, aber auch unrealistisch. Ganz neu zu beginnen und Facebook komplett zu vergessen, könnte dagegen eine wesentlich reizvollere und befreiendere Geste sein.

Positivem machen. In dieser Hinsicht stellen sie innerhalb der sozialen Medien tatsächlich ein einvernehmliches Designexperiment dar, verglichen mit den üblen Exzessen von ›Dark Patterns‹ und ›Growth Hacking‹. (http://modelviewculture.com/pieces/thefantasy-and-abuse-of-the-manipulable-user/). Dinge wie die Hervorhebung des ProfilLöschen-Buttons und eine allgemeine Politik, den Nutzern und Buttons zu folgen, sind cool.« 20 | Christian Fuchs, Unlike-Us-Mailingliste, 26. Sept. 2014. 21 | www.dailydot.com/technology/diaspora-ello-facebook-battle-of-social/ 22 | Kommentar von Aral Balkan: https://aralbalkan.com/notes/ello-goodbye/

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Trotz des Gefühls der Stagnation gab es 2013 und 2014 lebendige Diskussionen über die Allgegenwart der sozialen Medien. Der Fokus verschob sich von ›Freunden‹ auf ›Interessen‹23, und man beschäftigte sich zunehmend mit ›kontextuellen Netzwerken‹24, vergleichbar den ›organisierten Netzwerken‹, die im letzten Kapitel dieses Buchs erörtert werden. Könnte Forum-Software eine Alternative sein? Inzwischen begannen auch normale Nutzer, sich Sorgen um den Schutz der Privatsphäre bei Facebook und Google zu machen.25 Die Liste kleinerer und größerer Alternativ-Apps und Social Network Tools ist gewachsen. Dazu gehören z. B. die Hater App (»statt Dinge zu posten, die du magst, poste Dinge die du hasst«), der EFF-Test für die Cybersicherheit mobiler Chats und die kommerzielle Firechat App, die für Nah-Kommunikation während der Proteste in Hongkong 2014 genutzt wurde.26 Die Freien-SoftwareInitiativen gewannen in diesem Jahr an Stärke, z. B. mit der Gründung des GNU Consensus Projekts, mit der NoisySquare-Versammlung während des Hacker-Camps Observe.Hack.Me und vor allem mit den You-Broke-the-Internet-Workshops27 während des 30. Chaos-Communication-Kongresses in Hamburg.28 Neben weiteren Eingriffen in die Privatsphäre wurde auch Facebooks »Venture Humanitarianism« kritisch hinterfragt, ebenso wie die internet. org-Initiative mit ihrem Vorhaben, begrenzte Web-Dienste in nicht-westlichen Ländern über Ballons oder Wi-Fi-Türme zur Verfügung zu stellen. Haben wir hier ein politisches Programm? Wie gehen wir mit dem politischen Bereich der Regulierung um? Oft hält man sich fern und verlangt gleichzeitig (von wem?), dass etwas geschehen müsse, um die Erosion des un23 | http://venturebeat.com/2013/06/05/with-12m-in-funding-ne3twork-aims-tobuild-a-web-experience-based-on-your-interests/ 24 | http://schedule.sxsw.com/2013/events/event_IAP407. Dave Winer: »Für die Generation der Leute, die mit Facebook aufgewachsen sind, kommen demnächst einfache Möglichkeiten, ihre eigenen sozialen Netzwerke zu schaffen, die nur für die Menschen zugänglich sind, mit denen sie sie teilen möchten.« http://threads2.scripting.com/20​ 13/march/whatComesAfterFacebook 25 | Ein Indikator dafür wäre der Forschungsbericht des niederländischen Unternehmens Sogeti mit dem Titel: »The Dark Side of Social Media«: vint.sogeti.com/wp-con​ tent/uploads/2013/04/VINT-The-Dark-Side-of-Social-Media-Alarm-Bells-Analysisand-the-Way-Out.pdf 26 | Ein Bericht über Firechat: http://breizh-entropy.org/~nameless/random/posts/ firechat_and_nearby_communication/ 27 | Die You-Broke-the-Internet-Kampagne bietet »Theorie und Praxis eines komplett verschlüsselten und verdunkelten Internet-Stacks, der uns die Entfaltung eines sorgenfreien digitalen Lebens erlaubt«. http://youbroketheinternet.org/ 28 | Informationen hierzu von Hellekin auf der Unlike-Us-Mailingliste vom 17. Feb. 2014.

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abhängigen Internets aufzuhalten. Man denke an den Post-Snowden-Slogan »We need to Fix the Internet«. Aber wer ist »wir« und an wen ist diese Forderung gerichtet? Das Problem geht zurück auf den moralischen Bankrott der Internet-Governance-Modelle, die wir in den letzten 25 Jahren gesehen haben. Wenn wir es der Ingenieurs-Klasse überlassen, bekommen wir zentralisierte Monopole: Internet Society, IETF, ICANN. Sie alle haben letztendlich Zensur, Filtern und monopolistische ›Märkte‹ ermöglicht und die zentralisierte Infrastruktur der Kabel und Datenzentren abgesegnet, die die Überwachung zur Normalität gemacht hat, von ›ad agency scales‹ bis zur NSA. Zu sagen, der Kampf um das offene Internet ist gescheitert, wäre noch viel zu nett ausgedrückt. Es muss eine andere Form von Regulierung geben. Und die Ingenieure können nicht einfach ihre Arbeit verlassen und sagen: wir hatten nichts damit zu tun. Niemand aus ihrem Lager hat versucht, Facebook zu stoppen. Mit ihrem blinden Glauben an ›Netzneutralität‹ haben sie sogar die Libertären in die Irre geführt. Ohne gleich ein internationales Strafgericht einsetzen zu wollen, müssen diese Fragen doch angesprochen und vor allem von unabhängiger Seite untersucht werden. Dies gilt auch, wenn wir Alternativen auf bauen wollen. Wir können die Dinge nicht mehr auf die alte Art machen. Es geht nicht mehr darum, den besseren Code zu entwickeln. Aber gleichzeitig müssen wir auch sehen, dass Regulierung keine Lösung ist, wenn die richtigen Ideen fehlen. Wir können Brüssel beschuldigen, zu langsam zu handeln, aber das bleibt eine symbolische Geste, wenn wir mit leeren Händen dastehen und keine Antwort auf die Frage haben, »welches andere Internet möglich ist«. Ohne alternative Konzepte und Entwürfe können wir die Internetindustrie nicht regulieren. Wir müssen uns durch das Digitale hindurcharbeiten; es gibt in diesem Fall nicht die sichere Position des Außenstehenden. Aber dies kann nur getan werden, wenn wir unsere Arbeit als politisches Projekt sehen und im Dialog mit der Politik. Oder wie Carlo es auf der Unlike Us-Liste formulierte: »Wir warten nicht mehr darauf, dass irgendwas von den Technikern kommt, denn das wäre wie Warten auf Godot.«29

29 | Carlo auf der Unlike-Us-Mailingliste am 24. Juni 2015: »Was wir brauchen, ist ein Gesetz, das Unternehmen den Zugang zu jeglichen Konversationen zwischen den Leuten verbietet.« Siehe auch: www.youbroketheinternet.org/#legislation

Hermes am Hudson Medientheorie nach Snowden

Ratschläge für junge Leute: »Hoffnung ist die Mutter der Dummköpfe.« (Polnisches Sprichwort) – »Die in dieser E-Mail geäußerten Ansichten sind nicht meine eigenen und dürfen nicht gegen mich verwendet werden.« (Fußzeile) – »Die schonungslose Wahrheit über den Anarchismus« (Buchtitel) – Zähme deinen Müll (3-Tages-Kurs) – »Auf Unsinn programmiert« – »Werden Sie zu einer Geldmacht mit einer Karriere bei Gramscience.« (Ian Bogost) – »Warum [beliebte Technologie] [unerwartete Meinung] ist« (4chan) – »Über die Begegnung mit algorithmischen Content-Flags« (Aufsatzuntertitel) – »Nicht nur anti-ästhetisch, sondern auch anästhetisch.« – »Du hast unsere Welt wiederhergestellt.« – »Warum ich mit dem Programmieren aufgehört habe und mich mehr auf mein Blog konzentriere« (mit 39123 Kommentaren) – »Bitte beachten: ich schaue nicht mehr in meinen Spam-Filter. Wenn deine Nachricht nicht beantwortet wird, schreibe sie um und schicke sie noch mal.« – Fröhliche Dunkle Zeiten – »Ich habe Soldaten auf Facebook tanzen sehen.« – »Stille und bescheidene Kryptographen habe eine höhere Ethik als Wortkünstler.« (John Young) –»Der Mensch plant und Gott lacht.« (Jiddische Redewendung) – Online-Petition an Google-Aktionäre: »Sei umgänglich, teile!« – »Du klingst wie der Betrunkene, der den Alkohol verteufelt, aber seine Flasche dabei nicht loslassen kann.« – »Wir brauchen deine Hilfe nicht, aber stopfe bitte unser Finanzloch.« (»afrikanische Redensart«) – »Ein Narr ist eine schlechte Nachricht, die auch noch abfärbt – lass sie nicht auf dich abfärben.« (WB) – »Mein Gott: tot. Meine Kenntnisse: vergeudet. Mein Skype: auf Empfang. Heuer mich an, vor deiner Klasse zu sprechen.« (Nein)

Aufklärung verheißt nicht nur neues Wissen, sondern zertrümmert auch Mythologien. Die Snowden-Enthüllungen im Juni 2013 markieren den symbolischen Abschluss des Zeitalters der ›Neuen Medien‹. Der NSA-Skandal hat die letzten Entschuldigungen für Cyber-Naivität außer Kraft gesetzt und die Internetfrage auf die Ebene der Weltpolitik gehoben. Die Integration der Kybernetik in alle Aspekte des Lebens ist vollzogen. Die großen Werte der Internetgene-

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ration -- Dezentralisierung, Peer-to-Peer-Kommunikation, Rhizome, Netzwerke  – sind in Stücke zerschmettert. Alles, worauf wir jemals geklickt haben, kann und wird gegen uns verwendet werden. Wir sind einmal im Kreis gelaufen und zu einer Welt vor 1984 zurückgekehrt. Das war nicht nur Orwells Jahr, sondern auch das Jahr, in dem Apple den Mac auf den Markt brachte und das Personal Computing die Medienlandschaft erreichte. Bis 1984 definierte eine kleine Gruppe multinationaler Unternehmen wie IBM, Honeywell-Bull und General Electric mit ihren sterilen Firmenrechnern, die Lochkarten verarbeiteten und Daten auf Bändern speicherten, die allgemeine Vorstellung von Computern. Bis 1984 wurden Computer von großen Bürokratien benutzt, um die Bevölkerung zu zählen und zu kontrollieren, und sie hatten ihre militärischen Ursprünge noch nicht abgeschüttelt. Die radikale Kritik des Personal Computings richtete sich zu dieser Zeit gegen die Totalität der Maschine. Wir klebten alle vor unseren Terminals, angedockt an einen Big Daddy-Mainframe.1 Und nun, dreißig Jahre später, ist der Computer wieder einmal das perfekte technische Instrument eines kalten militärischen Sicherheitsapparats, der darauf aus ist, das Andere einzuordnen, zu identifizieren, zu selektieren und letztendlich zu zerstören. Die NSA hat, mit aktiver Unterstützung durch Google, Facebook, Microsoft und alliierte Geheimdiensten, die ›totale Wahrnehmung‹ erreicht. Genau in dem Moment, da der PC von unseren Schreibtischen verschwindet, übernehmen große und unsichtbare Datenzentren seinen Platz im kollektiven Raum des Techno-Imaginären. Willkommen zurück im Zentralrechner. Die türkisch-amerikanische Web-Soziologin Zeynep Tufekci reflektiert die neue Lage: »Widerstand und Überwachung. Das Design der heutigen digitalen Werkzeuge macht die beiden untrennbar. Und wie man darüber denken soll, ist eine echte Herausforderung. Man sagt, dass Generäle immer den vorherigen Krieg führen. Wenn dem so ist, sind wir wie diese Generäle. Unser Verständnis der Gefahren durch die Überwachung wird durch unsere Gedanken über frühere Bedrohungen unserer Freiheit gefiltert.«2 Sie fordert von uns ein Update unserer Alpträume. Nehmen wir den Aufruf ernst. Wie können wir unsere Angstvisionen noch mit (freudianischen) Werkzeugen lesen, die auf alten griechischen Mythen basieren? Und wie können wir es nicht? Im Zeitalter der Smartphones sind archetypische Schichten neu verdrahtet worden und zu einem semi-kollektiven Techno-Unterbewussten mutiert. Wir träumen nie allein. Das Digitale hat sich in den unterschwelligen Bereich verschoben. Das Subjekt-als-Nutzer, dasjenige, das Selfies macht, kann tatsächlich nicht mehr

1 | Eine Formulierung, die in den frühen Neunzigern vom australischen cyber-feministischen Kollektiv VNS-Matrix verwendet wurde. 2 | Zeynep Tufekci, »Ist das Internet gut oder schlecht? Ja. Es ist Zeit, unsere Alpträume der Überwachung zu überdenken«, www.medium.com (17. Feb. 2014).

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wirksam zwischen real und virtuell, hier und dort, Tag und Nacht unterscheiden. Was ist Bürger-Ermächtigung in der Ära des fahrerlosen Autos? Ende 2013 wurde bei Chicago University Press der dritte Band der Trio-Reihe veröffentlicht. Excommunication umfasst drei kurz vor der Snowden-Affäre geschriebene längere Essays der in New York arbeitenden Neue-Medien-Wissenschaftler Alex Galloway, Eugene Thacker und MacKenzie Wark  – Theorie-Koryphäen der digitalen 1990er-Generation.3 Ihre gemeinsam verfasste Einführung zu diesen »drei Untersuchungen über Medien und Mediation« beginnt mit der breit geteilten Unzufriedenheit darüber, dass der Begriff ›Neue Medien‹ zu einem leeren Signifikanten geworden ist. »Was uns drei unter anderem verbindet, ist das Bedürfnis, vorhandenen Dingen nicht mehr das Etikett ›Neue Medien‹ anzuheften.« Wie es schon im Neunziger-Jahre-Slogan heißt: »new media are tired, not wired«. Oder im Jargon der Achtziger-JahreTheorie: Die neuen Medien haben sich vom schizoiden, revolutionären zum paranoischen, reaktionären Pol hin verschoben. Mode vorbei, nächster Hype? Falls ja, wie gehen wir mit den Überresten der Medienfrage um, im Bewusstsein, dass sie ›vorbei‹ ist, aber uns nie wirklich verlassen hat? Sind die traditionellen Medien neutralisiert, kaltgestellt worden und stellen keine Bedrohung mehr für die herrschenden Klassen dar? Haben sie, da jetzt alles digital ist, ihre Aura verloren? Ist Content nur noch für islamistische Dschihadisten von Interesse, die Medien wie Charlie Hebdo angreifen? Was bedeutet es, für eine ›Öffentlichkeit‹ zu publizieren, wenn wir nur noch eine Schaltfläche ›Senden‹ drücken müssen, die unsere Datei direkt auf einer privaten Datenbank abspeichert? Kurz gesagt, was gewinnen wir, wenn wir das Konzept Medien fallen lassen und es z. B. durch Netzwerk ersetzen? Oder im deutschen Kontext formuliert: Was ist Medientheorie nach Friedrich Kittler? Diese Frage begleitet uns schon eine ganze Weile. Es reicht nicht, dass der historische Flügel dieses Themas, die Medienarchäologie, zu einem definierten, erfolgreichen Fach geworden ist. Können wir von einer nächsten Generation sprechen, aufgewachsen in der Postmoderne und gereift nach dem kalten Krieg in der Ära der digitalen Netzwerke, die nun ans Ruder kommt? Aber ans Ruder von was? Es spricht viel für die These, dass die spekulative Medientheorie ihren bisherigen Höhepunkt in den achtziger Jahren hatte. Danach ging es nur noch um ihre mögliche Anwendung  – ermüdende und vorhersehbare Kollisionen mit der vorgegebenen politischen Ökonomie des globalen Kapitalismus. Worin bestehen das Mandat und die Tragweite der heutigen Medientheorie (wenn noch etwas von ihr übrig ist)? Siegfried Zielinsky 3  |  Alexander Galloway/Eugene Thacker/McKenzie Wark, Excommunication: Three Inquiries in Media and Mediation, Chicago: Chicago University Press, 2014. Eine frühere Version dieses Kapitels über die Arbeit des Trios erschien im e-flux journal #54, 04/2014, www.eflux.com/journal/hermes-on-the-hudson-notes-on-media-theory-after-snowden/

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ist einer der wenigen Theoretiker, die sich ernsthaft damit beschäftigt haben, was es für die Medientheorie bedeutet, dass sie ihren Forschungsgegenstand verloren hat.4 Sind wir bereit, die Überreste der neuen Medien an die Soziologen, Museumskuratoren, Kunsthistoriker und Verwalter der Geisteswissenschaften zu übergeben? Können wir vielleicht phantasievollere und produktivere Formen des Erscheinens oder, wie das Trio vorschlägt, des Verschwindens inszenieren? Sind wir bereit für andere Formen der Zweckentfremdung und Verkleidung inmitten des neuen Normalen? Es gibt viele Möglichkeiten, Excommunication zu lesen. Eine wäre, das Zusammenkommen des Trios selbst als einen möglichen Trend zu betrachten. Sind die Neue-Medien-Theoretiker bereit, zur neuen Generation öffentlicher Intellektueller zu werden und dem Beispiel von Evgeny Morozovs zu folgen? Es fällt dennoch schwer, von einer ›aufstrebenden‹ New Yorker Schule der Medientheorie zu sprechen. Es wäre zwar cool, aber entspricht nicht der Wirklichkeit. Welche Zutaten brauchen wir, um von einer Schule zu sprechen? Ein Programm? Umfangreiche Forschungsgelder? Institutionelle Macht? Einflussreiche akademische Positionen, etwa Lehrstühle? Nichts davon scheint im Moment vorhanden zu sein. Anstelle endloser Vergleiche zwischen New York, Los Angeles, London, Paris oder Berlin im Stil einer albernen (neoliberalen Universitäts-)Stadtmarketing-Logik wäre es sinnvoll, sich auf das im 18. Jahrhundert gepflegte Modell der Philosophie als Korrespondenz zu besinnen – so wie sie heute über Mailinglisten, Foren, Blogs oder Twitter stattfindet. Man suche sich seine Plattform aus und beginne, den Ideen dieser Print-Zusammenarbeit des Trios in die digitalen Gefilde zu folgen. Ist es die Aufgabe der Medien(-theorie), die Welt zu erklären? Die Drei aus New York scheinen diese Idee aufgegeben zu haben. Nicht nur zweifeln sie an der grundsätzlichen Möglichkeit, ihre Forschungen zu kommunizieren, sondern auch daran, dass Theorie die Wahrheit über unsere technologischen Objekte und Prozesse überhaupt aufdecken kann – jetzt, da der User als Datenpunkt gar nicht mehr klar zwischen menschlichem Fleisch mit seinen metaphysischen Schichten und der vernetzten Maschinerie unterscheiden kann. Was bedeutet es im Kontext der ›neuen Medien‹, dass die Hermeneutik, wie Alex Galloway schreibt, in einer Krise steckt? »Warum die Winkel des menschlichen Geistes ausloten, wenn die Neurowissenschaften genau bestimmen können, was Menschen denken? Warum soll man versuchen, ein Bild zu interpretieren, wenn eigentlich nur der Preis wichtig ist, den es auf einer Auktion erzielt?«5 Wie wir schon in den neunziger Jahren feststellten, war die meiste Medientheorie in ihrer Natur spekulativ und projizierte ihre Konzepte 4 | Siegfried Zielinski, … After the Media: News from the Slow-fading Twentieth Century, Minneapolis: Univocal Publishing, 2013. 5 | Excommunication, S. 29.

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in die Zukunft, in der Hoffnung, irgendwann mit ihnen Kasse zu machen. Schon vor zwei Jahrzehnten ist es vielen Texten über Medien nicht gelungen, Chips, Computercode und Interfaces zu theoretisieren (Friedrich Kittler und ein paar andere ausgenommen). Die Unfähigkeit der Theorie, die treibenden Kräfte unserer Zivilisation aufzudecken, hat zu einer Selbstmarginalisierung der Künste und Geisteswissenschaften geführt. Was bedeutet es nun, wenn wir unser Vertrauen in die Zukunft der Medien verloren haben und im kalten Speicher von Big Data uns selbst überlassen bleiben? Der Kontrast zur Filmanalyse der 1980er, die von Semiotik, postmoderner Philosophie und Psychoanalyse durchdrungen war, könnte größer nicht sein. Die neuen Medien waren, und sind immer noch, spekulativ, nicht hermeneutisch. Neue Medien(-künste) suchen unermüdlich nach Geräten und Diensten, die revolutioniert werden könnten (Drohnen, 3D-Drucker, Biotech, RFID-Chips). Die fetischisierende Aufmerksamkeit gegenüber den Geräten führt aber dazu, dass sie uns als Forschungsgegenstand entgleiten. Wir müssen Computercode, Netzwerkarchitekturen, Nutzerschnittstellen usw. auf den Seziertisch legen und sie in Hinblick auf ein wirkliches Verständnis des Gesamtzusammenhangs in eine neue Ordnung bringen. Der Wille zur Exegese mag noch vorhanden sein, aber die Black Box ist gegen eine zerlegende Analyse resistent. Das ist die wahre hermeneutische Krise. Sie entsteht, weil die Theoretiker nicht gelernt haben zu programmieren, aber auch, weil das Objekt der Untersuchung einfach nicht mehr verfügbar ist (man denke an all die kommerziellen Algorithmen, die sich immer mehr dem Zugriff entziehen). Eine narrative Rekonstruktion tieferer Bedeutungsebenen ist im digitalen Medienzeitalter schwer zu schaffen, nicht zuletzt, weil in dieser McLuhan-Ära niemand mehr in die Falle der Inhaltsanalyse läuft. Die Botschaft des Mediums ist seine zugrundeliegende Struktur. Es ist wohl vor diesem Hintergrund zu sehen, dass sich in der New Yorker Medientheorie eine ›griechische Wende‹ vollzieht, in der das Internet über Vergleiche mit Hermes, Iris und die Furien (aber auch entlang zeitgeistiger Fahrwasser wie Badiou, Laruelle, Nancy und andere) interpretiert wird. Wie Wark zusammenfasst: »Hermes steht für die Hermeneutik der Interpretation, Iris für das Schillern der Unmittelbarkeit, und die Furien stehen für den Schwarm des verteilten Netzwerks.«6 So nimmt sich Excommunication die Freiheit, aus dem politischen Alltag der Snowden-Skandale herauszutreten und sich einer hoch kodierten Sprache zuzuwenden, die Namen aus der griechische Mythologie verwendet, um die revolutionäre Minderheit zu erreichen. Laut Leo Strauss bringt Verfolgung einen besonderen Typus Literatur hervor, die »nur an kluge und vertrauenswürdige

6 | Excommunication, S. 153.

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Leser gerichtet ist«.7 Ist das die Form und das Publikum, die Wark, Galloway und Thacker im Sinn hatten? Sind sie unter Überwachung und in Gefahr? Verschlüsseln sie ihren Austausch, um sich sowohl vor der NSA als auch vor dem Trommelfeuer der Banalitäten auf Twitter und Facebook zu schützen? Wer weiß. Die Unterdrückung des unabhängigen Denkens durch Selbstzensur hat eine lange Geschichte, wie Strauss erklärt. Könnten wir es als freiwilligen Akt der Selbstmarginalisierung bezeichnen? Oder eher als Bedürfnis, von etablierten Philosophen anerkannt zu werden? Ist es die Überflutung der sozialen Medien, die diese Autoren dazu drängte, »Verständnis mit Vorsicht zu kombinieren«, oder sind die Scheiterhaufen der Ausgrenzung bloße Geste? Was auch immer dahintersteckt, es bleibt die Frage, welche Art von Diskursen die freie Rede in einer digitalen Ära wiederbeleben kann. Ich möchte nicht zwischen den Zeilen lesen. Wo so viel auf dem Spiel steht, schlage ich vor, lieber die Debatte zu öffnen als diesen Text in ein Becken von Fehlinterpretationen hineinzuziehen. Können wir gar sagen, dass Medientheorie an sich für die Mehrheit suspekt ist? In Anbetracht der wachsenden Kluft zwischen der Nutzung von Computern (und vergleichbaren Geräten) und der Stagnation der neuen, akademischen, Medientheorie müssen wir diese Frage ernst nehmen. Bei den ›griechischen‹ Referenzen hätte noch Michel Serres’ beeindruckende Arbeit über Hermes gefehlt. Odysseus fließt nicht durch meine Adern. Währenddessen versäumen es die deutschen akademischen Größen, sich um die Übersetzung ihrer Hauptwerke zu kümmern, ohne die kein echter internationaler Dialog stattfinden kann. Ein akutes Beispiel wäre Friedrich Kittlers letzte zweibändige Arbeit über Musik und Mathematik, in der er seine Ideen ausschließlich im Kontext der griechischen Philosophie positioniert. Zeitgenössische deutsche Theoretiker kommen im internationalen Diskurs weiterhin selten vor und sind gewöhnlich schon über fünfzig oder sechzig, bevor sie übersetzt werden, oder sie sind gezwungen, direkt auf Englisch zu schreiben (was in den Niederlanden und den skandinavischen Ländern schon seit Jahrzehnten normal ist). Tut man aber das New Yorker Trio als Möchtegern-Europäer ab, die gerne in griechischen Zungen sprechen, weicht man der Debatte aus, um die es hier eigentlich geht: Töte all deine Lieblinge bzw. ›wie sagt man den Neuen Medien Lebewohl‹. In einem Klima der Dringlichkeit und Stagnation, Wut und Depression geht es den Leuten immer weniger um das Neue. Der in der gesamten Medientheorie zu beobachtende Trend, sich vom Forschungsgegenstand zu entfernen, lässt sich auf eine Vielzahl von Quellen zurückverfolgen: von Neil Postman über Bilwets Unidentifizierbare Theorieobjekte in ihren Medienarchiv-Essays von 1993, George Steiners Von realer Gegenwart, Goffey und Fullers Evil Media7 | Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Chicago: The University of Chicago Press, 1988, S. 25, dt. Die Kunst des Schreibens, Berlin: Merve, 2009, S. 29).

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Strategien, Florian Cramers Anti Media bis zum Lüneburger Post-Media-Lab (einer Kollaboration zwischen dem Magazin Mute und der Leuphania-Universität) mit Provocative Alloys: A Post-Media Anthology und vergleichbaren Inkarnationen des ›Post-Digitalen‹ in der Kunst. Als ein Promoter solcher Verschiebungen erklärt Florian Cramer: »Wenn man die Idee der Medien entlarvt, sich aber nicht von ihr befreien kann, bleibt immer noch Anti-Media übrig.«8 Das New Yorker Trio erklärt, es gehe »weniger einer post-medialen als vielmehr einer non-medialen Verfassung nach«.9 Die Kernfrage des Trios lautet: »Was ist Mediation?« Sie zu stellen bedeutet, sich das Gegenteil vorzustellen: es gibt keine Kommunikation ohne Exkommunikation. Was wenn wir aufhören zu vermitteln? Statt sich mit dem andauernden Aufstieg der vernetzten Welt zu beschäftigen, studieren die Autoren lieber die »Unzulänglichkeit der Mediation« und »Formen der Mediation, die sich gegen Bidirektionalität richten, Determiniertheit vermeiden und sich völlig von den Geräten lösen«.10 Nicht alles, was existiert, muss repräsentiert und vermittelt werden. Schauen wir auf das große Jenseits. Inwiefern unterscheidet sich diese Position von der klassischen Agenda der Dekonstruktion, der ›Glitch‹-Ästhetik à la Rosa Menkman oder sogar von der Philosophie der ›Exploits‹ (Werkzeuge, um Sicherheitslücken auszunutzen), wie sie Galloway und Thacker selbst formuliert haben?11 Schon dort haben die Autoren für Gegen-Protokolle plädiert, für eine ›Anti-Web‹-Haltung oder, um es philosophisch auszudrücken, eine ›außergewöhnliche Topologie‹. Wenn wir Offline-Romantik ausklammern, wie könnten wir diese Analyse in ein praktikables politisches Programm übersetzen? Sich eine spezifische Ästhetik auszumalen, ist eine Sache. Eine Vielzahl von Künstlern arbeiten in dieser Richtung. Im Post-Snowden-Zeitalter reicht es nicht mehr, Open-Source-Alternativen zu fordern, die nur die Vorgaben der herrschenden Plattformen (›Freunde‹-Logik und dergleichen) kopieren. Die Logik und Ordnung des sozialen Graphs selbst ist zu hinterfragen. Können wir eine kollektive Intelligenz zusammenbringen, die fähig ist, sogar die Prinzipien einer anderen Kommunikation zu formulieren? Excommunication ist nicht nur eine Referenz auf eine Welt nach den Medien, auf das Post-Digitale oder Post-Mediale, wie manche diese nächste Pha8 | Eine ausführlichere Zusammenfassung der ›Post-Digital‹-Debatte vom März 2014 findet sich im Archiv der Nettime-Mailingliste: http://nettime.org/Lists-Archives/net​ time-l-1403/threads.html 9 | Excommunication, S. 21. 10 | Excommunication, S. 10. 11 | Alexander R. Galloway/Eugene Thacker, The Exploit, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2007; siehe auch: http://dss-edit.com/plu/Galloway-Thacker_The_ Exploit_2007.pdf

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se charakterisieren. Es geht auch um ein buchstäbliches Lesen von Akten der Macht. Wir sind aus dem Paradies der neuen Medien exkommuniziert worden und plötzlich mit der kalten Logik der großen Politik konfrontiert. Vor etwa einer Generation dachten die Leute, es sei möglich, die Bedingungen, unter denen sie kommunizieren, weiterzuentwickeln. Ein Impuls – Do-it-Yourself – verband Punks, Geeks und Entrepreneurs. Unsere radikale Desillusionierung nach Snowden wäre dagegen einzustufen als säkulare Version der Entdeckung des späten 19. Jahrhunderts, dass Gott tot ist. Trotzdem ist der geistliche Tadel dieser Epoche im Kern kein technologischer. Wir sind nicht aus den Netzwerken vertrieben worden. Smartphones und Tablets wurden nicht konfisziert. Das Problem ist weder zunehmende Zensur noch verbesserte Filtertechniken, die uns nur halb bewusst sind. Technologische Blockaden können umgangen werden. Wir können uns mit Schichten von Krypto-Schutzschilden panzern. Doch das Problem geht viel tiefer. Was die NSA-Enthüllungen entfesselt haben, ist die existentielle Unsicherheit, die in dem Moment eintritt, in dem »alles was man sagt, gegen einen verwendet werden kann und wird«. Die langfristigen Auswirkungen einer solch radikalen Zerstörung des informellen Austauschs sind noch unbekannt. Wird die Online-Kommunikation förmlicher werden? Wird es weniger Trolle geben? Kurz gesagt, werden neue Kulturen des Konflikts hochkommen, unterdrückt werden oder gar nicht erst auftauchen? Was bedeutet es, zu exkommunizieren oder exkommuniziert zu werden? Wir werden hier nicht aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen. Eher entfernen wir uns aus eigenem Antrieb, weil der Reiz des Gemeinsamen sich verflüchtigt hat. Es ist unsere Unzufriedenheit, die uns zum Weiterziehen veranlasst. Viele spüren den sozialen Druck von Facebook und Twitter und ziehen sich zurück oder verstummen, bleiben aber in dieser ›partizipatorischen Kultur‹ und ihrem stillen Alptraum der Präsenz vorsorglich doch noch halb eingeloggt. Wenn Gemeinschaft zur Ware wird, kann es nicht überraschen, dass wir diese Plattformen schnell durchlaufen und so leicht auch wieder verlassen, wie es kürzlich bei der sicheren Facebook-Alternative Ello geschehen ist. Ohne ihren vollen libidinösen Antrieb sind soziale Medien eine tödlich langweilige Nummer. Sie fühlen sich an wie Arbeit. Arbeit für wen? Immer noch werden die sozialen Medien durch die spielerische Dialektik von anonymem Voyeurismus und exhibitionistischem Vorzeigen des Selfies am Laufen gehalten, aber das wird wahrscheinlich bald vorbei sein. Wenn dieses produktive Paar erst zur Routine wird, taumeln die Statistiken und die Massenmigration zur nächsten Plattform setzt ein. Das ist nun von E-Mail und Verlinken auch auf den Social-Media-Bereich übergegangen. Was passiert, wenn die ReTweets und Likes versiegen und die fieberhafte Rund-um-die-Uhr-Obsession ihre Bedeutung verliert? Wie sich gezeigt hat, reicht es nicht, zu folgen und Follower zu haben. Der Akt des Folgens bleibt passiv und unsichtbar, solange

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es keine Kommunikation gibt, während es einem sozialen Tod gleichkommt, wenn man aufhört zu kommentieren. Die von Snowden ausgelöste Krise ist dagegen von einer ganz anderen Kategorie. E-Mails in einen nicht-reagierenden, verlassenen Cyberspace zu verschicken, mag Tod bedeuten; aber die Herrschaft eines nicht-reagierenden Großen Anderen ist die Hölle. Es gibt einen wachsenden Konsens, dass ›das Internet kaputt ist‹ und repariert werden muss. Für die Googles und Facebooks wird es immer schwieriger, zum normalen Betrieb zurückzukehren. In diesem historischen Moment besitzen die Stimmen der technologieorientierten Intellektuellen eine strategische Bedeutsamkeit. Trotz aller Vorbehalte ist es doch Slavoj Žižek, der Fälle wie Pussy Riot, Occupy Wall Street, Snowden und die Demonstrationen in Bosnien zur Diskussion zu bringen vermag. Wenn es allerdings darum geht, sich direkt mit den (neuen) Medien zu beschäftigen, fällt er unweigerlich zurück in seine 1980er Hollywood-Filmanalysen. Jodi Dean macht es mit ihren Analysen zu Blogging und ›kommunikativem Kapitalismus‹ besser. In der Snowden-Ära hat sich eine neue Generation von Internet-Studien entwickelt, die in den Sozialwissenschaften wurzelt und ihren Schwerpunkt sowohl auf quantitative Forschung zu ›Big Data‹ als auch auf ›digitale Ethnographie‹ legt. Die Forscher behandeln ein Spektrum von Themen, die für den Bereich ›Medien und Gesellschaft‹ zentral sind, scheuen aber vor der Art von Theorie, wie sie jahrzehntelang in den Geisteswissenschaften gepflegt wurde, zurück. Sie fragen: warum ist Theorie so wichtig? Im Grunde ist es doch nur Text. Aber die Macht und das Potential der Theorie liegen eben genau darin, dass sie die Fähigkeit hat zu reisen – zwischen Kontexten und Kontinenten, Organisatoren und Praktikern. Im Gegensatz zu akademischen Forschungsergebnissen, die in geschlossenen Fachzeitschriften veröffentlicht werden, hat sie außerdem höhere Chancen, nicht nur von einer Disziplin wahrgenommen zu werden. Zweifellos ist das offene Wort gegenüber der Macht heute zu einer ungewohnten Geste geworden  – nicht weil die Wissenschaftler konformistischer geworden wären, sondern weil es seit Ewigkeiten keine Einigkeit mehr darüber gibt, wie man Widerspruch ausdrücken, vermitteln und organisieren soll. Die Ausbreitung der Nachrichten-Seiten, Blogs, Social-Media-Plattformen und Online-Journalen (offen oder geschlossen) hat sich so schnell vollzogen, dass niemand mehr weiß, wie Wissenschaftler den öffentlichen Diskurs überhaupt ändern könnten. Die radikale Desillusionierung, die uns ergriffen hat, verlangt auch eine Neubestimmung der Rolle der Theorie. Jede kurze Studie kann zeigen, dass die Rolle des Theoretikers von Kommentatoren und Journalisten übernommen wurde. Wie in den meisten Ländern ist auch in den Vereinigten Staaten die Medientheorie institutionell nur schwach vertreten, und die Tatsache, dass die meisten Internetkritiker in diesem Land keine (etablierten) Akademiker sind (Carr, Lanier, Keen, Morozov, Pariser und andere), sagt alles. Man kann ähnliche Beobachtungen bei den Programmen und Festivals zu

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neuen Medien und Medienkunst machen, die immer mehr zurückgehen. Es ist unschwer zu erkennen, dass die traditionellen Film- und Fernsehprogramme das Spiel gewonnen haben. Digitale Geisteswissenschaften werden uns hier nicht heraushelfen, ebenso wenig wie die ›Kommunikationswissenschaften‹ mit ihrem angewandten PR-Wissen. In diesem Kontext sollten wir vielleicht besser zu den Klassikern zurückkehren und die griechischen Götter als Allegorie für den ›Glauben‹ der Medientheorie lesen. Der Post-Media-Trend mündet in einen Rückzug der Theorie zugunsten weitgehend unkritischer Werkzeuge und Methoden, die von den MainstreamSozialwissenschaften, auf der Suche nach neuen Beschäftigungsfeldern, eifrig eingesetzt werden. Digitale Geisteswissenschaften können als eine Ablenkung betrachtet werden – eine pragmatische, aber verzweifelte Geste, das Verschwinden der Geisteswissenschaften aufzuhalten. Aber digitale Stärke ist kein rettendes Alleinstellungsmerkmal für schrumpfende Disziplinen wie Philosophie, Geschichts- oder Literaturwissenschaft. Auch ist es nicht die Aufgabe der Medientheorie, Visualisierungswerkzeuge zu entwickeln, die die Nützlichkeit von in diesen Disziplinen generierten Ideen beweisen. Man kann sich darauf verlassen, dass die Big-Data-Welle bald vorbei ist, aber die damit verbundenen Probleme bleiben bestehen: die Quantifizierung von Allem wird im Hintergrund still weitergeführt. Währenddessen sieht sich die Internet-Forschung in einer Theoriekrise. Die Situation erinnert stark an die, die Niklas Luhmann auf der ersten Seite seiner Sozialen Systeme (1984) beschrieben hat, wo er beobachtet, dass »eine im ganzen recht erfolgreiche empirische Forschung unser Wissen vermehrt, aber nicht zur Bildung einer facheinheitlichen Theorie geführt hat«.12 Als Konsequenz, schreibt Luhmann weiter, »kehren diejenigen, die sich für allgemeine Theorie interessieren, zu den Klassikern zurück. […] Die Aufgabe ist dann, schon vorhandene Texte zu sezieren, zu exegieren, zu rekombinieren. Was man sich selbst zu schaffen nicht zutraut, wird als schon vorhanden vorausgesetzt.« Wie lässt es sich verhindern, dass eine solche Situation auch im Feld der Internet-Studien eintritt?13 12 | Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 7. 13 | Der monodisziplinäre Ansatz der Soziologie, den nordamerikanische Soziologen 1999 mit der Gründung der Association of Internet Researchers etabliert haben, ist bislang weder infrage gestellt noch verändert worden. Die AoIR wird als nordamerikanische wissenschaftlich-akademische Organisation betrieben, mit allen daraus resultierenden kulturellen Besonderheiten wie der Wichtigkeit von sozialwissenschaftlichen Peer-Review-Zeitschriften, Hotelkonferenzen mit Frühbuchertarifen oder Vorstandswahlen, wobei sie nur die Internet-Forscher einschließt, die sich für eine Laufbahn innerhalb des angelsächsischen Universitätssystems mit seinen speziellen Titeln (Early Career Scholars, Tenure Track Professorship etc.) und Karrierepfaden entschieden haben. Da-

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Warum soll man Konzepte ausarbeiten, ob spekulativ, kritisch oder pragmatisch, wenn es eine Meta-Autorität gibt, die alles überwacht? Warum im Scheinwerferlicht konspirieren? Um im Geiste von Pink Floyd zu reimen: Wir brauchen keinen zweiten Gott. Big Brother ist in vielen Varianten und an vielen Orten angekommen und wird dort auch bleiben, wenn wir nicht gemeinsam den Mut haben, seine installierte technische Infrastruktur wieder abzubauen. Wir müssen uns Widerstandswissen aneignen, wie wir Drohnen aus der Luft holen, Sensoren aufspüren, Server hacken, GPS-Signale verfälschen und die Googles aus den Angeln heben, indem wir ihre Datenbanken täuschen und zur Vergesellschaftung aller Datenzentren aufrufen. Vergesst den nächsten Innovationszyklus. Wenn die vorherrschende Hacker-Paranoia der Wahrheit entspricht, dann haben wir den Krieg schon vor Jahren verloren und sind längst umzingelt. Bald werden wir zur Kapitulation aufgefordert, einer nach dem anderen. Um es auf Deleuzianische Begriffe zu bringen, verfolgen wir immer noch das Ziel, Konzepte zu erschaffen, oder schalten wir um und verwenden unsere Zeit darauf, Welten zu zerstören? Im letzten Jahrzehnt wurde immer auf die affirmative, helle Seite dieses französischen Philosophen abgehoben. Nun schwingt das Pendel verspätet auf seine dunkle Seite.14 Sind wir im Begriff, uns aufzulösen, Identitäten auseinanderzunehmen, uns aus den überexponierten öffentlichen Bereichen zurückzuziehen, die Netzwerke zu ent-falten, die Ströme der Links und Likes zu unterbrechen und die fröhliche Produktion der Zeichen auf Eis zu legen? Wie das New Yorker Trio richtig feststellt: Auf dem Spiel steht das Schicksal der Medientheorie an sich. Alt oder neu, visuell oder literarisch, digital oder post-digital, die Medientheorie lädt uns zu einer anderen Lesart der Vergangenheit ein. Aber warum muss es so sein, dass wir, wenn wir Medien und Theorie verschmelzen, unweigerlich in die Vergangenheit gezogen werden? Genauso gut könnten wir die These aufstellen, dass uns die Medienperspektive zu einer spekulativen und spielerischen Basteltheorie bringt, eher als zu einer Theorie als kritischem Werkzeug, um die Gegenwart zu sezieren. »Die Medien sind uns fremd«, heißt es in der Einleitung von Excommunication. Wie sollen wir das verstehen? Schließt sich der Kreis zur, sagen wir, rumänischen ›Fernsehrevolution‹ im Dezember 1989, der der Slogan »die Medien sind mit uns« erst im Nachhinein angeheftet wurde?15 Offensichtlich hat mit werden nicht nur Programmierer, Philosophen, Designer und Künstler auf Abstand gehalten, es wird auch verkannt, dass die meisten Internet-›Forscher‹ in Wirklichkeit in Unternehmen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen und nicht im akademischen Bereich arbeiten. 14 | http://bit.ly/NwwoIm 15 | http://monoskop.org/The_Media_Are_With_Us

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dieser politisierte vitalistische Impuls die Mediensphäre verlassen. Die Medien sind tot, lang lebe die reine, unmittelbare Erfahrung? Haben sich die drei selbst aus der Szene herausgenommen? Ich sehe das anders. Immerhin haben sie ein Buch geschrieben, sie twittern und so weiter. Auszug heißt nicht Rückzug. Die dionysische Dunkelheit hilft uns, aus der unerträglichen Helligkeit der Transparenz herauszutreten. Theorie und Kritik müssen ihren eigenen Raum besetzen, neben Reddit, Hacker News und Verge, wo sich früher ZDNet, Wired, Slashdot und TechCrunch aufhielten. Könnten Longreads und Medium, das jüngste Start-up des Twitter-Gründers, eine Bewegung in diese Richtung sein? Die Theorie hat immer die Möglichkeit, sich in ihr eigenes Reich abzusetzen und die Verbindung zu aktuellen Problemen, die eine kritische Intervention verlangen, abreißen zu lassen. Die Medientheorie kann sich diesen Rückzug jedoch nicht leisten. Im Moment ist sie einem Angriff ausgesetzt, in Gestalt des Big Data Hypes, der sowohl spekulative wie kritische Ansätze zu marginalisieren droht. Warum noch Konzepte und ihre Hintergründe analysieren, wenn man sich in einem Meer von Daten verlieren kann? In einem zukünftigen Methodenstreit 2.0 sollten wir über die kleinbürgerliche Verteidigung der freien Künste und Geisteswissenschaften hinausgehen und deutlich machen, dass es keine Software ohne Konzepte und keine Konzepte ohne Vermittlung gibt. Wo sind die Software-Forschung und die Philosophien der Praxis, jetzt, wo wir sie brauchen? Bernard Stieglers pharmakologischer Ansatz wäre vielleicht geeignet, der herrschenden Exodus-Stimmung entgegenzuwirken. Trotz seiner düsteren Analysen bleibt Stiegler einer der wenigen zeitgenössischen Denker, die gleichzeitig in den Feldern der Philosophie und der digitalen Medien aktiv sind, ohne dass er dabei versucht, zwischen diesen eine künstliche Synergie zu konstruieren. Ebenso hat Evgeny Morozov, der osteuropäische USA-Migrant, der sich dem amerikanischen Traum nicht fügen will, über die Realität und die Alternativen des Silicon Valley geschrieben, die dem Anschein nach von hegemonialen Konzepten infiziert sind, einschließlich ihrer Hintertüren für die NSA. Seine kompromisslosen Attacken hatten Wirkung, und die breite Resonanz auf seinen neuen Begriff ›Solutionism‹ ist ziemlich bemerkenswert. Ein digitaler Widerwille liegt in der Luft, und der Reiz der Offline-Romantik ist weithin spürbar. Doch für die NSA sind dies belanglose Gefühle. Der Sicherheitskomplex bleibt im Unklaren über unser Hin- und Hergerissensein zwischen Online- und Offline-Welt. Vom Gezi-Park in Istanbul über die Aufstände in Brasilien im Juni 2013 bis zum Maidan in der Ukraine formieren wir uns wirklich zu Wellen von Wutausbrüchen und delinquenten Rudeln (um es in McKenzie Warks Begriffen zu sagen). Ein theoretisches Dilemma wird dabei besonders diskutiert: geschehen die Aufstände trotz oder aufgrund der sozialen Medien? Zeynep Tufekci meint dazu, dass »die beste Methode Ideen auszuformen, nicht in der offe-

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nen Nötigung liegt, sondern in einer verdeckten Verführung, die auf Wissen basiert«. Welche Rolle kann die Theorie bei dieser Verführung spielen? Ein vorübergehendes Innehalten scheint unverzichtbar, wenn man die Routinen aufbrechen will. Excommunication als ein Streik der Bedeutung, ein Boykott des Informationsaustauschs? Zeynep Tufekci erklärt: »Die Internettechnologie erlaubt es uns, trennende und ablenkende Schichten abzutragen und uns direkt, von Mensch zu Mensch, zu begegnen. Gleichzeitig werden diese Begegnungen von den Mächtigen beobachtet und benutzt, um herauszufinden, wie man uns gefügiger machen kann.«16 Wir sind heutzutage zerrissen zwischen dem verführerischen Aspekt des Zusammenkommens und der Furcht davor, wissentlich Material zu liefern, das gegen uns verwendet werden kann. Lasst uns die binäre Logik von Online/Offline und Partizipation/Exodus abschütteln und stattdessen gemeinsam andere Formen der sozialen Interaktion und Organisation gestalten, die auf nachhaltigem Austausch, starken Verbindungen und einer sinnlichen Vorstellungskraft beruhen und es uns erlauben, die gegebenen kulturellen Formate (von der Bildungsfabrik bis zu Facebook) zu überschreiten. Was wir jetzt brauchen, sind philosophische Antworten auf den Kult der Selfies; mehr Interventionen gegen die moralisierende Angstmache vor Aufmerksamkeitsverlust und einer unterstellten Ablenkungsepidemie; weitere Untersuchungen zur Dialektik von Aufmerksamkeit, Ablenkung und der 24/7-Ökonomie des Schlafentzugs (wofür der Essay von Jonathan Crary eine brillante Grundlage liefert17); eine ungeschminkte Konfrontation des zeitgenössischen Kunst-Systems mit seiner digitalen Blindheit; eine weitere Stärkung des Neuen Materialismus und ähnlicher Untersuchungen von Hybriden zwischen Realem und Virtuellem; eine Ästhetik der Drohnen; eine Politik des Internets der Dinge; komplexe, genderbewusste Theorien des Programmierens; mehr! Es reicht nicht, die sozialen Medien durch ein umfassendes Trainingsprogramm im Sloterdijk-Stil zu ›meistern‹, wenn wir all diese entscheidenden Kapitel unseres immer stärker medialisierten Lebens weglassen. Wir müssen Software-Features sichtbar machen, ihre Funktionsweisen verdeutlichen und ihre verborgenen Infrastrukturen politisieren. Wie kann die Medientheorie über ihren eigenen Schatten springen? Excommunication ist ein Versuch, neue Zugänge zu finden. Wenn es je eine Medienfrage gab, so erreicht sie jetzt ihren existentialistischen Moment.

16 | Zeynep Tufekci, »Is the Internet good or bad? Yes. It’s time to rethink our nightmares about surveillance«, www.medium.com, 17. Feb. 2014. 17 | Jonathan Crary, 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep, New York: Verso, 2014, dt.: 24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin: Wagenbach, 2014.

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Die Einkommensmodelle des Internets Ein persönlicher Bericht

»Vor hundert Jahren warnte der deutsche Dichter Heinrich Heine die Franzosen davor, die Kraft der Ideen zu unterschätzen: Philosophische Begriffe, in der Stille eines Studierzimmers entstanden, können ganze Zivilisationen zerstören. […] Seltsamerweise scheinen unsere Philosophen die weitreichenden Auswirkungen ihres Tuns nicht zu bemerken.« I saiah B erlin1 »Zum Nachteil der Kreativwirtschaft kann man leider Geld und Prestige verdienen, wenn man die rätselhafte, kindliche Haltung fördert, dass alles frei verfügbar sein soll. Die Mittel, die von Soros’ Open Society Initiative an Kampagnen wie A2K, von der EU an NGOs wie Consumer International oder gar von den britischen Steuerzahlern an Mittlerorganisationen wie Consumer Focus weiterverteilt werden, alle schreiben sie den Mythos fort, dass es eine ›Balance‹ gibt – dass wir reicher sein werden, wenn die Urheber ärmer sind, dass wir eine freiere Gesellschaft bekommen, wenn wir weniger Individualrechte haben, und dass langfristig gesehen die Vernichtung der Einkommen für die Urheber sowohl wünschenswert als auch ›nachhaltig‹ ist.« A ndrew O rlowsk i 2

1 | Isaiah Berlin, »Two Concepts of Liberty«, in: Isaiah Berlin, Liberty, Oxford: Oxford University Press, 1969, S. 119, dt. »Zwei Freiheitsbegriffe«, in Freiheit: Vier Versuche, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1995, S. 198. 2 | »Popper, Soros and Pseudo-Masochism«, gepostet am 2. Mai 2012. http://andre​ worlowski.com/2012/05/02/popper-soros-and-pseudo-masochism/

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»Content für alle, Einkommen für wenige.« Wie normal das geworden ist. Die Netzkritik des Freien reicht zurück in die späten neunziger Jahre3 und wurde über die letzten Jahre immer lauter und deutlicher.4 In der Folge der globalen Finanzkrise und der Neubewertung des Schuldenproblems in der neoliberalen Wirtschaft blieb das Modell des Freien zwar praktischer Standard, verlor aber seine Aura der Unbesiegbarkeit. »Wenn du nichts dafür zahlst, bist du das Produkt«, diese Erkenntnis ist inzwischen weit verbreitet und wird in vielen Facebook-Debatten geteilt. Aber die Kritik am ›freien‹ und ›offenen‹ Geschäftsmodell, das sich eine ureigene Fortschrittlichkeit und Subversivität zugutehält, ist heikel.5 Wenn man sich schnell Feinde machen will, ist das der richtige Weg. Gewöhnlich endet es damit, dass man entweder das herrschende Urheberrecht verteidigt oder die edlen persönlichen Motive derjenigen, die den eingeschränkten Informationsfluss verteidigen, infrage stellt. Wofür man sich entscheidet ist egal, und beide Positionen sind jeweils absolut berechtigt, besonders für die, die in Widersprüchen versinken möchten. Ich habe jedoch nie den Sinn dahinter verstanden, warum es fair sein soll, für den Internetzugang einen monatlichen Betrag zu bezahlen, aber nicht für das Online-Magazin, das man jeden Tag liest. Die jüngsten Spielarten des Freien sind mit den Plattformen entstanden, auf denen das Freie, im Rahmen einer imaginären Zeitschiene und Übereinkunft, die alle Beteiligten in ein sich in der Zukunft erfüllendes Gewinnversprechen einbindet, gänzlich spekulativ wird. Dieses ›Freie‹ führt uns in eine neue Form von antizipatorischem Kapitalismus, der im Laufe der Zeit immer mehr Nutzerprofile anhäuft. Plattformen versuchen, anderen Plattformen Marktanteile zu stehlen, aber nur, um einen eigenen, internen Markt zu schaffen. »Wenn du sie baust, kommt auch das Geschäft«, lautet das Mantra des antizipatorischen Monopolkapitalismus. Technisch gesehen hat in dieser monopolartigen Demokratie jeder Erbauer die Chance, einen Mehrheitsanteil des Marktes zu erlangen. Sich darüber zu beklagen, ist was für Verlierer. Monatliche Beiträge oder andere Einnahmemodelle würden das gewünschte 3 | Siehe z. B. die Free4What-Kampagne vom November 1999, die während des Temporary-Media-Lab-Projekts im Kiasma Museum in Helsinki entwickelt wurde: http:// project.waag.org/free/ 4 | Ein jüngeres Beispiel ist Peter Osnos, »The Enduring Myth of the ›Free‹ Internet«, The Atlantic, Feb. 2013, http://m.theatlantic.com/technology/archive/2013/02/the-en​ dur​i ng-myth-of-the-free-internet/273515/. Siehe auch: Nathaniel Tkacz, »From Open Source to Open Government: A Critique of Open Politics«, Ephemera, vol. 12, no. 4, 2012, und sein Buch Wikipedia and the Politics of Openness, Chicago: The University of Chicago Press, 2015. 5 | Eine erste Version dieses Kapitels erschien in der Sonderausgabe zum Thema ›Geld‹ des von Shu Lea Cheang in Paris herausgegebenen CMD Magazine im Sommer 2015.

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Hyperwachstum nur ausbremsen. Auf diese Weise ein Start-up aufzuziehen, ist ohne Risikokapital natürlich nicht machbar. Ist die Monopolstellung erst einmal erreicht, geht alles an den Sieger. Das Ideal jeder erfolgreichen Plattform ist eine Masse von Plattformabhängigen – begeisterten Nutzern, die fortan keinen Grund mehr sehen, woanders hinzugehen. Die Logik von Fair Play und Konsumentenvertrauen ist an diesem Punkt längst vergessen, und die Eigentümer der Plattformen können nun anfangen, ein richtiges Geschäft zu machen, an die Aktienbörse zu gehen und andere vernetzte Investments zu akquirieren. (Und wenn das ›Freie‹ seinen Zweck einmal erfüllt hat, kann man es sogar auch wieder aufgeben.) Diese Ideologie des ›freien Contents‹ dient in erster Linie den Risikokapitalisten, die die Pioniere, die selbst einmal Monopolisten werden wollen, abstützen. Das Risikokapital-Modell gewährleistet, dass es immer genug Ressourcen gibt, um Wettbewerber auszuschalten, nicht ohne den Einsatz zynischer (jedoch als ›kreativ‹ bezeichneter) Werkzeuge wie viralem Marketing, ›kreativer Buchführung‹ (mit Hilfe von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften) und internen Management-Tricks. Oft entledigt man sich im Zuge dessen auch gleich der ersten Generation, die das Unternehmen aufgebaut hat. Um so schnell wie möglich den höchsten Marktanteil zu erreichen, sind mehrere Investitionsrunden nötig, in denen die Cloud-Infrastruktur, die Marketingabteilungen und die globale Präsenz vergrößert werden. Schon 2008 hat der Wired-Chefredakteur Chris Anderson die Ideologie des Freien einmal zusammengefasst  – in einem Moment, in dem sie gerade noch ihre Unschuld und Verführungskraft besaß und als ›unausweichlicher Endpunkt‹ der technologischen Entwicklung präsentiert werden konnte.6 Es war immer die Ideologie der Plattform-Zeiten, dass es zum spekulativen ›Freien‹ keine Alternative gibt. Die gute Nachricht ist, dass seit der globalen Finanzkrise von 2008 die heftigen Debatten über freien Content und andere Kernthemen des ›Freien‹ – die Positionierung von Creative Commons und Free-Culture-Bewegung, die Politik des Crowdfunding und die bizarren Hortungstendenzen von Bitcoin – offener ausgetragen werden. Die kläglichen Erlöse von Streamingdiensten wie 6 | Siehe: »Free! Why $ 0.00 is the future of business«, www.wired.com/techbiz/it/ma​ gazine/16-03/ff_free?currentPage=all, sowie das Buch von Chris Anderson, das kurz nach dieser Wired-Coverstory erschien: Free: The Future of a Radical Price, New York: Hyperion, 2009 (dt. Free – Kostenlos: Geschäftsmodelle für die Herausforderungen des Internets, Frankfurt a. M.: Campus, 2009). Robert Levines kritisches Buch Free Ride, How Digital Parasites are Destroying the Culture Business, and How the Culture Business can Fight Back, wurde kurz danach, 2011, bei Anchor Books, New York, herausgebracht. Allerdings erwähnt Levine nicht, dass das alte Urheberrechtssystem für Künstler nicht funktionierte, und scheint sich nur Gedanken über die wirtschaftlichen Interessen der klassischen Kulturindustrie wie Print, TV, Film und Plattenlabel zu machen.

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Spotify sind schon durch alle Nachrichten gegangen, mit freundlicher Genehmigung von Taylor Swift. Selbst der neoliberale Grundkonsens, dass ›frei‹ und ›offen‹ per se wertvolle Ziele sind, dürfte bereits auseinandergebrochen sein. Aber wo geht’s weiter? Liegt die Perspektive darin, immer mehr Bereiche der kreativen Lebensführung zu monetarisieren, oder sind wir vor allem an einer fairen Verteilung der Einkommen interessiert? Wie könnten Kreative ihren Lebensunterhalt auf anderen Wegen sichern? Als deregulierte Barkeeper oder Aushilfslehrer, die ihrer kreativen Arbeit nebenher weiter nachgehen? Durch Gründung von Verbänden oder neuen Gewerkschaften? Sollte man es mal damit versuchen, durch die Provinz zu touren und Konzerte zu geben? Wo können Kreative heute überhaupt an ›Realkapital‹ kommen? Aber bevor wir uns die Alternativen anschauen, fassen wir diese Debatten einmal zusammen. Die Fragen, die zum Thema des ›Freien‹ aufgeworfen werden, rühren an den Kern dessen, was es bedeutet (oder nicht bedeutet), in den Medien oder der Kulturindustrie zu arbeiten. Wann sollen wir das Freie begrüßen und unterstützen und wann sollen wir lieber skeptisch bleiben? Was ist der Unterschied zwischen ›frei‹ und ›offen‹, wenn diese Begriffe von Künstlern, Gestaltern oder Kreativarbeitern verwendet werden? Und wo liegen unsere Prioritäten und Abgrenzungen zum Beispiel im Vergleich mit dem Stallman-Raymond-Streit zwischen freier Software und Open Source in den späten neunziger Jahren, oder wie führen sie darüber hinaus? Können wir noch mehr vom politischen Begriff der Offenheit lernen, wie ihn Karl Popper so prägnant formuliert hat?7 Gibt es andere historische Beispiele sogenannter ›offener Gesellschaften‹, mit wirklich gemeinsamem Besitz oder Ressourcen, die uns Antworten auf diese Fragen geben? Ist die Unterscheidung von ›commons‹ (Gemeingut) und ›common‹ (üblich) nur ein weiteres englisches Sprachspiel (ist das erste wirklich ideal – und das zweite zu gewöhnlich?)? Oder ist hier etwas Dialektisches am Werk? Nicht zuletzt, was ist der Unterschied zwischen ›Common‹ und ›Communism‹? Verschieben wir diese Fragen einmal konkreter auf die Ökonomie unserer eigenen Industrie: in welchem Verhältnis steht unbezahlter Crowd-SourcingContent zu den Gewinnen der Vermittler und Aggregatoren wie Apple, Google oder Spotify? Wie ›üblich‹ ist es heute, dass Inhalte noch von bezahlten Angestellten stammen, die für etablierte Medien oder Label arbeiten, statt von unabhängigen Kulturproduzenten? Hier werden Statistiken benötigt. Ist eine Quelle noch ›offen‹, wenn die unbezahlte Aufmerksamkeit der Nutzer quanti7 | Nathaniel Tkacz untersucht diese Frage in Wikipedia and the Politics of Openness. Ihm zufolge definiert Popper Offenheit nur auf eine negative Weise, nämlich als weder faschistisch noch kommunistisch. Erst in den letzten Jahrzehnten (seit 1989?) ist die Macht des Offenen zum Handeln übergegangen. Während Tkacz sich mit Offenheit beschäftigt, gilt mein Interesse hier aber eher dem ›Freien‹.

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fiziert und an Werbekunden verkauft wird? Ist Offenheit ein absolutes (entweder/oder) Konzept oder wäre es sinnvoller, über Offenheit in verschiedenen Abstufungen nachzudenken, je nachdem, an welchem Projekt wir gerade beteiligt sind? Ist es alternativ möglich, eine Ethik der relativen Schließung – im Gegensatz zur Offenheit  – zu entwickeln, wenn spezifische kulturelle Kontexte dies verlangen? Könnte eine Ethik situationsbezogen gelten? Eins steht fest: es gibt keinen Weg zurück zu den alten Urheberrechtsregeln. Doch wie schaffen wir dann nachhaltige Einkommen für ›Digital Natives‹ und bringen die auseinandergehenden Interessen von Professionellen und Amateuren in Einklang? Wie bestimmen wir die jeweiligen Bewertungsmaßstäbe – individuell, gemeinschaftlich und strategisch – innerhalb und jenseits des monetären Rahmens? Es ist wichtig, dass die unumgängliche Kritik an den Begriffen des ›Freien‹ und ›Offenen‹ in einer Welt jenseits des geistigen Eigentums zu wirklich tragfähigen ökonomischen Modellen führt. Wenn Künste und Geisteswissenschaften, Theorie und Kritik bei der Gestaltung vernetzter Gesellschaften eine zentrale Rolle einnehmen wollen, müssen sie auch Einkommensmodelle entwickeln – andernfalls werden die kritischen Praktiken verschwinden (oder gar nicht erst in Erscheinung treten). Ein erster Schritt wäre, der Kultur des Freien und ihren Software-Gurus (wie Stallman), die nicht das geringste Interesse daran zeigen, wie Künstler sich im Internet-Zeitalter finanzieren können, offen zu widersprechen. Aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass es in der Argumentation dieser Leute von bewusster, strategischer Bedeutung ist, im Konzept des Freien ihr ›gratis‹ mit unserem ›Freibier‹ zu verknüpfen. Stallman will das Wörterbuch ändern, um aus der gegenwärtigen Geschichte irgendwie herauszukommen. Er sollte seinen Kreuzzug abbrechen und sich an zeitgemäßeren Debatten beteiligen – zum Beispiel darüber, wie freie Software und Kryptowährungen sich zueinander verhalten könnten (und zwar so, dass auch Content-Produzenten davon profitieren, nicht nur Progammierer).8 Das ist keine ›persönliche‹ Provokation. Es geht nur um etwas, was die FreieSoftware-Bewegung völlig übersehen hat: die Tatsache, dass für Millionen von 8 | Ich bin stolz, Content-Produzent zu sein. Anders als Rick Falkvinge denke ich nicht, dass das Wort ›Content‹ eine böse Erfindung der Urheberrechts-Lobby ist. Am 30. Aug. 2015 schrieb Rick auf der Torrent Freak Site, »das Wort ›Content‹ bedeutet, dass es auch einen ›Container‹ geben muss, und dieser Container ist die Urheberrechtsindustrie.« Aus der Perspektive des unabhängigen Publizierens ist das einfach nicht der Fall. Unsere eigenen Kanäle brauchen auch Content. Ich stimme Falkvinge jedoch zu, dass Sprache wichtig ist. Aus meinem Verständnis heraus unterscheide ich Content von (Meta-)Daten und Code sowie von dem Kontext und der umfassenderen Ökologie, in die jede kreative Äußerung eingebettet ist. https://torrentfreak.com/ when-youre-calling-culture-content-y-150830/

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Menschen Software und IT-Architekturen zunehmend zur Einkommensquelle geworden sind. Die Geek-Kultur wollte immer eine eigenartige ›saubere‹ Trennung dieser zwei Welten: »Ich bin cool, aber ich werde dir nicht sagen, womit ich mein Geld verdiene.« Über diesen Punkt sind wir hinaus. Das Medium unseres privaten Einkommens ist politisch, und Cyberwährungen werden ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein. »Nur Handwerker kopieren: Künstler kreieren« – noch mal Isaiah Berlin. Die politische Ökonomie des Internets bleibt – von einer kritischen kulturellen Perspektive aus gesehen  – ein ungenügend erforschtes Thema. Dies betrifft nicht nur das Geschäftsmodell von Start-ups, sondern berührt den Kern von Software-Architektur und mediatisiertem Leben. Der Kult der ›Freien‹ zeigt sich bereits seit den späten achtziger Jahren als beherrschendes Apriori. ›Frei‹ und ›offen‹ zu sein galt als natürliche Eigenschaft des Mediums selbst. Das gehörte einfach dazu, als das Internet kam, man hatte gar keine Wahl. PC, Multimedia und Internet wuchsen deshalb so schnell, weil die Industrie sich um die Beschaffung der Inhalte nicht kümmern musste. Apple wurde groß mit dem Slogan ›Rip ’n’ Burn!« Auch Chris Andersons Free: The Future of a Radical Price greift stark auf die Open-Source-Philosophie zurück, um sich (wieder einmal) den Kampf gegen Plattenlabel und Rechteinhaber auf die Fahnen zu schreiben und (wieder einmal) die Auseinandersetzung mit dem Problem der Bezahlung für die eigentliche kulturelle Produktionsleistung zu verweigern. Seine magere Empfehlung für Musiker ohne Verkaufserlöse besteht darin, sich auf Live-Konzerteinnahmen zu konzentrieren. Seit jeher bezahlen wir für unseren Netzanschluss, Hardware und Software, aber nicht für die Inhalte. Ihre Bezahlung steht einfach nie zur Diskussion. Jedes Mal, wenn ich das Tabu gebrochen und gefragt habe, warum Service-Provider monatlich Geld bekommen aber die über sie zugänglichen Künstler nicht, habe ich von den Hackern böse Blicke geerntet. Wir bräuchten einen besseren Slogan als ›Zugang für alle«; es war immer Zugang zu etwas. Es gibt nicht so etwas wie Zugang zu rien (nichts). Werden die Angestellten der Netzanbieter bezahlt, weil sie härter arbeiten oder weil ihre Arbeit unsichtbar ist, unverzichtbar oder eine Dienstleistung? Warum wurde das Internet nicht weiter als öffentliche Infrastruktur betrieben wie zu seinen Anfängen? Warum haben wir noch nie Computerexperten, so wie ihre Künstler-Freunde, an der Supermarktkasse gesehen, damit sie abends ihren freien Code schreiben können? Und wenn die ganze Konstellation schon von vorneherein in einer Schieflage war, warum haben wir uns nicht darum bemüht, die Architektur zu einer Zeit zu verändern, als es noch relativ leicht möglich gewesen wäre? Von freier Software bis zu freier Musik hat sich eine Kopierkultur etabliert, die es für Content-Produzenten im Kulturbereich schwer macht, durch den direkten Verkauf ihrer Arbeit ein ausreichendes Einkommen zu erzielen. In seinem Buch The Wealth of Networks (2006) offenbarte Yochai Benkler die

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Grenzen seiner eigenen Open-Source-Philosophie, die den Kampf gegen Plattenfirmen und Rechteinhaber feiert, der Einnahmesituation von Künstlern und Content-Produzenten aber keine Beachtung schenkt. In seinen eigenen Worten: »Aus der Perspektive des allgemeinen Sozialwohls wäre es am effizientesten, wenn diejenigen, die die Information besitzen, diese frei zu Verfügung stellten – oder höchstens zu den Kosten ihrer Kommunikation.«9 Die Frage, wer letzten Endes vom »Wohlstand der Netzwerke« profitiert, wird nicht gestellt. Könnten es vielleicht diejenigen sein, die den Zugang bereitstellen und die Informationen aggregieren? Benkler sagt dazu nichts. Der Bezug zu Adam Smiths Wohlstand der Nationen läuft ins Leere; in dieser Imitation einer Wohlstandsverteilungsdiskussion wird keine politische Ökonomie formuliert, geschweige denn die Kritik einer solchen. Es sind offensichtlich widersprüchliche Kräfte am Werk, wenn befristete freiberufliche Tätigkeiten als neoliberale Ausbeutung angeprangert und gleichzeitig als Freiheit des individuellen, kreativen Arbeiters angepriesen werden. Der Aufstieg des Web 2.0 und der mit ihm verknüpften Wirtschaftsmodelle hat den Stand der kreativen Arbeit erheblich erschwert. Am einen Ende des Möglichkeitsspektrums, beispielhaft verkörpert in Wikipedia, beruft man sich auf den Glauben, dass Information nicht kommerzialisiert werden sollte, und steht in direkter Verbindung zur Free-Culture-Bewegung. Während dieses Modell bei bestimmten Vorzeigeprojekten sehr effektiv war, basiert es doch fast vollständig auf freiwilliger Arbeit und schließt so eine sich selbst tragende kreative Tätigkeit aus. Am anderen Ende des Spektrums sehen wir Unternehmen wie Red Hat oder Ubuntu, die sich an Eric Raymonds Open-Source-Initiative orientieren und darauf ausgerichtet sind, den freiwilligen Input ihrer User letztlich in neue Güter zu verwandeln. Auch bei diesen Initiativen kommt es selten vor, dass die Einnahmen jemals an die weitergegeben werden, die den Inhalt schaffen. Kritiker dieses zweiten Produktionsmodus haben auf seine Parallelen zum immensen Anteil an freiwilliger Arbeit hingewiesen, die in Plattformen wie YouTube oder Facebook mit ihren parasitären Formen der ›Wert-Erschließung‹ gesteckt wird. Ein verwandtes Thema ist die Vermischung der traditionellen Kategorien von Arbeit und Spiel, wenn Online-Plattformen als Freizeiträume beworben werden, um ihren Output dann als Ware zu verwerten und den spekulierenden Oberschichten üppige Einkommen zu bescheren. Diese zweifelhafte Form von Wertschöpfung verzichtet nicht nur darauf, ›kreative Leistungen‹ zu vergüten, sondern untergräbt auch die Idee des (professionellen) kreativen Künstlers selbst. Lawrence Lessig und Axel Bruns haben den Aufstieg der kreativen Amateure gerühmt, aber auch aufgezeigt, dass gerade 9 | Yochai Benkler, The Wealth of Networks, New Haven: Yale University Press, 2006, S. 37.

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die Vermischung von Arbeit und Spiel ein zentrales Element neuer Formen der Ausbeutung ist. Warum stehen die Amateure in dieser Diskussion so viel stärker im Vordergrund als die aufstrebenden Künstler? Es scheint nötig, dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Intensitäten der kreativen Arbeit (gelegentlich, regelmäßig, professionell) und ihrer jeweiligen Wertschöpfung mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

D as P rivate ist finanziell »Das Private ist politisch«. Dieses Mantra aus der Frauenbewegung der siebziger Jahre ist selten auf unsere Finanzlage übertragen worden. Geld war immer ein privates Schicksal (»verflucht, wenn man es hat, und verflucht, wenn man es nicht hat«). Aber ›Geld machen‹ im buchstäblichen Sinne gelingt nur den alerten Jungs der Wall Street, wenn sie mit den Ersparnissen der anderen spekulieren – die Übrigen dürfen sich damit abmühen, ein paar Münzen zusammenzukratzen.10 Mit den sinkenden Einkommen der Mittelschicht werden die Alltagsfinanzen jedoch zu einem politischen Thema. Schulden sind heute eine öffentliche Angelegenheit. Nach 2008 können wir nicht mehr sagen: »Wir haben es nicht gewusst.« Können wir endlich mal vom Entstehen eines ›Virtuellen Klassenbewusstseins‹ sprechen?11 Während das Teilen von Ressourcen zu einer finanziellen, politischen und ökonomischen Notwendigkeit wird, sind die Währungen, mit denen die Restrukturierung durchgeführt wird, bereits im Blickfeld einer wachsenden Zahl von Geeks, Künstlern und Aktivisten. Wir müssen auch über die Ästhetik des Geldes nach den Banken sprechen. Aber vorher möchte ich zurückblicken und von den Situationen und Sackgassen meiner eigenen persönlich-politischen Auseinandersetzung mit der Netzökonomie berichten  – als ein exemplarisches Narrativ darüber, wie sich Kultur und Geldsystem über die letzten Jahrzehnte verwoben haben –, aber auch darüber nachdenken, warum das Silicon Valley uns bislang davon abgehalten hat, Werkzeuge zu nutzen, mit denen die Ressourcen neu verteilt werden können. Inmitten der nicht enden wollenden Wirtschaftskrise der achtziger Jahre erlebte auch ich eine Art existentielle Krise. 1983 hatte ich mein Politologiestudium mit einer Magisterarbeit über die Finanzierung alternativer Projekte 10 | Ole Bjerg, Making Money: The Philosophy of Crisis Capitalism, London: Verso, 2014. 11 | Siehe den klassischen Text von Arthur Kroker und Michael Weinstein: Data Trash: Theory of the Virtual Class, New York: St Martins Press, 1994, der wie so viele seiner Zeit an der spekulativen Überschätzung einer ›Körperpolitik‹ in Bezug zur ›virtuellen Realität‹ und an einer relativen Vernachlässigung der Netzwerkfähigkeiten von Internet und Mobiltelefonen krankte, denn das Internet passte nicht in die Kategorien der französischen Theorie jener Zeit (und tut es immer noch nicht).

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abgeschlossen. Sie enthielt auch eine (gemeinsam mit Eveline Lubbers erstellte) Fallstudie über die landesweit in einer Auflage von ca. 2.500 Exemplaren verteilte Hausbesetzer-Wochenzeitung Bluf!, die ich 1981 mitgegründet und ein Jahr lang mitproduziert hatte. Wie andere aus meiner Generation lebte ich von Sozialhilfe, wohnte in besetzten Häusern und trampte zwischen Amsterdam und Berlin hin und her, während Reagan und Thatcher bereits zum neoliberalen Gegenschlag ausholten. Den traurigen Niedergang der autonomen Bewegungen, an denen ich teilgenommen hatte, vor Augen und frisch aus der akademischen Sphäre ausgeschieden, gab es für uns Post-Hippies (oder Prä-Yuppies) erst einmal wenig berufliche Einstiegsmöglichkeiten. Ich fühlte ich mich zu sehr als unabhängiger Intellektueller, um mich mit den journalistischen Leitbildern bürokratischer NGO-Aktivisten identifizieren zu können. So beschloss ich Mitte 1987, mich fortan als ›Medientheoretiker‹ zu bezeichnen (wohin auch immer das führen würde). Kurz zuvor war ich mit meiner wöchentlichen Theoriesendung bei Radio 100 und später Radio Patapoe in die freie Amsterdamer Radio-Szene eingestiegen, hatte den Alternativverlag Ravijn gegründet und verfolgte meine Theorie-Ambitionen als Mitglied der Agentur Bilwet (ein Kürzel für »Stiftung zur Beförderung der illegalen Wissenschaften«). Mein Amsterdamer Studiengang ›Massenpsychologie‹, bekannt als Kurt-Baschwitz-Institut12, war 1985 aufgelöst und seine Reste in die neu gegründete und von behavioristischen Soziologen beherrschte Kommunikations- und Medien-Fakultät integriert worden. Trotz aller Revolten und autonomen Bewegungen war uns völlig bewusst, dass die ›umherziehenden Mengen‹ nicht mehr als Gefahr betrachtet wurden. Es gab vor Ort übrigens auch keinen Ableger der deutschen Medientheorie. Das Deutsch-Studium war durch und durch retro-hermeneutisch und auf eine historische Perspektive deutscher Literatur verengt. Wie sollte ein ›Medientheoretiker‹ seinen Lebensunterhalt bestreiten? Die Richtung gaben Videokunst, Underground-Kultur, digitale Utopien und Hacker-Kongresse vor. Fünf Jahre später hatte sich meine Job-Situation immer noch nicht verbessert, aber ich beendete die staatliche Unterstützung trotzdem und begann, bezahlte Essays im Medienkunstbereich zu schreiben, Vorträge zu halten und in der Amsterdamer Kulturszene (die inzwischen in der Hand der Baby-Boomer war) organisatorisch mitzuwirken, während ich gleichzeitig in Teilzeit für den staatlichen niederländischen Radiosender VPRO arbeitete. 1992 kam ich 12 | Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Kurt_Baschwitz: »Baschwitz trug auch zur Gründung eines ›Seminariums‹ für Massenpsychologie, öffentliche Meinung und Propaganda an der Universität von Amsterdam bei, das 1972 in Baschwitz-Institut Institute für kollektive Verhaltensstudien umbenannt und 1985 mit der Abteilung für öffentliche Meinung innerhalb des Fachbereichs Kommunikationswissenschaften verschmolzen wurde.«

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auf 700 US-Dollar im Monat, kaum mehr als der Sozialhilfe-Scheck. 1989 war die Welt erneut in eine Rezession gestürzt. Trotzdem begann nun der Boom der ›neuen Medien‹, unter spekulativen Überschriften wie ›Multi-Media‹, ›Virtual Reality‹ und ›Cyberspace‹. Anfang 1993 bekam ich einen Internetzugang. Mit Unterstützung meiner Hackerfreunde lud ich mein Archiv digitaler Texte hoch, das seit 1987, als ich meinen ersten PC in Betrieb genommen hatte, schon recht umfangreich geworden war. In diesem Kontext habe ich auch die ersten öffentlichen Diskussionen über das Fehlen einer ›Internet-Ökonomie‹ auf die Tagesordnung gesetzt. Ich hörte oft begeistert davon reden, dass das Internet ›frei‹ sein werde. Aber die Nutzer mussten ihren Internetzugang bezahlen und auch in ihre Hardware wie PCs, Bildschirme, Drucker und Modems investieren. Bei Software war die Situation nicht so eindeutig. Von Anfang an standen sich Shareware und Freeware und kommerzielle Software gegenüber; Spiele bildeten eine weitere Grauzone. Wie sollte man sich hier orientieren? Meine Hackerfreunde meinten: »Wenn du nicht in die alten Medien oder in den akademischen Bereich willst, versuche, ein Stipendium zu kriegen oder einen Job im Kulturbereich, aber glaube nicht, dass dir das Internet ein Einkommen gewähren kann.« Ich widersprach, aber hörte mir ihren Rat trotzdem an. »Such dir einen Hauptberuf und nutze die Nacht, um das zu machen, was du wirklich machen willst. Bring den Cyberspace zum Beben. Das ist sowieso die Bestimmung des Schreibens und aller Kunstformen.« Oder: »Werde Entrepreneur und starte dein eigenes Unternehmen. Mach eine Umschulung, lerne programmieren und werde einer von uns.« 1993 konnte man mit Webdesign gutes Geld verdienen, nur hatte das auch wieder nichts mit Inhalten zu tun, sondern wirkte eher wie eine gehypte, aber kurzlebige Zwischenlösung. Schreiben, ob journalistisch, literarisch, poetisch oder kritisch, wurde weiterhin nur durch die Kulturförderung oder traditionelle Verlage finanziert und somit zunehmend entprofessionalisiert – oder ›demokratisiert‹, um es freundlicher auszudrücken. Es war klar, dass das Internet alle Geschäftsfelder umpflügen würde, und der ›Text‹ war sein erstes Opfer  – ein Napster-Moment avant la lettre. Die Mittneunziger sind eine entscheidende Phase in der ›Dotcom‹-Saga. Richard Barbrooks und Andy Camerons wegweisende Abhandlung »The Californian Ideology« von 1995 hat ihren libertären Geist gut eingefangen. Einige kritische Aspekte fehlten jedoch, etwa die Ökonomie des ›Freien‹ oder die Rolle, die Risikokapital und Börsengänge im Dotcom-Businessplan spielen. Internet-Start-ups folgen alle demselben Schema: Das Wichtigste ist, innerhalb kurzer Zeit eine kritische Masse an Usern anzuziehen. Marktanteil ist wichtiger als nachhaltige Einnahmen. Innerhalb dieses zynischen Modells ist es grundsätzlich kein Problem, wenn die meisten Start-ups scheitern, denn den Verlusten steht das Versprechen von ein oder zwei Erfolgsstories gegen-

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über, die den Aktienmarkt erreichen oder an große Player wie Google oder Facebook verkauft werden können. Wir brauchten Jahre für die Entzifferung der Ideologie von Wired (1998 verkauft und kaltgestellt). Um 1997, als die anfängliche Rolle von Kunst und Kultur in den Hintergrund trat und die Geschäftswelt das Internet übernahm, lieferten die Magazine Red Herring und Fast Company erstmals konkrete Analysen, was die ökonomischen Prämissen des Dotcom-Wahns eigentlich beinhalteten. Es gab damals kaum Bücher darüber, eine kritische Literatur war praktisch nicht vorhanden – und dann, Ende 2000, war der Markt, ohne dass wir es bemerkt hätten, auch schon zusammengebrochen. Es war Zeit für George W. Bush und 9/11. Die goldenen Zeiten der Neunziger waren vorbei und die Millenniumsparty ihr Wendepunkt. Eine klassische und immer noch lesenswerte Studie darüber, wie das Internet San Francisco zerstört hat, ist übrigens Paulina Borsooks im Jahr 2000 erschienenes Buch Cyberselfish.13 Borsook kann als kalifornische Netzkritikerin der ersten Stunde gelten und schrieb über das Internet schon ein Jahrzehnt, bevor Carr, Lanier, Keen, Turkle und Morozov ins Rampenlicht traten. Ähnlich wie vereinzelte Projekte à la Bad Subjects14 oder Personen wie Steve Cisler, David Hudson und Phil Agre (um nur mal einige Namen zu nennen) agierte Borsook als unabhängige Autorin und Bay-Area-Insiderin. Sie stand in engem Kontakt mit dem Wired-Gründer Louis Rosetto und war eine der ersten Kritikerinnen der libertären Tendenzen, die das Silicon Valley antrieben. Es folgten absurd-komische Berichte vom Aufstieg und Fall der Dotcoms, vor allem auf der Fucked Company-Website. Unser einziger wissenschaftlicher Beistand damals war Saskia Sassen, die globales Finanzsystem und Computernetzwerke miteinander verknüpfte. Zu ihren komplexen Makroanalysen und Manuell Castells’ soziologischem Abriss der ›Netzwerk-Gesellschaft‹ gesellten sich immer mehr fundierte Überblicksdarstellungen  – obwohl keines dieser Projekte sich direkt mit der Tollheit der Dotcom-Kultur beschäftigte. Zwischen 1997 und 2000 flossen Milliarden Dollar aus Pensionsfonds, Investmentfonds und ähnlichen Quellen in Internet-Unternehmen. Dabei landete nur ein Teil dieser institutionellen Investitionen in fingierten E-Commerce-Firmen wie pets.com oder boo.com, deutlich mehr verschwand in der Infrastruktur der Glasfasernetze. Einnahmen erbrachte keine von ihnen; sie basierten alle auf mit Risikokapital betriebenen Hyperwachstums-Konzepten. In diesen goldenen Tagen des Neoliberalismus ließen sich Zehntausende Designer, Musiker, Ingenieure und Sozialwissenschaftler schnell zu HTML-Programmierern, 13 | Siehe auch ihre auf der INC-Website veröffentlichte Neueinschätzung fünfzehn Jahre später: http://networkcultures.org/blog/2015/01/29/paulina-borsook-cyber ​s el​ fish-15-years-after-part-1 14 | Siehe: http://bad.eserver.org/faq/what_is_bad_subjects.html/en

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Kommunikations- und PR-Managern oder IT-Beratern umschulen – nur um ein paar Jahre später, als die Blase geplatzt war, wieder in die Arbeitslosigkeit zurückzukehren. Kann man das als Ökonomie bezeichnen? Eine Möglichkeit, rücksichtslosen Privatisierungswellen und Börsenwahn etwas entgegenzusetzen, lag darin, unbeirrt an der Idee des Internets als öffentlicher Infrastruktur festzuhalten. Das Internet sollte trotz seines militärischen und akademischen Hintergrunds ›Zugang für alle‹ garantieren. »Wir wollen Bandbreite!« war die Parole einer einwöchigen Kampagne im Rahmen des Hybrid Workspace auf Catherine Davids Documenta  X 1997.15 Dieselbe Gruppe, die von der Waag Society in Amsterdam, bei der ich damals auch ein kleines Stipendium hatte, koordiniert wurde, entwickelte Ende 1999 im Rahmen des Kiasma-Museums in Helsinki eine ähnlich ausgerichtete »Free for What?«-Kampagne, ein früher Versuch, die Rolle des Freien innerhalb der größeren Ökonomie des Netzes zu analysieren. Schon damals, in den goldenen Neunzigern, beunruhigte mich, wie heute immer noch, das Problem der Wahrnehmungsverzögerung. Wer profitiert davon, dass wir so lange brauchen, um das Geschäftsmodell von Facebook zu verstehen? Welche Umstände verwandeln uns von heroischen, heldenhaften Subjekten in mürrische, nur noch klickende Konsumenten? Auch wenn wir uns alle Mühe geben, als Individuen oder kollektiv in Netzwerken und Forschungsgruppen, warum verstehen wir die Dynamik des gegenwärtigen Kapitalismus immer erst im Nachhinein? Liegt darin der Grund, weshalb wir keine Avantgarden mehr haben? Inzwischen scheint es, als könnten wir nur noch gegen die Ursachen der letzten Rezession kämpfen. Während ich das schreibe, verarbeiten wir immer noch – Jahre später – die Folgen der Finanzkrise von 2007/2008. Wohl hat sich langsam ein grundsätzliches Verständnis von Derivaten und Hochfrequenzhandel verbreitet (dank Scott Patterson, Michael Lewis und anderen), doch gleichzeitig bleibt die durch die Eurokrise verursachte Arbeitslosigkeit auf unvorstellbar hohem Niveau, die Stagnation wird zum Dauerzustand, und Haushaltskürzungen greifen tief in Infrastruktur, Gesundheitswesen und Kultur ein. Die Ökonomie als Ganzes (und die Debatte über sie) steckt fest: wir scheinen auf eine Erholung zu warten, die niemals kommt. Seit Beginn solcher Initiativen wie der 1995 gestarteten Nettime-Mailingliste gab es kollektive Anstrengungen, um eine politische Ökonomie des Internets zu entwickeln, die sich auf kulturelle, politische und ökonomische Ansätze innerhalb wie außerhalb der akademischen Welt gründet. Im Februar 2000, unmittelbar nach dem Sieg über den Millennium-Bug und der Ankündigung der AOL-Time-Warner-Fusion platzte die Dotcom-Blase. Ein verspäteter Ver15 | Das Archiv dieses Projekts befindet sich auf www.medialounge.net/lounge/work​ space/index.html

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such, die ›New Economy‹ zu analysieren und kritische Stimmen von beiden Seiten des Atlantiks zusammenzubringen, war die Konferenz Tulipomania Dotcom (Amsterdam/Frankfurt, Juni 2000), die kurz nach dem NASDAQCrash (Mitte April 2000) stattfand. Die Hintergründe des ersten Börsenwahns im frühen 17. Jahrhundert, der Südsee-Blase und des Crashs von 1929 sind wohlbekannt. Und nun ging es von Neuem los, direkt vor unseren Augen, in unserem eigenen Bereich, und mit solcher Zerstörungskraft. Projekte wir Tulipomania Dotcom lenkten unsere Aufmerksamkeit auf die größeren Zusammenhänge des globalen Finanzsystems: Wall Street, Hedgefonds, Hochgeschwindigkeitshandel. Warum sollte der Gedanke so abwegig sein, dass auch Nicht-Techniker in diesen Bereich unmittelbar eingebunden sein und ein nachhaltiges Einkommen aus ihm erzielen können? Warum hat die IT-Welt durchgängig Künstler und Content-Produzenten ausgegrenzt und nur eine Handvoll Unternehmer und Techniker belohnt? Über ein Jahrzehnt, ausgenommen vielleicht ein paar kurze Jahre während des Booms, hat sich nichts geändert. Das Ist Keine Ökonomie. Tatsächlich haben bald nach der Explosion der ›Dotbombs‹ Heerscharen von Webdesignern und Projektmanagern ihre Jobs verloren und sind in ihre Heimatstädte und früheren Berufe zurückgekehrt. Und die Armut des ›Prekariats‹ sollte sich noch verschlimmern. In Berlin hieß das Motto damals »arm, aber sexy«. Das galt nicht nur für Kritiker wie mich in den neunziger Jahren, sondern breitete sich bald auch auf benachbarte Berufsfelder wie Theater, Publizistik und Filmkritik aus, ebenso auf den investigativen Journalismus, Fotografie und die unabhängige RadioSzene; sie alle schlossen sich der verarmten, globalisierten ›kreativen Klasse‹ an. Während die staatliche Förderung kleinerer und experimenteller Initiativen versiegte, wanderten die übriggebliebenen bezahlten Jobs in Werbung und PR ab. So trat ich 2002 schließlich, nach zwei Jahrzehnten als freischwebender Theoretiker, in die akademische Welt ein und promovierte in Melbourne mit einer Arbeit über kritische Internetkultur. Nachdem ich, zurück in Amsterdam, eine Forschungsstelle gefunden hatte – ein Karriereschritt, den viele meiner Kritiker- und Künstlerkollegen machen mussten – konnte ich 2004 das Institute of Network Cultures an den Start bringen. Die Idee eines Jobs als Haustheoretiker in der Internetindustrie war bei den beträchtlichen Stellenkürzungen nach 2000 unrealistisch geworden. Der Schwerpunkt lag nur noch auf Vermarktung und Nutzerfreundlichkeit. Die erste große Veranstaltung meiner frisch etablierten Forschungseinheit an der polytechnischen Hochschule von Amsterdam (HvA) hieß »Decade of Webdesign« (Januar 2005) und untersuchte die sich wandelnde Ökonomie dieses jungen Berufszweigs. Im November 2006 folgte die Konferenz MyCreativity, die das Elend mit der Politik der ›Creative Industries‹ behandelte, die nach den USA und Australien gerade in Europa angekommen waren. Nicht mehr

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Millionäre, sondern eine schnell wachsende Kultur der Prekarität prägte das Bild des Internets. Mit dem Aufkommen der Blogs und der ›Template-Kultur‹ in der Zeit nach den Dotcom-Crashs entfiel die Notwendigkeit, Websites von Null an aufzubauen. Die Preise für Webdesign waren abgestürzt, und kleine Editierarbeiten konnten schon von Bots erledigt werden. Die Geek-Entwickler der Blog-Software hatten es aber erneut versäumt, das System mit einem monetären Plan zu verbinden, und prompt waren die Bastler der ›Partizipationskultur‹ in die Falle der guten alten Free-Culture-Logik gelaufen, diesmal angeführt von Visionären wie Henry Jenkins, der sich gegen die Professionalisierung (gleich Bezahlung) des netzbasierten Schreibens wandte und stattdessen die demokratische Natur des ›Web  2.0‹ pries, die sich so leicht von den Vermittlern ausbeuten lässt. Auf der iDC-Mailingliste werden die Mechanismen so beschrieben: »Die Silicon-Valley-Ideologie hat immer zwei Aspekte miteinander verschmolzen: auf der einen Seite offene Systeme und auf der anderen die Erkenntnis, dass ›Nutzer zum Wert beitragen‹. Ja, die Nutzer tragen zum Wert bei, aber sie generieren noch mehr Wert, wenn man die Daten, die man zu ihrem Verhalten sammelt, verkaufen kann.«16 Am Ende waren nur eine Handvoll Blogger in der Lage, von der Syndikation ihrer Inhalte in Verbindung mit Web-Bannern und den Mikro-Einnahmen durch ihre Klickraten zu Amazon oder Googles AdSense und AdWords zu leben. Prominente Beiträge, die andere in Netzwerken gepostet hatten, wurden ohne Rückfrage von alten Medienkonglomeraten annektiert, wofür die Huffington Post eines der interessanteren Beispiele liefert: als ihre Gründerin Arianna Huffington für deren Verkauf an AOL 315 Mio. US-Dollar einkassierte, zog die renommierte Online-Community, die ihr durch ihre freiwillig geleisteten Beiträge erst zu diesem Wert verholfen hatte, gegen sie vor Gericht.17 Warum sollte ihnen nicht auch ein angemessener Anteil am Verkaufspreis zugesprochen werden? Die Kultur des Freien begann, in aller Öffentlichkeit ihr unschuldiges Gesicht zu verlieren. Die folgende Phase, in der das ›Web 2.0‹ sich in den ›sozialen Medien‹ konsolidierte, war geprägt von der durch die kapitalgestützten Dotcoms des vorangegangenen Jahrzehnts eingeführte ›The-Winner-takes-all‹-Logik. Es stellte sich heraus, dass die Internetwirtschaft kein freier Markt, sondern ein Nährboden für Monopole war, mit libertären Kartellen, die sorgfältig den ›Silicon Valley-Konsens‹ steuerten und manipulierten. Der durch den Immobilien- und 16 | Mehr hierzu auf der iDC-Liste, dem E-Mail-Forum des Institute of Distributed Creativity, das von Trebor Scholz, Forscher an der New School, geleitet wird: http://blog. gmane.org/gmane.culture.media.idc/month=20100201 17 | Siehe zum Beispiel: https://news.yahoo.com/huffington-posts-unpaid-bloggerstaking-arianna-court-20110412-081829-782.html

Die Einkommensmodelle des Internets

Finanzsektor ausgelöste Crash 2007/08 hatte auf sie keine Auswirkungen. Das schnelle Wachstum setzte sich fort, zusätzlich beschleunigt durch neue Nutzer aus Asien und Afrika sowie die Verbreitung von Smartphones und Tablets. Die Internetwirtschaft, ursprünglich gegründet auf die IT- und Medien-Industrie, begann sich zunehmend auf andere Wirtschaftsbereiche auszudehnen, von Handel und Dienstleitung bis zu Gesundheitswesen, Logistik oder Landwirtschaft. Seine ›Vergesellschaftung‹ machte aus dem Internet eine universale Rechenmaschine, die auf größtenteils unbekannten Protokollen basiert, welche weiterhin die Ideologie des Freien reproduzieren. Weder einzelne Individuen noch ganze Berufe, egal wie traditionell oder marginal, konnten seinem Einfluss entgehen. Inzwischen ist die Kritik am Ausmaß der ›parasitären‹ Strategien auch in der breiteren Öffentlichkeit angekommen. »Wenn du nicht bezahlst, bist du das Produkt« – dies ist keine exklusive Erkenntnis der wenigen mehr, sondern kollektives Wissen der Online-Massen. In den frühen neunziger Jahren hatte ich die Vision eines ans Internet angeschlossenen Publikums, das mittels eines eingebauten und an den verteilten Charakter des Computernetzwerks angelehnten Peer-to-Peer-MicropaymentSystems meine Essays für einen geringen Betrag online lesen oder herunterladen kann. Wenn Daten auf dezentrale Weise fließen können, warum ließe sich das nicht auch mit einem System für kleine digitale Geldflüsse verbinden? Eine Variante der Direktbezahlung könnte auch ein Abonnement-Modell oder ein Kartensystem mit Auflademöglichkeiten sein. Eine Gruppe Amsterdamer Hacker und Verschlüsselungsexperten beschäftigte sich genau mit derselben Idee. Ich besuchte mehrere Vorträge von David Chaum, dem amerikanischen Gründer von DigiCash, der zu jener Zeit am Zentrum für Mathematik und Informatik der Universität Amsterdam arbeitete, einem der frühen InternetKnoten in Europa. 1993 machte ich mit ihm eine einstündige Radiosendung, in der er den Kampf mit den amerikanischen Kreditkarten-Unternehmen und Banken beschrieb, die beteiligten Patente und die Bedeutung anonymer, verschlüsselter Daten für zukünftige Online-Bezahlsysteme.18 18 | Das Archiv der Sendereihe ist online auf archive.org zugänglich, dank Margreet Riphagen, die die Digitalisierung der 120 einstündigen, zwischen 1987 und 2000 entstandenen, Radiosendungen betreut hat. Relevant ist auch der Essay »Digitales Geld« des deutschen Medientheoretikers Bernhard Vief aus derselben Zeit, erschienen in: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein: Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991. Wie bei den meisten deutschen Medientheoretikern ist auch Viefs Beschäftigung mit Geld an das bekannte Theorieuniversum jener Zeit angedockt, geprägt von Figuren wie McLuhan oder Baudrillard. 1991 waren an der Londoner Börse digitale Netzwerke schon seit vielen Jahren in Betrieb. Die Wirkungen des sogenannten ›Big Bang‹ im Zuge der Marktderegulierung in den achtziger Jahren sind ohne die gleichzeitige Einführung von PCs, Terminals und elektronischen Netzwerken undenkbar. Viefs

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Die Herausforderung liegt darin, Peer-to-Peer-Internet-Einkommensmodelle für den Kulturbereich zu entwickeln und implementieren, die die Ausbeutung bekämpfen und zu einer gerechteren (Neu-)Verteilung der hier generierten Werte führen. Wir brauchen dringend ein System, das denen, die die eigentliche Arbeit leisten, auch ein vernünftiges Einkommen ermöglicht, denn das Netz selbst wird sich kaum zu einem größeren Vorteil für seine Gründer und frühen Akteure umpolen lassen. Eins ist klar: Die Zeit, nur über die jeweils eigene prekäre Situation zu klagen, ist vorbei. Wir müssen nicht nur aktiv auf unsere Bezahlung pochen, sondern auch drastische Maßnahmen hin zu einer Veränderung der Regeln verlangen, in Kombination mit neuen Modellen für kleine (vernetzte) Einheiten zur Einkommensgenerierung. Schuldenstreik und Schuldenerlass können nicht die vorherrschende Definition von Geld und seiner Funktionsweise außer Kraft setzen. Die meisten Nutzer verstehen inzwischen die zynische Logik des Freien, in der sie gefangen sind. Dies ist die Ära der Geldexperimente. Seit 2015 bilden Cyberwährungen und öffentliche Empörung über Austeritätspolitik im Zeitalter der ›systemrelevanten‹ Banken keine getrennten Denk- und Handlungsketten mehr.19

Auseinandersetzung gilt der Frage, ob digitales Geld Hardware oder Software ist, sowie der virtuellen Erscheinung des Ganzen. 19 | Es ist wichtig, in diesem Kontext auf die frühen Texte des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis über Bitcoin hinzuweisen. Viele Berichte haben 2015 eine direkte Verbindung zwischen der griechischen Schuldenkrise und der möglichen Verwendung von Cyberwährungen als Alternative zum Euro hergestellt.

Die Moneylab-Agenda Jenseits der Kultur des Freien

»Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer neuen Währung?« J ohan S jerpstra

Die Digitalisierung der Welt ist abgeschlossen. Ihre Logik hat jeden Bereich der Gesellschaft übernommen, inklusive des Finanzbereichs. Währenddessen sind die realen Netzwerk-Individuen auf ihre eigenen Geräte zurückgeworfen, müssen ihr Einkommen selbst generieren und aus nichts was machen, von null auf hundert. Die neoliberalen Subjekte finden sich in einem permanenten Start-up-Modus wieder. Der Content-Potlatsch ist vorbei. Man kann teilen  – aber wen interessiert’s? Kopieren ist weder das Problem noch die Lösung und führt eher dazu, dass anstehende Entscheidungen verschoben als dass sie beschleunigt werden. In Zeiten fortgeschrittener Stagnation können wir nicht mit Fördergeldern oder Investitionen aus der klassischen Finanzwelt rechnen. Willkommen im digitalen Realismus: Die 99 Prozent sind alle zu Überlebenskünstlern in weiträumigen Austeritäts-Netzwerken geworden und nun den schlingernden Krisen im Strudel des nie endenden ökonomischen Abstiegs ausgeliefert. Ihre Zinsen, Darlehen, Sparguthaben und Investitionen bieten keine Sicherheit mehr, sondern können sich über Nacht in Luft auflösen. Die Suche nach neuen Formen der Wertschöpfung wird immer intensiver. Selbst die klassische Unterscheidung zwischen idealistischem Hacker und opportunistischem Start-up-Unternehmer beginnt zu verschwimmen. Es ist nicht mehr klar, ob sich hier echte Alternativen entwickeln oder ob wir nur Zeuge immer neuer Akte der kreativen Zerstörung ohne rationalen Grund oder Ziel werden. Die jüngste allgegenwärtige Technologie ist die Finanzialisierung selbst. In dieser nicht so schönen neuen Welt besteht die Gefahr, dass Konflikt – selbst als Begriff – auf konkurrierende ökonomische Visionen reduziert oder durch sie abgelöst wird, die wiederum als Software in Erscheinung treten. Die Volatilität dieses Klimas bedeutet jedoch auch, dass Währungen und Zahlungsmodelle nicht länger etwas unumstößlich Gegebenes sind. Der

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Zugriff auf Finanztechnologien und deren Gestaltung scheint immer einfacher zu werden. Das Bitcoin-Spektakel hat überall für Aufmerksamkeit gesorgt. Während die IT-Schwergewichte damit beschäftigt sind, sich als Finanzdienstleister und Zahlungssystem-Anbieter für die Online-Massen neu zu erfinden, setzen die Banken alles daran, technologisch aufzuschließen. Wie lange wird das weitergehen? Wissen wir schon, worauf die Entwicklungen hinauslaufen könnten und wie weit sie sich dabei von unseren Vorstellungen entfernen? MoneyLab ist ein Netzwerk von Künstlern, Aktivisten und Forschern, das Mitte 2013 vom Institute of Network Cultures gegründet wurde. Seine erste Konferenz, »MoneyLab: Coining Alternatives«, fand im März 2014 in Amsterdam statt und befasste sich mit Themen wie der Bitcoin-Debatte, den ersten Schritten der Crowdfunding-Forschung, mobilem Geld in Afrika und künstlerischen Antworten auf die globale Finanzkrise von 2008 mit ihren anhaltenden Rezessionen, Zwangsvollstreckungen und Insolvenzen. Eine zweite Konferenz, »Economies of Dissent«, folgte im Dezember 2015, ebenfalls in Amsterdam, und behandelte Themen wie investigativen Journalismus über (illegale) Geldflüsse oder die Blockchain-Theorie.1 Im Einklang mit den Analysen in diesem Buch entfernt sich MoneyLab vom leitenden ökonomischen Modell der auslaufenden neoliberalen InternetÄra des Freien, einem Standardmodus, der die Aura seiner Unbesiegbarkeit verloren hat. Das Projekt greift die Möglichkeit und dringende Herausforderung auf, kollektiv (alternative) internetbezogene Einkommensmodelle zu untersuchen, zu diskutieren, zu gestalten und mit ihnen zu experimentieren. Das bedeutet auch, der allgemein geteilten Einsicht: »Wenn du nichts dafür zahlst, bist du das Produkt«, und der zynischen Logik, in der eine solche Netzkultur gefangen ist, aktiv entgegenzutreten. Der Konsens über das Freie fiel in dem Moment in sich zusammen, als die internetgenerierten (algorithmischen) Einkommensformen zu einem politischen Thema wurden, was sich dann aber meist in Diskussionen über die Schuldenfrage abgespielt hat. Seit der globalen Finanzkrise werden Schulden nicht mehr als persönliches Problem erfahren, sondern als effektive Freiheitsstrafe, um Bürger in den kapitalistischen Alltag und seine depressive Logik einzusperren. 1 | Große Teile dieses Kapitels wurden ursprünglich zusammen mit Nathaniel Tkacz geschrieben, mit dem ich bei der Gründung des MoneyLab-Projekts 2012–2013 zusammengearbeitet habe. Ich habe unsere gemeinsamen Positionen in eine einzelne Stimme übertragen (von ›wir‹ zu ›ich‹), aber nur, um innerhalb der Buchform konsistent zu bleiben. Mein Dank für die Unterstützung geht auch an Patricia de Vries, die 2013 zum INC stieß und die MoneyLab-Konferenzen im März 2014 und im Dezember 2015 wie auch den MoneyLab Reader, der im April 2015 herauskam, produzierte (Geert Lovink/Na­ thaniel Tkacz/Patricia de Vries, MoneyLab Reader: An Intervention in Digital Economy, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2015).

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Dank des Erfolgs von David Graebers Besteller Schulden2 und der in die gleiche Richtung gehenden Anti-Schulden-Bewegungen, die in der Folge von Occupy aufkamen, findet die wachsende Überschuldung von Studenten, Hausbesitzern, Jugendlichen und anderen Mitgliedern der absteigenden Mittelklasse immer breitere Beachtung. MoneyLab stellt jedoch fest, dass uns trotz eines gestiegenen Bewusstsein für das Finanzielle die grundsätzliche aktivistische Verachtung des Geldes eher davon abhält, Fragen zu stellen und Konzepte vorzuschlagen, wie der Reichtum anders verteilt, öffentliche Infrastrukturen umgebaut und neue Modelle der Wertschöpfung gestaltet werden könnten. In Zeiten der ökonomischen Krise wird nicht einfach mehr Geld benötigt; wir müssen vor allem auf umfassende und drastische Veränderungen bei den Lenkungsmechanismen drängen, in Verbindung mit neuen Modellen für kleine (vernetzte) Einheiten der Einkommensgenerierung. Schuldenstreik und -erlass stellen andernfalls die vorherrschende Definition von Geld und wie es funktioniert nicht in Frage (und es ist eine oberflächliche und romantische Vorstellung, dass die Armen glücklich sind, wenn sie nur noch nicht im Griff des Schuldensystem sind). Wie betreiben wir heute Wertschöpfung, in einer Ökonomie, die gegen unsere Interessen entworfen wurde? Wie werden Kreative, nachdem das Copyright-Regime seine Legitimität längst verloren hat, ihren Lebensunterhalt verdienen? Dies ist die Hauptfrage, mit der ich mich, entlang der Forschungsagenda von MoneyLab, hier beschäftige.

W illkommen bei den A lgo -W ars Man stelle sich vor, wie anders die Pioniermentalität in den frühen Phasen der ›Neuen Medien‹ ausgesehen hätte, wenn sie dem Internet-Banking mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht hätte. Dort draußen gibt es nämlich keine Gemeinschaft, keine Kollaboration, keine anonyme Erkundung multipler Identitäten (höchstens eine Armee ausgelagerter IT-Jobs). Online-Banking fand niemals in einer abenteuerlichen virtuellen Wirklichkeit statt und war seit seiner Einführung nie progressiv. Stattdessen sehen wir Nutzerkonten, die mit realen Identitäten verknüpft sind und penibel dokumentiert werden. Hier geht es um Websites, deren Funktionen ausschließlich banalen finanziellen Aufgaben dienen. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Sicherheit – des Einzelnen und der Infrastruktur –, und das Ideal der Internet-Banking-Erfahrung ist nahtlose Funktionalität und Einfachheit des Transfers, frei von allen unvorhergesehenen Eventualitäten. Finanzielle Subjektivität wird im Stillen gepflegt,

2 | David Graeber, Debt: The First 5,000 Years, Brooklyn: Melville House Publishing, 2011.

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beim regelmäßigen Browsen, Klicken und Scrollen durch die für einen persönlich bedeutsamen Zahlen. Weite Teile des Webs haben sich entlang dieser standardisierten Vorstellung des Internet-Bankings umgestaltet. Aber gleichzeitig geht es auch in die entgegengesetzte Richtung. Das zeitgenössische Banking hat Logiken der Sozialisierung und Personalisierung, der Empfehlung und der Werbung adaptiert und bedient sich bereits der Gestaltungsmittel, die ursprünglich in den sozialen Medien und anderen kommerziellen Plattformen eingeführt wurden. Internet-Banking fühlt sich zunehmend wie ein hochgradig individualisiertes Erlebnis an. Online-Kontoauszüge sind mit Werbematerial und Fragenkatalogen gespickt. Nutzerkonten enthalten Dashboards für das Finanzmanagement, die die Gewohnheiten beim Ausgeben und Sparen kategorisieren und visualisieren – oder das Fehlen derselben. Und natürlich sind die Banken auch ins Data-Profiling-Geschäft eingestiegen. Auf diesem ausgesprochen ästhetischen Terrain dürfen wir die Frage nicht vergessen, wodurch globale Finanzoperationen heute eigentlich definiert sind. Ein zentrales Element ist die Transaktionsgeschwindigkeit. Echtzeitflüsse in Millisekunden reflektieren die technische Infrastruktur, über die sie abgewickelt werden. Bildschirm-Schnittstellen, Datenvisualisierungen, Finanzmodelle und Handelsalgorithmen machen die Medienökologie gegenwärtiger Finanzpraktiken aus, durch die Routineoperationen ausgeführt und Entscheidungsprozesse nach probabilistischen Methoden gesteuert werden. Den staatlichen Regulierern, die ›das System vereinfachen‹ wollen, ist es schon zur Gewohnheit geworden, immer wieder die Komplexität der Situation hervorzuheben. Unsere geringen und ungenauen Kenntnisse der ›Deep Waters‹ und ›Dark Pools‹ der Finanzwelt geben selbst Anlass zur Sorge. Den meisten Leute werden die Realitäten und Wirkungen eines Crashs erst Monate, wenn nicht Jahre nach dem Ereignis vor Augen geführt. Der ursprüngliche Crash passiert in wenigen Minuten, aber die Folgen betreffen Milliarden von Menschen. Versuche, die Finanzwelt alter Schule mittels elektronischer Märkte und Hochgeschwindigkeits-Handelsplattformen im Namen von Transparenz und Offenheit zu ›demokratisieren‹, erweisen sich lediglich als libertärer Traum von Programmierern, die am Ende nur zu den geheimnisvollen Algo-Kriegen – zum Beispiel zwischen Hedgefonds und Banken, deren jeweilige Handelssysteme miteinander konkurrieren  – beitragen. Im Kampf darum, wer den einen perfekten und heroischen Lösungsalgorithmus hervorbringt, können nur die größten, am höchsten entwickelten und vernetzten Firmen mithalten. Als Folge konstatiert Scott Patterson »eine algorithmische Tragik der Allmende, in der alle Akteure, indem sie im Eigeninteresse handelten, einen

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systemisch gefährlichen Markt schufen, der die gesamte globale Wirtschaft bedrohen könnte«.3 Finanztechnologie(Fintech)-Experten funktionieren fast wie eine eigene Klasse in einem Raum von ›bekannten Unbekannten‹, in dem sie versuchen, zukünftigen Marktunsicherheiten (über Derivate etc.) entgegenzuwirken. An die Stelle der Propheten sind Modelle getreten, und die Strategie übernimmt eine spezifische Form der Spieltheorie. Der vergessene Klassiker in diesem Zusammenhang ist jedoch Rudolf Hilferdings Das Finanzkapital von 1910, das zu jener Zeit mit seiner Darstellung der wachsenden Autonomie der Finanzmärkte als notwendiger Ergänzungsband zu Karl Marx’ Kapital gesehen wurde.4 Hilferding war einer der Finanzminister der Weimarer Republik und wurde später von den Nazis im Konzentrationslager ermordet. Als ich in den siebziger Jahren das erste Mal auf seine Schriften stieß, galt Das Finanzkapital als undurchsichtig, geradezu futuristisch. Aus naheliegenden Gründen fand sein Gedankengut keinen Eingang in die marxistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere nicht in die europäische Sozialdemokratie – und genau der gehörte Hilferding ursprünglich an. Sähe die Welt heute anders aus, wenn Tony Blair seine Labour Party in den Neunzigern dazu gedrängt hätte, sich mit Finanzkapital zu beschäftigen – und es zu aktualisieren? Im globalen Finanzgeschäft hat der Computerhandel das Spektakel des Börsenparketts und seiner ›Marktmacher‹, deren Rückzug schon in den achtziger Jahren begann, abgelöst. Die Parketthändler waren die ersten, die von den Computernetzwerken weggefegt wurden. Wie überall, sind die Rechnerprozesse vollständig integriert, und so entwickeln wirtschaftliche Praktiken bestimmte rechentechnische Charakteristika. Man sieht es etwa daran, wie mit dem automatisierten Hochfrequenzhandel gleichzeitig eine eigene Form des technischen Unfalls auftritt. Der sogenannte ›Flash Crash‹ im Mai 2010, der Berichten zufolge einen Wert von einer Billion US-Dollar vernichtete, war das katastrophale Resultat von Algorithmen, die zwar so arbeiteten wie geplant, aber unter unvorhergesehenen Umständen. Genauso nimmt auch eine Computerstörung ausgesprochen finanzielle Züge (und Auswirkungen) an. Solche plötzlichen Abstürze treten im Hochfrequenzhandel immer häufiger auf und werden ausführlich auf Websites wie Zero Hedge analysiert. Vor einem Jahrzehnt fanden die Händler noch nichts dabei, auf Kleinanleger und Rentensparer, die nicht mitkamen, herabzublicken und ein tödliches Schlacht3 | Siehe Scott Patterson, Dark Pools, New York: Random House, 2012, S. 315. 4 | Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, in: Marx-Studien. Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus, Band 3, Wien 1910, V–477. Online auf: https:// archive.org/stream/DasFinanzkaptial.EineStudieZurJngstenEntwicklungDesKapita​ lismus/Hilferding19101955-DasFinanzkapital_djvu.txt. Dank an Ruud Vlek, der mich 1981 mit diesem Klassiker bekannt gemacht hat.

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feld anzurichten, das Onkel Joe und Tante Millie den Haien vorwarf. Doch die wachsende öffentliche Wahrnehmung toxischer Finanzprodukte hat sich gegen die autonomen Computersysteme selbst gerichtet und sie als Ursache des ganzen Ärgers identifiziert. Entweder werden diese Finanzwaffen komplett außer Betrieb genommen und der Rüstungswettkampf beendet (einschließlich der dazugehörigen Glasfaserkabel, z. B. zwischen New York und Chicago), oder wir werden verzweifelte Anstrengungen erleben, diese Industrie zu reformieren.5 Thomas Piketty ist nicht unser Hilferding 2.0, aber wer dann? Wir brauchen dringend bessere Einblicke in die dunkle Welt der Finanzen – vor allem des Hochgeschwindigkeitshandels. Journalisten wie Michael Lewis und Joris Luytendijk rufen die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Plan, aber letztendlich verbreiten sie nur Wissen aus zweiter Hand. Das ist ein systemisches Problem. Was fehlt, sind Programmierer, die im Fintech-Bereich arbeiten oder gearbeitet haben und in die Rolle öffentlicher Intellektueller hineinwachsen können – technische Philosophen, die wortreich genug sind, um wirksam zu vermitteln, ›was getan werden muss‹. Ein großartiges Beispiel für eine solche Art öffentlicher Kommunikation war Charles Fergusons Dokumentation Inside Job. Wir brauchen eine neue Kategorie für diese Art von Arbeit oder Rolle – den Whistleblower-Vermittler: eine brandgefährliche Figur, die die Dinge öffentlich ausspricht, eine Art Assange oder Snowden der Wall Street. In einem ganz anderen Register ist auch die Arbeit des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl für diesen Kontext relevant, denn er analysiert die Finanzkrise aus der Tradition der deutschen Medientheorie heraus, also in enger Verbindung mit den klassischen Geisteswissenschaften.6 Meine früheren Arbeiten dazu beriefen sich auf Saskia Sassen, die schon in den frühen neunziger Jahren einleuchtende Verbindungen zwischen elektronischem Handel, globalen Städten, sozialen Bewegungen und Internetkulturen hergestellt hat. Aktuelle technische Ansätze in den Geisteswissenschaften kommen aus dem neuen Forschungsfeld der ›Software Studies‹, die sich der wichtigen Aufgabe widmen, die Rolle von Algorithmen und Bots für die gegenwärtigen medialen Machtstrukturen zu analysieren. Allerdings sind die Software Studies noch recht unbekannt und auch noch nicht so weit, sich direkt mit Fintech auseinanderzusetzen.7 5 | Mehr zu dieser These bei Franco Berardi/Geert Lovink, »A Call to the Army of Love and to the Army of Software«, http://www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-1110/ msg00017.html. Wie soll man den Hochfrequenzhandel regulieren? Ihn verlangsamen? Ganz verbieten? Wie kann die Menschheit tödliche Waffen – in diesem Fall Algorithmen – ›vergessen‹? 6 | Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Berlin: diaphanes, 2010. 7 | Siehe z. B. Andrew Goffeys Eintrag zum Algorithmus in: Matthew Fuller (Hg.), Software Studies: A Lexicon, Cambridge (Mass.): MIT Press, 2006. Am populärwissenschaft-

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Eine weitere Diskussionsschiene – für mich in diesem Zusammenhang die interessanteste – befasst sich mit der Entwicklung alternativer Geld- und Finanzmodelle außerhalb des traditionellen Bankensystems, die eine mögliche Antwort auf die gegenwärtige Währungskrise geben könnten. Ganz nebenbei sind solche Alternativen auch ein nützlicher Spiegel, um die Techniken des Mainstreams besser analysieren zu können. Mikrokredite und Tauschhandel, Crowdfunding, Peer-to-Peer (P2P) Banking, ›Time Banks‹, mobiles Geld und Kryptowährungen sind Beispiele für diese Parallelstrategien. Wir können uns fragen, wo sich diese Finanz-Alternativen in Bezug auf die breitere Kritik am globalen Finanzsystem positionieren, und auch, ob es möglich ist, autonome Systeme außerhalb des Einflusses von Nationalbanken, US-Dollar und Kreditkarten-Unternehmen zu betreiben. Wenn es »kein richtiges Leben im falschen« gibt, wie Adorno erklärte, und wir diesen Übungen auch nicht das Ziel einer protokapitalistischen libertären Erneuerung unterstellen, als was können wir sie dann verstehen?

E rz ählungen aus dem K ryp tol and Alternative Formen des Austauschs entstehen aus einer Vielzahl von Gründen, wie strukturellem Versagen, Gruppenmarginalisierung, oder  – auf der strategischen Ebene  – proaktiver Identifizierung sozialer Bedürfnisse. Das Digitale Geld bildet da keine Ausnahme. In den achtziger Jahren hat Michael Linton ein computergestütztes System für die Vereinfachung von LETS (Local Exchange Trading Schemes) entwickelt, das er LETSystem nannte. Dieses zielte darauf, »die Effizienz kommerzieller Tauschsysteme mit dem befreienden Potential von gegenkulturellen Formen des Austauschs zu vereinigen.« 8 In den neunziger Jahren dachte man, dass David Chaums DigiCash die Spielregeln verändern würde. Chaum, der damals am Institut für Informatik der Universität Amsterdam arbeitete, war ein Pionier der Anwendung kryptographischer Technologien auf Zahlungsmittel und hat effektive Methoden entwickelt, Geld in kryptographisch kodierte Zahlenreihen zu verwandeln. 1994 hat Steven Levy einen Wired-Leitartikel geschrieben, in dem er dieses niederländische Projekt ausführlich behandelte, neben einigen anderen, die aus heutiger Sicht schon als erste ernsthafte Flirts mit digitaler Kryptowährung verstanden

lichen Ende der Skala siehe Christopher Steiner, Automate This: How Algorithms Came to Rule the World, New York: Portfolio/Penguin, 2012, und Frank Pasquales Black Box Society. 8 | Peter North, Alternative Currency Movements as a Challenge to Globalisation? Burlington: Ashgate, 2006, S. 3.

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werden können. Nach DigiCash kamen Mondex und MintChip. Können wir irgendetwas von diesen historischen Vorreitern lernen?9 Der Bitcoin ging wesentlich später an den Start, kurz nach der Finanzkrise von 2008. Hatte dieses präzise Timing damit zu tun, dass die Einigkeit über den ›freien‹ Austausch endlich verflogen war? Ist es so, dass Levys Worte (und Chaums Vorstellungen) plötzlich glaubhafter klangen, als sich die Realität der Big-Data-Gesellschaft vor unseren Augen (wieder) entfaltete? Der Bitcoin verwirklicht den krypto-libertären Traum des globalen Privatmarkts: eines Markts, der sich von staatlichen Strukturen und Regulierungen unabhängig gemacht hat. Durch den Einsatz von Public-Key-Verschlüsselungs-Technologien und P2P-Softwarearchitekturen ermöglicht er einen direkten semi-anonymen Geldtransfer zwischen einzelnen Nutzern. Von Anfang an lag dabei das systemfeindliche Potential dieser neuen Währung am offensichtlichsten in der Förderung illegaler Märkte und des Handels mit illegalen Waren, vor allem mit Drogen, auf Silk Road (dem virtuellen Schwarzmarkt).10 Aber was geschieht mit den Steuern, wenn eine kritische Masse anfängt in einer privaten Ökonomie zu wirtschaften? Die einfache Antwort ist, dass Regierungen alles versuchen werden, solche Situationen gar nicht erst entstehen zu lassen. Und ist es nicht der Traum der neunziger Jahre, den Cyberspace als separaten Kosmos mit seinen eigenen Gesetzen zu sehen? Das größte disruptive Potenzial des Bitcoins dürfte dagegen in seinen weniger kontroversen pragmatischen Möglichkeiten liegen. Er könnte zum Beispiel als Standardwährung für Überweisungen eingesetzt werden und so zu einem großen Teil, wenn nicht gänzlich, die Gebühren für grenzüberschreitende Geldtransfers aushebeln. Hier nähern sich die sonst eher antagonistischen und disruptiven Fähigkeiten des Bitcoins der genießbareren schöpferischen Zerstörung Schumpeters an, in der die hegemoniale ökonomische Ordnung umgeworfen (auskonkurriert) wird, aber nur, um ihre übergreifende Logik gleich wieder zu bestätigen. Wie die gegenwärtige ökonomische Ordnung privilegiert auch der Bitcoin bestimmte Formen des Austauschs und der sozialen Beziehungen. Er ist eine Währung als Weltanschauung und wird wie jedes andere System seine eigenen animalischen Instinkte erzeugen. Um uns mit dem Bitcoin zu arrangieren, müssen wir für seinen Wert geradestehen, aber auch für seine im Licht von Wirtschaftssoziologie und -anthropologie zu lesenden ›Werte‹. Letztendlich müssen diese beiden Konzepte – Geld und Wert – wieder vereint werden. 9 | Mehr dazu findet sich im Interview mit Eduard de Jong, einem früheren DigiCashMitarbeiter, das Nathaniel Tkacz und Pablo Velasco geführt haben, in Lovink/Tkacz/de Vries, MoneyLab Reader, S. 258–67. 10 | In Poppers Digital Gold finden wir eine detaillierte Schilderung der frühen Abhängigkeit des Bitcoins von Silk Road.

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Welches sind zum Beispiel die sozialen Werte, die den Entwurf des Bitcoins untermauern und ihm seinen Wert als Währung geben? Können wir, abgesehen vom Reiz der Geldspekulation, auch von einer Geek-Coolness, einem Hacker-Geek-Wert oder etwas Ähnlichem sprechen? Der Bitcoin basiert auf Public-Key-Kryptographie – einer Technologie zum Schutz der Privatsphäre im Kommunikationsbereich. Wie es Jean-François Blanchette kürzlich ausgedrückt hat, ist Kryptographie eine Form von Kommunikation, die »in Anwesenheit von Kontrahenten« stattfindet. Aber Kryptographie ist mehr als die Kommunikation von Geheimnissen. Sie ist nicht vergleichbar mit Flüstern. Eher bildet sie eine Privatsphäre, die sich im öffentlichen Raum aufhält, »in Anwesenheit« von anderen.11 Man kann auch sagen, dass sie das Überdauern des Privaten in einer Welt der offenen Kommunikation ermöglicht. Die Frage ist jedoch, ob und wie der kryptographische Imperativ den Bitcoin prägt, jenseits der reinen Tatsache, dass er ihn erst möglich macht. Besteht irgendeine Beziehung zwischen der Politik (oder der Privatheit), die in ihn eingeht (in seine Gestaltung) und derjenigen, die herauskommt (in seiner Nutzung)? Außer dass wir den Traum eines privaten Markts unterstützen, was sind die konkreten neuen Praktiken, die aus diesem Währungssystem hervorgehen? Eins ist deutlich geworden: man kann Geld heute als gestalteten Gegenstand sehen. Die Vorstellung von Geld als universalem Handelsgut (Gold) oder als monopolistische Schöpfung von Regierungen (Fiatgeld) funktioniert nicht mehr; wieder einmal liegen grundlegende Fragen zu Funktion, Quelle (des Werts) und Zweck des Geldes auf dem Tisch. Vielleicht waren es die jüngste Existenzkrise des Fiatgeld-Systems und das Unvermögen, seine gestaltete Natur zu verbergen – sei es durch die quantitative Lockerung oder durch selektive Rettungsaktionen –, die irgendwie zu dieser Situation geführt haben. Wie auch immer, diesen zentralen Fragen muss sich jede experimentelle Währung widmen, und nicht nur auf der Ebene des Diskurses.

A d -V entures beim C rowdfunding Neue kreative Projekte waren lange entweder auf Risikokapital oder auf die Förderung durch den Staat, Stiftungen und andere Organisationen des dritten Sektors angewiesen. Die in der Kreativwirtschaft Tätigen träumen im Allgemeinen von einer kontinuierlichen, gut bezahlten und schöpferisch befriedigenden Arbeit, aber halten diesen Traum durch ein Patchwork aus einmaligen Projekten, erzwungen freiwilliger Arbeit und unterbezahlten zusätzlichen Kurzeinsätzen am Leben. Sie sind gefangen in einer Verkettung von Prekarität und Idealis11 | Jean-François Blanchette, Burdens of Proof: Cryptographic Culture and Evidence Law in the Age of Electronic Documents, Cambridge (Mass.): MIT Press, 2012.

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mus: der Traumjob wartet an der nächsten Ecke … bald werden sie mir einen festen Vertrag geben. Diese Probleme wurden bereits eingehend zwischen 2006 und 2008 im MyCreativity-Netzwerk des Institute of Network Culture thematisiert. Seitdem sind eine Menge vernetzter Förderungsinitiativen entstanden, von denen sich die kreative Klasse erhofft, dass sie eines Tages Content-Gerechtigkeit schaffen werden. Vorläufig bleiben die Aussichten jedoch trostlos.12 Während die Krypto-Währungen eher für die Zahlungsabwicklung entwickelt wurden, zielt Crowdfunding auf eine direkte und vorgelagerte Lösung des Einkommensproblems, ähnlich wie bei der Filmfinanzierung oder dem Subskriptionsmodell im Verlagswesen. Crowdfunding-Plattformen treten in unterschiedlicher Gestalt auf, aber das Grundmodell sieht für gewöhnlich so aus: eine Person oder Gruppe benötigt für ein Projekt eine Finanzierung; sie bewerben sich mit diesem auf einer Website und laden die ›Crowd‹ ein, sich mit Fördermitteln zu beteiligen; die Bewerbung setzt jeweils eine Projektmittelhöhe an (z. B. 10.000 US-Dollar) und legt eine Frist fest, bis zu der diese Summe erreicht sein muss. Wenn genug Leute Förderungszusagen gemacht haben und die Plansumme erreicht ist, wird das Projekt aktiv und das Geld eingesammelt. Wird sie nicht erreicht, bleiben die zugesagten Mittel bei den Förderern. Dieses ›Alles oder Nichts‹-Modell praktizieren z. B. Websites wie Kickstarter oder Indiegogo. Die Projektförderung beinhaltet oft auch verschiedene ›Stufen‹, man kann Beiträge unterschiedlicher Höhe leisten, die mit entsprechend unterschiedlichen Gegenleistungen belohnt werden. Diese reichen von verschiedenen Ausdrucksformen der Wertschätzung und des Danks, über das Produkt selbst (wenn es eins gibt) bis zu exklusiven oder individualisierten Versionen desselben für höher rangierende Förderer. Für die Kreativen liegt der Vorteil des Crowdfunding darin, dass es eine tragfähige Alternative zu Investorengeldern und öffentlichen Forschungs- oder Kulturfördermitteln darstellt, die sie von Stiftungen und staatlichen Institutionen unabhängig macht, wodurch ein ganzes Spektrum von möglichen Einflussnahmen und parasitären Vermittlern wegfällt. In der echten autonomen Szene gibt es Crowdfunding schon seit Jahrzehnten (z. B. als Benefiz-Konzerte, Umverteilung von Club-Einnahmen etc.). Heute ist das digitalisierte und sozial vernetzte Crowdfunding selbst zu einem eigenen Geschäftsmodell geworden. Werbung findet in Form von Bloggen, Liken (auf Facebook) und Twittern statt. Beliebte Projekte erleben einen rasanten Aufstieg und genießen im Netz hohe Aufmerksamkeit. Wenn sie ›interessant‹ sind, finden sie sich auf offiziell kuratierten Listen wieder. Einige erscheinen auf ›Empfehlungs‹-Seiten. Kickstarter 12 | Siehe: http://networkcultures.org/wpmu/mycreativity, sowie Geert Lovink/Ned Rossiter (Hg.), MyCreativity Reader: A Critique of Creative Industries, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2007, online unter: http://networkcultures.org/wpmu/por​ tal/publication/mycreativity-reader-geert-lovink-ned-rossiter

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verschickt seinen Abonnenten Updates zu den »Projekten, die wir mögen«. Besonders populäre Projekte machen sogar Schlagzeilen. All das erhöht natürlich auch wieder die Chancen, Fördermittel einzuwerben. Die Silicon-Valley-Logik offenbart sich: in Wirklichkeit geht es nicht um das demokratische Gedeihen vieler, sondern um die gefilterten Höhepunkte der Wenigen, die von diesem Modell belohnt werden. One Culture. Die Crowdfunding-Forschung steckt noch in ihren Anfängen. Wie üblich stellen wir nicht die wirklich kritischen Fragen. Auf den Crowdfunding-Plattformen stehen die neuen Gründer im Scheinwerferlicht, nicht die Kritik.13 Währenddessen versuchen die Kulturschaffenden, den Geheimnissen erfolgreicher Projekte auf die Spur zu kommen, und verwenden dabei quantitative Methoden, die auf Korrelation und Mustererkennung basieren. Die Zahl der Facebook-Freunde, ein in die Bewerbung eingebautes Video, das Ortsumfeld des Projekts, die Dauer der Präsentation (kürzer ist besser) und ob es auf der Förderplattform ›gefeatured‹ wird, all das hat Einfluss auf den Erfolg. Du willst deine Chancen maximieren? Sei einfach populär und lebe in einer coolen Stadt.14 Die wichtigere Forschungsfrage aber ist, wie die Mechanik des Crowdfundings zu einer anderen Art von Projekten führt als die älteren Förderungsmodelle. Ich denke hier an Inge Sørensens vergleichende Untersuchung zur Förderung von Dokumentarfilmen in Großbritannien.15 Es überrascht nicht, wenn sie zu dem Ergebnis kommt, dass verschiedene Fördermodelle jeweils verschiedene Dokumentar-Genres begünstigen. Warum und wie gelingt es manchen Projekten, sich wie Meme zu verbreiten und ihr Förderungsziel um ein Vielfaches zu übertreffen? Wie sieht der »Long Tail« des Scheiterns aus? Wir könnten genauso auch radikalere Fragen stellen, etwa ob Crowdfunding eine Maschine zur Förderung des Allgemeinguts werden könnte oder wie privater Input in einen gemeinschaftlichen Output übersetzt werden kann. Würde das den Raum oder die Aufmerksamkeit, die die Warner Bros. dieser Welt besetzen, schmälern? Kickstarter ist im Moment die sichtbarste Crowdfunding-Plattform, aber welche Alternativen und lokalen Gegenstücke gibt es, und wie unterscheiden sie sich in Design und Ergebnis? Wäre es zum Beispiel besser, dezidierte Fördersysteme zu haben, die auf Theater, Entwicklungshilfe, Dokumentarfilm oder Nachbarschaftshilfe spezialisiert sind? 13 | Zu ersten Ergebnissen in diesem Bereich siehe die drei Artikel des CrowdfundingTeils im MoneyLab-Reader. 14 | Siehe Ethan Mollick, »The dynamics of crowdfunding: determinants of success and failure«, Social Science Research Network (25. März 2013): http://papers.ssrn.com/ sol3/papers.cfm?abstract_id=2088298 15 | Inge Ejbye Sørensen, »Crowdsourcing and outsourcing: the impact of online funding and distribution on the documentary film industry in the UK«, Media, Culture & Society, 34.6 (2012), S. 726–43.

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Jenseits dieser strukturellen Untersuchungen müssen wir auch die psychologischen und Erlebnis-Aspekte dieser neuen Fördermodelle berücksichtigen. Was würde Georg Simmel, der Geldtheoretiker des frühen 20. Jahrhunderts, daraus machen? Ist dies der Weg zur wahren Unabhängigkeit? Keine Sponsoren mehr, kein Staat (aber man braucht immer noch diese Crowd). Oder wäre Crowdfunding eher zu verstehen als ›demokratische Distribution‹ des Investorendenkens und somit als Intensivierung der Finanzlogik? Wie kann Kunst frei sein, wenn sie an den Geschmack eines sich überidentifizierenden Mobs gebunden ist? Was bedeutet es, wenn aus Fördern ein Akt des Web-Browsens wird? Oder wenn Interface-Gestaltung und Nutzer-Erlebnis zu den wichtigsten Gründen des Fördererfolgs werden? Laut Ian Bogost lassen sich Websites wie Kickstarter besser in der Tradition von Reality-TV verstehen. Nur auf die Produkte (und Erträge) zu blicken, verfehlt etwas Wesentliches. »Angesichts der Realität dieser Produkte ist die Enttäuschung unvermeidlich – nicht nur, weil sie zu kümmerlich sind und immer zu spät kommen (wenn überhaupt), sondern aus noch merkwürdigeren Gründen. Wir bezahlen für das Gefühl einer hypothetischen Idee, nicht für die Erfahrung eines realisierten Produkts … Für die Freude daran, es zu ersehnen. Für das Erlebnis zu beobachten, wie es zu einem Erfolg jenseits aller Erwartungen wird oder wie es dramatisch scheitert. Kickstarter ist nur eine andere Form von Unterhaltung.«16

Es mag Unterhaltung sein, aber wir könnten auch fragen, warum Menschen dazu bereit sind, für eine ›hypothetische Idee‹ Geld zu bezahlen. Wir investieren doch nicht nur in ein hypothetisches Produkt, sondern auch in eine eindeutig umsetzbare Hypothese einer ›Förderung mit anderen Mitteln‹.

M obiles G eld in A frik a Während im Westen Internet-Zahlungen noch von US-amerikanischen Kreditkartengesellschaften wie MasterCard und Visa kontrolliert werden, sehen die Dinge im Rest der Welt anders aus. Über die letzten Jahre kam es in großen Teilen der sogenannten ›Entwicklungsländer‹ zu einem exponentiellen Wachstum alternativer, auf dem Gebrauch mobiler Geräte basierender Zahlungsmethoden. In einer Zeit, in der die klassischen Banken immer weniger Interesse an Kunden haben, geschweige denn, sich um die Bedürfnisse der Armen kümmern, haben sich die Mobilfunkanbieter genau dieser Aufgabe angenommen 16 | Ian Bogost, »Kickstarter, crowdfunding platform or reality show?«, Fast Company (18. Juli 2012): www.fastcompany.com/1843007/kickstarter-crowdfunding-platformor-real​i ty-show

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und erweitern das Anwendungsspektrum ihres ursprünglich für den Verkauf von Gesprächszeiten, Klingeltönen und SMS entwickelten Bezahlsystems auf eine wachsende Bandbreite von Diensten, von Peer-to-Peer-Zahlungen, Wasser- und Stromrechnungen bis hin zu Schul- und Transportgebühren. Im Prinzip können die Nutzer jede Art von Rechnung mit dem Telefonguthaben bezahlen. Mobiles Geld spielt in den Entwicklungs-Diskursen heute eine zentrale Rolle. Es verbindet sich mit einer neuen Vorstellung von Entwicklungsförderung, die abseits überholter Kategorien wie Wohltätigkeit versucht, den Unternehmergeist der Armen zu unterstützen und nebenbei auch noch Profit zu erwirtschaften. Das mobile Geld positioniert sich als Lösung für das Problem, wie Menschen ohne Bank eine ökonomische Teilhabe erlangen können, und fördert gleichzeitig neue Kompetenzen im Umgang mit Geld. In der Zwischenzeit suchen alle, die beim Auf bau von mobilen, auf kleine Beträge ausgerichteten Austauschsystemen Gewinne gemacht (oder diese verpasst) haben, nach Ein- oder Ausstiegsmöglichkeiten. Während der Sektor des mobilen Geldes den Kinderschuhen entwächst, werden neue Allianzen zwischen Banken und Telefongesellschaften geschmiedet und staatliche Regulierungen umgeschrieben. Gestützt durch das neue Narrativ der Entwicklungsförderung als Geschäft, erhalten diese Prozesse weitere Legitimation durch die eifrige Beteiligung von NGOs, die ebenfalls auf die Idee aufgesprungen sind, dass »im Sockel der Pyramide ein Vermögen steckt«. Die Frage, wer am Ende über den Raum des mobilen Geldes herrschen wird, bleibt offen. Werden es die asiatischen und afrikanischen Telefongesellschaften sein oder doch Visa (dem ein Großteil der von den mobilen Finanzdiensten genutzten Software gehört)? Werden die großen globalen Banken eines Tages aufwachen und sich in diesen Markt einkaufen? Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, wie wäre es mit dem Vorschlag, einen Bitcoin-Klon für mobile P2P-Zahlungen zu entwickeln? Die Stärke der vorhandenen Plattformen liegt genau darin, dass sie auf den gegebenen nationalen Währungen (und den Staatskassen, die diese in Umlauf bringen) aufsetzen und nicht dazu neigen, in die ›virtuelle‹ Richtung paralleler Währungen zu gehen. Politisch gesehen scheint der Begriff ›finanzielle Inklusion‹ dieses auch nahezulegen. Kein Exodus, kein Draußen. Angesichts von geschätzten 80 Prozent erwachsener Afrikaner ohne Bankzugang liegt das Potential auf der Hand. Weltweit haben ungefähr drei Milliarden Menschen keinen Zugang zu formellen Finanzdienstleistungen. Können wir etwas aus den Mikro-Finanz-Sagas lernen? Wir müssen auch die breitere Aufstellung des mobilen Geldes im Verhältnis zu den neuen Tauschmitteln betrachten, die ›an der Spitze‹ des Systems entstehen, entworfen von Microsoft, Google, Apple (und Ubuntu?), und die ihre eigenen Strategien haben werden, wie Geldüberweisungen in zukünftige Smartphone-Architekturen integriert werden können. Werden sich die Telekommunikationsanbieter und ihre Mobilgeld-Initiativen am Ende in das

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etablierte Bankensystem eingliedern oder eher mit Silicon Valley zusammenschließen? Sie könnten auch alleine bleiben und selbst einen eigenen ›dritten Raum‹ aufbauen. Wer hat was zu bestimmen, und wo sollen wir unsere Forderungen stellen? Haben wir davon auszugehen, dass wir unsere alternativen Geldflüsse selbst entwickeln müssen? Selbst den Code hacken und einfach loslegen? Ist Tauschhandel der bessere Weg? Wie können wir über solche unübersehbaren Systemwechsel einen größeren Druck auf bauen, den Wohlstand neu zu verteilen? Können wir die Online-Händler entwaffnen und den Jungs mal ihre Spielzeuge wegnehmen? Gibt es so etwas wie ›langsames Geld‹? Welche Rolle spielen alternative Visionen des Finanzsystems wie P2P-Banking innerhalb dieser Entwicklungen? Große Fragen. Wenn wir uns dem notleidenden Kulturbereich zuwenden, müssen wir feststellen, dass die letzten Jahrzehnte in der Kreativwirtschaft keine konkreten Einkommensmodelle für die künstlerische und kulturelle Produktion gebracht haben  – außer kommerziellem Sponsoring und dem (moralisch) bankrotten Modell von geistigem Eigentum. In dieser Zeit der ökonomischen Krise reicht es nicht, nur den Finanzkapitalismus zu kritisieren, sondern wir müssen uns Alternativen ausdenken und umsetzen. Was sind die Langzeitperspektiven der Crowdfunding-Plattformen jenseits des Hypes? Können prekäre Kulturtätige in einer Bitcoin-basierten P2P-Ökonomie die Vermittlungsebenen umgehen und ihr Geld direkt verdienen? Es ist leicht zu erkennen, dass das Freie und Offene als produktive Ideologien der neunziger Jahre in dieser neuen Landschaft keine Rolle mehr spielen. Wenn irgendetwas zur Disruption freigegeben werden sollte, ist es der globale Finanzsektor selbst.

M one y L ab ins R ampenlicht : D as P r ägen von A lternativen In den USA verschiebt sich die Machtverteilung zwischen Osten und Westen. Nach und nach verschmelzen die Visionen und Ziele von Wall Street und Silicon Valley. Während ein Teil der Industrie sich immer noch mit Papierschecks, Kreditkarten und dem Erbe veralteter IT-Architekturen aus den achtziger Jahren abmüht, bereitet sich der andere auf die Masseneinführung der Blockchain-Technologie im Bitcoin-Stil vor. Eine wachsende Zahl von Start-ups sucht nach Innovationen im Bereich von Geld-, Bezahlungs- und Finanzierungssystemen, während die Finanzunternehmen sich auf der technologischen Ebene erneuern. Mehr und mehr (oder immer noch) zieht es die Geeks am Ende in den Finanzsektor, als Experten für mathematisches Modellieren oder maschinelles Lernen, als Physiker und so weiter. Und zunehmend zielen sie auf die ›Datenflüsse‹ sozialer Netzwerke und ähnlicher Plattformen. Die Front-EndFinanzialisierung des Webs überschneidet sich mit der Entdeckung, dass das

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Web auch als Finanzierungsquelle dienen kann. Bearbeitungen von Wikipedia-Seiten lassen sich für Voraussagen von Börsenbewegungen nutzen. Social-Media-Plattformen können von Maschinen gelesen werden, und der Inhalt dieser ›Flüsse‹ spiegelt sich in fluktuierenden Börsenwerten wider. Jede Differenzmaschine kann Signale aussenden, die von den Finanznetzwerken als mögliche Indikatoren zukünftiger Bewegungen interpretiert werden können. Vor dem Finanzsystem als solchem brauchen wir keine Angst zu haben. Daran lässt der Finanzaktivist Brett Scott keinen Zweifel.17 Sein Trick besteht darin, die Finanzwelt mit den Augen des Hacker-Aktivisten zu betrachten. Wir könnten uns aber auch fragen, welche anderen Strategien der Beteiligung möglich wären. Nach den globalen Protesten von 2011 – vor allem von Seiten der Occupy-Bewegung – wissen wir, dass unsere Post-2008-Blickwinkel sich nicht ausreichend mit dem harten Kern der Finanzwelt beschäftigt haben. Die Bewegung tendierte schnell zur Selbstbezogenheit und widmete sich obsessiv ihren eigenen demokratischen Ritualen. Occupy zeigte nicht nur, wie verbreitet die Unzufriedenheit mit dem globalen Finanzsystem war (was später ›Piketty-Effekt‹ genannt wurde), sondern machte auch den Bedarf an alternativen Perspektiven auf Geld, Kapital, Einkommen und Finanzen deutlich – und auch, wie simpel und minimalistisch die Ideen der Bohème des 21. Jahrhunderts hierzu geworden waren. Die Existenz von ›Dark Pools‹ und anderen Absurditäten rückt zwar zunehmend ins Bewusstsein, aber wie können all diese Befunde zu einer organisierten Empörung und politischem Handeln führen? Viele befürchten, dass Regulierung allein das Problem nicht lösen wird. Es reicht nicht mehr, den IWF als Werkzeug des Imperialismus zu verdammen. Die neoliberale Austeritätspolitik wird nun über alle verhängt, nicht bloß über den globalen Süden. Um Finanzinstrumente stillzulegen, könnte es schon zu spät sein. In seinem lesenswerten Buch The Quants kritisiert Scott Patterson gewisse öffentlich erhobene Forderungen, die ›Quants‹, also die quantitativen Analysten18, von der Wall Street auszuschließen. Für ihn »wäre das gleichbedeutend damit, nach dem Einsturz einer Brücke die Tätigkeit von auf Brückenbau spezialisierten Bauingenieuren zu verbieten. Dagegen denken doch die meisten, dass das Ziel darin liegen sollte, bessere Brücken zu bauen oder  – übertragen auf die Quants – robustere Modelle zu entwickeln, die einem Finanz-Tsunami standhalten können, statt ihn selbst zu erzeugen.« Aber was ist besseres ›Design‹ im Zeitalter der Algorithmen-Kriege? Saskia Sassen verweist auf ein allzu reales Theater der Grausamkeit, die neoliberale Rache an den Armen als Folge der Finanzkrise von 2008. Ihr Buch Expulsions ist ein weiterer 17 | Siehe Brett Scott, The Heretic’s Guide to Global Finance: Hacking the Future of Money, London: Pluto Press, 2014, und sein Blog: http://suitpossum.blogspot.ca 18 | www.investopedia.com/ar ticles/financialcareers/08/quants-quantitative-ana​ lyst.asp

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Post-2008-Klassiker. In ihrer ehrgeizigen, auf Statistiken gegründeten Argumentation zeigt sie überdeutlich die vorsätzlich versteckten Kosten der Krise und deren langfristige Fallout-Zone. Die Autonomie des »Geldes, das in den Himmel ging«, ist relativ. Wie wir aus unserer Jugend wissen, ist nicht einmal ein Monopoly-Spiel unschuldig und folgenlos. Ist Bitcoin die bessere Brücke? Was bedeutet es, Systeme nur zu verbessern, wenn wir doch eindeutig am Endpunkt der liberalen Marktillusion angekommen sind? Es wird immer ›neue Insider‹ geben. Werden es diesmal Apple, Google und Facebook sein? Oder sollten wir mit den Telekommunikationsanbietern als den neuen Banken rechnen? Ein globales Verbot von Hochfrequenzhandel, Hedgefonds oder Derivaten wird keine kommende Krise verhindern und kommt vielleicht auch erst im Rückblick auf ein x-tes Desaster. Neben einer Allgemeinen Theorie der Globalen Finanzen für das 21. Jahrhundert brauchen wir auch Pläne dafür, wie Geld in diesem Zeitalter der digitalen Netzwerke überhaupt weiter generiert werden soll. Wobei dies im Grunde ein und dasselbe ist. Die simple und doch schwierigste Frage, die aus diesem Abschnitt der Geschichte und seiner Kritik hervorgeht, ist: Wie konnten die Neoliberalen aus dieser Krise stärker als je zuvor hervorgehen? An ihr entlang entwickelt Philip Mirowski die Analysen seines sehr empfehlenswerten Buchs Never Let a Serious Crisis Go to Waste von 2013. Das MoneyLab muss sich öffnen und diese kritische Richtung weiterentwickeln. Was, wenn all diese gutgemeinten, konstruktiven Alternativen die neoliberale Politik in Wirklichkeit nur gestärkt haben oder zumindest keine Wirkung auf sie hatten und den parasitären 1 Prozent am Ende genützt haben? Oder noch schlimmer, was, wenn genau diese empfohlenen Alternativen selbst neoliberal sind? Sollten wir in einen AlternativenStreik treten und uns sogar weigern, jegliche Form von Kritik zu formulieren? Was ist die für die Finanzwelt tödlichste Form von Negativität? Die von Mirowski aufgeworfenen Fragen kulminieren schließlich in einem grundsätzlichen Zweifel an den Organisationsstrategien der Gegenspieler im Rahmen einer »Soziologie des Wissens«.19 Positiv betrachtet, können Initiativen wie MoneyLab aber auch in größeren organisierten Netzwerken zusammenkommen und in ein Denkkollektiv (wie Mirowski es nennt) umschlagen, eine irgendwann globale Initiative, die alternative Samen für Gegenwarten und Zukünfte überprüfen und verbreiten kann. Mirowskis Frage ist: »Wie würde ein vitales Gegen-Narrativ zu den epistemologischen Vorgaben der Neo-

19 | Philip Mirowski, Never Let a Serious Crisis Go to Waste: How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown, London/New York: Verso, 2013, S. 333; dt.: Untote leben länger: Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist, Berlin: Matthes & Seitz, 2015.

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liberalen aussehen?«20 Können wir die Behauptung wagen: die im MoneyLab organisierten Netzwerke? Falls, wie Mirowski weiter ausführt, die »Hauptabsicht der neoliberalen Denkkollektivs darin besteht, Zweifel und Unwissenheit in der Bevölkerung zu verbreiten«, welche Rolle können internetbasierte Forschungsnetzwerke wie VideoVortex, Unlike Us oder MoneyLab spielen? Sollten diese Einheiten eher kleiner oder größer sein? Welchen Nutzen können wir aus ›Pop-Up-Netzwerken‹ ziehen? Und umgekehrt, welche Kräfte profitieren am meisten von all den verlorenen Erfahrungen, wenn Netzwerke verschwinden? Wenn, wie Mirowski ein paar Sätze weiter feststellt, »wahre politische Macht in der Entscheidungskompetenz steckt, den Markt ›auszusetzen‹, um den Markt zu retten«, reicht es dann, wenn die oppositionellen Kräfte den unternehmerischen Mythen ihre Coolness nehmen und den Bann des unhinterfragten kapitalistischen Realitätskonsenses brechen? Warum sollten radikale Bewegungen zurückgehen und in ihrer Kritik der Monopole den Markt verteidigen? Wir könnten sicher etwas Besseres tun. Bislang hat die Linke hauptsächlich die Mitte des 20. Jahrhunderts entstandenen Modelle des Wohlfahrtstaats verteidigt und die Umverteilung des Vermögens verlangt, statt eine radikale Neuerfindung des Geldes in Betracht zu ziehen. Alternative, komplementäre und lokale Währungen blieben am Rand. Man kann daraus schließen, dass das Think-Tank-Modell selbst eine veraltete und nicht mehr angemessene Organisationsform ist, um Forschung und Politik zu betreiben. Der Professionalismus des NGO-Modells ist zu schwerfällig und träge für die schnelle Welt der ständigen Ereignisse, Kriege, Klimakatastrophen und politischen Umbrüche. Vor diesem Hintergrund stellt Mirowski die 100.000-Bitcoin-Frage: »Gibt es einen kohärenten alternativen Rahmen, innerhalb dessen man die Interaktion zwischen der Finanzialisierung der Wirtschaft und dem Auf und Ab der politischen Ökonomie in den globalen Transformationen des Kapitalismus verstehen kann?« Eine mögliche Richtung, die zu diskutieren wäre, ist die Frage der Finanzialisierung von unten. Bislang wurde Finanzialisierung nur verstanden als eine Verschiebung von Handel und Güterproduktion hin zu den Profiten aus den Finanzkanälen. Führt die Monetarisierung von Diensten, die ursprünglich einmal kostenfrei waren (oder noch gar nicht existierten) zu einem neuen Bild?21 Sind Initiativen wie die, die sich unter dem MoneyLab-Schirm versammeln, auf den finanziellen Ausnahmezustand vorbereitet, der von populistischen Websites à la Zero Hedge prognostiziert wird, oder auch von Putins Nachrichtenkanal RT, in dem Moderatoren wie Max Keiser wütend die zerstörerische 20 | Ebd., S. 356. 21 | Costas Lapavitsas, Profiling Without Producing: How Finance Exploits Us All, London/New York: Verso, 2013, S. 138. Max Keiser ist auch ein früher Bitcoin-Unterstützer und hat eine eigene Kryptowährung, den MaxCoin, herausgebracht.

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Logik des globalen Finanzsystems an den Pranger stellen?22 Unterschätzen wir unbewusst die Brisanz der aktuellen Situation oder gefällt uns vielleicht sogar die alarmistische ›ich hab’s dir gesagt‹-Haltung? Laut Mirowski ist das Verhalten der Finanzelite genau dadurch bestimmt: sie wissen, wie man sich auf den nächsten Crash vorbereitet. »Neoliberale mögen die Regeln des Gesetzes predigen und öffentlich über die Untauglichkeit der Regierung spotten, aber sie gewinnen, indem sie den ›Ausnahmefall‹ ausnutzen, um unbehelligt von juristischen oder demokratischen Rechenschaftspflichten Komponenten ihres Programms einzuführen. Sie wissen, was es heißt, eine ernste Krise nie ungenutzt zu lassen.« Sind auch wir bereit? Sind die Bemühungen, gemeinsam alternative, internetbasierte Einkommensmodelle zu ersinnen – z. B. für künstlerische und kulturelle Leistungen – entschlossen genug, um nach dem Großen Zusammenbruch aktiv zu werden und das Heft in die Hand zu nehmen? MoneyLab bringt die partiellen Lösungsansätze von Crowdfunding, digitaler und Krypto-Währung, mobilen Gelddiensten, Mikro-Bezahlsystemen und anderen P2P-Experimenten zusammen und begreift sie als Ganzes. Man wäre naiv, wollte man diese unterschiedlichen Phänomene unabhängig voneinander betrachten oder sie gar als unwichtig abtun. Dabei ist mehr als je zuvor eine konstruktive Einbeziehung von Hackern, Entrepreneuren und anderen Erfindern ökonomischer Alternativen wichtig, eben wegen dieser systemischen Anteile. In Zeiten der Austerität kommen wir ohne Wagnis nicht weiter. Aber bei all diesen Schritten müssen wir gleichzeitig immer wieder die Karten der Gegenwart überarbeiten: was funktioniert und was nicht? Was lohnt, weiterverfolgt zu werden, und was müssen wir fallen lassen? Was destabilisiert die herrschende Ideologie, was stärkt den Hegemon? Welche Geschichten sind der Gegenwart am nächsten? Und wo liegen die Grenzen unserer ökonomischen Vorstellungskraft? Das niederländische Designkollektiv Metahaven hat vorgeschlagen, »den wankenden Euro mit Facebook-Krediten zu retten« und dass Deutschland gemeinsam mit Microsoft eine nationale virtuelle Währung einführen solle. Eine andere ihrer spekulativen Ideen ist Facestate, die soziale Supermacht, deren Wirtschaft mit der Währung Reputation arbeitet. In der Dystopie, die Metahaven ausmalt, nehmen große Konzerne wie Facestate neue sozio-technologische Entwicklungen bereits im Moment ihres Auftauchens in Besitz, sogar die, die es noch gar nicht gibt. Eines der brisantesten Phänomene, aus dem sich neue Konzepte entwickeln, entsteht mit der Verschmelzung von Mobiltelefon- und P2P-Technologien, die im Globalen Süden stattfindet, wo der ökonomische Fluss noch nicht vom westlichen Bankensystem (mit seinen Geldautomaten, Kreditkarten, ört22 | Siehe: www.zerohedge.com und: http://rt.com/shows/keiser-report

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lichen Filialen, Heimcomputer-Online-Banking etc.) beherrscht wird. Nationalstaaten und ihre Finanzbehörden könnten solche Innovationen natürlich unterbinden  – was im Fall von Bitcoin auch diskutiert wird. Dies sind Entwicklungen, die vor allem aktuelle Praktiken auf dem afrikanischen Kontinent widerspiegeln und die man zum Beispiel an der Krisen-Mapping-Website Ushahidi ablesen kann, die ebenso wie M-Pesa, das Pionierunternehmen im Sektor des mobilen Geldes, aus Kenia kommt. Der klassische Bankensektor versucht zwar, durch die Entwicklung neuer Finanzinstrumente für Mobiltelefon-Plattformen die Kontrolle über den schnell wachsenden und sich in verschiedene Richtungen entwickelnden P2P-Sektor zu behalten. Doch das Sagen haben hier die Telekommunikationsanbieter, nicht die Banken. Basis des Ganzen bleibt weiterhin die simple Überweisung, von einem Handy zum anderen und unter Verwendung von gespeichertem Guthaben. Dies ist ein technisches Modell, das, wenn es richtig umgesetzt wird, auch Künstler, Aktivisten und andere ›prekäre‹ Freiberufler für den Erhalt von Mikrozahlungen verwenden könnten.23 Idealerweise wäre das mobile Geld eine verschlüsselte Währung, die auf optimale Weise verteilte und dezentralisierte Netzwerk-Architekturen nutzt und darüber einen schnellen und einfachen Austausch kleinerer Beträge ermöglicht. Bislang haben mobile Geldsysteme noch keine Erfahrungen mit einer solchen parallelen und eigenständigen Währung gesammelt. Tatsächlich geht die Entwicklung zurzeit eher in die entgegengesetzte Richtung. Mastercard und Western Union gewinnen immer mehr Zugriff auf den Sektor des mobilen Geldes, während die traditionellen Banken und staatlichen Regulierer noch uneinheitliche Signale aussenden, wie sie mit diesem schnell wachsenden Zahlungssystem zukünftig umgehen wollen. Es ist Zeit, die radikale Kritik des globalen Finanzsystems mit der Erforschung sich herausbildender neuer Einkommensmodelle, Zahlungssysteme und experimenteller Währungen zu verbinden. Diese Stränge sollten zusammengeführt werden und sich gegenseitig ergänzen. Es reicht nicht, eine Reform des Finanzsektors zu verlangen und auf eine Rückkehr einer keynesianischen Beschäftigungspolitik zu hoffen. Unser Ansatz bei MoneyLab ist in den Kontext zeitgenössischer Netzwerkkulturen eingebettet. In den letzten Jahrzehnten implizierte die informelle Natur der Netzwerke, dass ihre pulsierende Kommunikationssphäre als autonomer Bereich wahrgenommen wurde, als eine Welt außerhalb der ›offiziellen‹ Realität mit ihren formalisierten sozialen und ökonomischen Beziehungen. Der Aufstieg des Hochgeschwindigkeitshandels in den letzten fünfzehn Jahren hat aber gezeigt, wie schnell eine Nischensoftware, die immer noch in der Entwicklung ist, ins Zentrum des Geschehens rücken kann. 23 | Siehe zum Beispiel: www.mobilemoneysummit.com, wo Visa zu den Sponsoren zählt.

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Wenn in der Internetwirtschaft Geld zirkulierte, geschah das bis vor Kurzem noch entweder beim klassischen direkten Kauf von Gütern oder Dienstleistungen (beispielsweise über E-Commerce) oder indirekt und vom Nutzer nicht wahrgenommen bei Werbung über z. B. Banner oder beim Verkauf von Nutzerdaten. Wenn wir unsere Kritik an den ›Stacks‹ und ihrer Kultur der organisierten Täuschung schärfen wollen, ist es nicht nur wichtig, die ökonomischen Dimensionen des Digitalen und Sozialen sichtbar zu machen. Und wir können uns nicht damit begnügen, das ›Freie‹ und ›Offene‹ zurückzufordern und dem Vokabular der Marketing-Leute wieder zu entreißen. Die Geste, mit der wir Dinge oder uns selbst umsonst zur Verfügung stellen, muss wieder zu einem genuinen Geschenk werden, nicht zum Online-Standard, sondern zur Offline-Ausnahme, während finanzielle Transaktionen zukünftig auf einer Peer-to-Peer-Ebene stattfinden sollten. Die größere Frage nach der Organisation und dem Umgang mit Werten jenseits des Geschenks ist jedoch zu unserer Forschungs- und Aktivisten-Sache geworden, die wir gemeinsam weiterverfolgen müssen. Es ist Zeit, das Geld neu zu erfinden und neu zu verteilen, im Namen von San Precario!24

24 | Siehe: https://temporaryculture.wordpress.com/san-precario2

Der Bitcoin und sein Nachleben

Woran liegt es, dass wir kommunizieren und immaterielles Kapital auf globaler Ebene austauschen können, aber einfach niemanden dafür bezahlen? Wir haben es hier mit einem eklatanten Problem der sogenannten ›politischen Ökonomie‹ des Internets zu tun. Obwohl das Netz immer noch holpriger läuft als wir im Allgemeinen wahrnehmen (man versuche einmal, in Zentraltansania zu e-mailen), sorgen die höher ›entwickelten‹ Bereiche der ICT mit ihren großen Knotenpunkten mittlerweile für eine zuverlässige und störungsfreie Kommunikation. Ähnlich reibungslos und weitgehend ohne Arbeitskosten werden  – zumindest in Westeuropa – auch Überweisungen ausgeführt. Die Realität ist, dass die täglichen Probleme und ungenutzten Potentiale des Geldtransfers viel mehr mit dem Bankensystem zu tun haben, das wegen seiner extremen (und exzessiven) Finanzialisierung ständig kurz vor dem Kollaps steht, als mit den vorhandenen Überweisungs-Infrastrukturen. Wenn wir die Infrastruktur wie jedes andere Versorgungssystem öffentlich betreiben und finanzieren würden, könnte sie von den Nutzern kostenfrei und komfortabel genutzt werden. Aber angesichts der unsicheren Zukunft des öffentlichen Bankensystems werden weiter alle möglichen neuen und hauptsächlich im Netz erzeugten Formate auftauchen.1 Der Bitcoin ist nur eine der ersten nativ digitalen Währungen, aber in dieser Rolle hat er schon eine große Wirkung entfaltet. Einer seiner Fürsprecher fasst sie so zusammen: »Die Technologie hinter dem Bitcoin kann nicht per Gesetz abgeschafft werden.«2 Bitcoins werden mit dem eigenen Computer gemacht. Der Vorgang ist ausschließlich virtuell, aber, weil jede ›Münze‹ algorithmisch produziert, registriert und individuell verwaltet werden muss, immer noch recht langsam (1–2 Sekunden auf einem Hochleistungscomputer). Jeder Bitcoin hat seine eigene Nummer und existiert nur dadurch, dass er von einem Nutzer 1 | Dieser Essay wurde 2014–2015 gemeinsam mit Patrice Riemens geschrieben und für diese Publikation leicht überarbeitet. 2 | www.theguardian.com/world/2014/jul/08/kyrgyzstan-bitcoin-experiment- ​m i​ grant-savings

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generiert wurde. Wenn eine Person einer anderen etwas bezahlt und die andere die Bezahlung bestätigt, wird dieser wechselseitige Tauschmoment durch die neue Blockchain-Technologie automatisch erfasst und registriert – eine zentrale Instanz, um eine solche Zahlung noch anderweitig festzuhalten, ist nicht mehr nötig. Das ist das Unterscheidungsmerkmal des Bitcoins: ›verteiltes Vertrauen‹ statt ›vertraglichem Vertrauen‹. Regierungen, Banken und andere Institutionen der ›realen Welt‹ operieren auf der Basis von vertraglichem Vertrauen, bewahrt und bewehrt durch Urkunden, Verfassungen, Gesetze und Regulierungen. Die Anhänger des Bitcoins wollen dagegen eine alternative, verteilte Form des Vertrauens, die von allen involvierten Individuen getragen wird, ohne ›politische‹ Einmischung. Der technische Unterschied ähnelt im Prinzip dem zwischen Broadcast (one-to-many) und Narrowcast (one to one, many-to-many); das zweite Prinzip war in den 1990er Jahren der Antrieb für die Internet-Revolution. Die Währung wurde am 2. August 2010 eingeführt, genau zum richtigen Zeitpunkt, um als Antwort der Geeks auf die Finanzkrise von 2008 wahrgenommen zu werden. In den ersten Jahren stand der Bitcoin zum Dollar im Verhältnis von 1 : 1 (ursprünglich fing er bei 6 Cent an, aber erst nach einem Jahr, bei einem Stand von etwa 1 US-Dollar, wurde er indexiert). Am 30. September 2013, nachdem auf einmal Investoren eingestiegen waren, schoss er plötzlich in die Höhe und sein Wert stieg rasant bis auf 1.000 US-Dollar. Nachdem er wieder bis auf 200 US-Dollar gefallen war, liegt er im Moment bei etwa 1.283 US-Dollar und es wird auch diskutiert, das Projekt aufzuspalten (in der Tradition der Software-Aufspaltung: Ausgabe ähnlicher, aber voneinander unterschiedener Klone). Wie sollen wir damit umgehen? Gerüchteweise hören wir vielleicht von Berliner Shop-Betreibern, die ihr Geschäft auf Bitcoin umgestellt haben, aber im Moment geht dieser Optimismus an der Wirklichkeit vorbei. Dass die Währung so volatil ist, verweist auf mangelndes gesellschaftliches Vertrauen in ihren Wert. Ihr Anstieg auf 1.000 US-Dollar reicht für eine gute Story. Die Phase des Höhenflugs selbst war intensiv, und ihre Jünger glaubten damals sogar, dass sie noch 50.000-mal wertvoller würde. Aber wenn der Wert die meiste Zeit bei 1  US-Dollar liegt, plötzlich nach oben schießt und dann wieder auf 200  US-Dollar abfällt, wie soll man bei einer so schwankenden Währung Einnahmen und Ausgaben planen?

A lternative versus komplementäre W ährungen Es ist sehr wichtig, den Unterschied zwischen alternativen und komplementären Währungen zu begreifen, auch wenn er dadurch verwischt, dass beide sich außerhalb des ökonomischen und finanziellen Mainstreams bewegen. In ihren Konzepten, Zielen und Vorgehensweisen differieren sie jedoch deutlich, und sie verfolgen auch eine radikal unterschiedliche Politik.

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Komplementäre Währungen konzentrieren sich zum größten Teil auf die Region, die sich in ihrer Größenordnung stark unterscheiden kann. Die WIRBank in der Schweiz operiert zum Beispiel auf nationaler Ebene, in anderen Ländern dagegen gehen einzelne lokale Währungen nicht über den Rahmen einer mittelgroßen Stadt oder Region hinaus. Trotzdem sind komplementäre Währungen, gerade aufgrund ihrer Ortsbezogenheit, inklusiv. Wie ihr Name schon sagt, verfolgen sie eher bescheidene, aber langfristige Ziele; meist sind sie an das ›real existierende‹ Geldsystem in ihrer jeweiligen (nationalen) Zirkulationssphäre gekoppelt und nicht darauf ausgerichtet, dieses ganz zu ersetzen (viele bieten auch die Möglichkeit ›hybrider‹ Zahlungen in teils ›lokalem‹, teils ›realem‹ Geld an). Wenn sie in einem völlig ›geschlossenen‹ lokalen Rahmen genutzt werden, kann ihre Reichweite sogar noch begrenzter sein. Alternative, kryptographische und virtuelle Währungen dagegen funktionieren potentiell in einer viel größeren, sogar globalen geographischen Größenordnung. Aber da die Zahl der Teilnehmer des Systems bei ihnen – aufgrund andersartiger Mechanismen – ebenso stark begrenzt ist, sind sie in ihrer Nutzung ipso facto exklusiv. Der Bitcoin stilisiert sich selbst zur alternativen Währung, die die aktuellen monetären Regelungen verdrängen und ersetzen will. Bei diesem Ziel will er sich weder in Umfang noch in Reichweite, ob geographisch oder ökonomisch, einschränken lassen. Doch seine Hauptstärke ist zugleich seine Hauptschwäche: er hat keine ›Autorität‹, die sowohl seinen Wert (auf welche Weise auch immer) garantieren als auch seine Nutzung rechtlich durchsetzen kann. Bitcoiner behaupten, dass darin gerade sein besonderes Potential liege. Als Werbemaßnahme ist das vielleicht ein wirksames Argument, aber im ›Realwelt‹-Maßstab ist es absolut lächerlich. Darüber hinaus bildet sich in der Bitcoin-Community bereits ein Lager, das nach Anerkennung und Zertifizierung durch das ›System‹ (welches nicht genau definiert wird) strebt – ein weiteres Beispiel für die ›offenen Widersprüche‹ der Währung.

(W ieder -)V ereinnahmung oder Rückzug? A m besten beides . Der widersprüchlichste Aspekt an der Gründung des Bitcoins ist seine einfallslose Anlehnung an das Vorbild des Goldes. Virtuelle Geldförderung könnte per Definition unbegrenzt sein. Aber wie beim Gold wollten die Erfinder eine Begrenzung der Menge an Bitcoins, die gefördert werden können. Damit wird eine künstliche Knappheit einprogrammiert, weshalb viele Kommentatoren den Bitcoin auch als ›Prä-71er‹-Projekt bezeichnen. Der Bitcoin zielt im Wesentlichen auf die Wiedereinführung des Goldstandards im virtuellen Raum; nach diesem Prinzip ließe sich die in der Welt vorhandene Geldmenge nicht einfach erhöhen. Doch mit der quantitativen Lockerung können die FED und die EZB durchaus über die Menge der im Umlauf befindlichen US-Dollars

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und Euros entscheiden. Dieses erste Paradox in der Gestaltung des Bitcoins bedeutet, dass die in ihrem Ursprung digitale Währung in Wirklichkeit gar nicht digital sein muss. Anders gesagt, ohne kolonialisierte Arbeiter oder Maschinen dafür einzusetzen, reales Gold zu fördern, verrichtet in diesem Fall der Computer doch eine ganz ähnliche Arbeit – und hebt so die fiktive Natur der ›materiellen‹ Ressource auf. Wenn der Bitcoin also gleichzeitig eine phantastische digitale Negation der Inflations- und Schuldenwirtschaft und eine fiktionale Rückkehr zu einem analogen Wertschöpfungsmodell ist, was will er dann eigentlich sein? Vielleicht liegt sein kritischer Beitrag gerade hier: im performativen Beklagen der Tatsache, dass der traurige Zustand der gegenwärtigen ökonomischen Modellbildung von einer Wirtschaft herrührt, die sich von der Erde komplett abgekoppelt hat. Das historische Zusammenfallen von Bitcoin und Occupy ist auf jeden Fall kein Zufall. Die Internet-Kryptowährung drückt die Sehnsucht nach einer technologisch vermittelten Befreiung von (ungerechter) Regulierung aus. Sie erwächst aus einem post-apokalyptischen Willen, inmitten von Finanzkrisen epischer Dimensionen, nochmal ganz von vorne anzufangen und auch den Rezessionen ohne Ende – symbolisch wie materiell – ein Ende zu setzen. Die Bitcoin-Begeisterung unter Geeks und IT-Unternehmern resultiert insofern aus der umfassenden öffentlichen Desillusionierung durch das Finanzsystem. Nun trifft diese Desillusionierung auf redigierte Versionen früherer InternetIdeologien, was es nur noch komplizierter macht, da so alle Widersprüche der früheren Ära weiter mitgeschleppt werden. Der Bitcoin will beides. Und deshalb überrascht es auch nicht, dass seine Gemeinde sich zur doppelten Rolle des US-Dollars, den sie innerhalb ihres ›alternativen‹ Modells als StandardReferenzwährung akzeptieren, merkwürdig bedeckt hält  – der US-Dollar ist Fiatgeld, das an allen von den Bitcoinern angeprangerten Sünden, nicht zuletzt Inflationstendenzen, beteiligt ist. Auf der anderen Seite (in Wirklichkeit derselben) ist er die ›imperiale‹ Währung der Vereinigten Staaten von Amerika und in der ganzen Welt willkommen und in Gebrauch. Und dennoch unterliegt er den alleinigen Entscheidungen der US-Notenbank, deren Augenmerk fast ausschließlich auf den politischen und wirtschaftlichen Interessen der USA liegt. Gleichzeitig Instrument wie Vollstrecker der ›strukturellen Hegemonie‹ der Vereinigten Staaten genießt der US-Dollar insofern ein ›exorbitantes Privileg‹. Die Position, die der Bitcoin einnimmt, wenn er sich an ein solches Verteilungssystem andockt, bleibt unklar und unausgesprochen. Es reicht hier festzuhalten, dass sich eine wirklich souveräne Währung niemals an den USDollar (oder an Euro, Yen oder Pfund) binden würde. In seinem Eifer, eine kommende subkulturelle ›Tech‹-Elite neu aufzustellen, mit der die nötige Fluchtgeschwindigkeit für eine Abkopplung von der undurchsichtigen Komplexität der herrschenden Machtstrukturen erreicht werden könnte, lässt sich der Bitcoin als Avatar der privilegierten Klassen ver-

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stehen, die sich aus der Schmuddeligkeit der Alltagsrealität und ihrem lottrigen Sozialmilieu herausziehen wollen. Diesmal  – so sehen es zumindest die Bitcoin-Anhänger – soll die Wirtschaft von einem Stamm von Techno-Libertären angeführt werden, nicht von einer niederträchtigen und korrupten Diktatur von Bankern und Politikern. Dieser Bitcoin-Begriff von Autonomie erinnert jedoch eher an die ›Souveränität innerhalb des eigenen Kreises‹ (ein klassisches niederländisches religiös-kulturelles Denkmodell, das viel mit Apartheid zu tun hatte), die soziale Komplexität und ihre großen Institutionen einfach aus der Welt schaffen will. Das Krypto-Geld für uns, die Armut den anderen. Wie die Washington Post einmal schrieb: »Der Bitcoin ist ein System, um Geld unter den Libertären umzuverteilen.« Bislang fällt es schwer, dieser Behauptung zu widersprechen. Das ›Biotop‹ seiner Nutzer besteht aus einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung; wir können ziemlich sicher vermuten, dass die Hauptakteure der weißen und männlichen nordamerikanischen ›Anarcho-Geek‹-Sphäre3 entstammen und der Rest aus einigen ihrer über die übrige Welt verstreuten Vorposten besteht. Der Bitcoin passt perfekt in das ›Masters of the Universe‹-Narrativ, das von unbesiegbaren Hedgefonds-Managern handelt, wie sie in Tom Wolfes Fegefeuer der Eitelkeiten (1987) und Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) porträtiert wurden, diesmal nur in ihrer ›Geek‹-Variante. Man kann das nicht als irgendeine untergeordnete folkloristische Bewegung betrachten. Die Bitcoin-Ideologie spiegelt vielmehr ein tiefes und sich zunehmend verbreitendes Misstrauen gegenüber existierenden organisatorischen Formaten und Praktiken wider. Ihre generelle Ausrichtung liegt in einem strukturellen Rückzug aus der Gesellschaft: es ist ›unsere‹ Währung, nicht ihre. Aber gibt es inmitten der Trümmer des zusammenbrechenden globalen Kapitalismus keine anderen Forderungen? Wer oder was genau soll sich die anhören? Wie gut eignet sich das als Blaupause für das nächste Geldsystem? Die Bitcoin-Architektur ist nicht die einzig mögliche Alternative. Es ist noch alles zu haben, inklusive der Prämissen des Bitcoin-Projekts selbst. Setzen wir dem Ponzi-Messianismus des Bitcoins, seiner Skalierung und seiner Politik der Verknappung einmal direkt die Debatten zur Politik der freien Arbeit, wie sie von Trebor Scholz und anderen angefacht wurden, und die sehr verschiedenen Arten von Vertrauen in techno-politische Lösungen entgegen.

3 | Ippolita, In the Facebook Aquarium: The Resistible Rise of Anarcho-Capitalism, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2015.

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V ertr auen versus B e weis und K ryp towerte Skalierbarkeit versus Reichweite und Leichtigkeit des Austauschs, alternative gegen komplementäre Systeme. Hinter diesen Entscheidungen, oder Widersprüchen, stehen Fragen nach Vertrauen und Wert und nach ihren Pendants: Verantwortung, Rechenschaftspflicht und Haftung. Vertrauen und Wert stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander. Wie soll man diese beiden Begriffe denken, wenn sie sich so stark überlagern und wechselseitig auseinander hervorgehen?4 Dieses Dilemma mag arkan erscheinen, aber wenn wir die Rolle des Geldes, wie wir es kennen, und damit auch die Möglichkeiten und Grenzen seiner Alternativen verstehen wollen, ist es elementar. Schauen wir zunächst auf die Bereiche, die sich nicht überschneiden. Bei Vertrauen geht es vor allem um die Definitionsebene, wobei es zwischen den verschiedenen Formen geldbezogenen Vertrauens Brüche gibt. So ist zu unterscheiden zwischen ›vertraglichem Vertrauen‹, im Westen die Basis aller formalen finanziellen Beziehungen, und ›verteiltem Vertrauen‹, dem algorithmenbasierten alternativen System, das vom Bitcoin und bislang auch allen anderen digitalen Kryptowährungen eingesetzt wird. Aber es gibt auch eine weitere, potentiell sogar wichtigere, d. h. sozial bedeutungsvollere, Alternative zum ›vertraglichen Vertrauen‹, die auf Vorab-Verifizierung, und damit ›Misstrauen als Standard‹ basiert. Nennen wir es ›Gemeinschaftsvertrauen‹, das rückwirkend durchgesetzt wird und somit eine sozial konstruierte Sicherheit darstellt. Gemeinschaftsvertrauen war und ist immer noch die übliche Geschäftsgrundlage im östlichen Kulturkreis, wo die Kriminalitätsrate im Finanzbereich erstaunlich niedrig liegt. Es ist wichtig, das im Blick zu behalten, wenn man über nicht-libertäre alternative Währungssysteme nachdenkt. Der selbstbestimmte oder vertrauensunabhängige Teil des Geldwerts liegt in der völlig subjektiven Bewertung des Tauschs, nachdem das Geschäft abgeschlossen wurde. Anders ausgedrückt, einen intrinsischen Wert gibt es nicht; bei Geld geht es in erster Linie um Austausch und Transfer, um Bewegung. Wenn man verschiedene alternative Geldsysteme aus einem solchen Blickwinkel betrachtet, stellt man fest, dass für viele das Geld, das in abgewickelten Geschäften steckt, relativ wenig Bedeutung hat und keinen Nettowert repräsentiert  – wie es z. B. bei sogenannten Demurrage-Währungen der Fall ist. Eine wirklich alternative Währung böte dagegen parallele Lösungsinstrumente (eine Proto-Sozialität), statt nur Wertmarken für Werte zu sein. Wo sich Ver4 | Das erinnert mich an einen Dauerwitz aus der glorreichen Ära des französischen Intellektualismus, in dem sich Nizan and Sartre in ihrer Studienzeit an der École Normale Supérieure darin überbieten, den Unterschied zwischen dem ›Begriff des Konzepts‹ und dem ›Konzept des Begriffs‹ zu dekonstruieren. ›Vertrauen‹ und ›Wert‹ wären auch ganz gute Kandidaten für so ein Spiel.

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trauen und Wert überschneiden, beginnt natürlich der interessantere Teil jeder Design-Zwickmühle. Die Fürsprecher der Kryptowährungen bleiben dabei, dass zwischenmenschliches Vertrauen effektiv  – und effizient  – durch den kryptographischen Beweis ersetzt werden kann. Der verschwundene Bitcoin-Erfinder Satoshi Nakamoto hat sich dazu sehr prägnant geäußert: »Eine elektronische Überweisung sollte nicht auf Vertrauen basieren, sondern auf dem kryptographischen Nachweis.« Aus seiner Sicht ist soziale Interaktion ein Hindernis oder eine Schwachstelle, etwas, das man soweit wie möglich umgehen oder ausschalten sollte. Leider scheint sich das Bitcoin-Vertrauen in die posthumane Wissenschaft nicht auf die Programmierer selbst zu erstrecken. Allzu menschliche Kodierer, Bitcoin-Schürfer und Anteilseigner sind offenbar von der Regel ausgenommen. Im festen Vertrauen auf den Algorithmus erlebte die Gemeinschaft das Phänomen Silk Road als unangenehmen Bruch, der ihr das Gefühl von Legitimität in der kritischen Medienöffentlichkeit der Post-2008Ökonomie schlagartig austrieb. Kurze Zeit später wurden ihre zunehmenden Qualen ganz der japanischen Bitcoin-Tauschbörse Mt.Gox angelastet, deren Zusammenbruch das Geld so vieler treuer Investoren ›verschwinden‹ ließ. Während ich dies schreibe, droht der Bitcoin durch die Blockgrößendebatte in zwei Lager gespalten zu werden, und niemand weiß, wie dieser interne Konflikt ausgehen wird. Auf der einen Seite stehen die klassischen Programmierer, die vom ersten Tag an dabei waren. Sie wollen die Blockchain vergrößern, womit die Anzahl der in ihr möglichen Transaktionen erhöht würde. Wenn das gelänge, würde sich auch die Gesamtzahl der möglichen Transaktionen innerhalb des Systems erhöhen. Auf der anderen Seite gibt es das stichhaltige Plädoyer für eine Abkopplung des Bitcoins von Mining und Blockchain (das auch mein Co-Autor Patrice Riemens und ich unterstützen). Das Problem, das hier bestehen bliebe, wäre das Vertrauen, denn die Blockchain – der verteilte Verifizierungs-Algorithmus, der den Wert einer Bitcoin-Überweisung verbürgt und so garantiert, dass er nicht zweimal ausgegeben werden kann – kommt in der Bitcoin-Religion am ehesten an eine gottgleiche Macht heran. Eine endgültige Spaltung der beiden Lager würde bedeuten, dass man keinen neuen Bitcoin in der abgespaltenen übrigen Bitcoin-Ökonomie eintauschen könnte. Um es noch deutlicher auszudrücken, entscheidend werden letztendlich die nicht auszuschaltenden menschlichen Verhaltensweisen sein. Dies offenbart auf typische Weise den ontologischen blinden Fleck jedes ›Techno-Solutionismus‹, wie er von Evgeny Morozov definiert wurde. Der im Bitcoin verankerte starre Glaube an die Überlegenheit der Algorithmen und Maschinen gegenüber dem immer wieder fehlbaren und auf Abwege geratenden Menschen ist eine weitere Reminiszenz an seine stramm anglo-amerikanischen Ursprünge. Morozov ist ein unabhängiger Kritiker, von außerhalb des Universitätsbetriebs; er entstammt dem osteuropäischen NGO-Umfeld, war unter anderem

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für George Soros’ Open Society Foundation tätig und hat sich ausgiebig mit vernetzten Medien sowie Freiheits- und Demokratiethemen beschäftigt. Sein erstes Buch The Net Delusion handelte von der iranischen grünen Revolution, dem gescheiterten Aufstand gegen die Mullahs von 2009 und der ambivalenten Rolle, die die sozialen Medien dabei gespielt haben. In seinem zweiten Buch, To Save Everything, Click Here, geht es direkt um seine Analyse des ›Solutionismus‹ in der New Economy  – der Vorstellung, dass soziale Probleme mit technischen Ideen gelöst werden können. Nach der Finanzkrise von 2008 errang er in der US-amerikanischen Presse Aufmerksamkeit, weil er als einer der wenigen greif baren unabhängigen Kritiker die Rolle des Silicon Valley bei diesem Desaster ins Visier nahm. Es war das erste Mal, dass die Agenda des Valleys in den Mainstream-Medien in Frage gestellt wurden, bis dahin hatte es seinen Nimbus als strahlendes Wunderkind des Kapitalismus immer behaupten können. Anders gesagt, es brachte keine eigenen Kritiker hervor. Die Massenmedien haben nie in eine kritische Berichterstattung investiert und das Thema entweder komplett vernachlässigt oder den Hype einfach übernommen. Nach der Finanzkrise von 2008, als die alten großen Tageszeitungen ernsthaft zu fragen begannen, was eigentlich passiert war, und Google oder Apples iPad zunehmend als Bedrohung empfanden, weckte Morozov plötzlich ihr Interesse. Morozov überträgt meist US-medienpolitische Fragen auf Europa, weniger umgekehrt, aber er hat trotzdem viele amerikanische Publikationsforen und wird stark wahrgenommen. Für die großen Medienhäuser ist er auch deshalb interessant, weil er nicht den kleinen, spezialisierten europäischen Netzkritik-Zirkeln entstammt. Im ›Fintech‹-Kontext kann man die Bedeutung von Morozovs Konzept des ›Techno-Solutionismus‹ nicht hoch genug einschätzen. Und der Bitcoin ist genau die Verkörperung der Idee, dass es für die aktuelle Wirtschaftskrise eine technologische Lösung gibt. Morozov behauptet nun weder, dass die sozialen und politischen Probleme nicht existierten, noch dass diese von technischen oder infrastrukturellen Instrumenten nicht profitieren könnten. Die Kernelemente seiner Kritik liegen stattdessen erstens in einer Neubewertung der Art und Weise, wie Probleme überhaupt als ›Probleme‹ wahrgenommen werden (Scheinheiligkeit in der Politik lässt sich nicht abschaffen), und zweitens in der Hinwendung zu den realen Kosten der Lösungen, die für die identifizierten Probleme entwickelt wurden. Heute ist es den Leuten zum Beispiel oft nicht mehr klar, dass die Lösung eines Problems durch die Nutzung einer App etwas anderes ist als gesetzliche Regulierungen, etwa für den Nahrungsmittelbereich. In ähnlicher Weise bietet der Bitcoin laut Morozov für ein politisches Problem nur eine algorithmische Lösung an. Seine Gründung basiert in gewisser Weise auch auf der verbreiteten Auffassung, dass ›Politik ätzend ist‹ und immer sein wird und dass technische Lösungen stets ›sauberer‹ und ›besser‹ sind als soziale. »Ersetze das chaotische Soziale durch die reine Schönheit der

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Mathematik«5, lautet die Devise. Die Bitcoin-Anhänger sind davon überzeugt, dass das wirklich Wichtige die Beherrschung der Technologie ist; und wer die Technologie beherrscht, hat auch Anspruch auf die Entscheidungsgewalt (aber worüber?). Mit anderen Worten, wenn sich das System als erfolgreich beweist, bedeutet das für Bitcoin-Nutzer, dass ihnen auch die politisch-ökonomische Macht zusteht, statt zum Beispiel den Politikern. Morozovs überlegene Realtheorie dieses Moments könnte allerdings durchaus in einer Sackgasse enden. In strategischer Perspektive stimmt es, dass der Bitcoin seine Dynamik vor allem aus Binsenweisheiten (und Traumata) bezieht, die von Enttäuschungen durch alle möglichen Formen von Macht herrühren und die Leute in eine ›Kenn ich schon‹-Haltung der Gleichgültigkeit und des Zynismus bringen. Aber Morozovs Argumentation bietet der Auseinandersetzung mit diesen Problemen auch keinen neuen Ansatz. Ohne allzu große Kenntnis von gelebten alternativen Praktiken erhebt er die Forderung, ›zur Politik zurückzukehren‹, weg vom Algorithmus; dies erweist sich als problematisch, denn seine Forderung kehrt den moralischen Bankrott der westlichen demokratischen Prozeduren unter den Teppich. Seine kontinentaleuropäische Technologiekritik gefällt vor allem den ›alten Medien‹, liberalen Zeitungen und etablierten Verlagen, deren Geschäftsmodelle unter dem Angriff des Digitalen, der Sozialen Medien und dem Aufstieg der Vermittler gerade zerbröckeln.

P onzi -M essianismus und V ertr auen in A lgo -F orm Allein aufgrund seiner schieren Größe ist der spekulative Finanzkomplex, der den makroökonomischen Hintergrund für den Aufstieg des Bitcoins bildet, kaum zu erfassen. Seit einiger Zeit schon sind die monetären und fiskalischen Bilanzen, sowohl in Hinblick auf ihren Umfang als auch ihre Zirkulationsgeschwindigkeit, außer Kontrolle geraten, wobei das erste auch eine Konsequenz des letzteren ist. Für viele ist die Verbindung zwischen Finanzsphäre und ›Realwirtschaft‹ verlorengegangen; tatsächlich stellen die Summen, die in spekulativen Finanzgeschäften stecken, die Umsätze der traditionellen ›Brickand-Mortar‹-Produkte und Dienstleistunen weit in den Schatten. Wenn man nun darüber nachdenkt, wie Gestaltung, Indexierung und Skalierbarkeit des Bitcoins mit dem Aspekt der Finanzialisierung vereinbar sein sollen, werden die faktischen Probleme des Narrativs einer Bitcoin-Zukunft erst recht deutlich. Der Bitcoin funktioniert hauptsächlich in der Sphäre von kleinen und Mikro-Zahlungen. Es widerspricht schon der Intuition, dass er größenmäßig in einem solchen Gegensatz zu den spekulativen Finanzinstrumenten steht, 5 | Geek-Suprematismus in einer ›Algokratie‹ (http://philosophicaldisquisitions.blog​ spot.nl/2014/01/rule-by-algorithm-big-data-and-threat.html).

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obwohl seine Entwickler derselben Klasse der quantitativen Analysten angehören. Aber man muss es nur einmal durchrechnen, um zu merken, dass der Bitcoin in seiner gegenwärtigen Form nicht einmal ein bescheidenes alternatives Wirtschafts- und Finanzsystem ermöglichen kann. Schon an der begrenzten Anzahl von Bitcoins, die überhaupt gefördert werden können, scheitert es – maximal 21 Millionen, die um 9 Positionen nach der Null zerteilt einen Höchstwert von 220 Milliarden Micropayment-Einheiten ergeben, mit jeweils einem Wert von 1 Cent bei einer sehr konservativen langfristigen Schätzung des Werts eines Bitcoins auf 100 US-Dollar. Nach der 1 Dollar-100 Cent-Rechnung bedeutete das eine maximale Summe von 2,2 Milliarden ›Bitcoin-Dollars‹, wirklich eine recht winzige Volkswirtschaft … und das kann jeder leicht ausrechnen. Preissteigerungen und Geldentwertung haben je nach sozialer und ökonomischer Schicht unterschiedliche Auswirkungen. Die Armen leiden auf der untersten Ebene, denn Preisanstiege schränken ihren Konsum ein, und sie müssen sehen, wie sie mit ihren kleinen Einkommen überhaupt über die Runden kommen. Außerdem verfügen sie über kein Vermögen. Die Reichen, besonders die Superreichen, haben (sehr viel) Vermögen, das aber normalerweise aus Sachanlagen oder Besitzurkunden (Aktien, Unternehmensbeteiligungen) besteht; monetäre Bilanzen sind für sie zweitrangig. Es ist die Mittelschicht, deren Besitzstände (oft in Form von Ersparnissen, z. B. für ihre Altersversorgung) am stärksten gefährdet sind. Wir haben diese Mechanismen in vergangenen Inflations- und Hyperinflationsrunden beobachtet, wenn die Notgroschen der Mittelschicht vernichtet wurden, mit generationsübergreifenden Traumata als Ergebnis. Die Hauptschwierigkeit mit dem Bitcoin ist, dass er das Problem der Verluste in der Realwirtschaft nicht kompensieren kann, sondern eher noch steigert. Egal wie man rechnet, ist der maximale Umfang der potentiellen Zirkulation des Bitcoins nicht nur winzig im Vergleich zu den Umsätzen in den Bilanzen der spekulativen Finanzgeschäfte, was man auch schon erkannt hat, sondern auch zu den Summen, die für das Funktionieren einer ›realen Wirtschaft‹ nötig sind. Die Tatsache, dass seine Basis-Maßeinheit nur um 9 Dezimalstellen verschoben werden kann, begrenzt die Nutzbarkeit des Bitcoins auf die einer sehr lokalen, alles andere als planetaren Währung. Dies ist nur eine Schwierigkeit, aber eine sehr praktische, die den Bitcoin daran hindert, eine wirkliche Alternative zu unserer gegenwärtigen globalen Geldverteilung zu eröffnen. Die Bitcoin-Anhänger sind ziemlich unaufrichtig, wenn sie diese Realität leugnen. Doch trotz der begrenzten Optionen, die der Bitcoin als Finanzinstrument bietet (im wesentlichen nur Peer-to-Peer-Transaktionen), ist der Kern seiner Mitglieder von seiner Überlegenheit als Zahlungssystem ebenso überzeugt wie von seiner schnellen weltweiten Adaptierung und sieht bereits darin, dass er überhaupt genutzt wird, den Beleg seines Potentials für die Befreiung und die groß angelegte Übernahme des Geld- und Finanzsystems, ungeachtet aller kulturellen und politischen Probleme und Differenzen. Ihre

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Argumentation beruht eher auf der Logik des ›Unvermeidlichen‹ als auf struktureller Analyse  – ein Kennzeichen jeder messianischen Religion. Kultische Würdigungen der Währung zeigen sich übrigens auch in anderen, unmessbaren Formen: in Bitcoin-T-Shirt-Trends, in Apps und Hochglanzmagazinen oder im auffälligen, gemeinsamen Ausschütten von Bitcoins auf GlücksspielWebsites und so weiter. Wenn die Knappheit des Bitcoins ein bewusstes Gestaltungsmerkmal ist und nicht ein Bug oder eine technische Einschränkung, die zu gegebener Zeit durch schnellere Computer gelöst werden wird, dann müssen wir sie auch als Charakteristikum seines/r paradoxen Werts/Wertschätzung betrachten. In der Tat macht oder machte die pyramidenförmige Organisation des Bitcoins viele seiner frühen Akteure zu Gewinnern, auf Kosten der naiven Nachzügler. Das ist kaum zufällig: Der Bitcoin ist ein typisches Projekt der Geek-Meritokratie. Dass er wie ein Ponzi-System (Schneeballsystem) konstruiert ist, ist auch einer der Hauptkritikpunkte. Die Antwort der Anhänger auf solche Vorwürfe ist normalerweise, dass die Kritiker nicht verstünden, was der Bitcoin in Wirklichkeit sei – und auch nicht, was ein Ponzi-System eigentlich ausmache. Die Ähnlichkeiten sind aber so offenkundig, dass einem die Ententest-Allegorie in den Sinn kommt (›Wenn es aussieht wie eine Ente …‹). Jedenfalls treibt die konstitutive Einschränkung des Nachschubs den Wert des Bitcoins mit der Zeit automatisch in die Höhe. Was aber ist ein Zahlungssystem, und dann auch noch ein alternativwirtschaftliches, das zur spekulativen Nutzungsvermeidung animiert? Die Verknappungslogik gründet sich auf eine retro-futuristische Sehnsucht der Geeks, zu so etwas wie der verlässlichen Qualität von Gold zurückzukehren – einer objektivierten und materiell zeitlosen ›Neutralität‹, aber ohne die materiellen Nachteile des Goldes, die sich durch die Magie des Digitalen leicht beseitigen lassen. Virtuelles Gold? Das Peer-to-Peer-Modell lässt sich mit dieser retro-futuristischen Phantasie des knappen und erfundenen Prä-Nixon-Goldes nur schwer versöhnen. Es stiftet eine Haltung des Hortens und verschärft die tief sitzende Angst der Bitcoin-Anhänger vor Inflation. Die obsessive Inflationsangst und der Drang der Nutzer, eine Währung zu horten, die aller Voraussicht nach ›im Wert nur steigen kann‹, bestätigt den Mittelschichts-Charakter des Bitcoins. Es ist schon verrückt, dass ›Hamsterer seinen Wert schaffen‹ sollen. Die Bitcoin-Literatur ist voll mit solchen widersprüchlichen Aussagen und Theorien, die alle mit demselben Enthusiasmus vorgetragen werden.6 Wenn die Erbsünde des Fiatgeldes die Inflation ist, ist die 6 | Wie Nathaniel Popper in Digital Gold (London: Penguin Books, 2015) schreibt, wurde der Bitcoin auch fünf Jahre nach seiner Einführung »fast ausschließlich für Spekulation, Glücksspiel und Drogenhandel eingesetzt«. Auf derselben Seite erwähnt Popper »die eingebauten Anreize, ihn nicht zu verwenden«, und beschreibt das Horten als Deflation: »Was wären all diese Münzen wert, wenn niemand etwas mit ihnen machen würde.«

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Erbsünde des Bitcoins der Widerspruch von Horten und Ausgeben: die Modalitäten des Systems machen den Bitcoin, wie auch seine Anhänger betonen, für den Peer-to-Peer-Austausch unvergleichlich komfortabel. Aber bei allem praktischen Nutzen ist dies ein exklusiver Komfort. Wenn der Wert des Bit­ coins steigt, ist der Anreiz, ihn auszugeben oder zu verkaufen, einfach nicht da, und dieser Moment kommt auch nie. Nur Loser verkaufen. Für die Bit­ coins-Gemeinschaft selbst sind solche Unstimmigkeiten scheinbar kein Problem. Man kann den Kuchen haben und ihn auch essen (und im Laufe der Zeit die Bäckerei übernehmen). Dieser deflationäre Aspekt des Bitcoin-Modells versetzt nicht nur Mainstream-Ökonomen oder Politiker in Angst und Schrecken, er verstärkt auch die Abneigung der Anhänger gegen Transaktionen – die primäre Daseinsberechtigung des Bitcoins ist, dass Ausgeben auf Notverkauf hinausläuft. Hier wird er Opfer seiner eigenen Ursprünge, in denen sich ruppiger Individualismus mit anarcho-kapitalistischer ›Gier ist gut‹-Maxime gekreuzt hat. Aber diese Kombination hat noch nie zu einem stimmigen, auf sozialem Austausch gegründeten Wirtschaftssystem geführt. Das Schürfprinzip, Bitcoins Gründungsmythos und Hauptmotor, weist eher in eine dunkle Vergangenheit als in eine gemeinschaftliche Zukunft. Eine wahrhaft alternative Währung würde dagegen auch an die Bedingungen denken, die nötig wären, um von Milliarden von Menschen genutzt werden zu können. Man entwirft einfach keine alternative Währung, um sie zum eigenen und dem Vorteil einiger Freunde einzusetzen. Das ist eine Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Austausch. Andererseits, Sklaven brauchen den Bitcoin nicht; ihr Leben ist der Ökonomie bereits total unterworfen. Hier ist der Code eindeutig nicht nur Gesetz, sondern auch Leben.

›F reies G eld ‹ In Bitcoin-Kreisen gibt es nicht nur einen Groll auf Steuern (›Pflicht ist Diebstahl‹), sondern auch auf die Gebühren und Provisionen, die Banken auf alle möglichen Transaktionen erheben und die aufgrund ultra-niedriger Zinssätze anscheinend zu ihrer Haupteinkommensquelle geworden sind, zumindest beim Zahlungsverkehr. Eine Folge dieser Haltung ist die Unsichtbarkeit der beim Bitcoin systemimmanenten Vermittlungsprozesse wie Schürfarbeiten oder Geldaustausch, die im Hintergrund stattfinden. Es ist eine allgemeine Schwäche der Cyberkultur, ihre eigene Infrastruktur auszublenden und sie stattdessen als ›zweite Natur‹ unhinterfragt vorauszusetzen. Die Bitcoiner glau(S. 219–220) Das Ponzi-System sieht Popper auch, aber er ist zu sehr von der Begeisterung gepackt, unter Pionieren zu sein, weshalb er darauf verzichtet, die Bitcoin-Architekten wegen dieser ganzen fundamentalen Probleme an den Pranger zu stellen.

Der Bitcoin und sein Nachleben

ben, dass ihre Währung die einzige Antwort auf das Chaos der globalen Finanzen ist, speziell auf der Ebene der Mikrozahlungen. Technisch gesehen mag das stimmen – denn alle virtuellen Währungen haben das Potential, Transaktionen reibungslos und gebührenfrei abzuwickeln –, aber die Volatilität des Bitcoins macht diese Anmaßung fragwürdig, gerade in Bezug auf Mikrozahlungen. Im Einklang mit seiner angeblichen ›Reibungslosigkeit‹ wird der Bitcoin als ein unvergleichliches, gemeinschaftlich organisiertes Abenteuer gefeiert, das sich auf den Do-It-Yourself-Einsatz seiner Mitglieder gründet. Dieser augenscheinliche DIY-Aspekt muss in der Tradition der neoliberalen freien Arbeit gesehen werden. Hier bedeutet frei allerdings nur ›frei von Gebühren‹ (d. h. ›frei für mich selbst‹). Angesichts des immer undurchsichtigeren Aspekts des ›Minings‹, der virtuellen Schürftätigkeit, die die Hauptbeschäftigung des Bit­ coinss ist und inzwischen nur noch von einer begrenzten Zahl Terabyte-mächtiger Geräte ausgeführt werden kann, ist unklar, worin eigentlich die Aktivität der Vielen genau besteht (außer man betrachtet Horten als Arbeit). Über die Gemeinschaft selbst ist, ganz der Natur des Anarcho-Kapitalismus entsprechend, sehr wenig bekannt, auch wer ihr eigentlich angehört – außer dass es sich wohl um einen geschlossenen Kreis weißer nerdiger Typen handelt. Wenn DIY mit kostenloser Arbeit gleichgesetzt wird, ist schwer auszuloten, wie das bei einer Anordnung, die einerseits so spezifisch auf (ökonomische) Transaktionen ausgerichtet ist und deren Hauptanliegen andererseits Wert und Besitz sind, genau funktionieren soll. Angesichts der absolute Antihaltung der Bitcoiner gegenüber Gebühren und anderen ›vom System‹ erhobenen Transaktionskosten kann man interessanterweise feststellen, dass der Bitcoin, der eigentlich diese institutionellen Gebühren überflüssig machen sollte, sie tatsächlich doch erhebt, und zwar auf (sehr) kleine Transaktionen (auf große hingegen nicht, also auch kein allzu egalitäres Feature). Weiterhin erklären seine Theoretiker, dass sich das System, wenn die Schürfphase zu Ende geht (2040, wenn alle 21 Millionen Bitcoins im Umlauf sind), selbst tragen wird … durch Gebühren.

G abelungen möglicher Z ukünf te Um 2014/15 hatte der Bitcoin seine Reisegeschwindigkeit erreicht (wie holprig die Fahrt auch immer war). Dass dies nicht nur in den Köpfen seiner Anhänger stattfand, bezeugen die neuen Probleme, die in Bezug auf sein Verhältnis zur ›realen Welt‹ aus dem Boden schießen. ›Die da oben‹ – insbesondere ihre Geld- und Finanzabteilungen – wollen den Neuling nun regulieren. Inzwischen hat ein Teil der Bitcoin-Gemeinde beschlossen, das auch zu wollen, einerseits aufgrund eines Bedürfnisse nach breiterer Wahrnehmung und Anerkennung, andererseits aber auch, weil die Reputation des Bitcoins, schon vor-

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her bestenfalls schwankend, durch eine Anzahl höchst exponierter Skandale weiter getrübt wurde, zum Beispiel durch das mysteriöse Verschwinden der japanischen Bitcoin-Tauschbörse Mt.Gox (einschließlich 850.000 Bitcoins im Wert von 450 Millionen US-Dollar) und der Verurteilung des Eigentümers der Drogenhandels-Plattform Silk Road. Eine Regulierung durch eine zentrale, externe Autorität stünde natürlich im krassen Widerspruch zu zentralen Grundsätzen des Bitcoins. Ein solches Hin und Her veranschaulicht nicht nur den ›offenen Widerspruch‹, den der Bitcoin darstellt, sondern hat inzwischen auch die Community und die Bitcoin Foundation gespalten. Man kann nun auch leicht behaupten, dass die Regulierung des Bitcoins ihn zu einem unter vielen anderen schrillen Finanzvehikeln degradiert. Das ist er ohnehin aus der Sicht des ›Finanzsektors‹. Wahrscheinlicher als ein regulierter Mainstream-Bitcoin ist jedoch, dass alle zukünftigen Währungen zwischen den moralisch bankrotten offiziellen und ihren informellen (lokalen) Varianten gespalten bleiben. Der Bedarf an P2P-Zahlungsmöglichkeiten wird weiter wachsen. Das Bankensystem, wie wir es kennen, ist auf normale Geldüberweisungen zwischen kleinen bis mittelgroßen wirtschaftlichen Akteuren kaum noch eingestellt. Niedrige Zinsen und andere Faktoren ›zwingen‹ die Banken, saftige Gebühren und Provisionen zu erheben, während gleichzeitig überall verfügbare Netzwerke nahezu kostenfreie Transaktionen und Geldtransfers (und mehr) versprechen. So wird es zwangsläufig dazu kommen, dass normale Überweisungen aus dem umständlichen und teuren Bankensystem herausfallen und andere Plattformen dessen Rolle übernehmen (vielleicht auf Basis der Blockchain-Technologie?). An der Front der Mobiltelefone hat die Entwicklung bereits begonnen, wie ich im nächsten Kapitel darstellen werde. Vor allem in P2P-Transaktionen, bei denen der Austausch vollständig in den Händen der Teilnehmer liegt und keine Vermittler mehr dazwischengeschaltet sind, kommt dieser Trend zum Tragen. Der Anspruch des Bitcoins, die ultimative Lösung innerhalb der rasenden Transformation des Geldsystems zu sein, ist aus vielen praktischen und sozialen Gründen fragwürdig. Die widersprüchlichen Kräfte, die hier wirksam sind, sprechen für eine Gabelung: nach dem Bitcoin die Bitcoins. Die andere Möglichkeit wäre, auf die Metaebene zu gehen und ein Meta-Austausch-System zwischen allen möglichen verschiedenen Kryptowährungen (siehe Ethereum7) zu schaffen. Welche Wege auch eingeschlagen werden, sie müssen immer zur Natur von ›Vertrauen‹ zurückkehren, speziell zu der praktischen, designbasierten Fokussierung auf den Unterschied zwischen vertraglichem und verteiltem Vertrauen, in einem ›funktionierenden Maßstab‹.

7 | https://en.wikipedia.org/wiki/Ethereum

Der Bitcoin und sein Nachleben

D er B itcoin nach dem B itcoin Der Bitcoin hat eine strahlende Zukunft, aber sie wird erst nach dem Bitcoin kommen. Lebt wohl, Winklevoss-Brüder! Der Aufstieg kleinskaliger digitaler (Krypto-)Währungen, die innerhalb spezifischer sozialer Umgebungen (ob lokal oder translokal) operieren und sich als alternativ oder komplementär verstehen, ist unaufhaltsam. Der komplizierteste Aspekt ihrer Einführung und ihrer ökonomischen Wirksamkeit wird dabei immer ihr Verhältnis zum ›real existierenden‹ Geld (€, £, $ oder was auch immer) sein, wobei komplementäre Währungen hier wesentlich flexibler sind als alternative. Trotzdem sind dies technologische Entwicklungen, auf die das gegenwärtige Bankensystem schlecht vorbereitet ist, besonders im Bereich des Einzelhandels (ganz abgesehen vom nicht auszuschließenden Zusammenbruch des Finanzsystems, so wie wir es kennen, insgesamt). Beim Einzelhandel werden vermutlich nicht an Banken gebundene und womöglich auch nicht zentral regulierte elektronische Bezahlsysteme den Sieg davontragen, vor allem bei Transaktionen von oder zwischen Einzelpersonen. Die Banken wollen ihre Einzelkunden bereits loswerden; mit ihren Mini-Beträgen und ihren teuren Betreuungsansprüchen sind sie ihnen nur lästig. Die Ausdünnung des Filialnetzes hat sie nicht abschrecken können, auch nicht höhere Gebühren. Tatsache ist, dass die Gewinnmargen niedrig bleiben, trotz aller Anstrengungen, die Meiers und Müllers abzuschütteln. Wann genau das Ganze ›kippen‹ wird, darüber lässt sich nur spekulieren, und es hängt von einer Vielzahl von Faktoren, auch von politischen, ab. Weniger spekulativ ist jedoch, dass die Währungen, die nun entstehen, nicht Bitcoin heißen werden, zumindest nicht in seiner gegenwärtigen Erscheinung. Der Bitcoin hat das Denken über diese Entwicklungen massiv beschleunigt, eine Vielzahl paralleler Experimente und Teillösungen hervorgebracht und  – auf sozialer wie auf technischer Ebene, durch Versuch und Irrtum – den Boden für andere in diesem Prozess vorbereitet. Dies ist das größte und am wenigsten bestreitbare Verdienst der Währung. Während alle möglichen neuen, hauptsächlich im Netz entwickelten Formate sich weiter ausbreiten werden, bietet besonders die in großem Maßstab stattfindende Nutzung mobilen Geldes in Teilen Afrikas ein interessantes Lehrstück, wenn es auch nicht so einfach auf den Rest der Welt, wo die Wirtschaft noch stark auf das etablierte Bankensystem angewiesen ist, übertragen werden kann. Beide, mobiles Geld und Bitcoin, stehen aber im Zusammenhang mit einer umfangreichen, techno-historischen Verschiebung von den Banken hin zu den Telekommunikationsunternehmen. Da der Bitcoin vom ersten Tag an zu 100 Prozent internetbasiert war, sieht er sich natürlich nicht explizit als auf einer Telekom-Infrastruktur aufbauend. Das unbewusste Apriori sind hier Internet und Smartphones. Hätte der Bitcoin nicht von Anfang an so widersprüchliche Ziele verknüpft oder hätte man ihn ›nur‹ als (eingebautes) Bezahlprotokoll  – z. B. innerhalb

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HTML – konzipiert, dann wäre er heute ein wirklich starkes Statement. Man müsste mal das Experiment machen und ihm sein libertäres Mining-Ritual und die Blockchain-Religion abstreifen, um zu sehen, was übrigbleibt. Im Moment sind Kryptowährungen die Avantgarde-Bewegungen unserer Zeit. Doch genau wie der Zeitgeist ist diese Avantgarde weder progressiv noch künstlerisch (keine Ästhetik bitte, wir sind strikt Geeks). Wenn alles schiefgeht, kann er retroaktiv ja immer noch als Kunstwerk in die Geschichte eingehen, eine wahre (anti-)soziale Skulptur (also weniger Duchamp oder Beuys als vielmehr Neo-Futurismus). Tatsächlich erweist sich der Bitcoin als zu 100 Prozent technisch und unternehmerisch und heizt dadurch die wachsende soziale Ungleichheit an – willentlich oder nicht. Wie Nathaniel Popper in seiner BitcoinStudie Digital Gold resümierte: »Der Bitcoin hatte versprochen, die mit ihm verbundenen Vorteile unter all seinen Nutzern zu verteilen, aber bereits 2014 gehörten große Teile der Bitcoin-Ökonomie ein paar Leuten, die schon am Anfang reich genug waren, um in dieses neue System zu investieren. Die meisten der neuen, täglich freigegebenen Coins wurden von ein paar großen MiningSyndikaten einkassiert.«8 Wirklich eine beschränkte soziale Plastik.

E ine W ährungsinsel ist möglich Zurzeit gibt es eine Menge alternativer Währungsmodelle jenseits des Bitcoins. Alle streben sie, in Erwartung einer schwierigen Zukunft (von endloser Stagnation bis zum totalen Kollaps), vom gegenwärtigen Geld- und Finanzsystem weg. Wie die meisten Wünsche, die sich an das Offene und die Mobilisierung sozialer Kräfte richten, neigen sie dazu, sich an den tief hängenden Früchten zu orientieren und störende Realitäten zu übersehen. Dies geht normalerweise mit der Sehnsucht einher, sich aus dem politischen Raum zurückzuziehen, und mündet in Systeme, die sich unweigerlich selbst dazu verdammen, entweder nur lokal oder ›gated‹ zu funktionieren. Anders ausgedrückt, sie können ihren Maßstab nicht genügend ausdehnen, um sich den Erfordernissen großer und komplexer Gesellschaften anzupassen. Wie der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis richtig bemerkt hat: »Es kann keine entpolitisierte Währung geben, die in der Lage ist, eine fortschrittliche Industriegesellschaft ›anzutreiben‹.«9 Diesem Argument 8 | Popper, Digital Gold, London: Penguin Books, 2015, S. 336. 9 | Yanis Varoufakis, »Bitcoin and the dangerous fantasy of a-political money« (blogpost), http://yanisvaroufakis.eu/2013/04/22/bitcoin-and-the-dangerous-fantasy-of-apo​l iti​ cal-money. Siehe auch seine spätere Entgegnung auf die vielen Kommentare: http://​ yanis​v aroufakis.eu/2014/02/15/bitcoin-a-flawed-currency-blueprint-with-a-po​t enti​ ally-useful-application-for-the-eurozone

Der Bitcoin und sein Nachleben

das Small is beautiful-Motto entgegenzuhalten, würde keinen Sinn ergeben – außer natürlich, man verlangt eine Rundumerneuerung (oder einen Rückzug von) der gegenwärtigen sozialen Ordnung, eine Bewegung ›zurück aufs Land‹ und ein allgemein verordnetes Negativwachstum. Andererseits kann man bei anhaltenden technologischen Fortschritten ziemlich sicher davon ausgehen, dass zukünftige Geld- und Zahlungssysteme weitgehend, wenn nicht ausschließlich, digital sein werden. Das ist tatsächlich ja schon der Fall, wenn auch nicht in der Weise, wie es sich die heutigen Befürworter alternativer Modelle (die die Dinge in der eigenen Hand behalten wollen) oder die Großbanken und Institutionen (die einer solchen Entwicklung gegenüber misstrauisch bleiben) vorstellen. Für beide sind Bitcoin und andere aktuelle (Krypto-)Währungen nur mutige Vorreiter; die Technik wird weiter ausreifen, neue Marken werden auftauchen – beim Geld und in anderen Bereichen –, aber grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die vernetzte Immaterialität des Finanzsektors die universale Vorherrschaft übernimmt. Die Hauptsorge der Banken, ob sie nun mitspielen oder mit dem Einstieg in diese Entwicklungen eher hadern, ist vor allem, nicht das Boot zu verpassen. Da sie aber – wenn auch mit deutlich geringerem Enthusiasmus – von der ›Zukunft des Geldes‹ das Gleiche erwarten wie der libertäre Haufen, können wir sie vorerst außer Acht lassen. Wenn wir den aufgeputschten Techno-Optimismus der Digerati und ihre Überzeugung, dass man bald, wenn nicht schon morgen, weltweite Swift-Transaktionen und Überweisungen praktisch kostenfrei tätigen kann, aber weiterdenken, müssen wir uns auf ein noch komplizierteres und umständlicheres Arsenal an Instrumenten einstellen, mit einer Vielzahl neuer Risiken, die auch den techno-libertären Konsens in die Krise stürzen können. Der Übergang von einem hybriden oder zum großen Teil digitalen Zahlungssystem zu einem, das komplett und ausschließlich digital funktioniert, bringt erhebliche Problematiken mit sich. Auf der technischen Seite gibt es eine Menge unbeantwortete IT-Probleme und potentielle Störungen (die sich durch verschiedene Pannen verraten, aber schnell heruntergespielt oder einfach ignoriert werden). Viel wichtiger aber ist, dass solch ein Übergang Konsequenzen hat, die weit über Geld- und Finanzsystem hinausreichen und unsere gesamte soziale Ordnung betreffen. Die Verfechter und Unterstützer der digitalen Lösungen sind entweder unfähig oder unwillig, diese Konsequenzen zu diskutieren; für sie ist die Evolution hin zu total vernetzten, ›virtuellen‹ Systemen einfach eine natürliche, evidente und nicht aufzuhaltende Entwicklung. Eine solche Sichtweise ist nicht nur unaufrichtig, sondern auch historisch falsch. Die Libertären geben ungern zu, dass diese ›Befreiung‹ in die Digitalität, und von staatlichem Geld, schon in den siebziger Jahren stattgefunden hat, als das Finanzsystem in der Praxis privatisiert wurde. Eine vollständige Digitalisierung der Währung bedeutet lediglich eine technische Weiterführung dieses Trends. Die Libertären nörgeln in erster Linie darüber, womöglich nicht

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in der ersten Reihe der Nutznießer zu stehen, vor den Banken und anderen Unternehmen. Wir müssen immer wieder ein verbreitetes Missverständnis korrigieren, auf das kürzlich auch Saskia Sassen noch einmal aufmerksam gemacht hat, dass es »im Finanzwesen nicht um Geld geht«.10 Das Finanzsystem hat sich heute komplett vom Geld entkoppelt, wie es allgemein verstanden und täglich von der Allgemeinheit genutzt wurde, pflegt jedoch gleichzeitig ein einseitiges, räuberisches Verhältnis zu ihm, das die Basis seiner unverdienten – und inzwischen auch wackelnden – Legitimität bildet. So tragen die Vorstellung, das Geld sei vom Finanzsektor als Geisel genommen worden, und die Angst vor der Großen Enteignung11, wie sie von verschiedenen Lagern der Kryptowährungs-Anhänger mit Blick auf die Entwicklung des Finanzsystems in den letzten dreißig Jahren gepflegt wird, dazu bei, dass sich die Sorge vor einer groß angelegten Konfiszierung von Geldwerten immer mehr verbreitet. Ein solcher Konsens könnte sogar genau das bezwecken. Denn die Befürworter und Entwickler der Kryptowährungen versprechen gleichzeitig, dass man der Bedrohung durch ihre verteilten, algorithmischen Modelle, die einen narrensicheren Schutz vor externer Störung und Beschlagnahme bieten sollen, entgehen könne. Diese Argumentation mag technisch glaubwürdig sein (wenn überhaupt, aber das sollen die Geeks diskutieren), in jedem Fall ist sie aber politisch, sozial und ökonomisch sehr naiv. Das gegenwärtige Finanzsystem befindet sich in einem Zombie-Stadium, in das es schon vor vielen Jahren eingetreten ist, und dies wird in der nächsten Zukunft nur noch deutlicher werden. Es ist davon auszugehen, dass eine komplette Revision des Geldsystems bevorsteht, nicht in Gestalt einer Reform, sondern als brutale und radikale Umstrukturierung, die mit einem breiten Spektrum an Notmaßnahmen einhergeht, wozu u. a. die Rückkehr zu hohen Zinsen, die Abschaffung von Geldautomaten und Bargeld überhaupt sowie die Beschlagnahmung von Spareinlagen gehören könnten. Diese Entwicklungen sind schon im Gange, wenn auch (noch) in kleinen Schritten – man frage nur die griechischen Zyprioten oder denke daran, was vor und nach ihnen die Argentinier erlebt haben. Anfangs dachte man nicht, dass die Bitcoiner nach dem Internet der Militär- und Telekommunikationsgiganten und deren zentralisierter Logistik ru10 | Vgl. Saskia Sassens Eröffnungsrede bei der MoneyLab #1-Konferenz, Amsterdam, März 2014 (https://vimeo.com/90207380). Siehe auch: http://networkcultures.org/ wp-content/uploads/2014/05/MoneyLab_Conference_Report_2014.pdf, und ihr Vorwort zu Geert Lovink/Nathaniel Tkacz/Patricia de Vries, MoneyLab Reader: An Intervention in Digital Economy, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2015. 11 | Man sollte sich immer daran erinnern, dass ›Geld‹ (in Form von Münzen und Geldscheinen) ein gesetzliches Zahlungsmittel ist, aber Bankeinlagen nicht, und dass deren Sicherung ungewiss ist und – oberhalb einer bestimmten Summe – nicht gegeben.

Der Bitcoin und sein Nachleben

fen würden, sondern eine Peer-to-Peer-Vereinigung von Nutzern anstrebten, die ihre eigenen monetären Belohnungen organisieren: »Keine Datenzentren mehr, willkommen zurück in der Zwischenzone.« So ist auch immer noch der Mythos. Es stimmt, dass die Währung eine technische Lösung schuf, durch die Transaktionen zwischen Einzelpersonen nicht mehr von schnöden Zwischenhändlern wie Banken, Regierungen und Regulierungsbehörden, einschließlich Finanzämtern, gestört werden. Aber die Bitcoiner gehören eindeutig nicht zu den Multitudes und wollen höchstwahrscheinlich auch gar nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Ihre Währung ist in Wirklichkeit eher komplementär als alternativ und verzichtet gleichzeitig auf politische Ziele wie Stärkung lokaler Ökonomien oder Schaffung von Werten, die über den zentral gesteuerten kapitalistischen Nutzwert hinausgehen (Fair Trade, ökologisch, lokal, nicht-kommerziell etc.). In der Praxis dient der Bitcoin bislang vor allem der anarcho-kapitalistischen Agenda des individuellen Erfolgs und der Anhäufung von Reichtum in einem ›schroff individualistischen‹, kompetitiven Umfeld. Die Zukunft, die er anbietet, ist einseitig und provisorisch – als eine komplementäre, keine alternative Währung. Am rätselhaftesten ist letztendlich seine Wertschätzung. Jeder Bitcoin 2.0 sollte grundsätzlich anti-spekulativ sein und eingebaute Mechanismen besitzen, die außergewöhnliche Wertschwankungen (ob nach oben oder unten) unterbinden. Dies wird die Währung nutzerfreundlicher machen und nicht nur das Horten verhindern, sondern auch, dass er zum Spielball von Investoren und Spekulanten wird. Der Bitcoin 1.0 ist eine spekulative Währung, deren Wert fast ausschließlich von seinem Wechselkurs zu anderen Währungen, vor allem dem Dollar, abhängt. Angesichts seiner erheblichen Volatilität, sowohl kurz- als auch langfristig, bietet er keinerlei Arbitrage-Perspektive, am wenigsten für diejenigen, die den Bitcoin als Zahlungsmittel für reale Güter und Dienstleistungen verwenden wollen. Wie soll das funktionieren, wenn ein Bitcoin, der zwischen 2009 und 2010 konstant zwischen 1 und 5 USDollar lag, seinen Wert plötzlich verhundertfacht? Die praktisch inexistente Nachfrage nach der Währung macht einen solchen Anstieg nicht plausibel – die Erklärung kann nur im exzessiven Mining zu Hamsterzwecken liegen. Aus der Perspektive sozialer Bewegungen, die für globale Gerechtigkeit, Solidarität und die Neuverteilung des Wohlstands kämpfen, ist das Hortungsprinzip der Währung schlicht inakzeptabel. Das ›Schürf‹-Modell der Wertakkumulation des Bitcoins muss mitsamt seiner Privilegien für die Früheinsteiger durch eine unabhängige Körperschaft ersetzt werden, die die Bitcoins ausgibt und den Umtauschwert gegenüber anderen Währungen festlegt. Das muss nicht notwendigerweise von einem Staat übernommen werden, nicht einmal von einer etablierten internationalen Institution. In der Kritik, die ich hier skizziere, geht es nicht darum, den Bitcoin in die Richtung einer ›reformistischen‹ Politik zu drängen, die die anarchistischen Wurzeln des Projekts

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ausmerzt. Aber wir müssen klar machen, dass die kranke Start-up-Logik dieses speziellen alternativen Finanzsystems nicht zu legitimieren ist. Sie nützt allein seinen Gründern und frühen Investoren, während die normalen Nutzer und all jene, die das Projekt weiter mit auf bauen, leer ausgehen, nur weil sie ein bisschen später dazukamen. Der Bitcoin (und vergleichbare Ableger) muss wieder zurück auf das Zeichenbrett und mit wirklich alternativen Funktionsprinzipien zurückkommen, die sich klar vom Wertschürf-Prinzip unterscheiden (und auch weniger Strom verbrauchen). Wenn man das Schürfprinzip aus dem Bitcoin herausnimmt, wie ich vorschlagen würde, bleibt immer noch das Problem des Vertrauens. Vertrauen ist die Hauptschwäche des Bitcoin-Modells, da es die permanente Unterstützung durch starke Online-Computer, Server-Farmen und Cloud-Dienste voraussetzt, für die scheinbar niemand etwas zahlt, und die Komplexität und Fragilität der dahinterstehenden technischen Infrastruktur nicht berücksichtigt. Die Kryptowährungen der nächsten Generation könnten durchaus die Blockchain als Stifter des ›designten Vertrauens‹ abschaffen.12 Das Problem wird aber sein, an welcher Stelle das Vertrauen – ohne das ein Geldsystem nicht funktionieren kann – sonst hergestellt werden soll. An diesem Punkt kommen wir wieder zum Skalierbarkeits-Thema zurück, das im Wesentlichen besagt: Wenn die Anzahl der Teilnehmer eines Systems wächst, steigt die Notwendigkeit einer unparteiischen, ›auferlegten Autorität‹ (die aber freiwillig akzeptiert werden muss) bis zu dem Punkt, an dem ihre Einsetzung sogar obligatorisch wird. Was passiert mit dem Bitcoin, wenn wir seine parasitäre Beziehung zur Infrastruktur beenden? Eher früher als später wird ein arbeitsloses Algo-Heer von Fintech-Programmierern, die gegenwärtig wegen des Versagens der Hedgefonds auf Wanderschaft sind, in das Feld der digitalen Währungen einfallen. Wir werden mehr und mehr die Einführung von Morozovschen ›Lösungen auf der Suche nach einem Problem‹ sehen  – dysfunktionale technische Reparaturen für Systeme, die kein technisches Problem haben. Höchstwahrscheinlich wird ein Kampf um die Vorherrschaft zwischen nachweisbasierten Kryptowährungen und vertrauensbasierten digitalen Währungen, auch bekannt als (digitales) Fiatgeld, ausbrechen. Gleichzeitig wird es Experimente mit alternativen und komplementären Geldmodellen geben. Bei diesem zukünftigen ›Wettbewerbsmarkt der Ideen‹ wird das Algo-Heer zweifellos am lautstärksten kundtun, dass sein jeweiliges technisch überprüftes Modell die einzig vernünftige Lösung ist. Aber eine wirklich alternative Ökonomie bedarf einer anderen Art von Vertrauen. Und dieses Vertrauen wird vor allem ein sozial geteiltes und lokales sein. Deshalb ist es fraglich, ob eine wirklich alternative (Cyber-)Wirtschaft jemals eine entsprechende Größenordnung erreichen kann. 12 | Siehe Caroline Nevejan, »Presence and the design of trust«, Dissertation an der Universität Amsterdam, 2007: http://nevejan.org/presence

Netcore in Uganda Die I-Network-Gemeinschaft

Seeking Knowledge to Serve. L eitspruch an einer S tatue vor der M akerere U niversität in K ampala , U ganda

»Normcore«1 ist beschrieben worden als ein »Unisex-Modetrend, der sich durch unauffällige, durchschnittliche Kleidung auszeichnet«, und seine Träger als »Menschen, die sich von anderen nicht abheben wollen«. Was wäre, davon abgeleitet, ›Netcore‹? Ich definiere es hier als die lebendige Alltagsform der Netzwerklogik, die zum Beispiel im andauernden profanen Dialog zum Ausdruck kommt. Trolle könnten so als Netcore betrachtet werden, seine reine Signatur jedoch ist Spam. Was passiert, wenn Netze Hardcore werden, indem sie sich auf diese Sphäre der Übernormalität ausrichten und nicht nur auf kulturelle Extreme. Was ist der Kern eines Netzwerks? Können wir diese Kernform in Aktion beobachten? Ich rede hier davon, wie Netzkultur in ganz unprätentiösen Netzwerken funktioniert, die sich auf engagierte Gemeinschaften gründen, mit einem klaren Sinn für das Eigeninteresse, aber in Verbindung mit gegenseitiger Unterstützung und durch unsichtbare Mechanismen am Leben gehalten, unter sozio-technologischen Umständen, die wir im Westen schon längst vergessen haben.2 Die afrikanische Mobiltelefonkultur ist Netcore. Sie ist schon lange da, und die Geräte haben eine so große Verbreitung, dass sie schon vollständig in 1 | Die Referenz ist hier der von der Trendforschungsgruppe k-hole im Oktober 2013 veröffentlichte Bericht Youth Mode: A Report on Freedom (http://khole.net/dl?v=4). Das Urban Dictionary definiert ›Normcore‹ als eine »Subkultur, die sich auf die bewusste und gewollte Adaption von Dingen gründet, die weit verbreitet sind und sich als akzeptiert oder generell unbedenklich erwiesen haben. Ultrakonformisten«. 2 | Man denke an die Dialektik zwischen Networking und Notworking, wie beschrieben in: Geert Lovink, »The Principle of Notworking«, Hogeschool van Amsterdam, 2005: http://networkcultures.org/blog/publication/the-principle-of-notworking-geert-lovink

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das geschäftige und oft harte Alltagsleben des Kontinents integriert sind. Mit fortschrittsorientierten ›High-Tech‹ vs. ›Low-Tech‹-Unterscheidungen kommt man hier nicht weit, und die Dialektiken zwischen alt und neu überraschen oft sogar die Insider. In diesem Kapitel richtet sich mein Interesse auf Netcore als eine Art der Praxis und Kritik im ugandischen Kontext, speziell in Bezug auf eine als »i-network« bekannte lokale ICT-Community, eigentlich eine klassische Mailingliste, die sich dem »Austausch von Wissen, Lobbyarbeit und Expertise im ICT4D-Bereich [ICT for development]« widmet. Die Liste wird von einer kleinen NGO gleichen Namens in Kampala betrieben. In meinem Mailprogramm habe ich einen Ordner mit über 30.000 zwischen Februar 2010 und August 2015 geposteten Beiträgen (was durchschnittlich fünfzehn Mails am Tag entspricht). Die Liste vermittelt einen einzigartigen Einblick in die Alltagssorgen eines – in Bezug auf Computerindustrie und Internetnutzung – mittelgroßen afrikanischen Landes (die großen sind Südafrika, Ägypten, Kenia und Nigeria). Die i-network-Liste hat 1.700 Mitglieder, eine engagierte und lebendige Gemeinschaft, die hier ein breites Spektrum von ICT- und Internetthemen in entspannter und persönlicher Atmosphäre diskutiert. Flame Wars sind selten. Der Diskussionsstil auf der Liste ist überraschend informell, direkt und unverblümt (»Deine Website ist ein totales Chaos.« – »Hör auf, so zu dramatisieren!« – »Was ist unethisch daran, die Wahrheit publik zu machen?« – »Wie kann jemand eine Message posten, in der nichts weiter steht als ›Hahahahahahahahaha  …‹  – soll das ernstgemeint sein?«). Die meisten Mitglieder scheinen sich von Start-up-Firmen und ICT-Veranstaltungen zu kennen und helfen sich oft untereinander mit technischen Ratschlägen. In anderen Ländern und Kontexten würde dieser Informationsaustausch eher über informelle Chat-Kanäle stattfinden, aber in diesem Fall funktioniert es per E-Mail sehr gut und bringt auch Außenstehende wie mich in den Genuss, die ugandischen ICT-Dialoge lesen zu können. Die i-network-Liste fungiert als Schnittstelle zu Akademikern, Journalisten, politischen Entscheidern, Netzwerkbetreibern, freien Programmierern, Webdesignern und Telekom-Regulatoren, die sich alle gegenseitig mit Fragen, Kommentaren und URLs bombardieren. Meist geht es in den kurzen Dialogen um technische Software-Spezifikationen, Mobiltelefone oder Web-Routinen wie etwa elektronische Zahlungen. Einige der Mitglieder arbeiten am Informatik-Lehrstuhl der Makerere-Universität, im Parlamentsausschuss für Informations- und Kommunikationstechnologie, der über Internet-Gesetze berät, oder am African Leadership Institute. Andere sind als Korrespondenten für die EastAfrican oder als Forscher an der Uganda Christian University tätig, in Firmen wie Techsys, SecondLife Uganda Ltd (die sich auf generalüberholte Markencomputer spezialisiert hat), E-Tech, Appfrica Labs, Elmot Ltd, Best Grade (wohinter ein freies Schul-Management-Programm steckt, das für die Nutzung durch Schulen in Sub-Sahara entwickelt und im Senegal erstmals ein-

Netcore in Uganda

gesetzt wurde), Eight Technologies, Owino Solutions und Non-Profit-Projekte wie das Community Open Software Solutions Network. Ein beträchtlicher Teil der i-network-Mitglieder arbeitet auch außerhalb Ugandas, in britischen, südafrikanischen, niederländischen oder US-amerikanischen Technologieunternehmen. Der Hochfrequenzdiskurs auf der Liste ist dichter als das Leben selbst. Am meisten diskutiert werden Themen wie Mobilfunktarife und verwandte Fragen zu Reichweite, Fusionen oder Regulierungen, formell wie informell (»Die Firmen-Website wurde im März 2015 registriert. In 3 Wochen haben sie die Website aufgesetzt und 3000 Jobs ausgeschrieben. Man kann eine Website in vier Stunden entwickeln. Da muss was faul dran sein.«)3 Das Spektrum ist auf jeden Fall phänomenal: der erste App Circus am 21. November 2011; Berichte vom Digital Africa Summit und der African Network Operators’ Group; Betrugsfälle mit Mobilgeld; Übertragung medizinischer Daten per SMS; die Ausnutzung von Sicherheitslücken des Internet Explorers; betrügerische SIMBoxen; die wachsende Herausforderung durch Elektronikschrott; der Wert von professionellem Webdesign; ein Workshop zu Business Process Outsourcing (BPO); Laptop-Diebstähle an der Ntinda-Tankstelle; offizielle Einweihung der Wireless Hotspots an der Makerere Universität durch den schwedischen Botschafter; Gründe dafür, Linux zu fördern; Cisco- vs. Huawei-Router; wiederholte Forderungen nach lokalem Content; Treffen der Google Technology User Group Kampala; Mobile Monday Kampala; die Anfänge der Mozilla-Community in Uganda; Nachrichten vom Women of Uganda Network; die Nutzung der offenen Lernsoftware des MIT; Vorstandsgehälter; die Uganda Linux User Group veranstaltet im Guzzlers Pub in Bugolobi eine Party, um die Einführung von Ubuntu 10.04 zu feiern; der erste freie Webmaildienst ugamail.co.ug; Kritik an der PR-Einführung von YouTube Uganda; Fragen zur Administration der .ug-Domain; die Verwendung von PayPal für Online-Checkout; GSM-Störsender; Online-Stadtteilkarten; der beklagenswerte Zustand der Uganda ICT Excellence Awards Website; wie ICT helfen kann, die Ansteckungsrate von AIDS zu verringern; Entlarvung falscher Angaben von Unternehmen (»Man kann nicht gleichzeitig unbegrenzte High-Speed-Verbindungen und niedrige Preise anbieten«  – Reinier Battenberg); Content Sharing des neuen PC Tech Magazins, das »über profilierte Verkaufsstellen, Zeitungsstände, Flughafen3 | In den Diskussionen auf der Liste werden oft die Werbeversprechen mit der etwas anderen Realität vor Ort verglichen – zum Beispiel im Fall von MTN, dem größten Telekom-Unternehmen des Landes, oder bei den Leistungen neuer Marktteilnehmer. So schreibt Cavin Mugarura zur Verteidigung von Vodafone: »Vodafone ist hier, um etwas Geld zu machen, und sie bieten einen Service, der den der Wettbewerber übertrifft. Sie sind nicht das Rote Kreuz oder die nationalen Wasserwerke, die ihre Bürger mit kontaminiertem Wasser versorgen und dabei Typhus verbreiten.« (18. März 2015)

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shops, Geschenkeläden und Buchhandlungen in Uganda, Kenia, Ruanda, Ghana, und Nigeria vertrieben« wird, aber »es sind 72 MB, könnt ihr sie bitte komprimieren oder auf einem lokalen Mirror ablegen? Dauert sonst ungefähr 45 Minuten«; Kartierung von Erdrutschen; Zusammenfassungen von der Fifth eLearning Africa Conference; die Conference on M4D (Mobile Communication Technology for Development); Neuigkeiten von der African Network Operators Group; der Electronic Signatures Act von 2004; zahlreiche Job-Angebote – »die Firma Nodesix sucht junge Talente«. Während ICT alle Aspekte des Lebens und der Organisation zu beeinflussen beginnt, bemerkt ein Mitglied der Liste: »Ich habe ja schon alles Mögliche auf i-network gesehen, aber es ist wohl das erste Mal, dass ich hier das Budget für eine Hochzeit finde. Es gibt einfach für alles ein erstes Mal!« und gleich darauf: »Ich suche nach einem Online-Angebot für Cisco IP-Telefon-Netzteile der 7900er Serie.« I-network basiert auf der sogenannten ›Development Through Dialogue‹ D-Group-Software, die von der niederländischen ICT4D-Agentur IICD in Den Haag in Zusammenarbeit mit der Uganda Communications Commission entwickelt wurde, um das ›Teilen von Wissen‹ im Vorfeld der World Summits on the Information Society 2003 und 2005 zu fördern. Von diesen Ursprüngen ausgehend, erscheinen die Aktivitäten der i-netter am meisten Netcore, wenn sie sich mit sogenannten ›Forschungsagenden‹ und Memen innerhalb der politischen, infrastrukturellen und technischen Rahmenbedingungen des ugandischen Echtzeit-Alltags beschäftigen. Im Dezember 2012 stattete ich dem i-network-Büro in Kampala einen Besuch ab, wo ich von dessen Content-Managerin Margaret Sevume und weiteren Mitarbeitern in Empfang genommen wurde. Die Reise war von einem meiner früheren Studenten an der Universität Amsterdam organisiert worden, Ali Balunywa, einem erfahrenen Journalisten, der auch in meinem Alter ist und inzwischen als ICT-Berater für den Medienund NGO-Sektor arbeitet. Sevume erzählte davon, wie sich der primäre Fokus von i-network auf ICT-Nutzung und -Politik in einer Zeit herausbildete, als das Thema in ihrem Land noch kaum auf der Agenda stand. Später begann i-network auch selbst mit der Beratung und Umsetzung von ICT-Projekten. Um die Diskussionsthemen zu ordnen, wurden sogenannte ›Knotenpunkte‹ für vernetzte Erziehung, Gesundheit, Landwirtschaft und Ernährung, Jugend und Journalismus eingeführt. Diese Knoten hatten ursprünglich jeweils eigene Listen, aber am Ende zeigte sich, dass das Netzwerk seine Stärken am besten entfalten konnte, indem es sie zusammenführte. Sevume: »Da ICT quer durch alle Branchen ging, war es einfach, Akteure aus verschiedenen Feldern an Bord zu holen. Alle Branchen profitieren von den Möglichkeiten, die ICT bietet, um Effizienz und Wirksamkeit zu erhöhen. Manchmal wird die Mailingliste für Beschwerden über ICT Service Provider genutzt, da diese schneller bei den Adressaten ankom-

Netcore in Uganda men, wenn sie hier geteilt werden. Alle Service Provider lesen hier mit und können so schnell Probleme wahrnehmen und sich um eine Lösung kümmern.« 4

Die i-netter, wie sich die Mitglieder der Liste selber nennen, verteilen auch Adressen von Glasfaserkabel-Anbietern oder nehmen an Veranstaltungen zur Internet-Freiheit in Ostafrika teil. Einer erzählt: »Ich habe einen Studenten beauftragt, mir Sendezeit zu kaufen«; ein anderer, dass BarefootLaw den Facebook-Page of the Year Award gewonnen hat. Zu den Diskussionsthemen gehören unter anderem: Wie man Betrüger aufspürt, Prepaid Roaming-Gebühren in Burundi, ein Bericht des ugandischen Kommunikationsausschusses zum empfohlenen Umgang mit unerwünschten SMS und wessen Website gerade von einer Gruppe, die sich Indonesische Cyberfreiheit nennt, gehackt wurde. Sie positionieren sich gemeinsam zu einem Gesetzentwurf für Datenschutz und Privatsphäre, rufen Einzelpersonen und Firmen zum Austausch von Erfahrungen mit bestimmten Anbietern auf, wollen wissen, wie man einen DVDPlayer entsperrt oder machen ihren Gefühlen über schlechte Dienstleistungen Luft: »Es deprimiert mich, wie die Umeme Ltd [ein Stromanbieter] seinen Verpflichtungen gegenüber unserer Gemeinde in Kasambya nachkommt.« Ein anderes Mitglied fragt: »Wir haben hier viele Malariafälle und ich bräuchte ein GIS-System, um ihre Verteilung zu erfassen. Wo bekomme ich so eine Anwendung her und was würde das kosten?« Ende 2014 wurde auch Whatsapp als zusätzlicher i-network-Kanal in die Diskussion gebracht, aber vom Büro freundlich abgelehnt: »Wir schätzen die Schnelligkeit der Antworten über Whatsapp, aber denken, dass es für den ernsthaften Wissensaustausch nicht wirklich geeignet ist.«5 Whatsapp-Gruppen sind gegenwärtig auf 100 Mitglieder begrenzt und haben keine Betreffzeilen, was sie notorisch unübersichtlich macht. Kurz darauf mahnt der Moderator: »Und das nächste Mal, wenn ihr für ein Anliegen Spenden sammeln wollt, etwa die Taufe eures Kindes, macht das bitte nicht hier.«6 Zum lokalen Markteintritt von Whatsapp (das Facebook gehört) bemerkt Edgar Mutebi: »Die Telekoms der Entwicklungsländer haben viel und oftmals mit großem Risiko in GSM-Netze investiert, die bald überflüssig werden. Ich persönlich finde, Whatsapp sollte unseren Telekoms einen Ausgleich zahlen, da es von ihren Investitionen profitiert.« Jude Mukundane daraufhin: »Die Systeme werden immer smarter  – das heißt weniger Leute, kleinere Computer, weniger Platzbedarf, und die Firmen kommen nicht darum herum, sich zu verkleinern.« 7

4 | Margaret Sevume, E-Mail-Interview, 4. Apr. 2015. 5 | Margaret Sevume, i-network, 2. Dez. 2014. 6 | Margaret Sevume, i-network, 20. März 2015. 7 | Diskussion auf der i-network-Liste, 1. Apr. 2015.

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Das i-network ist eine Gemeinschaft von Digital Natives, in der das Bedürfnis, Wissen zu teilen, im Vordergrund steht, nicht Emotionen, Coolness oder persönliche Animositäten. Druckerteile sind wichtiger als Emoticons. Ein Mitglied, Green Mugerwa, erinnert die Liste an den Wert ihres Engagements: »Wir spenden euch Beifall dafür, dass sich euer ICT-Einsatz positiv auf unser Leben auswirkt.«8 Ihre jüngeren Mitglieder sind meist IT- oder NGO-Professionals, keine Teenager oder Studenten.9 Technik-Neuigkeiten, die regelmäßig weiterverbreitet werden, sind eher US-lastig. Einmal fragt Daniel Okalany: »Kann mir bitte mal einer sagen, wie in unserem Land die Gesetzeslage zu Urheberrechten ist? Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand mal wegen illegaler Software, Musik oder Filmen eingesperrt worden wäre. Gibt es diese Gesetze überhaupt?« Die Antwort des Moderators: »Gelegentlich werden ein paar Microsoft-Schläger eingeflogen, um der Polizei zu helfen, ein paar Türen einzutreten. Darüber hinaus habe ich nicht den Eindruck, dass hier etwas durchgesetzt wird.« Statistiken zufolge handelt es sich bei 83 Prozent der Software in Ostafrika um Raubkopien. Das (weitgehende) Fehlen von Helpdesks und anderen Kundenservices hängt eindeutig damit zusammen, ebenso die Bedeutung von i-network an ihrer Stelle. Ein anderes oft diskutiertes Thema ist der Wert und die Nutzung von recycelten Computern. Während Uganda plant, sein Einfuhrverbot für gebrauchte Computer wieder aufzuheben, folgt Kenia dem Beispiel von Sambia und verbietet es, dass alte PCs, oder was die Behörden darunter verstehen, von den entwickelten Ländern auf ihrem Markt entsorgt werden. Semakula Abdul: »Ich denke, in Ländern wie Uganda, die noch am Anfang stehen, wird das Verbot gebrauchter Computer die Entwicklung im ICT-Sektor bremsen. Unsere Gesellschaft ist zu verliebt in billige Produkte.« Auch diskutiert werden die technische Ausrüstung und die dazugehörige Software für Krankenhäuser, wie in der Navivision/ClinicMaster-Debatte. Kyle Spencer: »Microsoft stellt uns 706 Dollar pro Arbeitsplatz für die Lizenz des NaviVision-Systems in Rechnung. Das ist der ermäßigte Preis gegenüber den Normalkosten von ca. 1000 US-Dollar. Darüber hinaus wird verlangt, dass wir sie in Paketen von 15 Einheiten kaufen. Nur um einmal zu veranschaulichen, wie viel Geld das für uns ist, wir haben kürzlich eine neue Klinik in Kololo eröffnet, für die auf etwa zehn Computern NaviVision installiert werden musste, und die Lizenzgebühren dafür machten am Ende 10 Prozent der Kosten für den gesamten Bau und die Ausstattung der Klinik aus.«

8 | Green Mugerwa, i-network, 24. Nov. 2014. 9 | »Mwesigwa, du hast gesagt : ›Reife, Verantwortungsbewusstsein, Erfahrung und Professionalität haben nichts mit dem Alter zu tun.‹ – Ich würde sagen: Manchmal doch.« (James Mwesigwa).

Netcore in Uganda

Politiker, die sich normalerweise unter den ›stillen Zuhörern‹ befinden, können durch die Debatten und Diskussionen auf i-network direkt zum Handeln veranlasst werden. Laut Eunice Namirembe, Koordinator für Monitoring und Evaluation bei i-network, dem ICT4D-Koordinationsnetzwerk hinter der Liste, treten monatlich ungefähr dreißig Leute der Plattform bei, aus unterschiedlichen Gründen, vor allem aber, wenn gerade ein besonders ›heißes‹ Thema diskutiert wird. Interessanterweise sind etwa 40 Prozent der Mitglieder Frauen, was auch den Trend widerspiegelt, dass Interessenvertretung für viele Leute zu einem immer wichtigeren Thema wird. Interessenvertreter und Aktivisten, die wieder an die Universität gehen, um ihre Studien zu vertiefen, nutzen inzwischen die D-Group auch für ihre Recherchen. Einer der stillen Zuhörer ist Nathan Igeme Nabeta, der (ehemalige) Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für ICT, der die Debatte über sein Blackberry verfolgt. »Es ist immer wichtig, mit den Entwicklungen in diesem Sektor Schritt zu halten, und i-network hat uns dafür die Plattform bereitgestellt«, sagt er. So sieht es auch Eunice Namirembe, die ihre Moderatorenrolle vor allem in einem parallelen, unsichtbaren Austausch außerhalb der Liste wahrnimmt und nur hin und wieder, wenn die Beiträge zu sehr vom Thema abkommen oder eine Debatte sich zu sehr aufheizt, eine öffentliche Warnung ausspricht. Manchmal äußern auch Abonnenten der Liste selbst ihre Sorge, dass diese zu sehr als Werbeplattform benutzt wird. Ob ein gewisses Unbehagen über die Entwicklung der Listen im Zuge der Expansion des ICT-Geschäfts in Uganda wachsen wird oder nicht, bleibt abzuwarten. Die einzige Faser in Uganda, die ihr Geld wert ist, ist die Bananenfaser. Die Nachteile Ugandas als Binnenland ohne direkten Zugang zu Meereskabeln sind offensichtlich. Kein Wunder, dass die Bandbreitenpolitik Thema Nummer eins auf i-network ist. Wir lesen die Fakten über die Internetzugangskosten, erfahren vom Anschluss eines dritten Kabels in Mombasa (http://twitpic. com/1a69bb) und verfolgen Diskussionen darüber, wie schwierig es ist, »im Land der Telefoneinwahl Technologiefirmen aufzubauen«. 2010 kam heraus, dass Uganda das falsche Glasfaserkabel verlegt hatte, bei Kosten von 30.000 US-Dollar pro Kilometer und 61,6 Millionen US-Dollar für insgesamt 2.100 km. Den Vertrag hatten chinesische Firmen ausgearbeitet. Ruanda hat  – als Gegenbeispiel  – seine Kabel auf Basis intern ermittelter Spezifikationen gekauft und verfügt nun über höhere Bandbreitenkapazitäten. Auf der i-network-Liste erfährt man auch über Relaisstationen ohne Stromgenerator und zu flach verlegte Kabel, wegen derer selbst kleinere Erdarbeiten immer wieder zu Leitungsstörungen führen. »Empfohlen wird eine Tiefe von mindestens 1,2 m, und innerhalb der vorgesehenen Reserveflächen entlang der Schnellstraßen sollte das normalerweise reichen, um die Fasern bei Rohrverlegungen und anderen kleinen Grabungen im Zuge von Straßenbau-

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Im Bann der Plattformen arbeiten zu schützen; bei größeren Straßenbauprojekten ist es sicherer, wenn man noch tiefer geht, da bei der Kosten-Nutzen-Analyse die Kosten durch Störungen gegen die Kosten des tieferen Aushubs abgewogen werden müssen.«

Raymond Kukundakwe schreibt dazu: »Man kann sagen, dass die Kosten exorbitant sind, aber nicht, dass man ›betrogen‹ wird – das wäre, wie wenn man vor einer Mercedes-Verkaufsstelle gegen die hohen Preise von Mercedes-Fahrzeugen demonstrieren würde.« Mayengo Thomas Kizito ergänzt: »Die Leute, die sich in den verregneten Landesteilen das Spiel Chelsea gegen Arsenal angeschaut haben, können es bezeugen. Jeder kann verstehen, dass das Wetter digitale Signale beeinflussen kann, aber nicht für zwei Stunden und vor allem nicht während eines so wichtigen Spiels wie diesem.« Die IT-Projekte in der Region scheinen von Korruption, realer oder gefühlter, verfolgt zu werden. Paul Asimwe: »Die Republik ist ein großes Kasino … Ich fürchte mich nicht davor zu sagen, Ugander haben kein Interesse an Uganda.« Wenn wir auch noch die Produktivitätseinbußen aufgrund der regelmäßigen Lastabwürfe und Stromausfälle einbeziehen, wird es sehr schwierig, die Gesamtsituation ethisch und politisch-ökonomisch klar zu erfassen. Aufschlussreich ist auch folgender Bericht: »Es gibt eine Auseinandersetzung um einen Vertrag über 3,9 Millionen US-Dollar, der vom Erziehungsministerium an M/S Cyber School Technology Solutions vergeben wurde, genau zwei Tage, nachdem Spenderorganisationen ihre Unterstützung in diesem Sektor aufgrund mutmaßlicher Korruption und Fehlplanungen gekürzt hatten. Der Besitzer der Firma, Mr. Keneth Lubega, ist gleichzeitig der Vorsitzende der nationalen IT-Behörde Ugandas, und Parlamentsmitglieder im ICT-Ausschuss vermuten, dass Mr. Lubega seinen Einfluss geltend gemacht hat, um den Vertrag zu bekommen.«10

Die Verbindungsausfälle, die auf i-networks thematisiert werden, sind meist weniger mysteriös und können leicht auf eine genaue Ursache zurückgeführt werden. Zwar werden am Ende jedes Mal funktionierende Lösungen gefunden, aber die Frustration bleibt. So sieht die Bandbreiten-Dialektik im Uganda-Style aus: »Vor zwei Jahren hatten wir uns an langsames Internet schon gewöhnt und haben uns nie beklagt. Aber während wir auf Verbesserungen warten, scheint es inzwischen noch langsamer geworden zu sein.« (Joshua Twinamasiko) Die Tiefseekabelfirma SEACOM11 10 | Daily Monitor, 19. Nov. 2011. 11 | »Das SEACOM Unterwasser-Glasfasernetzwerk wurde am 23. Juli 2009 in Betrieb genommen. Das Netz dient der direkten Verbindung von Süd- und Ostafrika mit Europa und Südasien und seine optischen Glasfaserkabel erstrecken sich über eine Entfernung von 17.000 km.« (www.seacom.mu).

Netcore in Uganda »bietet immer noch keinem Internetanbieter eine Leistungsvereinbarung an, und was wir zuletzt mitbekommen haben, erklärt auch warum. Schon vor einiger Zeit hatten sie für das Glasfaserkabel nach Mombasa höhere Kapazitäten versprochen, doch das angepeilte Datum ist immer wieder verschoben worden. Dazu muss man sagen, dass sie auch unter mutwilligen Beschädigungen ihrer Kabel, Geräteausfällen und gestern einem Routing-Problem zu leiden hatten.« (Brief an Datanet.com customers, 16. März 2010)

»Es kommt mir fast schneller vor, zu Fuß zu gehen und ein Blatt Papier abzuholen als über meinen ISP die Bytes zu empfangen.« (Stephen) Kurze Zeit später fällt SEACOM wegen eines beschädigten Kabels bei den Seychellen wieder für fünf Tage aus. Einige Mitglieder warnen jedoch vor einer Überbetonung der Stressfaktoren auf der Liste: »Wenn wir nur noch alle mit unseren Fingern auf die schuldigen ISPs zeigen, verliert das Netzwerk seine Existenzberechtigung.« Joshua Twinamasiko rückt die Ärgernisse ins rechte Licht: »Das Internet mag eine Lebensgrundlage sein (in Finnland, wo 95 Prozent der Bevölkerung Internetzugang hat, gilt ein 1MB-Anschluss als Menschenrecht), und wichtig, um Armut, Korruption und Schlaglöcher zu überwinden, aber in Uganda ist dies noch nicht die Realität. Gebt den Leuten erst Nahrung, Häuser, Elektrizität, danach könnt ihr darüber sprechen, inwiefern das Internet grundlegend ist.«12 In Bezug zum Thema Netzzugang steht auch die Debatte über den Status von Content und wo er aufhört. Das mag für einige wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei klingen, die zumindest im Westen als ›erledigt‹ gilt (insbesondere seit den späten Neunzigern), aber auf der Liste finden sich trotzdem interessante philosophische und alltagsbezogene Diskussionen dazu. Ein i-netter schreibt: »Provider wie MTN, Warid, Zain, UTL und Orange, sie alle sorgen in den verschiedenen Teilen des Landes für Netzzugang. Aber nicht für Content (sie produzieren keinen, wissen auch nicht, wie das geht, es ist nicht ihre Stärke). Voice wird nicht als Content betrachtet, so wie wir Content heute verstehen. SMS wird auch nicht als Content betrachtet, so wie wir ihn heute verstehen.« Andere widersprechen: »Voice ist Content, SMS ist Content, elektrischer Strom, der durch ein Kabel geschickt wird, ist Content. Alle schaffen Konnektivität und außerdem den Infrastrukturanbietern einen Daseinszweck.« (Kyle Spencer). Reinier Battenberg erwidert darauf: »Mündliche Kommunikation wird, da sie flüchtig ist, nicht als Content betrachtet. Sie verschwindet gleich wieder, nachdem sie aufgetaucht ist. Sie findet auch eher 1 : 1 statt. Das Web dagegen ist 1 : viele, und der ›Content‹ wird gespeichert. Es ist ein ganz ›neues‹ Paradigma (markieren, wo du gewesen bist). Das Speichern und Bereitstellen

12 | Joshua Twinamasiko, i-network, 15. Mai 2010.

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Im Bann der Plattformen von Content erlaubt, dass er in Information umgewandelt wird. Information erzeugt einen ökonomischen Wert (oder ist sogar selbst einer).«

Wenn das Netzwerk ausgefallen ist, passiert sowieso nichts. »Wir haben über 200 Mitarbeiter bei Airtel CUG, aber seit einer Woche können wie in Mbarara nicht mehr kommunizieren und arbeiten. Das Netzwerk ist einfach zu erbärmlich.« (Thomas Kizito). Eine oft diskutierte Frage ist, wie man eine üppige lokale Internetkultur ankurbeln kann. Muss man erst auf größere Bandbreiten warten, um eine kritische Masse zu erreichen? Oder baut man zunächst eine geekige/technoaffine Start-up-Szene auf, um die sich entwickelnde Nutzergemeinschaft mit elementarem Code zu versorgen? Oder sollte man die Betonung auf die Entwicklung von Content legen? Lokale Apps zuerst? Und dann das nationale 4G-Netzwerk? Oder? Reinier Battenberg meint: »Erst müssen wir mit lokalem Content anfangen und dann können wir die Fortschritte verfolgen. Wir sind die Kampagne. Jeder einzelne von uns. Wenn du nicht weißt, wie du anfangen sollst, mach erst mal einen Wikipedia-Eintrag über deinen eigenen kulturellen Hintergrund. Tipp: es gibt noch keinen über Kwanjula [ein lokales Verlobungszeremoniell]. Erstelle eine Karte Deiner Nachbarschaft. Geh zu www.openstreetmap.org, richte ein Konto ein und los geht’s. www.walking-papers.org hat mir bei meiner Karte wunderbar geholfen. Mache eine Facebook-Seite über ein Thema, das dir wichtig ist, und suche andere, die es auch interessiert.«

Eine interessante Rolle bei der Beschleunigung der lokalen Content-Produktion spielen lokale Apps, und sie geben – auch wenn es eigentlich nur um Content geht – vielleicht eine vielversprechende Richtung vor. Meine Beschäftigung mit Uganda reicht bis zum November 2008 zurück, als fünf Studierende der Abteilung Neue Medien an der Universität Amsterdam sich zusammentaten, um über Uganda zu forschen und ihre Masterarbeiten zu schreiben.13 Sie hatten sich im einjährigen Masterprogramm ›New Media & Digital Culture‹ eingeschrieben, das in die geisteswissenschaftliche Fakultät eingegliedert ist. Das Programm bot ihnen weder einen wirtschaftswissenschaftlichen noch einen technischen Abschluss und qualifizierte die Absolventen auch nicht für Tätigkeiten im Bereich internationaler Beziehungen oder Entwicklungszusammenarbeit. Was das sich entwickelnde Fach Neue Medien allerdings untersuchen konnte  – und womit sich die Studierenden auch schon auskannten – waren die kulturellen und kritischen Dimensionen von Internet und Mobiltelefonen. Ihre Forschungsprioritäten und -methoden 13 | Die Gruppe bestand aus Ali Balunywa, Guido van Diepen, Wouter Dijkstra, Kai Henriquez und Ben White.

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unterschieden sich dabei deutlich von den modischen Leittheorien jener Zeit in Europa (z. B. ›objektorientierte Ontologien‹, ›next natures‹, ›Neue Ästhetik‹). Die Feldstudie, die zwischen April und Juni 2009 unternommen wurde, sollte insgesamt über den Rahmen der üblichen (verdächtigen) Entwicklungsrhetorik hinausgehen, um stattdessen zu erkunden, wie die Praktiken in Uganda tatsächlich aussehen, jenseits von Markthype, NGO-Diskurs, Regierungsberichten und sogenannten ›Digital Divide‹-Daten. Nachdem die Studierenden ihre Recherchen Anfang 2010 beendet hatten, sind wir wieder zusammengekommen und haben Ideen und den Rahmen für eine Publikation entwickelt. Das Institute of Network Cultures hatte gerade seine Theory-on-Demand-Reihe gestartet. Die Ergebnisse in Kampala zu publizieren, wäre von Amsterdam aus schwer zu organisieren gewesen. So entschieden wir uns, die einzelnen Projekte zu straffen, zu redigieren und zusammenzustellen und sie um eine überblicksartige Einführung zu ergänzen. In dieser ging es mir weniger darum, alle Papiere noch einmal zusammenzufassen, als meine eigene Motivation dahinter und unser sich entwickelndes Modell einer ›Post-ICT4D‹-Forschung hervorzuheben. Tatsächlich war schon meine allererste Veranstaltung an der Universität Amsterdam 2004/05 dem Thema einer unabhängigen ›ICT4D‹-Kritik gewidmet gewesen, parallel zum damals stattfindenden Weltgipfel zur Informationsgesellschaft in Genf und Tunis. Zu jener Zeit war ich an einer kollektiven Intervention in diesem Feld, dem Incommunicado-Netzwerk, beteiligt, einem der ersten Forschungsnetzwerke des INC. Gleichzeitig hatte sich eine enge Verbindung zum Neue-Medien-Zentrum Sarai in Delhi entwickelt. Seitdem habe ich weitere Studierende dazu ermuntert, ihre Master-Forschungen auf andere Kontinente auszuweiten. Auf die Uganda-Forschungsgruppe folgten so Untersuchungen von Rikus Wegmann über die Nutzung von ICT in Gymnasien Sambias und von Pieter-Paul Walraven über die chinesische Internet-Industrie, außerdem arbeiteten Ellen de Vries und Fei-An Tjan mit Medienaktivisten in Brasilien und Kolumbien, und Jidi Guo beschrieb die Ankunft des 3G-Mobilfunks im urbanen China. Ende 2005, während des zweiten Weltgipfels zur Informationsgesellschaft in Tunis, war ich mit Uganda schon einmal in Berührung gekommen, als die Delegation dieses Landes mich freundlicherweise für ein paar Tage als ›Mitglied‹ aufgenommen hatte. Ich war nicht nur von dem Selbstbewusstsein der Gruppe als engagierte Vertreter der Zivilgesellschaft beeindruckt, sondern interessierte mich auch für die Rolle, die die Behörden des Landes bei der Verbreitung von ICT als treibendem Faktor eines sich rasant entwickelnden Telekommunikationssektors spielten. Während Afrika insgesamt mit 11  Prozent die geringste ICT-Durchdringung aller Kontinente aufweist, befindet sich Uganda bei der Konnektivität unter den afrikanischen Top Ten und er-

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freut sich eindrucksvoller Wachstumsraten.14 Auffallend waren für mich bei der ugandischen Delegation auch der warmherzige und informelle Ton und die offene Kommunikation zwischen den verschiedenen Interessenvertretern wie Behörden, Firmen und NGOs. In den meisten Ländern existiert ein solche ›Gemeinschaft‹ höchstens als Ideologie. Da ich der ›korporatistischen‹ Natur solcher Konstruktionen, die soziale und Regierungsebene verbinden, eher skeptisch gegenüberstand (Gesellschaft als organischer Körper hat eine so faschistische Geschichte), war es für mich wie eine merkwürdige Fügung, solche Koalitionen einmal in Aktion erleben zu können. War ich vielleicht durch kulturelle Unterschiede, die mir nicht vertraut waren, betört und in die Irre geführt worden? Der ›ICT4D‹-Diskurs scheint mir meist als ein Spiegel zu dienen, eine Umleitungsstrategie, die es ermöglicht, das Wesen einer ungleich verteilten Technologie auch in einer Gegenwart zu untersuchen, in der die Funktionalitäten und der essentielle Zugang zu Informationen und neuen Medien mehr und mehr von Marketing, Starkult und Unternehmensmacht überschattet werden. Die Medienwissenschaft hat seit 2005 eine ähnliche Wende vollzogen und richtet ihre Aufmerksamkeit inzwischen weniger auf allgemeine Behauptungen und Forderungen in politischen Berichten und mehr auf die tatsächliche Ausbreitung von Telekommunikations-Infrastrukturen und die Entstehung neuer Medienmärkte im globalen Maßstab. So kritisierten die Netzwerke Solaris und Incommunicado, an denen ich zwischen 2002 und 2010 beteiligt war, die Expansion der Telekoms aus einer dekonstruktivistischen, postkolonialen Politik-Perspektive.15 Sie formulierten eine Ideologiekritik der ›guten Absichten‹ westlicher NGOs, analysierten, wie Unternehmen den ›Rest‹ der Welt verdrahteten oder dort Elektroschrott entsorgten, und umrissen das Konzept der kognitiven Gerechtigkeit und der bereits erwähnten gemischten Interessenvertretungen.16 Die Projekte mit dem Sarai und sogar noch mehr das Wikipedia-Forschungsprojekt Critical Point of View am INC, das wir gemeinsam 14  |  2015 sind ungefähr 25 Prozent der Bevölkerung Ugandas an das Internet angeschlossen, was bei insgesamt 35 Millionen gut 8,5 Millionen entspricht. Seit 2012 sind jedes Jahr 1 Million neue Nutzer dazugekommen. 2012 waren es 5,7 Millionen, 2013 6,8 Millionen und 2014 7,3 Millionen (Angaben der ugandischen Kommunikations-Kommission). 15 | Für eine Zusammenfassung dieser Netzwerke siehe: Geert Lovink, »ICT after development: the Incommunicado agenda«, in: Geert Lovink, Zero Comments, New York: Routledge, 2007, S. 161–184. (dt. Zero Comments, Bielefeld: transcript, 2008, S. 215– 241). Im selben Buch gibt es auch ein ähnlich ausgerichtetes Kapitel über die ersten Jahre des Neue-Medien-Zentrums Sarai in Delhi. 16 | Siehe Geert Lovink/Soenke Zehle, Incommunicado Reader, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2006. Eine Zusammenfassung der Debatten des IncommunicadoNetzwerks findet sich auch in Zero Comments. Die Mailingliste wurde Mitte

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mit dem Centre for Internet and Society in Bangalore organisierten, waren allesamt Kollaborationen – kollektive Anstrengungen, um über Rhetorik und Methoden der Entwicklung(shilfe) hinauszugehen.17 Seit 2005 ist die Entwicklungskritik – schon vor Jahrzehnten durch Fanon etabliert und spätere Forscher wie Arturo Escobar weiterentwickelt – im Mainstream angekommen. Zu den Titeln der jüngsten Generation der Entwicklungskritiker gehören The White Man’s Burden von William Easterly (2006) und Dambisa Moyos Dead Aid: Why Aid is not Working and How There is Another Way for Africa (2009). Aus meiner Sicht prägend sind hier auch Linda Polmans investigative Recherchen zur Rolle der UNO und ihrer Katastrophenhilfe u. a. in We Did Nothing (2003) und The Crisis Caravan (2010), sowie Renzo Martens’ Video-Arbeit Enjoy Poverty von 2009 (und weitere in Zusammenhang damit stehende Projekte im Kongo). Enjoy Poverty wurde auf zahlreichen Festivals, in Museen und im Fernsehen gezeigt, ein Kunstwerk in Gestalt einer Videodokumentation, das die Afrikaner dazu aufrief, ihre mediale Repräsentation in die eigene Hand zu nehmen, ihre Leidenssituation direkt zu verkaufen und die NGO-Kaufleute zu umgehen, um die Produktionsfördergelder aus den Hilfsbudgets selbst zu übernehmen. Es ist kein Zufall, dass diese ›EntwicklungsKritik‹ in der Zeit nach der globalen Finanzkrise und des Aufstiegs der BRICStaaten alles andere als verstummt ist.18 Dabei ist schon seit dem 11. September 2001 ein großer Teil der Entwicklungs-Budgets auf private Akteure wie die Gates Foundation oder auf große multinationale NGOs übergegangen, die wie Auftragsnehmer der Regierungen handeln und größere Ähnlichkeit mit globalen Logistikunternehmen haben als mit sozialen Graswurzelbewegungen. In den Nullerjahren kam zu der bereits berechtigten Kritik an den Entwicklungs- und Katastrophenhilfe-Industrien auch noch eine zunehmende Militarisierung der Hilfe in der Folge von 9/11 hinzu. Gleichzeitig gingen rechtspopulistische Forderungen nach radikaler Ausgabenkürzung bei der Entwicklungshilfe immer mehr in die westliche Mainstream-Politik über, während Länder wie Indien den weiteren Empfang von Entwicklungshilfe ablehnten und 2010 eingestellt. Es gab nach der ersten Incommunicado-Konferenz im De Balie in Amsterdam keine weiteren Bemühungen, ein zweites Treffen zu veranstalten. 17 | Die Widersprüche in diesem Bereich haben mich schon seit meinen ersten politischen Aktivitäten Mitte der 1970er Jahre beschäftigt. Anfang 1975 trat ich in dem streng christlichen Dorf nördlich von Amersfoort, in dem wir wohnten, der örtlichen ›Wereld­w inkel‹-Gruppe bei, einem lebendigen Laden, der ›Dritte-Welt-Produkte‹ und linke politische Literatur zu Themen wie Anti-Kolonialismus, Feminismus oder Anti-Militarismus verkaufte – eine prägende Zeit in Bezug auf meine politische Sozialisation, in der auch meine Interessen an Literatur und Philosophie geschärft wurden. 18 | Laut Wikipedia nahmen am ersten BRIC-Gipfel in Jekaterinburg am 16. Juni 2009 die Führer Brasiliens, Russlands, Indiens und Chinas teil.

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China selbst zu einem wichtigen Akteur auf dem Spielfeld der Entwicklungspolitik wurde. Inzwischen entwickelte sich der aktivistische Forschungsansatz im ICT4D-Thema weiter  – zum Beispiel mit Richard Heeks ›Entwicklungsinformatik‹-Methoden.19 Die bytesforall-Mailingliste und weitere Aktivitäten, die bei den ›ICT and Development‹-Konferenzen 2010 in London und 2012 in Atlanta (www.ictd2010.org und www.ictd2012.org) zusammentrafen, sind weiterhin aktiv. Allerdings frage ich mich, wie viele von uns noch die Fortschrittsberichte von Nicolas Negropontes ›One Laptop per Child‹-Projekt verfolgen. Wie so oft in der Phase der Umsetzung verschwinden die Fanfaren der guten Absichten aus den Schlagzeilen und finden sich nicht einmal mehr in den Facebook-Timelines oder Twitter-Feeds wieder. In letzter Zeit hat sich das öffentliche Interesse, das einmal auf ›ICT and Development‹ gerichtet war, eher dem Aufstieg chinesischer Infrastruktur-Projekte in Afrika, dem Ebolafieber und der immer stärkeren Präsenz islamistischer Dschihad-Gruppen wie Boko Haram, die erst durch die neu etablierte Telekom-Infrastruktur so wachsen konnten, zugewandt. Die Mobiltelefone sind das soziale Werkzeug der ›Postkolonie‹. Dieser Begriff, den Achille Mbembe eingeführt hat, ist mir immer haften geblieben, seit ich sein Buch On The Post Colony gelesen habe. In einer unveröffentlichten Abschrift des Interviews, das Bregtje van der Haak für den niederländischen Fernsehsender VPRO Tegenlicht in Johannesburg am 22. Februar 2015 mit ihm geführt hat, beschrieb Mbembe das Internet in Afrika als ein »allumfassendes soziales Phänomen«, das weit über die aufsteigenden Mittelklassen hinaus wirksam ist: »Sie verstehen sich als Teil einer größeren Welt. Die Afrikaner bekommen genau mit, was sich im Rest der Welt abspielt.«20 Für Mbembe hat das Internet kosmopolitische Auswirkungen. »Die Funktion der Religion liegt darin, Erlösung zu predigen. Diese Funktion übernehmen nun technologische Mächte.« Die Unternehmen, die dieses Feld dominieren, agieren nicht mehr imperial, sondern hegemonial und operieren von Enklaven aus, dem Offshore, der Zone, die Mbembe als einen segmentierten, zebraartigen Globus darstellt. Die mobilen Technologien sind alles andere als fremdartig für die afrikanische Kosmologie, »in der ein Mensch immer etwas mehr war als nur eine menschliche Person, sich immer in etwas anderes verwandeln konnte. Er oder sie konnte zu einem Löwen werden und dann zu einem Pferd oder Baum. Die Philosophie der neuen digitalen Technologien ist mehr oder weniger genau dieselbe wie die alten afrikanischen Philosophien.« Mbembe 19 | Siehe sein Blog »ICTs for development«, https://ict4dblog.wordpress.com, und sein Centre for Development Informatics an der University of Manchester: www.cdi. manchester.ac.uk 20 | Die Abschrift des Interviews lässt sich aufrufen unter: http://chimurengachronic. co.za/the-internet-is-afropolitan

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bezieht sich hier auf den Roman My Life in the Bush of Ghosts (1954) von Amos Tutuola, der davon erzählt, wie jemand ständig von einer in eine andere Form wechselt: »Das Internet ist eine direkte Antwort auf diesen Drang. Wenn du eine Vorstellung von der kommenden Welt haben willst, schau nach Afrika!« Afrika ist hier ein Labor von Institutionen und Praktiken, in dem, laut Mbembe, virtuelle und reale Bewegungen ineinander verwickelt wurden, lange bevor es das digitale Moment gab: »Die afrikanischen Gesellschaften konstituierten sich durch Zirkulation und Mobilität. Migration spielt in allen afrikanischen Ursprungsmythen eine zentrale Rolle. Es gibt keine einzige ethnische Gruppe in Afrika, die ernsthaft von sich behaupten kann, immer am selben Ort gewesen zu sein.«21 Statt noch eine weitere ICT4D-Kritik im afrikanischen Kontext aufzubringen, versuche ich eher wahrzunehmen, welche Ansätze einer post-kolonialen Forschung sich tatsächlich vor Ort entwickeln, die nicht (wieder) nur versuchen, die neuesten Konzepte und Produkte des Westens zu adaptieren. Ich war sehr gespannt, mehr über die Entwicklungen in Uganda zu erfahren, dem Commonwealth-Nachbarn von Kenia, wo die technologischen Trends vom nahegelegenen und international viel stärker wahrgenommenen Drehkreuz Nairobi bestimmt werden. Welche neuen Fragen ließen sich formulieren? Man mag es den ›ethnographischen Turn‹ nennen, aber was mich fasziniert sind Orte, wo die Übernahme von Technologien ein souveränes Element besitzt und eine eigene Richtung nimmt. Anders ausgedrückt, die Mobiltelefon- und Internet-Nutzer in Afrika sind nicht nur Konsumenten. Es wäre ein zynischer Ansatz, in der Geschichte und Kultur einer ICT-Einführung nur Marktchancen oder Politikopfer erkennen zu wollen. Zunehmend beginnen die Menschen dort, selbst aktiv zu werden und ihre eigenen Websites, Software und Apps zu entwickeln, und das hat in Afrika (unter anderem) zu dem Phänomen des mobilen Geldes geführt. Nicht nur können die afrikanischen Netcore-Kulturen für sich selbst sprechen, und tun es auch schon ohne fremde Repräsentationen (wie dieser), die in den Westen zurückkehren oder dort begannen. Es ist auch wichtig, ihren Spaß und ihre Dramen im Umgang mit der Technologie hervorzuheben  – dass dieser Net-Core genauso verärgert sein kann wie alle anderen, die sich mit Software-Pannen, Verbindungsstörungen und Restriktionen durch die Anbieter herumschlagen. Schließlich haben wir die klischeehafte ›Mobiltelefone kann man nicht essen‹-Haltung von paranoiden und wohlmeinenden westlichen Medientheorie-Vertretern hinter uns gelassen. Das Ausmaß der ›mobilen‹ Expansion ist überwältigend. Afrika, die ›letzte Grenze‹, gilt als der am schnellsten wachsende mobile Telefonmarkt der Welt – und als der größte nach Asien. Die Zahl der Kunden steigt pro Jahr um fast 21 | Die Zitate stammen aus der Interview-Abschrift: http://chimurengachronic.co.za/ the-internet-is-afropolitan

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20 Prozent. Der frühere Nokia-Forscher Jan Chiphase: »In Teilen Afrikas wird schon von einer 4G-Einführung im kommenden Jahr geredet. Die Geschwindigkeit, mit der dies praktisch Teil der Landschaft wird, verblüfft mich immer noch. Es ist Fortschritt. Ob gut oder schlecht, es ist Fortschritt. Es passiert einfach.«22 Chiphase bemerkt, dass für eine 21-jährige Angehörige der unteren Mittelklasse in Nigeria ein Blackberry das Einstiegstelefon ist. »Was einmal das exklusive Gut des ›Wall-Street-Kriegers‹ war, ist nun ein für jedermann verfügbares Accessoire.« Der Trend, die real existierenden Neue-Medien-Praktiken in den Vordergrund zu stellen, anstatt immer wieder Statistiken zur digitalen Kluft aufzuwärmen, findet sich auch in der Studie Digital AlterNatives with a Cause?23 vom Centre for Internet & Society (Bangalore) und Hivos (Den Haag) wieder. Hauptergebnis war hier, dass ICT nicht bloß eine Mode der Jugend ist, obwohl die Jüngeren zweifellos den Hauptanteil an der Marktexpansion haben und beim Einsatz sozialer Medien für den politischen Protest am meisten mit der Technologie experimentieren. Der Begriff ›Digital Natives‹ bezieht sich nicht auf eine bestimmte Generation (die in den 1980ern und danach geboren wurde) sondern auch allgemein auf eine positiv-produktive Haltung zu Technologie, Medien und sozialen Netzwerken, von Jüngeren wie auch Älteren. Mit der i-network-Community in den letzten Jahren immer vertrauter geworden, habe ich mich auch gefragt, an welchem Punkt das feste Gefüge der ICT-Telekom-NGO-Regierungs-Netzkultur in Uganda erodieren könnte – falls das überhaupt geschieht. Die Trennung der Mächte und Sphären könnte ja auch eine westliche Fiktion sein. Werden irgendwann auch die lokalen Medien- und Kommunikationswissenschaften eine Rolle spielen und ihre Ergebnisse auf so einem Forum präsentieren? Der Wissenschaftsbereich ist bislang in diesem Zusammenhang erstaunlich still geblieben. Dasselbe lässt sich vom Design sagen, und es scheinen auch wenige Diskussionen über Screen-Ästhetik stattzufinden. Es gibt dort schon Webdesigner, aber wann wird ihre Handschrift bei der Gestaltung von Interfaces sichtbar und diskutiert werden? Oder bleibt die globale Techno-Ästhetik eine feststehende Vorgabe, ohne afrikanische Schichten? Wie ist es mit der Stimme des Volkes? Bislang dreht sich auf inetwork immer noch alles um Infrastruktur, Regulierung und die wirtschaftlichen Seiten der neuen Medien in Uganda. Inzwischen lesen wir, dass Mobofree.com, ein afrikanischer sozialer Marktplatz, bekanntgegeben hat, dass die Zahl seiner registrierten Nutzer um mehr als 1.555 Prozent gewachsen ist.24 In der nächsten Nachricht steht: »Ich 22 | Siehe: www.fastcodesign.com/1665425/jan-chipchase-lays-out-3-deep-trendsaffec​t ing-tech-today 23 | Nishant Shah/Fieke Jansen (Hg.), Digital AlterNatives with a Cause? Bangalore/ Den Hague: CIS/HIVOS, 2011. 24 | Siehe: http://pctechmag.com/2015/04/ugandans-get-onto-mobofree

Netcore in Uganda

würde gerne ein VPN für ungefähr 70 Gesundheitseinrichtungen in Uganda aufbauen. Wer diesen Auftrag ausführen kann, soll mir bitte eine Nachricht schicken.« Dann wird die Frage aufgeworfen, ob alle Parlamentarier iPads brauchen. Jemand fragt, wer gestohlene Handys tracken kann. Ein Novum: es gibt eine App, die einen »über die aktuellen Benzinpreise in der Umgebung informiert«. Die Liste diskutiert auch den Bau eines 30-stöckigen Hotels in China in 15 Tagen und das für IT-Kräfte dort benötigte Englisch-Niveau. Gleich neben Beschwerden liest man Berichte wie diesen: »Ich schaue StreamingTV (Netflix, Hulu etc.) in Gulu und nutze das Internet von Zoom Wireless. Die Qualität ist hervorragend, und bei Preisen ab 110.000 Uganda-Schilling für unbegrenzte und ungedrosselte Nutzung liegt dies definitiv im bezahlbaren Bereich. Ihre Geschwindigkeiten sind so beeindruckend, da sie dank des Unterwasserkabels von NITA, Ugandas nationalem Backbone, und PremiumBetreibern eine direkte Verbindung von Gulu nach Mombasa nutzen.« (Brian Longwe, 2. Mai 2015). Bei meinem Besuch in Uganda wollte ich das mobile Geldsystem gerne so nah wie möglich erleben. Ali brachte mich zu den Zentralen der Telekom-Anbieter, die mobile Gelddienste zur Verfügung stellen, wie Airtel (»Helps your Money do More«), wo sich die Gelegenheit ergab, mit hausinternen Wissenschaftlern ins Gespräch zu kommen. Sie bestätigten uns, dass sie die Entwicklungen im benachbarten Kenia, wo M-Pesa seinen Ursprung hat, genau verfolgen.25 Kenia ist nicht nur der am weitesten entwickelte Markt, was den Umfang betrifft, sondern liegt auch bei Sonderdiensten vorn, etwa bei Konten für die mobile Bezahlung von Betriebskosten, die über das Telefon laufen und auch transkontinentale Überweisungen über Western Union erlauben. Während man natürlich über Fusionen spekulieren kann und es in Uganda dafür genügend Anlässe gibt, hat mich jedoch am stärksten der Besuch eines echten MTN Mobilgeld-Stands mitten in einem Slum beeindruckt. Dort konnte man reale Transaktionen mit eigenen Augen verfolgen. Während ich unter einer Werbetafel mit dem Slogan »Orange: das beste Netzwerk – keine Staus« stand, zeigte das simple grüne ASCII-Interface des Mobiltelefons Käufern und Ver25 | www.businessdailyafrica.com/Corporate-News/M-Pesa-customers-get-accessto-seven-African-countries/-/539550/2694034/-/ur4epu/-/index.html Die regionale Expansion von M-Pesa veranlasste David Mushabe zu dieser Stellungnahme: »Ich habe noch von keinem ugandischen Unternehmen gehört, das in dieser Weise expandiert wäre. Liegt es an einem Mangel an technischen Fähigkeiten oder an mangelnder Geschäftstüchtigkeit? Was Geldtransfers in der Region betrifft, können die Banken jetzt jedenfalls ihre Koffer packen.« (24. Apr. 2015) Laut Geria Richard »liegt der Grund für den Erfolg von mobilem Geld und überhaupt mobiler Telefonie in Afrika in der Kultur der Informalität. Entsprechend erklärt die Kultur der Formalität in Europa das Wachstum der Banken und das geringe Interesse an mobilem Geld dort.«

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käufern genau, welcher Betrag gerade ein- bzw. ausging. Junge Kids kamen täglich mit Bargeld vorbei, um es auf die Telefone ihrer Freunde zu senden. Die Nummer und der Username des lokalen Agenten hingen direkt neben der Zahnpasta und den Kaltgetränken. Die Frau, die den Laden betrieb, holte ein Tablet hervor und zeigte mir die Kontenübersicht für alle Geldzahlungen, die an diesem Tag an ihrem Stand ein- und ausgegangen waren. Sie betrieb über Kampala verteilt drei solcher Stände, zwischen denen sie pendelte, und beobachtete dabei auf ihrem Tablet immer auch die Transaktionen an den jeweils anderen, in Echtzeit. Eine weitere interessante Erfahrung war der Besuch in einem der wenigen dunklen und staubigen Buchläden in Kampala, wo ich eine kleine Ecke mit Titeln zu Entwicklungspolitik fand, wie The Aid Trap, Foreign Aid after the Cold War, Ending Aid Dependence, The Trouble with Aid, How to Manage an Aid Exit Strategy, und am sichtbarsten positioniert Lee Kuan Yews From Third World to First: Singapore and the Asian Economic Boom. Bezeichnend, dass im Internet-Bereich nur Marketing-Titel zu finden waren, wie Social Boom!, Social Networking for Business, Brilliant Online Marketing, Guerilla Social Marketing, The 22 Immutable Laws of Marketing, No Bullshit Social Media und The Advertised Mind. Ali nahm mich auch zu einem Besuch bei seinem Bruder mit, dem Rektor der Makerere University Business School. Einer Einladung, ein Seminar für MBA-Studenten zu geben, entzog ich mich allerdings … das war wirklich nicht mein Metier. Wir gingen in die Bibliothek im Hauptgebäude, in der sich auch die Computerlabore, Lesesäle und die Buchbindeabteilung befinden. Die Makerere-Universität zählt zu den Top 10 der afrikanischen Universitäten und zieht Studierende des gesamten Kontinents an. Wir schauten im Media & Communications Department vorbei, und stellten fest, dass hier tatsächlich Seminare zu Internet-Forschung angeboten wurden. In einer Überraschungsaktion überreichte ich dem Leiter der Universitätsbibliothek am nächsten Tag die Alexandria-Project-Offline-Bibliothek, ein Projekt des Forschers und Musikers Henry Warwick aus Toronto, der das Konzept dieser digitalen Bibliothek im Rahmen seiner von mir betreuten Dissertation an der European Graduate School entwickelt hatte.26 Im westlichen Entwicklungskontext fällt mobiles Geld unter die Rubrik ›finanzielle Inklusion‹. Es bleibt jedoch offen, ob und in welchen Kontexten der Zugang zu finanziellen Dienstleistungen wie Sparkonten, Krediten und Versicherungen als Menschenrecht zu betrachten ist. Welches Verhältnis besteht zwischen der Monetarisierung der Milliarden und dem abgehängten Rest? Ausschließung – wie Saskia Sassen es nennt – ist eine unternehmerische Stra26 | Für eine Zusammenfassung seiner Dissertation siehe Henry Warwick, Radical Tactics of the Offline Library, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2014.

Netcore in Uganda

tegie, Menschen Dienstleistungen zu entziehen, die man als Kunden abgeschrieben hat und die als Ballast betrachtet werden, den ›smarte und schlanke‹ Firmen loswerden sollten. Es ist eine Sache, festzustellen, dass die Armen aus der globalen Wirtschaft ausgeschlossen werden. Auf der anderen Seite hat der globale Finanzsektor aber so ein schlechtes Karma, dass die Forderung nach ›voller‹ Partizipation auch irgendwie seltsam ist. Während Kofi Annan verlangte, den Blick auf die »Beschränkungen, die Menschen von der vollen Partizipation im Finanzsektor ausschließen«, zu richten, sollten wir doch auch kritisch sein, was das impliziert. Wie sieht ›finanzielle Inklusion‹ im Kontext von Jahrzehnten der Fusionen, Firmenschließungen und Arbeitsplatzverluste aus? Beim mobilen Geld lässt sich klar feststellen, dass der Telekom-Sektor die Lücke besetzt hat und die Transaktionskosten für die angebotenen Dienste deutlich geringer geworden sind. Aber während die offizielle Rhetorik uns vielleicht einreden kann, dass dieser wachsende Bereich aus der technologischen Entwicklung hervorgeht und autonom ist, stellt sich die schmutzige Realität hinter den Kulissen ganz anders dar. Mobiles Geld ist kein Ausdruck von Nächstenliebe. Es ist eine sich schnell entwickelnde Industrie, die Hunderte von Millionen in Afrika und Asien mit Dienstleistungen versorgt. Im Hinblick auf seine Omnipräsenz ist es mit den ganzen bisherigen MikrokreditInitiativen und ihren verhältnismäßig kleinen Nutzer-Gemeinschaften nicht vergleichbar. Jemand auf der i-network-Liste hat darauf hingewiesen, dass während einer Konferenz in Kampala der überwiegende Anteil der Inhalte, auf die die Nutzer zugegriffen haben, in Übersee gehostet wurde.27 Die hohe Abhängigkeit von weit entfernt basierten Inhalten und Diensten spiegelt sich in der Gefahr wider, dass lokale Content-Provider aus den globalen Web-Rankings komplett herausfallen – wie etwa bei Alexa. Dasselbe kann auch mit dem mobilen Geld passieren. Hinter manchen erfolgreichen lokalen Lösungen können auch ausländische Online-Dienste stecken, die für Außenstehende unsichtbar – also inexistent – bleiben. Noch ein ernstes Problem ist das heiße und oft feuchte Klima, das die IT-Ausrüstung und die Infrastruktur beeinträchtigt. Afrika wird nach »lokalen Lösungen [suchen müssen], um Datensouveränität und eine effiziente Netzwerkleistung sicherzustellen. Den Kühlungsbedarf reduzieren. Die kostenlose kühlere Luft der Nacht nutzen, um sie durch die Klimasysteme zu leiten, oder die Nutzung von Bodenkälte, dies sind beides Verfahren, die einen deutlichen Unterschied ausmachen können im Vergleich zur elektrischen Energie, die benötigt wird, um ein Datenzentrum zu kühlen.«28 Die afri­kanische ICT-Infrastruktur wird auch die Gefahr von »Erdbeben, Tsuna27 | David Okwii, i-network, 19. Feb. 2015. 28 | Zitiert aus der Presseerklärung zum Aurecon Report Data for a 21st Century Africa: www.modernghana.com/news/595009/1/data-for-a-21st-century-africa.html

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mis, Vulkanausbrüchen, Starkregen, Temperaturrekorden, Feuern, Epidemien und Überflutungen« in Betracht ziehen müssen. Mit den Worten eines i-netters: »Für jede Herausforderung kann eine digitale Lösung gefunden werden. Aber wird das Problem damit an seiner Wurzel gepackt?« Die Kritik an der Entwicklungs-Rhetorik war immer misstrauisch gegenüber messianischen Lösungen. Die Anfälligkeit der Technik hinter sich zu lassen, ist eine weitverbreitete Sehnsucht in Afrika und ein Beweis dafür, dass Evgeny Morozow gleichzeitig recht und unrecht hat: auf diesem Kontinent wurde seine Kritik am ›Solutionismus‹ schon Jahrzehnte vorher artikuliert. Auf dem Gelände des Community Computer Centre in Kasambya Sub-County, Mubende District,29 scheinen die Thesen von Morozov, die für das Silicon Valley und Europa gerade eine solche Relevanz haben, irgendwie schon Allgemeinwissen zu sein. Dies macht es zu einem wesentlich fröhlicheren Unterfangen, über ›Netzkritik‹ in Afrika zu arbeiten. Auf die digitale Kluft zu verweisen ist – obwohl sie an vielen Orten noch spürbar ist – keine starke Strategie mehr. Die Situation lässt sich nicht mehr über Zugang vs. Nicht-Zugang-Analysen erfassen. Entscheidend ist Geschwindigkeit – und wie viel man dafür zu zahlen bereit ist. Wenn die Technologie nie so funktioniert wie geplant, wird die Rolle der Kritik von Beginn an eine andere sein. Die harte Arbeit, die technische Agenda zu dekonstruieren, kann einfach übersprungen werden, und wir bewegen uns in einer viel stärker sozial gestimmten Sphäre der gegenseitigen Hilfe, wie die Netcore-Haltung der i-netter so erfolgreich beweist.

29 | www.kccc.interconnection.org/aboutus.htm

Jonathan Franzen als Symptom Internet-Ressentiment

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. K arl K raus Wer denkt, ist nicht wütend. Theodor W. A dorn o

Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen ist dafür bekannt, »an allem mürrisch herumzukritisieren, vom Aussehen klassischer Schriftstellerinnen bis zum Internet als Ganzem.«1 In seinen Übersetzungen von Karl Kraus für zeitgenössische Leser scheut dieser Spengler des 21. Jahrhunderts nicht davor zurück, die Unbeständigkeit von Windows Vista mit dem Wien vor dem Ersten Weltkrieg zu vergleichen: Der Untergang des Reiches steht fest. Das Kraus-Projekt von 2013 besteht aus drei größeren Essays des österreichischen Dramatikers, Poeten, Sozialkritikers und »satirischen Genies«, die Franzen übersetzt und um Anmerkungen von ihm selbst und zwei weiteren literarischen Kritikern ergänzt hat. Faszinierenderweise fand sich in den Ankündigungen zu dem Buch kein Hinweis darauf, dass ein Großteil seiner Fußnoten zu Kraus’ Text eine exzentrische Medienkritik des 21. Jahrhunderts enthalten würde. Der Romancier buchstabiert ganze Textpassagen nach, um ganz andere Aussagen darüber zu treffen, was Kraus’ (oder Franzens) Meinung zu beispielsweise Macs und PCs, Twitters umstrittenem politischen Beitrag zum arabischen Frühling oder dem Einfluss der Medien auf die westlichen Demokratien sein könnte. Das Kraus-Buch ist nicht Franzens erster  – oder gar bekanntester  – Versuch eines medienkritischen Kommentars. Dem Widerwillen gegen die Me1 | Maddie Crum, »Jonathan Franzen slams Jennifer Weiner, again«, The Huffington Post, 13. Feb. 2015: www.huffingtonpost.com/2015/02/13/franzen-weiner_n_6680962.html

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dientechnologien begegnet man in seinem ganzen Werk. Für die MIT Technology Review schrieb er einmal über Mobiltelefone, Gefühl und den Niedergang des öffentlichen Raums.2 Bedeutungsschwer fummelte er sich nach einer Einladung in Oprah Winfreys TV-Buchclub seinen Weg durch eine Serie von Interviews – selbst ein Medienereignis, das es ihm erlaubte, als anti-kommerzieller Rebell gegen eine ganze Palette zeitgenössischer Phänomene anzutreten, mit Ausnahme natürlich seiner eigenen Anteile an der Buchindustrie.3 Anfang 2012 machte Franzen mit Attacken auf E-Books und Amazon erneut von sich reden, wobei er im Wesentlichen seine frühere Abneigung gegenüber der kommerziellen TV-Buchkultur bestätigte, um sie noch um einige jüngere Medienentwicklungen zu ergänzen. »Der Unterschied zwischen Shakespeare auf einem Blackberry und Shakespeare in der Arden-Ausgabe ist wie der Unterschied zwischen einem Schwur in einem Schuhgeschäft und einem Schwur in einer Kathedrale.«4 Er ist der Ansicht, dass E-Books der Gesellschaft schaden, und bekennt: »Fetischisiere ich Tinte und Papier? Klar, und ich fetischisiere auch Wahrheit und Integrität.« 5 – »Ich denke, dass für ernsthafte Leser das Gefühl von Dauerhaftigkeit immer ein wesentlicher Teil ihrer Erfahrung war. Alles andere im Leben ist flüchtig, aber hier steht dieser Text und verändert sich nicht. Der Große Gatsby ist das letzte Mal 1924 überarbeitet worden. Er muss nicht für uns aktualisiert werden, oder?« 6

Mit einem antikapitalistischen Seitenhieb bemerkt er: »Die Technologie, die mir gefällt, ist die amerikanische Taschenbuchausgabe von Freedom. Ich kann Wasser drüberschütten, und es wird immer noch funktionieren! Also eine ziemlich gute Technologie. Und außerdem wird es auch in zehn Jahren noch gut

2 | Jonathan Franzen, »›I Just Called to Say I Love You‹: cell phones, sentimentality, and the decline of public space«, MIT Technology Review, 19. Aug. 2008: www.technology​r e​ view.com/article/410623/i-just-called-to-say-i-love-you 3 | Sein Verleger hatte die 800.000 Exemplare der zweiten Auflage der Korrekturen bereits mit Oprahs Buchclub-Siegel verschönert, als er sich beschwerte: »Ich sehe das als mein Buch, meine Schöpfung, und ich will nicht das Logo einer Firma darauf.« Das Logo von Farrar, Straus and Giroux, Teil der Holtzbrinck-Gruppe, die viel größer ist als die Firma von Oprah, war für ihn nicht so wichtig. 4 | http://articles.latimes.com/2007/dec/09/entertainment/ca-webscout9, 9. Dez. 2007. 5 | Ebd. 6 | www.telegraph.co.uk/culture/hay-festival/9047981/Jonathan-Franzen-e-booksare-damaging-society.html, 29. Jan. 2012.

Jonathan Franzen als Symptom funktionieren. Also kein Wunder, dass die Kapitalisten es hassen. Es ist ein schlechtes Geschäftsmodell.«

Franzen spricht wiederholt vom Internet als einer verhängnisvollen Organisation der Dummheit. Diese Warnungen vor der Online-Kultur bringen natürlich Schwärme von twitternden Hipstern in Rage. Auch für die reiferen Babyboomer-Medienkolumnisten – fest angestellte Kommentatoren mit vermutlich anti-elitären Ansichten – ist dieser berüchtigte Social-Media-Verweigerer ein leichtes Ziel, ein undankbarer Besserwisser, der in den modernen alten Zeiten hängengeblieben ist, die sie selbst überwunden haben. Wer glaubt er, wer er ist, dass er mit seinen Feindbildern so viel Raum in der öffentlichen Meinung beanspruchen kann? Der Romancier wettert gegen die neuesten digitalen Gadgets und zielt frontal gegen die großen Technologie-Monopole. Ihn beunruhigen die vom Internet ausgehenden Gefährdungen für Leute, die ernsthafte Erzählliteratur schreiben – übrigens auch für Sloterdijk eine der berechtigten praktischen Sorgen. »Ich kenne Schriftsteller, die eine gewisse Computersoftware – ich glaube, sie heißt Freedom – benutzen, die ihnen während ihrer Arbeit den Zugang zum Internet verwehrt. Ich benutze schalldichte Kopfhörer, wenn es in meinem Büro zu laut wird, und E-Mails und Anrufbeantworter sind für mich unverzichtbare Werkzeuge, um die von der modernen Technologie entfesselte Kommunikationsflut einzudämmen und zu bewältigen.« 7

Er ist natürlich kein Maschinenstürmer. Aber obwohl es ihm nicht gelingt, Computer, Tablet und Telefon abzuschalten, dramatisiert er seine Angst sehr deutlich, wenn er sich auf seine (widersprüchliche) Autonomie und seine hohe Moral stürzt: »an meinem neuen Lenovo Ultrabook begeistert mich außer dem Namen alles. An einem Gerät zu arbeiten, das IdeaPad heißt, führt dazu, dass ich mich weigern möchte, Ideen zu haben. Ich habe nichts gegen Technologie, die mir dient. Aber ich habe etwas gegen sie, wenn sie mich beherrscht.« 8 Er wendet sich auch klar dagegen, als Technikfeind abgestempelt zu werden: »Als ich jedoch kürzlich unbeherrscht genug war, Twitter öffentlich ›blöd‹ zu nennen, wurde ich von Twitter-Süchtigen als ›Luddit‹ bezeichnet. Ätsch! Es war,

7 | Jonathan Franzen, The Kraus Project, New York: Farrar, Straus and Giroux, 2013; dt. Das Kraus-Projekt, Reinbek: Rowohlt, 2014, S. 292. 8 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 132. Es ist allgemein bekannt, dass Franzen Windows-Computer den Macs vorzieht. »[Der PC] ›ernüchtert‹, was man tut; er erlaubt einem, es ungeschönt zu sehen« (ebd., S. 14), hat er gesagt, in einer Wiederholung der Unterscheidung, die Umberto Eco 1994 zwischen protestantischem MS-DOS und katholischem Mac traf.

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als hätte ich gesagt, es sei ›blöd‹, Zigaretten zu rauchen, nur dass ich in diesem Fall keine medizinischen Belege für meinen Standpunkt hatte.«9 Franzen ist mit Sicherheit kein Netzkritiker. Aber im Moment ist er einer der wenigen, die sich in der angloamerikanischen Öffentlichkeit über das Internet äußern und dabei ein Massenpublikum erreichen. Die Philosophen bleiben fast alle stumm; kaum jemand, der sich sichtbar engagiert, geschweige denn zu den Debatten über seine gegenwärtige Verwaltung, Funktionsweisen und Zukunft Stellung bezieht. Diejenigen, die differenzierter über seinen kulturellen Einfluss schreiben, sind meist Europäer, und dann in Europa auch noch marginal. Für Franzen haben die Autoren im kontinentalen Europa noch Einfluss auf das öffentliche kulturelle Bewusstsein – zumindest denkt er das, während sich die Krise des Finanzkapitals auch schon auf dem Kontinent entfaltet und auf die geheiligten zivilisatorischen ›Zentren‹ durchschlägt. Aber geistige Autorität ist ja nie wirklich technologisiert worden – nirgendwo. Das Internet ist einfach kein Großes Thema dieses Zeitalters, nicht einmal indirekt. Für mich steht es im Vordergrund, aber ich bin natürlich kein Literaturkritiker. Auch gehört Kraus, den Franzen heranzieht, um seine AntiNetzkritiken zu schreiben, nicht zu meinen Lieblingsschriftstellern des 20. Jahrhunderts. Er hat sich nie mit Technologie oder den Medien seiner Zeit auf demselben Niveau auseinandergesetzt wie zum Beispiel Benjamin. Was mich aber interessiert, ist, wie etwas, das nach Kritik aussieht, mit Medientechnologiekenntnissen vermischt wird und sich im Schreiben dieses Autors zu einer (allerdings veralteten) gebieterischen Kritik des voll technologisierten 21. Jahrhunderts ausweitet. Weitere Nahrung erhielt meine Neugier auf sein Werk und das begleitende Online-Gerede, als ich nach der Lektüre seiner Texte über Netzkultur herausfand, dass er nicht einmal zwei Wochen älter ist als ich selbst. Wir gehören beide einer Post-Punk-Zwischengeneration an, geprägt in einer Zeit der Stagnation und Depression, weder Hippies noch Yuppies, und ich entdeckte einen bestimmten gemeinsamen Generationswillen – einen eigenen Weg zu finden, nach Autonomie zu streben, und das auf eine Art, die an die Verschrobenheit eines Einzelgängers grenzt. Aufgewachsen mit der Schreibmaschine, tauchte der Personal Computer in Franzens und meinen frühen Zwanzigern auf – und während wir ihn vorsichtig vereinnahmten, blieben wir beide immer noch bereit, uns jeglichen inneren bösen Absichten der Maschine entgegenzustellen. Dass er manchmal mit seinen vielgelesenen (und ebenso oft zurückgewiesenen) Analysen in die falsche Richtung geht oder komplett danebenliegt, und wenn schon? Es ist leicht für mich, ihm die Fakten entgegenzuhalten – und genauso irrelevant. Das haben die Geeks schon erledigt, und es findet sich alles online. Auch kritisiere oder würdige ich nicht seine Romane. Ob ein nächster großer amerikanischer Roman über das Internet der 9 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 132.

Jonathan Franzen als Symptom

kommenden Zeit geschrieben werden kann oder nicht, ist für mich nicht so wichtig. Genauso wenig wie die Frage, ob die Internet-Industrie und die publizistischen Elite nicht genügend gemeinsame Interessen haben. Hauptsächlich interessiert mich, warum und wie die Rage eines Kulturproduzenten gegen die Internet-Maschine durch eine spezifische eingebaute kulturelle Logik heraussticht. In diesem Sinne ist Franzen lediglich eine Figur, um über die allgemein stattfindende Ablehnung und das Verschwinden von Netzkultur und -kritik in unserem mediatisierten Alltagsleben nachzudenken. Was aus meiner Sicht als Netzkritiker in Zeiten von Franzens Massenverbreitung am meisten auffällt, ist die immer ›sekundäre‹ Natur seiner Klagen über das Internet. Twitter oder Amazon sind nie zentraler Gegenstand eines seiner Essays gewesen. Mit Blick auf seine Arbeit fragte ich mich, woher dieses offenkundige Tabu in unserer Medienkultur (und -erziehung) kommt, das Internet-Thema direkt zu adressieren. Man darf zwar indirekte Bemerkungen zum Internet anbringen, aber muss sich so weit wie möglich einer Einordnung als ›Internet-Autor‹ (oder Internet-Künstler, -Theoretiker, -Kritiker) entziehen. Franzens Äußerungen zur Medientechnologie sind oft implizit, was ein offensichtliches Zeichen für eine unterdrückte Abneigung gegen das Digitale ist. Würde es seiner Karriere schaden, wenn seine Kritik der neuen Medientechnologien die Dinge mehr beim Namen nennen würde? Er ist ein großer, weißer, amerikanischer Romanautor, eine wirklich gefährdete und geliebte Spezies. Also nein, überhaupt nicht! Es ist genau diese undeutliche Art von ›Netz-Ressentiment‹ (vgl. Netzkritik), in die sich Franzen einfädelt – auf der einen Seite die berechtigte Wahrnehmung einer negativen Stimmung hinsichtlich des gegenwärtigen Zustands der Ökonomie des Internets, auf der anderen eine libidinöse Ökonomie indirekter Affekte, die es auf notorische Weise über das gesamte Spektrum der Netzkultur immer vermeidet, ihr Anliegen mit den richtigen Gegenständen zu verbinden. Während seine medienkritischen Romane weiter verschlungen werden und Netzressentiment so alltäglich geworden ist, erscheinen mir genau diese Zusammenhänge bei der Auseinandersetzung mit seinen Kommentaren so wichtig. Um noch konkreter zu werden, zwanzig Jahre, nachdem Pit Schultz und ich 1995 das Nettime-Projekt gestartet haben, bin ich mir nicht sicher, ob in Hinblick auf Netzkritik überhaupt größere Fortschritte gemacht wurden.10 Ich 10 | Die Tatsache, dass diese Mailingliste zur »Kulturpolitik des Netzes« überlebt hat und ein sehr interessanter Ort der kritischen Reflexion geblieben ist, ist an sich schon bemerkenswert. Dennoch, der ironische Verlauf des ›nachhaltigen Wachstums‹ ihrer Abonnentenzahlen sagt auch etwas aus über die andauernde Bedrohung der (Selbst-) Marginalisierung und Stagnation, der solche Initiativen ausgesetzt sind: von 2.000 im September 2001 über 3.250 im Juli 2004 und 4.000 im Dezember 2006 bis zu 4.500 im September 2015.

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treffe diese Aussage natürlich nicht ohne Vorbehalte, wenn man bedenkt, dass es zum Beispiel auch zwei Jahrzehnte dauerte, bis nach der Erfindung des Films das Genre der Filmkritik langsam Gestalt annahm (etwa um 1912). In den Gründungsjahren dieses neuen Mediums war von ihr praktisch nichts zu sehen. Pionierzeiten sind immer aufregend, aber für Außenstehende stets unerheblich; das ist auch weiterhin so. Wo sind die großen kritischen Werke zur Internetkultur? Seit 2008 waren Gegenstimmen hauptsächlich aus der Industrie selbst zu hören; die Kritik aus dem akademischen oder literarischen Bereich bleibt vergleichsweise schwach. Natürlich sähe ich gerne das nächste große Romanepos, das unser Verhältnis zu den sozialen Medien verändert. Und wäre es nicht von Bedeutung, wenn ein Autor wie Franzen etwas Wichtiges zur amerikanischen Internetkultur zu sagen hätte? Am ehrlichsten und überzeugendsten ist Franzen, wenn er über Beziehungen spricht. So wie Sherry Turkles Alone Together 11 beklagen seine Schriften insbesondere unser intimes Verhältnis zu Geräten wie Smartphones, die an die Stelle unseres direkten Kontakts mit dem anderen treten. Alle elektronischen Geräte – sagt Franzen – sind daraufhin entworfen, »ungemein gemocht« zu werden, im Gegensatz zu Produkten, die einfach nur sie selbst sind. »Das ultimative Ziel der Technik, das telos von techné, ist, eine natürliche Welt, der unsere Wünsche gleichgültig sind – eine Welt der Hurrikans und des Leidens und der zerbrechlichen Herzen, eine widerständige Welt –, durch eine Welt zu ersetzen, die derart empfänglich ist für unsere Wünsche, dass sie im Grunde bloß eine Erweiterung des Ichs ist.« Entsprechend der Logik des Techno-Konsumismus, so Franzen, »hat die Technik mit höchstem Geschick Produkte zu entwerfen gelernt, die unserem phantasierten Ideal einer erotischen Beziehung insofern entsprechen, als das Objekt der Begierde nichts fordert und alles gibt, sofort, und uns das Gefühl von Macht vermittelt und keine fürchterlichen Szenen macht, wenn man es durch ein noch begehrenswerteres Produkt ersetzt und in eine Schublade legt.«12 Wie Andrew Keen bei seiner Analyse der sozialen Medien in Digital Vertigo13 weist auch Franzen auf deren narzisstische Tendenzen hin:

11 | Sherry Turkle, Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other, New York: Basic Books, 2011. 12 | Jonathan Franzen, Farther Away: Essays, New York: Farrar, Straus and Giroux, 2012, dt. Weiter weg, Reinbek: Rowohlt, 2014, S. 12 f. 13 | In der VPRO Dokumentation »The world according to Wikipedia« von 2008 sagt Tim O’Reilly über Keen: »Seine ganze Tonlage, ich glaube, er suchte einfach nur nach einem Blickwinkel, um eine Kontroverse anzuzetteln und so sein Buch besser zu verkaufen. Ich glaube nicht, dass hinter seinen Tiraden irgendeine Substanz steckt.« (siehe: http:// en.wikipedia.org/wiki/Andrew_Keen).

Jonathan Franzen als Symptom »Vom sexy Facebook-Interface gefiltert, sieht unser Leben gleich viel spannender aus. Wir spielen die Hauptrolle in unseren eigenen Filmen, wir fotografieren uns unablässig, wir klicken mit der Maus, und eine Maschine bestätigt unsere Überlegenheit. Und weil die Technik ja eigentlich nur eine Erweiterung unseres Ichs ist, müssen wir sie, anders als die echten Menschen, für ihre Manipulierbarkeit nicht einmal verachten. […] Sich mit jemandem anzufreunden bedeutet schlicht, diesen Jemand in unser Privatkabinett aus schmeichelnden Spiegeln zu integrieren.«14

Und dann gibt es noch das bedeutende, von Franzen unendlich wiederholte Problem der wirklichen Liebe: »Auf einmal geht es um eine echte Wahl, nicht eine künstliche Konsumentenentscheidung zwischen einen BlackBerry und einem iPhone, sondern um eine Frage: Liebe ich diesen Menschen? Und, auf den anderen bezogen: Liebt dieser Mensch mich? So etwas wie einen Menschen, von dessen wahrem Ich man jeden Partikel liebt, aber gibt es. Und deshalb ist die Liebe für die technokonsumistische Ordnung eine so existenzielle Gefahr: Sie stellt die Lüge bloß.«

Franzen ist fasziniert von den Gefahren, die Beziehungen mit sich bringen, und bemerkt: »Selbst Facebook, dessen Nutzer Milliarden Stunden mit der Herrichtung ihrer selbstbezogenen Projektionen verbringen, hat einen ontologischen Notausgang, und zwar unter ›Beziehungsstatus‹, wo sich bei den Optionen die Wendung ›Es ist kompliziert‹ findet. Es mag sich dabei um einen Euphemismus für ›auf dem Absprung‹ handeln, aber es ist zugleich eine Beschreibung aller anderen Optionen. Solange wir solche Komplikationen haben, wie können wir es wagen, gelangweilt zu sein?«15

Während Franzen über die narzisstische Unverbundenheit der Jugend im Raum der öffentlichen Medien besorgt ist, zeichnet sich seine Kritik an der partizipatorischen Netzkultur gleichzeitig durch hartnäckige Nicht-Partizipation aus. Wie ein Flitzer, der kurz über den Platz rennt – und wie jeder andere Romanautor auch –, neigt er dazu, sein Material abzuladen und sich schnell wieder in die Sicherheit seines Einweg-Regimes zurückziehen. Im Kontext einer dieser medialen Auf-und-Abtauch-Aktionen (ausgerechnet in Bezug auf Twitter) forderte Maria Bustillos ihn auf, er möge »doch bitte online kommen und mit allen reden. Komm schon rein, Mr. Franzen! Das Wasser ist in Ordnung.« Bislang haben solche Appelle aber nicht gefruchtet. Franzen wurde vorgehalten, er sei ein Heuchler, der nur die Insider-Zirkel schätze, ein Schrift14 | Franzen, Weiter weg, S. 15. 15 | Franzen, Weiter weg, S. 70.

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steller der in den alten Medientürmen seine Überlegenheit zur Schau stelle. Trotzdem schreibt Bustillos auch (mit einem Verständnis für Medienaffekte, das Franzen selbst niemals zeigt): »Er mag ein Depp sein, aber er ist auch unser Depp.« Wenn Franzen tatsächlich überzeugt, dann liegt das daran, dass er die coolen Hipster immer noch an ihrer empfindlichen Stelle treffen kann, indem er etwa die intellektuelle und spirituelle Armut der Kreativen herausstellt, »die kaufen was man ihnen sagt, statt gegen die Maschine zu rebellieren, und die von ihren wundervollen kleinen Spielzeugen zu betört sind, um von ihnen aufzublicken, während die Welt brennt.«16 Ein anderer Internet-Kommentator bemerkt: »Das Web ist für ihn, was für einen Hund ein Laternenpfahl ist. Etwas, worauf man seinen Urin verspritzt, während man voller Herablassung den Duft, den die anderen hinterlassen haben, erschnüffelt.«17 Der Duft mag in Erinnerung bleiben, aber es bleibt auch ein Akt ohne Konsequenzen. Ist das fair? Ich bin mir nicht sicher. Die wichtigere Frage ist aber, ob es interessant oder von Bedeutung ist. Kann dieser alternde ›Medien-Sensible‹, vor allem bekannt durch seine Romane Die Korrekturen (The Corrections) und Freiheit (Freedom), von sich behaupten, ein ›Netzkritiker‹ zu sein? Nein – aber wie ich sagte, das ist nicht der Punkt. Er ist auch nicht der Thomas Pynchon dieser Hipster-Ära oder ihr tiefschürfender Techno-Kritiker à la Nicolas Carr. Was aber immer wieder hervorsticht, ist die hohe Intensität seiner Erregung: »Wenn Sie jeden Tag ein Stunde damit verbringen, an Ihrem Facebook-Profil zu basteln, wenn Sie keinen Unterschied darin sehen, Jane Austen auf einem Kindle oder als gedrucktes Buch zu lesen, oder wenn Sie Grand Theft Auto IV für das größte Gesamtkunstwerk seit Wagner halten, freue ich mich für Sie, solange Sie es für sich selbst behalten.«18

Wieder die impliziten Referenzen auf unsere technologischen Bedingungen, mit einer neokantianischen Kulisse als Hintergrund. Warum kann eine solche unterdrückte Revolte gegen digitalen Müll nicht nach außen getragen und vernünftig diskutiert werden? Ist die Netzwerk-Architektur von Google, Twitter und Facebook nicht wichtig genug, oder gibt es tatsächlich eine öffentliche Angst davor, diese Mächte zu direkt zu treffen? Oder wird sie als so technisch wahrgenommen, dass unsere Autoren mit ihr nicht umgehen können? Oder 16 | Maria Bustillos, »Jonathan Franzen, come join us«, The New Yorker, 18. Sept. 2013: www.newyorker.com/books/ 17 | Mic Wright in The Telegraph, 16. Sept. 2013: http://blogs.telegraph.co.uk/tech​ nology/micwright/100010517/jonathan-franzen-sounds-off-pompously-about-theinternet-prepare-for-a-really-really-bad-book 18 | Franzen, Weiter weg, S. 170.

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ist es nur die alte Unterteilung in ›High‹ (Literaturkritik) und ›Low‹ (soziale Medien), die hier wie üblich zelebriert wird? Wenn in Kontinentaleuropa Schriftsteller immer noch einen Zugriff auf das öffentliche intellektuelle Bewusstsein einer Kultur haben  – was zu diskutieren wäre (im Vergleich mit den USA aber auf jeden Fall stimmt) –, dann könnte Franzen, der in St. Louis aufgewachsen ist, nach dieser Verantwortung eine große Sehnsucht spüren. Und während er sich seiner einst provinziellen Position bewusst ist, spielt der zum Prominenten aufgestiegene Schriftsteller in der amerikanischen Boulevardpresse – wo Aggressionen meistens rein hausgemacht sind – gewiss auch eine besondere Rolle. Aber Franzen ist nicht speziell dafür bekannt, die größten Themen unserer Zeit anzupacken. Stattdessen hat er eher das Image eines ›fröhlichen Hassers‹. Es gibt so viele Gründe, warum weder Netzkultur noch Netzkritik in den zeitgenössischen Medienräumen und der Kunstindustrie besonders geschätzt werden. Durch die Plattformen wurde das Netz naturalisiert und als Grundlage unseres digitalen Daseins verschleiert, während die fortgesetzte Abtrennung des technischen vom politisch-ökonomischen Denken (ob in Wissenschaft oder anderen Bereichen) dazu führt, dass das Kommentariat auf einer wachsenden Zahl virtueller Meinungsseiten oder Netzwerken Moralbegriffe des 19. Jahrhunderts debattiert. Wenigstens in der europäischen Kunstszene wird dieser merkwürdige Mangel an Netzwissen und -kritik, wenn auch unregelmäßig, noch diskutiert. In dieser Lücke, die die fehlenden Fakten lassen, beteilige ich mich an provokativ ausgerichteten Heften und Essay-Sammlungen wie The Internet Does Not Exist, herausgegeben von der zeitgenössischen Kunstclique e-flux.19 In meiner Arbeit als Netzkritiker ist es wichtig, diese Niemals-Internet-Positionen in den Blick zu nehmen, wenn es für uns alle auch immer seltsamer wird, mit ihnen umzugehen. Franzen aber erfasst das Rätsel selbst dann – oder vielleicht gerade dann –, wenn er leicht daneben liegt. In Franzens Welt hineinzuschauen heißt, in das gewöhnliche Leben der stagnierenden amerikanischen Mittelschicht einzutauchen.20 Seine Erzählli19 | Siehe meinen Beitrag im e-flux-Buch von Julieta Aranda/Brian Kuan Wood/Anton Vidokle (Hg.), The Internet Does Not Exist, Berlin: Sternberg Press, 2015. Den Herausgebern zufolge existiert das Internet nicht, weil man es nicht sehen kann, »es hat keine Form, kein Gesicht«. Es ist 2015, und die Herausgeber gestehen, dass »wir immer noch versuchen, an Bord zu steigen, reinzukommen, Teil des Netzwerks zu werden. Aber wir werden nie in etwas reinkommen, das es nicht gibt. Versuch’ reinzukommen, es geht nicht.« (S. 5). Ist das ein konzeptuelles Problem? Oder liegt es an einem bestimmten sozioökonomischen Status? Einem Mangel an technischer Kompetenz? Wir können nur mutmaßen. 20 | Das einzige Mal, wo es um Protest geht, ist dieser ins ferne Litauen verlegt: »Draußen hing der übliche Haufen Anarchisten herum, die für alle sichtbar Spruchbän-

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teratur hat nicht die überdrehte Oberflächlichkeit des etwas jüngeren Doug Coupland, der mediengesättigte Milieus in existentiellen, McLuhanhaften Slogans ausmalt. Werbegerede kommt bei Franzen überhaupt nicht vor. Wenn wir Franzen lesen, sind wir, um einen Ausdruck Leon Wieseltiers zu benutzen, »unter den Disruptierten«21 (»among the disrupted«). Sie sind die Nachzügler, die Silicon Valley weder unterstützt noch bekämpft haben und nun, da der Hype vorüber ist, die digitalen Produkte bereitwillig aufgreifen. Die Technologie erreicht diese Nutzer in einer vorbestimmten Folge von Schritten. »Sehen Sie im Internet nach, ich gebe Ihnen die Adresse. ›Die möglichen Folgen sind beunruhigend, aber eine so mächtige neue Technologie ist nicht aufzuhalten.‹ Könnte das Motto unserer Zeit sein, meinen Sie nicht?« wird Greg, der Hauptfigur von Die Korrekturen mitgeteilt. Wir finden ein ähnliches Gefühl von technologischer Schicksalhaftigkeit auch in der folgenden Passage, ebenfalls aus Die Korrekturen: »Zu ihren bevorzugten Erziehungsratgebern gehört Die technologische Phantasie: Was Kinder heute ihren Eltern beibringen können, ein Buch, in dem Dr. Nancy Claymore dem ›müden Paradigma‹ vom begabten Kind als sozial isoliertem Genius das ›dynamische Paradigma‹ vom begabten Kind als kreativ vernetztem Verbraucher gegenüberstellte und die These vertrat, elektronisches Spielzeug werde schon bald so preiswert und weit verbreitet sein, dass die kindliche Phantasie sich nicht mehr an bunten Bildchen und erfundenen Geschichten, sondern an der Synthese und Nutzung existierender Technologien entzünden werde – ein Gedanke, den Gary so überzeugend wie niederschmetternd fand.« 22

Franzens langsame Romane, die ihre Erfolge in der Post-9/11-Kultur feierten (Die Korrekturen erschien sechs Tage davor), aber in den achtziger Jahren und der und Plakate hochhielten, und für niemanden sichtbar, in den Taschen ihrer Cargohosen nämlich, starke Stabmagneten hatten, mit denen sie inmitten des allgemeinen Kuchenessens und Punschtrinkens und Durcheinanders möglichst viele Daten von den neuen Global Desktops der Computerzentrums zu löschen hofften. Auf ihren Spruchbändern stand WEHRT EUCH und COMPUTER SIND DAS GEGENTEIL VON REVOLUTION …« Jonathan Franzen, The Corrections, London: Fourth Estate, 2001; dt. Die Korrekturen, Reinbek: Rowohlt, 2002, S. 476. 21 | Leon Wieseltier, »Among the disrupted«, The New York Times, 7. Jan. 2015. Wieseltier schreibt, dass »Informationsverarbeitung nicht das höchste Ziel ist, das der menschliche Geist anstreben kann, ebenso wenig wie es Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen Wirtschaft ist. Der Charakter unserer Gesellschaft kann nicht von Ingenieuren bestimmt werden«. Mit Michel Serres fragt er: »Wie können wir unsere eigene Herrschaft beherrschen?« 22 | Franzen, Die Korrekturen, S. 220.

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danach spielen, sind in einer Art Balzac-Stil geschrieben: seine »generationsübergreifenden amerikanischen Epen« sind voller Bewusstseinsströme zweifelnder, lebendiger, aber instabiler Charaktere, während gleichzeitig nicht gerade viel passiert. Falls überhaupt, liegen die meisten Geschehnisse in der Vergangenheit. Aus Medienperspektive ist bemerkenswert, dass praktisch keine moderne Kommunikation stattfindet. Die Protagonisten haben keinen laufenden Fernseher (anders als die meisten Haushalte), kein Telefon klingelt, es gibt weder Faxe noch Computer, nicht einmal ein gelegentliches Überfliegen der Zeitungsschlagzeilen. Natürlich bekommen unsere Helden auch keine SMS, geschweige denn, dass sie mal schnell im Aufzug ihren Facebook-Account checken. Was am Anfang ungewöhnlich wirkt – wenn nicht gar befreiend –, erscheint immer altmodischer und unrealistischer, je weiter die Geschichte voranschreitet. Die Tatsache, dass der Autor nicht gerne gestört wird 23, bedeutet doch nicht automatisch, dass seine Figuren Halbgötter sein müssen, die alle zeitgenössischen Versuchungen überwunden haben (oder gar, dass auch noch der Leser diesem Sloterdijkschen Normalen zugeschlagen werden sollte). In diesem Stil steckt ein nostalgischer Tourismus: der Roman trägt einen hinweg – er hat keinen Drang, (eine Realität) zu repräsentieren.24 In Die Korrekturen finden wir immer noch einen Autor, der postmoderne Zweifel am Nutzen von Kritik, an ihren möglichen Genres und allzu vertrauten Privilegien aufzeichnet. »Eine kranke Kultur zu kritisieren, selbst wenn diese Kritik nichts bewirkt, hatte er immer nützlich gefunden. Doch wenn die vermeintliche Krankheit nun gar keine Krankheit war – wenn die große Materialistische Ordnung von Technologie, Konsumgier und Humanmedizin das Leben der ehemals Unterdrückten wirklich verbesserte, wenn diese Ordnung einzig und allein weißen männlichen Heteros wie Chip nicht behagte–, dann besaß seine Kritik nicht einmal mehr den abstraktesten Nutzen.« 25 23 | Wie es Stephen Marche ausdrückt: »Die Charaktere führen ein Leben, das allein auf Erreichen einer komfortablen und sozial akzeptierten finanziellen Sicherheit ausgerichtet ist, die immer droht zusammenzubrechen oder schon am Zusammenbrechen ist. Wenn Raymond Carver der Meister des Todes des amerikanischen Traums war, ist Franzen der Chronist seines geisterhaften Fortbestehens – in der Verbindung von Wirtschaftswachstum und sich vertiefender Unsicherheit.« (»The Literature for the Second Gilded Age«, Los Angeles Review of Books, 16. Juni 2014). 24 | Douglas Coupland über seinen isolierten Urlaub in Chili: »Ich habe einen StephenKing-Roman dabei und eine historische Biographie, in der keine Fernseher oder Mobiltelefone vorkommen werden. Es ist wie Zeit-Tourismus; man fühlt sich wie in Kalifornien im Jahr 1910. Ich mache das drei Wochen, und dann will ich zurück.« (Interview im Guardian mit Tim Adams, 19. Okt. 2014). 25 | Franzen, Die Korrekturen, S. 66.

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Die Frage, um die es hier geht – auch für Franzen – ist, ob die amerikanische Negation zu einer Kultur der Klage neigt. Tiraden, die das Etikett ›Kritik‹ verdienen und von den Mainstream-Medienkonzernen in die Öffentlichkeit getragen werden, gehen in den USA regelmäßig als eine Art Skandal über die Bühne. Als Einzelner das Wort zu erheben, kann leicht schockieren und als zu persönlich erscheinen. »Irgendwas scheint mit dem Typen nicht zu stimmen. Wovon phantasiert er da?« Aber es ist wichtig, Kritik auch aus der Perspektive der Medienaffekte zu verstehen und Franzens Präsenz als Kern eines anarchistischen Affekts gegen den derzeitigen Betrieb und die Funktionsweisen des Internets, der viel breiter geteilt wird, zu schätzen. Ich messe Franzens Gefühle gerne an Peter Sloterdijks Überlegungen in seinem 2006 erschienenen Buch Zorn und Zeit – eine psychologische Untersuchung. In seiner vergleichenden philosophischen Lektüre dieser zwei Begriffe stellt Sloterdijk fest, dass in Europa praktisch alles, was von philosophischer und kultureller Bedeutung ist, mit dem Zorn begann.26 Die Abhandlung bildet einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über die Rolle der (Geschichten der) Affekte in der Politik. Heute ist Zorn (den Sloterdijk mit dem griechischen Begriff ›Thymos‹ als elementarer Lebensenergie verknüpft) keine göttliche Fähigkeit mehr, die ausschließlich im Besitz von Helden und Herrschern ist. Das allzu menschliche Bedürfnis nach Anerkennung wird nun von den Online-Milliarden ausgedrückt  – und ordnungsgemäß in Datenbanken abgespeichert, in denen es dann von Google-Bots und anderer Software, Geheimdiensten und sonstigen Behörden ausgelesen werden kann. Gibt es noch einen Ort für den authentischen Aufschrei? Wie können wir echte Entrüstung vom Kult des Ressentiments unterscheiden, den wir in den heutigen Internetforen beobachten?27 Werden Franzens Argumente gegen die Internetmonopole neutralisiert, wenn man sie als Ausdruck von Wut wertet, 26 | Peter Sloterdijk, Rage and Time: A Psychopolitical Investigation, New York: Columbia University Press, 2010; dt. Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008. 27 | Siehe die Veranstaltung an der Erasmus-Universität und im ›Worm‹ in Rotterdam, Mai 2014, zu der es heißt: »Uns wurde oft gesagt, dass in der gesamten modernen Geschichte die grundlegende affektive Pathologie der Protestideologien der Linken und Rechten das Ressentiment war. Von der Romantik bis zum Jakobinertum, vom Marxismus bis zum Nationalsozialismus und vom Feminismus bis zum Postkolonialismus, in jedem Fall seien es ›Explosionen‹ neidischer, aber machtloser Wut, die erklären, warum der utopische Kampf unvermeidlich in eine gewaltsame Dystopie führt.« Die Organisatoren fragten: »Kultiviert nicht der Neoliberalismus das Ressentiment als eine Strategie der Kontrolle, eine Taktik, um traurige Leidenschaften wie Neid, Hoffnung, Nostalgie, Empörung und Angst bei den Leuten hervorzurufen, die im Namen einer erschöpften Selbsterhaltung, die alle utopische Kritik hinter sich lässt, ihre eigene Macht ab- und

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sodass der normale Nutzer sich am Ende von einer berechtigten Kritik gar nicht mehr betroffen fühlt – und in aller Ruhe weiter klicken und liken kann? Der militärisch-unterhaltungsindustrielle Komplex liefert uns regelmäßig beherzte, ›engagierte‹ Prominente, die uns immer wieder für Momente an Orte der Ungerechtigkeit begleiten. Viel seltener kommt es vor, dass sich Literaten verhalten, als ob sie grimmige Götter wären. Ist Franzens Zorn ein Aufruf zur Rache? Wissen wir überhaupt noch, wie man mit Würde hasst? Oder, um es anders auszudrücken: Wie können wir in einer Welt unzähliger Kanäle und Meinungen noch eine Richtschnur finden, was wirklich wichtig ist? Zorn ist eine Modalität von energetischer Kraft; Nietzsche nannte sie den Willen zur Macht. Sollten wir mit Franzen in diese Richtung denken? Oder sein verzweifeltes Bemühen eher mit Sloterdijk als Teil einer Bewegung der Zerstreuung sehen? »Der Zorn will, scheint es, nicht mehr lernen.«28 Ich bin der Ansicht, dass man im Internetzeitalter über Ressentiment  – bereits ein komplexer Affekt – zusätzlich in einem technischen Sinne nachdenken sollte. Die meisten Ereignisse sind heute Social-Media-Ereignisse, die mit Smartphones aufgenommen und versendet werden. Kultur ist heute Techno-Kultur. Trotzdem sind wenige bereit, eine solche Analyse vorzunehmen. Das betrifft sogar Wissenschaftler, die im digitalen Zeitalter aufwachsen, die Welt der Ideen aber immer noch auf eine baumartige hermeneutische Struktur reduzieren, in der ein Buch auf das andere verweist. Es ist viel einfacher, eine Begriffsgeschichte zu Nietzsche und den alten Griechen zurückzuverfolgen, als den Content-Fallout interaktiver Anwendungen und ihrer vernetzten Implikationen zu verstehen. Die Technologie fördert heute individuelles Wohlbefinden und Vermögensaufbau, aber stellt der Gesellschaft keine öffentliche Infrastruktur mehr bereit, die jeder nutzen kann. In Die Korrekturen lesen wir folgendes: »Gewisse handliche Geräte waren dabei, den öffentlichen Telefonen den Garaus zu machen. Doch anders als Denise, die Handys für ein ordinäres Accessoire ebenso ordinärer Leute hielt, und anders als Gary, der sie nicht nur nicht verabscheute, sondern jedem seiner drei Jungen eins gekauft hatte, verabscheute Chip Handys vor allem deshalb, weil er selbst keins besaß.«29 Es ist wiederum dieser Verlust (oder die Unerreichbarkeit) von Privilegien, woraus der Groll von Franzens Figuren entsteht, ihre nie endende Suche nach einem Ausweg. Ohne ein klar bestimmbares Feindbild erwächst er aus dem diffusen Gefühl einer Unzufriedenheit, die weder abgeschüttelt noch angemessen verarbeitet werden kann. dem Schweigen und der Feigheit nachgeben, um ihre Schuld nach innen und ihren Hass nach außen zu wenden?«: www.worm.org/home/view/event/11668 28 | Sloterdijk, Zorn und Zeit, S. 284. 29 | Franzen, Die Korrekturen, S. 146.

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Unangenehme Erinnerungen passieren Revue und bleiben in einer Endlosschleife hängen. Die zwanghafte Wiederholung von Motiven30 ist eine nötige Voraussetzung, damit sich dieser Groll auf bauen kann. »Wir lieben das Internet, aber es ist dumm.« Diese Rachsucht sucht nicht wirklich nach Rache. Wir reden eher über einen in die Länge gezogenen Zustand, der erst in der letzten Instanz seine Unzufriedenheit voll zum Ausdruck bringen kann. Im Fall der sozialen Medien gibt es oft nicht einmal ein klares Objekt der Abneigung. Wut als affektive Disposition kann sich nur innerhalb eines (falschen) nihilistischen Bezugssystems artikulieren. Wir könnten in Franzens Figuren jedoch nicht bloße wütende Mini-Franzens sehen, sondern auch das Nachspüren eines sehr realen Problems unverarbeiteter Sackgassen in unserer affektiven Beziehung zu einer Hardcore-Normalität des Digitalen. Ein nächster Schritt wäre, die ›thymotischen‹ Instinkte, wie sie online zum Ausdruck gebracht werden, von der (heute meist vorherrschenden) Diskussion zum Recht auf ›freie Meinungsäußerung‹ zu entkoppeln. Der aktuelle Internetdiskurs kann die Spannungen zwischen Geist und Repräsentation nur auf einen eindimensionalen, binären Nenner bringen: entweder du darfst alles äußern, was du willst, oder deine Beiträge müssen reguliert und zur Not verboten werden. Diese legalistische Überdeterminierung der Medienkultur spiegelt die verdrehte Machtposition der Juristen und Berater in der westlichen Geschäftskultur wider. Kann man dieser rechtlichen Sackgasse mit einer ›lebendigen‹ Techno-Philosophie begegnen? Nach Jeffrey Bernstein läuft Sloterdijks Arbeit über Zorn Gefahr, bei einem »leeren Konzept ohne Gegenstand« stehen zu bleiben.31 Aus meiner Sicht hat das damit zu tun, dass Sloterdijk, wie auch viele andere seiner Generation, mit Phänomenen wie zum Beispiel ›Shit Storms‹ auf Twitter (Google: »eine Situation, die von einer heftigen Auseinandersetzung gekennzeichnet ist«) und anderen hässlichen Schlachten des gegenwärtigen Kommentarraums nicht in Berührung kommt.32 Der Zusammenprall von Ideologien in der Blogosphäre und auf Internetforen ist stark männerzentriert

30 | University of California, Santa Barbara, der Killer Elliot Rodger: »Du verdienst es, allein für das Verbrechen, ein besseres Leben zu führen als ich. Ihr ganzen Erfolgskinder! Ihr habt mich nie akzeptiert, und jetzt werdet ihr alle dafür bezahlen.« 31 | Jeffrey Bernsteins Besprechung der englischen Übersetzung von Zorn und Zeit, in: Continental Philosophy Review, 44.2 (2011), S. 253–257. 32 | Man muss Wikipedia lieben: »Der Begriff Shitstorm erlebte seit 2010 einen inflationären Gebrauch in den deutschsprachigen Medien, um jegliche Art von Empörung im Internet zu beschreiben, vor allem über Postings und Artikel in den sozialen Medien. Im Jahr 2011 wurde er von einer Jury in Deutschland zum Anglizismus des Jahres gewählt. 2012 wurde er in der Schweiz zum Wort des Jahres gewählt. Das Gegenteil von einem Shitstorm ist ein Candystorm.«

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und besonders auf Religion und Prominente (zu denen auch Franzen zählt) ausgerichtet.33 Michelle Goldberg hat Twitter als »eine Maschine, deren Treibstoff die Wut ist«, charakterisiert.34 »Man sieht etwas, das einen abstößt oder wütend macht. Darüber zu twittern, bringt eine vorübergehende Erleichterung, der mit dem Retweet noch eine kurze Bestätigung folgt. Während man die weiteren Mitteilungen scannt, empfängt man neue kleine Ausbrüche von Gehässigkeit. So wird der Ärger wieder angestachelt, man antwortet erneut und hält den Kreislauf weiter am Laufen.«

Goldberg bezieht sich auf eine Studie über Weibo (das chinesische Twitter), in der festgestellt wurde, dass wütende Nachrichten sich schneller verbreiten als alle anderen. Goldberg bemerkte, dass sie am liebsten niederträchtige Botschaften las, die in ihrer Form leicht verdaulich waren. »Der einfachste Weg, für das Internet zu schreiben, ist, an etwas Anstoß zu nehmen. Twitter belohnt ideologische Überwachung.« Franzens Zorn andererseits bleibt diffus. Wie so viele seiner Generation ist er frustriert von den verpassten Chancen (»ein anderes Internet ist/war möglich«), aber ohne in der Lage zu sein, sich auf spezifische Probleme oder Lösungen auszurichten, die jenseits seines eigenen Berufs liegen. Mit Michelle Goldberg würde ich sagen, dass Franzen der Sinn für schlechte Online-Gefühle fehlt, etwa dass ein Twitter-Shitstorm objektiv schrecklich und zerstörerisch, sein kann, aber auch eine echte Erfahrung, besonders für einen Historiker. In einem Interview mit Manjula Martin erklärte Franzen, das eigentliche Problem liege für ihn nicht im Internet als solchem, sondern in seiner süchtig 33 | Franzen wurde bekannt für seine Feindseligkeiten gegenüber Oprah Winfrey und eine bis heute andauernde Medien-Saga mit Jennifer Weiner, die den Begriff ›Franzenfreude‹ erfunden hat, um das getrübte Verhältnis von Schriftstellerinnen zu seiner Prominenz zu signalisieren: »Schadenfreude bezieht Genuss aus dem Schmerz anderer. Franzenfreude bezieht Schmerzen aus den zahlreichen und ausgiebigen Rezensionen, die über Jonathan Franzen ausgeschüttet werden.« (Natürlich wäre der genauere Begriff ›Schadenfranzen‹ oder sogar ›Franzenangst‹, worauf dieses Tumblr-Posting hinweist: http://oughtabeagermanwordfor that.tumblr.com/post/1081433318/the-troublewith-franzenfreude. In welcher Weise gibt es eine technische Komponente bei dieser Verstärkung des patriarchalischen Einflusses online? Fördert die aktuelle Mem-Architektur der sozialen Medien solche Stimmungen? Gamergate und der anschließende Exodus weiblicher IT-Kräfte aus Silicon Valley scheinen diese These zu bestätigen. 34 | Michelle Goldberg, »In defense of Jonathan Franzen«, The Daily Beast, 26. Sept. 2013: www.thedailybeast.com/articles/2013/09/26/jonathan-franzen-is-right-twitteris-horrible.html

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machenden Natur: »Der Kipppunkt ist erreicht, wenn man von der elektronischen Community nicht mehr wegkommt, wenn man fast physisch von ihr abhängig wird.«35 Im selben Interview fragt Franzen, warum​Apple-Aktionäre reich werden sollen, während Journalisten entlassen werden. Im Gegensatz zu den Techno-Libertären spricht er sich für eine Regulierung des Internets aus: »Wenn einer ganzen Region eines Landes in der wichtigsten Industrie plötzlich 90 Prozent der Arbeitsplätze verloren gehen, und zwar aufgrund der räuberischen Praktiken der Industrie einer anderen Region, könnte eine Regierung einschreiten und sagen: ›Wir dürfen nicht zulassen, dass eine ganze Region Not leidet. Also werden wir die Preise bezuschussen und die Einkommen umverteilen.‹«

Die Revolte gegen die unheilige Allianz von Hippies und Yuppies, die die Welt ruinieren, berücksichtigt nicht die Ablösung des keynesianischen interventionistischen Staatsmodells durch die Politik des Neoliberalismus. Was als berechtigte Kritik auftritt, sollte über Gefühle hinausgehen und eine sachkundige Position vertreten. In Hinblick auf seine Internetkritik könnten wir sagen, dass es für Franzen wichtig wäre, technisches Verständnis der Software und Schnittstellen mit Einsichten in die politische Ökonomie der IT, Telekoms und der aktuellsten Formen des Kapitalismus an sich zu verbinden. Die politische Parteinahme und die Analyse, die bei Franzens ›verdecktem‹ Internet-Zorn im Spiel sind, treten besonders deutlich in seinem vielschichtigen Übersetzungsprojekt The Kraus Project von 2013 zutage. Schon mit Anfang zwanzig hatte Franzen eine Faszination für den Wiener Fackel-Herausgeber und Kritiker des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt. Das Buch ist in drei Teile geteilt: der deutsche Originaltext von Karl Kraus’ Essays auf den linken Seiten, seine Übersetzung auf den rechten  – und im unteren Seitenbereich, durch eine Linie abgetrennt, seine rabiaten Fußnoten über den Zustand der US-amerikanischen Internetkultur. Diese Fußnoten spiegeln die zweitrangige und informelle Behandlung der sozialen Medien in der westlichen Kultur wider, in denen die offizielle Kulturindustrie keine grundlegende Ausdrucksform erkennen kann. In einem Essay für den Guardian, gleichzeitig ein auszugsweiser Vorabdruck des Kraus-Projekts, erklärt Franzen den Hintergrund seines Interesses an der Arbeit des Wiener Satirikers und blickt dabei in die Zeit zurück, als er in Deutschland studierte. Er spricht von einer bestimmten Art von Ärger über die Welt, der keine ursprüngliche historische Quelle zu haben scheint und auch nichts mit Punk zu tun hatte. Die Anekdote, die er erzählt, um die Verbindung zwischen seinem 22-jährigen Selbst, Karl Kraus und seinen Ambitionen als 35 | Manjula Martin, Interview mit Franzen, Scratch Magazine, Q4 2013 (online nicht mehr verfügbar).

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Kritiker zu erklären, ist sowohl seltsam offenherzig als auch durch und durch versteckt. Es war an einem Nachmittag im April 1982: »Ich war so zornig auf die Welt wie nie zuvor. Die unmittelbare Ursache war, dass es zwischen mir und einem unglaublich hübschen Mädchen in München nicht zum Sex gekommen war, auch wenn das letztlich nicht auf einem Versagen, sondern auf meiner eigenen Entscheidung beruhte. Ein paar Stunden später, auf dem Bahnsteig in Hannover, markierte ich meinen Eintritt in das Leben, das auf diese Entscheidung folgte, indem ich Münzen wegwarf. Dann stieg ich in einen Zug und fuhr nach Berlin und schrieb mich in einen Kurs über Karl Kraus ein.« 36

Die Fußnoten gehen noch weiter zurück und enthalten auch Erinnerungen an Franzens frühe Computernutzung in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Irgendwie half Kraus dabei auch: »Dass ich mich in meinen Zwanzigern in Texte von Kraus vertiefte, half mir, mich gegen den Technikneid zu immunisieren. Ich verinnerlichte sein Misstrauen und machte es mir zu eigen, auch wenn Technik in den frühen achtziger Jahren für mich kaum mehr war als Fernsehgeräte, Flugzeuge, Atomwaffen und der kleinbusgroße Computer des Seismologie-Labors, wo ich einen Teilzeitjob hatte. Da ich Computer schon in der Schule und am College benutzt hatte und ein früher Anwender computergestützter Textverarbeitung war, bin ich bei der altmodischen Überzeugung geblieben, dass Technologie ein Werkzeug ist und keine Lebensweise. Die metastasierenden und kulturell transformativen technologischen Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte scheinen mir die Kraus’schen Warnungen zu bestätigen. Schon 1910 war er unbeeindruckt; und seine Schriften wiesen mir den Weg, ebenfalls unbeeindruckt zu sein. Auch ich bin nicht völlig immun gegen Gefühle der Bedrohung und, ja, des Neids, wenn ich sehe, wie Bücher an die Wand gedrückt werden, weil sie als nicht annähernd so sexy gelten.« 37

Es ist schwer zu sagen, wo die eigentlichen Objekte der Netzkritik und die Rationalisierung einer allgemeinen kritischen Grundausrichtung beginnen und enden. Mit einer ziemlich direkten Metaphorik des Untergangs der Zivilisationen vergleicht Franzen die Vereinigten Staaten nach 9/11, ihre der Reihe nach fehlgeschlagenen Kriege im Mittleren Osten und die Finanzkrise von 2008 mit der österreichisch-ungarischen Monarchie, in der Kraus lebte: »Wien im Jahr 1910 war also ein Sonderfall. Man könnte allerdings die Ansicht vertreten, dass Amerika im Jahr 2013 ein ähnlicher Sonderfall sei: ein ebenfalls geschwächtes Imperium, das sich seine Einzigartigkeit einzureden versucht, während es auf 36 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 105. 37 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 121.

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eine Apokalypse zusteuert.«38 Es findet eine sowohl räumliche wie zeitliche Verdrängung und Formalisierung negativer, teilnahmsloser Gefühle statt. Franzen mag die deutsche Kultur, weil sie uncool ist. Er zieht die deutsche Solidität und Intensität jeder leichtfertigen New-Wave-Romantik vor. Kraus ist ein Vorbild, aber nicht, weil ihm aktuelle Moden egal waren. »Er war weltläufig, und das ist einer der Gründe, warum Die Fackel einem vorkommt wie ein Blog.« Doch bei der Retroaktivierung von Karl Kraus als Blogger macht Franzen nicht halt: »Ich möchte hinzufügen, dass die Tyrannei der Nettigkeit in der Gegenwartsliteratur vom Internet und seiner Neuntklässler-Dynamik brachial durchgesetzt wird. Schriftsteller, die fürchten, mit Bloggern und Twitterern in Konflikt zu geraten und weltweit als nicht netter Mensch ›bekannt‹ zu werden, können sich mit rühmlichen Standpunkten verteidigen: Lese-, Schreib- und Ausdrucksvermögen sind gut, Engstirnigkeit ist schlecht, arbeitende Menschen sind das Salz der Erde, Liebe ist wichtiger als Geld, Technik macht Spaß, Gentrifizierung ist ein ernstzunehmendes Problem, Tiere haben Gefühle, Kinder sind weniger verdorben als Erwachsene, und so weiter.« 39

Echte Künstler haben Charakter und Persönlichkeit, aber diese Eigenschaften finden in der Gesellschaft keine Anerkennung mehr: »In letzter Zeit machen sich viele gute Schriftsteller, meist im privaten Kreis, Gedanken darüber, was es zu bedeuten hat, dass sie sich nicht für Facebook und Twitter interessieren können. Ich glaube, es bedeutet, dass sie eine starke Persönlichkeit haben. Das scheint allerdings ein seltsam schwacher Trost zu sein, wenn man bedenkt, wie leichtsinnig der Rest der Welt sich den neuen Technologien hingibt.« 40

Niemand aus der europäischen Intelligenz oder dem europäischen Kommentariat würde sich offen hervorwagen und behaupten, das Internet sei wirklich irrelevant oder überflüssig. Schon deshalb, weil sie zu vorsichtig sind und keinen historischen Fehler machen wollen. Die deutsche und französische Elite neigt – definitiv mehr als andere – dazu, das Netz oder die Netzkultur als Mode zu sehen, die kommt und geht. Trotzdem gibt es niemanden, der wirklich öffentlich über das Netz als Mode schreibt. Das ist auch der merkwürdige Unterschied zu Franzen. Für den europäischen Intellektuellen liegt der beste Umgang mit dem Netz darin, es zu ignorieren, und das tun in der Tat die meisten – lieber jedenfalls als etwas aus ihrer Position des anerkannten hermeneutischen Expertentums falsch zu verstehen (oder vielleicht auch richtig, ich habe keine historische Wette laufen, gegenüber den Non-Media-Intellektuellen recht zu 38 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 19. 39 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 109. 40 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 121.

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behalten – ich wünsche mir im Gegenteil sogar, dass das kein Problem wäre). Franzen ist insofern auch interessant, weil er in seinem Drang, ›europäisch‹ zu sein, wirklich Dinge über zeitgenössische (Netz-)Kultur zu sagen versucht, die Europäer nie sagen würden, und das auf eine Weise, auf die sie sich nicht einlassen würden. Franzen erklärt, »Kraus verbrachte viel Zeit damit, Sachen zu lesen, die er grässlich fand, damit er sie mit triftigen Gründen grässlich finden konnte.«41 So möchte Franzen wahrscheinlich auch wahrgenommen werden, als eine zeitgenössische literarische Autorität in einer Welt voller Blogs. »Den meisten Schilderungen nach war er im privaten Leben ein sanftmütiger und großzügiger Mann mit vielen treuen Freunden. Aber wenn er einmal anfängt, ins Horn seiner polemischen Rhetorik zu stoßen, führt ihn das in extrem heftige Register.«42 Aber was ist hier Franzens spezifischer Bezug zu Medientechnologie und Netzkritik? Theaterkritiker brauchen eine Leidenschaft für die Stücke und Schauspieler, und sie müssen deren Geschichte kennen. Ist dies auch der Fall bei Franzen und dem Internet? Interessiert ihn das strittige Medium überhaupt? Ist er zum Beispiel bereit, sich mit dem ›Plattform-Kapitalismus‹ und seiner Umverteilung von Arbeit, seiner Entwertung von Qualifikationen und seinen monopolistischen Tendenzen eingehender zu befassen? Laut Franzen besteht die Substanz unserer Leben in der totalen elektronischen Zerstreuung. »Wir sind unfähig, den wahren Problemen ins Gesicht zu sehen. […] dafür können wir uns aber alle darauf einigen, uns den coolen neuen Medien und Technologien auszuliefern und die Unternehmen von Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos auf unsere Kosten profitieren zu lassen. Die Situation, in der wir uns befinden, ist derjenigen Wiens im Jahre 1910 ziemlich ähnlich, nur dass die Zeitungstechnologie (Telefon, Telegraph, Schnelldruckerpresse) durch die digitale Technologie und der Wiener Charme durch amerikanische Coolness ersetzt worden sind.« 43

Und wer hat die Zeit, Literatur zu lesen, »wenn man bei so vielen Blogs auf dem Laufenden bleiben, so vielen Essensschlachten auf Twitter folgen muss?«44 Während er sich über Salman Rushdi beschwert, der »Twitter erliegt«, atta41 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 16. 42 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 16. 43 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 20. Für Franzen kann es kein Multitasking geben: »Darin, dass er es ablehnt, beim Schreiben Musik zu hören, finde ich mich allerdings wieder. Ich bin jedes Mal erstaunt, wenn Schriftsteller berichten, sie hörten bei der Arbeit Beethoven oder Arcade Five. Wie können sie sich auf zwei Sachen gleichzeitig konzentrieren?« (S. 67). 44 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 38.

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ckiert Franzen zu Recht auch das Magazin n + 1, das »irgendwie zu berücksichtigen vergisst, dass es [das Internet] freischaffende Schriftsteller zunehmend und immer schneller verarmen lässt«, und prangert an, »wenn rechtschaffene linke Professoren  […] das kommerzialisierte Internet auf einmal als ›revolutionär‹ bezeichnen, bereitwillig Apple-Computer benutzen und nicht aufhören, deren Vorzüge zu preisen«.45 Das sind die Widersprüche, über die wir mehr wissen wollen. Wie können wir mit diesen Verkrampfungen etwas Produktiveres und Befreienderes anstellen, ohne eine personifizierte Kultur der Schuld zu kreieren? Der erste Schritt ist immer, festzustellen, dass man nicht allein ist; der zweite ist, zu wissen, dass es Alternativen gibt. Vielleicht ist es aber auch gar nicht die Aufgabe öffentlicher Schriftsteller, uns durch diese Schritte zu leiten. Franzen wirft die berechtigte Frage auf, wie es kommt, dass die Netzkultur dieses ›Ressentiment-Moment‹ hervorgerufen hat und in den öffentlichen Medien immer nur als ›zweitrangig‹ behandelt wird. Aus dieser unklaren, verdrängten, benachteiligten Position heraus ist die Netzkritik irgendwie gefährlich und infektiös geworden, während ihr Potential, etwas zu transformieren, gleich null geblieben ist. Warum überhaupt konsumieren die Leute Franzen, wenn er sich manchmal irrt oder seine Analysen komplexer technischer Zusammenhänge von Finanzwelt und Politik widersprüchlich sind? Mir geht es nicht darum, ihn zu widerlegen, sondern das Phänomen zu verstehen – die Art und Weise, wie die amerikanische Kultur als globale Mainstream-Kultur es größtenteils ablehnt, sich mit dem Internet zu beschäftigen, während gleichzeitig die Mehrzahl ihrer Subjekte davon besessen ist. Wie können wir diese Ablehnung politisch-philosophisch verarbeiten, insbesondere in Hinblick auf die Objekte der Netzkritik? Ein Hauptaspekt der Analyse ist hier die unterbewertete geschichtliche und inhaltliche Rolle der Technik beim dauerhaften Rückzug der Kultur als zentraler Quelle von Sinn und Bedeutung in der Gesellschaft. »Um 1908 herum gelangte er [Kraus] zu der Überzeugung, dass unsere technologischen Fähigkeiten und unsere schöpferischen Kräfte in unterschiedliche Richtungen gingen – Erstere aufwärts und Letztere, als Ergebnis davon, abwärts –, und dieser Gedanke machte ihm wirklich Angst.« 46

Die Kultur wird durch die Technologie ersetzt. Sagt Franzen, und es klingt wie ein Echo von Morozovs Kritik des Solutionismus: »Technikvisionäre der neunziger Jahre versprachen, das Internet werde eine neue Welt voller Frieden, Liebe und Verständnis schaffen, und Twitter-Führungskräfte rühren noch 45 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 17. 46 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 130.

Jonathan Franzen als Symptom immer die Utopismus-Trommel und behaupten, einen grundlegenden Beitrag zum arabischen Frühling geleistet zu haben. Wenn man ihnen zuhört, könnte man meinen, es sei unvorstellbar, dass Osteuropa sich ohne die Hilfe des Mobilfunks von den Sowjets befreien konnte oder dass ein Haufen Amerikaner gegen die Briten aufbegehrte und ohne 4G-Technologie die Verfassung der Vereinigten Staaten hervorbrachte.« 47

Es hat Jahrzehnte, Jahrhunderte gedauert, bis die westliche bürgerliche Klasse ein ausgefeiltes Selbstverständnis ihrer eigenen Kultur entwickelt hatte. Solch eine differenzierte Sprache fehlt jedoch, wenn wir uns mit den ›Tempeln‹ der Ingenieurskultur auseinandersetzen wollen, die bislang immer nur in nüchternen, technisch-wirtschaftlichen Kategorien betrachtet wird. Franzen aktualisiert Kraus, wenn er feststellt, dass die Erfindung und Implementierung von Technologie oft zu einem automatisierten Prozess geworden ist, dem wesentliche Bewusstseinsaspekte der Entscheidungsfindung fehlen: »Der Refrain unsere Tage lautet, ›unsere leistungsstarken neuen Technologien sind nicht zu stoppen‹. Der Widerstand der Basisbewegung gegen diese Technologien beschränkt sich fast ausschließlich auf Gesundheits- und Sicherheitsaspekte; […] auf einmal verbringen wir die meisten Stunden unseres Wachzustandes damit, auf Farbbildschirmgeräten SMS und E-Mails und Posts und Tweets zu schreiben, weil das Moore’sche Gesetzt besagt, dass wir das könnten.« (S. 131) Franzen stellt dies in den Kontext einer harschen neoliberalen Politik: »Man erklärt uns, wir müssten, um wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben, die Geisteswissenschaften vergessen und unseren Kindern (um Thomas Friedmans Wort in einer Times-Kolumne von 2013 zu verwenden) ›Leidenschaft‹ für die digitale Technologie vermitteln und sie darauf vorbereiten, sich ihr Leben lang unablässig weiterzubilden, um damit Schritt zu halten. Wenn wir, so diese Logik, Dinge wie Zappos.com und DVR-Technik für zu Hause haben wollten – und wer wollte das nicht –, dann müssten wir uns von der Arbeitsplatzsicherheit verabschieden und ein Leben in Angst willkommen heißen. Wir müssten so rastlos werden wie der Kapitalismus selbst.« 48

Franzen zieht hier eine wichtige Verbindung zwischen der Warenwelt und den Jobs, die wir am Ende machen. Gadgets gibt es nicht ohne Folgen. Unsere Geräte provozieren einen Lebensstil und sind nicht einfach das Resultat persönlicher Entscheidungen. Wir kaufen diese Produkte nicht als Belohnung,

47 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 131. 48 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 132. Hier bestehen klare Verbindungslinien zu Evge­n y Morozovs To Save Everything, Click Here: Technology, Solutionism and the Urge to Fix Problems that Don’t Exist, London: Allen Lane, 2013.

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sondern rüsten uns erst mit ihnen aus, um dann in die Welt einzutreten – und diese nie mehr so zu sehen wie zuvor. In dem folgenden Fragment formuliert Franzen schließlich seine eigene These: »Für Kraus war das Teuflische an Zeitungen ihre verlogene Verbindung von aufklärerischen Idealen mit einem gnadenlosen und äußerst geschickten Profit- und Machtstreben. Was den Technikkonsum angeht, so leistet eine humanistische Rhetorik mit Wörtern wie ›Kompetenzgewinn‹, ›Kreativität‹, ›Freiheit‹, ›Verbundenheit‹ und ›Demokratie‹ dem unverhohlenen Monopolismus der Technik-Titanen Vorschub; das neue Teufelswerk scheint in wachsendem Maße nichts anderem mehr zu folgen als seiner eigenen Entwicklungslogik, und es macht weit abhängiger und appelliert weit stärker an die niedrigsten Triebe der Menschen, als Zeitungen dies je getan haben.« 49

Alles Digitale kommt von innen, und dieses Eingebettetsein in das neoliberale Subjekt macht es so viel schwerer, zu erforschen, worum es bei der Natur dieser neuen Macht überhaupt geht. Es ist diese Qualität, weshalb McLuhans Metapher für uns nicht mehr gilt – Medien sind keine Erweiterungen mehr, wir haben sie in uns eingegliedert. Die technischen Apparate sind so klein, so vertraut und so intim geworden, dass wir uns nicht mehr von ihnen abgrenzen können und deshalb solche Schwierigkeiten haben, ihren Einfluss kritisch zu reflektieren. Franzen schreibt: »Die Flut an trivialen, falschen oder gehaltlosen Informationen ist heute tausendmal größer. Kraus wagte ja nur eine Prognose, als er sich den Tag ausmalte, an dem die Menschen vergessen haben würden, wie man addiert und subtrahiert; jetzt vergeht kaum ein Essen mit Freunden, in dessen Verlauf nicht irgendjemand zum iPhone greift, um die Art von Fakten abzurufen, die früher das Gedächtnis zutage zu fördern hatte. Technikbegeisterte sehen darin natürlich nichts Schlechtes. Sie weisen darauf hin, dass die Menschen die Erinnerung schon immer delegiert hätten – an Barden, Historiker, Ehepartner, Bücher. Aber für mich, der ich noch hinreichend ein Kind der sechziger Jahre bin, ist es ein Unterschied, ob man es seiner Frau überlässt, an die Geburtstage seiner Nichten zu denken, oder ob man die Funktion des Gedächtnisses an und für sich an ein globales, kommerzielles Kontrollsystem abgibt.« 50

Erinnert werden nicht mehr Informationen, sondern körperliche Wiederholungen und Gesten. Diese ›Abhängigkeiten‹ sind am schwersten zu bekämpfen – wie etwa im Aufzug schnell mal das Smartphone zu checken. 49 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 136. 50 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 136.

Jonathan Franzen als Symptom

Karl Kraus ist dann nicht nur eine historische Eskapade. Eher strittig wird Franzens Rückgriff auf ihn in den historischen Analogien, die er herstellt. Er schreibt darüber, wie die Lektüre des Boston Globe in den achtziger Jahren für ihn eine selbstauferlegte Bestrafung und ein Training war, um Kraus’ Niveau des reaktionsstarken Kommentars zu erreichen.51 Er dachte schon damals daran, »eine weiter gehende Apokalypse-Diskussion über die Logik des Maschinellen [zu] führen, das in Kraus’ Zeit noch auf Europa und Amerika beschränkt war, mittlerweile aber global geworden ist und die Denaturierung des Planeten und die Versauerung der Meere beschleunigt«.52 In der Verknüpfung des Wiens von 1910 mit dem Amerika ein Jahrhundert später macht Franzen geltend, dass es sich bei beiden um Momente der negativen Immanenz handelt, Situationen in denen, nach Ezra Pound, die Kultur zur Antenne der zivilisatorischen Regression der Menschheit wird, und alle Signale deuten darauf hin, dass das Imperium bald fallen wird. Aber, für uns entscheidend, das sind nur kulturelle Signale des Zusammenbruchs – sie bewegen sich auf der Ebene des Affekts, es gibt keinen Beweis, nur viel Aufgeregtheit. Um es eindeutig festzuhalten, Kraus erlebte tatsächlich den Aufstieg und Fall des Imperiums, mit all seinen Konsequenzen. Doch weder Franzen, noch du oder ich werden zu unseren Lebzeiten den Fall des US-Imperiums mit ansehen. Das amerikanische Imperium ist immer noch stark und wird weiter das Sagen haben. Aber selbst wenn es nicht im wörtlichen Sinne fällt, fällt es doch aufgrund seiner inneren Widersprüche (nicht wegen einer Opposition oder weil seine Lenker müde sind) auseinander. Franzen erscheint in diesem Sinn als eine künstlerische Antenne, als ein engagierter Akteur, der Symptome sichtbar macht und Reaktionsweisen eine Stimme gibt, die, wie ich glaube, von vielen geteilt werden. Kraus ist bei ihm ein Mittel zum Zweck, so wie es Franzen für mich ist. Wie ich in Kapitel 6 umrissen habe, geht Amerika durch seinen PikettyMoment. Das wird auch von den meisten rechtsgerichteten Experten bestätigt: Die Mittelschicht schrumpft, die Kluft zwischen arm und reich wächst. Vor zehn Jahren wäre dieser Konsens sicher nicht nur unmöglich gewesen, sondern als öffentliche Meinung auch völlig tabuisiert. Nun, da die Beweise überwältigend sind, warnen sogar Konservative davor, dass der Traum vorbei sein wird. Die Sache ist nur, das System ist trotzdem nicht zusammengebrochen. Franzen versucht, das einzufangen; allerdings hat diese neue Normalität keine 51 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 261. 52 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 268. Bei mir war es anders, obwohl ich mich auch endlos in Zeitungen vertiefen konnte, um auf neue Ideen und intellektuelle und politische Debatten zu stoßen, in meinem Fall in Die Tageszeitung aus Berlin. Aber ich hatte damals null Interesse an der anderen Seite und blickte auf die konservativen Finanzblätter als fremde, historische Reliquien des verheerenden, vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts herab.

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Verbindung mit der Achtziger-Jahre-Ästhetik des Niedergangs, als die Industrial Music im Rostgürtel den frühen Glanz des jungen Jahrzehnts wegkorrodierte. Irgendwie haben wir die Gefühle, die mit dem industriellen Niedergang verknüpft sind, schon weit hinter uns gelassen, über die Franzen, nicht zufällig, in seinem ersten Bestseller, in dem er in den Kopf eines alten Patriarchen des modernen US-Railway-Systems gestiegen ist, so schön geschrieben hat. Jetzt ist die Macht Chinas eine Tatsache; die Realität, dass alle Industrien die USA verlassen haben, ist traurige Wahrheit. Das ist keine Nostalgie mehr, und so löst sich sogar die Logik der Gefühle aus Franzens frühen Werken in Luft auf. In einer seiner typischen Warnungen vor dem dramatischen Niedergang umgeht Franzen die Realitäten der vernetzten politischen Ökonomie, um seinen Blick auf die Welt des Büchermachens zu richten. Vom Gefühl bewegt, dass »die Apokalypse, nachdem sie eine Zeitlang in weite Ferne gerückt zu sein schien, noch immer gegenwärtig ist«, bemerkt er: »In meinem eigenen kleinen Winkel der Welt, sprich der amerikanischen Literatur, ist Jeff Bezos von Amazon vielleicht nicht der Antichrist, aber er sieht eindeutig aus wie einer der vier apokalyptischen Reiter. Amazon wünscht sich eine Welt, in der Bücher entweder von den Autoren selbst oder von Amazon verlegt werden, mit Lesern, deren Bücherauswahl von Amazon-Rezensionen abhängt, und Autoren, die für ihre eigene Werbung verantwortlich sind. In dieser Welt wird die Arbeit von Quasslern und Twitterern und Angebern sowie von Leuten, die genug Geld haben, um jemanden dafür zu bezahlen, dass er Hunderte Fünf-Sterne-Rezensionen für sie produziert, florieren.« 53

Aber die Grenzen der Berufsfelder zu verteidigen, wird Sache eines kollektiven Kampfs sein, Jonathan. Autoren sollen schreiben und Marketing-Leute ihr PRDing machen. Einverstanden. Wenn Autoren anfangen zu twittern, unterlaufen sie dann die Arbeitsteilung? Statt Arbeitsbeziehungen aus der Vergangenheit zu verteidigen, sollten wir aktiv daran mitwirken, neue Fähigkeiten und Berufe auszumachen, und uns Bestrebungen widersetzen, die alle Arbeit an den einzelnen Schöpfer delegieren wollen. Was bedeutet es nun wirklich, das heutige Internet zu hassen, wenn man nicht über dessen Vergangenheit und Gegenwart des Produziert-Werdens spricht? Bei Franzens Ärger geht es nicht um eine Welt, die wir gemeinsam geerbt haben. Es geht um eine verlorene Chance, eine langsam wachsende Erkenntnis, die plötzlich sichtbar wird: wir haben es vermasselt. Wir hatten nicht die Zügel in der Hand, aber sind dennoch verantwortlich. Was Franzen zum Ausdruck bringt, ist die Schuld ob der verpassten Gelegenheit, eine intelligentere Netzwerkkultur aufzubauen (»Wir haben es nicht gebaut.«). Wir forder53 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 266.

Jonathan Franzen als Symptom

ten  – und praktizierten  – Mediendiversität, Quellenvielfalt, eine neue Szene frei von den autoritären Stimmen der immer gleichen Kreise alter Journalisten und Kritiker, der vorhersehbaren Meinungen der monopolistischen Kanäle – und alles, was wir bekommen haben, ist Google, Facebook und Twitter. Wir konnten die vernünftigen, kalten Berichte über das immer Gleiche nicht mehr ertragen. Franzen erwähnt, dass seine regelmäßige Lektüre des Boston Globe zur Vorbereitung auf die Rückschläge der neoliberalen Ära gedient hätte, in der die technischen Möglichkeiten gerade nicht in eine demokratischere und offenere ›Netzwerkgesellschaft‹ umgesetzt wurden. Die Frage, wie man den Einfluss von Franzens Argumenten bewerten soll, ist eine politisch-strategische. Bislang sehen wir bei ihm nur Medientaktiken alter Schule (Auftritt in einer populären Fernsehshow, Verträge mit einem traditionellen Verlag, Schreiben für den Guardian usw.). Er versucht, die öffentliche Debatte zu beeinflussen und dabei die öffentliche Wertschätzung und Nutzung von sozialen Medien wie Facebook und Twitter einzudämmen. Selbst für Blogs ist er nicht zu haben. Am Ende ist er zufrieden mit literarischen Formaten wie dem beliebten Roman des 19. Jahrhunderts (sein Kulturideal), ergänzt durch gelegentliche Essays für eine Zeitung oder ein Magazin. Diese rückwärtsgewandte Sichtweise schwächt seine Position. Egal in welche Richtung wir schauen – nach hinten, nach vorne, zur Seite oder nach unten in die Gosse – Franzens Rat bleibt auf der Linie von Konrad Adenauer: keine Experimente. Wir überspringen sogar die literarischen Experimente des 20. Jahrhunderts, als ob sie nie stattgefunden hätten. Franzen schreibt über Kraus: »Reaktionäre Theorie und revolutionäre Praxis standen in seinem Werk nicht nur Seite an Seite: sie zehrten voneinander.«54 In Franzens eigenem Werk werden wir nach einem ähnlich produktiven Zusammenprall vergeblich suchen: Obwohl es Momente eines solchen Versprechens und sogar Glücks gibt, hat er sich zu sehr in die fast unsichtbaren Alltagsdramen seiner Charaktere zurückgezogen, um tiefer in die größeren techno-kulturellen Widersprüche der Gegenwart, zwischen vereinter Weltsicht und fragmentiertem Overkill der Eindrücke, einzudringen. Große Literatur ist nicht die Lösung für die interaktive, vernetzte Echtzeit-Ära, egal wie gerne wir uns von Netflix-Serien und klassischen 90-Minuten-Blockbustern unterhalten lassen. Gedehnte Erfahrungsmomente verdrängen nicht die real existierende Fragmentierung paralleler Datenströme, die unsere andauernde Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, und ändern können sie sie schon gar nicht. Es reicht nicht zu beobachten, dass »das Internet und die sozialen Medien so verführerisch und so unmittelbar befriedigend sind, dass man sich leicht von der eigenen Wirklichkeit wegtragen lässt.«  – »Wir haben eine Verantwortung dafür,

54 | Franzen, Das Kraus-Projekt, S. 154.

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wir selbst zu bleiben.«, betont Franzen.55 Aber was ist dieses Selbst außerhalb der großen Themen unserer Zeit? Wir können uns hinter den Motiven des humanistischen 19. Jahrhunderts verstecken, aber die Experimente in der Literatur, dem Film und der visuellen Kultur des 20. Jahrhunderts geschahen nicht ohne Grund. Das berühmte Selbst wurde seitdem analysiert, pathologisiert, fragmentiert, dekonstruiert, markiert, gespiegelt und zurückgewonnen.56 Die unerwünschten Aspekte der technologischen Entwicklung zu erkennen und ›nein‹ zu ihnen zu sagen, ist eine Sache. Eine andere ist, sich der ästhetischen Aufgabe zu stellen, die Gegenwart zu erzählen – egal wie verstreut sie ist.

55 | In: Joe Fasler, »Jonathan Franzen on the 19th-Century Writer Behind His Internet Skepticism«, The Atlantic, 1. Okt. 2013: www.theatlantic.com/entertainment/archive/​ 2013/10/jonathan-franzen-on-the-19th-centur y-writer-behind-his-internet-skepti​ cism/280168 56 | Fasler, ebd.

Urbanisieren als Verb Die Karte ist nicht die Technologie

Menschliche Bewegung ist gleich Informatik.1 Das ist die Annahme unserer digitalen Mobilität. Nicht nur werden unsere Bewegungen von Verkehrskameras erfasst, wir übermitteln dem ›System‹ auch ständig unseren Aufenthaltsort und informieren unsere Netzwerke über unsere Mobilitäts-Affekte via soziale Medien wie Twitter, Facebook, Ping oder SMS. Wir lassen uns verfolgen, wir verfolgen uns selbst und halten die Daten in Bewegung. Es gibt kaum Zeit, um die Daten ›reifen‹ zu lassen. Das ist die Krise des Archivs als Theorie und Metapher. In diesem Kapitel untersuche ich die Veränderungen, die hinter Mobilitätskonzepten stecken, aus der kritischen Perspektive neuer MedienNetzwerke und Medienästhetik. Das hier präsentierte Konzept fußt auf einem früheren Projekt, das unter dem Dach der ›verteilten Ästhetik‹ entstand.2 Diesmal liegt mein Fokus weniger auf dem Objekt, das sich unter dem Einfluss von Virtualisierung und Digitalisierung auflöst, als auf der Bewegung innerhalb dichter (urbaner) Netzwerke. Die zentrale Herausforderung liegt darin, die Beziehung zwischen Mobilität und IT jenseits vorhersehbarer Rhetoriken von

1 | Dieses Kapitel ist die aktualisierte Version eines ersten Entwurfs, der im März 2012 geschrieben wurde. Mein Dank geht an Tom Apperley und Linda Wallace für ihre wertvollen Kommentare und Verbesserungen, sowie an Rob van Kranenburg und Marc Tuters für ihren umfangreichen Input und ihre inspirierenden Beiträge zur Politik und Ästhetik von RFID/Internet der Dinge beziehungsweise zu lokativen Medien. Mehr über Radiofrequenzidentifizierung (RFID), siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Radio-frequency_​ identifi​c ation 2 | Siehe Ausgabe 7/2005 des Fibreculture Journals (http://seven.fibreculturejournal. org), das der verteilten Ästhetik gewidmet ist. Meine eigene Zusammenfassung und Interpretation dieser kollaborativen Untersuchung findet sich im Kapitel »Thesen zur verteilten Ästhetik« in Geert Lovink, Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur, Bielefeld: transcript, 2008.

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›Rückverfolgbarkeit‹ und ›Kontrolle‹ zu denken.3 Wenn die Smart City jetzt potentiell alles wissen kann, was wir tun, ändert das nicht auch grundsätzlich die Vorstellungen, die wir von ihr haben? Bevor wir anfangen, noch ›smartere‹ Citizen-Systeme (und entsprechende ›Ethiken‹) zu gestalten und Kunstprojekte entwickeln, die unvermeidlich Prototypen neuer Schuhe, Taschen, Telefone und natürlich Fahrräder, Autos, Züge und Flugzeuge hervorbringen, die jede unserer Bewegungen verfolgen, erscheint es nötig, einige der kritischen Punkte zu definieren. Welche Rolle spielen diese (neuen) Ästhetiken?

D efinitionen einer urbanisierenden Technologie Wie verstehen wir die Idee des ›Urbanisierens‹ in Beziehung zur technologischen Entwicklung4, wenn wir berücksichtigen, dass jede Technologie ihre Boom-und-Bust-Zyklen hat? Im Modell, das wir aus dem 19. Jahrhundert (Paris, London etc.) übernommen haben, ist die Stadt als Metropole lebendig und cool, ohne dass dabei überhaupt von Netzwerken die Rede sein müsste. Ich würde das aktuelle Mem der ›Urbanisierung‹ als ein Phänomen der ›zweiten Stufe‹ definieren, nachdem der Boom der ersten Stufe der ›digitalen Stadt‹ vorüber ist. Urbane Informationssysteme hat es natürlich schon das ganze 20. Jahrhundert hindurch gegeben. Die ›virtuellen Städte‹ hatten ihren Höhepunkt etwa zwischen 1995 und 1997, als die Implikationen der Einführung des Internets auf der kommunalen Ebene diskutiert – und getestet – wurden (ohne dass sie bereits implementiert worden wären, da dafür die Breitbandverbindungen nicht ausreichten).5 Wir nähern uns dem Ende dieses letzten Top-down ›Smart-Cities‹-Hypes. Viele fassen Netzwerke noch als soziologische 3 | Eine Möglichkeit, wie man an das Thema nicht herangehen sollte, wäre, sich über die SmartCap zu beklagen, ein Gadget, das misst, wie müde wir sind, während wir gerade für unseren Chef durch die Stadt fahren: www.smartcap.com.au 4 | Der Begriff »urbanisierende Technologien« stammt von Saskia Sassen. Ihre Definition lässt sich hier nachlesen: https://lsecities.net/media/objects/articles/urbanis​ ing-technology/en-gb/. Ihre These ist, dass unsere Technologien noch nicht genügend »urbanisiert« worden sind. Sie betont die Grenzen intelligenter Systeme und den Bedarf, »ein System zu gestalten, das die ganze Technologie wirklich in den Dienst der Einwohner stellt und nicht umgekehrt: die Einwohner als zufällige Nutzer«. 5 | Siehe z. B. die deutschen Anthologien Stadt am Netz, Ansichten von Telepolis, Hg. Stefan Iglhaut, Armin Medosch, Florian Rötzer, Mannheim: Bollmann, 1996; und Virtual Cities, Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter der globalen Vernetzung, Hg. Christa Maar und Florian Rötzer, Basel: Birkhäuser, 1997. Bei beiden bleibt unklar, worum es überhaupt geht: die Nutzung von Computernetzwerken für eine optimierte, zentralisierte urbane Planung oder die Bottom-up-IT-Nutzung durch die Bürger, um ihre Viertel zu

Urbanisieren als Verb

Instanzen auf, kalte Werkzeuge, Infrastruktur, während sie technologische Schichten über eine nostalgische Version der Stadt des 21. Jahrhunderts legen. Netzwerke werden intuitiv als wissenschaftliche Metakategorie verstanden, gemacht von und für Technokraten, um die Welt am Laufen zu halten, während man sie den Laien als abstrakte und mathematische Formen präsentiert. Das unzeitgemäße Ergebnis ist ein rationales, veraltetes Konzept der Stadt des 20. Jahrhunderts, das letztlich langweilig und irrelevant ist. Die weltweite Natur des Internets hat sich in der Stadt mittlerweile als Gegebenheit eingenistet. Aber immer noch bleiben die spezifischen möglichen Beziehungen der Städte zu den Netzwerk-Infrastrukturen jenseits des Vorstellungsrahmens. Was faszinierend ist und geheimnisvoll bleibt, ist gerade der Einfluss des Netzwerks auf die lokale Ebene der Stadt. Die Stadt ist ein dichtes Gelände und ein lesbares Territorium, und es sind genau ihre Grenzen, auch ohne die traditionellen Stadtmauern, die sie zu so einer reizvollen Metapher machen. Meine Frage nach einer ›neuen Ästhetik‹ in Bezug auf die heutige urbane Technologie lautet: Kann man den Schwerpunkt der zwischen Künstlern und Wissenschaftlern geführten Diskussion ›der Stadt‹ vom Avantgarde-Begriff des spekulativen Designs bei der gesellschaftlichen Nutzung von ICT (durch ›Early Adopter‹) auf Interventionen in die politische Ökonomie der Massennutzung hin verschieben? Was geschieht, wenn die Informationstechnologien eine kritische Masse überschreiten und allgegenwärtig werden? Die elektronischen Künste sind dieser Frage wie üblich aus dem Weg gegangen, um sich stattdessen auf das nächste neue Ding zu konzentrieren – Internet der Dinge, DIY-Sensoren und so weiter. Es wurden komplexe Info-Visualisierungen produziert, aber welche von ihnen wurden in irgendeiner Weise radikal eingesetzt? Es gibt einen dialektischen Sprung, wenn Glasfaserkabel einmal verlegt sind und Funksignale ein Gebiet abdecken. Haben digitale Technologien einmal eine ›Sättigung‹ erreicht, verlieren sie ihre ursprüngliche Signifikanz. Schon lange berühren sich Größenfragen und Modelle des globalen Bewusstseins. Aber können wir wirklich begreifen, was es bedeutet, wenn es weltweit sieben Milliarden Handyverträge gibt? John Perry Barlows Vision eines globalen verbindenden Gewebes, das Synapse mit Synapse verknüpft, ist gerade dabei, zur Realität zu werden – während es von den wenigsten wirklich verstanden wird. Welche Art von Visualisierung könnte uns hierbei helfen? Es ist der Moment, in dem die Überfülle des Systems in Entropie umschlägt. Was heißt es, wenn Verfügbarkeit und Zugang zu allgegenwärtigen und bedeutungslosen globalen Konzepten werden? Was passiert, wenn wir den Sprung jenseits der schieren Quantität vollziehen, jenseits der alles überlagernden Sättigung, vernetzen und die demokratische Partizipation durch Selbstorganisation zu stärken? Um beides? Irgendwie besteht diese Unklarheit, zwanzig Jahre später, immer noch.

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und zu einer bislang unbekannten Synthese kommen? Immer wieder haben wir gesehen, wie der perfekte Überblick zur Gleichgültigkeit geführt hat und dazu bestimmt war, in die Sphäre des kollektiven Unbewussten abzugleiten. Kommt als nächste Phase die »Rache des Objekts«, wie Jean Baudrillard spekulierte (tote Batterien, verlorene Verbindung, ein gebrochenes Kabel)? Oder werden sich andere Versionen des Sozialen herauskristallisieren? Ab dem Moment, in dem aus der Ideologie der intelligenten Stadt eine tatsächlich funktionierende Maschine geworden ist, lässt sich ›Urbanisieren‹ als Metapher auf ganz verschiedene Weisen lesen.6 Wir können die Dichte ihrer Sensoren und Informationspunkte in den Vordergrund stellen. Aber wir können das Ganze auch als ›Zivilisationsprozess‹ interpretieren, in Anlehnung an die Soziologie von Norbert Elias7, in der der gesellschaftliche Gebrauch ausgefeilte Regeln, Gesten, Gewohnheiten und Manieren erzeugt und so die Fixierung der Ökonomen und Techno-Deterministen auf die Infrastruktur überwindet. Diese ›zivilisatorische Wende‹ führt über die reine Funktionalität (also die Herausforderung der Dichte) hinaus und verweist uns auf differenzierte Ästhetiken und merkwürdige Alltagspraxen, die nicht zwangsläufig aus vorhandenen Protokollen ausbrechen oder diese infrage stellen (man denke an die Geste der Proustschen ›Datendandy‹-App im Zeitalter des Smartphones). Welche Figuren des 21. Jahrhunderts entsprechen Walter Benjamins Flaneur des 19. Jahrhunderts? In den späten achtziger Jahren hätten wir die Gestalt des Cyberpunks vorgeschlagen, aber der wäre heutzutage zu subkulturell. Das Äquivalent der neunziger Jahre könnte der Nerd ein, wäre er als Figur nicht zu marginal und zu spezifisch gebunden an die emotionale Ökonomie des jungen, geekigen, westlichen, weißen Mannes. Wie steht es um den beschäftigten, wenn auch introvertierten und auf sein oder ihr Smartphone starrenden Hipster? Technologie per se ist kein Identitätsstifter mehr  – es geht nur um die Marken. Die Idee der Urbanisierung der IT braucht eine Weile zum Mainstreaming, aber wird die Zeit reichen? Die Leute entwickeln sich weiter, und so auch die Städte. Die lokativen Medien können so schnell nicht auf eine kritische Masse kommen. Designkonzepte gehen der Gegenwart nicht mehr voraus, sie sind im besten Fall für sie gemacht, und diese Situation ist für die ohnehin schon in eine Randposition geratene Theorie eine echte Her6 | Laut Usman Haque geht es in der Corporate-Smart-City-Rhetorik nur um Effizienz, Optimierung, Vorhersagbarkeit, Komfort und Sicherheit: »Du wirst in der Lage sein, pünktlich zur Arbeit zu kommen; es wird eine nahtlose Einkaufserfahrung geben, Sicherheit durch Kameras etc. Nun, all diese Dinge machen eine Stadt erträglich, aber sie machen keine Stadt wertvoll.« Zitiert aus: https://www.theguardian.com/cities/2014/ dec/17/truth-smart-city-destroy-democracy-urban-thinkers-buzzphrase 7 | Siehe Norbert Elias’ zweibändige Studie Über den Prozess der Zivilisation, Basel: Verlag Haus zum Falken, 1939.

Urbanisieren als Verb

ausforderung. Es ist einfach so, egal wie schnell sich Technologien ausweiten, Alltagsrituale benötigen Zeit, um sich zu etablieren. Dieser Prozess, in dem Technologie ›zu Kultur wird‹, ermöglicht es den öffentlichen Versorgern, in der Gesellschaft Wurzeln zu schlagen und übermäßig gecoverte Hype-Zyklen der schicken, überdesignten und schnell veralteten Gadgets zu ignorieren, die von den Lieblingen des modernen Technokapitalismus produziert werden.

Ö ffentlich werden (zu guter L e t z t) Lassen wir die Big-Data-Welle beiseite, die zur Politik der ›intelligenten Stadt‹ dazugehört und im Moment noch en vogue ist. Interessanter erscheinen mir die ›schnellen Daten‹ auf der Ebene von Nutzern und Internet-/Mobiltelefonanwendungen und wie sich dies bei ›lokativen Medien‹ und beim RFID-getaggten Internet der Dinge manifestiert. Das sind Beispiele für Technologien der digitalen Mobilität, die von der Bühne des modischen Experiments ins allgegenwärtig Alltägliche übergehen. Ist die Omnipräsenz von GPS-Geräten Zeichen einer totalen Diskurs- und Überwachungs-Macht über die Bürger? Wann kommt der Moment, wenn diese Technologie in ihre perverse und pornographische Phase tritt? Als Beispiel kann man sich die Entwicklung von Google Maps über Google Earth bis zu Google Street View anschauen. Welcher ist der ›innovative Moment‹? Das sollte neu definiert werden. Während beim Fokus auf Wirtschaftswachstum und Profit das Genie, die Beharrlichkeit und die Offenheit von Risikokapitalisten und Frühanwendern (›Early Adopters‹) verherrlicht wurden, vollzieht sich der zweite Innovationsmoment am Ende des Einführungszyklus, wenn die Technologie rituell in die Gesellschaft integriert wird. Was geschieht, wenn wir uns als Medien bewegen, an dem Punkt, an dem der Zusammenfluss von Mobilität und Kommunikation ritualisiert wird? Der Gebrauch von Technologie kann bemerkenswert schnell in Gewohnheit übergehen. Wenn das stattfindet, rückt die Gegebenheit der Technologie in den Hintergrund und bleibt unerörtert, selbst unter Wissenschaftlern (die ignorieren, dass die Wissensproduktion selbst vom Internet abhängig ist). Die Zeit, die diese Verschiebungen benötigen, ist relativ. Die Schreibmaschine brauchte einige Zeit, um ›zur Gewohnheit zu werden‹, beim Mobiltelefon ging das schneller. Die technologische Entwicklung beschleunigt sich. Der Moment, in dem der Gebrauch der Technologie sein Stadium des ›kollektiven Unbewussten‹ erreicht, fällt ironischerweise mit der Zeit zusammen, in der Techno-Architekturen wie GPS oder RFID beginnen, ihre eigenen Wahrnehmungsformen des ›Öffentlich-Seins‹ (Publicness) zu erzeugen.8 Das ist die 8 | »Publicness« ist dem Titel von Jeff Jarvis’ Buch von 2011 entnommen und ein Begriff, den dieser Google-Jünger verwendet, um die Internet-Kultur des Daten-Sharings inner-

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Zeit, wenn die Leute das Bedürfnis entwickeln, entweder neue öffentliche Orte zu gestalten oder existierende zu besetzen. Design und Kontrolle digitaler Räume der Mobilität kommen daher ganz am Ende eines sozialen und technologischen Veränderungsprozesses. Daraus folgen merkwürdige Überschneidungen: Genau in dem Moment, in dem die PR-Aktivitäten um ›intelligente Städte‹ anheben, bildet sich auch die ›Bewegung der Plätze‹ heraus, von Kairo über Madrid bis zum Gezi-Park und Maidan, getragen von Bürgern, die man vorher als Nutzer kannte. Eingehender beschäftige ich mich hiermit in Kapitel 12.

D ie R olle der K onzep te Um in diesem Bereich der Technopolitik etwas zu bewegen, ist es wichtig, das Wechselspiel zwischen Unzufriedenheit, Kreativität, Subversion und Begehren zu verstehen. Das risikokapitalgetriebene Start-up mag das am meisten propagierte Handlungsmodell darstellen, aber es gibt zahlreiche andere, die in eine stärker kulturelle, politisch-subkulturelle, staatliche oder von Forschungsinteressen bestimmte Richtung gehen. Die Zeit, die zur Ausreifung benötigt wird, spielt auch eine Rolle. Wo entstehen die Ideen? Wie werden vage Vorstellungen zu praktikablen Konzepten? Und wie werden solche Konzepte als ›coole‹ Ideen akzeptiert und verwandeln sich in funktionsfähige Einheiten? Künstler und Erforscher des Mems behaupten, dieses Feld zu untersuchen, aber bislang hat die Idee einer spontanen evolutionären Wirkung, die sich ›durchsetzt‹, bekannt geworden durch Richard Dawkins und sein 1976 veröffentlichtes Selfish Gene, nur wenige ernsthafte Anhänger gefunden. Die ›Memesis‹-Online-Debatte der Ars Electronica 1996 zum Thema der mobilen Konzepte hat deren Umsetzung auch nicht viel weiter gebracht. Mit Ausnahme vielleicht des 4chan-Message-Boards beschränken sich ›Meme‹ normalerweise auf jene kleinen Teile der umgangssprachlichen Online-Kultur, die alle paar Minuten geboren werden, sich über ein Netzwerk verbreiten und bald wieder sterben.9 Statt des biologischen Models des ›kulturellen Gens‹ wurden komhalb der massiv verteilten neuen Plattformen zu verteidigen, wobei er die Verletzungen der Privatsphäre durch Unternehmen wie Facebook und Google gleich mitverteidigt. Ich benutze den Begriff hier, um auf das kollektive Potential hinzuweisen, neue Manifestationen dessen zu schaffen (und zu gestalten), was man ›öffentliche Sphäre‹ oder ›Öffentlichkeit‹ nennen könnte. Nach Jarvis braucht ›Publicness‹ genauso ihre Fürsprecher wie ›Privacy‹. Das Problem hier ist, wie man eine gemeinsame Eigentümerschaft entwickeln kann, nachdem der neoliberale Staat sich vom Schutz und der Regulierung des Gemeinguts zurückgezogen hat, um nur noch eine fiskal-rechtliche Aufsicht auszuüben. 9 | Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford: Oxford University Press, 1996 (dt. Das egoistische Gen, Berlin: Springer, 1978) und Geert Lovink, »The Memesis Network Dis-

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plexere soziale Analysen des allgemeinen Wissens, der Netzwerkzwänge und des Meinungsaustauschs benötigt, um zu verstehen, wie sich Ideen online verbreiten.10 Wichtig ist, dass Konzepte skalierbar sind – elementar und leicht zu verstehen, aber auch abstrakt und allgemein und geeignet dazu, komplexe Themen aufzunehmen. Beispiele für Konzepte, die aus meiner eigenen Theoriepraxis heraus entstanden, sind die ›taktischen Medien‹, ›Datendandyismus‹, ›Netzkritik‹ und ›organisierte Netzwerke‹. Zu den Konzepten, die in der Technologiewelt einflussreich geblieben sind, gehören ›offen‹, ›frei‹, ›dezentral‹ und ›verteilt‹. Ein jüngeres Schlüsselkonzept aus dem Feld von Politik und Design ist ›Occupy‹, das ursprünglich vom Design-Magazin Adbusters entwickelt wurde, um dann mit ›Wall Street First‹ gekoppelt und zu einem universalen Konzept hochskaliert zu werden, das eine entstehende politische Bewegung mit buchstäblich allem verknüpfen konnte (von ›Occupy Wallstreet‹ bis ›Occupy the Economy/Education/the Museum/Everything‹).11 Wie jedes gute Konzept, das erst zu einem Namen und dann zu einer Marke wird, war ›Occupy‹ bereits selbsterklärend. Um wieder zum Thema der digitalen Mobilität zurückzukehren: Welche Rolle spielen Konzepte wie ›urbanisierende Technologien‹ für das cussion«, in: Ars Electronica Festival 1996, Memesis, The Future of Evolution, Wien/ New York: Springer, 1996, S. 28–39. Ein Update der Mem-Geschichte findet man in Limor Shifman, Memes in Digital Culture, Cambridge (Mass.): MIT Press, 2013. 10 | Ein Beispiel, das mir gefällt, ist Elisabeth Noelle-Neumanns Medientheorie der »Schweigespirale«, die sie 1984 in ihrem Buch Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale entwickelt hat, das vor Kurzem noch einmal von Christie Barakat auf SocialTimes besprochen wurde. Laut dieser Theorie »neigen die Menschen dazu zu schweigen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Ansichten in der Minderheit sind. Das Modell basiert auf drei Prämissen: 1) Die Menschen haben ein ›quasi-statistisches Organ‹, das es ihnen ermöglicht, die vorherrschende öffentliche Meinung auch ohne Zugang zu Umfragen zu kennen; 2) die Menschen haben Angst vor Isolation und wissen, welches Verhalten die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie sozial isoliert werden; und 3) die Menschen halten sich darin zurück, ihre Minderheitenansichten auszudrücken, vor allem aus Angst, isoliert zu werden. Je mehr eine Person ihre Meinung der vorherrschenden öffentlichen Meinung ähnlich einschätzt, desto mehr ist sie bereit, diese Meinung auch öffentlich zu vertreten. Wenn die wahrgenommene Distanz zwischen der öffentlichen Meinung und der persönlichen Meinung einer Person wächst, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Person ihre Meinung äußert.« Siehe Christie Barakat, »Why quora won’t scale«, SocialTimes, 13. Sept. 2012: www.adweek.com/socialtimes/ why-quora-wont-scale/105716 11 | Siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Occupy_movement. Von derselben Gruppe ist auch das Buch Meme Wars (New York: Seven Stories Press, 2012), geschrieben vom Adbusters-Gründer Kalle Lasn. Ein weiteres Beispiel wäre »rethink« – Rethink Everything.

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Verständnis unseres Mobilitätskomplexes, und was erwarten wir von diesen Konzepten? Sollen sie die Vorstellungskraft mobilisieren? Die Entwicklung von Code vorantreiben? Die Basis für einen innovativen Businessplan schaffen oder zum Eckstein für eine neue Organisationsstruktur werden?

K ritik des M appings Die häufigste ›erste Reaktion‹ des versierten Mediennutzers auf die starke Zunahme von (räumlichen) Informationen im Bereich der digitalen Mobilität ist es, Karten anzufertigen und über die Oberfläche zu navigieren. Wenn wir diese Datenvisualisierung mit einem kritischeren Blick betrachten und durch sie navigieren, ist das Ergebnis jedoch oft enttäuschend. Generieren Karten (Gegen-) Wissen?12 Bilden wir nicht bloß das ab, was wir schon kennen: den Status quo, in Inhalt, Software, Architektur, Weltbild und Ästhetik? Um digitale Mobilität in der Ära der Vernetzung zu verstehen, müssen wir darüber hinausgehen und die Neunziger-Jahre-Faszination für Abläufe (›Flows‹  – das ›Eye Candy‹ der visuellen Kultur) hinter uns lassen, um uns wieder mal die grundsätzlichen Konzepte von Design und Ethik anzuschauen. Das Mapping ermöglicht die Visualisierung von Ideen-in-Aktion, von Leuten, die Alternativen entwickeln, welche die Geschwindigkeit der Technologie überflügeln. Solche Herangehensweisen können die blinden Flecken der natürlich leistungsfähigen, aber trotzdem unzulänglichen ›Open Data‹-Bewegung überwinden. Mapping sollte sich mit Potentialen beschäftigen und nicht auf Kartographien des Status quo beschränkt werden. Karten sind auch nie irgendeine Lösung. Als insularer Akt können offene Daten der Aufgabe nicht gerecht werden. Zumindest muss der Fetischcharakter des gegenwärtigen Datenvisualisierungswahns in Frage gestellt werden. Was wir, aus meiner Sicht, brauchen, ist vielmehr eine neue eingebaute Mapping-Bescheidenheit. Gesellschaftliche Analysen können Karten zum Ergebnis haben – aber nicht bei ihnen anfangen. Wir müssen aus dem Raum der (sinnlichen) Erfahrung heraus denken – der ›Aesthesie‹ für vernetzte Ereignisse. Wie gehen wir, als Entwickler und Kritiker, mit der Erfahrung der Wellen von Blog-Postings, Podcasts, Tweets und Facebook- oder Instagram-Updates um? Reicht es, sie durchsuchen zu können? Sind wir selbst in die ›Like-Ökonomie‹ übergewechselt? Wie wäre es, wenn wir stattdessen gemeinsam an einer ›Wisdom-Ökonomie‹ arbeiteten? Könnten wir dann Informations-Agnostiker werden und unabhängig vom EmpfehlungsPrinzip? Können wir uns von der Google-Agenda lösen (die die Rangfolge der 12 | Eine der ersten kritischen Publikationen über Karten und Netzwerke ist Peter Hall/ Janet Abrahams, ELSE/WHERE: MAPPING – New Cartographies of Networks and Territories, Minnesota: School of Design, 2006: http://elsewheremapping.com

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Suchergebnisse bis zum Punkt ihrer reinen Nutzlosigkeit manipuliert) und auf integrierte ›Wissensmaschinen‹ hinarbeiten? Wird es jemals möglich werden, in Informationssysteme kritische Einsichten einzubauen? Netzwerke können nicht umfassend untersucht werden, wenn man sie als bloße Werkzeuge mit Schematisierungen und Diagrammen betrachtet. Man muss sie als komplexe Umgebungen verstehen, die durch die vernetzten Ökologien, in denen sie sich bilden, kontextualisiert werden. Wir bewegen uns vom Leben, Analysieren, Imaginieren der gegenwärtigen Kultur als Informationsgesellschaft, die technisch auf Rechnern basiert, hin zum Bewohnen und Imaginieren von Schichten verflochtener und fragmentierter techno-sozialer Netzwerke (wie die digitale Mobilität zeigt). Die heutige Beliebtheit digitaler Verbreitungsformen ist nur ein Hinweis darauf, dass die neuen Medien ein vollständiges Umdenken der Ästhetik erfordern. Dabei wäre auch die Entkopplung der Zwillingskonzepte von Form und Medium einzubeziehen, die die Analyse des Sozialen lange über ihr Verfallsdatum hinaus geformt haben. In Zero Comments (2007) habe ich die Diskussionen über Mapping und Visualisierung, die unter dem Label der ›verteilten Ästhetik‹ stattfanden, im Kontext eines gemeinsamen Projekts mit der australischen Medientheoretikerin Anna Munster zusammengefasst. Eine unserer Prämissen war, dass ein langsames Verschwinden des visuellen Elements von Netzwerken stattfand (in einer Zeit seiner absoluten Macht und Allgegenwart). Abgesehen von dem strukturellen Problem des Analysierens von Netzwerk-Abläufen aus einzeln erfassten Bildern oder Daten zeigte sich auch eine wachsende Unzufriedenheit mit dem ›Eye Candy‹ von Netzwerk-Visualisierungen, in denen angeblich neutrale, aber äußerst nützliche Darstellungen sogenannter ›komplexer Datensätze‹ geschaffen wurden. Rührte die Verstimmung, die wir spürten, in dem Moment von unserem eigenen Mangel an ›visueller Kompetenz‹ her oder von der Unmöglichkeit, aus einer solchen Menge an Daten noch einen Sinn herauszulesen? Die Tatsache, dass wir so leicht Karten unserer Daten erstellen können, ist kein ausreichender Grund, diese Praxis fortzusetzen. Wir arbeiten nicht in einer Art Big Brother-Einsatzzentrale, wo alle Informationen von den Experten zusammenlaufen und verarbeitet werden, um dann ihrem weiteren Schicksal im Rahmen einer großen Entscheidung durch den Führer alias das Projektteam entgegenzusehen. Oder etwa doch? Haben wir zu viele schlechte Science-Fiction-Filme gesehen? Wer überhaupt braucht diese Übersichten? Nach welchem Zukunftswissen suchen wir eigentlich? Ist es in dem Big-DataHaufen versteckt, wie viele Befürworter der digitalen Geisteswissenschaften vermuten? Die Theorie hat viel von ihrer Macht eingebüßt, und in dieser temporären Zeitspanne ist eine neue Bewegung des Datenpositivismus aufgekommen, die bereit ist, die Lücke im Namen von allem Digitalen zu füllen. Darüber hinaus gibt es da auch die noch fundamentalere Frage, wie wir mit der Ästhetik des Unsichtbaren umgehen sollen. Dinge sichtbar zu machen, mag

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nicht immer die richtige Strategie sein, wenn wir zu einem tieferen Verständnis kommen wollen, wie die Dinge funktionieren. Oft werden Info-Visualisierungen produziert, ohne eine klare Idee zu haben, welche Fragen eigentlich behandelt werden sollen. Wie die Praktiker die Dinge visualisieren (und weniger warum) sowie die Faszination für die Schönheit des geschaffenen Gegenstands stehen im Vordergrund.13 Aber was machen wir mit der Komplexität, die das Thema verlangt? Die Kunst der Netzwerk-Visualisierung muss mit mehreren Einschränkungen umgehen: denjenigen des Bildschirms, der Algorithmen und den Grenzen der menschlichen Wahrnehmung. Wir können nur eine begrenzte Menge miteinander verknüpfter Elemente wahrnehmen und verstehen. Um Netzwerkkarten zu verstehen und ihnen etwas abzugewinnen, müssen wir uns mit ›Cloud-Denken‹ vertraut machen, in das wir, zwischen den relationalen Ebenen der Links, rein- und rauszoomen, zwischen virtuellen Objekten und dem ›größeren Bild‹. Das erfordert, die angenehmen und die verwirrenden Gefühle auszutarieren, die man in einer Wolke hat.

M apping : von U shahidi zu AADHAAR Halten wir an der Idee des Mapping als einer weiten Geste fest, damit wir uns auf das Machen der Karte im engeren Sinn konzentrieren können  – als die Arbeit, ein (begrenztes) Objekt herzustellen. Neben der französischen Initiative Bureau d’Études (das sich den Verschwörungen verschrieben hat und die Welt der Geheimnisse kartographiert)14 und dem kollaborativen Wikipedia-artigen Projekt OpenStreetMap ist Ushahidi aus Kenia vielleicht die bekannteste existierende NGO im Bereich der Kartographierung sich entwickelnder Krisenherde. Ushahidi ist eine »Non-Profit Softwarefirma, die freie und Open-SourceSoftware zur Informationssammlung, Visualisierung und zum interaktiven Mapping entwickelt«.15 Eine kritische Untersuchung der digitalen Mobilität wäre undenkbar, ohne Projekte wie Ushahidi und ähnliche zivilgesellschaftliche Initiativen mit einzubeziehen. Vor allem deshalb, weil Ushahidi den schattenhaften Bereich des Informellen in den Blick nimmt. Es wäre interessant zu erfahren, ob ihre Agenda ausgedehnt und auch hinterfragt werden könnte. Genauer beschrieben wird Ushahidi als:

13 | Siehe z. B.: www.visualcomplexity.com/vc, http://infosthetics.com, http://flow​ ingdata.com und Junk Charts (http://junkcharts.typepad.com) von Kaiser Fung, »dem ersten Datenvisualisierungskritiker des Webs«. 14 | http://bureaudetudes.org 15 | https://wiki.ushahidi.com

Urbanisieren als Verb »eine Plattform für Crowd-Sourcing-Informationen. Mitglieder der Öffentlichkeit liefern Berichte, die geographisch lokalisiert sind und setzen sie auf die Karte. Die Plattform wird genutzt zur Katastrophenhilfe, bei der Wahlüberwachung und für fast jede andere Situation, in der Leute Dinge von anderen möglichst schnell und genau erfahren wollen. Ushahidi ermöglicht es den Leuten, ohne Umstände Berichte zur Verfügung zu stellen, über das Web, mobile Apps, Twitter, Facebook und zusätzlich auch über ein paar SMS-APIs.«16

Eine von Ushahidis Anwendungen ist Crowdmap, »ein einfaches Kartenerstellungs-Tool, das, basierend auf einer offenen Programmierschnittstelle, dir und allen anderen ermöglicht, gemeinsam eure Welt zu kartographieren«. Eine der Fragen, die die Arbeit von Ushahidi aufwirft, ist die nach der Ethik des Mappings selbst: ob die Recherche mittels der Beobachtungen Außenstehender durchgeführt werden kann oder ob der Akt der Beobachtung selbst einen Eingriff in den Prozess der Rollenverteilung darstellt. Diese Frage hat besondere Relevanz für die Untersuchung informeller urbaner Initiativen und Kulturen.17 Eine ähnliche Diskussion, wenn auch in einem viel größeren Rahmen, hat in Indien stattgefunden, als einige offizielle Institutionen der Zivilgesellschaft und Medienhäuser wie der Economist sich an der Einführung des nationalen Ausweissystems beteiligten, das auch Fingerabdrücke in die Daten einbezog (AADHAAR). Kleinere Initiativen und Cyberaktivisten warnen dagegen vor einem solchen von oben eingesetzten Überwachungssystem als einem Angriff auf die Privatsphäre und auf Grundrechte des Individuums.18 AADHAAR ist im Begriff, sich schnell zum größten biometrischen Experiment der Welt zu entwickeln. Hier stellen sich zahlreiche strategische Fragen. Müssen die globalen Armen in offizielle numerische und rechtliche Strukturen hineingepresst werden, um einen formalen Rahmen für z. B. Armutsbekämpfung zu schaffen? Ist die Formalisierung des Informellen als Bottom-up-Strategie überhaupt der richtige Weg? Und was bedeutet es, wenn ›das Informelle‹ (das traditionell als Äquivalent zum Offline gesehen wurde) selbst bereits zutiefst digital und verbunden ist? Wie hoch ist der Preis für die gewonnene Sichtbarkeit der informellen Akteure – zum Beispiel in der Erfahrung von Slumbewohnern? Natürlich ist Ushahidi, wie andere auch, nicht daran interessiert, diese sensiblen, strategischen Fragen mit Außenstehenden zu diskutieren. Der Widerstand gegen 16 | http://blog.tropo.com/2011/12/09/tropo-ushahidi-awesome 17 | Siehe: www.othermarkets.org/index.php?tdid=10 18 | Als Ausgangspunkt siehe z. B. die Wikipedia-Einträge: http://en.wikipedia.org/ wiki/Aadhaar, und http://en.wikipedia.org/wiki/Unique_Identification_Authority_of_ India#Book_on_AADHAAR. Siehe auch: http://aadhararticles.blogspot.com und als Update: www.moneylife.in/article/new-government-is-going-back-to-aadhaar/38576.html

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AADHAAR in Indien ist ziemlich direkt und basiert zu einem großen Teil auf westlichen Vorstellungen von individueller Privatsphäre. In den offiziellen Erklärungen von Ushahidi gibt es ein Element NGO-typischer ›politischer Korrektheit‹, und zwar die Hypothese, durch (selbst generierte) Karten würden die Nutzer-›Opfer‹ und Unterprivilegierten automatisch ermächtigt. Eines der sensibelsten Themen für das Mapping ist der Immobilienbesitz in Siedlungen. Ihre Beispiele und Darstellungen können verschoben und innerhalb breiterer Kontexte wie Datenjournalismus, Open-Data-Bewegungen, Hackathons usw. genutzt werden. Wie können sich radikale Akteure in diesem Bereich von dem interpassiveren Pseudo-Aktivismus unterscheiden, der niemals in den realen Raum einbricht? Ushahidi ist bottom-up, während AADHAAR ein extremes Top-down-Modell einsetzt. Trotz ihrer sonstigen Unterschiede haben sie etwas gemeinsam und das ist die Art, wie sich beide Initiativen ›im Informellen‹ treffen. Hier die digitalen Karten, und während kartographiert wird, wird auch notiert und es entsteht eine Aufzeichnung, und eher früher als später hat dieselbe digitale Datei das Potential, ein rechtsgültiges Dokument zu werden.

M ehr zum M ysterium des U nsichtbaren Das Gegenteil von Mobilität ist nicht Immobilität oder Trägheit, sondern Beschleunigung. Widersprüche und Dialektiken sind hier nicht mehr die treibenden Kräfte. Vielmehr müssen wir in die Richtung alternativer und wechselnder Formen des Zugangs und der Geschwindigkeit denken. Es geht nicht darum, sich vom ›Flow‹ abzukoppeln. Schauen wir, was passiert, wenn wir eingeloggt bleiben und uns nicht abmelden. Was ist, wenn wir anfangen, unerwartete Nebenverbindungen herzustellen? Von Chatroulette können wir ebenso viel lernen wie von den Mobilisierungsmethoden von Anonymous: In dieser Welt der nahtlosen und homogenen Verbundenheit werden das Unerwartete und Unerwünschte subversiv. Man denke beispielsweise nur an die nie richtig verstandene Bluedating-Technologie.19 Bluefriending ist interessant, weil es frei19 | Siehe: www.gizmag.com/go/3685. Wikipedia beschreibt das System so: »Wireless Dating, Widating oder Bluedating ist eine Form der Partnersuche, die Smartphoneund Bluetooth-Technologien nutzt. Die Nutzer des Dienstes machen Angaben über sich selbst und über ihren idealen Partner, wie sie es auch bei anderen Online-Dating-Diensten machen würden. Wenn ihr Handy in die Nähe des Handys eines anderen Teilnehmers (in einem Radius von etwa 10 Metern) kommt, tauschen die Telefone die Details der beiden Personen aus. Gibt es eine Übereinstimmung, werden beide Nutzer alarmiert und können sich gegenseitig suchen und direkt über Bluetooth (bluechat) chatten. Die Einstellungen können eine Option enthalten, die Benachrichtigungen auf Nutzer beschränkt, die gemeinsame Freunde haben.« http://en.wikipedia.org/wiki/Bluedating

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willig ist. Das definierende Element des Bluedating ist die unmittelbare Nähe selbst. Die Teilnehmer hängen nicht von der zufälligen Logik von Dating-Algorithmen ab, die sich selbst als rational ausgeben: »Hier ist Ihre perfekte Übereinstimmung.« Mögliche soziale und politische Versionen von ›Near Sensing‹ (Nähespüren als Metapher und Praxis) sind von Künstlern und Aktivisten kaum erforscht worden und könnten die heutigen atomisierten Massenerfahrungen radikal verändern, vielleicht am Ende sogar plötzliche Verwandlungen der ›einsamen Menge‹ in etwas anderes katalysieren. In einem städtischen Kontext kann die Nähe tatsächlich für politische Zwecke genutzt werden, wie der Hongkong-Fall mit der ›off the grid‹ (unverschlüsselten) mobilen WirelessApp FireChat während der Regenschirm-Revolution 2014 gezeigt hat.20 Können einmalige Affinitätsschwärme aus dem Nichts heraus entstehen, um zufällige Handlungen sinnlicher Schönheit zu begehen? Die Smart-MobBegeisterung der frühen 2000er Jahre war niedlich, aber kaum spontan. Wir alle wissen, dass der Wunsch nach kollektivem Aufstand in den Nach-Demokratie-Räumen mit ihren vollen Zügen, Verkehrsstaus, gefüllten Sportstadien und Konzerthallen hoch ist. Und wir spüren, die Energie kann in beide Richtungen gehen: destruktive Wut oder kollektive Kreativität. Können wir in einer solchen Situation Unzufriedenheit organisieren? Wie treten wir in Verbindung mit dem ›süßen Fremden‹? Und wie lässt sich das Soziale organisatorisch über die bekannte Echokammer der sozialen Medien hinaus ausdehnen, da ja auf ›Befriending‹ basierend? Die Beschleunigung des sozialen Austauschs außerhalb zentralisierter Unternehmensplattformen wie Facebook und Twitter  – online oder offline  – wird die technologische Herausforderung der kommenden Jahre sein. Wir müssen in diesem Kontext die attraktive Seite der Kurznachrichten verstehen – SMS, Chats, Tweets, Statusaktualisierungen, kurze URLs, Bilder auf Mobiltelefonen – ohne an der Vorstellung festzuhalten, dass sie einfach ›Content‹ sind (oder ›Noise‹). Eher sollten wir sie als phatische Ausdrucksformen betrachten, in der Art, wie Bronislaw Malinowski sie einmal beschrieben hat: als Sprechakt, dessen einzige Aufgabe darin besteht, eine soziale Funktion zu erfüllen, im Gegensatz zu der der Informationsvermittlung.21 Viele Künstler beschäftigen sich bereits mit der transformativen Qualität von Ort und Geographie in einer Zeit erhöhter Mobilität, in der Subjekte nicht mehr fest an einen Ort gebunden sind. Zunehmend konstituieren und verwandeln transitorische Lebensweisen die Räume, wenn diese aufgrund von Migration oder neuen Arbeitsbedingungen durchquert oder vorübergehend besetzt werden. Menschliche Bewegungslinien und auch der Verkehr von Zeichen, 20 | Siehe: www.theatlantic.com/technology/archive/2014/10/firechat-the-hong-kong-​ pro​t est-tool-aims-to-connect-the-next-billion/381113 21 | Zitiert aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Phatic_expression

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Waren und visuellen Informationen bilden besondere kulturelle, soziale und virtuelle Landschaften, die sich materiell im Gelände einschreiben. In einem unmittelbar geographischen Sinn befassen sich Künstler und Theoretiker der ›kritischen Mobilität‹ wie Ursula Biemann, Brian Holmes, Anna Munster und viele andere mit der Logik menschlicher Wirtschaftskreisläufe in einer veränderten Weltordnung. Ihre Arbeiten zeigen uns die feminisierte Tele-Dienstleistungsbranche in Indien, illegale Flüchtlingsboote, die das Mittelmeer überqueren oder Schmugglerrouten über die spanisch-marokkanische Grenze. Auf einer anderen Ebene hat die Geographie in ihrer Arbeit aber auch die Rolle eines Denkmodells, das komplexe räumliche Reflexionen über gesellschaftliche Veränderungsprozesse ermöglicht und auch auf Konzepte – von Grenzen, Konnektivität und Transgression – abzielt.

»(I m) mobilität : D ie E rforschung der G renzen der H ypermobilität « Dies ist der Titel einer Sonderausgabe des niederländischen zweisprachigen Magazins Open!, herausgegeben von dem Medientheoretiker Eric Kluitenberg.22 Seine Produktion stand im Zusammenhang mit dem im Jahr 2010 von Kluitenberg organisierten Festival ElectroSmog, das ausdrücklich als Vorgabe hatte, dass alle Referenten zu Hause bleiben und Skype, Telefon oder ChatSoftware benutzen sollten, also dafür bezahlt werden, für ihre Teilnahme nicht persönlich anzureisen. Die Open!-Ausgabe versammelt einen interessanten Mix aus kritischen Mobilitätsdiskursen: Die Rolle des Designs im Bereich Ökologie und Nachhaltigkeit (von John Thackara); die Theorien der ›polaren Trägheit‹ von Paul Virilio (je schneller wir gehen, desto weniger kommen wir vom Fleck); David Harvey über die »Spezialeffekte der Kapitalakkumulation«; Mobilität im Zusammenhang mit Grenzpolitik und dem Verhältnis von Flüchtlingen zu Migration (Florian Schneider); und nicht zuletzt die politische Bedeutung des Wortes ›Mobilisierung‹, erklärt anhand der Proteste des arabischen Frühlings Anfang 2011 in Tunesien und Ägypten. Die verschiedenen Verwendungen des Konzepts der ›Mobilität‹ treffen letztlich im Begriff ›Hypermobilität‹ zusammen. Alle Teilnehmer, Objekte, Prozesse und Verfahren in der Gesellschaft können – und werden – in Bewegung gesetzt werden. Nichts kann gleich bleiben und in seiner gegenwärtigen Position verharren. Stabilität ist Entropie. Bereits einige Jahre vor der Geburt des ›Beschleunigungs‹-Mems geschrieben23, führt diese Einsicht Kluitenberg 22 | »(Im)mobility, exploring the limits of hypermobility«, Open Magazine, 21 (2011), Rotterdam: NAi Publishers/SKOR. 23 | https://en.wikipedia.org/wiki/Accelerationism

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zu dem Schluss, dass unsere grenzenlose Sehnsucht nach Bewegungsfreiheit, parallel zu extremen Entwicklungsprozessen, sich bis zum Punkt eines »verhängnisvollen weltweiten Stillstands« intensivieren kann. Das reale Wachstum des Verkehrs, gepaart mit unbeweglichen Körpern, die am Bildschirm kleben, fasst die Schwierigkeiten einer widersprüchlichen Wissensproduktion zusammen und verdeutlicht den Bedarf an anderen Visionen, was kritische Theorie (und Praxis) tun und zu artikulieren in der Lage sein könnte. Das ElectroSmog-Festival war publikumsmäßig kein großer Erfolg, weder online noch im wirklichen Leben. Vielleicht war die Veranstaltung zu konzeptionell und in ihrem Fokus zu unklar – vielleicht fand sie aber auch, wie es oft vorkommt, ein paar Jahre oder Jahrzehnte zu früh statt. Wir haben zum Beispiel auch erst sehr spät ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie viel Strom Computer und insbesondere Datenzentren verbrauchen. Kurioserweise ist das ElectroSmog-Web-Archiv in der Nachfolge der Veranstaltung sehr stark genutzt worden. Und inzwischen sehen wir andernorts auch einen erheblichen Zuwachs von Skype-Präsentationen bei öffentlichen Debatten, was natürlich ebenfalls damit zu tun hat, dass Bandbreite und Übertragungsgeschwindigkeit durch die Glasfaserkabel zugenommen haben. Trotzdem hält sich die sichtbare, öffentliche Nutzung von Video-Tools wie Google Hangout noch ziemlich in Grenzen.

D ie höhere P olitik der lok ativen M edien und der RFID-P rotokolle Künstler, Aktivisten und Programmierer greifen kreativ in die künftige Technopolitik ein, indem sie ›lokative Medien‹ und eine Vielzahl unterschiedlicher Technologien und Geräte, von Geo-Tags für Smartphones bis zum Internet der Dinge, auch bekannt als die interne Architektur von RFID-Chips, verwenden. Bisher hat sich das Hauptaugenmerk auf die Politik der digitalen ›Spuren‹ von Daten konzentriert, die von beweglichen Objekten erzeugt werden. Der kanadische Forscher und Medienkünstler Marc Tuters macht den Schritt über die rein technischen Möglichkeiten hinaus zu künstlerischen (Gegen-)Nutzungen von Tracing-Technologien.24 Anfangs waren lokative Medien ausschließlich über ihr GPS definiert und wurden genutzt, um die Stadt spielerisch neu zu erleben, mit einer mehr oder weniger offenen, situationistischen Agenda. Solche Projekte integrierten später auch WiFi und Smartphone-Apps. Tuters 24 | Siehe z. B. seinen Artikel: http://networkedpublics.org/locative_media/beyond_​ locative_media. Am 28. Okt. 2015 verteidigte Marc Tuters an der University of Amsterdam seine Dissertation mit dem Titel »Kosmoikos: The Search for Location in a Networked Age«.

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nimmt den Begriff der Rückverfolgbarkeit wörtlich: Was wäre, wenn Waren über die hinter ihnen steckenden Arbeitsbedingungen sprechen könnten? Das Ziel von Tuters ist es, die Agenda der Bewegung des ›kollaborativen Konsums‹ (verfochten von Clay Shirky und anderen) zu radikalisieren. Zweifellos ist die ›Wolke‹ neuer Medienkunstprojekte, der Tuters angehört und die er theoretisiert und reflektiert, Teil eines ›spatial turn‹ der Medienstudien, in der das urbane Umfeld eine ›elektronische Aufmerksamkeit‹ entwickelt und mehr ist als nur eine rohe, nostalgische, rostige, post-industrielle Kulisse für das Kino und die digitale Game-Industrie. Im Gegensatz zu der eher experimentellen und offenen, quasi-subversiven Agenda der ›lokativen‹ Medien und ihrer Künstler hat RFID von Anfang an ein negatives Big-Brother-Image. Geheime winzige Chips zu radikalisieren, die unbekannte Nachrichten versenden und mit proprietärem Code und geschlossener Hardware arbeiten, erfordert einige Phantasie. Der RFID-Diskurs betont die nicht-menschliche ›Objekt‹-Dimension à la Bruno Latour, und nimmt die automatisierten Warenströme in den Blick, die durch eine komplexe SupplyChain-Software gesteuert werden. Einer der kenntnisreichsten Forscher und Aktivisten in diesem Bereich ist Rob van Kranenburg aus dem belgischen Gent. 2008 veröffentlichte unser Institute of Network Cultures seinen Bericht über das Internet der Dinge (IoT).25 Seither ist er weiter in die umfangreiche EU-Bürokratie im Bereich Industriepolitik und -normen eingedrungen. Eines der Ergebnisse seiner Bemühungen ist der IoT-Council, beschrieben als »Think Tank, Beratungsdienst, Beschleuniger und Prognose-Gruppe«. Die IoT-Initiative versteht sich als eine »lose Gruppe von Fachleuten mit unterschiedlichen Ideen und Meinungen über das Internet der Dinge«. Als virtuelle Einheit zwischen Netzwerk und Think Tank könnte sie auch als ein typisches Beispiel für ein organisiertes Netzwerk gelten. Ein Großteil der Arbeit, die diese wechselnden Koalitionen aus Experten, Bürokraten, Politikern und Tüftlern machen, ist »protokollogisch« (nach der Beschreibung von Alexander Galloway in seinem Buch Protokoll26). Letztendlich muss diese Art der Aufmerksamkeit auf die Entwicklung offener Hardware- und Open-Source-Produkte gerichtet werden. Hierauf richten sich das eigentliche Begehren und die Motivation der Aktivisten-Programmierer. Das Internet der Dinge (als Oberbegriff für RFID-Tags) wird Teil einer breiteren Tendenz, materielle und virtuelle Aspekte radikal zu integrieren (man denke an 3D-Drucker oder Hollywood-Filme wie Die Abenteuer von Tim und Struppi). Die Lektionen müssen hier von den Hackern und Aktivisten auf die harte Tour gelernt werden – um die Politik von Mobil- und Smartphones anzu25 | ht tp://networkcultures.org /wpmu/por tal/publications/network-notebooks/ the-internet-of-things 26 | Alexander R. Galloway, Protocol, Cambridge (Mass.): MIT Press, 2004.

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gehen, kann man sich nicht einfach auf offene Standards berufen (und diese umsetzen), sondern man muss sie auch auf die Hardwareebene übertragen. Es hat sich als unzureichend erwiesen, die Erlaubnis für die Entwicklung einer App einzuholen, die dann von Apple (iPhone/iPad), Microsoft (Windows Phone) oder Google (Android) auch noch einmal abgenommen und genehmigt werden muss. Alle drei verwenden bemerkenswert restriktive Kriterien. Das erste Free-Software/Open-Source-Telefon muss erst noch entwickelt werden. Wird es auch eine Krypto-Schicht haben?27 Und was passiert, wenn das Basteln innerhalb des Bricolab-Netzwerks einen Schritt weiter getrieben wird und sich mit dem Bau von Open-Source-Drohnen für die Bürgernutzung befasst?28 Wir können zwei Hauptrichtungen des Denkens über das Internet der Dinge unterscheiden. Die erste geht von einem reaktiven Bezugssystem von Ideen und Wissen aus, in dem das IoT eine Art Schicht der digitalen Konnektivität über den bestehenden Infrastrukturen und Dingen bildet. Das IoT erscheint als ein handhabbares Set konvergierender Entwicklungen das mit gegebenen Infrastrukturen, Dienstleistungen, Anwendungen und Steuerungsinstrumenten zusammenarbeitet. Wie beim Übergang von den riesigen IBM-Mainframerechnern zum Desktop-PC-basierten Internet wird davon ausgegangen, dass einige Unternehmen scheitern und neue entstehen. Dies geschieht innerhalb aktueller Governance-, Währungs- und Geschäftsmodelle und übergreifend. Wie auch andere Beispiele für Steuerungsprozesse arbeitet dieses ›reaktive‹ Modell gemäß den Leitlinien eines Weltgipfels zur Informationsgesellschaft und eines auch von der ICANN bekannten ›Multi-Stakeholder‹-Ansatzes mit drei Gruppen von Akteuren: (1) Bürger und Konsumenten; (2) Industrie und kleine und mittlere Unternehmen; und (3) die rechtliche Governance-Ebene. Das zweite Bezugssystem ist eine pro-aktive Mischung aus Ideen und möglichen Modellen, die das Internet der Dinge als eine stark disruptive Konvergenz sehen, die nur mit neuen Werkzeugen beherrschbar ist. Es drängt darauf, ab der Ebene der Lieferkette operative Definitionen von Daten und Datenrauschen zu verändern, um die gemeinsame Nutzung von unternehmenskritischen Diensten wie Energie durch soziale Netzwerke zu ermöglichen. In dieser Vision wird der Datenfluss des IoT neue Einheiten hervorbringen, die aus verschiedenen Qualitäten bestehen und von allen drei oben beschriebenen Akteursgruppen bezogen werden. Es gibt also keine ›Benutzer‹, deren Hauptsorge der Schutz der ›Privatsphäre‹ sein müsste, weil das Konzept der Privatsphäre selbst durch die neuen Industrie-Werkzeuge verteilt wird. Um es klar zu sagen, in diesem begrifflichen Raum werden die ›reaktiven‹ Interessen aller drei Gruppen bewusst vermischt. Die Vorstellungen von Privatsphäre, Sicherheit, Vermögen, Risiken und Bedrohungen kulminieren daher in einem über27 | Siehe z. B.: www.cryptophone.de 28 | Siehe: http://diydrones.com

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wiegend ›ethischen‹ Modell eines obligatorischen relationalen Verhaltens. Wie sieht aber die Privatsphäre aus, wenn Privatsphären und Überwachungsräume erst einmal untrennbar miteinander verbunden sind? Das Internet der Dinge erleichtert die gemeinsame Nutzung von erfolgskritischen Diensten, um durch offene Hardware-Sensoren massive Datenbestände an Einzelpersonen und Gruppen zu bringen, wobei die Idee des Objekts auf der Ebene der Lieferkette komplett durcheinandergebracht wird. Hier werden neue Objekte in dynamische Beziehungen hineingezogen, die noch nicht vorhersehbar sind. Aber wir können ein paar Ebenen unterscheiden: Body Area Networks (Brillen, Hörgeräte); Local Area Networks (das digitale Zuhause mit dem ›Smart Meter‹, dem All-in-One IoT-Gateway, auch bekannt als Datenerfassungspunkt)29, Wide Area Networks (das Auto); Very Wide Area Networks (die ›intelligente Stadt‹).30 Wer immer die nahtlose Verbindung zwischen diesen Gateways herstellt, wird das Netzwerk beherrschen, während neue Gesetze und neue Mobilitäten mühelos in die Service-Rhetorik integriert werden. Die Matrix wird zweifellos eine Konstante sein. Welche Anforderungen wir haben, muss noch entworfen und entschieden werden, aber die Auswahl zeichnet sich schon klar ab. Das Feld wird entweder von der old-school Gated Community CISCO/IBM/Microsoft bestimmt werden oder von einer verteilten Koalition aus offener Software, offener Hardware und offenen Dateninitiativen, die gemeinsam die Protokolle festlegen. Der Neunziger-Jahre-Traum von einer ›Governance‹-Koalition der beiden Kräfte ist immer noch in der Luft, aber nicht die wahrscheinliche (schmutzige) Realität. Um Medienästhetik im digitalen Bereich zu diskutieren, reicht es nicht, nur auf die Möglichkeiten (und Gefahren) der Technologien hinzuweisen. Wir müssen verstehen, dass die allgemeine Tendenz zur Lokalisierung immer en vogue sein wird, vor allem jetzt, wenn Desktop-PCs verschwinden, die Hardware schrumpft und unsichtbare Netze, die in WiFi und ›walled gardens‹ wie Facebook und Twitter verborgen sind, an Bedeutung gewinnen. Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, den Fluss der Experimente zu erforschen und in ihn einzutauchen: Es müssen klare Entscheidungen getroffen werden. Es genügt auch nicht, unsere Kritik auf die Ebene der Schnittstelle zu beschränken. Die Medienästhetik erstreckt sich über das gesamte Spektrum der vernetzten Ökologie. Das Problem ist, dass die heutigen Technologien gleichzeitig kon29 | Siehe z. B. die Herma-Initiative: http://herma.duekin.com 30 | Die Diskussion in diesem Kapitel ist absichtlich spekulativ und beinhaltet keine ausführliche Untersuchung der Smart-City-Rhetorik und ihrer spezifischen Forschungsagenden. Mehr dazu bot z. B. die Konferenz ›Social Cities of Tomorrow‹ in Amsterdam, 14.–16. Feb. 2012, organisiert von der Initiative Mobile City. Siehe: www.socialcities​ oftomorrow.nl/ und www.themobilecity.nl, sowie die Arbeit von Martijn de Waal, der in diesem Forschungszusammenhang eine Schlüsselrolle hat.

Urbanisieren als Verb

kret, tragbar, intim, abstrakt und unsichtbar werden. Es macht keinen Sinn, diese Wirklichkeit wieder in die Richtung und auf die Ebene des Bildes zurückbiegen zu wollen, nur um sie (auf wundersame Weise) hinweglesen oder hinwegurteilen zu können. Die vernetzte Ästhetik wird nicht ohne Grund verteilt, und wir müssen die Vielzahl der Bedrohungen intakt lassen. Denn sie sind da. Das ist die Politik eines komplexen Techno-Materialismus, im Gegensatz zu einfachen Verkürzungen auf irgendeine ontologische Essenz. Ist der Raum immer noch der Identitätsprovider Nummer eins? Während sein Diskurs eine reiche Geschichte hat, ist er gleichzeitig von ernsten Problemen und dominanten Modi der Nostalgie umgeben. Wir sollten uns auf jeden Fall vor einer lokativen Retromanie vorsehen, analog zur Retroaktivität in der Popkultur (die Simon Reynolds so einleuchtend theoretisiert hat 31). Bringen Transmedia und andere Ausrichtungen, wie z. B. Embodiment oder Neuer Materialismus, eine ähnliche Retro-Perspektive zum Ausdruck, zurück zu den ›Wurzeln‹ der Netzwerk-Theorie? Von Anfang an ging es immer um die trianguläre Dialektik von Raum – Medien – Ereignissen. In den achtziger Jahren nahm diese Version des Politischen in Form von Hausbesetzungen, alternativen Medien und Revolten Gestalt an. Heutzutage ist der (Immobilien-)Raum aufgrund der Gentrifizierung kostspieliger geworden, während der Preis für Medien (und insbesondere für die Datenspeicherung) zurückgegangen ist. Der Aufstieg billiger digitaler Technologien hat zu einer Zersplitterung früherer Kämpfe geführt, während aktivistische Medienpraktiken und -analysen weit über die Ideologiekritik der zentralisierten Nachrichten und RundfunkMedien hinausdenken. Geheimnisvoll wie immer sind aber die komplexen Umstände geblieben, unter denen das Ereignis auftritt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des ehemaligen Westens wurde der städtische Raum vom Kapital kolonisiert. Er ist immer noch umkämpft, aber auf andere Weise als vor 30–40 Jahren, als in der postindustriellen Ära bürgerliche Familien, Fabriken und Büros aus der Stadt zogen. Die neue Grenze sind jetzt leere Büroräume und verfallende Nachkriegsvorstädte, nicht mehr Fabriken und Lofts. Aber egal, wie attraktiv dieses Thema ist, wir sollten uns davor hüten, uns darauf zurückzuziehen und uns zu sehr auf die Politik des Raumes allein zu konzentrieren, der für eine falsche Vorstellung von ›Realität‹ steht. Nehmen wir David Harvey: »Die neuen Technologien sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits können sie als ›Massenablenkungswaffen‹ fungieren und die Menschen so beeinflussen, dass sie glauben, Politik sei nur in einer virtuellen Welt möglich. Oder sie können verwendet werden, um politisches Handeln auf den Straßen, in den Nachbarschaften und in der 31 | Simon Reynolds, Retromania, London: Faber and Faber, 2012.

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Im Bann der Plattformen ganzen Stadt zu inspirieren und zu koordinieren. Es gibt keinen Ersatz für die Körper auf der Straße, um politisch zu agieren, wie wir in Kairo, Istanbul, Athen, São Paulo etc. gesehen haben. Im Verbund mit aktiver Straßenpolitik können die neuen Technologien eine fabelhafte Ressource sein.« 32

Aber, wie Eric Kluitenberg nachgewiesen hat, sind die heutigen sozialen Bewegungen bereits hybrid, mit oder ohne Körper.33 Die real/virtuell-Dichotomie ist ein alter Hut. Die sogenannten ›realen‹ Erfahrungen auf den Straßen und Plätzen von Sofia, Tel Aviv und New York werden weltweit und intensiv vermittelt und diskutiert, in Echtzeit, während sie sich entfalten. Statt sie gegeneinander auszuspielen, müssen wir ein Vokabular finden, das die Art und Weise, in der reale Orte, Netzwerke und Ereignisse sich vermischen, in Echtzeit wiedergibt. Ein Kernaspekt des Kampfes wird (immer) die (temporäre) Besetzung des Raums sein. Es ist Unsinn zu behaupten, dass die heutigen Schlachten sich in den Cyberspace verschoben hätten. Die materiellen Ressourcen bleiben unverzichtbar. Das Virtuelle ist materiell. Wie aber kommunizieren (besetzte) Räume mit dem größeren Kontext, in dem sie operieren? Das Problem ist, dass die materielle Sphäre mit Signalen und Daten überflutet worden ist. Wir befinden uns nicht frei schwebend in einem abstrakten, parallelen, metaphysischen Reich. Ganz im Gegenteil, wir stehen vor einer Invasion der Metaphysik bis in die kleinsten Adern unseres Körpers, unserer Systeme. Was wir tun müssen, ist ›sichtbar machen‹ – um uns dem zu stellen – was im Hintergrund läuft, hinter unserem Rücken, unter unseren Augen.

32 | http://theoccupiedtimes.org/?p=11969 33 | Eric Kluitenberg, Legacies of Tactical Media, The Tactics of Occupation: From Tompkins Square to Tahrir, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2011.

Erweiterte Updates Fragmente der Netzkritik

MyResources: »Macht ist unsichtbar bis man sie provoziert.« (GFK) – Unwahrscheinliche Zukünfte: Jobs am Zentrum für entstehende Kulturen – Man liest nur Fachzeitschriften mit niedrigem Impakt. – »In einem Land leben, wo alle Namen unbekannt sind.« (Elias Canetti) – »Wir bezahlen die Schulden der letzten Generation, indem wir Wertpapiere ausgeben, die von der nächsten Generation bezahlt werden müssen.« (Lawrence J. Peter) – Big Data ist wie Drogengeld, sie sollten als schmutzige Daten betrachtet werden. – iPlastizität und das singuläre Selfie: Ich bin nicht wie du. – E-Mail-Signatur: »Fortschritt bedeutet, dass schlimme Dinge schneller passieren.« – »Wenig später übernahm der Militärrat Facebook und meldete volle Kontrolle über alle Profile.« – »Die Provinzialisierung des Netzes« (Konferenz in Bad Blankenburg) – »Ein Name ist wie ein dumpfer Schlag, von dem man sich niemals erholt.« (Marshall McLuhan) – Geistformende Mogule durchdringen mein Hirn – Nicht-Vermessung der Welt – Ein Jahrhundert später, das Abstrakte ist ein Skandal, wieder einmal. – »Gefährliche Idioten + gute Absichten + Finanzierung + technische Kompetenzen = tödlich« (Evgeny Morozov) – »Ein muskulöses Subjekt, das kraft seines Willens den Bankrott der Welt überwindet, mag an irgendeinem Punkt in der Vergangenheit eine radikale Subjektposition gewesen sein. Heute besteht die radikalste Geste jedoch darin, die verfügbare Macht zurückzuhalten.« (Alex Galloway) – »Mitten im Bacchanal der Disruption lasst uns innehalten, um die Disruptierten zu ehren. Die Straßen der amerikanischen Städte werden von den Geistern der Buchhandlungen und Plattenläden heimgesucht, die von den größten Gangstern in der Geschichte der Kulturindustrien zerstört wurden.« (Leon Wieseltier)

R e tro -K ritik des L inks »Ich bin nicht verantwortlich für Ihre Website.« Ich kann Tage damit verbringen, über diesen Satz nachzusinnen, der jedes Mal ins Bewusstsein strömt, wenn ich die Aussage »Dieser Link bedeutet keine Zustimmung« lese. Er ist

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eine. Ein Link bestätigt die Existenz des anderen Dokuments. Die souveräne Strategie in diesem Moment ist der nicht bezifferbare Akt der Negation: LinkLeugnung. So funktioniert überlegene Macht. Ich weiß, dass diese Datenbits existieren, aber ich werde keine Beziehung zwischen mir und dieser Information öffentlich machen. Verlinken macht die Dinge zu Komplizen. Wir können nicht Maschinen beschuldigen, Links herzustellen (das tun sie nicht); wir sind diejenigen, die schuldig sind, von fremden Früchten zu kosten. In den goldenen Tagen des autopoietischen Hypertextes wurde der Hyperlink als »Referenz in einem Dokument auf eine externe Information« (Wikipedia) definiert.1 Was in dieser Definition fehlt, ist das Element der Handlungsmacht. In den 1980ern begriff man den Link sowohl als eine höfliche Technologie der Bibliothekswissenschaften als auch als Hippie-Statement, eine Einladung, seinen Geist zu erweitern, die Türen der Wahrnehmung zu öffnen und neue Welten zu betreten. Der Link war Teil einer Expedition, die durch unbekanntes Territorium navigierte: wir wollen wissen, berichte mir mehr, erkläre. Wissen wurde nicht instrumentell gesehen, sondern als ein künstlerischer Akt, im besten Fall erlangt durch glückliche Fügung. Vom Haupttext wegzuspringen, war nicht eskapistisch. Warum den Link auf eine Einladung zum Verlassen der Party zurückstufen? Niemals, Surfen IST die Party! Während heute das Ziel jeder Website oder jedes Dienstes darin besteht, einen dort zu halten, wo man ist, liegt das Hauptproblem für den Nutzer nicht beim Surfen an sich, sondern beim Multitasking zwischen Anwendungen und darin, den Browser oder die App überhaupt zu verlassen. Im Web gibt es keinen unwissenden Link. US-Richter Richard Posner schlug vor, das Linken auf Tageszeitungsartikel und anderes urheberrechtlich geschütztes Material ohne Einwilligung des Rechteinhabers zu unterbinden. Posner zufolge müsse man die Einwilligung einholen, um auf einen Tageszeitungsartikel online zu verlinken: »Die Ausweitung des Urheberrechts, um den Online-Zugang zu urheberrechtlich geschütztem Material ohne die Einwilligung des Titelhalters zu blockieren oder um das Linken auf oder das Paraphrasieren von urheberrechtlich geschütztem Material ohne die Einwilligung des Titelhalters zu verbieten, könnte notwendig sein, um zu verhindern, dass die kostenlose Nutzung [free riding] von Inhalten, die von Online-Tageszeitungen finanziert werden, den Anreiz zum kostspieligen Sammeln von Nachrichten so mindert, dass Nachrichtendienste wie Reuters und Associated Press bald als die einzigen professionellen Nichtregierungsquellen für Nachrichten und Meinung übrigbleiben.« 2

1 | https://en.wikipedia.org/wiki/Hyperlink 2 | www.becker-posner-blog.com/archives/2009/06/the_future_of_n.html

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Die Valley News-Site TechCrunch antwortete: »Blogs und andere Websites übernehmen einfach Inhalte von Tageszeitungen, aber keinen Anteil an den Kosten für das Zusammentragen der Nachrichten, erklärt Posner. Diese Pauschalbehauptung ist natürlich nicht richtig. Eine wachsende Anzahl von Blogs, inklusive TechCrunch, tragen ihre eigenen Nachrichten zusammen und entsenden auf eigene Kosten Journalisten, um über Ereignisse zu berichten. Aber selbst wenn wir die Diskussion auf Cut-and-Paste-Sites beschränken, ist das Free-Rider-Argument nicht wirklich stichhaltig. Man kann kein Trittbrettfahrer sein, wenn man etwas von Wert zurückgibt. Ein Link an sich ist wertvoll. […] Woher, glaubt Judge Posner, kommen die Leser all dieser Tageszeitungs-Sites? Sie kommen meistens über Links, nicht von direktem Traffic. Entfernte man die Links, verlören viele Tageszeitungen den Großteil ihrer Online-Leserschaft.« 3

Hier zeigt sich die Ideologie des Kostenlosen in voller Ausprägung. Ein anderes Beispiel stammt von einer Webseite der NASA. Es ist kalt, technisch und auf den Punkt gebracht: »DASHlink verlinkt auf Websites, die von anderen öffentlichen und/oder privaten Organisationen geschaffen und gepflegt werden. Diese Links dürfen von einem Mitglied des NASA DASHlink-Teams zur Verfügung gestellt werden; allerdings bedeutet die Präsenz eines externen Links keine Befürwortung der Site von uns oder der NASA. Wenn Nutzer einem externen Link folgen, verlassen sie DASHlink und unterliegen den Privatsphärenund Sicherheitsrichtlinien des Eigentümers/Sponsors der externen Website(s). NASA und DASHlink sind nicht verantwortlich für die Informationserfassungspraktiken der externen Sites.« 4

Jahrzehnte nach Beginn des Internet-Spiels gibt es zwar immer noch Links, doch werden sie heute vom ›Like‹ abgelöst, worauf viele bereits hingewiesen haben.5 Der Link war zu ambivalent und keine ausreichend positive Empfehlung. Das Like ist Teil eines integrierten Empfehlungssystems, in dem die Mini-Bewertungen zunächst bestätigt, dann gesammelt werden, bevor sie dann später im Prozess monetarisiert werden, weit außerhalb der Sichtweite des Nutzer. Während Verlinken ein öder technischer Vorgang ist (kopieren und einfügen, in ein anderen Fenster wechseln, überprüfen, ob der Link funktioniert und wie 3 | www.techcrunch.com/2009/06/28/how-to-save-the-newspapers-vol-xii-outlawlinking/ 4 | Siehe: https://c3.nasa.gov/dashlink/privacy/#disclaimer 5 | Siehe: Carolin Gerlitz/Anne Helmond, »The Like Economy: Social Buttons and the Data-Intensive Web«, New Media & Society 15. Aug. 2013, S. 1348 und Daily Dot über den Anstieg von fake Likes: www.dailydot.com/technology/facebook-fake-likes/

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es aussieht), vollzieht sich Liken in Millisekunden und gehört damit ins Reich des Cyber-Unterbewussten. Wir klicken immer noch auf Links, aber gewöhnliche Kunden brauchen keine Links mehr in ihre Social-Media-Feeds einzufügen, das ist alles automatisiert und wird für sie übernommen. Man könnte ab und zu ein Bild manuell hochladen, wenn das Handy das nicht schon automatisch macht, aber das war’s. Als Antwort darauf hat sich der GoogleSuchalgorithmus bereits weiterentwickelt und hängt nicht mehr allein vom automatischen Beliebtheits-Ranking der Links ab. Aufgrund des langsamen Niedergangs der Links werden Suchmaschinen als das bekannt werden, was sie immer waren: fehlerhafte, allzu menschliche ›Datenbanken‹, die ein Welle der Nostalgie nach der ›reinen‹ Maschinenlogik aus dem Zeitalter vor Werbung und den damit zusammenhängenden Politiken des Filterns auslösen.6

D as I nterne t ist kein A rchiv Das Internet ist immer für eine Enttäuschung gut, was seine Funktion als öffentliches Speichergerät angeht.7 Es dient dem Zweck, den Wolfgang Ernst »temporären Speicher« nennt.8 Trotz einer Reihe populärer Mythen, akademischer Referenzen und journalistischer Annahmen gibt es keinen Beweis, dass Rechner-Netzwerke als Archiv fungieren können. Aufgrund staatlicher und unternehmerischer Interessen ist das ›Netzwerk der Netzwerke‹ schlichtweg zu dynamisch und zu instabil, um sich für einen langzeitlichen Erhalt kultureller Artefakte zu eignen. Werden die Rechnungen nicht bezahlt, ziehen die Systemadministratoren weiter, gehen in Rente oder sterben, werden Be6 | Am 7. Juli 2015 berichtete die B2C-Website: »Link-Profiling wird wohl bald der Vergangenheit angehören, ersetzt durch einen zentralisierten, von Google geleiteten ProtoKünstliche-Intelligenz-Algorithmus, der den riesigen (und wachsenden) Wissenstresor des Unternehmens anzapft, um Websites vor allem nach Relevanz und faktischer Information zu ranken statt nach der Anzahl und Qualität der ankommenden Links.« (www. business2community.com/seo/forget-link-building-time-embrace-google-knowledgevault). Der Autor Chris Holton nennt das »von Linken zum Denken«, bezweifelt aber, dass dies wirklich ein so guter Schritt ist. 7 | Dank an Henry Warwick, der dieses Fragment redigiert hat, für seine unendlichen Ideenströme. Eine erste Version dieses Textes erschien zuerst in: Peter Piller, Archive Materials, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2014, Sp. 87–91 (eigene Ausgabe in Deutsch). 8 | Wolfgang Ernst, »Die Unmittelbarkeit der Gewinnung immenser Datenmengen durch Online-Datenbanken konkurriert mit einer zunehmenden Maximalnutzungs-Zeit, die die heutige Kultur wissentlich akzeptiert«. In: Claudia Giannetti (Hg.), AnArchive(s), Oldenburg: Edith-Russ-Haus für Medienkunst, 2014, S. 176.

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triebssysteme nicht aktualisiert, gehen Unternehmen pleite und die Richtlinien von Telefongesellschaften ändern sich; dann stürzen die Festplatten ab und erlauben keinen Zugriff mehr, die Konnektivität bricht zusammen oder schaltet sich ab, Serverracks werden vergessen, vom Netz getrennt und dann als Schrott verkauft und recycelt, und Domänennamen laufen ab oder werden nicht erneuert. Es ist diese dynamische Vitalität des Internets, die der implizierten Statik des Archivs zuwiderläuft. Falls die Idee des ›Archivs‹ zu formal klingt, zu institutionell im Vergleich zur technischen Realität des Internets, sollte man es vielleicht besser als momentanes Pseudo-Archiv der Gegenwart denken? Ein Meta-»Anarchiv« (Siegfried Zielinski), das »dem Archiv alternative Aktivität« bietet.9 Hier herrscht eine Markt-Anarchie mit militärischen Ursprüngen und Spezifikationen, voll von unvollständigen Indizes, toten oder korrupten Links halbfertiger Digitalisierungsprojekte und veralteten Informationen in vergessenen Datenbanken. Kurz, eine offene Sammlung von Sammlungen und unausgereiften oder vergessenen Gefügen oder »wilden Archäologien« (Knut Ebeling), getrieben von der »Logik der Mannigfaltigkeit und dem Reichtum der Unterschiede« und beschränkt durch ein festes Design. Der Gegensatz, den Zielinski zeichnet zwischen institutionellen Archiven, die »aus der Perspektive eines (apparatebezogenen) Ganzen sammeln, selektieren und erhalten«, und dem »autarken, widerstandsfähigen, einfach vergehenden, autonomen Anarchiv«, könnte ein falscher sein. Die früher komplementären Blöcke staatlich geführter Institutionen und großer Konzerne, die gegen alternative Subkulturen arbeiteten, – eine Konstellation, die in den 1960ern kulminierte – ist durch das Big Data-Paradigma ersetzt worden, einer Koalition unschuldiger unternehmerischer ITMonopole und ebenso großer Sicherheits-Agenturen, bei dem der unwissende Nutzer mehr als willig ist, sich zu fügen und zu kollaborieren. Rechner wurden entwickelt, um bei einer ganz bestimmten Sache zu glänzen: ›number crunching‹ [Zahlen fressen]. Sie beginnen damit in dem Moment, in dem sie eingeschaltet werden. So etwas wie einen Rechner im Leerlauf gibt es (noch) nicht. Erst wenn sie ausgeschaltet sind, können sie ruhen und still sein. Rechnern mangelt es an der grundlegenden Fähigkeit, passiv zu sein. Sie sind manische Maschinen. Im Unterschied zu dieser Konzeption und Nutzung wurde das Internet, als man es in den sechziger Jahren lancierte, von seiner expandierenden Nutzerbasis als Medium eines lebhaften elektronischen Austauschs betrachtet, als miteinander verbundene Maschinen, die einfach nur um der Sache selbst willen miteinander kommunizierten, mit oder ohne menschliche administrative Präsenz aka Nutzer. Sei es in Form von Streaming oder durch den Transfer von festen Dateien, es war klar, dass es in 9 | Eine bedachte Provokation meinerseits in einem freundlichen Dialog mit dem deutschen Medientheoretiker Siegfried Zielinski. In: Giannetti, AnArchive(s), S. 17.

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einem Netzwerk um die Kommunikation zwischen Knoten geht. Das Internet besteht aus endlosen Zyklen von Servern, die andere Server kontaktieren, dieses kopieren, jenes speichern, immer wieder und wieder. Fünfzig Jahre nach seinem Start wird dieser ›vitalistische‹ Aspekt des Internets nur noch von Netzwerk-Administratoren verstanden. Das Allgemeinwissen über das eingebaute Hin und Her wurde langsam in den Hintergrund gedrängt. Wie viele gewöhnliche Nutzer verwenden noch Unix-Kommandos wie telnet, ping und traceroute? Nur die Maschinen selbst oder spezialisierte Nutzer wie Systemadministratoren. Der Techno-Vitalismus des Internets ist eines der Haupthindernisse dafür, das Internet als Archiv behandeln oder nutzen zu können. Könnten wir die Geräte doch einfach ›schlafen‹ lassen und sie ferngesteuert wieder aufwecken, um die Konnektivität wieder herzustellen … ohne Versionierungsprobleme. Unzureichende oder unterbrochene Rückwärtskompatibilität ist eine Plage des Computerzeitalters – und künftige Generationen werden uns dafür verfluchen. Es handelt sich nicht einfach nur um ein Problem des Nutzer-Interfaces oder der Computersprache. Das kann alles erlernt werden. Es geht um die unordentliche Masse inkompatibler und nicht mehr verwendeter Datenformate, Dateiendungen und Netzwerkprotokolle, die jedes potentielles Archiv unzugänglich und unmöglich macht. Vom Netz genommen, ist ein Server lediglich eine Ansammlung digitaler Daten, nicht viel mehr als ein Speichergerät. Wie wir alle wissen, wächst die Speicherkapazität von Rechnern weiterhin exponentiell, und die Kosten per Byte fallen im selben Maß. Aber das Problem, mit dem wir hier kämpfen, ist die statische Weltsicht eines Computerterminals (Smartphone, Tablet, Notebook etc.), das Zugriff auf eine entfernte Datenbank verlangt, um die angefragten Dateien zu transferieren. Archive dagegen arbeiten meist nicht in dieser Weise. Üblicherweise waren Archive (und sind es oft immer noch) vor instantanem Zugriff geschützt. Bürokratische und oft wirtschaftliche Rituale schrieben vor oder verboten, wer Zugang zu welchen Daten hatte. Dies war sogar bei öffentlichen Unterlagen der Fall. Die kühle Rationalität des instantanen Zugriffs auf alle möglichen Daten ist eine Utopie reibungsloser, automatisierter Effizienz, die den Drang, alle Information zu speichern und universell verfügbar zu machen, vollständig begreift und verkörpert. Das Archiv andererseits, mit seinem Anspruch auf dauerhaften Wert, muss gegen die Gegenwart geschützt werden. Es ist eine Verschwörung gegen die Zeit. Die Digitalisierung hat ›Zeitkapsel‹-Verfahren obsolet gemacht und diese Arbeit auf ein ewiges Ritual neo-mittelalterlichen Kopierens (und Upgradens) von digitalem Material und endloser Übertragungen von Träger zu Träger und von Dateiformat zu Dateiformat verschoben. Das alles, um zu verhindern, dass Hacker das Material löschen, sich gegen schwächelnde Hardware abzusichern und zu vermeiden, dass Dateien durch das Auslaufen von Formaten und Standards unlesbar werden.

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Man muss nicht extra betonen, dass die analogen Papierarchive der Vergangenheit auch kein ewiges Leben hatten. Alle Objekte, digital oder nicht, lösen sich in Entropie auf. Die erste Sorge und das erste Ziel eines Archivs ist daher, eine gegebene Menge an Materialien zu sichern, bis die Welt bereit ist, sie zu verarbeiten. In manchen Fällen kann das Monate oder ein paar Jahre dauern, in anderen ein Jahrhundert oder mehr. Daher bleibt die Zukunft des Archivs mit Entschlossenheit offline. Onlinematerial ist die Ausnahme. Digitalisierung und ›Open Access‹ sind die Forderungen einer zivilen Demokratisierungsbewegung und als kulturspezifische Verfahren (westlicher) Netzwerkgesellschaften zu betrachten. So reproduziert die neoliberale spätkapitalistische Gesellschaft ihre Legitimität. Aber selbst künftige Gefüge aus Rechner-Hardware, Software und Konnektivität werden viel zu fragil und instabil sein, um langfristig ohne Beeinträchtigung zu funktionieren. Allein schon die Abhängigkeit von ununterbrochener Stromversorgung macht Rechner-Netze zutiefst unzuverlässig, was erklärt, warum so viele digitale Unternehmen in der Nähe von Energielieferanten liegen, die nicht ausfallen können, wie Wasserkraftwerken im Fall von Google oder Erdwärmekraftwerken im Fall von IBM. Rechnernetzwerke können nur mit der massiven Rund-um-die-Uhr-Aufmerksamkeit von Millionen von Nutzern, Beschäftigten und Freiwilligen florieren, die lebenswichtige Elemente und existentielle Systeme am Laufen halten. Dies ist die wahre Rationalität der Techno-Vitalität. Das Internet kann nicht beiseite gestellt und ein paar Jahrzehnte später wieder in Anspruch genommen werden. Es existiert nur als eine dynamische Entität, deren nachhaltiger Betrieb von der permanenten Beteiligung einer Vielzahl hoch kompetenter Akteure abhängt: Server-Software-Programmierer, Netzwerkmanager und -analysten, Systemadministratoren, lokale und globale Telekommunikations- und Glasfaser-Firmen (und ihre Aktionäre), Satellitenprogramme ebenso wie nationale Regulierungs- und globale Governance-Organisationen wie die Internet Assigned Numbers Authority (IANA), die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) und die Internet Engineering Task Force (IETF). Eine besonderere Rolle in der heutigen empfindlichen Internet-Ökologie spielt die rapide wachsende Zahl großformatiger Datenzentren. Auf den ersten Blick deuten ihre Abgelegenheit und ihr futuristischer Techno-Look darauf hin, dass diese Datenspeicher-Orte für immer bleiben werden – und sogar als die Internet-Archive betrachtet werden könnten, nach denen wir Ausschau halten. Doch nichts liegt weiter von der Wahrheit entfernt. Plötzliche, simple Veränderungen in Geopolitik, Strompreisgestaltung, Boden- und Immobilienkosten sowie der Rentabilität vermietbarer Stellflächen (und nicht zu vergessen das schnelle Altern der Elektronik) können alle über Nacht zu einer Schließung solcher Anlagen führen. Dienste können von der nationalen Politik verboten

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werden, Hosting-Unternehmen können pleitegehen, und der Geschmack der Online-Multitudes für Apps und Content kann sich plötzlich ändern. Alle Archive erfordern Kuratierung. Daher gibt es, genau genommen, keine Big-Data-Archive. Die unsortierten Rohdaten-Sammlungen können – und werden  – zur Erforschung für nächste Generationen gespeichert werden. Es bleibt allerdings eine offene Frage, ob Tausende von Servern, die Big Data vorhalten, einen kulturellen Wert haben oder nicht oder ob jemand je einen Blick darauf werfen wird. Mit genügend Zeit wird jeder Müll zu Gold. Aber wird das auch bei Big Data der Fall sein? Googles Künstliche-Intelligenz-Projekt unter der Leitung von Ray Kurzweil, einem verrückten Wissenschaftler und Mitglied der US-Konzern-Eliten, digitalisiert und speichert zur Zeit editiertes, kuratiertes und rezensiertes Material, geleitet vom parasitären Google-Mantra ›lass andere erst die Arbeit machen, für die wir nichts bezahlen. Du schreibst ein Buch, wir scannen es und schalten unsere Werbung daneben.‹ Verdichtete hochwertige Information ist die Art von Erbe, die man der KI zuführen will.10 Dieser elitäre Ansatz nimmt jedoch an, dass Big Data stark gefiltert und interpretiert werden muss (von Menschen), weil die Daten sonst die KI ›verschmutzen‹ könnten. Die Sklavenarbeit des Sammelns und Verarbeitens von Big Data kann von einfachen Maschinen übernommen werden. Dasselbe lässt sich von den vielen heroischen Versuchen sagen, das Internet zu archivieren. Die besten Teile von Brewster Kahles Internet Archive sind die kuratierten Teile. Beliebige Teile der Wayback Machine des Internet Archives stecken dagegen voller technischer Probleme, wie veraltete Plug-Ins und fehlende Seiten. Die Menschheit kann entsprechend beruhigt sein, dass Google nicht in der Lage ist, Facebook und ähnliche soziale Medien zu archivieren, da ihre KI wegen der überwältigenden Menge an Junk Data sonst bald wertlos würde. Ein ähnliches Problem gibt es bereits im Kontext von Suchmaschinen. An einem bestimmten Punkt versetzt das Hinzufügen zusätzlicher Information den Datenbestand in einen Zustand der Entropie. Man kann die Suchanfrage nicht endlos verfeinern. Die neuesten Informationen anzuzeigen, ist keine Lösung. Das könnte auch der Grund dafür sein, warum das Deep Web verborgen bleibt und weshalb wir glücklich sein sollten, ›nur‹ auf 30 Prozent des Netzes zugreifen zu können. Müssen die mittels üblicher Haushaltsgeräte generierten und über mobile Apps gesteuerten Daten voll durchsuchbar sein? Die vielen millionenfachen Ergebnisse gewöhnlicher Suchbegriffe stören uns schon nicht mehr. Wir stehen dem bösartigen Wachstum an Daten und den Ressourcen, die es erfordert, inzwischen ungerührt und selbstgefällig gegenüber. Vielleicht sollte uns das beunruhigen? In Radical Tactics of the Offline Library denkt Henry Warwick über den Aufstieg persönlicher, tragbarer Bibliotheken nach. Aufgrund des dramatischen 10 | Gut erklärt in der BBC-Dokumentation von 2013: Google and the World Brain.

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Preisverfalls von Datenspeichergeräten für Konsumenten können wir heute 10.000 Bücher auf einem USB-Stick für 15 Euro speichern oder eine Festplatte mit 800 Spielfilmen für 60 Euro herumreichen. Ganze Universitätsbibliotheken passen auf eine 3-Terabyte-Platte. Wegen drakonischer Copyright-Regime, die vor und als Reaktion auf die allgegenwärtige Erreichbarkeit durch das Digitale erfunden wurden, ist die Online-Welt zu einer prekären Falle geworden. Henry Warwick schließt: »Im Widerstand gegen das Online-Prekäre und das Vordringen des Sicherheitsstaates und in einer Verkehrung älterer Praktiken, die auf der Replikation von Wissensträgern basierten, treibt uns die Personal Portable Library in eine Zukunft jenseits der soziopathischen Gier von Eigentumsregimen. Eine Personal Portable Library zu besitzen und zu managen, ist mehr als nur gute Forschungspraxis – es ist eine radikale Taktik des Widerstands gegen informationellen Feudalismus, eine Strategie der Demontage der Eigentumstheorie und ein edler Akt des Teilens der Früchte der Kultur mit allen, zum Nutzen für alle.«11

Dieser Begriff der ›Bibliothek‹ könnte letztlich dem übertheoretisierten Konzept des Archivs vorzuziehen sein, das bis vor kurzem in erster Linie mit dem Dateien-kontrollierenden (National-)Staat assoziiert wurde. In einer Zeit, in der Speicherplatz (heute in Terabyte gemessen) und Zugang keine Rolle mehr spielen, geht es Nutzern nur noch um das soziale Setting. Bald werden indizierte, an Offline-WiFi-Netzwerke oder Meshnets angebundene digitale Bibliotheken soziale Zentren sein, die Mitglieder für ihre Informationsbedürfnisse konsultieren, verbunden mit dem unwiderstehlichen Gewinn, der in der Begegnung von Menschen mit anderen Menschen in Leseclubs, Orgnets, Meet-Ups, LANParties, Cafés, Studenten-Lounges und anderen hybriden Foren besteht. Wenn Medien, Bücher und Information, die für mehrere Leben reichen, problemlos auf kostengünstiger Konsumententechnologie gespeichert und geteilt werden können, wie wird die Politik und die Poetik unserer digitalen Bibliotheken sich gestalten, wenn wir die nächste Generation öffentlicher Bibliotheken entwerfen?

Ü ber Trolling Das Problem des Trolling kann leicht auf individuelle Fälle begrenzt werden. Trolls sind Ausnahme-Figuren. Redakteure, Programmierer und letztlich das Rechtssystem werden sich mit dem unaufhaltbaren abweichenden Anderen befassen. Filter werden installiert, um Schutz vor jeder störenden Information 11 | Henry Warwick, Radical Tactics of the Offline Library, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2014, S. 49.

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zu bieten, und Bots streifen rund um die Uhr durch den Cyberspace, um unerwünschte Provokationen zu löschen. Wie eine Gesellschaft sich mit denen auseinandersetzt, die die unsichtbare Grenze überschreiten, sagt uns eine Menge über die Grenzen der Rhetorik von Toleranz, Offenheit und Freiheit. Der Troll als Outlaw ist eine Trope, die unterhaltsam sein und hochwertige Erzählungen, menschliches Drama und Einsichten in das garantieren kann, was für unterschiedliche Akteure auf dem Spiel steht, was für Rollen sie spielen. Aber was, wenn Trolling die Norm wird und sich jenseits der Jugendkultur weiter ausbreitet? Wir leben immer noch im Bann von Robert Hughes’ Culture of Complaint. Mittlerweile träumen wir von einer aufgabenbasierten, gemeinschaftsorientierten, konsensgetriebenen Online-Realität, die vielleicht niemals existierte und vielleicht auch in der Zukunft niemals existieren wird. In den frühen neunziger Jahren beschrieb Hughes diese Situation einer »Politik, die von Therapien besessen und voller Misstrauen gegenüber formalen Politiken ist; skeptisch gegenüber Autoritäten und leichte Beute des Aberglaubens; ihre politische Sprache ist korrodiert von falschem Mitleid und Euphemismus«.12 Hughes beschwert sich über die Anstößigkeit der Bekennerkultur und bemerkt, dass der Gedanke der Differenzierung schon lange verschwunden sei. Er zielt auf die Minderwertigkeit amerikanischer TV-Shows auf allerniedrigstem Niveau. Doch ein großer Unterschied zwischen Kritik im Stil von Hughes und ihrer Anwendung auf den heutigen Blendeffekt sozialer Medien ist die Gleichgültigkeit der heutigen Eliten gegenüber der Kommentarkultur von Erwachsenen im Internet (Teenager zu überwachen ist eine andere Sache). Die Kulturwissenschaftler werden nicht eingreifen, um diesen Teil der populären Kultur zu retten. Der Troll ist ein einsamer Wolf, der einfach identifiziert und isoliert, rausgefiltert und mittels Therapien neutralisiert werden kann. Hier gibt es kein kulturelles Ideal, nur Abneigung. Es ist nicht die historische Aufgabe der weitschweifigen Maschine namens Internet, erbaulich zu sein. Im alten kybernetischen Command-and-Control-Stil war das Rechnernetzwerk für die Datenverarbeitung zuständig. Heutzutage ermittelt es messbare Ideologien und blockiert Sites, setzt Zeitbegrenzungen und App-Restriktionen ein, überwacht Chat-Rooms, filtert Suchergebnisse, richtet E-Mail-Alerts ein und prüft Audio und Webcams. Das ist der Glaube des Trolls: erwarte rechtliche techno-medizinische Antworten. Anders als der politisch korrekte Puritanismus, den Hughes attackierte, ist die populistische Kommentar-Kultur zwei Jahrzehnte später sehr viel verwegener und gemeiner. Die Architekturen, die errichtet wurden, um den Diskurs zu kapern, sind nicht so ausgefeilt, dass sie Raum für ›Verschiedenheit‹ lassen. Stattdessen werden Nutzer dazu verleitet, eine verborgene Wahrheit aufzude12 | Robert Hughes, Culture of Complaint, New York: Warner Books, , S. 4.

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cken und sie entstehen zu lassen; Brutalität und Radikalität werden als unerwünschte Nebenwirkung erfahren, doch sind sie ein direktes Ergebnis des Designs der sozialen Medien, das ›News‹, Updates und schnelle, kurze Antworten betont und dabei die Hintergrundgeschichten und langatmigen Debatten beiseiteschiebt. Die Wahrheit einer Gesellschaft ist nicht das Ergebnis kollaborativer Anstrengungen, zusammengeführt in einem Gefüge tausender Puzzlestücke, sondern wird aufgedeckt unter dem Druck (diskursiver) Gewalt. Das operative ›Ideal‹ ist, dass der eine Nutzer, der am härtesten drängt, die PRBlase, die um jede einzelne Aktivität, jedes Produkt und jede Policy existiert, zum Platzen bringt. Doch Kommentare sind nicht nur Beschwerden. In der heutigen Welt der sozialen Medien sind Nutzer eben genau nicht unzufriedene Outsider, die ihren Ärger über ein Input-Gerät herauslassen. Der Unterschied zwischen einer genuinen Debatte und Trolling ist vollkommen subjektiv. Es gibt keine Partizipation mehr, trotz aller Bemühungen von Henry Jenkins und seinen Anhängern, die ›positive‹ Seite von ›nutzergeneriertem Content‹ zu betonen. In diesem Zeitalter, in dem die Internetkultur Partizipation auf die Nutzung einer Handvoll von Plattformen reduziert hat, kann und wird jede Antwort potentiell als Trolling gelten.

N eue M edien als B eruf Der Begriff ›Neue Medien‹ ist inzwischen in aller Stille verschwunden. Der Grund dafür ist nicht ein Mangel an neuen Technologien, die in den Markt eintreten. Man denke nur an 3D-Druck, RFID, Quantified Self, Oculus Rift, Bitcoin und die damit verbundene Blockchain-Technologie, Lese-Tablets, selbstfahrende Autos und andere Gadgets des Tages wie Google Glass und iWatch. Sie haben alle mehr oder weniger einen Einfluss auf die Gesellschaft. Es ist also nicht der Fall, dass neue Medien ›alt werden‹. Alle Technologien altern und verschwinden an einem bestimmten Punkt. Die Computertechnik ist inzwischen 70 Jahre alt, aber das Problem ist nicht wirklich die Antiquiertheit des Digitalen, so viel wir auch über das ›Post-Digitale‹ spekulieren mögen.13 Das Label ›Neue Medien‹ verschwand eher, weil die Utopie ihrer Vertreter sich nicht erfüllte. Die Digitalisierung übernimmt das Kommando in einer Ära wachsender sozialer Ungleichheit und allgemeiner kultureller Stagnation in (westlichen) Gesellschaften. Es ist verlockend, daraus zu schließen, dass die ›Neuen Medien‹ Teil des Problems geworden sind. Versprechen haben sich abgenutzt. Es stellt sich heraus, dass Big Data ein Top-down-Werkzeug sind, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Trotz der ehrenwerten Bemühungen der ›Citizen Data Scientists‹ werden Daten mit Geheimhaltung, Privatsphärenver13 | Verweis auf Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen (1956).

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stößen und Überwachung assoziiert. Der Coolness-Faktor, der mit dem Neuen einhergeht, bringt es nicht mehr. Was bleibt, ist der permanente und wachsende Druck auf die Erwerbstätigen, sich zu updaten und die neueste Welle von Apps, Programmiersprachen und hybriden Lösungen zu meistern, die ein System mit dem anderen verbinden. Die ›Neue-Medien-Forschung‹, wie manche akademischen Programme noch immer heißen, ist in einer schwierigen Situation gefangen, in der sie ihre eigene Autonomie abgrenzen muss, um eine legitimierte Expertenstellung in der Gesellschaft zu erreichen, und zugleich ihre Expertise an vorhandene Berufe wie Krankenpflege und Landwirtschaft weitergeben soll, die immer schon Lichtjahre von der Welt der Informationstechnik entfernt waren. Unser Verständnis der Stagnation der ›Neuen Medien‹ muss mit den kritischen Maker-Bewegungen und dem damit zusammenhängenden Diskurs in Richard Sennetts The Craftsman, den Debatten über Prekarität und den Vorschlägen, Gilden und Gewerkschaften für im Design- und Neue-Medien-Bereich Tätige zu organisieren, verbunden werden. In welche Richtung könnte die weitere Professionalisierung der ›Neuen Medien‹ im Zeitalter von Uber gedrängt werden? Es gibt keine Institutionen mehr für den Marsch durch die Institutionen. Sind die ›Neuen Medien‹ dazu verurteilt, zu ihren Wurzeln der Informationswissenschaften aka Bibliothekswissenschaften zurückzukehren und selbst ein Archiv zu werden, nachdem sie ihren Status als Anhängsel der Filmund Fernsehforschung abgeschüttelt haben? Der Traum von einer eigenen Disziplin ist ausgeträumt, die konservativen Kräfte haben gewonnen. Das Internet wird schließlich nicht als Medium betrachtet und braucht keine besondere Aufmerksamkeit, wie sie Literatur und Film verdienen. Der wahre Grund dafür ist die instabile technische Natur des Apparats, der es nicht erlaubt, dass seine Kultur für einen nachhaltigen Zeitraum in den Vordergrund rückt. Das Internet erweist sich als das Medium des Verschwindens par excellence. Das nächste, was verschwinden wird, könnte der Begriff ›Internet‹ selbst sein.

A nt worten auf die O mnipr äsenz der F otogr afie »Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.« O scar W ilde

In seinen Notizen zum sozialen Photo-Sharing-Netzwerk Instagram bemerkt Vincent Larach »die Fotografie ist ein integraler Teil unseres Lebens geworden. Es ist so tief darin eingebettet, wie wir Augenblicke festhalten und Informationen teilen, dass wir das Medium, das wir dafür so intensiv einsetzen, kaum bemerken.« Wir bemerken es kaum: Willkommen im ›Techno-Unterbewuss-

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ten‹, einem Bereich, der sich mit der ständig wachsenden Zahl an Gadgets und Aufzeichnungsgeräten, die uns umgeben, immer schneller ausdehnt. Der Teil unseres Geistes, der unterhalb der Ebene der bewussten Wahrnehmung liegt, wird ständig durch Rückkopplungsschleifen der Maschinen gesteuert. Zunächst sind wir fasziniert und spüren die ›Disruption‹, doch schon bald verschwindet die App oder das Feature im Hintergrund und wird Teil des Alltags. Bildproduktion und -konsumption sind integraler Teil der ›nicht gänzlich bewussten‹ Sphäre, und die Folge ist der Sieg des öffentlichen Blicks über die Privatsphäre – unter allen erdenklichen Umständen. Im heutigen ständig sich verändernden Medien-Environment erfordert es eine permanente Anstrengung, ein kritisches Verständnis all der verborgenen Ideologien innerhalb der Software, Interfaces und Plattformen aufzubauen und zu erhalten, die direkt in das Techno-Unterbewusste einströmen. Dies trifft auch auf Künstler und Aktivisten zu, die aus ästhetischen und soziopolitischen Gründen intensiv die Möglichkeiten neuer Technologien ausloten. Künstler, erklärte Ezra Pound einmal, »sind die Antennen der Menschheit«. Vor einem Jahrhundert sollten sie die ersten sein, die die kommenden dramatischen Veränderungen wahrnehmen würden. Heute jedoch besteht unsere Avantgarde aus Geeks und Risikokapitalisten. Es ist die virtuelle Klasse, die den Rahmen für unsere neuen Produkte und Dienste definiert. Künstler und Aktivisten, einst Außenseiter und Radikale, sind heute ›Nutzer‹ und frühe Anwender wie du und ich. Was passiert, wenn die Miniaturisierung sich durchsetzt und die Kamera allgegenwärtig wird, während wir aufhören, darauf zu achten? Jean Baudrillard, selbst ein passionierter Fotograf, würde sagen, die Bilder haben ihre ›Szene‹ verloren. Es gibt keinen Akt der ›Aufnahme eines Bildes‹ mehr (eine Geste, die der Produzent von Selfies liebt und in der Öffentlichkeit immer wieder nachspielt). Während künstlerische Strategien versuchen, die Künstlichkeit des fotografischen Aktes ›wiederherzustellen‹, sind die Aktivisten im ›Reality‹Genre gefangen und unterwerfen sich den soziotechnischen Regeln, die den Milliarden täglich gemachter Bilder zugrunde liegen. Es ist Zeit für ein Update von John Bergers Ways of Seeing. Wie präsentieren wir Bilder im Zeitalter von Tumblr, Instagram und Pinterest? Machen wir uns nichts vor: Vilém Flussers Definition von Bildern als »signifikanten Oberflächen« hat ausgedient. Innerhalb des Stroms der Bilder gibt es nicht mehr genug Zeit, dass sich Bedeutungen verfestigen könnten. Nur das nächste hat eine Bedeutung. Massive Speicher und automatisierte Analysen digitaler Bilder sind an die Stelle eines früheren Paradigmas getreten, das durch Auswahl definiert war. Ein Foto ist nicht mehr Symbol oder Resümee eines Ereignisses, sondern Teil eines nachindustriellen Prozesses geworden, angetrieben von Such- und Identifikationsverfahren. Das Bild ist immer Teil eines Flusses. Fotografien illustrieren keine Geschichte mehr und dienen auch nicht mehr als Dekora-

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tion. Dank Echtzeit-Bild-Übertragung und der Allgegenwart der Kamera hat dagegen das Bild als Beweis an Bedeutung gewonnen. Die rohe Qualität des ›reality reporting‹ ist zum Spezialeffekt geworden und kann auf dieselbe Weise untersucht – und präsentiert – werden, wie wir die ›Glitch‹-Ästhetik digitaler Bilder erkunden. Als Folge dieser technischen und ökonomischen Bedingungen sind die künstlerischen und die aktivistischen Strategien auseinandergelaufen: während Künstler gezwungen waren, ihre Bilder zu ›verschönern‹, um ihre ohnehin schon prekäre Position im Kunstmarkt zu halten, wurden Aktivisten in die entgegengesetzte Richtung gedrängt. Sie nehmen die ikonoklastische Haltung des ›Makers‹ ein, der die ›postdigitale Kondition‹ etwas zu wörtlich nimmt und zum handwerklichen Leben unvermittelter Erfahrungen zurückkehrt, während sich der Rest der Gesellschaft den ›Stacks‹ ausliefert. Wie auch immer, die meisten von uns arbeiten unter den Rahmenbedingungen der heutigen Bildproduktion und ihrer Unternehmenslogik des Linkens, Likens, Empfehlens, Kommentierens, Meta-Taggens usw. Der Logik der algorithmischen Kultur unterworfen, versäumt es die Mehrheit der Aktivisten die politische Ökonomie der sozialen Medien zu untersuchen, und läuft schnell in die Fallen dieser Plattformen. Neben den wohlbekannten Beschränkungen durch die Eigentümerschaft von Firmen, die Realität der Staatszensur und weitere, raffiniertere Formen des Filterns ist die kurzfristige Natur der Aufmerksamkeit in den sozialen Medien ein bedeutendes Problem. Die wichtigste Einschränkung heutiger sozialer Bewegungen liegt in der nicht nachhaltigen Form ihrer Organisation, die mit der allgegenwärtigen Abhängigkeit von den sozialen Medien einhergeht. Weltweit beobachten wir ein ähnliches Muster: Protestbewegungen konsumieren ihre eigene Bilderwelt und verschwinden schon, bevor ›das Soziale‹ entstehen kann. Auch wenn das visuelle Material oft eine positive Rolle bei der Anfangsmobilisierung spielt, hat das Bild des Straßenprotestes selbst keinen dauerhaften, symbolischen Wert mehr. Revolten erhalten schnell einen Codenamen (geeignet für Meta-Tagging und Twitter-Hashtags), der nun in Lichtgeschwindigkeit durch die elektronischen Netzwerke reisen kann, doch schnelle soziale Interaktionen konsolidieren sich nicht in langfristigem sozialen Handeln (z. B. Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, spezifischen Task-Groups auf Mailinglisten, Foren oder ähnlicher Groupware). Bevor wir anfangen, über Bilder zu urteilen, müssen wir unser kollektives Apriori erforschen, unser Bilderreich, dessen Subjekte wir sind. Ein Verständnis der politischen Ökonomie unserer visuellen Kultur zu bekommen, ist eine Sache; aber bevor wir dorthin gelangen, müssen wir unsere Wünsche ausweiten. Die Fotografie kann als ein temporärer Schutzraum funktionieren. Hört auf, durch die Bilder zu scrollen, und stellt Fragen. Wie könnte ein Aufruf zum Erwecken der kreativen Vorstellungskraft (in der Tradition von Castoriadis)

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sich auf die heutige Massenproduktion digitaler Bilder beziehen? Das ist der Punkt, an dem wir anfangen, uns mit unserem unbekannten Bekannten zu beschäftigen, auch Phantasie genannt. Wie können wir die komplexen Netzwerke impliziter Regeln und Erwartungen durchbrechen, die uns umgeben? Können wir unser Techno-Unterbewusstes umprogrammieren? Und was ist die Rolle der Bildersphäre auf dieser möglichen Fluchtroute?

D ie e wige W iederkehr der E cht zeit »So wie Maler abstrakten Raum verstehen, verstehe ich abstrakte Zeit.« N am J une Paik

Wir brauchen Kunstwerke, die Echtzeit ent- und beschleunigen. Im Zeitalter des Web 2.0 und der sozialen Medien haben wir, wieder einmal, einen Rückschlag der globalen Echtzeit-Kultur erlebt. Die Konzepte, die Facebook und Twitter zugrunde liegen, sind überhaupt nicht Echtzeit, ganz im Gegenteil. Diese Plattformen synthetisieren alle unterschiedlichen Zeiten auf dem Globus und präsentieren eine quasi-neue Erfahrung historischer Zeit: eine, die sich entfaltet, wenn wir auf unsere Timeline zugreifen. Streaming-Medien dagegen haben die Fähigkeit, live zu sein, so wie das Radio, aber meist wird eine Datei von einer Datenbank gesendet. Teil eines Live-Events zu sein, ist eine aufregende Erfahrung, besonders wenn sie mit Chats und Online-Calling-Services wie Skype kombiniert wird. Live über Twitter zu berichten, kann ein Grenzfall sein, da es offensichtlich verzögert und sehr persönlich ist. Wenn es einen Aspekt gibt, den die heutige Start-up-Kultur ignoriert, dann ist es die weitere Erkundung von Peer-to-Peer-Echtzeit (ein Grund dafür könnte die niedrige Geschwindigkeit der allgemeinen Internet-Konnektivität in den USA sein, die die massenhafte Nutzung neuer Echtzeit-Networking-Tools behindert). Fernanwesenheit wahrzunehmen, kann ein subversives Potential haben, das erst noch erforscht werden muss. Bisher bleiben die wahren Innovatoren in diesem Bereich lokale/freie/Piraten-Radioinitiativen auf der ganzen Welt. Brecht und Guattari, wir bleiben dran!

E ine M ikro -S oziologie der Tech -E lite Corey Robin schreibt »Die Konservativen haben uns ersucht, ihnen nicht zu gehorchen, sondern sie zu bedauern – oder ihnen zu gehorchen, weil wir sie bedauern. Konservative sind nicht zufrieden mit Erleuchtung. Sie wollen Restauration, eine Möglichkeit, die sich durch die neuen Kräfte der Revolution und

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Gegenrevolution bieten.«14 Die Neocons, wie Robin sie beschreibt, betrachteten die Welt als ihre Bühne, anders als ihre Unternehmenspendants. Sie handelten mit Ideen und sahen die Welt als eine Landschaft ihrer intellektuellen Projektion. Die Cybercons, diejenigen die im Silicon Valley herrschen, haben eine deutlich andere Mentalität. Warum sich die Mühe einer Invasion im Irak machen, wenn man in der Zwischenzeit ein Facebook-Imperium auf bauen kann? Silicon Valley mag die neue Oberschicht sein, aber die Rolle einer ›regierenden Klasse‹ haben sie an eine zweitrangige Elite ausgelagert, die die Überreste des Staates für sie verwaltet. Die These hier setzt sich radikal von der Unterscheidung ab, die C. Wright Mills in The Power Elite (1956) vornimmt – zwischen Berühmtheiten, die vor allem die Bevölkerung blenden, und denjenigen, die an der Macht sind. Bereits 1969 bemerkte G. William Domhoff aus Santa Cruz die Schwächen dieser Analyse. Domhoff beschäftigte sich mit sozialer Mobilität, der Rolle von Frauen, Heiratspolitik und der Rolle des ›Jet Set‹ als Teil des Spektakels. Aber warum lag er, immerhin im Jahr der amerikanischen Mondlandung und der Erfindung des Internets schreibend, so falsch in Bezug auf die Computertechniker, die vor seinen Augen wie verrückt kodierten? Die Rolle von Technikern in der Gesellschaft wurde zwar beforscht, die politische Theorie allerdings konzentrierte sich vor allem auf ihre untergeordnete Position in totalitären Regimes. ›Wer schmeißt den Laden?‹ ist heutzutage, wo Medienprofis zu kämpfen haben, um ihre ökonomische Position in den unteren Rängen der Mittelschicht zu halten, eine völlig irreführende Frage. Heute leben wir in der Ära des Pick­ etty-Konsenses. Die Frage ist nicht mehr, ob ›die Machtelite‹ den politischen Prozess dominiert oder nicht, sondern welche Interessen genau diese Machtelite steuern. Die Bevölkerungsverwaltung war ein Problem des Wohlfahrtstaates im Kalten Krieg. Im neoliberalen Zeitalter der Mediennetzwerke muss das Bevölkerungsmanagement wieder von vorn anfangen: es ist letztlich an private Überwachungsfirmen, Polizei und Armee übergeben worden, und die Elite kümmert sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Für die aufstrebende Tech-Elite des Silicon Valley gibt es in der Welt keine Harmonie, nur Disruption (der anderen). In dieser Welt gibt es keine grundlegenden Konflikte (außer dem zwischen Markt und Staat). Disruption ist ein natürlicher, historischer Prozess. Es ist Zeit für den Staat, von der Bühne abzutreten, also pack’ bitte deinen Koffer und räume das Feld. Die Wahl ist nicht mehr zwischen reaktiv und ad hoc (die Clintons und Obama) und dem proaktiven, schlagkräftigen Ansatz des Bush-Clans. Darum haben einige im Valley ihre eigene US-Außenpolitik entwickelt, außerhalb der Logik von Falken versus Tauben.15 14 | Corey Robin, The Reactionary Mind, New York: Oxford University Press, 2011, S. 98. 15 | Es bleibt abzuwarten, ob Google den Trend setzen oder mit seinen außenpolitischen Bemühungen die Ausnahme bleiben wird, wie in Veröffentlichungen von Eric

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Im Gegensatz zur Logik der Crowd mangelt es dem Valley an Imagination und der Willenskraft, sich der Masse entgegenzustellen. »Eine herausragende Führerschaft basiert auf dem Einzelnen und wird nicht von einer massengesellschaftlichen Gemeinschaft produziert werden«, sagte Kissinger einmal. Was ist, wenn man diese Regel ignoriert und sich eigene politische Ziele setzt (so wie Elon Musk mit seinem Ziel, den Mars zu besuchen)? Was passiert, wenn eine Elite streikt? Die Silicon Valley Tech-Elite weigert sich zu regieren. Sie wollen nicht an irgendeinem ›Global Governance‹-Spiel mit ›vernünftigen‹ Spielern wie NGOs, staatlichen Agenturen, internationalen Körperschaften und herkömmlichen globalen Konzernen teilnehmen. Die libertären Nerds weigern sich auch, das Celebrity-Spiel zu spielen, und zeigen wenig Interesse an den Medienkulten der Selbstdarstellung. Nicht der Mühe wert. Warum Kompromisse machen? Sag’s in Code. Meinung ist … so 20. Jahrhundert. Der libertäre Konsens der Start-up-Szene geht davon aus, dass der Staat nicht mehr übernommen und reformiert werden sollte, sondern dazu gezwungen, seine Größe zu reduzieren  – um schließlich zu zerfallen. Öffentliche Programme hätten vermutlich schon vor Jahrzehnten privatisiert werden sollen. Am besten erreicht man das, indem man die Existenz der Politik an sich ignoriert. Die kalifornische Doktrin der Herrschaft wurde bereits als eine zeitgenössische Adaption von Ayn Rand dekonstruiert. Aber wo ist Superman? Wo ist unser Howard Roark? Was ist eine Kritik des Altruismus ohne die heroische Figur, die sie äußert? Cyberlibertäre ignorieren gern den Staat. Die meisten Geeks sympathisieren mit dieser Haltung, doch fehlt ihnen die Triebkraft der Abolitionisten und sie bevorzugen eher einen soften, indifferenten Ansatz, der keine Konfrontation mit den Autoritäten provoziert. Letztlich arbeiten Geeks für jeden. Wer auch immer herrscht, wird zwangsläufig Programmierer einstellen, weil ohne sie nichts läuft. In der Start-up-Szene hat das zynische Modell der ›Disruption‹ die cyber-utopischen Visionen der 1990er ersetzt. Der Impetus ist nicht mehr, eine parallele Welt zu bauen, sondern schnell in einen existierenden Markt reinzugehen und die Spielregeln zu ändern. Die Idee, eine bessere Welt in all ihrer Virtualität zu konstruieren, ist überholt. Zwar sind die aufklärerischen Vorstellungen von der Macht der Ideen und der Notwendigkeit, sie zu verbreiten, geblieben, aber sie bieten keine alternativen Gesellschaftsentwürfe mehr an. Stattdessen schöpft der IT-Sektor parasitär existierende Werteflüsse ab und erbeutet große ökonomische Entwicklungsfelder, von ›Smart Cities‹ bis zur Nahrungslogistik. Diese numerische Minderheit, 1994 von Kroker und Weinstein als die erntende ›virtuelle Klasse‹ brillant beschrieben, ist nicht im

Schmidt und Jared Cohen dokumentiert, vgl. The New Digital Age, London: John Murray Publishers, 2013.

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Begriff das Ruder in die Hand zu nehmen.16 Nicht einmal Verschwörungstheorien beschreiben ihren Aufstieg präzise. Was tut diese herrschende Klasse, wenn sie herrscht? Sie relaxt, eingetaucht in ihren Autismus. Die Weigerung des Banalen, das Kommando zu übernehmen. Offensichtlich brauchen wir hier eine neue politische Theorie und zuerst eine Auseinandersetzung mit unserer Enttäuschung ob dieser Antwort. (»Das kann doch nicht wahr sein!« usw.) Willkommen im Universum von Michel Houellebecq. Weder Hegel noch Freud können diese schwebenden Zustände der Implosion und der Langeweile, die uns einkapseln, angemessen erklären. Lass uns wegschauen und uns nicht damit beschäftigen, vielleicht war der Rechner letztlich nur eine Modeerscheinung. Das wäre die kontinental-europäische Antwort: Irgendwann war ICT mal revolutionär, wie die Dampfmaschine, aber wir haben den Moment verpasst, wie Pferde, die einmal für den Massentransport notwendig waren, jetzt aber nur noch ein Hobby für die Reichen sind. So wie Jaron Lanier das Valley beschreibt, herrscht dort eine dorfartige Atmosphäre, in der es nicht als Verrat gilt, wenn man seinen Job aufgibt, um für einen Konkurrenten zu arbeiten. Was zählt, ist das allgemeine Interesse am übergeordneten Netzwerk. Die kalifornische Tech-Elite feiert die post-apokalyptischen Cyberpunk-Verhältnisse und zieht sich auf eine selbstgebaute ›Netzinsel‹ zurück. Diese langfristige eskapistische Strategie hat eine viel tiefer greifende Wirkung als die sadistische neoliberale Agenda, die darauf ausgerichtet ist, alle Umverteilungsfunktionen des Wohlfahrtstaates der Nachkriegszeit abzuschaffen. Auch wenn Thatcher behauptete, es gebe keine Gesellschaft, bleiben doch Teile davon übrig, die noch platt gemacht werden müssen. Gemäß ihrer Verpflichtung, die (sozialistische) Vergangenheit auszulöschen, stecken die Neoliberalen im Rache-Modus fest und können dem (mentalen) Zustand von permanentem Abriss, Haushaltskürzungen, Austerität, Privatisierung und Zwangsvollstreckung nicht entkommen. Gier und Groll sind zwei Seiten einer Medaille. Restrukturierung und prekäre Beschäftigungsbedingungen führen zu Depression. Festgefahren in dieser niemals endenden Abwärtsspirale brauchen die Neoliberalen ironischerweise einen starken Staat, um ihre repressive Agenda der Gewalt, Überwachung und Kontrolle durchzusetzen. Dennoch haben sich die Techno-Libertären in ein Stadium nach der Krise bewegt und nehmen an, dass sie die technischen Lösungen für alle sozialen, politischen und ökologischen Probleme besitzen (Morozovs ›Solutionismus‹). Die angenommene ›Komplexität‹ von Problemen ist nur eine weitere Vernebelung: die Lösungen sind bereits da, wir müssen sie nur skalieren. Die Abschöpfung von Mehrwert durch die Neuen Zwischenhändler wie Google, Facebook und Amazon muss unsichtbar geschehen, sub rosa. Jegli16 | Arthur Kroker/Michael Weinstein, Data Trash, The Theory of the Virtual Class, Montreal: New World Perspectives, 1994.

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che kritische Aufmerksamkeit für die Methoden dieser Konzerne, wie durch die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, gilt als zutiefst unerwünscht. Wir sollen nicht verstehen, wie die Ökonomie des Algorithmus funktioniert. In unserer Netzwerkgesellschaft sind die Massen zu individuellen Nutzern von Social-Media-Plattformen geworden, z. B. in Multi-Player Online Games. Um die Werte der Tech-Elite zu erforschen, muss man einfach nur das Videospiel Elite: Dangerous installieren und die Schlacht beginnen. Auf den ersten Blick »scheint die Föderations-Gesellschaft auf demokratischen Prinzipien zu fußen, in der die Oberhäupter ins Amt gewählt werden«. In Wirklichkeit allerdings »schmiert Unternehmens-Loyalität die Maschine, und der Raum der Föderation ist ein Schlachtfeld des Kommerzes. Kommerzielle Organisationen konkurrieren so aggressiv, wie es das Gesetz zulässt, um die Zeit und Aufmerksamkeit des Bürgers, der von Werbung bombardiert durch’s Leben geht.« Die Spielanleitung fährt fort: »kulturell gesehen, ist die Föderation tolerant gegenüber manchen Dingen (wie Religionen), aber vollkommen intolerant gegenüber Drogenkonsum, politischem Aktivismus und bestimmten Kulturen. Eine große Anzahl an Dingen ist illegal, wie Sklaverei, Klonen und bestimmte Betäubungsmittel.« Hört sich das bekannt an? Die Unterscheidung zwischen einer herrschenden und einer beherrschten Klasse, die der italienische Politikwissenschaftler Gaetano Mosca einmal vornahm, ist obsolet geworden.17 Im 21. Jahrhundert ist es eine Ehre, ein Privileg, den Status eines Subjekts (aka Nutzer) zu erlangen. Die größte Gefahr für die globale Erwerbsbevölkerung liegt darin, sich selbst (und ihren eigenen Geräten) überlassen zu sein. Millionen kämpfen für das Recht, ausgebeutet zu werden. Die Oberschicht braucht keine Heerscharen von Sklaven mehr, um ihre Vorherrschaft zu erhalten, und kann die Produktion in einem Maß outsourcen, dass alle Abhängigkeiten verwischen und unsichtbar werden. Für eine digitale Solidarität ist es überlebenswichtig, die globalen Infrastrukturen ›sichtbar zu machen‹ und den Mulitudes der anonymen Arbeiter (die alle Smartphones, eine Social-Media-Präsenz usw. besitzen), die unsere fragile Welt am Laufen halten, ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Wir haben noch nicht einmal damit begonnen, eine kollektive Vorstellung davon zu entwerfen, wie eine solche planetarische Erreichbarkeit genutzt und geformt werden könnte. Im besten Fall sind die Tech-Eliten frühe Anwender ihrer eigenen Gadgets. Zur Oberschicht zu gehören, ist allein eine Frage des Stils, kein unter Hipstern geteiltes Kulturideal. Ihr permanenter Zustand des Rückzugs bedeutet nicht, dass die Programmierer sich über die Gesellschaft erhoben hätten – ganz im Gegenteil. Gut in der Popkultur mariniert, gibt die Hoodie-Kabale in keiner Weise vor, besser als der Rest zu sein. Die heutigen höheren Kreise sind high – 17 | Zitiert in T. B. Bottomore, Elites and Society, Harmondsworth: Penguin Books, 1966, S. 9.

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auf Drogen. Ist das unser Adel? Hier handelt es sich nicht um ein verstecktes Übermensch-Syndrom  – null Charisma, nicht einmal das eines Technikers. Die Exzellenz ist im Code versteckt und sollte nirgendwo anders gesucht werden. Die Aquädukte unserer Zeit können auf Github bewundert werden. Ob du willst oder nicht, hier müssen wir unseren Leonardo da Vinci allozieren. Die bestimmende Kunst unseres Zeitalters wird nicht Bruce Nauman sein. Stattdessen sind wir dazu verdammt, auf den Höhen mittelmäßiger, schablonierter virtueller Umgebungen zu schweben. Für alle, die sich für die Schnittstelle zwischen Geek-Kultur und Geisteswissenschaften interessieren, ist die Bibel (immer noch) Alan Lius Laws of Cool. Bitte diesen Klassiker noch einmal lesen. Es gibt keine Spur von einer Avantgarde, nicht einmal eine einzige historische Referenz. Anders als für traditionelle herrschende Klassen gilt Kunst für die Valley-Tech-Elite nicht als der höchste Wert im Leben. Autos vielleicht? Der Kunstmarkt hat sich noch nicht mit dieser im Entstehen begriffenen Realität befasst, die Wohlfahrt auch noch nicht. Frei von Schuld sieht die Tech-Elite keinen Bedarf, ›der Gesellschaft etwas zurückzugeben‹, schon gar nicht, eine Patenschaft für einen lebenden Künstler zu übernehmen, die armen Trottel. Stattdessen investiert sie in noch mehr Tech (das gilt auch für die ehrenwerte Gates Foundation). Die Ausnahme war der Finanzier George Soros (leider ein Ostküsten-Wall-StreetTyp) und seine Open Society Foundation, der sein Netzwerk zeitgenössischer Kunstzentren, das er in Osteuropa betrieb, allerdings nach einem Jahrzehnt im Stich ließ, als entschieden wurde, dass die Europäische Union und einzelne Staaten in zeitgenössische Kunst-Infrastruktur investieren sollten (was sie natürlich nicht taten). Innerhalb der Tech-Zirkel ist die Kritik an der parlamentarischen Demokratie selbstverständlich geworden. Ihre Vorstellung von Post-Demokratie ist weder ein Anliegen noch ein Genuss, sondern eine halbherzige Realität, der man kaum entkommen kann. Korruption gilt als ein Symptom des Mangels an Transparenz und wird als ein Nebenprodukt des Kults der Deliberation im früheren Westen präsentiert. Die Rechnerlogik ist eine bevorzugte Gegebenheit, die nicht debattiert werden muss. Politisches Geschnatter stiehlt nur wertvolle Zeit, die wir genutzt haben könnten, um Techno-Governance-Lösungen gegen die Erderwärmung und Ebola, für effiziente Nahrungsverteilung und andere noble Anliegen zu implementieren. Die massiven politischen Lobby-Bemühungen von Google in Washington D. C. und Brüssel sollten in diesem Licht betrachtet werden. Ihr Ziel ist das Recht von Unternehmen, in Ruhe gelassen zu werden, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen.

Occupy und die Politik der Organisierten Netzwerke

»Ich habe meine Network Externalities vergessen« – »Wir gehen langsam, denn wir werden weit gehen.« (Zappatista-Sprichwort) – »Den Sinn des Lebens individuell zu finden, ist eine anthropologische Illusion.« (D’Alisa/Kallis/Demaria) – »Wir brauchen Hilfe, und sie muss von Leuten kommen, die Anzüge tragen, zügig studiert haben, den Jargon beherrschen und bereit sind, für ihre Sache zu sterben.« (Jonathan Brun in Adbusters) – »Die Seele sieht nichts, was sie bei genauerer Betrachtung nicht bedrückt.« (Pascal) – »Ich fühle mich durch unveröffentlichte Suite-A-Algorithmen geschützt.« (J. Sjerpstra) – »Ich bin auf der Shitlist eines erbosten Eichhörnchens.« – Komm zu den Object Oriented People – »Wenn Philosophie scheiße ist – du aber nicht.« – »Man sieht sich im Sinkloch der Dummen, um 17 Uhr.« – »Ich hab mir mein Dating-Profil von einem Ghostwriter umschreiben lassen.« – »Darf ich Ihnen den Mitherausgeber der Idiocracy Constitution vorstellen« – Der militärisch-unternehmerische Komplex: »Sie sind übel genug, das zu tun, aber sind sie auch verrückt genug?« – »Es sollte wirklich so etwas geben wie Anti-Kickstarter für Dinge, für die man zahlen würde, damit sie nicht geschehen.« (Gerry Canavan) – »Das Verschwinden der Sozialen Medien: Ruinen-Ästhetik in Peer-to-Peer-Unternehmen« (Dissertation) – »Vergiss den Datenforscher, ich brauche einen Daten-Hausmeister.«

Net.activism ist erwachsen und riesig geworden, vergleichbar mit Rassen- und Gender-Kämpfen und der Debatte um den Klimawandel.1 Dies ist das Zeitalter 1 | Dieses Kapitel ist Teil einer laufenden Kollaboration mit Ned Rossiter. Ich betrachte ihn als Mitautor dieses Textes, da unsere Konzepte und Materialien nicht wirklich unterschieden werden können, auch wenn vieles in diesem Aufsatz speziell für diese Gelegenheit geschrieben wurde. Das Argument kann als Update des Schlusskapitels des dritten Buches in dieser Reihe, Zero Comments (2007), und des Aufsatzes »Organising Networks in Culture and Politics« im vierten Band von Networks Without a Cause (2011) gelesen werden.

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von WikiLeaks, Anonymous, Denial-of-Service-Angriffen auf lebenswichtige Infrastrukturen und des NSA-Whistleblowers Edward Snowden, die alle die globale Imagination erobern. Es ist eine Welt, die seit Jahrzehnten für die Institutionen eine terra incognita geblieben ist. Kommunikation ist hier kein Luxus mehr und schlägt in ein viel größeres Thema um, das die einst für das Ghetto entworfenen Taktiken hinter sich lässt. Doch wie messen wir Größe? Wir brauchen gar nicht weiter auf Social-Media-Analyse-Tools zu schauen, um uns vom Umfang des Phänomens zu überzeugen. Der heutige Netzaktivismus verbindet Interaktion mit Aktion und legt die Organisationsfrage auf den Tisch. Wie gestalten wir die Kunst der kollektiven Koordination? Wie bewegen wir uns über das Liken hinaus und inszenieren tatsächliche Ereignisse, die intervenieren? Gibt es einen Platz für Technologie im Entscheidungsfindungsprozess? Und wie lassen sich diese von den sozialen Medien angetriebenen Bewegungen mit traditionellen institutionellen Formen der Politik vergleichen, wie NGOs oder politischen Parteien? Werden sie jemals zu nachhaltigen Formen von Selbstorganisation finden? Wir schlagen uns immer noch damit herum, den Geschehnissen im Jahr 2011 Sinn abzugewinnen, dem ›verspäteten‹ Jahr des Protests, das mit dem Arabischen Frühling begann und in der Occupy-Bewegung kulminierte, so akkurat zusammengefasst von Slavoj Žižek in seinem 2012 erschienenen Buch The Year of Dreaming Dangerously. Warum brauchte es drei bis vier Jahre nach der globalen Finanzkrise 2008, bis diese Bewegungen sich entfalteten – und warum interpretieren wir diese Ketten globaler Ereignisse seit ebenso vielen Jahren? Brauchten die Leute 2012 eine Pause (»Pause for the People«?), bevor die nächste Protestwelle in Bulgarien, Schweden, der Türkei, Brasilien und der Ukraine stattfand?2 Warum entwickelte 2011 keine größere politische Wucht? Warum neutralisierte sich die Massenmobilisierung politischer Leidenschaft und wurde vom vorherrschenden Status quo so schnell absorbiert? Ist die Energie des Aktivismus wirklich so unfähig, politisch-technische Infrastrukturen aufzubauen, die über das Spektakel des Ereignisses hinaus überleben? Nutzen wir unsere Langsamkeit-by-Design optimal, um die Taktiken von Bewegungen zu überdenken? Und warum ist es so schwierig für Bewegungen, sich neu zu gruppieren und auf die Bühne zurückzukehren? David DeGraw bemerkte: »Durch Anonymous, Occupy und die 99-ProzentBewegung haben wir gemeinsam gezeigt, dass dezentrale, selbstorganisierende Netzwerke gleichgesinnter Leute, die sich zusammentun, die Welt in Brand 2 | Slavoj Žižek schreibt über die »unnatürliche relative Ruhe des Frühlings von 2012« und bemerkt: »Was die Situation so unheilverkündend macht, ist das alles durchdringende Gefühl der Blockade: es gibt keinen klaren Weg hinaus, und die herrschende Elite verliert deutlich ihre Fähigkeit zu herrschen.« The Year of Dreaming Dangerously, London: Verso Books, 2012, S. 197.

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setzen können. Allerdings fehlten uns eine Exit-Strategie und die notwendigen Ressourcen, um eine sich selbst erhaltende Bewegung zu schaffen, die wirklich den Wandel und die Evolution der Gesellschaft erreichen kann, die, wie wir alle wissen, nötig sind.«3 Die Diskussion beschränkt sich keinesfalls auf die (überbewertete) Rolle der sozialen Medien und Mobiltelefone bei diesen Massenmobilisierungen. Wir müssen uns fragen: Was bedeutet diese hermeneutische Verzögerung im Zeitalter digitaler Echtzeit-Netzwerke, wo Ereignisse mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind? Michael Levitin zufolge war »Occupy im Kern eine in ihren eigenen Widersprüchen gefangene Bewegung: voller Führer, die sich für führerlos erklärten, regiert von konsensbasierten Strukturen, denen kein Konsens gelang und die die Politik transformieren wollten, aber sich weigerten, politisch zu werden. So ironisch es scheint, der Einfluss der Bewegung, den viele nur im Rückspiegel sehen, wird im Laufe der Zeit stärker und deutlicher.« 4

Sogar die Welt der Konzerne schließt sich der Reflexionsextravaganz an, zeigt ihre Sorge um die führerlosen Strategien und erinnert uns daran, dass die Nutzung sozialer Medien allein keinen Plan hervorbringt. Die außenpolitischen Strategen Eric Schmidt und Jared Cohen bei Google bemerkten: »Künftige Revolutionen werden viele Prominente hervorbringen, doch dieser Aspekt bei der Bildung von Bewegungen wird die Entwicklung von Führungskompetenz verzögern, die für die Durchführung des Auftrags benötigt wird. Die Technologie kann dabei helfen, Leute mit Führungskompetenzen zu finden – Denker, Intellektuelle und andere –, aber sie kann sie nicht erschaffen. Volksaufstände können Diktatoren stürzen, aber sie sind hinterher nur dann erfolgreich, wenn die Opposition einen guten Plan hat und ihn ausführen kann. Eine Facebook-Seite zu bauen, stellt keinen Plan dar; nur echte operative Kompetenzen bringen eine Revolution zu einem erfolgreichen Ende.« 5

Es scheint, als benötige das Silicon Valley selbst etwas Introspektion, da es bisher wenig Interesse an der Demokratisierung ›operativer Kompetenzen‹ gezeigt hat. Stattdessen kreieren die meisten Social-Media-Plattformen absichtlich diffuse ›Impression Clouds‹; private Erfahrungen und Mikro-Meinungen wer3 | Siehe: http://daviddegraw.org/manhattan-project-for-the-evolution-of-society/, 20. Mai 2013 4 | Michael Levitin, »The Triumph of Occupy Wall Street«, The Atlantic, 10. Juni 2015. 5 | Eric Schmidt/Jared Cohen, The New Digital Age: Reshaping the Future of the People, Nations and Business, London: John Murray, 2013, S. 129. Um ein besseres Verständnis der Unternehmens-Agenda der beiden zu erlangen, ist Julian Assanges Einleitung »Beyond Good and ›Don’t Be Evil‹« seines Buches When Google Met Wikileaks sehr zu empfehlen.

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den dann von Maschinen funktionstüchtig gemacht. Die Tech-Elite hat weder Problemlösungs- noch effektive Kommunikationstools priorisiert, geschweige denn Online-Entscheidungsfindungsverfahren. Die Idee der ›Start-ups‹ ist bewusst auf kurzfristige Businessmodelle reduziert worden. Warum können wir kein Start-up mit einem Non-Profit-Projekt machen? Jemals davon gehört? Man stelle sich Start-ups vor, die Risikokapital kategorisch ablehnen und mit höherer Bildung und Kultur zu tun haben. Hört sich fast europäisch an. Sie würden taktisch ignoriert werden, und natürlich existieren sie nicht, vor allem nicht in Europa, das sich im eisernen Griff des neoliberalen unternehmerischen Denkens, verknüpft mit Austeritätsregimen, befindet. ›Walled Gardens‹ wie Facebook und Twitter machen es schwierig, den wirklichen Umfang und Einfluss der eigenen halb-privaten Unterhaltungen einzuschätzen (einschließlich des öffentlichen ›Klicktivismus‹ à la Avaaz). Wird die ›direkte Aktion‹ noch symbolischer (und informationeller) als sie ohnehin schon war? Der Hybrid aus urbanem Raum und Cyberspace, wie er in den neunziger Jahren erträumt wurde, ist ein Faktum, wenn man auf die Bewegung der Plätze schaut (von Tahrir und Puerta del Sol bis Taksim, Euromaidan und Hongkong). Neben einigen wenigen Internet-Gurus wie Clay Shirky und Jeff Jarvis, die solche ›Facebook-Revolutionen‹ lediglich als gigantische Input-Instrumente im Namen des ›Citizen-Journalism‹ lesen, angeblich ausgeführt im Namen US-amerikanischer (Markt-)Werte, gibt es wenig Geduld unter Gastkommentatoren, im Detail zu untersuchen, was auf dem Spiel steht (mit Ausnahme von zum Beispiel Paolo Gerbaudo6, Zeynep Tufekci7 und Eric Kluitenberg8).

6 | Wissenschaftler-Aktivist und Autor von Tweets and the Streets, London: Pluto Press, 2012. Der Kernsatz in seinem Buch ist: »Es ist eher Kommunikation, die organisiert, als Organisation, die kommuniziert.« (S. 139). Auf organisierte Netzwerke zu fokussieren, bedeutet jedoch nicht, »flüssiges Organisieren« oder »choreographisches Führen« zu betonen. Das Problem mit dem Flüssigen ist, dass es nach seinem Verdampfen kaum je als Feuchtigkeit zum selben Fleck zurückkehrt. Wir sollten eher soziale Bindungen stärken, um das Problem der Zeitlichkeit zu überwinden. In Gerbaudos Sicht bleibt Organisation ein Problem des Überblicks und der Koordination. Statt »über die Fragmente hinaus« zu gehen, wird hier vorgeschlagen, die Fragmente zu stärken. 7 | Siehe zum Beispiel ihren Blogpost, »Is there a Social-Media Fueled Protest Style?«, 1. Juni 2013, http://technosociology.org/?p=1255 8 | Eric Kluitenberg, Legacies of Tactical Media, Institute of Network Cultures, 2011. Siehe auch »Affect Space, Witnessing the Movements of the Squares«, ein Aufsatz, den er als Teil seiner Dissertationsforschung an der Universität Amsterdam schrieb (März 2015), www.academia.edu/12867911/Affect_Space__Witnessing_the_Movement_​ s_of_the_Squares

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Sollten wir von einem theoretischen Defizit sprechen oder eher von einer Überproduktion von Echtzeit-Berichterstattung? ›Social Grooming‹ und eine süchtig machende Kultur der Selbstdarstellung mögen soziologische Fakten sein, doch sie sagen überraschend wenig zu den Fragen der Organisation aus, die ich hier stelle. Glücklicherweise braucht man nicht mehr nach Engagement zu rufen. Die Unzufriedenheit gedeiht. Das Zeitalter der Gleichgültigkeit ist vorüber. Doch wie wird Solidarität heute gebildet? Geht es nur darum, politische Energien zu ›erfassen‹ und zu ›kanalisieren‹, die um uns herum schweben? Egal wohin man schaut, man bekommt das Gefühl, dass Probleme sich stapeln, dennoch steckt das Bewusstsein für die Dringlichkeit noch in den Kinderschuhen, und wir haben nicht einmal im Entferntesten damit begonnen, das volle Potential des Internets für die Herstellung von Organisationsmaschinen, diskursiven Plattformen und Werkzeugen kollektiven Verlangens auszuloten. Aktivismus hat sich nie auf den langsamen und unsichtbaren Prozess der Interessenvertretung beschränkt. Es kann langweilig sein, sich selbst als Bürger zu definieren und die Mainstream-Medienberichterstattung zu kritisieren. Wir haben das langdauernde 20. Jahrhundert vor einer ganzen Weile verlassen.9 Der Kampf dreht sich nicht mehr um Engagement und den ›richtigen‹ Inhalt. ›Movimentalismus‹10 ist auch keine Vorform von ›kollektiver Bewusstheit‹. In vielen Formen institutioneller Politik ist die Rolle der ›Zivilgesellschaft‹ auf die eines Input-Instruments reduziert. Danke, wir haben eure Botschaft erhalten, jetzt haltet den Mund. Das widerspricht einem anderen neoliberalen Satz, der besagt, dass Bürger sich nicht nur beschweren, sondern stattdessen Lösungen ›verkörpern‹ (und nicht einfach nur vorschlagen) sollten. Wir haben nur dann ein Recht, uns zu beschweren, wenn wir Alternativen zur Hand haben, die 9 | Leaving the 20th Century ist der Titel der ersten Anthologie von situationistischen Texten auf Englisch, zusammengestellt von Chris Gray und 1974 veröffentlicht. Der Titel stammt aus einem Text von 1964, in dem steht: »Es ist höchste Zeit, der toten Zeit ein Ende zu setzen, die dieses Jahrhundert dominiert hat, und die christliche Ära mit demselben Streich zu beenden. Der Weg zum Exzess führt zum Palast der Weisheit. Keiner hat sich bisher so sehr bemüht wie wir, das 20. Jahrhundert zu verlassen.« Das Konzept des organisierten Netzwerks kann als Beitrag dazu gelesen werden, was als nächstes nach der Avantgarde kommt. In diesem Sinne haben wir die post-situationistische Periode noch nicht hinter uns gelassen. Die Unfähigkeit von Ereignissen, trotz aller verfügbaren – und genutzten – globalen Kommunikationstools, sich zusammenzuschalten und Kettenreaktionen zu erzeugen, ist bezeichnend. 10 | Verweis auf eine etwas obsessive (italienische) Manier, von »der Bewegung« als einer lebenden Entität zu sprechen, mit ihrem eigenen Willen, der (nicht) dies oder jenes tut, denkt, handelt, in Lethargie verfällt und dennoch verlangt, diskutiert, weitergeht, überwindet, kreiert und zurückschlägt.

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nachweislich funktionieren. Heutige politische Bürokratien werden mit Wut nicht mehr fertig. Ihre Taubheit bringt wiederum die Volksstimme in Rage. Eine weitere Folge auf der Seite der Autoritäten ist Repression wegen nichts, Ausbrüche einer exzessiven Zurschaustellung von Macht und aus dem Nichts auftauchende Gewalt, die zu erklären scheinbar niemand in der Lage ist. Heute öffentlich zu widersprechen führt allzu leicht zu Festnahmen, Verletzungen und Schlimmerem: schießenden Polizisten, die Demonstranten töten. Widerstand erwächst aus einer plötzlichen existentiellen Krise. Es gibt von allem und jedem ein 2.0: Rassismus, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Migration, Armut und Umweltverschmutzung. Unter diesen Umständen zu handeln, ist keine Geste der Langeweile oder des Wohlstands. Aktivisten müssen Feuer bekämpfen. Dennoch, Dringlichkeit an sich übersetzt sich nicht so einfach in eine spezifische politische Form. Wir müssen sie immer wieder und wieder ›erfinden‹. Die Schaffung solcher ›neuen institutionellen Formen‹ wird uns nicht abgenommen. »Das Leuchten unserer Institutionen lässt mich an funkelnde Sterne denken, von denen Astronomen berichten, dass sie vor langer Zeit gestorben sind«, sagt Michel Serres und bemerkt, dass es Philosophen nicht gelungen sei, künftige Wissensformen zu antizipieren. Was sind also unsere zeitgenössischen Formen? Wie wäre es mit radikalen Think Tanks oder ›Denkkollektiven‹? Können wir über die NGO-Bürokultur und das Start-up hinausdenken? Banden und Stämme sind soziale Einheiten der Vergangenheit, doch was ersetzt sie? Der Schwarm, der Mob, das Netzwerk? The Accelerate Manifesto schreibt: »Wir müssen eine intellektuelle Infrastruktur bauen«.11 Man denke an nachhaltige Netzwerke, die progressives Wissen verbreiten, mit starken Verbindungen zwischen allen Ländern und Kontinenten. Ja, es gibt die Verpflichtung, größere Strukturen zu repräsentieren und zu bauen, doch die Lawine katastrophaler Geschehnisse scheint nur zu wachsen. Anfänglich impulsiv, mutiert Aktivismus heute rapide zur informationellen Alltagsroutine. Das Problem ist nicht mangelndes Bewusstsein oder Engagement, sondern der Mangel an nachhaltigen Organisationsformen, in denen wir unsere Unzufriedenheit ausdrücken können, um dann darauf aufzubauen und sie in Lebensweisen umzuwandeln, die nicht um jeden Preis auf Ausbeutung und massive Zerstörung aus sind. Dies erklärt, warum sich die Aufmerksamkeit auf politische Parteien wie die Fünf-Sterne-Bewegung, Piratenparteien von Schweden bis Deutschland, Syriza in Griechenland, die Vereinte Linke in Slowenien bis zu Podemos in Spanien verschiebt, aber auch auf unkonventionelle Konzepte wie die Multitude und den Schwarm, die frische Kritik des Horizontalismus, den Kommunismus 2.0 von Jodi Dean und ande11 | »#Accelerate Manifesto« von Alex Williams und Nick Srnicek. Siehe: http://critical​ legalthinking.com/2013/05/14/accelerate-manifesto-for-an-accelerationist-politics/, 14. Mai 2013.

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ren, ebenso wie die entstehenden net.political-Entitäten, von WikiLeaks und Anonymous bis zu Avaaz. Die meiste Kritik an den sozialen Bewegungen ist bekannt, gerechtfertigt und vorhersagbar. Ja, Bewegungen wie Occupy »wenden beträchtliche Energie für den internen direkt-demokratischen Prozess und affektive Selbstvalorisierung statt für strategische Effizienz auf und vertreten häufig eine Variante von neo-primitivem Lokalismus, wie um der abstrakten Gewalt des globalisierten Kapitals eine fadenscheinige und flüchtige ›Authentizität‹ gemeinsamer Unmittelbarkeit entgegenzusetzen« (Accelerate Manifesto). Diese Kritik mag auf den US-Aktivismus zutreffen, scheint aber nicht die Situation in Südeuropa und im Mittleren Osten zu erfassen, wo kollektive Therapiesitzungen weniger Priorität haben. Aktivismus in Nord-West-Europa braucht kontroverse Debatten und weniger Konsens. Ein exklusivistischer Lebensstil signalisiert anderen implizit, dass sie nicht zum Stamm gehören und sich auch gar nicht darum bemühen sollten, ihm beizutreten. Das Dilemma mit Occupy war nicht seine Fixierung auf die eigenen Rituale der Entscheidungsfindung, sondern seine beschränkte Fähigkeit, Koalitionen zu bilden. Das Problem wurde zu einer Performativitäts-Falle. An einem bestimmten Punkt muss sich die Intensität der internen Debatte und der kollektiven Affirmation nach außen wenden und auf das einlassen, was sie verabscheut. Wenn Aktivismus sich selbst als Gegenkultur promotet, verringert sich die Fähigkeit seiner Meme, außerhalb des Problemkontextes zu reisen, und er beginnt, dem 99-Prozent-Slogan zuwiderzulaufen. Cyberpolitik steht einem ähnlichen Problem gegenüber: Wie können wir ihr libertäres/liberales Hipster-Image loswerden und die arbeitslosen Massen junger Leute weltweit politisieren, die niemals einen Anteil vom Megaprofit ›ihres‹ Google oder Facebook abbekommen werden? Wann sehen wir den ersten Nutzerstreik, um das Ende des Kostenlosen zu fordern? Im Aktivismus geht es darum, zu sagen: ›Genug ist genug; wir müssen uns erheben und etwas tun‹. Ablehnung ist grundlegend. Sag einfach Nein. Schrei heraus, dass du es nicht mehr erträgst. Berichte der Welt, dass es dich nicht mehr interessiert. Für die positivistische Managerklasse ist dies der schwierige Part, weil sie lieber den Schizo-Teil der heutigen Gesellschaft überspringen würde und nur mit vernünftigen und ausgeglichenen Leuten zu tun hätte, im Willen vereint, Bottom-up-Alternativen zu implementieren – perfekte Menschen, für die Widerstand eine rationale Wahl ist, nicht an körperliche Probleme oder existenzielle Zweifel gebunden. Positiv gesehen, kann eine Revolution wie jedes andere Ereignis gemanagt werden, das Logistik, Delegieren und verwandte Entscheidungsprozesse erfordert (den Social Noise, der damit einhergeht, eingeschlossen). Die Furcht geht immer noch um, dass alle Emotionen letztlich zu Stalinismus oder Faschismus führen. Es stimmt, dass die Verzweiflung des Rebellen oft in einem katastrophalen, gewalttätigen Geschehen endet, das durch die Agenda von anderen überdeterminiert wird.

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A utopoiesis der V ollversammlung Soziale Bewegungen, die das Modell der ›Vollversammlung‹ erprobten12, behaupten, dass sie die Demokratie (neu) erfinden. Die Betonung liegt auf neuen Modi der Konsenssuche für große Kreise, die sich im wirklichen Leben versammeln. Die Erfahrungen mit dem Modell der ›Vollversammlung‹ haben jedoch eine Black Box erzeugt, nämlich wie die Ausführung kollektiver Entscheidungen tatsächlich funktioniert. Was geschieht in einer ›Bewegung ohne Organisation‹, nachdem ein Konsens erreicht wurde? Und ebenso wichtig, wie schauen wir darauf zurück, wenn das Ereignis vorbei ist? Sobald das berauschende und erschöpfende Zusammenkommen aufgrund von Räumung und ähnlichem nicht mehr stattfinden kann, begeistern wir uns schnell für die »Performativität« des Chors der Wiederholung, die »konzertierten Aktionen des Körpers« (wie von Judith Butler beschrieben)13 und das soziale Spektakel der lebendigen Entscheidungsfindungsrituale öffentlicher Versammlungen. Statt Widerstand als Unterhaltung und die simulierte Politik inszenierter Medienevents zu kritisieren, besteht die hier vorgeschlagene Alternativroute darin, durch eine Vielzahl organisatorischer Säulen, die die zugrunde liegende Struktur einer Bewegung stärken, ein Gegengewicht zur Zentralität ritualisierter Versammlungen zu schaffen. Marina Sitrin und Dario Azzellini bemerken, dass »es eine wachsende Bewegung der Ablehnung gibt – und zugleich, in dieser Ablehnung, eine Bewegung des Erschaffens«.14 Doch was genau wird hier erschaffen? Es ist das Ereignis selbst, eine Manifestation des Sozialen, die innerhalb einer Temporären Autonomen Zone auftritt, die die monotonen Monaden des Alltags zerreißt. Das Ereignis ist das Ziel, ein reiner Akt der Selbst-Disruption. Dieses eine Mal leben wir in der Gegenwart. Tritt der Lonely Hearts Club Band bei, die bis tief in die Nacht jammt. Die Flucht vor der Banalität kann nicht allein inszeniert werden. Die Befreiung von der konsumistischen Gegenwart lässt sich nur in einem kollektiven Akt erreichen, der an religiöse Reue grenzt. Die aufgeworfenen Fragen und Forderungen sind oft alles andere als radikal – doch die Form wird es sein. Direkte Demokratie ohne eigenen Exekutivapparat, wie klein auch immer, kann leicht ein Spektakel ohne Folgen werden. Die Betonung des Horizontalen wird zunehmend ein Theaterstück. Anestis aus Athen berichtet von der Situation der großen Versammlung auf dem Syntagma-Platz: 12 | Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/General_assembly_(Occupy_movement) 13 | Aus der Ankündigung von Judith Butlers Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 2015. 14 | Marina Sitrin/Dario Azzellini, They Can’t Represent Us, Reinventing Democracy from Greece to Occupy, London/New York: Verso, S. 5.

Occupy und die Politik der Organisier ten Net zwerke »Wir stimmten über vieles ab, doch nichts, für das wir stimmten, hatte ein konkretes Ziel. Wir stimmten dafür, abzulehnen, für Metro- oder Bustickets zahlen zu müssen, aber am nächsten Tag ging niemand zur Metrostation oder zur Bushaltestelle, um mit den Leuten zu reden und sie vom Bezahlen abzuhalten. Wir stimmen dafür, dass wir eine neue Verfassung brauchen, ja … ha-ha, wir stimmten dafür, abzulehnen, für die nationalen Schulden zu zahlen. Na und? Es wurde uns klar, dass es einen Haufen Gerede gab, aber praktisch kein Handeln.«15

Die Vollversammlung ist keine machtfreie Zone. Wie in allen politischen Prozessen ist Agenda-Setting entscheidend, ebenso die Macht über den Exekutivapparat. Das »Bedürfnis einander zuzuhören«, ist ohne Zweifel ein Wert an sich – erzählt aber nur die halbe Geschichte. Die affektive und vertrauensbasierte Politik der Versammlungen erzeugt ein Gefühl der Sozialität, das viele Jahre verloren war. Demokratie, wie sie von den sozialen Bewegungen praktiziert wird, ist in erster Linie eine interne Angelegenheit, die auch gegen den Aufstieg einer impliziten, unsichtbaren Avantgarde aus spontan entstehenden sozialen Bewegungen zielt. Die Betonung liegt hier auf der Demokratisierung sozialer Bewegungen selbst, die sich in der Vergangenheit mit »disruptiven Individuen«, Macho-Persönlichkeiten und der »Tyrannei des Exzentrikers« auseinandersetzen mussten.16 Der abwesende Andere ist die stille Mehrheit, der liberale Mainstream. In vielen Fällen gibt es keine klare Trennung zwischen verschiedenen Faktionen. Dies ist der Hauptgrund dafür, warum die Vollversammlung darauf ausgerichtet ist, Konsens zu erreichen – den Exodus aus der ›fuzzy cloud‹. Bei dem Ritual geht es mehr darum, das Offensichtliche auszudrücken, als darum, grundlegende Differenzen zwischen rivalisierenden Faktionen zu überwinden, geschweige denn ein Programm und eine soziopolitische Infrastruktur umzusetzen, die nach der Ekstase des Events überleben. Die Vollversammlung zielt darauf, die Alltagssprache in Stromlinienform zu bringen. Die sich versammelnde Gruppe ist bereits homogen und alles, was sie tun muss, ist mittels Austausch von Argumenten herauszufinden, worin der Konsens besteht. Natürlich ist dies ein langwieriger Prozess, dessen Ergebnis vorher nicht bekannt sein kann. Antagonistische Politiken (wie von Chantal Mouffe beschrieben) sind hier auf seltsame Weise fehl am Platz.17 Das Haupt15 | Ebd., S. 96. 16 | Ebd., S. 64–65. Die zentrale Bedrohung, ist hier zu lesen, besteht darin, »dass Diskussionen von Individuen dominiert werden.« 17 | Ich stimme in dieser Hinsicht mit dem späten Tony Judt überein. In seinem politischen Testament Ill Fares the Land von 2010 schrieb er: »Die Disposition, anderer Meinung zu sein, abzulehnen und zu widersprechen – wie irritierend sie auch immer sein mag, wenn sie auf die Spitze getrieben wird – ist genau das Lebenselixier einer offenen Gesellschaft. Wir brauchen Leute, die eine Tugend daraus machen, der Mainstream-Meinung

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problem dieser Verfahren ist nicht ihre Reproduktion leerer Rituale oder ihre neuen, zwangsläufigen Formen der Exklusion, sondern die Annahme, dass die Vollversammlung die Gesellschaft repräsentiert und daher die Demokratie im Allgemeinen neu erfindet. Für einen kurzen Moment gibt es keine Lethargie mehr: wir überwinden die sektiererischen Gräben der Vergangenheit und erheben Anspruch auf eine neue Mehrheitsposition. Dies ist das Versprechen, vom inklusiven 99-Prozent-Slogan bis zur populistischen Rhetorik von Podemos 2014, das nicht mehr defensiv sein will, sondern das Selbstbewusstsein zurückfordert, das zum Sieg notwendig ist.18 Keine Faktionen mehr, keine Minderheiten mehr. Die Botschaft ist klar: wir sind endlich über die Fragmente hinausgekommen. Für einen Augenblick sehen wir Derridas »kommende Demokratie« vor unseren Augen aufscheinen. Nicht als ein System, sondern als eine demokratische Kultur in Aktion. Ob wir durch solche kurzen kollektiven Erfahrungen tatsächlich die Demokratie neu erfinden, bleibt fraglich. Was geschieht, wenn Versammlungen sich vergrößern – nicht nur hinsichtlich ihres Umfangs, sondern hinsichtlich dessen, was auf dem Spiel steht – und jenseits der Krise in einen dauerhafteren Modus eintreten? Das ist eine völlig andere Sache. Und erst dann wird die repräsentative Demokratie auf die Probe gestellt. Der stille, komische und etwas nervöse Kult der Handzeichen, die während Vollversammlungen auf blitzen, sieht für den anthropologischen Außenseiter merkwürdig aus. Die gestikulierende Menge scheint ein wachsendes Misstrauen gegenüber verbalem Ausdruck und Rhetorik auszudrücken. Man sagt, Handzeichen seien eine effektive Form der Kommunikation, faszinierend anzuschauen, daran teilzunehmen, sich darin zu verlieben. Wir sind nicht hier, um dieselben alten Argumente zu hören, was zählt, ist der beständige Fluss des ununterbrochenen (wenn auch langwierigen) Verfahrens. Nachdem man sich mit der sozialen Körpersprache vertraut gemacht hat, ist es ein Leichtes, zu beobachten, dass dieser NGO-Jargon, eingeführt von Affinitätsgruppen und gehütet von geschulten Moderatoren, sich nicht von dem anderer Entscheidungsfindungsprozesse unterscheidet. Trotz der vielen Stunden, die diese Form der zu widersprechen. Eine Demokratie des permanenten Konsenses wird keine Demokratie bleiben.« (S. 180) Natürlich war Judt ein ›Analogue Native‹ und erwähnt das Internet oder Medien nicht ein einziges Mal; Trolls passen daher nicht wirklich in dieses Modell. Nichtsdestotrotz müssen wir sichtbare und organisierte Faktionen fördern. Leninisten hassen das, weil Faktionen die organische Einheit bedrohen, wie sie von der Partei artikuliert und synthetisiert wird. Der Leninismus selbst züchtet Sektierertum, Verschwörungen und letztlich Ausschluss. Leider sind diese Fragen nicht Geschichte. Zum Glück gab es in der Theorie niemals Konsens und immer die Sorge, zu wem oder was man gehört. (https://la​ reviewofbooks.org/essay/rock-your-world-or-theory-class-needs-an-reality-upgrade). 18 | Siehe: Luke Stobart, »Understanding Podemos«, Teil 1–3, Nov./Dez. 2014, http:// left-flank.org/2014/11/05/explaining-podemos-1-15-m-counter-politics/

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Direktdemokratie braucht, wird sie als bemerkenswert effizient betrachtet, ideal für die Multitude unter Zeitdruck, die weiß, dass die Bewegung jederzeit zerfallen kann – und wird. Wir gehen in Übereinstimmung gemeinsam unter und verschwinden zusammen. Mit Jazz-Händen wedeln, Klarstellung fordern, einen Antrag zur Geschäftsordnung stellen, eine direkte Antwort geben und zustimmen oder anderer Meinung sein, alles trägt dazu bei, »die Meinungstendenzen während Debatten zu erfassen, an denen viele Leute teilnehmen«.19 Die ›Temperatur-Checks‹, eingebracht, um Abstimmungen zu vermeiden, zielen auf die kollektive Erfahrung eines sichtbaren Konsenses, der die drohende Möglichkeit von Faktionsbildungen außer Kraft setzt, die Bewegungen in feste Mehrheits-Minderheits-Pattsituationen zersplittern könnten.20 Die Real-Virtuell-Dichotomie der neunziger Jahre im Kontext neuer politischer Formen zu überwinden bedeutet, sowohl die gegenwärtige digitale Angst als auch Offline-Romantik als die billige Lösung zurückzuweisen. »Cutting the electronic leash« ist Unternehmenssprache dafür, Beschäftigten ein paar Stunden frei zu geben – keine revolutionäre Strategie. Doch die Arbeit vor Ort, in den Vierteln, in den Einrichtungen, mit Gruppen und aktivem Zugehen, wird nicht aus nostalgischen Gründen gemacht, um die Verbindung mit dem allzu menschlichen Anderen wieder herzustellen. Theo aus Thessaloniki drückt es so aus: »Gegen den Faschismus zu kämpfen, bedeutet, raus in die Nachbarschaften zu gehen, deine Nachbarn kennen zu lernen, sich mit ihnen zu organisieren und kleine Kämpfe für unsere Rechte in den Nachbarschaften aufzubauen. Das ist der erste Schritt, um echte soziale Beziehungen herzustellen. Und ja, das bedeutet auch Selbstverteidigung gegen die Faschisten«21 Das ist die Aufgabe und die Herausforderung; Internetpartizipation ist demgegenüber sekundär. Achtung! Feind hört mit! Sobald die Bewegung im Gange ist, werden die Leute schnell genug herausfinden, wie man zwischen Networking als sicherer P2P-Kommunikation und den diffuseren Formen unterscheidet, in denen das Internet, und vor allem die sozialen Medien, genutzt werden können, um ›öffentliche Verschwörung‹ zu generieren. Interne Strategiedebatten und künftige 19 | Sitrin/Azzellini, S. 65. 20 | Diese Beobachtungen beruhen zum Teil auf meiner Teilnahme an der Rethink UvAGruppe, die sich während der Besetzung des Hauptverwaltungsgebäudes Maagdenhuis der Universität Amsterdam März/April 2015 bildete. Siehe: www.rethinkuva.org. Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Kapitel ist der von Sitrin und Azzellini angestellte aktuelle Vergleich zwischen jüngeren sozialen Bewegungen in Griechenland, Spanien, den USA und früheren in Argentinien und Venezuela. Solche positiven Reflexionen grenzen manchmal ans Religiöse, lassen jedoch genug Raum für kritische Selbstreflexion – das war wertvolle originäre Forschung, die nach weiterer Theoretisierung ruft. 21 | Sitrin/Azzellini, S. 86.

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Aktionspläne diskutiert man besser nicht online. Die Sicherheitsproblematik nach Snowden ist im Bewegungsdiskurs bisher nicht angesprochen worden, obwohl sie einigen überaus bewusst ist, die einen Krypto-Ansatz vertreten, wenn es um die elektronische Koordination künftiger Aktionen geht. Diese dringende Problematik geht weit über die moralische Frage hinaus, ob Bewegungen und ihre aktiven Mitglieder Facebook und Twitter oder lieber alternative Plattformen benutzen sollten. Eine politische Realität des individualisierten Selbst paart sich mit der technosozialen Gegebenheit der Netzwerkgesellschaft. Zentralistische linke Parteistrategien sind nicht der Standard. Heute ist die Rolle des Sprechers und ›Anführers‹ begründeterweise problematisch. Und das nicht wegen eines späten Siegs des historischen Anarchismus oder des unnachgiebigen Aktivismus einer Handvoll verkleideter Anarchisten. Die dezentrale Netzwerklogik kommt aus den Medien und hat die Kultur zutiefst durchdrungen; sie transformiert Machtbeziehungen in Bewegungen. Es wird eine Menge (interner) Gewalt nötig sein, um Bewegungen zurück in ein Topdown-Modell zu pressen. Diese soziologische Realität ist der Hauptgrund dafür, das Konzept weiter zu verfolgen und Agenden für Orgnets zu entwerfen: die Frage der Organisation (was ist zu tun?) kann nicht mehr a priori vom Netzwerk getrennt werden. Soziale Bewegungen sehen sich heute zwei Kernproblemen gegenüber: einem grundlegenden Mangel an Zeit, das wahre Potential von Ereignissen zur Entfaltung zu bringen, und an Kompetenzen zur Selbstorganisation, um die eigenen Entscheidungen auszuführen. Letztlich stehen beide Aspekte in Beziehung. Wären Bewegungen besser organisiert, hätten sie theoretisch bessere Chancen, Rückschläge zu überwinden und wiederzukehren. Weil die Organisationsformen, die zur Zeit eingesetzt werden, eher auf einmalige Ereignisse ausgerichtet sind, können organisierte Netzwerke deren Problem als komprimiertes Spektakel nicht lösen; dazu brauchen wir einen pharmakologischen Mix aus einer langsamen Politik einerseits und andererseits der Fähigkeit, unsere Aktionen zu beschleunigen, wenn der richtige Moment gekommen ist. Orgnets können jedoch Teil einer Langzeitstrategie sein, Formen der Selbstorganisation zu optimieren. Bewegungen müssen langfristig denken und damit beginnen, ihre eigene Infrastruktur aufzubauen. Niemand sonst wird es für uns tun. In seinem Buch Translating Anarchy, The Anarchism of Occupy Wall Street von 2013 diskutiert Mark Bray das Konzept vielfältiger Taktiken, und das könnte auch gut auf die aktivistische Nutzung von Mainstream-Medien vs. alternative (soziale) Medien angewendet werden. Bray diskutiert Taktik im Kontext der laufenden Debatten um Gewaltlosigkeit vs. militanter Taktik, wie die Zerstörung von Eigentum. Der Essay im Unlike Us Reader von Tiziana Terranova und Joan Donovan zur Social-Media-Nutzung von Occupy LA ist ein gutes Beispiel dafür, wie diese Bewegung zwischen verschiedenen Positionen und Nut-

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zungskulturen wechselte.22 Obwohl er viele Seiten auf identitäre Nabelschau verschwendet, bietet Translating Anarchy eine nützliche Insider-Geschichte des Funktionierens von Occupy Wall Street (OWS) und seines konsensgetriebenen Entscheidungsfindungsprocederes. Translating Anarchy ist jedoch bemerkenswert dünn, was kritisches Medienbewusstsein angeht, besonders wenn man bedenkt, dass der identitäre Anarchist Mark Bray ein Mitglied der Mediengruppe war, die während und nach Zuccotti Park für OWS arbeitete und mit Hunderten Journalisten gesprochen hat. Ein ebenso nützlicher Insiderbericht ist Linda Herreras Revolution in the Age of Social Media, in dem sie eine detaillierte Darstellung des Vorfelds der Revolution in Ägypten vom 25. Januar 2011 gibt. Sie beschreibt die Geschichte der »We Are All Khaled Said«-Facebook-Seite, die an ihrem Höhepunkt im Januar 2011 390.000 Mitglieder und neun Millionen Hits pro Tag hatte. Ohne seinen Einfluss abwerten zu wollen, lehnt Herrera das Facebook-RevolutionsMem ab, das seither in den westlichen Medien zirkulierte. »Dass Bewegungen die ihnen zur Verfügung stehenden Medien nutzen, um eine möglichst große Reichweite zu erzielen, ist weder neu noch überraschend. Die Aufstände mit dem Label ›digital‹ oder ›Facebook-Revolutionen‹ zu versehen, ist bestenfalls ein Missverständnis und schlechtestenfalls ein Versuch, sie zu verharmlosen.«23 Sie erklärt dann, wie die Facebook-Seite zur Revolution vom 25. Januar aufrief. »Die Seite hat die Revolution nicht verursacht und die Internetjugend war nicht die einzige aktive Gruppe darin, aber es ist schwer vorstellbar, dass die Revolte in Gang gesetzt worden wäre ohne erstens die tunesische Revolution und zweitens den Wandel in der politischen Kultur, der Mentalität und des Netzwerk-Verhaltens von Ägyptens vernetzter Jugend.«24 Herrera schließt: »Die Generationen, die mit sozialen Medien, virtuellen Werten und virtueller Intelligenz heranwachsen, besitzen eine große Fähigkeit, die Mechanismen der Ideologie zu entschlüsseln.« Angesichts der dringenden Organisationsfrage unserer Zeit mag diese ›dekonstruktive‹ Tendenz notwendig und befreiend sein, aber wie kann sie die individuelle Ebene überschreiten und neue soziale Formen erzeugen, die nicht auf die kommerziellen Agenden und Designvorlagen von Facebook beschränkt sind, die beide auf den Organisationsmodus einwirken?

22 | Tiziana Terranova/Joan Donovan, »Occupy Social Networks: The Paradoxes of Using Corporate Social Media in Networked Movements«, in: Geert Lovink/Miriam Rasch, Unlike Us Reader, Social Media Monopolies and their Alternatives, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2013, S. 296–311. 23 | Linda Herrera, Revolution in the Age of Social Media: The Egyptian Popular Insurrection and the Internet, London/New York: Verso Books, 2014, S. 7. 24 | Ebd., S. 5.

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O rganisierte N e t z werke als U rzellen »Organisation, die letztlich nur praktizierte Kooperation und Solidarität ist, ist eine natürliche und notwendige Bedingung sozialen Lebens.« E rrico M alatesta

Während das 19. und 20. Jahrhundert mit der Sozialen Frage beschäftigt war und wir uns in letzter Zeit damit abmühten, der Medienfrage Sinn abzugewinnen, wird das 21. Jahrhundert von der Organisationsfrage beherrscht sein. Was wird das heilige Dreieck von Partei, Kirche und Staat ersetzen und den Sehnsüchten der plappernden Milliarden Raum geben? Werden wir eine radikale Umgestaltung der sozialen Bewegung selbst erleben? Wir mögen alle gute Ideen haben, wie man die Gesellschaft anders organisieren kann, und können diese Ideen auch kommunizieren, aber wie kommt man dorthin? Werden die Netzwerke, Körperschaften, Gruppen oder Gemeinschaften ältere soziale Formen ersetzen? Wie das Invisible Committee bereits bemerkte: »Organisationen hindern uns daran, uns selbst zu organisieren. In Wirklichkeit gibt es keine Kluft zwischen dem, was wir sind, was wir tun und was wir werden. Organisationen – ob politische oder betriebliche, faschistische oder anarchistische – beginnen immer damit, diese Existenzaspekte praktisch zu trennen. Es ist dann leicht für sie, ihren idiotischen Formalismus als die einzige Abhilfe für diese Trennung zu präsentieren. Zu organisieren heißt nicht, der Schwäche eine Struktur zu geben. Es heißt vor allem, Verbindungen zu bilden.« 25

Wir können uns fragen: was kommt als nächstes, wenn die Langeweile verschwunden ist? David Foster Wallace beschreibt präzise die bisherige Phase. In seinem Aufsatz über die McCain-Kampagne von 2000 fragt er, warum junge Wähler an Politik so desinteressiert sind. Er bemerkt, dass es »fast unmöglich ist, jemanden dazu zu bringen, intensiv darüber nachzudenken, warum er an nichts interessiert ist. Die Langeweile selbst kommt der Erkundung zuvor: die Tatsache des Gefühls reicht aus.« Dies trifft auch auf die Bemerkungen von Jean Baudrillard in Bezug auf die Trägheit zu, das Schweigen der Massen. Aber dieser Zustand kommt immer irgendwann zu einem Ende. Sobald die Party beginnt, ist es schwierig, draußen zu bleiben. Wallace bemerkt, dass Politik nicht cool ist. »Coole, interessante, lebendige Leute scheinen nicht diejenigen

25 | The Invisible Committee, The Coming Insurrection, Los Angeles: Semiotext(e), 2009, S. 15.

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zu sein, die sich vom politischen Prozess angezogen fühlen.«26 Es gibt ein »tiefes Disengagement, das oft eine Verteidigung gegen den Schmerz ist. Gegen Traurigkeit.« Die Demonstration, die sich als ein cooles Festival präsentiert, überwindet eine solche Nullpunkt-Mentalität, indem sie Temporäre Autonome Zonen erzeugt, die inklusiv sind, weit jenseits der Multitudes der Vergangenheit. Dies beruht auf einer Politik des Affekts, die von Natur aus rein körperlich ist und nicht mehr mit der visuellen Sprache der dreißiger Jahre herumalbert (wie von Walter Benjamin problematisiert). Wenn überhaupt, ist die Politik der Ästhetik audiopsychischer Natur. Was bedeuten Verlust und Verlangen in diesem digital vernetzten Zeitalter? Die Frage mag rhetorisch, sogar utopisch erscheinen, aber so ist sie nicht gemeint. Die heutige Antwort wird allzu oft in der Sprache der Offline-Romantik formuliert. Der Ausweg wird nur im Exodus aus der Technik als solcher gesehen, während technische Vorschläge oft als ›Solutionismus‹ (Evgeny Morozov) verurteilt werden. Wie können wir eine radikale Agenda entwerfen, die beide Extreme vermeidet? Wie Rahm Emanuel, der Bürgermeister von Chicago, sagte: »Lass dir niemals eine Krise entgehen. Es sind Chancen, um große Dinge zu tun.« Lasst uns diesen Augenblick ergreifen. Lasst uns reformistische Agenden vergessen, die nur individuelle Lösungen betonen, in denen Partizipation auf ein Eingabegerät reduziert ist. Im Kampf gegen Zensur, Überwachung und Kontrolle sowohl durch Staaten als auch durch Monopole (durch den Abbau der existierenden Infrastruktur) liegt das Versprechen einer neuen Kultur der Dezentralisierung, die fähig ist, ihre Rechte auf föderaler Ebene zu verhandeln, mit Standards und Protokollen, die allen zugutekommen. Wiedergewonnene Negationsmacht allein kann nicht den plötzlichen Aufstieg hypergroßer Bewegungen erklären, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Als Variante zu dem, was Corey Robin in The Reactionary Mind über den heutigen Konservatismus schreibt, konnten wir beobachten, wie in den Zeiten nach dem Kalten Krieg soziale Bewegungen nicht in erster Linie wünschen und fordern, sondern eine Kultur des Verlusts ausdrücken. Sie trauern um eine verlorene Zukunft und zeigen ihre kollektive Verzweiflung über den Mangel an öffentlicher Infrastruktur und an sozialen Einrichtungen (Bildung, Gesundheitswesen, bezahlbare Wohnungen), das Verschwinden sicherer Arbeitsplätze und die Aussicht auf ein von Schulden bestimmtes Leben ohne Einkommenssicherheit. Als Variante zu Robin können wir sagen, dass Demonstranten nicht Gehorsam fordern, sondern Mitleid. Sie wollen als glorreiche Verlierer gesehen werden, die ihren Verlust vorführen, ihren Opferstatus feiern. Empört verlangen sie nichts außer unserem Mitgefühl.

26 | David Foster Wallace, »Up Simba«, in: Consider the Lobster, New York: Back Bay Books, 2005, S. 186–187.

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Der in den neunziger Jahren herrschende Glaube an eine vorgegebene Harmonie mit seinem »Unwillen, die trübe Welt der Macht und der gewalttätigen Konflikte, der Tragödie und des Bruchs« zu akzeptieren, ist lange verschwunden.27 Das vorgeschlagene Konzept der organisierten Netzwerke kann als eine nächste Phase in der weltweiten Suche nach Organisationsformen betrachtet werden, die dem Zeitalter der digitalen Medien angemessen sind. Es entwickelt sich aus Arbeitsgruppen, die spontan bei Veranstaltungen auftauchen. Doch der Unterschied liegt hier in der Betonung auf Nachhaltigkeit der Selbstorganisation. Während das Ereignis selbst kurz und ekstatisch und von Natur aus lokal ist, kann das organisierte Netzwerk zwar auch lokal sein, aber zugleich Wissen und Erfahrung von anderswo einbeziehen, um sich auf die Verwirklichung von Ideen, Projekten und Kollaborationen über die Ermöglichung des Ereignisses hinaus auszurichten. Während das Ereignis auf unmittelbares Wachstum und Sichtbarkeit über alle verfügbaren Kanäle zielt, konzentrieren sich die kleinen Einheiten darauf, Dinge im Hintergrund zu erledigen. Die Umsetzung von Entscheidungen, die während Vollversammlungen, in Onlineforen oder von den Gruppen selbst getroffen wurden, ist das vorrangige Ziel. Organisieren heißt nicht vermitteln. Wann immer möglich, konspirieren Gruppen offline. Wenn wir das Ereignis organisieren, kommunizieren wir und versuchen, unsere Absichten nicht aufzuzeichnen. Wir arrangieren, debattieren, koordinieren, machen To-Do-Listen und Anrufe; wir bestellen notwendige Werkzeuge und Ausrüstung, bevor wir hinausrennen, um unserem politischen Schicksal zu begegnen. Wir sollten bedenken: unsere Kameraden zu informieren ist nicht Medienarbeit. Im Zeitalter der sozialen Medien beginnen Mobilisierung und Public Relation sich zu vermischen, sehr zur Verwirrung von Aktivisten und institutionellen Akteuren sowohl in den Medien als auch in der Gesellschaft. Während es für Aktivisten immer noch möglich ist, zwischen internen Kanälen und Mainstream-Radio, -Presse und -TV zu unterscheiden, ist diese Unterscheidung nicht mehr klar, wenn wir das Internet berücksichtigen. Ist Twittern, Bloggen, Status-Updates, Postings auf Listen und Antworten auf Messages symbolische Arbeit auf der Ebene der Repräsentation oder eine materielle soziale Aktivität oder beides? Die inhärente Unmöglichkeit, zwischen Koordination, Mobilisierung und Werbung zu unterscheiden, ist ein zentraler Beweggrund hinter der aktuellen Debatte um soziale Medien und Aktivismus. Wir übersehen oft den mysteriösen Wendepunkt, an dem eine Frage, ein kleines Netzwerk, eine lokale Kontroverse plötzlich in eine Massenbewegung umkippt. Insider mögen fähig sein, diesen spezifischen Moment zu rekonstruieren, doch können solche Einmaligkeiten in strategisches Wissen für alle übersetzt werden? Organisierte Netzwerke können allerdings keine Antwort 27 | Variationen eines Fragments (inklusive des Zitats) in: Corey Robin, The Reactionary Mind, New York: Oxford University Press, 2013, S. 172–173.

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auf dieses aktuelle Rätsel geben. Um sich damit und mit anderen zentralen, aber vernachlässigten Fragen der Organisation von Bewegungen auseinanderzusetzen, hat mein australischer Medientheoriefreund Ned Rossiter 2005 das Konzept der ›Orgnets‹ entwickelt. Das Orgnet-Konzept ist ein Vorschlag, ein Alternativmodell, um den insularen Status des Subjekts-als-Nutzer in Zeiten der Krise traditioneller Institutionen wie den politischen Parteien, Gewerkschaften und westlichen parlamentarischen Verfassungen zu überwinden. Die sozialen Medien tendieren dazu, ihre individuellen Nutzer zu isolieren, in diesem Fall jene, die Gutes tun wollen, denen aber nur individualisierte Optionen für Veränderung geboten werden. Orgnets sind mögliche Antworten auf Konzernstrategien von Internetgiganten, die darauf aus sind, unsere schwachen Bindungen (die ›Freunde von Freunden von Freunden‹) zu verwerten, um ihre Reichweite zu vergrößern und ihren ständig wachsenden Datenhunger zu stillen.28 Wie können wir die Tendenz zum Konsum unseres eigenen sozialen Lebens unterlaufen? Im Gegensatz zur Idee von Sozialität als immer weiter expandierendem Universum möglicher Klienten und Verbündeter betonen Orgnets die Bedeutung von starken Bindungen und das Ziel, Dinge erledigt zu bekommen. Wo kommerzielle soziale Netzwerke ewiges Hyperwachstum durch Sharing und Updating vorantreiben, richten sich Orgnets auf die Weiterentwicklung von kollaborativen Plattformen (in Echtzeit). In Orgnets schlägt sich das, was Tiqqun »Verpflichtung zur Verpflichtung« nennt, materiell in Software und in technischem Leben nieder. Aktivisten wissen, dass die Wahrheit nicht in Algorithmen gefunden werden kann. Modelle sind irrelevant und nur dazu da, die Welt zu verwalten. Konzepte wie Orgnet können die heutigen Datenströme strukturieren. Vergleichbar mit der (potentiellen) Kraft konzeptueller Kunst können solche Vorschläge sich in den titanischen Kampf um die planetarische Netzwerkarchitektur einmischen, die unser Zeitalter definiert. Betriebssysteme benötigen Code; Apps, Datenbanken und Schnittstellen sind hochgradig angewiesen auf abstrakte Konzepte. Und hier kommt die Rolle von Science-Fiction-Autoren, Philosophen, Literaturkritikern und Künstlern zum Tragen. Software ist Gegebenes, keine fremdartige Black Box, die uns aus dem Weltall empfängt – auch wenn wir sie oft als solche empfinden. Sie wird vom Geek nebenan geschrieben. Das Orgnet-Konzept ist klar und einfach: statt weiter die schwachen Bindungen der dominierenden Social Network Sites zu nutzen, betonen Orgnets intensive Kollaborationen innerhalb einer begrenzten Gruppe engagierter Nutzer. Das Potential des Internets sollte nicht auf Konzernplattformen beschränkt 28 | Der Orgnet-Vorschlag kann auch als eine Antwort auf die »Carl Sagan-Deleuzianer« gelesen werden, wie Alexander Galloway sie nennt. »Erinnern Sie sich an Carl Sagan und seine ehrfürchtigen Oden an die ›billions and billions of stars‹?« In: »Conversation between David M. Berry und Alexander R. Galloway«, Theory, Culture & Society, Juni 2015.

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sein, die darauf aus sind, im Tausch für kostenlose Nutzung unsere privaten Daten zu verkaufen. Diese Option führt zu Silos, reif für NSA-Angriffe. Orgnets sind weder Avantgarde noch nach innen gerichtete Zellen. Die Betonung liegt auf ›organisch‹. Damit meinen wir keine Geste der Rückkehr zur Natur oder eine Regression in den (gesellschaftlichen) Körper. Es ist auch keine Referenz auf Aristoteles’ sechsbändiges Werk namens Organon, noch auf die Idee des ›organlosen Körpers‹ (oder Žižeks Umkehrung davon, wenn wir schon dabei sind). Das ›Organ‹ von Orgnets ist ein soziotechnisches Instrument, durch das Projekte entwickelt, Beziehungen aufgebaut und Interventionen ausgeführt werden. Wir sprechen hier von einer Verbindung zwischen Software-Kulturen und sozialem Verlangen. Wesentlich für diese Beziehung ist die Frage nach algorithmischen Architekturen, etwas, das von vielen Aktivistenbewegungen größtenteils übersehen wird, die – in einer scheinbar unbekümmerten Weise – kommerziell motivierte und politisch kompromittierte Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und Google+ verwenden. An die Pragmatikerkollegen unter uns, wir können da an eine nächste Generation von Arbeitsgruppensoftware denken, die parallel zu Plattformen für Veröffentlichungen/Kampagnen und Social-Media-Tools läuft und die Mobilisierung unterstützt. Es mangelt uns derzeit an kleinen, aufgabenorientierten Entscheidungsfindungs-Anwendungen, die eher Chat-Umgebungen gleichen und von der komplexen Forumssoftware weggehen, die im Allgemeinen nur für die Nutzung auf einem großen PC-Bildschirm entwickelt wird. Dieses Feld wird gerade von Google beherrscht, mit Google+ und der Writely Software (die traurigerweise aufgekauft wurde und nun unter dem Label ›Google Docs‹ firmiert). Im Gegensatz zu David Graeber und anderen aus der amerikanischen Occupy-Bewegung bin ich nicht so fixiert auf die ›Demokratie‹-Frage. Ich würde Experimente mit Entscheidungsfindungs-Software den Konsensritualen vorziehen und bin überzeugt, dass Bewegungen Kontroversen kultivieren und sich nicht davor fürchten sollten.29 Meine Hauptsorge im Moment ist nicht, ob sich Bewegungen aufspalten. Erinnern wir uns daran, dass die soziotechnische Infrastruktur sich durch Gabelung ausdehnt und optimiert. Der Vorschlag ist, nicht länger mit dem holistischen Gemeinschaftsmodell, inklusive seiner Governance-Lösungen zu experimentieren. Orgnets sind für unsere Zeit spezifisch, weil sie damit kämpfen, wie Technologie sich in die Dynami29 | Experimente der vergangenen Jahre waren eher klein und kurzlebig, aber dennoch interessant. Man denke an den Einsatz der Loomio-Software bei Occupy und in der spanischen Podemos-Partei und an das Liquid-Feedback-Experiment der deutschen Piratenpartei. Mehr dazu in der wertvollen Forschung, die Anja Adler zu diesem Thema in Essen/Berlin durchführt, und im New World Academy Reader #3: Leaderless Politics, Utrecht: BAK, 2013.

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ken dessen ›frisst‹, was als Gruppe betrachtet wird. Organisierte Netzwerke drehen soziale Verfahren um, indem sie auf der Netzwerkebene beginnen. Das Netzwerk ist keine freiwillige Bottom-up-Assoziation von Gruppen (wie in der Ideologie der siebziger Jahre), sondern manifestiert sich als die herrschende Alltagsform des sozialen Lebens. Wie Orgnets miteinander und mit anderen Organisationsformen in Beziehung stehen, ist eine interessante Frage, die jedoch nicht angemessen angegangen werden kann, solange die Konturen der Orgnets gerade erst beginnen, sichtbar zu werden. Wir müssen ein besseres Verständnis von dem erlangen, was auf dieser grundlegenden Ebene geschieht (und was möglich ist). Graeber schreibt: »Es ist immer besser, wenn möglich, Entscheidungen in kleinen Gruppen zu treffen: Arbeitsgruppen, Affinitätsgruppen, Kollektive. Initiativen sollten von unten kommen. Man sollte nicht das Gefühl haben, von irgendjemandem eine Erlaubnis zu brauchen, nicht einmal die der Vollversammlung (also von allen), außer es wäre in irgendeiner Weise schädlich, ohne sie weiterzumachen.«30 Eine berechtigte Kritik sollte sich gegen den vorausgesetzten ›vitalistischen Impuls‹ des Netzwerks richten. Die Annahme, dass soziale Strukturen aus dem Nichts entstehen, muss hinterfragt werden. Es gibt keine Emergenz, kein reibungsloses Werden, nur Versuch und Irrtum, auf das Erreichen der kritischen Masse gerichtet, danach werden Koalitionen gebaut, und unterschiedliche Aktionen entwickeln sich lawinenartig zu größeren Ereignissen. Solche Bergson-Metaphern scheinen nahezulegen, dass Bewegungen vor allem Energie aus dem Inneren freisetzen müssen: eine Befreiung von inneren Wünschen, um sich einem größeren beweglichen Schwarm anzuschließen. Die meisten Bewegungen überraschen uns (besonders diejenigen, die am stärksten beteiligt sind). Aber statt die ›Emergenz‹-Idee zu entzaubern, ist es vielleicht besser, bestimmte politische Konfigurationen historisch einzuordnen, um ein besseres Verständnis davon zu erlangen, was heute im Vergleich zur turbulenten Ära vor 40 Jahren funktionieren könnte (dem Goldenen Zeitalter der Popkultur, der sozialen Bewegungen von Feminismus bis zu Hausbesetzungen, bewaffnetem Kampf, Entkolonialisierung und wachsendem Umwelt/ Atomkraft-Bewusstsein). Der große Unterschied zur jüngsten Vergangenheit ist der dürftige Zustand der ›Regenbogenkoalition‹, das Patchwork der Minderheiten, wie sie früher genannt wurden. Statt ›Affinitätsgruppen‹ gibt es heute instabile Netzwerke mit einem informellen Kern und schwachen Verbindungen zwischen den meisten ihrer Mitglieder, vor allem an den Rändern. In heutigen Netzwerken reichen wir Status-Updates herum. Wenn wir die Twitter-Frage »What’s happening?« analysieren, stellen wir fest, dass das Er-

30 | David Graeber, The Democracy Project. A history, a crisis, a movement, New York: Spiegel & Grau, 2013, S. 78.

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eignis als gegeben vorausgesetzt wird.31 Die Annahme der Konzerne ist, dass es immer ein Ereignis in unserem Leben gibt, über das wir sprechen können, gleichgültig wie klein es sein mag. Und für den Smalltalk interessieren sich Marketing-Experten besonders. Wir erfahren nichts über den Ursprung des Ereignisses, noch dekonstruieren wir den Drang, Geschehnisse in Nachrichtenkategorien zu pressen. Ist ein Micro-Blogging-Dienst, der die strategische Frage stellt »What’s to be done?«, eine Option? Wie könnte sein Design aussehen? Was hier wichtig ist, ist die Implementierung einer sogenannten ›open conspiracy‹ auf Software-Ebene. Statt die Existenz einer Bewegung vorauszusetzen, gibt es Kerne, Zellen, kleine Strukturen, die hart daran arbeiten, Themen in Gang zu bringen, Gruppen, die sich oft kaum kennen und die an verschiedenen Orten und in verschiedenen Kontexten operieren. Eins ist sicher: es ist nichts Heroisches an ihrer Arbeit. Wir können nicht vorhersagen, wohin ihre Bemühungen führen werden. Seit den siebziger Jahren betrachtete man die Vernetzung dieser Initiativen als einen lebenswichtigen ersten Schritt, um eine Bewegung zum Laufen zu bringen. Dieser so eng an die Idee der direkten Demokratie innerhalb eines lokalen Settings gebundene Graswurzel-Ansatz sieht sich zusätzlichen Modellen des ›Gipfel-Hoppings‹ (wie vom Global Justice Movement praktiziert) gegenüber. Ihr Ziel war es, den globalen Eliten in ihrem lokalen Habitat – bei den Treffen von G-8, G-20, EU, IWF und Weltbank – entgegenzutreten und sprunghafte Revolten zu ermöglichen, in denen die vernetzte Koordination auf das Ereignis selbst beschränkt ist (z. B. Paris 2005, die London Riots 2011, die Blockupy-Proteste gegen die Eröffnung der EZB-Zentrale in Frankfurt, März 201532). Die Protestwelle 2011–2013 kann als ein hybrideres Modell gesehen werden, da sie Elemente beider oben genannter Protestformen enthielt. Ihre 31 | Mashable zufolge veränderte Twitter seinen Slogan im November 2009 von »What are you doing?« zu »What’s happening?« Die Veränderung »bestätigt, dass Twitter weit über die eher persönlichen Status-Updates hinausgewachsen ist, die ursprünglich übermittelt werden sollten, und sich in ein quellen-agnostisches Informationsnetzwerk verwandelt hat, das immer online ist.« 32 | Siehe: http://blockupy.org/en/. Hier ist zu lesen: »Blockupy ist Teil eines europaweiten Netzwerks verschiedener Aktivisten sozialer Bewegungen, Altermondialisten, Migranten, Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und Industriearbeitern, Parteimitgliedern und Gewerkschaftlern und vielen anderen. Gemeinsam wollen wir unsere Kämpfe und Kräfte über nationalstaatliche Grenzen hinaus verbinden und eine gemeinsame europäische Bewegung schaffen, vereint in Unterschiedlichkeit, die die Herrschaft der Austerität bricht und beginnen wird, Demokratie und Solidarität von unten aufzubauen. Als transnationale Bewegung sind wir explizit gegen jegliche rassistische, nationalistische oder anti-semitische Einteilungen und Verschwörungstheorien, um die Welt zu interpretieren.«

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Aktionen zielten auf lokale/nationale Wirkungen, mit denen man sich dennoch weltweit leicht identifizieren kann. Aktuelle Bewegungen werden sehr schnell größer (zum Teil aufgrund der Nutzung sozialer Medien während der Tage der Mobilisierung), als Menschenmengen auf der Straße jedoch zerfallen sie ebenso schnell.

F ührerlose E reignisse Es kann produktiv sein, der aktuellen Debatte über Organisation zum Beispiel die westdeutschen ›Spontis‹ gegenüberzustellen, die Horizontalisten ihrer Zeit, die sich den marxistisch-leninistischen, trotzkistischen und maoistischen Gruppen und ihren top-down Avantgarde-Strategien widersetzten und an die Macht kleiner, lokaler Gruppen ohne Wortführer glaubten, die unerwartet in den unterschiedlichsten Kontexten auftauchten und jedes Mal andere Namen verwendeten. Heutzutage sind es die schwärmenden Massen, die spontan sind. Sie können nicht mehr so einfach von einem konsumistischliberalen Konsens programmiert werden. Das Zeitalter der Gleichgültigkeit ist vorbei. Die Revolten scheinen jedoch auch nicht mehr von kleinen Gruppen (anarchistischer) Aktivisten ›initiiert‹ zu sein. Heutige Revolten sind viel weniger vorhersagbar und haben auch oft keine klar definierte Agenda. Die Euromaidan-Proteste 2013–2014 in Kiew sind ein hervorstechendes Beispiel dafür, mit ihrer Bandbreite an Faktionen, von Anarchisten über zivilgesellschaftliche Mittelschichtsliberale bis zu militanten Nationalisten und Faschisten. In solchen Momenten überholt der Schneeballeffekt des Netzwerks die Fähigkeit zur Organisation. Diese Ereignisse werden nicht mehr durch ironische Strategien entfacht, die konventionelle Bedeutungen durch absurde und spielerische Interventionen ›sprengen‹. Die Medien selbst bieten schon genügend widersprüchliches Material, um dialektische Kaskaden für tausendundein Ereignisse zu produzieren. Doch darum geht es nicht. Es gibt überwältigende Beweise. Big Data, Small Data, das spielt keine Rolle. Das Massenbewusstsein ist da, die Arbeit ist schon getan worden, die Debatten wurden geführt und die Probleme identifiziert, wieder und wieder. Was fehlt, ist die kollektive Vorstellungskraft, wie Bildung, Wohnen, Kommunikation, Transport und Arbeit auf eine andere, nachhaltigere Art und Weise zu organisieren sind. Im früheren Westen ist die Masse keine Bedrohung mehr. Im besten Fall ist sie ein karnevaleskes Symbol, ein Zeichen für gesellschaftliche Spannungen (aber welche?). Wir sind alle Produkte des Century of the Self.33 Egal wie 33 | In seiner Dokumentarreihe Century of the Self von 2002 erklärt Adam Curtis brillant die sich verschiebende Position des Individuums als Mitglied der Masse von einem grauen, anonymen Mitglied eines potentiell immer gefährlichen Mobs, der entstehen

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mächtig das Bild großer Ansammlungen von Demonstranten auch sein mag, es gibt immer ein Element der Unterhaltung darin, produziert für den individuellen Konsum. Für viele ist Randale eine Form des Extremsports, sich einer Mischung aus Polizei und Militär entgegenzustellen, die massiv von mobilen Einheiten des Überwachungsapparats unterstützt wird. Trotz aller Gewalt ist die hier gestellte Frage, wie ereignislose Formen von Organisation geschaffen werden können, die im Hintergrund arbeiten und mögliche Brücken zwischen Ereignissen bilden. Sind ›Kristalle‹ noch immer die Ursache von Ereignissen?34 Wenn die Antwort ja lautet, lasst uns eine, zwei, viele davon hervorbringen, und aufhören, darauf zu warten, dass der Zeitgeist sich wandelt. Eine Schlüsselfrage ist die nach Führerschaft in der Internetkultur. Hier geht es nicht um Berühmtheit. Das Celebrity-zentrierte SPO-Modell (Single Person Organisation), wie von WikiLeaks’ Julian Assange praktiziert, hat sich als desaströs erwiesen, vergleichbar mit einem ähnlich geschlossenen ›Kabalen‹-Kreis und Hauptgrund für die Stagnation von Wikipedia. Weniger kontrovers sind rotierende Moderationsmodelle wie im Fall einiger Mailinglisten (z. B. Empyre) und das ›Karma‹-Abstimmungssystem, das von den Nutzern betrieben wird, wie bei Slashdot. Der News-Aggregator Hacker News verwendet ein ähnliches System, um das Ranking von Postings auf nerdigen Forum-Websites zu gewichten. Allerdings hat bisher kein Abstimmungs- oder Moderationssystem in Künstler- und Aktivistenkreisen Anklang gefunden. Stattdessen ziehen es die meisten von uns vor, unsere Stimmen auf Facebook und Twitter in Form von Likes und Retweets abzugeben. Eine andere Frage heutzutage ist das Fehlen politischer Forderungen. In der heutigen Technologie-Landschaft konzentrieren sich die sozialen Medien nicht auf transparente Technologien des Agenda-Settings, diskursive Erstellung von Richtlinien und Verfahren zur Entscheidungsfindung. Diese sind weder im Interesse der Nachrichten- und Unterhaltungsindustrien noch des Marketings. David Graeber schreibt: »Wir haben kaum eine Vorstellung davon, welche Art von Organisationen oder übrigens auch Technologien entsteund attackieren kann, zu einem isolierten, nach innen gerichteten Konsumenten, der sich nicht mehr um die Bedingungen anderer in seiner oder ihrer Nähe kümmert. Diese kulturelle Verschiebung korrespondiert mit dem Verschwinden des Kulturpessimismus der Massenpsychologie, die durch den wissenschaftlichen Positivismus der Techniken des (Social) Media-Marketings ersetzt wurde. URL: https://en.wikipedia.org/wiki/The_ Cen​t ury_of_the_Self 34 | Verweis auf die Theorie der Massenkristalle in Elias Canettis Masse und Macht, Frankfurt a. M., 1994 (zuerst 1969), S. 79 f. »Als Massenkristalle bezeichne ich kleine, rigide Gruppen von Menschen, fest abgegrenzt und von großer Beständigkeit, die dazu dienen, Massen auszulösen. […] Auf ihre Einheit kommt es viel mehr an als auf ihre Größe.« Canetti bemerkt, dass das Massenkristall konstant ist und nie seine Größe ändert.

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hen würden, wenn freie Menschen ihre Phantasie uneingeschränkt einsetzen könnten, um kollektive Probleme tatsächlich zu lösen statt sie schlimmer zu machen.«35 Es ist klar, dass diese Frage nicht auf Diversity-Dilemmas und real existierende Interessenskonflikte begrenzt werden kann. Relevant sowohl für soziale Bewegungen als auch für organisierte Netzwerke ist der (potentielle) Einfluss des ›Online Absent Other‹. Es ist sowohl politisch korrekt als auch ein Trost für alle, festzustellen, dass andere, die nicht persönlich da sein können, in der Lage sein werden, Ereignisse zu steuern und nicht nur zu beobachten. Cameran Ashraf von Global Voices: »Ich denke, so an etwas angeschlossen zu sein, von dem man abgekoppelt ist, ist zutiefst verstörend für deine Psyche. Früher oder später ergeben die Dinge Sinn und dein Geist erkennt, er hat das eine gesehen und gelesen und was anderes gelebt. In diesem Augenblick passiert es – du ›schaltest aus‹. Verschwindest.«36 Whistleblowing-Projekte stehen vor diesen Fragen um Bedarf, Ausführung und Verbindung wie jeder andere auch. Im September 2013, drei Monate nach Eintritt des Edward Snowden/NSA-Skandals, schrieb Slavoj Žižek im Guardian: »Wir brauchen ein neues internationales Netzwerk, um den Schutz von Whistleblowern und die Verbreitung ihrer Botschaft zu organisieren.«37 Man beachte, dass Žižek die beiden zentralen Konzepte des Arguments verwendet, das hier entwickelt wird: ein Netzwerk, das organisiert. Sobald wir alle uns auf diese Aufgabe geeinigt haben, ist es wichtig, die Diskussion weiterzutreiben und uns auf die organisatorische Dimension dieses dringenden Anliegens zu konzentrieren. Heutzutage gibt es viele WikiLeaks-Klone. Nur einige von ihnen schaffen es, zu überleben, z. B. Balkan Leaks und Global Leaks. Die technische Debatte darüber, wie man funktionierende anonyme Einreichungs-Gateways baut, steht noch aus. Ich habe deutlich gemacht, dass WikiLeaks selbst wegen des Persönlichkeitskults um seinen Gründer und Chefredakteur Julian Assange ein negatives Vorbild ist, dessen Bilanz an fehlgeschlagenen Kollaborationen und Zerwürfnissen beeindruckt, ganz zu schweigen von dem unverbesserlichen Genderdrama (nicht unüblich in Hackerkreisen), das zu seinem endlosen, selbstauferlegten Abtauchen in der Botschaft von Ecuador in London führte. Neben dieser Debatte um Governance müssen wir uns stärker mit der Frage befassen, was das Netzwerkmodell in diesem Kontext genau beinhaltet. 35 | Siehe David Graeber, The Democracy Project, 2013, und die Rezension von Kelefa Sanneh im New Yorker, www.newyorker.com/magazine/2013/05/13/paint-bombs 36 | http://advocacy.globalvoicesonline.org/2013/04/17/the-psychological-strains-​ o​f -digital-activism/ 37 | Slavoj Žižek, »Edward Snowden, Chelsea Manning and Julian Assange: Our New Heroes«, The Guardian, 3. Sept. 2013, www.theguardian.com/commentisfree/2013/ sep/03/snowden-manning-assange-new-heroes#start-of-comments

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Ein Schritt, den WikiLeaks nie wagte, sind nationale Zweige, entweder in Nationalstaaten oder linguistischen Territorien ansässig. Ein virtuelles globales Fürsprache- und Rechtsvertretungs-Netzwerk zu betreiben, wie es Žižek vorschlägt, erscheint wegen seiner kosteneffizienten, flexiblen Natur verführerisch, doch der kleine Maßstab von EinzelpersonenOrganisationen macht es auch schwierig, Lobbyarbeit in mehrere Richtungen durchzuführen und neue Koalitionen herzustellen. Existierende Netzwerke von nationalen digitalen Bürgerrechtsorganisationen sollten hier eine Rolle spielen, was sie jedoch bisher nicht tun. Und erst einmal ist es wichtig, darüber zu diskutieren, warum digitale Bürgerrechtsorganisationen wie die US-basierte Electronic Frontier Foundation und das European Digital Rights-Netzwerk oder auch der deutsche Chaos Computer Club bisher keine attraktiven Kampagnen hervor gebracht haben, die es Künstlern, Intellektuellen, Schriftstellern, Journalisten, Designern, Hackern und anderen Freischärlern ermöglichen, trotz ihrer Differenzen gemeinsame Anstrengungen zu koordinieren. Dasselbe gilt für Transparency International und Journalisten-Gewerkschaften. Die IT-Natur der Verfechter macht es den vorhandenen Körperschaften anscheinend schwer, sich der Aufgabe, diese neue Form von Aktivismus zu schützen und zu nutzen, anzunehmen. Die NSA-Enthüllungen durch den Whistleblower Edward Snowden im Juni 2013 waren eine Gelegenheit, neue Allianzen zu gründen, diesmal erfolgreicher koordiniert von Glenn Greenwald, Laura Poitras, Jacob Appelbaum und anderen, die zusammenarbeiten, um Dokumente zu analysieren und über die westliche Mainstream-Presse zu veröffentlichen, vom Guardian bis zum Spiegel. So sehr Mainstream-Social-Media-Plattformen auch mit einem fast garantierten Leistungsvermögen der Skalierung zu Massen-Netzwerk-Instrumenten einhergehen, sind sie doch nicht ohne Probleme, von denen uns viele vertraut sind: Sicherheit der Kommunikation (Infiltration, Überwachung und vorsätzliche Missachtung der Privatsphäre), Logik oder Struktur von Kommunikation (Mikro-Chatting zwischen Freunden gekoppelt mit Übertragungshinweisen für die vielen Cloud-Abonnenten) und eine Ökonomie der ›kostenlosen Arbeit‹ (nutzergenerierte Daten oder ›die soziale Produktion von Wert‹). Social-MediaArchitekturen haben die Tendenz, passiv-aggressives Verhalten anzustacheln. Nutzer überwachen aus einer sicheren Entfernung, was andere tun, während sie kontinuierlich ihre Neid-Levels feinabstimmen. Das einzige, was wir problemlos umsetzen können, ist unser Profil zu aktualisieren und der Welt mitzuteilen, was wir gerade tun. In dieser Kultur des ›Teilens‹ haben wir nur die Möglichkeit, unsere virtuelle Empathie zu zeigen. Die organisierten Netzwerke brechen radikal mit der Logik des Updatens und des Monitorings und verlagern die Aufmerksamkeit vom Beobachten und Folgen diffuser Netzwerke dahin, Dinge zu erledigen, gemeinsam.

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Autonomie, Selbstorganisation und kollektives Eigentum sind alles Werte, die unsere unzeitgemäßen Raumschiffe über Wasser halten und sicherstellen, dass wir unsere Gastfreundschaft für die nächsten Generationen aufrechterhalten können. Doch wir kennen alle die Gefahr von Langeweile, Wiederholung und Routine, wenn das Verwalten alternativer Räume zum Selbstzweck wird und unausweichlich der Zerfall einsetzt. Die Neugestaltung umkämpfter Räume war nicht die richtige Antwort auf die Fragen, mit denen wir konfrontiert sind. Pragmatische Renovierungen werden oft als der bestmögliche Ausweg aus der täglichen Malaise präsentiert – doch sie sind es nicht. In den vergangenen 10–15 Jahren wurden wir mit Veränderungen im ›Sozialen‹ selbst konfrontiert. Brauchen wir noch kollektive Räume, wenn Menschen nicht mehr so oft zusammenkommen? Sobald wir uns von den Schließungen der Identitätspolitik und der Egal-was-Attitüde der Nihilisten entfernen, eröffnet sich eine ganze Reihe neuer Fragen, derer wir uns annehmen könnten. Was ist das Atelier der Zukunft, wenn der Künstler in erster Linie am Rechner arbeitet? Wie können wir uns an den Debatten und Designbemühungen um die Frage alternativer Währungen beteiligen? Warum sind Bibliotheken und Cafés so populär in einer Zeit, in der angeblich niemand mehr liest und eine Buchhandlung nach der anderen schließt? Auf bauend auf Richard Sennett, Bernard Stiegler und Peter Sloterdijk: Was sind die künftigen Handwerke, die nicht retromantisch sind? Was sind die subversiven Berufe von morgen? Können wir über den Aufruf zur Nachhaltigkeit hinausgehen38 und das Digitale voll mit dem Sozialen im urbanen Gewebe integrieren? Können wir eine radikale Alternative zu Uber, Airbnb und zum Starbucks-als-Büro-Modell liefern? Wie erfinden wir neue Formen von Produktivität jenseits des McJobs-Modus der ruinierten Dienstleistungsökonomie? Statt uns auf die Abwärtsspirale der (selbst-)verwalteten Welt zu konzentrieren, ist es an der Zeit, den Wohnungs-Blues hinter uns zu lassen, den depressiven Geisteszustand aufzubrechen, der mit den sichtbaren Hinterlassenschaften vergangener Subkulturen einhergeht, und zu schauen, wie wir das Soziale wiederherstellen können. Zeige uns dein Design. Wie soll Kollaboration aussehen? Was bedeutet es, wenn wir verteilt und verbündet sagen? Um dorthin zu gelangen, müssen wir einen radikalen und für manche ziemlich unangenehmen Schritt tun: erkennen, dass das Soziale von heute technisch ist. Auch wenn eine politisch-ökonomische Lesart interessante Ergebnisse hervorbringen kann (Prekariat, schwindende Mittelschicht, Globalisierung von Armut und Arbeit), ist es aus organisatorischer Perspektive entscheidend, Medienformen und Netzwerkarchitekturen mit einzubeziehen. Die Frage, die ich hier stelle, lautet, wie man ereignislose Organisationsformen entwickelt, die die Arbeit im Hintergrund erledigen. Wenn Crowd-Kris38 | Siehe: www.sustainism.com/www.sustainism.com/Sustainism.html

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talle, leninistische Kernels, trotzkistische Zellen und andere avantgardistische soziale Formationen nicht mehr der Ausgangspunkt von Ereignissen sind, müssen wir uns vielleicht ganz vom Ursache-Wirkungs-Denken verabschieden. Das Spektakel mit seiner autogenerierten Affektintensität steht im Widerspruch zur organisierten Zeit. Die komplexe und verworrene Koordination zwischen verschiedenen Ebenen und Interessen kann die Echtzeitverbreitung von Memen nicht schlagen. Organisierte Netzwerke wachsen als Reaktion auf die universelle Lösung des Algorithmus. Wir organisieren gegen Aggregation, Multiplikation und Skalierung. Wir möchten Serialität, nicht Skalierung, und treten freiwillig vom viralen Modell zurück, das unweigerlich in der Gegenreaktion von Ausverkauf und Börsengang (der Thermidor des Dotcom-Zeitalters, als Unternehmen Monate nach ihrer Gründung an den Aktienmarkt gebracht wurden) kulminiert, inklusive Management-Buy-Outs und ersten Wellen von Entlassungen. Vorsicht: Wie viele Fallouts kann man sich leisten, bevor man keine Freunde mehr hat? Nicht viele. Immer mehr Bewegungen verzichten auf Führung – und gedeihen. Wenn wir auf die jüngsten Revolten zurückschauen, sehen wir Ausbrüche von ›Social Media‹-Aktivitäten. Ihnen gemeinsam, von Tahir bis Taksim, von Tel Aviv bis Madrid, von Sofia bis São Paulo und ›Black Lives Matter‹ in den USA, sind Kommunikationsspitzen, die bald nach der anfänglichen Begeisterung verhallen, ähnlich wie bei der Festival-Ökonomie, die die Event-Gesellschaft antreibt. Es gibt auch diese eigentümliche Rückkopplungsschleife, in der die Dringlichkeit des Ereignisses an den 24-Stunden-Zyklus der Nachrichten in den Mainstream-Medien gebunden ist. Sobald der berichtenswerte Inhalt des Spektakels ausgesaugt ist, scheint die Koordination politischer Leidenschaft sich irgendwie zu verlieren. Die kommerziellen Social-Networking-Plattformen der Konzerne, wie Twitter und Facebook, gelten als nützlich, um Gerüchte zu verbreiten, Bilder und Berichte weiterzuleiten und etablierte Medien (inklusive des Web) zu kommentieren. Doch wie intensiv die Straßenereignisse auch gewesen sein mögen, sie gehen nicht über die Erzeugung von ›kurzen Verbindungen‹ hinaus. Die temporären autonomen Räume, die sie errichten, erscheinen eher wie Festivals, Revolten ohne Folgen. Es gibt eine wachsende Unzufriedenheit mit den ereigniszentrierten Bewegungen. Die Frage, wie man eine kritische Masse erreicht, ist hier zentral. Statt dem leninistischen Parteimodell die anarcho-horizontalistische Feier der Vollversammlung gegenüberzustellen, geht es beim Orgnet-Vorschlag darum, den allgemeinen Netzwerk-Intellekt in die Organisationsdebatte zu integrieren. Seit den Marx-Bakunin-Debatten sind ja jetzt doch gut 150 Jahre vergangen. Es ist an der Zeit, die Technologie in das soziale Gewebe zu integrieren, und Rechner und Smartphone nicht mehr als fremdartige Werkzeuge zu sehen. Das Modell organisierter Netzwerke hat ein Luxusproblem, wie die meisten Internetanwendungen: Es läuft Gefahr, die (zehn-)tausende von Nutzern, die

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sich beteiligen werden, nicht bewältigen zu können. Das ist der Ausnahmezustand, in dem das Ereignis übernimmt, in dem die Geschichte übernimmt, und wir die kurzen Momente des Außer-Technologischen erfahren. Doch das ist die Ausnahme. Worauf wir uns in den kommenden Jahren konzentrieren sollten, ist die Zeit dazwischen, die langen Intervalle, wenn Zeit zur Verfügung steht, nachhaltige Netzwerke aufzubauen, Ideen auszutauschen, Arbeitsgruppen aufzusetzen und das Unmögliche zu verwirklichen, sofort. Die heutigen Aufstände sind nicht mehr die Folge ausführlicher Organisationsvorbereitungen im Hintergrund; auch produzieren sie keine neuen Netzwerke mit ›starken Verbindungen‹. Was übrig bleibt, ist ein geteiltes Gefühl: die Geburt einer weiteren Generation. Auch wenn kleine Gruppen an den Themen oft viele Jahre gearbeitet haben, waren ihre Anstrengungen im Allgemeinen auf Interessenvertretung, Kampagnendesign, traditionelle Medienarbeit oder die Organisation derer gerichtet, die unmittelbar von der Krise vor Ort betroffen waren. Wichtige Arbeit, aber nicht unbedingt zur Vorbereitung des Großen Aufstands. Ist die Sehnsucht nach nachhaltigen Formen der Organisation ein unerfüllbarer Wunsch, da die Welt in ständigem Fluss ist? Unsere Arbeit und unser Leben, wie wir sie kennen, sind wenig durch Stabilität definiert. Die Ideologien sind seit Jahrzehnten auf der Flucht. Ebenso wie politische Netzwerke unter Aktivisten. Bestenfalls können wir von einem Auf blühen unerwarteter temporärer Koalitionen sprechen. Wir können uns darüber beschweren, dass soziale Medien Einsamkeit verursachen; ohne eine gründliche Neuuntersuchung ihrer Architekturen können sich solche soziologischen Betrachtungen jedoch schnell in Formen der Abneigung verwandeln. Was sich heutzutage als Social-Media-Kritik präsentiert, hinterlässt Nutzer häufig mit einem Schuldgefühl, ohne dass sie irgendwo hingehen können, außer zurück zu denselben alten ›Freunden‹ auf Facebook oder ›Followern‹ auf Twitter. Es gibt mehr in dieser Welt als Selbstoptimierung und Ermächtigung. Die Netzwerkarchitekturen müssen sich wegbewegen vom nutzerzentrierten Ansatz und zu einem aufgabenbezogenen Design kommen, im geschütztem Modus. Eine der ersten Beobachtungen, die wir machen müssen, ist, dass Anonymous das fehlende Element auf Žižeks Liste von Assange, Manning und Snowden ist. Trotz mehrerer Rückschläge bleibt Anonymous eine effektive verteilte Initiative, um Geheimnisse aufzudecken und sie zu veröffentlichen, wobei sie mit der neoliberalen Vorstellung vom Individuum als Held brechen, der aus einem subjektiven Impuls heraus operiert, um den Code zu knacken und sensibles Material öffentlich zu machen. Der große Vorteil anonymer Netzwerke ist, dass sie sich von der Old-School-Logik des Papierdrucks und der Rundfunkmedien verabschieden, die ihre Geschichten personalisieren müssen und damit einen Prominenten nach dem anderen hervorbringen. Anonymous ist viele, nicht nur Lulzsec.

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Am Schluss ihres 2013 veröffentlichen Buchs Agonistics ruft Chantal Mouffe soziale Bewegungen und politische Parteifaktionen auf, »eine Synergie zwischen verschiedenen Formen der Intervention zu schaffen. Ziel sollte sein, gemeinsam eine gegenhegemonielle Offensive gegen den Neoliberalismus zu lancieren. Es ist höchste Zeit, mit der Romantisierung von Spontaneismus und Horizontalismus aufzuhören.« Sie ruft Aktivisten dazu auf, zu »akzeptieren, Teil eines progressiven ›kollektiven Willens‹ zu werden, der einen ›Stellungskrieg‹ für die Radikalisierung demokratischer Institutionen führt und eine neue Hegemonie etabliert.«39 Es mag strategisch klingen, Hegemonie zu beanspruchen und auf Macht zu zielen, aber die Techniken dieser Demokratisierung von Bewegungen – und Netzwerken – werden dabei nicht angesprochen. Bevor wir uns in Koalitionen stürzen, muss die Frage danach gelöst werden, wie Bewegungen selbst widerstandsfähiger werden und sich besser erholen und wieder auftauchen können. Netzwerke sind kein Ziel an sich und sollten Organisationszielen untergeordnet werden. Internet- und Smartphone-basierte Kommunikation war einmal neu und aufregend. Dies verursachte einige Ablenkung, doch die Ablenkung selbst wird langsam langweilig. Die positive Seite von Netzwerken (im Vergleich zu Gruppen) bleibt ihre offene Architektur. Was Netzwerke ›lernen‹ müssen, ist, wie sie sich aufspalten oder gabeln können, sobald sie zu groß werden. Intelligente Software kann uns dabei helfen, Verbindungen zu lösen, Konversationen zu beenden und Gruppen zu löschen, sobald ihre Aufgabe abgeschlossen ist. Wir sollten uns auf unserer fortwährenden Suche, das Soziale zu bewegen, nie davor fürchten, die Party zu beenden.

39 | Chantal Mouffe, Agonistics, London/New York: Verso Books, 2013, S. 127.

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Kulturen der Gesellschaf t Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit

März 2017, 242 Seiten, kart. Abb., 29,99 E ISBN 978-3-8376-3800-4 E-Book: 26,99 E Hochfrequenzhandel, Google-Ranking, Filterbubble – nur drei aktuelle Beispiele der Wirkmacht von Algorithmen. Der Band versammelt Beiträge, die sich mit dem historischen Auftauchen und der mittlerweile allgegenwärtigen Verbreitung von Algorithmen in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens beschäftigen. Sie nehmen die Wechselbeziehungen algorithmischer und nicht-algorithmischer Akteure und deren Bedeutungen für unseren Alltag und unsere Sozialbeziehungen in den Blick und gehen den Mechanismen nach, mit denen Algorithmen – selbst Produkte eines spezifischen Weltzugangs – die Wirklichkeit rahmen, während sie zugleich die Art und Weise organisieren, wie Menschen über Gesellschaft denken. Die Beiträge beinhalten Fallstudien zu Sozialen Medien, Werbung und Bewertung, aber auch zu mobilen Sicherheitsinfrastrukturen wie z.B. Drohnen.

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Zeitdiagnosen bei transcript Björn Vedder

Neue Freunde Über Freundschaft in Zeiten von Facebook

März 2017, 200 Seiten, kart. 22,99 E ISBN 978-3-8376-3868-4 E-Book: 20,99 E Nie war Freundschaft populärer als heute. Sie gilt als entscheidende Zutat für ein gutes und glückliches Leben. Viele haben auch viele Freunde – jedoch will sich das versprochene Glück nicht so recht einstellen. Woran liegt das? Björn Vedder verknüpft in seiner Zeitdiagnose der Freundschaft philosophische Überlegungen mit der Analyse von popkulturellem Material sowie literarischen Klassikern. Er zeigt, was Freundschaft heute bedeuten, wie sie (auch zu uns selbst) gelingen kann und warum FacebookFreunde echte Freunde sind. Dabei nimmt er die pessimistischen Kulturkritiken der Gegenwart ernst, teilt deren Defätismus aber nicht, sondern zeigt Wege aus den Pathologien der modernen Freundschaft auf.

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Digitale Gesellschaf t bei transcript Carolin Wiedemann

Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft

Dezember 2016, 280 Seiten, kart., 29,99 E ISBN 978-3-8376-3403-7 E-Book: 26,99 E Gilles Deleuze hatte es schon 1991 prophezeit: Jedem Gesellschaftstyp seine Maschinen, den Kontrollgesellschaften die Computer. Deren kybernetische Logiken haben sich mit neuen, biopolitischen Formen des Kapitalismus verbunden. Herausgekommen ist dabei Facebook, jene Plattform, auf der die User_innen sich permanent selbst vermessen und vergleichen. Doch wodurch kann das Dispositiv von Kommodifizierung und Kontrolle unterlaufen werden? Was kann als subversiv gelten, wenn die Unterwerfung freiwillig ist und die Theorie kein intentionales Subjekt mehr kennt? Carolin Wiedemann zeigt, inwiefern ein Internet-Phänomen wie »Anonymous« Aufschluss geben kann und welche neuen Möglichkeiten für Kritik und Kollektivität sich hieraus ergeben.

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Zeitschrif ten bei transcript Annika Richterich, Karin Wenz, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Ramón Reichert (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 3, Issue 1/2017 – Making and Hacking

Mai 2017, ca. 200 Seiten, kart., 29,99 E ISBN 978-3-8376-3820-2 E-Book: 29,99 E Digital Culture & Society is a refereed, international journal, fostering discussion about the ways in which digital technologies, platforms and applications reconfigure daily lives and practices. It offers a forum for inquiries into digital media theory, methodologies, and socio-technological developments. The fourth issue »Making and Hacking« sheds light on the communities and spaces of hackers, makers, DIY enthusiasts, and ›fabbers‹. Academics, artists, and hackerspace members examine the meanings and entanglements of maker and hacker cultures – from conceptual, methodological as well as empirical perspectives. With contributions by i.a. Sabine Hielscher, Jeremy Hunsinger, Kaitlyn M. Braybrooke, Tim Jordan, among others, and an interview with Sebastian Kubitschko.

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Zeitdiagnosen bei transcript Thomas Kruchem

Am Tropf von Big Food Wie die Lebensmittelkonzerne den Süden erobern und arme Menschen krank machen

Juni 2017, 216 Seiten, kart., Abb., 19,99 E ISBN 978-3-8376-3965-0 E-Book: 16,99 E Die Weltgesundheitsorganisation schlägt Alarm: Big Food, die multinationale Nahrungsmittelindustrie, ist noch gefährlicher als die Tabakund Alkoholindustrie. Aggressiv erobern die Konzerne jetzt arme Länder und drängen mangelernährten Müttern und ihren Kindern krankmachendes Junkfood auf – Instantnudeln, Kekse, Chips, überzuckerte Drinks. Die Folge: eine Pandemie krankmachender Fettleibigkeit – allein in China starben 2016 1,3 Millionen Menschen an Diabetes. Kein Zweifel: Big Food macht Riesen-Profite auf dem Rücken der Ärmsten. Das muss bekämpft werden – aber wie? Thomas Kruchem deckt auf, wie Big Food Nothilfe vor seinen Karren spannt und Kritiker mundtot macht; wie die Konzerne UN-Organisationen, Hilfswerke wie Oxfam sowie Wissenschaftler mit Millionen finanzieren.

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