Im Bann der Identität: Zur Soziologie unseres Selbstverständnisses [1. Aufl.] 9783839427279

Identity from a sociological view: In this terminological, sociological investigation, »identity« turns out to be a pote

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German Pages 234 Year 2014

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Inhalt
Einleitung
Die Verabsolutierung der Identität
Die Konkretisierung der Identität
Die Soziologisierung der Identität
Die Kulturalisierung der Identität
Schlussbetrachtung
Literatur
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Im Bann der Identität: Zur Soziologie unseres Selbstverständnisses [1. Aufl.]
 9783839427279

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Zoltán Hidas Im Bann der Identität

Sozialtheorie

Zoltán Hidas (Dr. phil.) leitet das Institut für Soziologie an der Pázmány Péter Katholischen Universität in Budapest. Nach Studien der Ökonomie, Philosophie und Soziologie in Budapest und Heidelberg promovierte er am Max-WeberKolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.

Zoltán Hidas

Im Bann der Identität Zur Soziologie unseres Selbstverständnisses

Die vorliegende Arbeit wurde vom TÁMOP-Projekt 4.2.1.B-11/2/KMR-2011-0002 der Pázmány Péter Katholischen Universität gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Kinga Hidas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2727-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2727-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9 Die Verabsolutierung der Identität | 19

Nach des Menschen Ebenbild | 28 Nach der Welt Ebenbild | 32 Nach Gottes Ebenbild | 35 Die Konkretisierung der Identität | 53

In überpersönlichen Höhen | 54 In persönlichen Tiefen | 63 In unterpersönlichen Untiefen | 89 Die Soziologisierung der Identität | 103

Nach Einzelmaß | 106 Vom Gruppenmaß zum Strukturmaß | 124 Die Kulturalisierung der Identität | 159

Im Zeichen der Differenz | 167 Im Zeichen der Kohärenz | 186 Schlussbetrachtung | 209 Literatur | 213

Für Vince Hanna Fülöp Tádé – möge es für sie nicht zum „Ärgernis“ werden…∗

mihi quaestio factus sum, et ipse est languor meus∗∗



Vgl. Mt 18,6 und Mk 9,42, nach Luthers Übersetzung, die dem griechischen skandalon am nächsten kommt.

∗∗ Augustinus: Confessiones X.33.

Viele haben mich bei dieser Arbeit in unterschiedlichen Phasen auf mannigfache Weise unterstützt, wofür ich sehr dankbar bin; ausdrücklich erwähnt werden sollen hier meine Eltern. Mein ganz besonderer Dank gilt Dr. Zoltán Ábrahám für seine unvorstellbar vielfältige Hilfe und Dr. András Czeglédi für seine vielfachen Freundschaftsdienste. Dr. Andreas Cser und Herr Ulrich Vonderlin haben, zum Teil unter Mitarbeit von Dr. Annette Wauschkuhn, selbstlos bei der Korrektur geholfen – was in unserem Zusammenhang einen besonderen Nachdruck gewinnt. Die verbliebenen Fehler sind freilich mir selbst anzurechnen. Frau Jutta Heidemann hat bei den Druckkosten wieder einmal ihre Großzügigkeit erwiesen. Die Liebe meiner Frau, Kinga, hat den Alltag auch dieser Arbeit getragen, bis in die brunnentiefen Abgründe hinein.

Einleitung Man kann eben […] das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin ‚rationalisieren‘.1 Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die „Weltbilder“, welche durch „Ideen“ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.2

In einer Zeit verbreiteter Fragwürdigkeit des Identischen, da es für ausgemacht gilt, dass nichts sich selbst über die Zeit hinweg gleich bleibt, hebt das Fragen nach der menschlichen Identität an. Im althergebrachten Kunstwort des wesensmäßig Unwandelbaren und mit sich Deckungsgleichen wird nun, durch eine folgenschwere Umbesetzung seiner Bedeutsamkeit, die Vorstellung einer personalen und kollektiven Einheit – oder zumindest Kohärenz und Kontinuität ausgebaut. Die ersten Ansprüche werden, wie es der vereinheitlichenden Geisteskraft einer Aufbruchszeit geziemt, noch am All gemessen. Die prinzipiellen Anstrengungen erschlaffen jedoch nach und nach bis zu einer kühl temperierten Überschau der identifikatorischen Existenzmöglichkeiten, in die sich der Mensch je

1

Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, GARS I, S.

2

Max Weber: „Einleitung“, GARS I, S. 252.

62.

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eingefunden hat. Das A=A wie das A≠nicht-A wird nach wie vor schulmäßig weitergereicht, einer Menge widersprechender Alltagserfahrungen zum Trotz. Der von Parmenides aus Elea wie in einem Begründungsakt festgelegte Satz der Ausschließlichkeit von Sein und Nicht-Sein, der die fachmäßige Beweisführung von den bloßen „Meinungen der Sterblichen“ klar absetzt, sondert sich nach und nach ins Kuriose außeralltäglicher Spitzfindigkeiten aus. Die „Sterblichen“ aller Zeiten scheinen an sich selbst unlogischere Interessen zu hegen. Ob man trotz laufenden Zellenwechsels dasselbe bleibt, ist eine Frage, die sich dem Lachen nicht nur von „witzigen und reizenden Mägden“ ausgesetzt bleibt.3 Der Traditionalismus findet nach wie vor wahre Freude daran, gleichsam in den Tag hinein zu leben. Die Frage der menschlichen Identität ist durch ihren sinnhaften Bezug zur Differenz eine besondere Abwandlung der grundsätzlicheren Frage nach dem Verhältnis des Einen und des Vielen: ihre Besonderheit entspringt eben unserer eigenen Betroffenheit. Die Fähigkeiten des Menschen, der ganzen Welt gegenüber in Einsamkeit zu verharren einerseits, sich in Gemeinschaften aufzulösen andererseits, haben sich, wie bereits ein flüchtiger Anthropologenblick lehrt, von Kultur zu Kultur in unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Form entfaltet. Im Zeichen der „Identität“ erschließt sich dem heutigen Verständnis die Welt des Menschen. Unsere Kultur ist zur Identitätskultur geworden: die besondere Subjektivitätsform der personalen Identität beansprucht Allgemeingültigkeit, mit einer formallogisch oft beanstandeten Übertragung ins Kollektive.4 Inzwischen wird Identität, dieser zentrale Orientierungs- und Ordnungsbegriff, von zwei Polen – ich und wir – her gedacht. Es werden ausgefeilte Lehren, eingeübte Techniken und wohlverfasste Einrichtungen angeboten, Identität mit vollem Einsatz zu denken und zu leben. Die Erwartungen, die ans Persönlichste und ans Gemeinsamste gestellt werden, könnten kaum weiter gesteigert werden. Der Begriff, als Lebensmaß an den Menschen gesetzt, pendelt zwischen Selbstbehauptung bis zum ausschließlichen Auf-sich-gestellt-Sein und Gruppenbindung bis zur persönlichen Selbstaufgabe. Wie auch immer ausgestaltet, heißt die heutige Orthodoxie und Orthopraxie des Selbst- und Fremdbezugs „Identität“ im Sinne der Geschlossenheit, Konsistenz, Kontinuität und Kohärenz: eine begriffliche Schnittgröße zwischen der absoluten Freiheit im All-Einen, dem begrenzten An-

3

G.S. Kirk – J.E. Raven – M. Schofield: The Presocratic Philosophers, 288 und 291, Fr. 1f; zu Thales und der Thrakerin ebd. 72.

4

Sehr kritisch dazu mit Spurenbelegen der „Begriffsverformung“ Lutz Niethammer: Kollektive Identität.

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spruch eines Dauerhabitus und dem noch so brüchigen Zusammenhalt einer Gruppe. Identität ist ins überlebensgroß Charismatische emporgestiegen. Die Selbsterkundung ist natürlich ein betagtes Anliegen des Menschen. Sei auch der altgriechisch erklungene Appell, „Erkenne dich selbst (gnothi seauton)!“,5 inzwischen weitgehend abgegriffen, ließ die Geltung des Wortes als Orakelspruchs des philosophischen Denkens im Abendland nie nach. Der Anspruch eines Wesens, das aus dem vorgegebenen Kreislauf der Natur – seinem stolzen Selbstverständnis nach – heraustrat, bestand von den ersten Anfängen darin, zur Selbsterkenntnis zu gelangen, deren es sich als einzige aller Kreaturen fähig weiß. Mit diesem Austritt aus der magischen, mit kundigen Kunstgriffen handhabbaren Zauberwelt ist jedoch eine Distanz zu weltlichen und göttlichen Mächten aufgetan, die es denkend und handelnd zu schließen galt. Die Welt der symbolischen Verdoppelungen drängt von sich aus zur potenzierten Selbstreflexion. Die hellenisch in die Welt gesetzte Philosophie, dieser uns geläufige Verwalter der organisierten Welterkenntnis schlug mit einem Bedürfnis der begrifflichen Klarheit Wege zu allgemeinen Ideen ein: die ihr eigentümliche intellektuelle Rationalisierung der Weltinhalte nahm immer neue Anläufe in die Sphäre des unwandelbaren Seins. Als Instrumente der Generalisierung wurden Kategoriennetze über die Welt ausgebreitet, in der Hoffnung, immerwährende Wahrheiten denkerisch einzufangen. Als adäquate Erkenntnisinstanz einer vernunftmäßigen Welt erschien die menschliche Vernunft, die tendenziell nach allgemeinen Gültigkeiten, ohne Absehen auf den Einzelnen, zu fragen berufen sei. Das Individuelle und somit Zufällige zum Allgemeinen zu läutern und dadurch als notwendig zu bewähren – darauf lief das ganze Bestreben des philosophischen Alldenkens hinaus. Der Mensch an sich wollte mit seinem Geistesauge, fernab von allem bloß Irdischen, geistiges Weltwissen an sich erringen.6 Ähnlich ist es mit dem Begriff des Gesellschaftlichen im Menschen bestellt, der seine abendländische Karriere als politische Kategorie angetreten hat. Ob nach ursprünglicher Neigung, wohlverstandenem Interesse oder geteilten Vorstellungen des Wertvollen, Menschen gesellen sich über das Primäre des Familienbandes hinaus. Die Staatsphilosophie als Lehre der anstaltsmäßigen Ordnungsgefüge war die prinzipielle Suche nach der besten aller möglichen Verfassungsformen; die rechten Regeln des Zusammenlebens sollten dabei der allge-

5

Zu den Problemen der Deutung Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 17ff.

6

Zu der wechselnden Tragweite der Begriffe s. Max Webers Andeutungen: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, S. 165 und ders.: „Wissenschaft als Beruf“, GAWL, S. 538ff.

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meinen Menschennatur entsprechen. Der späte Gedanke einer gemeinsamen Identität scheint das Erbe des idealen Gemeinwesens anzutreten, als Inbegriff der immer mehr gebrochenen Zugehörigkeit. Es ging also für die vermenschlichenden Denkbewegungen, nach den frühen Bohrversuchen in den kosmischen Urgrund (arché) aller Dinge, um den Menschen schlechthin: die Mahnworte des Delphischen Apollotempels haben, trotz des sprachlichen Selbstbezugs, nicht mit „mir“ oder eben „uns selbst“, geschweige denn mit „meinem Selbst“ zu tun. Von menschlicher Identität im Singular oder im Plural zu sprechen ist weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein. Der jedem innewohnende Allgemeinmensch ohne bedeutsame Besonderung ist eine ideelle Gestalt einer demokratisch angelegten Poliswelt, nach dem Zerfall der archaischen Ritterwelt: ein sesshaft gewordenes entmilitarisiertes Intellektuellenbedürfnis erforscht hier die festen Grundlagen des Menschseins, ohne mythische Verankerung und priesterliche Anleitung. Um die Regeln des engräumigen Miteinanders aufzufinden, soll stabile Selbstdeutung wie stabile Welt- und Sozialordnung gleichermaßen bis zu unpersönlichen Anhaltspunkten aufsteigen.7 Alles andere – das individuell wie das traditionell Irrationale – findet in den Gefilden der Kunst und der Religion seine gehörige Stätte. Das persönlich Herausragende, das die von jedem erwartete „Mitte“8 übersteigt, wird episch besungen, um das Fortleben über den Tod hinaus zu gewährleisten. Unerklärliche Wendungen des Lebensschicksals werden zunehmend personifizierten übernatürlichen Wirkkräften (moira, daimonion) verrechnet, die auch für Zuständlichkeiten des „ich konnte nicht anders“ einbeziehen werden können. Das immer weniger willkürlich Auferlegte oder Eingeflossene trotzt allerdings jedem Menschenwillen, wie auch die Einheitsidee des Menschen überhaupt als Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte dasteht.9 Der tragische Held sieht der Macht des ihm göttlich zugewiesenen Verhängnisses ohne Zittern entgegen: sein Heldentum besteht in der pflichtbewussten Auflehnung – oder eben der Bereitschaft zum Gehorchen. Das Einzelschicksal wird orakelhaft erfragt, das Einzelheil in

7

Zum Charakter der entmilitarisierten Intelligenz und der Poliskultur Max Weber: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 306 und ders.: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, S. 136f. Zur Analogie der Seelenteile und der idealen Staatseinrichtung vgl. Platos Politeia.

8

Die tugendhafte „Mitte“ ist bei Aristoteles durchaus situativ und persönlich, insofern

9

Vgl. Eric R. Dodds: Die Griechen und das Irrationale, Vorwort; zum homerischen

also nicht in völliger „Ungebundenheit“ gedacht, vgl. seine Nikomachische Ethik, II. Menschenbild Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes, Kap. 1. Zu einer kurzen Begriffsgeschichte Jan N. Bremmer: „Die Karriere der Seele“.

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der Ehre der Nachkommen gesucht. Nach literarischen und religiösen Randgebieten des philosophischen Nachdenkens richtet sich auch die frühe wie die späte hellenische Resignation: orphische Wanderung der körperlich eingekerkerten Seele durch eine Lebenskette hindurch und stoischer Ausbau einer „inneren Burg“ soll therapeutische Zuflucht für den Menschen in seiner leidensvollen Individuation bieten.10 Um nach „Athen“ einen Blick nach „Jerusalem“, diesem anderen Angelpunkt des Abendlands zu werfen: gemeinsame Erlösung aus den verschiedenen, aber durchaus handgreiflichen „Häusern“ der Knechtschaft für das ganze „Volk“ schwebt als grundsätzliches Heilsziel vor den Augen der israelitischen Eidgenossenschaft. Das Bündnis, das mit einem persönlichen Gott geschlossen worden ist, soll die heilvolle Zukunft vorsehungshaft verbürgen: die göttliche Weltlenkung fügt das Geschehen nach dem treuen oder eben abtrünnigen Wandel der „Auserwählten“. Nicht mehr die äußerlich bleibende, am „Gesicht“ haftende „Scham“ vor den gegenwärtigen Mitbürgern, auch nicht die zeitbewusste „Schuld“ mit ihrem Sitz im Herzen, vielmehr die eingefleischte Einheitsgesinnung der „Sündhaftigkeit“ vor dem einen Gott bringt Sinnbildungsprozesse der Hingabe in Gang. Nur die Solidarhaft aller Bundesglieder, nötigenfalls der ganzen Welt gegenüber, sichert Erlösung aus allem Übel, d.h. diesseitiges Wohlergehen der Nachfahren. Das prophetische Wort ruft einen jeden zum rechten Wandel vor Gott um diesen Zieles willen auf. Definitiv individuell angesprochen wird das Heilsbedürfnis des Menschen in seinem individuell „unverdienten Leid“, nach israelitischen Ansätzen, von der Jesus-Bewegung mit ihrem väterlichen Gott, auch wenn der Weg zur Erlösung durch die immer fester gefügte Gemeinde führt. Die nachsichtige Milde der Kirchen und die wählerische Strenge der Sekten hat den heilsbedürftigen Einzelmenschen mit seinen immer systematischer eingeübten Glaubensleistungen zu ihrem Subjekt, das sich aus der Außerweltlichkeit des bevorstehenden Eschatons immer selbstbewusster ins Innerweltliche hinaustraut.11

10 S. Pierre Hadot: Die innere Burg sowie die ganze Einsamkeitsliteratur von Epiktet durch Montaigne bis Pascal. 11 Zur Doppelwurzel Europas s. den Aufsatz von Leo Strauss: „Jerusalem and Athens“. Zur Soziologie des Judentums nach wie vor Max Weber: „Das antike Judentum“, GARS III, zum „unverdienten Leid“ ders.: „Einleitung“, GARS I, S. 246. Soziologisches zum Frühchristentum Gerd Theißen: Die Jesusbewegung; zur Geburt des „innerweltlichen“ Individuums Louis Dumont: Individualismus. Zur „Sündenkultur“ Jan Assmann: Herrschaft und Heil, Kap. VII. Zur begrifflichen Unterscheidung von Kir-

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In beinahe jedem Bezug erscheint der frühe Buddhismus, in einer Folgerichtigkeit indischer Welt- und Selbstverhältnisse, als das hochkulturelle Gegenbild zum Christentum in seinen prinzipiell konsequentesten Ausformungen. Dem immanenten Prinzip des unpersönlichen Göttlichen, das den Kosmos bis zu den Göttergestalten hinauf durchwirkt, entspricht ja ein Mensch, der in der leidensvollen Vergänglichkeit des ewig sinnlos rollenden Weltkreislaufs sich im kontemplativen Selbstverzicht übt, bis zur restlosen Ichlosigkeit als Aufgabe jeden Trägers von Einzelhandlungen und Wiedergeburten. Der Verwicklung in jede Geschäftigkeit zu entrinnen, die Durst der Individuation auszulöschen ist das höchste Ziel, wie die berühmte Unterredung Buddhas mit seinen Schülern bezeugt: „Ist es richtig, das Unbeständige, Leidvolle und der Veränderung Unterworfene so zu betrachten: ‚Das ist mein, das bin ich, das ist mein Selbst?‘ – Keineswegs, Herr.“ Die Vergemeinschaftung der einzelnen Heilssuchenden erschöpft sich in einem mönchischen Klosterleben in Vereinzelung. Die in ihrer Eigengesetzlichkeit anerkannten Ordnungen der Welt, die das Gerüst der sozialen Gliederung darstellen, werden vom Entsagenden um des Heils willen bereits hinduistisch verlassen.12 Philosophisch aufgebrochen zur Identitätsfrage wird es nun an einem Punkt der Subjektivität, den die Philosophie des Abendlands erst nach langwieriger Bearbeitung von „Was“-Fragen erreichte. Nicht mehr die allgemeine Beschaffenheit des Menschen und seiner geregelten Zugehörigkeit, nicht mehr die abstrakten Prinzipien des tugendhaften Lebens gilt es herauszufinden. Höchstpersönliche Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wer sind wir?“ sind dabei, die vornehmsten Fragen der Metaphysik zu verdrängen. Die religiöse Einheit der Seelensubstanz, aus einem materiellen Kernstoff ins Unsterbliche spiritualisiert, sowie die lange beteuerte Urwüchsigkeit der Gruppe, von göttlichen Ahnen abgeleitet, haben sich in inneren und äußeren Wirbeln des Einzel- und des Gruppenlebens allmählich verflüchtigt. Eine funktionale Beweglichkeit der Selbstreflexion bildet sich dafür mit Verheißungen der Gefügigkeit aus. Nie war der Mensch so souverän auf sich gestellt, und nie war er, sich als Schöpfer zumindest seiner eigenen Welt wissend, mit einer größeren Last bela-

chen und Sekten s. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, etwa S. 358ff. 12 Zu einer Soziologie der Heilsziele und Erlösungswege Max Weber: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 319ff; zur „Ichlosigkeit“ des Buddhismus ders.: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, S. 175ff und 220ff. Vgl. noch Sven Sellmers vergleichende Arbeit zu altgriechischen und indischen Subjektkonzepten: Formen der Subjektivität, Zitat S. 288.

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den. Die Verweltlichung der irdischen Ordnungen rückt die Welt in Gottes- und Menschferne ab, was den Menschen nach wie vor als Gottlosigkeit und Unmenschlichkeit anmuten kann: eine durch und durch weltliche Welt nimmt mit ihrer Eigengesetzlichkeit immer göttlichere Züge an. Die entfesselte Vergöttlichung von Gott schleudert ihn in eine weltferne und menschenfremde Stellung, bis er aus dem menschlichen Gesichtskreis schließlich entschwindet. Für den Menschen aber, von Gott entfernt in der Welt verblieben, scheint sich ein Weg zur gotthaften Autonomie anzubahnen. Angesichts des elementaren Bedarfs an erfüllender Einheit wird jedoch immer wieder Zweifel laut, ob er dem Drang und Zwang zur Selbständigkeit genügen kann, und die Befürchtung, dass er sich im Vielerlei verliert, ist schwer zu stillen. Der Sinn der Vermenschlichung bleibt offen und dem fragenden Menschen selbst aufgegeben. Das Unverfügbare findet ihren zumeist entlegenen Ort in der ‚Natur‘: im genetischen Bestand oder – für den unterhaltsamen Hausgebrauch – in den Konstellationen der Sternenwelt. Die heutige Weltsicht, die sich im Geiste der fundamentalen Veränderlichkeit orientiert, zeigt nun nicht nur die Idee der Identität, sondern selbst ihr tief durchlebter Gesinnungsbestand als historisch gewachsen. Um dem Sachverhalt eine unmittelbar soziologische Wendung zu geben: Erst im Rahmen selbstregierender Einrichtungen tritt der selbstlenkende Mensch nach vielen Vorstufen der Autonomie auf die Bühne. Die wirtschaftliche und politische Selbstgesetzgebung der neuzeitlichen Stadt, diese Siedlungsform und Lebensprinzip in einem, ist der genuine Boden der Bürgerlichkeit mit Eigenverantwortung. Die sozioökonomische Durchbrechung des Herrenrechts ruft demokratisch formalisierte Verbrüderungen ins Leben, welche die organisch-materielle Naturwüchsigkeit der Sippenordnung überwinden: die religiöse Vergemeinschaftung der Eucharistie lässt jeden am Tisch des Herren teilnehmen (commensalitas). Der Einheitsrahmen des nationalen Verfassungsstaats wird dann die Binnenwelt der zerstreuten Stadtkörper flächendeckend vergesellschaften.13 Der eigentliche Geburtsort des Identitätsgedankens ist jedoch die im Zerfallen begriffene Außen- und Innenwelt des heutigen Daseins, die eine Reihe von alten und neuen Subjekt- und Gruppenformen gedeihen lässt. Die verlorene Selbstverständlichkeit von allumfassenden Sinnordnungen bringt den Einzelmenschen, immer mehr auf sich zurückgeworfen, in Entscheidungsnot: selbst die festgefügt überkommenen Einheiten sind auf bestätigende Übernahme laufend

13 Zur okzidentalen Stadt im Vergleich mit anderen Stadtformen Max Weber: „Typologie der Städte“, WuG, S. 727ff; zur Rolle der Eucharistie in der „Geburt“ der Bürgerschaft ders.: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, S. 40. Zur „städtischen Revolution“ Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung 2, S. 463ff.

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angewiesen.14 Selbstgebilde und Sinngemeinschaften tragen einen unauslöschlichen Wahlcharakter. Es sind die Spannungen einer radikalen Beweglichkeit, die auf dem Boden der Welt- und Selbstbeherrschung erhöhte Bedürfnisse der persönlichen Einheit und der kollektiven Verbundenheit wecken. Der Drang nach dem Identischen wurzelt in verschärften Differenzen: Erlebnissen des Flüchtigen, Zerbrechlichen und Gespaltenen – eine Disposition, die in den verschiedenen Identitätslehren, je nach ihrer Anlage anders gewichtet, Beachtung findet. In Abweichung von den höchst elaborierten Konzeptionen der menschlichen Identität, die diese selbst zu ihrem Gegenstand wählen, wird hier nach der Frage der Identität gefragt. Es wird, im Zeichen einer potenzierten Selbstreflexivität, den wendungsreichen Denkbahnen des Identitätsgedankens nachgegangen, nachdem wohl alles zu unseren Zeiten Denkmögliche bis zu den letzten Konsequenzen durchdacht und gesagt wurde. Es scheint an der Zeit zu sein, auf diese Fülle von Vorstellungen als Vorstellungen ein gleichsam „begriffssoziologisches“ Licht zu werfen.15 Identitätsbegriffe werden auf ihr Interessenumfeld bezogen: Erfahrungen und Erwartungen, Einrichtungen und soziale Positionen stehen ja in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zu geistigen Stellungen. Innere und äußere Identitätsgeneratoren können dingfest gemacht werden: außer dem geistigen Bedürfnis der Einheit besteht ja ein rechtlicher Bedarf an Kontinuität der Zurechnung, vom kapitalistischen Wirtschaftsbetrieb strengstens eingefordert.16 In der Sprache der „Innerlichkeit“ und der „Identifikation“ drückt sich eine Wirklichkeit aus, die in symbolischen Benennungskämpfen mit festgelegt wurde. Die handlungsleitende Kraft des Begriffs speist sich wiederum mit aus der Macht des Begriffenen. Kant paraphrasierend: Erlebnisse ohne Deutungen sind

14 S. dazu Peter L. Berger − Thomas Luckmann: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, bes. S. 44ff. 15 Zu einem selten anzutreffenden begriffsgeschichtlichen Ansatz in der Unmenge der Identitätsliteratur: Philip Gleason: „Identifying Identity. A Semantic History“; ideengeschichtlich ausgerichtet das mächtige Werk Charles Taylors: Die Quellen des Selbst; soziologisch angelegt Andreas Reckwitz: „Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik“. S. noch die instruktiven Studien von Jürgen Straub: „Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs“ und ders.: „Identität“. Ein aktueller Sammelband zu den Problemen der personalen Identität Richard D. Ashmore – Lee Jussim (Hg.): Self and Identity. Fundamental Issues. Zu den unterschiedlichsten Aspekten des Begriffs die tiefschürfenden Aufsätze in: Odo Marquard – Karlheinz Stierle (Hg.): Identität. 16 Als einer der ersten modernen Theoretiker der ‚Person‘ bezeichnet sie John Locke ausdrücklich als „forensic term“.

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blind – Deutungen ohne Erlebnisse sind leer. Für eine soziologische Betrachtung gewähren Begriffe Einblicke in die jeweiligen Welt- und Selbstverhältnisse des Menschen: Vermittlungswege zu uns selbst in unserer historischen Verfassung. Irrationalitäten der Welt drängen den Menschen dazu, durch rationale Sinngebilde Ordnung in die Mannigfaltigkeit zu bringen. Auch der Anspruch des Identischen wurde, reich gegliederten Differenzen gegenüber, unterschiedlich ‚rationalisiert‘: nach verschiedenen Gesichtspunkten und in verschiedene Richtungen denkerisch durchorganisiert. So gesehen treten – statt eines kumulativen Inventars an Identitätswissen − von Grund auf verschiedene Selbsthaltungen zutage, die oft in einem prinzipiell unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen. Statt eines begriffsgeschichtlichen Durchgangs werden, dem Historischen und dem Systematischen gleichen Tribut erweisend, die konsequentesten Positionen in historischer Folge dargestellt, alles auf unseren Zusammenhang zugeschnitten. Das Absolute in seiner hypothetisch gebrochenen Alleinheit erscheint als naheliegender Einstieg in die Bearbeitung des Identischen; das Konkrete mit den neu entdeckten Höhen und Tiefen einer eigengesetzlichen Welt erscheint als erfinderische Fortsetzung; das Soziale im Ausgang von dem Einzelnen und der Gruppe erscheint als sachgerechte Ausbreitung; die menschlich getragene Kultur mit ihrem Differenzsinn und Kohärenzgespür erscheint als Umdenken bekannter Denkfiguren zwischen Skepsis und Zuversicht. Ein Abstellen auf logische Geschlossenheit und prinzipielle Zuspitzung soll der Klarheit des Blicks dienen. Die einzelnen Perspektiven lassen, in unterschiedlichen Voraussetzungen verankert, vollständige Identitätswelten aufscheinen, ohne jedoch ein definitives Ganzes an sich herzugeben.17 Die „innere Not“ des metaphysischen Bedürfnisses, äußeren Nöten mehr oder weniger entbunden, ließ seit ihrem Erstarken Deutungen der Welt und darin des Menschen groß werden, die sich dem Gebot der denkerischen Konsequenz verdanken. Das theoretische Anliegen von sinnhaft verankerten Allzusammenhängen genießt, trotz aller erdverbundenen Spötterei, hohes Ansehen. Der Intellektuelle als Virtuose der Sinnverwaltung sucht seiner Lebensführung, wie bei Max Weber zu lesen, „einen durchgehenden ‚Sinn‘ zu verleihen, also ‚Einheit‘

17 Zur Erfahrung der „Irrationalität“ der Welt als Triebkraft der Religionsgeschichte Max Weber: „Politik als Beruf“, GPS, S. 444; zur Logik der „idealtypischen“ Methodik sein „Objektivitätsaufsatz“, GAWL, S. 190ff. Es verdient kaum der Erwähnung, dass es hier keineswegs um eine – noch so komprimierte – Gesamtdarstellung von theoretischen Kompositionen gehen kann. Auch Verweise auf die lehr- und überreiche Sekundärliteratur zu den einzelnen Autoren werden auf das Nötigste reduziert.

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mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos.“18 Die Kohärenzlösungen der abstraktesten intellektuellen Stellungnahmen, von unterschiedlichen Einheitsvisionen heraus an die Welt angelegt, bleiben allerdings nicht an den noch so dichten Grenzen der „Literatenschicht“ stehen: außeralltäglich geschaffene Identitätslehren popularisieren sich nunmehr massenmedial zum orientierenden Gemeingut der philosophisch Laien, um die widersprüchlichsten Verbindungen in voller Geistesruhe einzugehen. Intellektuellen wittern und haben ja nicht nur weltenthobene Interessen. Folgende Mahnung wird wohl an rechter Stelle nicht erspart werden können. Eine Übersicht der geschichtlich erwachsenen Vielfalt der Identitätskonzepte führt ein vielfach gebrochenes Selbst vor Augen. Die entkräftende Macht der historischen Behandlung von geistigen Gebilden lässt nicht einmal die allerheiligsten Lebensinhalte unerschüttert. Insofern kann eine Untersuchung, welche an die noch so mächtigen Leistungen der menschlichen Selbsterkundung soziologisch herantritt, auch unwillentlich zur Entzauberung der eigenen Identität beitragen. Es geht ja schließlich im engsten Sinne um uns selbst. Im Auftakt seines gewichtigen Büchleins zum „Problem des Menschen“ wird uns von Martin Buber ein Bericht über einen großen Lehrer des chassidischen Judentums überliefert.19 Dieser hätte einst ein Buch verfassen wollen, das „Adam“ heißen sollte, um den „ganzen Menschen“ darin zu behandeln. Dann aber hätte er sich besonnen, dieses Buch nicht zu schreiben. Besäße man die Weisheit „eines wirklichen Weisen“, so würde man wohl auch auf Entwürfe wie den nachstehenden, mit weitaus geringeren Ansprüchen angelegt, beizeiten verzichten. Das Wagnis, diesen Versuch trotzdem vorzulegen, soll geschehen mit Mut zu großen Bögen und mit Demut vor dem Menschen, der von dem Fragen nach Identität innerlichst betroffen ist.

18 Max Weber: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, 307f. Zur Rolle der theoretischen Konsequenz des Denkens ders.: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 537. 19 Martin Buber: Das Problem des Menschen, S. 9.

Die Verabsolutierung der Identität

Mit selbst- und welterrichtender Wucht bemächtigt sich die Idee des Identischen an der Wende zum 19. Jahrhundert der ganzen Breite der abendländischen Geisteskultur. Den gewaltigsten Einstieg in die Systematik dieser Idee bietet, sobald der Ausdruck eine Wendung vom Logischen zum Metaphysischen durchmacht, ein philosophisches Programm, das sich geradezu danach benennt. Nicht mehr die Frage des numerisch Gleichen beliebiger Gegenstände, derer Beliebigkeit der Mensch als Fall unter Fällen vermehrt, vielmehr der Fragende mit seinen wesenhaften Selbst- und Weltbezügen ist das zentrale Anliegen dieser „Identitätsphilosophie“. Der ehemalige Formbegriff, der zur Erfassung von bleibenden und unverwechselbaren Eigenschaftsbündeln gedient hat, nimmt unter dem wachsenden Druck eines menschlichen Selbstheitsdrangs substanzielle Züge an. Das denkbar Äußerste wird im Gedanken des ‚absolut Identischen‘ von einstigen Theologiestudenten erreicht und sogleich in dreierlei Varianten facettenreich ausgearbeitet. Das sich setzende ‚absolute Ich‘ von Fichte, das All-Eine der absoluten ‚Indifferenz‘ von Schelling, der in spannungsreichen Differenzen sich mit sich versöhnende ‚Weltgeist‘ von Hegel – diese sind zeitgleiche Antworten auf die Frage nach tragfähigen Gründen des Absoluten in einer Zeit, als es geboten ist, das Absolute, diesen größten Anspruch jeder Philosophie, nur noch in Kategorien der Subjektivität zu denken. Damit sind zugleich alle radikalen Möglichkeiten begangen, die sich unter den gegebenen geistigen Bedingungen für das Identitätsdenken auftun. Die theoretische Radikalität, die bis zu den ’Wurzeln’ der Sachen dringt, unternimmt in einem Sturm und Drang äußerer und innerer Mächte eindringliche Versuche, das längst nicht mehr mit sich identisch Empfundene ein letztes Mal auf einen einzigen Begriff zu bringen. Das europäische Geschehen macht kurz zuvor einen revolutionären „Ruck“: die Begeisterung eines erregenden Umbruchs lässt das Absolute philosophisch und dichterisch als innerweltlich Mögliches denken. Die geistige Erregung bricht ins Unendliche auf. Mensch und Welt sollen mit dem göttlichen Einen zusammenfallen, wobei Art und Weise des

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Zusammenführens sowie seine Schwierigkeiten dem primären Charakter des jeweils umfassenden Ganzen entspringen. Die Urgrößen der abendländischen Metaphysik – Mensch, Welt und Gott – neigen in der Folgerichtigkeit der philosophischen Spekulation dazu, eine nach der anderen, sich zur umgreifenden Wirklichkeit auszudehnen.1 Dies alles will, wie angedeutet, den zeitgemäßen Denkmöglichkeiten durchaus genügend gedacht werden: hinter die Stellungen des sich selbst klärenden Erkennens möchte denn keiner mehr, der mit dem ‚Zeitgeist‘ – selber ein Ausdruck der Zeit – Schritt zu halten sucht, zurückfallen. Der philosophische Aspekt der neuzeitlichen Geistigkeit manifestiert sich in einer vernunftkritischen Haltung der Vernünftigkeit, die schlagwortartig mit Immanuel Kant verbunden werden kann.2 Die paradoxe Formulierung steht dabei stellvertretend für eine Reihe von Entzweiungen, sowohl im Inneren wie auch im Äußeren. Die gestaltenreichen Dualismen von Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Seele und Körper, durch die die Lage des Menschen, in ein Zwischen von Sein und Nicht-Sein eingespannt, seit jeher beschrieben wird, steigern sich zu widersprüchlichen ‚Antinomien‘ des Menschendaseins.3 Handlungsfreiheit sei mit Naturnotwendigkeit immer mühsamer gleichzustimmen. Die Verdoppelungen des Menschen, die sich in die Begriffsversuche zu seiner Verfassung immer tiefer einschreiben, stehen jedoch erst am Anfang von Diagnosen seiner Zersplitterung. Den Zerrissenheitserfahrungen im menschlichen Weltverhältnis, die bald einen selbständigen Wissensbereich des Sozialen disziplinieren lassen, entsprechen Zwiespältigkeiten in seinem Selbstverhältnis. Das empirische Wissen gliedert sich wie von sich selbst Bruchlinien entlang: Spannungen zwischen ungleichartigen Lebensbereichen legen sich als Perspektiven für Registration und Klassifikation des dauernd anwachsenden Erkenntnismaterials nahe. Das Wirtschaftliche ist nicht religiös, das Wissenschaftliche nicht künstlerisch, das Politische nicht erotisch organisiert – und so zwischen allen Ordnungen mit ihren ‚Eigengesetzlichkeiten‘ hindurch.4 1

Zum neuzeitlichen Schicksal dieser metaphysischen Eckpunkte Karl Löwith: „Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche“. Zum „Ruck“ des Weltgeistes Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 19, S. 488.

2

Zu einer Begriffsgeschichte der Vernunft als einer zunehmend selbstkritischen Vernunftkritik Herbert Schnädelbach: Vernunft, zu Kant S. 84ff.

3

Vgl. dazu, Karl Jaspers‘ These von der „Achsenzeit“ auslotend, neulich Robert N.

4

Die Aufzählung der Ordnungen ließe sich weiter fortsetzen und sogar unterteilen, wie

Bellah – Hans Joas (Hg.): The Axial Age and its Consequences. in der Soziologie üblich, vgl. Niklas Luhmanns „Teilsysteme“ oder Pierre Bourdieus „Felder“. Wir halten uns hier an Max Webers „Zwischenbetrachtung“.

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Innerhalb der philosophisch höchstgeschätzten Instanz der menschlichen Weltbearbeitung, die im Namen des ‚Rationalen‘ immer mehr zum höchsten Richter aller Weltinhalte emporsteigt, werden Risse identifiziert. Erweist sich die Idee des Endlichen und des Unendlichen, des Notwendigen und des Freien als gleichermaßen folgerichtig denkbar, so steht letztlich Vernunft gegen Vernunft. Die gegenseitige Unverträglichkeit von Gültigkeiten auf dem gemeinsamen Boden des Denkens bedarf gesteigerter Anstrengung, damit es mit sich zumindest im Einklang, wenn auch nicht mehr eins bleibt. Der interne Zwist wird mit einer erhöhten Selbstermächtigung beigelegt: die zum Charismatischen verklärte Vernunft, dieser große Hoffnungsträger einer ganzen Epoche, könne schließlich nicht anders, als zum eigenen „Gesetzgeber“ zu werden.5 Dabei meint sich der Mensch in diesen Bemühungen immer mehr auf sich gestellt. Die neuartigen, weil verschärften Spannungsverhältnisse, die mit den ebenso neuartigen, weil menschenbezogenen Vermittlungsversuchen ‚Moderne‘ heißen, scheinen keine übermenschlichen Versöhnungsmächte mehr zu dulden. Der moderne Anspruch, „auf eigenen Füßen zu stehen“, ist immer entschlossener auf Welt- und Selbstbeschreibungen ohne jeden Transzendenzbezug ausgerichtet. Der neue Schlüssel des geistigen Weltzugangs heißt nach Jahrhunderten des philosophischen Objektdenkens: ‚Subjekt‘. Im objektivistischen Paradigma des – griechisch-selbsttragenden oder christlich-gottgeschaffenen – Einheitskosmos war jedem Seienden ein fester Platz im wohlgeordneten Weltgefüge vorgesehen. Das Seinsganze ging seinen Teilen prinzipiell voran, von der hellenischen Polis durch das römische Reich bis zur christlichen Kirche. Der Logos des Einzelnen klang mit dem der Gesamtheit zusammen: alles mit sich selbst Identische war letztlich auch mit dem Allgemeinsten und daher Gültigsten identisch, oder zumindest Platzhalter eines Weltgesetzes an seiner ihm fügungshaft zugewiesenen Stelle mit einem entsprechenden Bestand an Geschäften. Die althergebrachte Überzeugung, dass die Seinsordnung in ihrer grundsätzlichen Vernünftigkeit durch angespannte Vernunftarbeit einzusehen sei, wird inmitten heftigster Außenbewegungen, mit Verweis auf die Subjektivität allen Denkens, aufgegeben. Die Bezüge zwischen den Brechungen des Erfahrungslebens und den Wandlungen des Selbstverstehens, dieser merkwürdige Gleichlauf der äußeren und inneren Bewegungen, stehen seitdem, ihrem Maß und Charakter wie ihrer Richtung nach, im Zentrum des verstehenden, erklärenden oder eben begründen5

Zur Vernunft als bisher letzter Gestalt des Charisma s. Max Weber: „Herrschaftssoziologie“, WuG, S. 726. Zu den „Antinomien“ der Vernunft Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [1787], B 433ff, zur Vernunft als Gesetzgeber ihrer selbst in erkenntnistheoretischer Hinsicht ebd., B 697, in praktischer Hinsicht ders.: Kritik der praktischen Vernunft [1788], A 126ff.

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den Interesses. Wie auch immer die Lösungsidee – ein Gegenstand der vorliegenden Studie – ausfallen mag, die Beziehung der Welterscheinungen auf den Menschen steckt nun den Horizont des überhaupt Wissbaren ab: die Welt der Erkenntnisse müsse sich endlich, nach langer Zeit menschlicher Weltanpassung, nach der Subjektivität des Erkennens richten. Dem fragenden Subjekt zeigt die Welt ein subjekthaftes Antlitz: das kosmische Modell eines einheitlichen Weltsinns gibt menschlich bewohnten Sinnwelten Raum. Die Philosophie, dieser berufsmäßige Verwalter der prinzipiellen Beziehungen zwischen Mensch, Welt und Gott, orientiert sich nach Fragen der Selbstgewissheit um, und errichtet Sinnzusammenhänge des Menschenbezugs. Das fortschreitende Abrücken von den „ersten“, d.h. außermenschlichen letzten Gründen bewirkt freilich eine Zunahme des Freiheitsgrades der menschlichen Welt- und Selbstgestaltung. Eine eigentümliche Gebrochenheit schleicht jedoch in die dadurch ermöglichten Fragestellungen hinein, indem nicht mehr der „Beschaffenheit“ des Gegebenen, sondern seiner menschlich bedingten „Möglichkeit“ nachgespürt wird. Das einst zugrunde Liegende sei nun erst zugrunde zu legen. Die Geisteshaltungen pendeln zwischen einer quälenden Stimmung des Zweifels, die den rechten Weg des Erkenntnisgewinns ebenso erfasst wie die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebenszusammenhangs, und einer Selbsterhöhung, die sich mitunter bis zur rauschhaften Selbstvergötterung aufschwingt. Diese Art des Nachdenkens über das eigene Denken kann dabei auf Ansätze zurückgreifen, die im Rückblick bereits einer Kultur der Subjektivität zuarbeiten. Die Ansicht einer vormodernen Welt, für welche die Begriffsmittel zur Identifizierung des Allgemeinen nicht mehr einer übersinnlichen Wirklichkeit angehören, bahnt unbeabsichtigt den geistigen Rückzug auf den inneren Menschen an. Nicht mehr schreibt das Allgemeinste – Name unter Namen – zugleich das Gültigste vor, wie noch im kirchlich verfassten Einheitsrahmen des hochmittelalterlich philosophierenden Christentums. Die Welt heißt zwar nach wie vor ‚Schöpfung‘, mit einem göttlichen Schöpfer an der Spitze des gotisch geordneten Ganzen. Das einheitliche Weltbild einer weiträumigen Einheitskultur vermöchte es zwar nach wie vor, die Mannigfaltigkeit der Lebensbereiche durch die getreue Nachahmung der göttlich eingerichteten Seinshierarchie in sich zu vermitteln. Auf dem Boden von antihierarchischen Bewegungen, die das innerweltliche Ordnungsgefüge in seinem göttlichen Zuschnitt in Frage stellen, schießt allerdings eine Geisteshaltung auf, für die die Denkinhalte den Status einer abgeleiteten Offenbarung, d.h. ihre unmittelbare göttliche Erkenntnisgarantie verlieren. Diese nominalistische Vorstellung einer immerhin gottgegebenen Benennungsmacht des Menschen, die die Sammelwörter der gottgewollten Ordnung ausspreche, erweist sich somit als theologischer Vorstoß zur erkenntnisstiftenden Selbst-

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mächtigkeit der Vernunft: es ist die letzte theologische Stellung vor dem oft beschworenen totalen Perspektivenwechsel, der die Weltgegenstände auf die geistige Aufnahmefähigkeit des Menschen zuschneidet.6 Auch aus religiösen Quellen speiste sich die Einkehr des Menschen in seine eigene Mitte. Das Heilsstreben des Individuums, ausgestattet mit einer unsterblichen Seele, hatte mit der Verdorbenheit der Welt zu ringen, was die ‚Schöpfung‘ immer wieder zur sündenanfälligen ‚Kreatur‘ herabsinken ließ. Das platonisch belehrte Christentum Augustins liefert das philosophische Instrumentarium für die Innenschau, die nicht mehr den Umweg durch die noch so strahlende Seinsordnung Gottes zum inneren Licht nehmen müsse. Der persönliche Einblick führe in der Selbsterkenntnis zur allbegründenden Vollkommenheit hinauf. Die prinzipielle Spannung zwischen einem Innerem und einem Äußerem, die das Religiöse zunehmend um den Drang nach Erlösung organisiert, ist aber – nach biblischen und gnostischen Ansätzen – erst reformatorisch, durch die puritanistische Verinnerlichung der Glaubensinhalte und die Entfernung Gottes zu einem verborgenen, stellenweise bis zur Unerträglichkeit gesteigert worden. Der einzig authentische Weg zu Gott führe gleichsam weltumgehend durch uns selbst hindurch. Die religiöse Entzauberung der Welt konnte dann mit wissenschaftlichen Erkenntnisoperationen, an immanenten Ursachenketten interessiert, ungehindert vervollständigt werden. Dem innerweltlich organisierten Weltmechanismus sieht sich schließlich ein weltorganisierender Mensch mit vernunftgeleiteter Selbstkontrolle gegenüber: auch die innere Außenwelt der Leidenschaften soll in intellektuellen Dienst gestellt werden. Die welttragenden Fäden zwischen Gott und Mensch verdünnen sich für die philosophisch maßgebende Selbstreflexion, die mit wissenschaftlichen Ansprüchen auftritt, zum technischen Behelf von Verselbständigungsversuchen. Was in der zunehmend entseelten Welt zurückbleibt, ist der christlich sensibilisierte innere Mensch mit seiner unerschöpflichen Geistestiefe.7 Die gesamte Ambivalenz des geistigen Auf-sich-gestellt-Seins drückt sich paradigmatisch aus im theoretischen Gegenüber eines formgebenden Denkens 6

Vgl. Paul Honigsheim: „Zur Soziologie der mittelalterlichen Scholastik“ und Erwin Panofsky: Gothische Architektur und Scholastik; zum Begriff der ‚Einheitskultur‘ Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, S. 178ff.

7

Zur christlichen Formierung der modernen Innerlichkeit bei Augustin s. Charles Taylor: Quellen des Selbst, S. 235ff; zur Rolle Descartes‘ in der Geburt einer Philosophie im Sinne der modernen Wissenschaftlichkeit ebd., S. 262ff. Zur Soziologie des Protestantismus freilich Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, GARS I, bes. S. 114ff. Zum Weberschen Begriff der ‚Entzauberung‘ neulich Wolfgang Schluchter: „Die Entzauberung der Welt“.

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einerseits, einer unerreichbar bleibenden Wirklichkeit andererseits. An die Stelle des unbedingten Begründungsprinzips der ‚Transzendenz‘ tritt die Immanenz des ‚Transzendentalen‘, diese eminente Kategorie des Menschenbezugs, welche die allgemeinmenschlichen Bedingungen unseres theoretischen Weltzugangs festzulegen beansprucht. Das Gegebene gewinnt dadurch ein Doppelgesicht: auch wenn es in diesem Sinne als ein für uns Aufgegebenes gelte, seien wir auf weitere Zusammenarbeit angewiesen. Es gelte nun herauszufinden, wie weit unsere Eigenkräfte in dieser Lage uns tragen können. Indem das Erkennen diesseits einer nicht mehr erschaubaren Evidenz verbleibt, wird die Welt selbst, wie sie nicht für uns ist, unser inneres Ich in seinem Fürsichsein mit inbegriffen, zu einer Art Jenseits. Eine transzendental gestellte Frage kann nicht mehr mit Wesensbegriffen beantwortet werden. Jede Art von Einheit sei von nun an eine Leistung der vereinheitlichenden Geistestätigkeit des Menschen. Mehr noch, es ist eine „regulative“ Einheit des Menschengeistes selber, die als Vorbedingung zur Vermeidung einer zusammenhangslosen Vorstellungsflut eingesetzt wird: dem Einheitsbedarf des Geistes wird mit Ordnungsideen begegnet.8 Zentrale Aspekte der einstigen ‚Seele‘, dieser tragenden Instanz unseres „wahren Wesens“, werden als ‚Tätigkeiten‘ in Bewegung gebracht, ohne in eine bleibende Entität zurückgebunden zu werden. Die philosophische Tradition der Beharrlichkeit, die zwischen einem noch so „feinem Etwas“9 mit dinghaften Bestandteilen und einem Lebensprinzip mit vielfältigen Kräften hin- und herpendelt, wird im konditionalistischen Geiste aufgebrochen. Die Seelenmetaphysik erreicht hier ihren unüberwindlichen Höhepunkt der Sublimierung – scheinbar paradox durch die Ergebnisse des naturwissenschaftlichen Experimentierens mit gefördert. Der Vorgang der unablässigen Innenarbeit, die Kohärenz stiften soll, wird dabei mit einer irreführend substantivierenden Geste ‚Selbstbewusstsein‘ genannt. Einheit wird, im Inneren wie im Äußeren, weder im Voraus gesetzt, noch auf verschlungenen Denkwegen aufgefunden, vielmehr vorausgesetzt – und allenfalls im Nachhinein göttlich gebilligt. Das Denken schreite ja letztlich, wie im Bereich des menschlich Hergestellten, von einem Gegebenen immer zu einem Gebenden voran. Das Unendliche werde dem uns erreichbaren Endlichen, aus einem „Bedürfnis der Vernunft“ heraus, unvermeidlich hinzugedacht, ohne sich freilich in „Schwärmerei“ verlieren zu dürfen.10 Die zweifache Ausdeutbarkeit des Genitivs hält die Chance für den Menschen offen, das Diesseits der geschlossenen Naturbedingtheit durchzubrechen und zur eigenmächtigen Ursache ohne vorausgehende Ursachen zu werden. Aus dem wissenschaftlich durchorganisierten Kosmos 8

Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 391

9

René Descartes: Meditationes [1641], Kap. II, S. 28.

10 Vgl. z.B. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 479, ders.: Prolegomena § 35, 58.

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der Naturzusammenhänge wird das Reich der ‚Freiheitskausalität‘ ausgelagert. Die prinzipielle Möglichkeit eines Tuns, das aus den Bestimmtheiten des Bestehenden hinausbricht, hat Kant in der Verdoppelung der Ursächlichkeit etwas verzweifelt auf den Begriff gebracht.11 In dieser Freiheitspraxis, dem Weltganzen gegenüber – das empirische Ich mit seinen Naturhängen inbegriffen – allein bleiben zu können, liege die eigentümliche Würde des Personseins. Die Sakralität des Menschen beruht somit nach wie vor auf seinem gottebenbildlichen Anfangenkönnen. Die Idee der theoretischen Weltgestaltung wird im Begriff der ‚Autonomie‘ ins Praktische der Selbstgestaltung komplementiert. Das Ideal der allgemeinen Selbstgesetzgebung, dieser Inbegriff des ethischen Selbstbezugs, versucht sich an einem paradox anmutenden ‚individuellen Allgemeinen‘, um das persönliche Sich-selbst-Gehorchen auf eine öffentliche Vernünftigkeit einzustimmen. Die selbstgewollten Handlungen sollen sich vor der Höchstinstanz der weitesten Allgemeinheit bewähren, wobei letztere, über alles Inhaltliche hinweg, einer Selbstbehauptung nach rein formalen Gesichtspunkten zugeführt wird. Die spezifisch inhaltsleere Rationalisierung des Ethischen, die die weltgeschichtliche Fülle der handlungsleitenden Partikularitäten mit einem abstrahierenden Kunstgriff zu neutralisieren sucht, mündet hier in die nüchterne Umständlichkeit einer Selbsturteilsformel. Die althergebrachte goldene Regel der Gegenseitigkeit, d.h. die nachbarschaftliche Perspektivenübernahme des „wie du mir, so ich dir“, wird als Können des Erwartenwollens ins Konditionelle sublimiert und als prinzipieller Generalnenner unserer Gemeinsamkeit maximalisiert. Nach einer der weniger berühmten Fassungen: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ Oder anders gewichtet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“12 Für die Ungewissheit des „Als ob“ wird die gebieterisch klingende Formulierung des Moralischen aufgeboten. Dieses praktische Gegenstück des theoretischen Transzendentalismus bekleidet den Allgemeinmenschen, in der zweiten Person angerufen, mit der Verpflichtung der unausgesetzten Erwägung von Einzelnormen. Die gesetzstiftende ‚Autonomie‘ wird aus Landeshoheit zur Subjekthoheit personalisiert.13 Die hochabstrakte Selbstreflexivität eines einzigen Prinzips, das nur noch die Grundlagen für die Hervorbringung aller Einzelnormen legt, tritt an die Stelle der Befolgung jeder Fremdsatzung. Der neue Appell an die ‚Selbstge11 Zur Freiheitskausalität Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 444, B 472 12 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 54 13 Vgl. Rosemarie Pohlmann: Art. ‚Autonomie‘, in: Ritter–Gründer–Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, S. 701.

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setzgebung‘ bürdet dem Einzelmenschen die Selbstverpflichtung der restlosen Innensteuerung auf. Diese Moralisierung des Selbst in der Tradition eines persönlichen Gottes bedeutet die Verlagerung des Urteilszentrums von äußeren Autoritätsmächten ins Innerste des Menschen. Es war ja die überweltliche, d.h. gottbezogene Durchdringung der rechtlichen Regelwerke, die auf die Bahnen der zunehmenden Verinnerlichung von weltlichen Ordnungsideen führte. Die erlösungsreligiöse Erwartung einer einheitlichen Gesinnung ließ einen „inneren Menschen“ entfalten, der seine Handlungen immer entschlossener nach dem eigenen Seelenheil zu orientieren hatte. Die Schranken der weitestgehenden Systematisierung von Einzelleistungen wurden im Prophetenwort gesprengt: es galt, über die Selbstausrichtung an noch so flächendeckenden Gesetzsammlungen der Lebensregelung hinauszugehen. Eine „ethische Gesamtpersönlichkeit“,14 die aus Generalpflichten heraus handelt, trat auf die religiös eingerichtete Bühne zwischenmenschlicher Beziehungen. Die moralische Unbedingtheit verlagert sich dann in einem nicht mehr göttlich verstandenen Kosmos aus der Kompetenz Gottes in die Eigenwürde des Menschen. Es geht in der Formel Kants um einen entzauberten Durchbruch zur innerweltlichen Moralität, auch wenn sie zur nachträglichen Absicherung in die begriffliche Überwelt der Gottesidee und der seelischen Unsterblichkeit ausgreift.15 Der ideale Gedanke des als ‚autonom‘ gesetzten Selbst wird dabei um das vermeintlich Allgemeinmenschliche, auch ‚Weltbürger‘ genannt, zentriert. Die höchste Verantwortung soll nicht mehr dem noch so breiten Umkreis der eigenen Gruppe Rede und Antwort stehen: das verinnerlichte Überpersönliche ist der jedem von uns innewohnende ‚Mensch an sich‘. Beim Nachlass der Gruppenbindungen – den urwüchsigen Gemeinschaftlichkeiten entrissen oder entlassen – werden prinzipielle Stützen im kosmopolites gesucht, der den ganzen Kosmos zu seiner Heimat habe. Die Idee der Selbstidentifikation mit allen ‚Mitmenschen‘ nahm inzwischen, von christlichen Forderungen des ethischen Universalismus bedingt, in den verschiedenen Abwandlungen des stoisch geprägten Menschheitsbegriffs eine säkulare Form an.16 Dieser Einheitsgedanke, der in der Weiträumigkeit des römischen Großreichs konzipiert und durch neuzeitliche Globali14 Max Weber: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 324, 316ff. 15 Zur Versicherungsrolle der moralischen Gottesidee s. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 223−237. Zu einer Soziologie der Rechtsentwicklung in Webers Spuren Wolfgang Schluchter: Die Entstehung des modernen Rationalismus, S. 111ff. und ders.: Religion und Lebensführung 1, S. 200ff. 16 Vgl. dazu Troeltsch: „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“. Zur Universalisierung der Identität Bernhard Giesen: „Codes kollektiver Identität“.

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sierungsansprüche verstärkt wurde, will ja immer breitere Menschenmengen nicht nur im Sinne des bloß zahlenmäßigen ‚Jedermanns‘ ansprechen. Selbst die neutral gemeinten Einheitsbegriffe können von einem spezifischen Sendungsbewusstsein erfüllt werden: die allgemeine, weltbürgerliche „Absicht“ trägt, wie die kaum verhehlte Resignation der geschichtsphilosophischen Betrachtungen Kants zeigt,17 ein gutes Stück Vereinigungswille in ihrer Perspektive. Wie aber die religiöse Qualifikation der Menschen keine gleichmäßige Verteilung im Sozialraum zeigt, ist auch das abstrakte Denken keine soziologisch ungegliederte Größe. Die gesellschaftliche Schichtengliederung der Liebe zur Universalität ist eine empirische Frage. Die unwahrscheinliche Breitenwirkung dieser höchst anspruchsvollen Autonomie ist historisch an den modernen Weltkreis gebunden. Es scheint aber auch prinzipiell zu gelten: die Neigungen des Intellekts wenden sich in seinen universalisierenden Gesten von jeder Art Bodenhaftigkeit ab; das Abstrakte wächst zuungunsten des Konkreten heran; das ‚Allgemeine‘ ist, wie es in der Natur der begreifenden Weltbearbeitung liegt, immer um den Preis eines zunehmenden Inhaltsverlusts zu erkaufen. Der jeweilige Gesichtspunkt der Verallgemeinerung bleibt allerdings dem erlebnishaft Gegebenen verankert: dem persönlichen Einen des Okzidents, unter politischen Unheilserfahrungen universalisiert, steht das unpersönliche Eine des Orients, in immer wiederkehrenden Reichsordnungen verwurzelt, gegenüber. Auch wenn sich die Geistesarbeit des Okzidents von inhaltlichen Gottesordnungen zu formalen Vernunftprinzipien hinbewegt, können sich unsere Begriffe nie bis zur reinen Formalität entleeren, seien sie noch so konditional angelegt. Ein nicht weiter formalisierbarer Rest der Materialität bleibt als irrationaler Kern jeder formal organisierten Weltbearbeitung übrig, wie man dies etwa am Entwicklungsgang der allgemeinen Menschenrechte, mit den wechselhaft aufgefüllten Begriffen der ‚Person‘ in ihrer Mitte, studieren kann. Die transzendentale Idee wie die weltbürgerliche Absicht ist soziologisch gesehen, d.h. ihrer Welthaltung nach, die philosophische Lehre des selbst- und weltschöpferischen Allgemeinmenschen: beide werden denn, trotz aller beteuerten ‚Reinheit‘, von einem Interesse der denkenden und handelnden Weltbeherrschung mit geleitet. Das Erkennen erfordert hier die sinnhafte Gestaltung eines ‚Chaos‘ – der an sich sinnfreien Erscheinungsfülle – vom menschlichen Standpunkt aus. Die Festsetzung von erkenntnisstiftenden Bedingungen der Möglichkeit eröffnet einen weiten Möglichkeitsraum des inneren Bedingens, während Fortschritte in der technischen Machbarkeit die Idee einer welterrichtenden Souveränität äußerlich antreiben.18 17 Kant: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. 18 Zur Soziologie der religiösen Qualifikation Max Weber: „Einleitung“, GARS I, S. 260ff. Zur Soziologie der Menschenrechte ders.: WuG, S. 2, 496 und 725f. Zum Cha-

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Die Unzufriedenheit mit der kühl temperierten Nüchternheit des „Als ob“ führte jedoch, in der Konsequenz der Weltbeherrschung, bald wieder aus den intellektuellen Selbstbeschränkungen der Subjektivität hinaus. Die Rechnung einer weitgehend selbstbezogenen Weltbearbeitung wollte ja nicht reibungslos aufgehen: das Denken sah sich herausgefordert, vom Anspruch auf weiträumigere Freiheit getrieben, nach neuen Grundsätzen der Totalität zu greifen. Die Denktätigkeit einer ganzen Generation von Philosophen widmet sich sodann der Leerstelle, die vom verabschiedeten Einheitskosmos hinterlassen wurde: sie gehen im Umfeld politischer Wirrungen und Zergliederungen sicheren Geistes daran, sich des Weltganzen in festgefügten Denkordnungen zu bemächtigen. Die ausgefeilte Begriffsarbeit, die in der Tradition einer deduktiv durchrationalisierten Schulmetaphysik steht, will die Architektur des überkommenen Dreigestirns – Mensch, Welt und Gott – den neuen Freiheitsbedürfnissen zurechtbauen. Ein gärendes Zeitalter voller Gestaltungslust bäumt sich dann zum Tragen dieser Gedanken auf.

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Trägt nun das auf neuen Wegen erreichte Umgreifende primär menschliche Züge, so kann das Eine auf dem Boden der neuzeitlichen Subjektkultur nur ein Ich in nahezu ungebändigter Ungebundenheit sein. Wollen wir auch nur den letzten Resten von äußeren Bedingungen nicht erliegen, so ist die Welt in ihrem ganzen Bestand und Betrieb als Folgen von freien Taten unserer Innenwelt zu beschreiben. Um dies zu erreichen, muss nach der Ordnungstätigkeit der Vernunft auch die Sinnestätigkeit des Erfahrens in den Kreis der eigenen Kompetenzen einbezogen werden. Die konsequenteste Auffassung, in zahlreichen Entwürfen zu einer alles Schulmäßige hinter sich lassenden Philosophie von Johann Gottlieb Fichte erreicht, stellt die ‚Tat-sachen‘ der Welt schließlich als ‚Tat-handlungen‘ eines Ich heraus. Für die Überzeugungskraft dieses Ergebnisses scheint es allerdings unerlässlich, bis zu den ersten Anfängen unserer Denkgewohnheiten zurückzukehren. Der Satz der Identität, ins Fundament des wissenschaftlichen Wissensbegriffs von griechisch-antiken Philosophen eingebaut, könne nach Fichte, jedem Zwei-

rakter der okzidentalen Weltbeherrschung im Unterschied etwa zur chinesischen Weltanpassung s. Weber: „Konfuzianismus und Taoismus“, GARS I, bes. S. 535ff., im Unterschied zur indischen Weltflucht ders.: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, bes. S. 363ff.

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fel nach wie vor enthoben, in voller Geltung nur auf das Ich bezogen werden. Unter den Gleichungen, die auf die Form A=A zu bringen sind, sei ja Ich=Ich diejenige, die als Grundlage jeder weiteren dienen könne. Nur im Fall des Ich könne nämlich A=A zugleich das Sein von A einschließen, will man über die bloße Tautologie des „wenn A ist, dann A“ hinausgehen. Im Zeichen der angestrebten Ungebundenheit könne sich aber das Ich nicht einfach vorfinden. Sei es das Ich allein, das sich durch sein Sein setzt und durch sein Selbstsetzen ist, so bestehe die Identität des Ich in seiner durchgängigen Setzungsmacht. Solange es sich betätigt, ist es, und bleibt mit sich identisch – darin besteht für Fichte der Grundsatz aller rechten Philosophie. Die kernhaften Restbestände, seien sie noch so transzendental gefasst, fallen damit aus der Mitte des Menschen heraus. Indem der Handelnde und das durch Handeln Hervorgebrachte als im Ich miteinander zusammenfallend gedacht werden, wird sein Sein als ein Prozess der Aktivität ausgelegt: eine Folgerung nach philosophischen Denkmethoden in der biblischen Tradition vom tätigen Menschen, der im Auftrag steht, Gottes Ruhm weltgestaltend zu vermehren.19 Die Möglichkeit, sein Wesen als durchgehende Beweglichkeit zu denken, ist in der Idee der „Selbsttätigkeit“ gegeben.20 Um jedoch die Welt nicht aus der Reichweite des Menschen zu verlieren, müssen ihre allbekannten Erscheinungen, die für seine Integrität eine Urgefahr darstellen, auf seine schöpferische Mitte bezogen werden. Der Freiheitsdrang macht sich nach und nach das Weltganze dienstbar. Das Ich wird mit einer Vollmacht des spontanen Setzens ausgestattet, die sogar die Kraft aufbringt, eine Gegenwelt des Nicht-Ich zu stiften. In diesem Entgegensetzen setze sie sich allerdings einem Anderen entgegen, das dadurch seine ersehnte Selbststeuerung immer schon bedroht. Die Gegenmacht dieses ihm gehörigen Anderen bezeugt sich für die Alltagserfahrung im mannigfachen Leiden an der Welt. Mit der These eines unabdingbaren Gegenstrebens zu jedem Streben will nun das Ich dem Anschein von Unbeholfenheit abhelfen: es wolle für sich Schranken erheben, um an ihrem Abreißen seine Macht unablässig zu erweisen. Der Verzicht auf die selbständige Weltübernahme bringt Mechanismen der Weltentfremdung in Gang. Das Nicht-Ich als Begrenzung sei die freie Selbstbegrenzung des Ich selber: die Welt entwertet sich somit zu einem Aspekt des Menschen. Erst durch die Einschränkung von selbstgesetzten Beschränkungen treibe sich das Ich zu immer produktiveren Synthesen des Endlichen und des Unendlichen voran. Damit reproduziere sich allerdings eine grundlegende Entzweiung. Der Riss zwi19 Vgl. dazu Max Webers Begriff der ‚Askese‘, z.B. „Zwischenbetrachtung“, S. 538f. Siehe paradigmatisch nur Gen 1,28. 20 Vgl. Fichte: „Das System der Sittenlehre [1798]“, Werke 2, S. 496ff und ders.: „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794]“, Werke 1, S. 285ff.

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schen Ich und Nicht-Ich, auch wenn er innerhalb eines der beiden Elemente verläuft, sei auf diesem Wege nicht mehr zu verschließen. Die Unzufriedenheit des Denkens führt zu immer berauschenderen Grundlegungsversuchen aus dem Ich heraus. Das von jeder Endlichkeit abgelöste ICH nimmt dabei immer göttlichere Züge an. Das Tätige breitet sich zur Vollkommenheit des prinzipiell Einen aus. Die Entkräftung von möglichen Feindmächten, die zur Zersetzung des Ich führen könnten, könne nur durch den Gedanken gelingen, dass das Ich sowie das NichtIch gleichermaßen im ICH gesetzt sind, was der „absoluten Identität“ des Ich gleichkommt.21 Sei das Ich in unaufhörlicher Selbsttätigkeit vollzuziehen, münde Theorie wie von sich in Praxis ein. Der praktische Aspekt der Selbständigkeit bedeute dabei die Ausweitung der Freiheit über jede Grenze hinaus im Zeichen der ‚Sittlichkeit‘, die jede Naturbestimmtheit überwinde. Die gleichsam unbewusste Schöpfungsmacht des ICH verwirkliche seine Unendlichkeit durch eine Vielheit von endlichen Ichs, die sich je zu ihren eigenen Vielheiten von Nicht-Ichs verhalten. Die Mannigfaltigkeit der Nicht-Ichs sei das Reich der Freiheitsäußerung des Ich: Freiheit sei an der Welt des Nicht-Ich wie an ihrem Material vollzuziehen. Der innere Drang zur Selbstbestimmung befriedige sich an beliebigen Gegenständen, die das Ich selber erst zu ihm zugehörigen Nicht-Ichs stifte. Während der menschliche Hunger Objekte der Natur zur Nahrung verwandle,22 sei das Ich für sein wahres Bewusstwerden auf eine ihm angemessene Selbstbegrenzung in der Gegenseitigkeit unter seinesgleichen angewiesen. Erst so, im Kreise des vereinbarten Staatswesens, in diesem geordneten Allgemein-Ich, erhebe sich das Ich über die unmittelbaren Befriedigungen zur vollständigen Befriedigung im Unendlichen.23 Die Denkfigur des absoluten Ich kommt so den höchstgespannten theoretischen Anforderungen einer gleichzeitigen Selbst- und Weltbeherrschung offensichtlich entgegen. Indem die äußeren Weltbedingungen seines Handelns zu einem Ornament von Gefühlen und Vorstellungen herabsinken, erweisen sie sich gleichsam als seinem eigenen Bilde nachgeprägt. Die Analogie zum Weltverhältnis des biblischen Schöpfergotts liegt nahe, der überweltlich handelnd das innerweltliche Geschehen der Unendlichkeit zulenkt. Es sind nach wie vor die Ansprüche der restlosen Erkennbarkeit, die das Wissen des Seins mit dem Sein des Wissens zusammenfallen lassen. Da aber jede Bestimmung durch ihre Abgrenzung des Nicht-Identischen eine Verkürzung 21 S. Fichte: „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, Werke 1, S. 322ff, 440ff. 22 Vgl. Fichte: „Das System der Sittenlehre“, Werke 2, S. 128 (§9). 23 Vgl. Fichte: „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre [1796]“, Werke 2, bes. S. 154ff.

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der Absolutheit des Absoluten riskiert, wird es unvermeidlich, dass sich die Beschreibungen immer wieder zu Metaphern verdichten. Die sich selbst durchleuchtende Sichtbarkeit scheint dem Schauenden als „Licht“ ins Auge: „es ist die unendliche Wechselwirkung der Freiheit mit sich selbst, das Durchkreuzen seiner Einheit, Ewigkeit und Ursprünglichkeit mit der daraus sich erhebenden Mannigfaltigkeit und Bestimmbarkeit ins Unendliche.“24 Wo die Züge des Schauenden und des Geschauten ineinander überspielen, greift die Begriffssprache notwendig zu kurz. Die entzückten Einblicke hinter den „Vorhang“ der Erscheinungswelt, der das Wirklichste verdecke, erfassen die ewige Selbigkeit des mit sich in Geburten und Toden ringenden Lebens. Hinter der Hülle der Welterscheinungen „fließt und woget und rauscht“ der unvergängliche „Lichtstrom“ des Einen durch alle Lebensgestalten hindurch.25 Die Begeisterung der Verschmelzung mit dem „Lebendigsten“ wird in unverkennbar mystischen Formeln kundgetan: eine undiskutierbare Form des Wissens, die sich den eingespielten Kunstgriffen der philosophischen Tradition offenherzig versagt. Die elementarste Denkregel des gesicherten Wissenserwerbs, von Begriff zu Begriff fortzuschreiten, wird auf dem Rückweg aus dem Einheitserlebnis mit dem unermesslichen All-Leben gebrochen. In die Endlichkeit der Mannigfaltigkeit wieder zurückgekehrt, wird für die Unschärfe des Begriffs die Intensität des Bildes aufgeboten: „Bilder sind: sie sind das einzige, was da ist“.26 Mit dem Rückgang auf einen jeder Unterscheidung vorausliegenden Einheitspunkt sind jedoch nicht nur spezifische Sprachprobleme verbunden. Es ist ja kein Zufall, dass die schwärmerischen Betrachtungen mit „Glaube“ überschrieben werden. Der zeitgenössische Vorwurf des ‚Pantheismus‘ zeichnet wie im negativen Abdruck die Konturen dieser Lehre um. Aus dem Strudel der Vernunftsordnung führe das ‚Organ‘ eben des Glaubens hinaus zum Innewerden meiner selbst als meines eigenen Geschöpfs im durch und durch wesensgleichen Allzusammenhang. Ist das unvordenkliche Absolute frei zu wollen, entsteht eine Kontinuität von zwei ‚Reichen‘: die Kluft zwischen beiden wird mit dem Einheitsmaterial eines Weltgeistes aufgefüllt. Die Einheit des Subjektiven und des Objektiven wird – mit monistischen Gedankengesten – in einer absoluten Wissensquelle gesucht. Wo die Dynamik der Theorie ungehindert bis zum habensmäßigen Wissen des Absoluten vorstößt, findet jedoch die Rezeption religiös errichtete Schranken vor. Der Verschmelzung mit dem All-Einen stehen weltanschauliche Hürden, vom Judentum und Christentum erhoben, im Wege. Der mystische Weg der restlosen Selbstaufgabe ist durch die Personhaftigkeit 24 Fichte: „Darstellung der Wissenschaftslehre. (Aus dem Jahre 1801)“, Werke 4, S. 102 25 Fichte: „Die Bestimmung des Menschen [1800]“, Werke 3, S. 152ff. 26 Fichte: ebd., S. 341.

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des überweltlichen Gottes versperrt. Sich in das Göttliche hineinzuverlieren, bleibt für einen Menschen, der sich mit einem Gott und einer Welt als eigenständigen Größen in Beziehung weiß, unvollziehbar. Es ist diese Konstellation, die auch den schwierigsten Gedanken jeder christlichen Theologie vorschreibt: menschliche Freiheit und göttliche Allmacht zusammenzudenken.27

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Die zweite Möglichkeit, das All vom menschlichen Standpunkt her zu denken, wird von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in Richtung auf die Welt begangen. Die Einseitigkeiten des Ausgangs aus dem Ich treiben ihn zur Idee einer Identität der „absoluten Indifferenz“, die keine Differenzen eines Subjektiven und eines Objektiven, eines Innen und eines Außen mehr zeige. Der intuitive Kern seiner immer spekulativer gearteten Betrachtungen ist eine kontinuierliche Welteinheit vom Mechanischen über das Chemische und Organische zum Geistigen hinauf, die im „Absoluten“ begründet liege. Immer entschlossener will diese Intuition in einer Lebensarbeit zur vollständigen Lehre ausgeführt werden, die jedoch immer wieder am vorbegrifflichen Irrationalen, „Freiheit“ oder eben „Wollen“ genannt, auseinanderbricht. Das Identische im Sinne des mit sich selbst Einen soll dabei wieder einmal die volle Realität jeder weiteren Wirklichkeit verbürgen. Vom grundlegenden Prinzip jeden Wissens wird ja eine Antwort auf die Frage nach derjenigen Realität erwartet, die alle Dualitäten des Seins in sich zu vereinen vermöchte. Das unvermittelte Ineinanderfallen des Wissenden und des Gewussten könne aber, so die „transzendental“ vorgegebene Lösung, nur im Wissen von uns selbst bestehen. Die Ursprünglichkeit des Selbstbewusstseins als Grundlage jeder Identität wird abermals bestätigt: „Das Ich aber ist entweder gar nicht, oder nur durch sich selbst. Also muß die Urform des Ichs reine Identität sein.“28 Es ist jedoch die Welt in ihrer allbekannten robusten Welthaftigkeit, die als Problem einer menschenfremden Unabhängigkeit immer wieder zurückbleibt. Die Natur, der auch der Mensch mit seinem organischen Leben zugehört, müsste ja, würde sie in völliger Geistlosigkeit verharren, ihm in tiefster Fremdheit gegenüberstehen. So bleibt nach Schelling nichts anderes übrig, als im Äußeren ei-

27 Zum „Haben“ des Mystikers s. Max Weber: „Zwischenbetrachtung”, GARS I, S. 538f. 28 S. grundsätzlich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Vom Ich als Prinzip der Philosophie [1795]“, Werke 1, bes. §7., S. 29ff. Vgl. später Schelling: „System des transzendentalen Idealismus [1800]“, Werke 2, S. 38ff.

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ne Innenseite aufzudecken. Wie das Ich ein Moment des vorbewusst Gegebenen in sich enthalte, das erst durch Bewusstmachung überhaupt zur Objektivität gelange, so stecke im bloß Mechanischen der vermessbaren Weltoberfläche immer ein Element des Geistigen. Die Natur sei daher, weit davon entfernt, totes Gegenständliches zu sein, zugleich real und ideal, der doppelten Beschaffenheit des Menschen gemäß: „Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich, was eine lebendige Natur ist“.29 Der Geist des Organischen bestehe im Zweckmäßigen, das aber in einem unendlichen Geist begründet liegen müsse. Indem die Polaritäten des ursprünglich Einen in der „Natur“ zusammengedacht werden, stechen kosmische Eigenschaften des Weltganzen, von einer „Weltseele“ beseelt, hervor. „Weder das Prinzip absoluter Differenz noch das absoluter Identität ist das wahre; die Wahrheit liegt in der Vereinigung beider.“30 Die Gleichzeitigkeit von mechanischer Unbewusstheit und organischer Zweckmäßigkeit, dieser beiden Aspekte der Natur, sei der Verflechtung des Spontanen und des Geformten im Kunstwerk analog. Gestaltendes Wollen und zwingende Notwendigkeit seien, im Göttlichen wie im Menschlichen, die beiden Seiten derselben Medaille. Sind aber Mensch und Welt, der transzendentalen Denkart getreu, als sich nacheinander richtend zu denken, so müsse es auch von der anderen Seite, der der Objektivität, ausgehen können dürfen. Außer dem Satz, „Ichheit ist alles“, müsse auch „alles ist Ichheit“ gelten.31 Schellings Überlegungen schreiten nun, diesseits von begrifflichen Anstrengungen, Figuren einer spekulativen Weltbetrachtung entgegen. Der Ausbruch in eine erlebensmäßige Wirklichkeit wird mit den Mitteln der Einbildungskraft gesucht, da sie die Qualität des Schöpferischen mit dem Weltschöpfer teile. Das Erschauen des All-Einen gewähre Einsicht in die restlose Identität von Subjekt und Objekt, die sich in der „fortgehenden, allmählich sich enthüllenden Offenbarung des Absoluten“32 vollzieht. Endliches und Unendliches, Denken und Sein wie alle gegensätzlichen Potenzen ruhen in göttlicher Indifferenz ineinander. Die Wege der Begriffsarbeit, die durch Trennungen hindurchführen, seien für eine unmittelbare Anschauung der „Naturtotalität“ zu verlassen, die sich selbst anschaue. Ein ganzheitliches Verstehen der lebendigen Natur, das Ideales und Reales in ihrer gemeinsamen Herkunft zusam-

29 Schelling: „Ideen zu einer Philosophie der Natur [1797]“, Werke 1, S. 143. 30 Schelling: „Von der Weltseele [1798]“, Werke 1, S. 486. 31 Vgl. Schelling: „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit [1809]“, Werke 3, S. 447. 32 Schelling: „System des transzendentalen Idealismus“, Werke 2, S. 277.

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mensieht, erschließe den Weg zur Freiheit. Philosophie soll sich zur Naturpoesie verwandeln.33 An diesem Punkt stehen Denkmodelle zur Verfügung, die bereits nach einem vollkommenen Einen gegriffen haben. Die theoretisch stabilste Lösung für die Vereinheitlichung des Vielen, das zur einzigen Substanz festgefügte All von Spinoza, ließ im objektivistischen Denkstil alle Besonderungen als Aspekte des an sich undifferenzierten Einen manifestieren. Diese Identifizierung von verschiedenartigen ‚Seiten‘ des Selben, wie etwa Körper und Geist, sucht den tragenden Dualismus des okzidentalen Denkens zu überwinden, um den Preis einer durchgehenden Determiniertheit der Teile. Fallen so Vernünftigkeit und Aktivität schließlich zusammen, bestehe ja die Freiheit der unendlichen Vernünftigkeit in der Notwendigkeit, alle Möglichkeiten entscheidungslos zu verwirklichen. Die persönlichen Züge des biblischen Gottes verwischen sich in der Gleichgültigkeit der letztlich bewegungslosen Wahrheit; Menschenfreiheit füge sich in diese Unendlichkeit ein. Das gewichtige Hindernis, uns selbst in diesem Wissensgebäude wiederzuerkennen, und damit tut sich auch der Unterschied zwischen Denken und Sein, Freiheit und Notwendigkeit erneut auf, liegt nach Schelling in seiner Gegenständlichkeit. Die prinzipielle Unbeweglichkeit der Einheitssubstanz bleibe, trotz allen Reichtums an Einzelheiten, diesseits der Lebendigkeit des „wirklichen“ Lebens stecken. Damit das göttliche Eine sich nicht zum mechanistischen Kosmos vereinseitige, ist Freiheit im Sinne des Neues-Ansetzens direkt in seine Mitte einzuimpfen. Es werden dabei Fragen der Kosmologie in der Tradition der Welterschaffung berührt, die das Denken auf theologische Bahnen einlenken, von philosophisch eingefahrenen Rationalitäten immer weiter entfernt. Der Urgrund jeden Geschehens bestehe in einer durch allmächtige Freiheit verursachten Trennung vor aller Zeiten, die überhaupt Zeit gestiftet habe: ein „Sprung“ Gottes aus dem ruhenden Sein der Einheit in die geschehende Existenz der Mannigfaltigkeit. Alles müsse seinen Grund in diesem sehnsüchtigen Wollen haben, in dem, „was in Gott selbst nicht Er Selbst ist“.34 Es sei dieser vorvernünftige Kern seines Wesens, durch den er sich selbst zur Entfaltung veranlasse.35 Der erste 33 Vgl. Schelling: „System des transzendentalen Idealismus“, Werke 2, S. 302ff. 34 Schelling: „Philosophische Untersuchungen…“, Werke 3, S. 455. 35 Ansätze einer mittelalterlichen Willenstheologie, vor allem bei Duns Scotus und Wilhelm von Ockham (13–14. Jhdt.), bereiteten dazu den Boden gedanklich vor, indem sie Gottes unerforschlich waltende Souveränität seiner Vernünftigkeit gegenüber höher veranschlagten. Es steht, in der maßgebenden Tradition der jüdisch-christlichen Menschenlehre, Gestalten über Wissen. Vgl. Josef Pieper: „Scholastik“. Gestalten und Probleme der mittelalterlichen Philosophie, S. 190ff.

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Akt der menschlichen ‚Selbstheit‘ könne demnach, in Analogie dazu, nur in einem ersten Auf-sich-Zurückziehen bestehen. Diese „Sammlung“ ihrer selbst in geistigem Bezug auf ihre Natur mache die „Persönlichkeit“ aus: ein dem naturhaften Urgrund abgesondertes Stück Natur trachte aus Freiheit nach Vergeistigung. Es gehe um die „innere Notwendigkeit des freien Wesens“,36 um eine innere Bestimmtheit im unbestimmten Allgemeinen, um einen unvernünftigen Grund der Vernünftigkeit – Wendungen wie diese bezeugen das Ringen darum, Tiefenschichten des Wirklichen unter allem Denkbaren freizulegen. Das Begehren sträubt sich als geistloser Rückstand einer Unterbringung im gewöhnlichen Weltwissen. Die unermüdlichen Anläufe, die in umfangreichen Bruchstücken münden, drehen sich immer mehr um das „Unvordenkliche“ in der Mitte des Identischen. Diese Verschiebung des Schwerpunkts lässt den Menschen selbst, erneut analogisch, auf bedrohlichen Abgründen aufruhen. Freiheit könne sogar die Möglichkeit beinhalten, das dunkle Naturhafte durch den Geist zum Prinzip zu erheben. Hiermit ist der Weg frei, das Wesentliche am Menschen im ’blinden‘, d.h. jede höhere Geistigkeit entbehrenden Wollen aufzufinden. Die letzten Denkschritte bis in die irrationalsten Untiefen hinab zu begehen, fiel aber erst späteren Denkergenerationen zu.

N ACH G OTTES E BENBILD Als wirkmächtigste Gestalt der allumgreifenden Identitätsspekulation erwies sich, einem historisch gesättigten Geistesklima entsprechend, das Eine als göttlicher „Weltgeist“, der im geschehenden Weltganzen zu sich selbst finde. Im Zentrum dieser Denkbewegung, die eine erschöpfende Erörterung aller Lebensaspekte auf ihre „letzte Wahrheit“ hin unternimmt, steht der Gedanke der spannungsreichen Selbstentfaltung eines harmonischen Allzusammenhangs. Das altehrwürdige Problem des Denkens in Gegensätzen und ihren Auflösungen manifestiert sich hier zum ersten Mal in historischen Kategorien. Um das Gerüst von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Systembau sogleich aufzudecken: die Philosophie brauche, nehme sie ihre eigene Quelle, d.h. die Entzweiung von „Sein und Nichtsein“, „Bewußtsein und Sein“, „Endlichkeit und Unendlichkeit“ oder eben Einheit und Vielheit ernst, nur noch eine weitere Voraussetzung: das Absolute als bereits vorhandenes Ziel. Die Aufgabe der Philosophie bestehe demnach in der Vereinigung beider Voraussetzungen im „Jenseits“ einer absoluten Synthese: sie habe „das Sein in das Nichtsein – als Werden, die Entzweiung in das Absolu-

36 Schelling: „Philosophische Untersuchungen…“, Werke 3, S. 480.

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te – als dessen Erscheinung, das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen.“37 Hegels Programm, das Weltganze zum Eigenen des Menschen zurückzuverwandeln, nährt sich denn bis zum Schluss, wie von jeder ernst zu nehmenden Philosophie demnach zu erwarten, aus diesem jugendlichen Verständnis einer uns entfremdeten Welt. Die Weltfremdheit des Menschen, die durch jede gestaltende Tat prinzipiell gesteigert werde, zeige in immer reicher gedeihenden Dualitäten des Innen und des Außen ihr erschaubares Gesicht. Von den beiden philosophischen Voraussetzungen her sollen nun die Gestaltwandlungen des Identischen durch das Differente hindurch sich selbst durchsichtig werden. Der logische „Denkzwang“ des Identitätsprinzips mit seinen einander ausschließenden Gegensätzen,38 der seit den griechischen Anfängen des philosophierenden Okzidents seine Macht erwiesen hat, scheint hier der parallelen Denkmöglichkeit der fließenden Übergänge Platz zu geben. Einheit und Zweiheit wird diesmal, in der nahezu heterodoxen Gegentradition des untergründigen ‚Werdens‘, im geschehenden Einen zusammengedacht. Die Einseitigkeiten des bloß Ichhaften und des bloß Welthaften treiben den Gedanken auf ein Absolutes zu, das Selbstsein und Weltsein miteinander vermittle: das Absolute könne denn nichts anderes sein, als „die Identität der Identität und der Nichtidentität“.39 Das Lösungswort der Vermittlung ist, wie gehört, das ‚Werden‘, das mit seiner unaufhörlichen Aufhebungstätigkeit Sein und Nichtsein auseinanderhält, um sie dann bis zur Untrennbarkeit ineinanderfließen zu lassen. Die Gegensätze des Denkens und – was dasselbe heißt – der Wirklichkeit werden in der tiefsten Mitte des Logischen geschlichtet. In die Fundamente unserer Weltsicht wird damit das Historische systematisch eingelassen: die statische Ordnung der noch so beziehungsreichen Tiefengliederungen kommt in spannungsreiche Bewegung. „Absolute Vernunft“ könne nicht mehr die bloße Endstufe einer immer höheren Steigerung von Wissensgehalten oder Einsichtsformen heißen: sie müsse zugleich ihren eigenen Entfaltungsweg zu sich selbst mit umschließen. Dies wird am Eingang der Synthesenarchitektur in die apodiktische Worte gefasst: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze ist aber nur das durch seine Entwicklung sich

37 S. Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Differenzstudie“, die in sachlicher Hinsicht eine „Identitätsstudie“ ist: „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie [1801]“, Werke 2, S. 25. 38 Vgl. Werner Jäger: Die Theologie der frühen griechischen Denker, S. 112–126, mit Bezug auf Parmenides. Für den Ansatz eines Denkens in ‚Umschlägen‘ die zeitgenössischen Fragmente Heraklits, bes. Fr. 81 und 88. 39 Hegel: a.a.O., S. 96.

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vollendende Wesen.“40 Eine leidenschaftlich betriebene Versöhnungsdialektik bemächtigt sich von dieser Prämisse aus alles Seienden und je Gewesenen. Es sind die Fragwürdigkeiten der ‚Versöhnung‘ in und mit der Welt, die diese Logik des Absoluten anspannen. Ein durch und durch historisches Bild der Wirklichkeit zeichnet sich für den Weltbetrachter ab, der sich auf neue Erfahrungen des Menschseins berufen kann.41 Die zunehmende ‚Mobilität‘ der einst so fest stehenden ‚Stände‘ bringt die überkommene Ordnung ins Wanken und die festesten Bestände in Gang. Die Fülle der aufgezeichneten Begebenheiten, die dem historischen Interesse aus allen Weltecken zuströmt, zeigt jede Erscheinung im Entstehen und Vergehen begriffen. Indem alles Vorhandene in seinem Gewordensein durchschaut wird, kommt ein neues Weltverständnis zum Tragen. Die geschehende Geschichte, die sich in laufenden Wandlungen ereigne, wird zum zentralen Anliegen einer ganzen Epoche. Die ‚re-volutiven‘ Umwälzungen der Sozialwelt bewegen sich für das zeitgenössische Empfinden nicht mehr auf astronomischen Laufbahnen zu einem Anfangspunkt zirkelhaft zurück. Ob willentlich oder unwillentlich, es zeitigt sich jedenfalls eine Zukunft, die den eingelebten Erfahrungshaushalt mit seinen eingeübten Lebensgesten sprengt. Die Wirklichkeitsbegriffe, die zur gedanklichen Erfassung der umgebenden Welt dienen, werden mit einem ausgeprägten Sinn für das Wechselhafte gebildet. Gerät aber alles Menschliche ins Fließen, so bleibt nicht einmal das tragende Gefüge der Einzelheiten vom allseitigen Wandel unbetroffen. Die traditionelle Klassifikation der gemeinschaftlichen Verfassungen wird auf die Zukunft hin aufgebrochen, um das Mögliche abzutasten: das aristotelische Dreierlei der Staatsformen vermöchte das Kommende nicht mehr einzufangen. Das Kontingente will durch Bewegungsbegriffe zumindest in seinen Grundrissen vorweggenommen werden. Die Gegenwart bleibt in gerichteten Vorgeschichten und offenen Nachgeschichten in Gang gehalten. Der Neuheitsanteil der Geschehnisse überwiegt immer nachdrücklicher ihre Dauerhaftigkeit, was auch für die Aufschlüsselung der immer wieder neugelesenen Vergangenheitsquellen neue Muster zu ihrem Ausbuchstabieren bietet. Die Antworten auf die Forschungsfragen sind im historischen Geist vorgeformt: Erklärungen erfordern nun ‚genetische‘ Gussformen, um ihre Wissenschaftlichkeit zu bewähren. Indem die Entfaltung, d.h. die zeitliche Wandlung zum Deutungsprinzip des Wirklichen aufrückt, hält ein genetisches Verfahren nicht nur in den historischen, sondern auch in den philosophischen Disziplinen Einzug. Das Denken sucht nun in den vermeintlich innengerichteten Veränderungen selber nach Orientierung, ohne sich unvermittelt, ins Überzeitliche ausschweifend, außerweltli40 Hegel: Phänomenologie des Geistes [1805], Werke 3, S. 24. 41 Zum Folgenden s. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, bes. S. 38ff und 300ff.

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cher Anhaltspunkte zu bedienen. Es wird zur Selbstverständlichkeit, Beschaffenheitsfragen mit Entwicklungslinien langer Dauer zu beantworten. Nachdem das bloße Neben- und Nacheinander der Geschehnisse zur ‚Geschichte überhaupt‘ singularisiert und universalisiert wurde, konnte man im Begriff des ‚Fortschritts‘ sogar an die Aufgabe herangehen, dem so gestifteten Einheitszusammenhang einen höheren innerweltlichen Sinn abzugewinnen. Die Macht des Geschichtsprozesses wächst sich zur normativen Höchstinstanz seiner Teilprozesse aus, die erst dadurch in ihrer einheitsbezogenen Teilhaftigkeit sichtbar werden. Schillers dichterischer Einfall wird schließlich zur vollwertigen Geschichtsmetaphysik geweiht: der „Weltgeschichte“ als übergreifender Einheit von unendlichen Ereignissträngen wird das „Weltgericht“ zugetraut. Das Geschichtsdenken baut sich damit zur vollständigen Weltsicht aus, die nun auf das Weltganze von seinem Anfang bis zu seinem Ende Anspruch erhebt. Die spekulative Geschichtsphilosophie ist ein diesseitiger Sinngebungsversuch größten Stils. Der Glaube an den immanenten Weltprozess, in vielen Zügen ein Erbe von biblischen Heilsvisionen, stellt sich als eine neue Antwort auf eine uralte Frage ein.42 Es ist also Hegel, der sich als erster an eine restlos historische Aufarbeitung der Philosophie heranwagt, was – seinem angegebenen Konstruktionsprinzip nach – zugleich eine philosophische Aufarbeitung des Historischen bedeutet. Eigenes wie fremdes Denken wird hier zum ersten Mal im Namen der Gültigkeit auf die jeweiligen Entstehungsbedingungen bezogen, jenseits von sporadischresignierten Überlegungen zur unabwendbaren Übermacht des Äußeren am Inneren. Mit dem Wort, „die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst“,43 verliert erstere endgültig ihre unhistorische Unbekümmertheit. Geschichte wird zu einer Größe, zu der es sich im Weiteren philosophisch zu verhalten gilt. Das Kernstück einer Identitätslehre, die dem Geschehen Rechnung trägt, muss demnach in der Darstellung des Entwicklungsgangs bestehen, den das Absolute auf dem Weg zu seiner Selbstverwirklichung, von Widerspruch zu Widerspruch voranschreitend, durchläuft. Der Prozess der unendlichen Selbstdifferenzierung führe durch eine Kette von ‚Negationen‘ zur Unendlichkeit nicht der Endlosigkeit, sondern der Seinsfülle. Das Prinzip der Bewegung ist die sukzessive Aufhebung der auseinander hervorgehenden Dualitäten. Der philosophische Aufstieg zur absoluten Höhe des ‚Geistes‘ habe somit einfach dem Leitfaden seiner 42 S. Max Weber: „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“, GAWL, S. 33. Vgl. nach wie vor Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen und Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Es geht um Friedrich Schillers Gedicht „Resignation [1786]“. 43 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820], Werke 7, S. 26 (im Original gesperrt).

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Selbstentfaltung zu folgen; dies gebe die begriffliche Systematik seiner Wesenserkenntnis vor. Die menschlichen Denkbewegungen haben sich auf das Selbstwerden des mit sich durchgehend identischen ‚Weltgeistes‘ zu verlassen, um sich nicht in den tiefsten Entzweiungen zu verlieren. Was für den Menschen auf dem Spiel stehe, sei ja die Überwindung seiner eigenen Einseitigkeiten. Die dialektische Selbstbewegung der Einheit gehe, auf dem Weg von seiner prinzipiellen zu seiner verwirklichten Allgemeinheit, die unterschiedlichsten Gestaltwandlungen im Subjektiven wie im Objektiven hindurch. Sei einmal die ‚unendliche Idee‘, diese einzige Großsubstanz, über das Naturhafte hinausgekommen, in dem sie sich als in ihrem ‚Anderssein‘ zunächst entäußere, so kehre sie über den ‚endlichen Geist‘ in seiner Bestimmtheit zu sich selbst zurück. Ausgegangen wird dabei aus der Unmittelbarkeit des menschlichen Erlebens, um schließlich weder bei einem noch so umfangreichen Selbstbewusstsein, noch bei einem letztlich ungegliederten Weltwesen, vielmehr beim verwirklichten Selbstwissen des Absoluten anzukommen, das alles vorher Unterschiedene in sich vereint.44 Das Selbstwerden des Menschen erweise sich so als modellhafter Teilprozess, dessen dialektische Konturen sich in das Systemganze – in die Natur hinunter, in Gott hinauf – hineinverlieren. Die Geburt des Selbstbewusstseins stellt sich hier, maßgebend für jede spätere Entwicklungsgeschichte der menschlichen Persönlichkeit, als ein Vorgang ineinandergreifender Reflexionen dar, der den Menschen aus der Unmittelbarkeit der ersten Weltverhältnisse gleichsam hinausspiegelt.45 Die ‚sinnliche Gewißheit‘, dieser unbekümmerte Weltzugang nehme zunächst den ganzen Reichtum des erfahrungsmäßig Naheliegenden in sich auf. Erst die begreifende Geste des Menschenverstands vermöchte es, über das einfache Feststellen des Gegebenseins hinausstrebend, das bloße Fürwahrhalten mit einer Beschreibung der Erscheinungsvielfalt zu überwinden. Indem ‚Dinge‘ mit einem Geflecht von Bestimmungen eingefangen werden, läutere sich das ‚Auf-nehmen‘ zum ‚Wahrnehmen‘. Um jedoch nicht zwischen der Konkretheit von Einzeldingen und der Mannigfaltigkeit von Gemeinbestimmungen ohne absehbares Ende herumzuirren, müssen sie auf eine einheitsstiftende Kraft bezogen werden. Die höhere Einheit des Gegenstands sei bereits die schöpferische Einsicht des ‚vernehmen44 Vgl. in klarer Abgrenzung von Fichte und Schelling Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 588. 45 S. dazu ebd., S. 82ff. Wir halten uns vorzüglich an den Leitfaden der Phänomenologie, da sie den ergiebigsten Zugang für eine soziologische Perspektive bietet. Die verwickelten und stellenweise dunklen Ausführungen werden auf unseren Zusammenhang abgeklärt. Als eminenter Wegweiser zur Interpretation s. vor allem Ludwig Sieps Kommentarband: Der Weg der Phänomenologie des Geistes.

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den Geistes‘, die das vorhin zu recht Unterschiedene als sein eigenes Gegenüber vereine. Im Inneren der Außenwelt finde so der Mensch zugleich sich selbst in seiner ständigen Wechselwirkung mit ihr wieder. In dieser Doppelbewegung entstehe das Wissen von mir selbst als einem Gegenstand, der sich aus meiner eigenen vergegenständlichenden Gesten ergibt. Erst an der Welt als meinem Anderssein werde und bleibe ich meiner selbst bewusst. Das Bewusstsein von Gegenständen und das meiner selbst treten im Verkehr mit den Weltdingen immer weiter auseinander, bis zur äußersten Entzweiung. Der bewusste und in seiner Bewusstheit weltdurstige Teil dieser ungleichen Begegnung bestrebe allerdings eine Vereinigung beider – ohne Aussicht auf endgültige Befriedigung. Das zeitweilig gestillte menschliche Begehren nach dem Einssein rufe immer weitere Genießbarkeiten – Bedingungen seines organischen Lebens – auf den Plan, ja sporne gar zur eigenen Herstellung von solchen an. Der Prozess der Selbsterhaltung, die zwar eine erste ‚Gewißheit seiner selbst‘ gewähre, löse jedoch diese endlos produzierten Gestalten der Andersheit immer wieder auf: ihre bloß gegenständliche Selbständigkeit lasse sie ja in einer unaufhebbaren ‚Negativität‘ stecken. Die Zirkelbewegung zwischen Selbst- und Weltbezogenheit müsse auf einen Anderen hin aufgebrochen werden. Für die Entfaltung einer identischen Selbstübernahme werde so eine höhere Art von Geistigkeit der Selbstbespiegelungen erreicht. Dem Selbst könne als eigentliches, weil unverzehrbares, ihm gemäßes Gegenüber nur ein anderes Selbst entsprechen. Die Metaphysik öffnet sich hiermit der sozialen Welt in ihrer prinzipiellen Aufeinanderbezogenheit. Von größerer Bedeutung als die Beziehung zur naturhaften Umwelt sei denn für eine dialektische Totalitätslehre der Identität die Gegenseitigkeit des Zwischenmenschlichen. Die Lebendigkeit der Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Selbstbewusstsein setze ja Bewegungen des Anerkennens in Gang. „Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem andern unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend.“46 Das Eigene werde erst durch anerkennende und anerkannte Abgrenzungen vom ebenbürtigen Fremden bewusst eigen. Die immerfort werdende Identität erringe Selbständigkeit und erhalte sich aufrecht nur in ausgeglichenen Fremdbezügen. Das Unverhältnismäßige dieses Ringens neige jedoch dazu, die ‚Positionen‘ immer wieder zu ‚Negationen‘ zu verformen.47 Die Selbstbehauptung tendiere in ihrer einfachen Unmittelbarkeit zur selbstbejahenden Ablehnung des Fremden. Die Suche nach Selbst46 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 147, vgl. ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], Werke 10, §430 47 S. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 145ff.

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gewissheit trete so zunächst kämpferisch auf: der eine werde zum ‚Herrn‘, der andere zum ‚Knecht‘ – ein Verhältnis, das allerdings durchaus dialektisch auch sein Gegenteil mit einschließe. Die herrische Selbstbestimmung beruhe auf der Bemächtigung eines Anderen, der die erwünschten Bekömmlichkeiten auf Befehl herstelle. Der so gewonnene Abstand von der Welt könne aber aus zweifachem Grund keinen echten Selbstbestand begründen. Die Angewiesenheit auf fremdes Weltgestalten und erzwungenes Anerkennen lasse die vermeintliche Freiheit in unüberwindlicher Abhängigkeit verbleiben. Das herrische Genießen bleibe bloßer Selbstgenuss. Der Knecht könne, trotz seiner offensichtlich ungünstigen Ausgangslage, die Kräfte der Wesensdialektik auf seiner Seite wissen. Im direkten Zugang zur Welt in ihrer planvollen Bearbeitung erweise er sich als Herr, ohne allerdings die eigenen Werke selbst genießen zu können. Durch seine Tätigkeit, wie fremdgesteuert auch immer sie erfolge, könne er sich zur gegenständlichen Wirklichkeit emporarbeiten und sich selbst in seinen handgreiflichen Erzeugungen anschauen. Durch festgebaute Anlagen breche der Mensch aus seinem eingewickelten ‚Ansichsein‘ ans Tageslicht des entwickelten ‚Fürsichseins‘ hinaus, ohne sogleich zum Bewusstsein dieser Kräftezusammenhänge und damit von einfacher Selbständigkeit zur höheren Freiheit hinaufzusteigen. Es ist nun für Hegel die weltgestaltende Aktivität, durch die sich der Mensch grundsätzlich in die Welt „hineinbildet“. Bedürfnis und Befriedigung werde durch tätige Selbstäußerung vermittelt, die unmittelbare Erfüllung zugunsten späterer aufgeschoben. Das Vorgefundene müsse geistvoll – d.h. dialektisch angetrieben – überboten und in seinem bloßen Gegebensein zugrunde gerichtet werden. Auch die ungeistigen Lebensaspekte des Menschen werden in die Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins erhöht. Die menschenfremd gewordene Natur wird kulturell wieder angeeignet: die animalische Erlebnisfülle bekomme eine menschliche Weihe. Der Mensch verwirkliche sich laufend in die Welt hinein, ja er sei selber dieser geistig getriebene Prozess der Produktion und Reproduktion. Echte Würde liege in selbst angelegten und vollbrachten Leistungen. Indem er also seine Entwürfe „in das Element des Bleibens“48 hineinforme, d.h. sein Inneres zu bestandsfähigen Gestalten entäußere, fallen die Taten seiner Weltschöpfung mit seiner Selbstschöpfung ineins. Er bewege sich unter seinen eigenen Hervorbringungen gleichsam innerhalb seiner selbst. Die Welt könne kreuz und quer eingehaust werden, ihre Elemente kommen wie dem erzeugenden Menschen zurechtgeschnitten vor. Der Mensch könne in die weiteste Ferne ausstreifen, ohne sich von sich selbst grundsätzlich zu entfernen. Die Anreicherung der menschlichen Lebenswelt mit eigenen Werken werde durch fortschreitende Abstraktionsarbeit vorangebracht. Der tätige Mensch professionalisiere sich in 48 Ebd., S. 154; vgl. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S. 286ff.

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der wachsenden Aufteilung der Tätigkeiten. Der Eroberungsdrang finde keine natürlichen Schranken mehr vor: nach dem bodenfesten Land tue sich ihm nun auch die offene See als Gegenstand der Betätigung auf.49 Es ist nur folgerichtig, dass die Kontinuität der Selbstvergegenständlichung sich im Eigenbesitz angemessen manifestiere, um sich darin auch äußerlich immer erneut wiederfinden zu können. Die Einzeltaten werden indessen, ohne sich in der Vielfalt der Weltbezüge zu zerstreuen, zugleich ins Allgemeine erhoben, indem die Regeln des Gestaltens immer wieder erlernt und eingeübt werden müssen und die Mittel der Weltbearbeitung zu handfesten Instrumenten gerinnen. Die aneinander ausgerichteten Wirksamkeiten verweben sich zur gemeinsamen Befriedigung der Gesamtbedürfnisse. Die eigene Vervollkommnung zum wirklichen Menschsein füge den Einzelnen schließlich in die mächtige Selbstbildungsgeschichte des Weltgeistes hinein. Es gehe um den Menschen, der – seine Selbständigkeit bewahrend – seine Abgeschiedenheit überwindet und sich letzten Endes zum Allgemeinen der aufeinander Angewiesenheit vergesellschaftet. Seine Welthaltung werde vollends im Geiste der Beherrschung organisiert. Eine eigenartige Form der theoretischen und praktischen Welt- und Selbstformung zeichnet sich hier als eminente Art und Weise der Geistigkeit aus. „Die wahrhafte Art und Weise des Individuums, sich in besonderen Verhältnissen der Existenz zu benehmen, ist die Rechtschaffenheit. Dieses Benehmen aber muß auch zum Bewußtsein des Absoluten, dem religiösen Bewußtsein hinausgehen, und aus diesem erst muß es rechtschaffen sein. Mit anderen Worten: Gott in den besonderen Verhältnissen sich betätigend, ist die Rechtschaffenheit.“50 Der arbeitsame Mensch, der seine Selbstsicherheit aus der eigenen Tüchtigkeit schöpft, ohne sich auf deren Ertrag selbstgenügsam auszuruhen, findet aber seine offensichtliche Entsprechung in der historischen Gestalt des ‚Bürgers‘. Es sind seine historisch einmaligen Züge, die hier ins Metaphysische verklärt werden. Als „Sohn seiner Zeit“, der ein jeder von uns ohnehin sei,51 erhält er seine wohlverdiente Stelle in der Mitte des Systemgebäudes der Weltvernunft. Die Weltuhr schlägt unverkennbar nach dem Rhythmus des Weltkapitalismus. Die reichlich entfaltete Lebensform einer selbständig gewordenen Lage im Sozialraum artikuliert sich zur philosophischen Idee, die dann in den unterschiedlichsten Sachkontexten immer wieder wortgleich wachgerufen wird: „der Geist

49 Vgl. Hegel: Philosophie der Geschichte, Werke 12, S. 118ff. 50 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 910. 51 S. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, S. 26 (im Original gesperrt).

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ist nur das, wozu er sich macht“.52 An Grund und Acker nicht mehr gebunden, auf dem Boden der Stadt, dieses beweglichen und bewegenden Elements, erheben sich Schichten mit dem Bewusstsein der Selbsterzeugung. Durch die angestrengte „Arbeit der Bildung“, was aber, wie es dem dialektischen Gedanken geziemt, ebenso Bildung der Arbeit heißen könnte, kämpfe sich der Mensch mit geschicktem Tun und ausgefeiltem Denken immer wieder aus der Unmittelbarkeit der Naturverhältnisse heraus. Materielles und Ideelles greifen an diesem Punkt ineinander, rollenhalt jedoch oft zweigeteilt: auf die Verbürgerlichung des Besitzes einerseits, die der Bildung andererseits. Äußere Selbstverwaltung und innere Selbstgestaltung bleiben aber in der einheitlichen Ordnungsidee verbunden: ihre gemeinsame Gesinnung sei durch die Dignität des Selbsttragens erfüllt.53 Die Gefährdungen dieser Situation von welthistorischer Bedeutung sind freilich – wie dialektisch zu erwarten – in der Doppelnatur des tätigen Weltverhältnisses selber angelegt. Indem der Mensch sich selbst ins Dinghafte hineinpräge, setze er sich ja – gleichsam im Gegenzug – einer zunehmenden Selbstverdinglichung aus. Die Produkte seiner eigenen Hand drohen damit, über sein ganzes Wesen Übermacht zu gewinnen. Durch die immer konsequentere Bezwingung der Weltgehalte stoße er sich unwillentlich in abgründige Untiefen der Selbstverknechtung hinab, die sich nicht mehr durchzuschauen vermögen. Die abstrakt-allgemeine Produktion, vom konkreten Eigenbedarf abgekoppelt, staue endlose Objektmengen zwischen Welt und Mensch; das Bewusstsein des allzu allgemein Arbeitenden verliere sich in mechanischer Abgestumpftheit. Die Spirale des unablässigen Sichgewinnens und Sichverlierens sei in den gestalterischen Weltbeziehungen nicht zu verlassen.54 Schwerer wiegen allerdings die inneren Entzweiungen des Geistes auf seinem Wege von der einfachen Selbständigkeit zur ausgefächerten Freiheit. Für die Alleinherrschaft des Denkens, die seine Selbstgewissheit immer wieder in 52 Wie z.B. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion 1 [1831], Werke 16, S. 263; ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 2 [1831], Werke 19, S. 494. – Das Ideal der Bildung als allseitiger persönlicher Selbstentfaltung wird in Schillers Erziehungsbriefen in unvergessliche Worte gefasst, wiewohl mit einem weltflüchtigen, auf den eigenen Lebenskreis zugeschnittenen Gepräge, wohl unter dem Eindruck der politischen Schrecken des Zeitgeschehens. Der Mensch solle einerseits durch die „passive” Aufnahme aller Register der Erscheinungen seine Anlagen entwickeln, andererseits die Welt durch unabhängige Bestimmungen aktiv seiner Vernunft unterwerfen (1795, s. bes. Brief 13). 53 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, §197 und §187. 54 S. beim späten Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, §189ff.

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Versuchungen führe, bleibe denn die Wirklichkeit in ihrer echten Lebendigkeit unerreichbar. Während der „stoische“ Weltverzicht wie die „skeptische“ Weltzweifel sich aus ihrer inhaltsleeren Geistigkeit nicht lösen können, wolle sich die Weltablehnung des „unglücklichen“ Bewusstseins aus dem Endlichen baldigst in den Schoß des Unendlichen flüchten. Die Auffassung vom „Unwandelbaren“ bereichere sich von seiner unmittelbaren Fremdheit über die Gestalt des Schöpfers, der seine Schöpfung als Stätte des „Arbeitens und Genießens“ heilige, bis zum gnadenvollen Erlösergott, der das „Einswerden“ in der menschlichen „Verzichtleistung“ der Selbstverleugnung ermögliche. Da die eigene Unvollkommenheit im religiösen Selbstbild als Nichtigkeit dem Vollkommenen gegenüber erscheine, neige das aufflammende Erlösungsstreben zum gegenstandslosen Versinken im Ewigen. Die ausgestaltete Einheit werde so auf der Grundlage der geleugneten Entzweiung verfehlt.55 Dabei ist die Weltgeschichte der Religionen für Hegel der echte Boden, auf dem die geistigen Grundbestimmungen des Menschen großgezogen werden. Als historische Verwalter des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem manifestieren die Weltreligionen prinzipielle Möglichkeiten des Menschentums. Diese herkömmlichen Instanzen der Vereinheitlichung werden nun nach ihren jeweiligen Vermittlungsleistungen in die eine Entwicklungsgeschichte des Weltgeistes eingebunden. Die eigentliche Religion als Entfaltungsraum der Subjektivität entstehe erst mit dem Verschwinden des Einheitsgefühls, das Mensch und Welt in unmittelbarer Ungeschiedenheit erleben lässt. Die Trennung von Subjekt und Objekt will aber im religiösen Bewusstsein sogleich überwunden werden. Ist die göttliche Substanz die in sich ungegliederte Totalität, wie in den indischen Religionen, führe der Erlösungsdrang den Einzelnen über die völlige Selbstentleerung bis zur Verschmelzung mit dem formlosen All-Einen, wie in der Konsequenz des Buddhismus, dieser Religion des „Insichseins“. Das Lebensprinzip der höchsten Religiosität bestehe hier darin, sich selbst mit dem absoluten „Beisichsein“ zu identifizieren. Das Sichsammeln des weltentsagenden Menschen in der Kontemplation bewirke schließlich Selbstverlust: der schon zu Lebzeiten Erlöste kehrt nicht mehr aus der endlosen Ruhe in die flüchtige Rastlosigkeit der Welt zurück. Da die „Selbstlosigkeit“ vom bestimmungslosen Nichts des Alls verschlungen werde, könne das Negative der Selbstbefreiung nicht ins Positive der für sich seienden Subjektivität umschlagen. Aus der Grenzlosigkeit des Absoluten führen allerdings unmittelbare Wege für die weniger konsequenten Geister ins konkret Sinnliche hernieder, sei dieses doch ebenso aus dem Einen 55 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 155ff. Vgl. dazu, über die „Lehre“ von Meister Eckharts innerweltlicher „Mystik“, Kurt Flasch: „Wert der Innerlichkeit“, S. 232: „Wer sich nur ins Innere versenkt, kann nicht ‚wesentlich leben‘.“

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unorganisiert hervorgegangen. Der religiöse Kult trage sogar die niedrigsten Stoffe „roh“ ins Allgemeine, mit dem Neutrum „Brahman“ bezeichnet, ungehindert hinein. Wie in einem rauschhaften Traum flattere hier die Phantasie zwischen „leerer Einheit“ und „unfreier Mannigfaltigkeit“ herum, ohne wirklich Geistigkeit zu erlangen. Mit der geistlosen Vielfalt hänge auch die soziale Gestalt Indiens aufs Engste zusammen. Die Beschäftigungen des Alltags breiten sich in gleichsam natürlichen Besonderungen aus: die menschlichen Tätigkeiten erschöpfen sich in der Verrichtung von Gewerberegelungen, die dem einfachen Zusammenleben entstammen. Das sippenhaft geerbte und zur ständischen Partikularität erstarrte Einzelleben gehe nicht aus der „freien Subjektivität der Individuen“ hervor. Das Höchste dieses Selbstbewusstseins erschöpfe sich im Sichaufgeben: „Hier sagt alles, was selbständig, identisch mit sich ist: ich bin Brahman.“56 Die absolute Macht konkretisiert sich für Hegel erst im Judentum, in diesem ersten eigentlichen „Religion des Einen“, zur göttlichen Weisheit. Der persönliche Weltschöpfer erschaffe hier die Welt aus dem Nichts – mit tiefsinnigem Gespür für dialektische Umschläge. Die Welt als Nicht-Gott sei „entgöttert“, werde aber dafür zum Schauplatz von wunderlichen Erscheinungen des über sie erhabenen Geistes. Eine neue Stufe der menschlichen Subjektivität könne mit der Auffassung des endlichen Geistes als abbildhaften „Widerscheins“ erreicht werden. Die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung werde mit der Idee eines bündnishaft übernommenen Wesens durchbrochen. Auch wenn also Ansätze der Universalität im Verhältnis zu einem überweltlichen Gott angelegt seien, der sich jeder Darstellung entziehe, herrschen hier noch die verschiedensten Hemmungen vor. Das Selbstbewusstsein schrecke in seiner inhaltlichen Unbestimmtheit vor der vollen Aneignung der gottgespendeten Freiheit zurück. Die altjüdische Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem geschehe menschlicherseits durch die Befolgung geoffenbarter Verordnungen. Der konstante „Wandel vor Gott“ stelle den Maßstab des rechten Weltverhältnisses dar. Die göttlich gesetzten Bestimmungen der Welt seien dazu da, im Doppelverhältnis von Ehrerbietung und Furcht erfüllt zu werden. Die selbstsichere Zuversicht als Kehrseite der Furcht beharre dabei auf das Bewusstsein der Besonderheit und verbleibe in der Mitte eines „ausschließlichen“ Volks, das sich für das einzig „auserwählte“ wähnt. Die Idee des „Herren“ stimme mit der knechtischen Hingabe seiner alleinigen Diener überein, so wie der begrenzte Innenraum des Menschen mit der Vorstellung ei-

56 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion 1, Werke 16, S. 341; Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, S. 186.

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ner irdischen Belohnung des Dienstes einhergehe. Familie und Land bieten den breitesten Horizont der immer endlichen individuellen Ausdehnung.57 Die echte Versöhnung zwischen Mensch und Gott sei aber, nach diesen und anderen Vorstufen, erst im Christentum möglich geworden, dessen Prinzip ja im „Gottmenschen“ bestehe. Die Möglichkeit des Menschen, mit Gott vereint in die Welt zurückzukehren, trete in der Person Jesu auf den weltgeschichtlichen Plan. Das subjektiv Geistige erschien im Kreise der alten Griechen noch mit dem Natürlichen vereint: als durchgeistigte Sinnlichkeit einer Jugend beschränkte es sich auf die reine Schönheit der Individualität, wie zu einem göttlichen Kunstwerk ausgeformt. Die römische Welt war dagegen Träger einer formellen Freiheit, deren bezwingender Macht alles lebendige Besondere unterliegen musste. Die Bereicherung des Endlichen mit dem Unendlichen erfolgte dann in der paradigmatischen Gestalt Jesu, dessen Doppelnatur die „Identität des Subjekts und Gottes“ darstelle. Der Geist „ist das Eine, sich selbst gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens sich von sich trennt, als das Andre ihrer selbst, als das Fürsich- und Insichsein gegen das Allgemeine. Diese Trennung ist aber dadurch aufgehoben, daß die atomistische Subjektivität, als die einfache Beziehung auf sich, selbst das Allgemeine, mit sich Identische ist. Sagen wir so, daß der Geist die absolute Reflexion in sich selbst durch seine absolute Unterscheidung ist, die Liebe als Empfindung, das Wissen als der Geist, so ist er als der dreieinige aufgefaßt: der Vater und der Sohn, und dieser Unterschied in seiner Einheit als der Geist.“ Die trinitarische Inspiration des dialektischen Dreitakts wird in dieser „Achse“ der Weltgeschichte offensichtlich – und auch offen ausgesprochen. Darüber hinaus wird in diesen Worten das Wesensverhältnis des christlichen Menschen mit ausgesagt. Im „Anderen“ des Geistes sei der endliche Geist als „Moment Gottes“ enthalten, indem er sich zu ihm erhebt. Dies ergebe den Inbegriff der christlichen Identität: „Der Mensch, als endlicher für sich betrachtet, ist zugleich auch Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit in ihm selbst; er ist Selbstzweck, hat in ihm selbst unendlichen Wert und die Bestimmung zur Ewigkeit. Er hat seine Heimat somit in einer übersinnlichen Welt, in einer unendlichen Innerlichkeit, welche er nur gewinnt durch den Bruch mit dem natürlichen Dasein und Wollen und durch seine Arbeit, dieses in sich zu brechen. Dies ist das religiöse Selbstbewusstsein.“ Die so erworbene Innerlichkeit der Subjektivität werde nun im Kreis der immer strikter verfassten Gemeinde in der Arbeit von Jahrhunderten eingeübt, um dadurch befestigt, aber vom bloß Weltlichen auch befleckt, in einem letzten – dialektischen – Schritt reformatorisch ins „Herz“ eingelassen zu werden. Indem der Mönch aus dem Kloster in die Welt hinaustre57 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion 2, Werke 17, S. 79, 61, 66f und 84.

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te, gestalte er die geistlose Äußerlichkeit letzterer zur Stätte der Versöhnung mit der Wirklichkeit. „Die wahre Identität“ ist ja „die Wahrheit des Konkreten.“58 Die Vollentfaltung der absoluten Identität habe denn nach alledem auch in das weltliche Dasein in seiner vollwertigen Weltlichkeit hinauszugehen, um sich schließlich handfest einzurichten. Da das Emporsteigen zum höchsten Selbstbewusstsein mit seiner äußeren Verwirklichung geistesnotwendig einhergehe, forme sich das beziehungsreiche Miteinander der Menschen aus der frommen Abstraktheit des Religiösen in die rechtlich abgesteckte Konkretheit des Sozialen hinein. Ist einmal die Freiheit als Befreiung von Zwangsordnungen politisch – im revolutionären Frankreich – und theologisch – im reformatorischen Deutschland – vollbracht, müsse sie sich nun allseitig zum objektiv Bestehenden ausbauen. Der Geist eigne sich das ihm Fremde ein letztes Mal an: das Allgemeine werde in einer wahrheitsfähig gewordenen Welt durch gewissensfähige Menschen „versittlicht“. Es reiche weder aus, Selbstverwirklichung in der grenzenlosen Verschmelzung mit einem konkreten Anderen weltfeindlich zu suchen, noch die eigene Spontaneität für das „Wohl der Menschheit“ reinsten Herzens einzusetzen, noch auch die eigenen Zwecke dem Ziel des „Weltlaufs“ ritterlich anzupassen.59 Der Durchgang der Stadien des Selbstgenusses, des Eigendünkels und der Selbstopferung, ist er einmal ohne Selbstverlust gelungen, erhebe den Menschen in das Reich der organisch gegliederten Freiheit. In der Festigkeit von immer breiter gespannten Vergemeinschaftungen müsse die willkürliche Leere des bloßen Sollens für das besondere Tun konkret aufgefüllt werden. Das Angeborene des „Temperaments“, diese auseinanderlaufende Besonderung ins Endlose, solle hier, aus der Zufälligkeit der Unterschiede herauserzogen, zur „Tugend“ veredelt werden. Der Einzelne gewinne seine gehaltvolle Freiheit aus seiner Identifikation mit dem immer allgemeineren Wollen: erst die Bindung an den Familienkreis, der zur freien Persönlichkeit erzieht, die Teilnahme in Vereinigungen, die sich – ihren Bedürfnissen gemäß – selbst organisieren, und das Sicheinfügen in den unbedingten Einheitsstaat, der das griechische Allgemeine mit dem christlichen Persönlichen verbinde, gewähre ihm echten Bestand. Eine so angelegte Rechtsphilosophie will dem wesensmäßigen Umstand Rechnung tragen, dass Subjektivität zur herrschenden Idee geworden sei. Der im Knechtischen steckenbleibende „Eigensinn“, diese spezifisch moderne „Entartung“ des Subjektiven, müsse zugunsten der geregelten Gemeinsamkeit übertroffen werden. Die allgemeinste Rechtsordnung von Pflichten und Rechten gelte als persönlichste Lebensform, die geteilte Arbeit als tätige Vermittlung von Privat- und Gemeinwohl. Erst für den Menschen des Rechtsstaats sei also, allen bisherigen 58 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, S 386ff. 59 S. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 263–291.

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Menschentypen gegenüber, möglich geworden, in der allgemeinsten Subjektivität eigentlich „bei sich“ zu sein.60 Es steht nun nichts mehr im Wege, die Bewegungslogik der „werdenden Freiheit“ am Weltgeschehen – von seinen frühesten Anfängen bis zu seiner nahen Vollendung – zu demonstrieren. Das Dialektische, dieses theoretische Mittel zur Auflösung von Zweiheiten in einem höheren Dritten, wird über die Vergangenheit wie ein Königsweg, der zur Gegenwart hinführt, ausgebreitet. Die philosophische Tradition der Verknüpfung des Einen mit dem Vielen, die letzteres aus ersterem herniederquellen und stufenmäßig verwesentlichen lässt, verharrt für diese Sicht in einer statischen Ungeschichtlichkeit. Für eine wahre Dynamik wird die theologisch inspirierte Formel des Cusanus, die bald auch zur Grundlage der infinitesimalen Mathematik wurde, „die Linie ist Dreieck“,61 von der Schwelle zur Neuzeit herangezogen und gleichsam rückwärts gelesen historisiert: es geht gleichsam um den Steigungsgrad des Fortschritts. Die Philosophie der Weltgeschichte als Systematik der sinnvollen Einheit allen Geschehens folge den Bewegungen der geistig angetriebenen Wirklichkeit – im Lichte nämlich der kühnen Voraussetzung, welche die einheitliche Vernünftigkeit der Mannigfaltigkeit besagt. Die Unbedingtheit der Perspektive solle sich aus der hohen Einsicht ins Geschichtsganze ergeben. Für diesen breitest angelegten theoretischen Weltordnungsplan ist die ‚Weltgeschichte‘, die sich überhaupt dem Einheitsanspruch verdankt, nichts anderes als die antagonistische Entfaltung eines Absoluten geistiger Natur zu sich selbst. Der Weltgeist entwickle sich ins Zeitliche hinein, um von der Freiheit eines Einzelnen über die Freiheit von vielen zum verwirklichten Bewusstsein der Freiheit aller voranzuschreiten.62 In den äußersten Zwiespältigkeiten, die in sogenannten historischen ‚Umwälzungen‘ zum Ausdruck kommen, stemme sich die eigenste Wahrheit des Geistes gegen sich selbst, um schließlich in der erfüllten Einheit seiner selbst Versöhnung zu finden. Die realen, d.h. in blutigem Ernst ausgetragenen Kämpfe, die sich aus dem Zusammenprall von vergehenden und entstehenden Prinzipien der einen Weltsubstanz ergeben, werden in synthetisierendem Geist geschlichtet. In der Fülle der konkreten Begebenheiten lege sich der eine Weltgeist in unablässiger Individualisierung aus. Auf diesem riesigen Gesamtbild der geschehenden Welt realisiert sich in jedem recht verstandenen Einmaligen das Allgemeinste. Persönlichkeitswert kommt 60 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, §175 und 185; ders.: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 157; ders.: Enzyklopädie, Werke 10, § 513ff. Siehe dazu Joachim Ritter: „Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität“. 61 Nikolaus von Kues: De docta ignorantia [1433], Kap. 10. 62 Hegel: „Die Vernunft in der Geschichte”, S. 63.

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dem Stellenwert im Einheitszusammenhang gleich, um der Ausschweifung des freien Willens in Willkür vorzubeugen. Die höchste Freiheit bestehe in der partikulär ungefesselten Notwendigkeit des Absoluten. Wie gesehen, stellen die Religionen für Hegel immer gelungenere Versuche zur Überwindung der tiefsten Entzweiungen des Menschseins. Indem die Religionsgeschichte ihren Weg vom chinesischen Orient zum protestantischen Okzident zurücklege, dränge sie sich bis zum Wissen der Identität von Gott und Mensch vor, um schließlich die Vernünftigkeit dieses Wissens zur Realität werden zu lassen. Als Hegel das von Paulus vorweggenommene „Gott sei alles in allen“63 zum Vollzugsprozess der Geschichte auseinanderlegt, zieht er die ‚Welt‘ in ihrer ganzen Weltlichkeit ins Allerheiligste hinein. Auch wenn er damit religiös gesehen einen unbefugten Übergriff ins Theologische verübt haben mochte, versuchte er als erster, im Umfeld einer traditionskritischen Aufklärungsvernunft, alles je Bestandene zu seinem philosophischen Recht kommen zu lassen. Die inneren Regungen nehmen sich äußerer Vehikel an: Inneres sei auf Veräußerung angewiesen. Die Bewegung des Geistes steige zwar vom abstrakten zum konkreten Allgemeinen an, vollziehe sich aber vorzüglich in der Partikularität von religiös getragenen Kulturen und Völkern. Weder die am meisten erdgebundenen Volkseinheiten, noch die weltlichsten rituellen Gesten können sich – zumindest an ihrer genuinen Stelle – zur Geist- und Wesenslosigkeit entleeren, wird dies doch vom Konstruktionsprinzip verhindert. Das Großsubjekt ‚Weltgeist‘ schreite seine Epochen in Gestalt von ‚Volksgeistern‘ durch, um je ein Moment des Wahren allseitig zu entfalten. Das Gesamtstreben dieser Teilsubjekte bezwecke die Verwirklichung eines bestimmten Teilprinzips, bis zur reflektierten Überschau desselben, was bereits den eigenen Untergang einleite. Ist sein Prinzip vollbracht, d.h. seine Bestimmung im dialektischen Haushalt der Menschheitsziele erfüllt, bleibe das Volk wie eine entleerte Schale zurück, was jedoch sein Fortleben ins Endlose hinein nicht ausschließe. Der Weltgeist habe sich zum Höheren seiner selbst fortbegeben. „Religion, Kultus, Sitten, Gebräuche, Kunst, Verfassung, politische Gesetze“ und der ganze Umfang der Einrichtungen eines Volkes nehmen nun wie Gefäße das Tun des Einzelmenschen auf. Das Totalgebilde des jeweiligen Volkstums wird als Gott verehrt, als Kunstwerk dargestellt, als Philosophie begriffen und als Staat versittlicht – gegliederte Lebensordnungen eines einzigen Wesens. Die populäre Idee des naturwüchsigen Volkscharakters, der alle Lebensäußerungen wie ein vererbter Kern von innen heraus durchwirkt, gewinnt hier ihre Vergeistigung zu einem einheitlichen Selbstbewusstsein.64 Für das individuelle Fühlen, 63 1Kor 15,28; die Bibel nach der Übersetzung von Luther. 64 Hegel: „Die Vernunft in der Geschichte“, S. 126 und 64ff.

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Glauben, Denken und Wollen ist damit ein Leben in der ganzen Spannweite des Zeitgeistes zuhanden. Das jeweilige Weltprinzip bediene sich unserer ganzen Lebendigkeit. Unsere geselligen Beziehungen stellen zwar historische Verhältnisse dar, sind wir doch Söhne und Töchter unserer Zeit. Die innere Identifizierung mit ihnen gewinne aber ihre Geltung aus der Entfaltungsgeschichte der absoluten Identität, in die sie sich einfügen. Ihre Wirklichkeit sei dabei, vernünftig zu werden.65 Einige ragen jedoch aus der geschichtstragenden Menschenmenge heraus. Diese Einzelindividuen von welthistorischer Bedeutung sind in ihrem Wollen des Neuen nicht aufzuhalten. Die schöpferischen Akte der größten Menschengestalten bauen allerdings auch unwillentlich das „gemeinsame Werk“ fort. In ihren vollbringenden Handlungen vergegenwärtigt sich der bis dahin „verborgene Geist” aus der Hülle des Bestehenden, zumeist diesseits der Einsicht in die eigentliche Bedeutung des Vollbrachten. Diese praktischen Naturen entwickeln die gültige Zukunft mit Leidenschaft für das eigene Tun aus sich heraus.66 Dem unwissenden Vollzug der Vernünftigkeit falle sogar die höchste Einzigartigkeit des noch so leidenschaftlichen Wollens zum Opfer: der Weltgeist müsse sich hie und da „Listen“ weltgeschichtlichen Zuschnitts bedienen.67 Wie die Aufeinanderfolge der Weltreiche, ereigne sich auch die schöpferische Bewegung des Denkens von Widersprüchen zu Widersprüchen auf ihre versöhnende Aufhebung hin. Das Systemgefüge gliedert die historischen Gestaltwandlungen des Geistes als Momente der einen Philosophiegeschichte sinnvoll in sich ein. Das Wissen der freilich immer dialektischen Einheit der subjektiven und objektiven Wirklichkeit sei „absolutes Wissen“, das alle internen Differenzierungen aufhebe. Das System des Ganzen sei zugleich das Ganze seines Wissens von sich selbst. Das Bedürfnis im Menschen, das ihn überhaupt zum Philosophieren anrege, d.h. das Vermittlungsinteresse der ihn zuinnerst treibenden Entzweiungen gelange hier zu seiner endgültigen Befriedigung. Die wahre Vollbildung des Einzelnen führe zur Einsicht ins Allgemeinste. Das Ich finde seine Ruhe, indem es sich zum Wir ausweite – oder was dasselbe heiße, indem es vom umgreifenden Wir aufgehoben werde. Die These des eigenen und die Antithese des fremden Selbstbewusstseins werden schließlich in der Synthese eines „Ich,

65 Der berüchtigte Satz, der die Wirklichkeit des Vernünftigen und die Vernünftigkeit des Wirklichen besagt, ist inzwischen in einer dialektischen Formulierung aufgefunden worden, die die Gegenwartsform auf den Entwicklungsbegriff des ‚Werdens‘ eintauscht, s. Hegels Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Niederschrift, S. 51. 66 Hegel: „Die Vernunft in der Geschichte“, S. 97. 67 Hegel: „Die Vernunft in der Geschichte“, S. 49.

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das Wir“ und eines „Wir, das Ich“ sei, versöhnt.68 Nach der Überwindung aller früheren Einseitigkeiten gewähre die unendliche Seinsfülle absolute Inklusion; Selbstgesetzgebung und Fremdgesetzgebung fallen ineins. Die Erweiterung des Identitätsbegriffs auf das Weltganze in seinem Wandel ist vollzogen. Das Doppelgesicht des Werdens, einerseits Sein, andererseits Nichts zu sein, äußert sich im verschwindenden ‚Augenblick‘ als Einheit von Entstehen und Vergehen. Die ganze Paradoxie des Identitätsproblems soll in der Logisierung von Bewegungsbegriffen zur Ruhe gebracht werden. Die Bestätigung der Identitätslogik besteht in ihrer vernichtenden Erneuerung als Logik der Verhältnisbestimmungen.69 Der Anspruch auf eine Totalität, die sich selbst trägt, wirft mehrfaches Licht auf die Zeitumstände seines Erwachens. Hegels Ausführungen zum verwirklichten Absoluten sind ja, trotz aller Beteuerung der Allgemeinheit, dem aktuellen Weltzustand wie auf den Leib geschnitten – so der spöttische Vorwurf von wahrlich schneidender Dialektik. Die Züge der welthistorischen Versöhnung seien gleichsam der persönlichen Lebenswelt abgelesen. Auf dieser ‚Höhe‘ der Zeit könne ja selbst das massivste Machtgebilde sowie die höchste Bildungsstätte gleichermaßen als objektiv gültiger Geist erscheinen. Was als mächtiges Werk klassischer Prägung aufgekeimt ist, verflacht sich für die geläufige Kritik zur gediegenen Sichbeschränkung und biedermeieren Gemütlichkeit. Der soziologische Blick stellt nur fest: der Hauslehrer und Privatgelehrte wird als ‚Philosophenkönig‘ in die Mitte der Öffentlichkeit berufen; der Rechtsphilosoph des unbedingten Staates ist zugleich bediensteter Staatsphilosoph. Das Politische etabliert sich dabei, sich beamteter Geister bedienend, gerne als Ordnung der bestehenden Vernünftigkeit. Indem alle Regungen des inneren sowie des äußeren Lebens vom NichtIdentischen getrieben einem Identischen zugeordnet wurden, fanden zentrale Aspekte der Identitätsfrage zu ihren letzten Konsequenzen aus vernünftig durchwalteten absoluten Perspektiven. Inmitten der tiefsten „Zerrissenheit“70 der Zeit wollen alle Momente in eine Rechnung gestellt werden. Der moderne Mensch hält hier im Augenblick des drohenden Zerfalls jeder Einheit Schau über sich selbst und seine Welt. Die innersten Ambivalenzen der Freiheitsidee und ihr Zusammenstoß mit der Wirklichkeit fordern zu vereinheitlichenden Anstrengungen heraus. Die unstimmigen Dimensionen des einstigen ‚Alls‘ werden ein letztes Mal zu mächtigen Bauwerken des Geistes rationalisiert. In den absoluten Identitätslehren tut sich eine Sicht der Welt auf, in der man – wenn auch in hy68 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 145. 69 Hegel: Wissenschaft der Logik 2, Werke 6, bes. S. 64ff. 70 Zuerst in Hegel: „Differenz…“, Werke 2, S. 81. Dazu auch die Vorrede zu den späten Grundlinien der Philosophie des Rechts.

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pothetischer Gebrochenheit – eine totale Identifikation anstrebte: die Bestrebung eines Menschen, der sich mit der dinglichen und der mitmenschlichen Welt ebenso innig verbunden wissen möchte, wie mit dem Unbedingten. Diese Produkte des philosophischen Einheitswillens haben die Wiedergewinnung des vermeintlich verlorenen Anderen und fremd Gewordenen zum Ziel. Die Widersprüche des Bewusstseins sowie des Seins lassen schließlich, in fruchtbarer Begegnung mit dem historischen Gedanken, die Mannigfaltigkeit auf ihre fortschreitende Einheit hin ordnen und die Gegenwart als potenzielle ‚Fülle der Zeiten‘ erscheinen. Die Position einer Identität, die alle Antagonismen als Momente eines werdenden Ganzen begreift, wird mit denkerischer Virtuosität erarbeitet, um Selbstsein und Weltsein ‚unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit‘ miteinander zu vermitteln. Das Identitätswerk des Weltgeistes sei damit, auf dem Boden der Denkbarkeit des Seins und der Seinsgültigkeit des Denkens, vollbracht. Breite Schichten der humanistischen Bildung vermögen die hohe Abstraktheit dieser Philosophenschriften zu tragen: ihre Kernideen werden, über den Elitismus einer Kunstsprache weit hinausgehend, zum Kulturgut der bürgerlichen Selbstdeutung trivialisiert und popularisiert. Es ist somit nicht ihre denkerische Spitzfindigkeit, sondern das Irrationale der ‚nächsten‘ Wirklichkeit, was das Riesengebäude der durchrationalisierten Vollidentität gleichzeitig aus mehreren Richtungen sprengen wird.

Die Konkretisierung der Identität

Die geistige Unruhe der folgenden Geschlechter erkannte sich selbst in den noch so gestaltenreich elaborierten Universalkompositionen – ob auf den ‚Menschen‘, auf die ‚Welt‘ oder eben auf ‚Gott‘ zugeschnitten – nicht wieder. Die Spekulation, diese Kunstlehre des vernünftigen Ableitens aus dem Allerabstraktesten, verfehle denn gerade die identitätsstiftende Fülle der ‚nächsten‘ Wirklichkeit. Den angeblich leeren Begriffsgehäusen zu entrinnen, darin liegt das prinzipielle Interesse, welches das Identitätsdenken in neue Bahnen lenkt. Die Hülle des Allgemeinen werde ja eben durch die elementarsten Lebensregungen – seien sie mehr materiellen oder mehr ideellen Charakters – zerrissen. Das Philosophieren wendet sich, aus dem Bann des Allbegreifens erwachend, ‚lebendigeren‘ Erfahrungen zu, die sich dem systematischen Griff entzogen hätten: Identität wird im Zeichen des ‚Konkreten‘ angerufen. Selbstwissen solle endlich, nach einem Überwuchern des eitlen Theoretisierens, unmittelbar praktisch werden. In einer Zeit der Herstellung und Mobilisierung von Massen, im Dinglichen ebenso wie im Menschlichen, stehe nun Errettung aus einer fremd gewordenen Welt auf dem Spiel. Es erwachen geistige Gegenbewegungen zur mechanistischen Versteinerung im Äußeren einerseits, zur Angst und Orientierungslosigkeit im Inneren andererseits. Die Signatur eines Weltzustands, der sich als ‚unmenschlich‘ fühlbar macht, prägt sich den aktivistisch gesonnenen Identitätslehren nach der Eigenart der jeweiligen Empfindlichkeit auf. Im Überdruß am bloß Erdachten kommt die Suche nach einer ‚wirklicheren‘ Wirklichkeit an drei verschiedenen Fluchtpunkten in Gang. Der entschlossene Wille von ‚unverfälschten‘ Verhältnissen rückt, mit je unterschiedlicher Gewichtung, das ‚Überpersönliche‘, das ‚Persönliche‘ und das ‚Unterpersönliche‘ des Menschen in die Mitte der theoretischen Rationalisierung unserer Selbst- und Fremdbeziehung. Bedürfnis, Wille und Unbewusstes – philosophisch verdächtigen Mächten wird ihr identitätsformender Ernst anerkannt. Dafür sollen gleichsam Höhenflüge im Gattungswesen wie Tiefgrabungen im Einzelwesen unternommen, mithin dem Körper und der

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Seele auf den Grund gegangen werden – auch wenn ihre Träger daran zu Grunde gehen mögen.

IN

ÜBERPERSÖNLICHEN

H ÖHEN

Durch das erste Ausfalltor aus dem in sich geschlossenen Weltsystem wurde der Mensch bei Ludwig Feuerbach, einem theologischen Schüler Hegels, zunächst als Wesen aus Fleisch und Blut konkretisiert. Durch den Ausgang aus seiner Leiblichkeit sollte vor allem jede übergeistige Ausschweifung idealistischer Art verhindert werden. An der Spitze der immer politischer ausgerichteten Denkbewegungen könnte das Wort des jungen Hegel wie ein Wahlspruch stehen: „Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindizieren.“1 Das ‚Eigenste‘ des Menschen, zu dem auch und sogar zentral seine Religion angehöre, müsse dem Nächstliegenden seines Daseins angerechnet werden. Das Nächstliegende des Menschen sei aber seine sinnliche Lebendigkeit, was auch schon die wahre Lehre des Christentums über das Fleischwerden des Wortes allegorisch ausspreche. Nur als Wirkliches sei der Mensch ein denkendes Wesen. Die tastenden Versuche Feuerbachs kreisen stellenweise sogar um eine ‚Existenz‘, die sich vom bloß gedachten ‚Wesen‘ grundsätzlich unterscheide. Mit dem plakativen Ausruf, „der Mensch ist, was er ißt“, will er sich selbst von den verborgensten theologischen Inspirationen am schärfsten lossagen. Das Zurücknehmen des Göttlichen in den Menschen bedeute das Bewusstmachen seines unendlichkeits- und unabhängigkeitsfähigen Wesens – Prädikate, die ehedem unter dem Namen ‚Gott‘ zum selbständig Seienden versinnlicht und überlebensgroß ins Jenseits übertragen wurden. Für den Dreischritt des eigenen Denkwegs findet Feuerbach die aphoristische Formel: „Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke“. Echte, d.h. selbstbejahende Selbstbesinnung beginne mit Rückbesinnung auf die Möglichkeiten, die in der Gattung

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Hegel: „Die Positivität der christlichen Religion. Zusätze [1795/96]“, Werke 1, S. 209. Hegels Forderung steht der von Nietzsche in ihrer Radikalität nichts nach: „Meine Aufgabe: alle die Schönheit und Erhabenheit, die wir den Dingen und den Einbildungen geliehen, zurückfordern als Eigentum und Erzeugniß des Menschen und als schönsten Schmuck, schönste Apologie desselben. […] Das ist seine größte ’Selbstlosigkeit’, wie er bewundert und anbetet und nicht weiß und wissen will, daß er schuf, was er bewundert.“ Friedrich Nietzsche: „Nachlaß 1880–82“, KSA 9, S. 582.

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des Menschen liegen. Die religiöse Einbildungskraft schöpfe ja aus der Unerschöpflichkeit der Menschheit. Es sei an der Zeit, den ganzen Reichtum der menschlich erzeugten Ideenwelt, die anhaltenden Selbsttäuschungen durchschauend, in seine Innenwelt zurückzuverlagern. Der Schlüssel zur Entzifferung der Schrift nach authentischem Menschenmaß heiße „Psychologie“. Der wahre Sinn der jüdisch-christlichen Überlieferung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ergebe sich aus ihrer erweckenden Umkehrung – und so fort mit der Lüftung des „Geheimnisses“ aller theologisch eingekleideten Aussagen. In der Liebe, diesem Herzstück des Christentums, schon von Luther beinahe freigelegt, schlage das Herz des Christenmenschen. Auch wenn man, Vers um Vers durchwühlend, ins Allerheiligste hineinschaue, finde man nur sich selbst wieder. Mit einem Wort, der Mensch habe nur mit dem ‚Seinigen‘ ausgerüstet aus dem spirituellen Geisteshaus auszuwandern: das Errettungswerte der empirischen Religiosität liege etwa in ihrer reichhaltigen Gefühlskultur. Das Herabsteigen auf diese Ebene der Bodenständigkeit führe schließlich zu einer sinnlichen Wirklichkeit, die im Zwischenmenschlichen aufblitze.2 Das einzig würdige Sinnenobjekt des Menschen und somit das eigentliche Prinzip seines Denkens ist denn nach Feuerbach im anderen Menschen aufzuspüren. Die Perspektive solle dadurch, entgegen aller identitätsphilosophischen Programme, die in ihrem Versöhnungswillen alles mit allem verwischen, zum wahren Wesen des Menschen hin zurechtgerückt werden. „Der natürliche Standpunkt des Menschen, der Standpunkt der Unterscheidung in Ich und Du, Subjekt und Objekt ist der wahre, der absolute Standpunkt“. Die allein richtige Art der Versöhnung bestehe aber in der Vereinigung aus dem Einheitsgefühl heraus: „Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du ist Gott“. Vermöge der ursprünglichen Mitmenschlichkeit sei mit dem monologisierenden Hang der philosophischen Tradition endlich aufzuhören, die den Anderen schließlich im Anderen seines eigenen Selbst auflöse. Das Dialektische müsse ins Dialogische zwischen Mensch und Mensch gewandelt werden, getragen von der metaphysisch verklärten Leidenschaft der Liebe. Wie in einer späteren Formulierung zu lesen: „Das wirkliche Ich ist nur das Ich, dem ein Du gegenübersteht, und das selbst einem anderen Ich gegenüber Du“ ist. Wie die Liebe an der Wirklichkeit des Unterschieds hafte, der in der Abstraktion der reinen Idee sogleich verschwinden müsse, so beklage der Schmerz die Auflösung der Einzelheit in der Identifikation von Subjektivität und Objektivität. Die Verbindung von Fremdbezug und Selbstbezug bleibe schließlich „Herzenssache“.3 2

Vgl. dazu Martin Buber: „Zur Geschichte des dialogischen Prinzips“, S. 299ff.

3

Ludwig Feuerbach: „Die Naturwissenschaft und die Revolution [1850]“, GW 10, S. 367; ders.: „Das Wesen des Christentums [1841]“, GW 5, Vorwort, Erstes Kapitel

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Das Dialektische neigt allerdings, seiner Tendenz zur Vereinseitigung zufolge, zu einer schlichten Widerspiegelungslehre – im materialistischen Geist von unten nach oben gerichtet. In der Zueinanderordnung von Ich und Du wird ja sogleich das Göttliche „aufgehoben“. Mit dieser Figur solle sich der Mensch aus belastenden Transzendenzbindungen der Vergangenheit herausheben können. Der Emanzipationswille findet für seinen Verweis auf unsere gattungsmäßige Verfassung einen geistigen Verbündeten im aufblühenden naturalistischen Empirismus, um innerweltliche Tatsachen als Erklärungen des Überweltlichen heranzuziehen. Der Appell an das Menschliche ruft auch Elemente der ‚humanistischen‘ Tradition wach, will jedoch darüber hinaus religiöse Kräfte im eigenen Interesse mobilisieren. Die Allseitigkeit des Renaissancemenschen bereichert sich, durch entdeckerische und erfindungsreiche Welteroberung im Bewusstsein des Machbaren bestärkt, um Züge des Göttlichen. Die Lehre von der Vollentwicklung der Persönlichkeit kann auf den Resonanzboden von Schichten rechnen, die sich in „Unmündigkeit“ gehalten fühlen.4 Mit herzerhebenden Göttlichkeitsattributen ausgestattet könnte sogar, so die gemeinsame philosophische und unphilosophische Hoffnung, ein neues Weltzeitalter herbeigeführt werden. Das Maß der Selbstentfaltung solle nicht mehr im Zufall der Geburt, sondern im Ertrag der Leistung liegen. Die inhaltlichen Konsequenzen dieser strukturellen Vergöttlichung des Menschen für seine Identität waren jedoch tiefgreifender durchzudenken, was in einer bibelfesten Entdeckerfreude nur ansatzweise geschehen konnte. Das Berauschen am Unendlichen als dem fruchtbarsten Menschengedanken lässt bei diesem freiherzigen Diagnostiker von Gottes Aufgehen im Menschen, was einem Totschlag gleichkommt, keinen Raum für Verlustgefühle. Es war Karl Marx, in eine Rabbinerfamilie geboren und in die hegelsche Philosophie hineingebildet, der die Unzulänglichkeit dieser Idee des Miteinanders, nicht zum eigentlichen Sozialen vorzudringen, beheben wollte. Im Zuge einer dialektischen Folgerichtigkeit, die den bereits versinnlichten Einzelnen zur eigentlichen Geselligkeit öffnete, wurde der Mensch zum Erzeugnis von ‚Sozialverhältnissen‘ rationalisiert. Die immer materieller angesetzten Ausführungen zum „Wesen des Menschen“, zweites Kapitel zum „Wesen der Religion“; ders.: „Grundsätze der Philosophie der Zukunft [1843]“, GW 9, §§ 41, 56, 60, 62, 32, 33; ders.: „Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen curriculum vitae [1843/44]“, GW 10, S. 178; ders.: „Über Spiritualismus und Materialismus in besonderer Beziehung auf die Willensfreiheit [1866]“, GW 11, S. 171. 4

Vgl. Alfred von Martin: Zur Soziologie der Renaissance; sowie Kants berühmte Bestimmung der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ mit Hilfe der Eigenleitung des Verstands.

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bezwecken die theoretische Klärung der falschen, weil ‚entfremdenden‘ Zustände der Gegenwart, um dadurch – nach wie vor dialektisch – zu ihrer praktischen Überwindung beizutragen. Mit diesem Privativum dämmert allerdings eine – eher undialektische – Ungeschichtlichkeit auf: das Bild einer ursprünglichen Vollständigkeit, die jeder Verneinung vorausgegangen wäre. Der Maßstab der Bewährung scheint für Marx in einem zeitlos gültigen Wesensbegriff des Menschen zu bestehen. Dem von Feuerbach zurecht eingeschlagenen Weg müsse dazu weiter gefolgt werden, um noch tiefer unsere geistumhüllte Gattungsanlage zu erfassen: unter der Schicht der gefühlhaften Sinnlichkeit verberge sich das Reich der Bedürfnisse. Das Wahre an dem Schöpferischen des Menschen sei demnach seine nicht-himmlische Produktivität, welche die irdische Welt nach diesem Innersten hervorbringe. Während er sich durch seine Arbeit als ‚Gattungswesen‘ produziere, bilden sich, parallel zur Bereicherung der Welt mit Menschlichem, auch seine Fähigkeiten immer reicher heraus, um seine immer raffiniertere Bedarfswelt zu befriedigen. Der wahre Reichtum des Menschen bestehe in der Fülle seiner gattungsmäßigen Lebensäußerungen. „Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben.“ Alles Fühlens- und Denkenswerte sei im gemeinsam je Verrichteten verankert, wie auch der Spielraum des persönlichen Wollens und Handelns von Bewegungsgesetzen weltgeschichtlichen Maßstabs ausgespannt werde. Die aktuell gültige Beschaffenheit des Menschen könne daher, sei sie doch das jeweilige Zwischenergebnis von historisch-gesellschaftlichen Prozessen, nur im umfassenden Verkehr mit anderen unter vorgefundenen Bedingungen angeeignet werden. In der Konsequenz von theoretischen Konkretisierungsschüben stößt Marx schließlich auf das Ökonomische in seiner Qualität des Umgreifenden, ohne jedoch den Leitfaden der menschlichen Selbstentfremdung je fallen zu lassen. Sei einmal der philosophische Kern des Wirklichen ergriffen, könne er als Grundlage der Ableitung jeder vergangenen wie gegenwärtigen Teilwirklichkeit dienen, um auch zumindest die Grundrisse der Zukunft erahnen zu helfen.5

5

Karl Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“, Werke 1, S. 598. Zum Begriff der ‚Entfremdung‘ ebd., S. 559ff; zum Menschen, der aus seinen Bedürfnissen heraus handelt, Karl Marx – Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie [1846]“, Werke 2, S. 15ff, 29ff. Zur Darstellung der Marxschen Philosophie am Leitfaden der Entfremdung siehe Karl Löwiths vergleichende Studie: „Max Weber und

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Auf dem religionskritisch vorbereiteten Boden der Konkretheit müsse endlich der eigentliche Kern des Menschen, der auch seine Selbstidentifikation als ein unverfälschter Bezugspunkt leiten könnte, erfasst werden. Selbst die lapidare Scheinetymologie, „das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein“,6 wird jedoch in ständiger Rücksicht auf die Dialektik von Totalitätsbegriffen festgeschrieben. Die Illusion eines beglückenden Jenseits sei aus bedrängendsten Notlagen des Diesseits hervorgesponnen, um diese wiederum auf Dauer zu stellen: die selbst- und fremdbetäubende Wirkung der Gottesidee wird – durchaus dialektisch – als „Opium“ versinnbildlicht.7 Die Lösung des Welträtsels laute: Alle Selbstmissverständnisse deuten Missverhältnisse an. Das Selbstbewusstsein als Welt- und Menschensubstanz entpuppe sich, richtig entziffert, als philosophisch sanktifizierte Handlungseinheit. Der Mensch sei vielmehr seine Welt – sowohl innerhalb wie auch außerhalb seiner in einer aktiven Lebenspraxis hervorgebracht. Der richtige Name für die tätige ‚Selbsterzeugung‘ sei ‚Produktion und Reproduktion des Lebens‘. Die Logik der welt- und selbsterrichtenden Vergegenständlichung kehrt hier, aller verspotteten ‚Vergeistigung‘ satt geworden, in der Form einer ökonomistischen Begrifflichkeit der ‚Produktivität‘ wieder.8 In einer wohl provokativen – weil undialektischen – Zuspitzung: „Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendig Supplemente ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses“. Und weiter: „die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens.“9 Am Endpunkt von naturalisierenden Denkbewegungen wird die Bildungsidee in die Arbeitsidee überführt. Die Lebensprobleme des modernen Menschen müssen ja, der realen Bedeutung des Wirtschaftens entsprechend, in der Welt der eigentlich wertschöpfenden Verhältnisse zur Lösung finden. Das ökonomistische Weltzeitalter schreibt sich gleichsam in die Grundworte seiner denkenden Erfassung hinein. Der wahre Sinn der von Hegel ‚spirituell‘ erörterten ‚Entfremdung‘ des Menschen bestehe darin, dass er in seiner Arbeit, statt sich lebendig zu ‚äußern‘, zur toten Gegenständlichkeit ‚veräußere‘.10 Der Prozess der Selbstverwirklichung Karl Marx“. Zu Marx‘ „Anthropologie“ sowie ihrer kontroversen Rezeption Axel Honneth und Hans Joas: Soziales Handeln und menschliche Natur, S. 26ff. 6

Marx: „Die deutsche Ideologie“, Werke 2, S. 22f.

7

Marx: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie [1844]“, Werke 1, S. 488ff.

8

Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, S. 128ff.

9

Marx: „Die deutsche Ideologie“, Werke 2, S. 23.

10 Vgl. Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“, Werke 1, S. 559ff.

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bleibe in der Selbstentäußerungsphase stecken. Hegel finde zwar aus seinen scharfsichtigen Zeitanalysen der verkrümmenden Unterdrückungsverhältnisse einen philosophischen Ausweg zur friedlichen Versöhnung. Um aber diese Illusionsfiguren ihrer verharmlosenden Abstraktheit zu entkleiden, müsse der Begriff der Entfremdung in die ‚Wirklichkeit‘ der privatwirtschaftlichen Arbeitsteilung eingetaucht werden. Die verschwommenen Prioritätsverhältnisse zwischen Entfremdung und Privatwirtschaft als Quellen allen Übels mögen hier dahingestellt bleiben. Es stehe jedenfalls fest, dass die freie Selbsttätigkeit des Menschen zur blinden Erwerbstätigkeit entartet sei.11 Sind die eigentlich Tätigen von den Mitteln ihrer Selbstverwirklichung getrennt, so verhalten sie sich zu ihrem Tun, ihrem Werk, ihren Gefährten sowie ihrem eigenen Wesen wie zu fremden Gegenständen. Während sich die Arbeiter in ihren bis zur elementaren Zergliederung aufgeteilten Tätigkeiten verlieren, verliere sich ihr untätiger Arbeitsherr in seinen gegenständlich vermittelten Welt- und Selbstverhältnissen. Die Kehrseite der immer reicheren „Verwertung der Sachenwelt“ bestehe in der steigenden „Entwertung der Menschenwelt“.12 Jeder sei der vorherrschend gewordenen Warenform ausgeliefert: der Mensch werde mit all seinen Beziehungen zur Ware, was sich auch in den quasireligiös angebeteten Waren als verdeckten zwischenmenschlichen Verhältnissen widerspiegele.13 Es gelte nun, den Menschen als „wirkliches individuelles Gattungswesen“ zurückzugewinnen. Der materielle Schwerpunkt der Marxschen Theorie lässt das Gemeinwesen in den jeweiligen Produktionsverhältnissen aufgehen. Das richtig gedeutete Bewegungsgesetz der Menschheit erzeuge keine Völker von geistiger Wesentlichkeit, sondern Gruppierungen unterschiedlicher materieller Ausstattung, je nach Art der Arbeitsteilung. Die historisch gewordenen – entstehenden und vergehenden – Großeinheiten der Zugehörigkeit reproduzieren immer intensiver die gleiche Spannungslinie zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Sei einmal die Architektonik von Sein und Bewusstsein zurechtgerückt, liege der Ausgangspunkt jeder bedeutsamen Geschichtsbewegung in den „konkreten“ Verhältnissen. In diesem Fall seien es eben die immer mehr angespannten Sozialverhältnisse, die – von heftigen ideologischen Kämpfen begleitet – auf die extremen Antagonismen der Gegenwart zuführen. Jeder „Ruck“ des Weltgeschehens sei tektonischen Umwälzungen in den sozialökonomischen Fundamenten aufzurechnen. Inzwischen verwissenschaftlichte sich denn der Gesichtspunkt der Gütervermehrung, 11 Zur unklaren Verursachungsproblematik s. Heinrich Popitz: Der entfremdete Mensch, S. 133. 12 Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, Werke 1, S. 561. 13 Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, Werke 1, S. 577, ders.: „Das Kapital [1867]“, Werke 4, S. 46ff.

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auf dem Erfahrungsgrund des schicksalsmächtigen Kapitalismus, zur vollständigen Weltbeschreibung, und dies im Zeichen der „Güterknappheit“, diesem begrifflichen Gegenstück zum „Bedürfnis“. Fern von völliger Ungeistigkeit stoße die gruppenmäßige Selbsterkenntnis, diese produktive Durchschau des eigenen Lebensvollzugs, den Weltprozess von Epoche zu Epoche weiter. Erst die erkannte Zugehörigkeit bewirke ja, über die bloße Tatsache der gemeinsamen Lebensumstände hinaus, wahren Fortschritt und echte Zusammengehörigkeit. Die höchste Instanz der bewussten Selbstidentifikation sei also unter historischen Umständen die widersprüchliche Lage, die man in der historischen Produktion der Welt und des Menschen einnimmt. Inmitten der zugespitzten Außenverhältnisse, in die Wesensdynamik des über sich Hinaustreibens eingestimmt, lasse sich jedoch der Weg zum durch und durch gesellschaftlichen Wesen vorzeichnen, das nunmehr von den richtigen, d.h. entzweiungsfreien Sozialverhältnissen erfüllt sein werde. In der Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Vollendung kommt es darauf an, die Zeichen richtig zu deuten. Die innere Entwicklungsgeschichte der menschlichen Anlagen sei in der Produktionsgeschichte, in diesem „aufgeschlagne(n) Buch der menschlichen Wesenskräfte“, nachzulesen.14 Als Vorzeichen einer weltumspannenden Universalisierung weite sich die Geschichte zur Weltgeschichte, die Völkervielfalt zur Menschheit bereits im Schoße des Weltkapitalismus aus.15 Es gelte die Erwartung des notwendigen Hervorspringens eines ‚neuen Menschen‘, der sich schlagartig als voll entwickeltes Mitglied eines organischen Menschheitsganzen entpuppen werde. Als romantischer Virtuose des Einswerdens mit allen Anderen geht das Gattungswesen im breitesten Menschenkreis auf. Der Durchbruch zum vollen Menschentum bringe den nicht mehr spezialisierten Menschen auf die Welt, dessen allseitige Fähigkeiten nicht mehr werden brachliegen müssen. Produktion veredle sich zur Arbeit. Die harmonische Identität bedeute, jenseits der selbstbezogenen Vereinzelung der kapitalistischen Gegenwart, die Handlungstotalität des Einzelmenschen vom morgendlichen Jagen bis zum abendlichen Philosophieren, die sich reibungslos in die allgemeine Gesellschaftlichkeit einwebe. „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen.“ Das Selbstverhältnis des Einzelnen, dieser besonderen Verwirklichung des

14 Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, Werke 1, S. 602. Die Möglichkeiten für eine Individualpsychologie auf der Grundlage des dialektischen Materialismus werden ausgelotet von Lucien Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. 15 S. etwa Karl Marx – Friedrich Engels: „Manifest der kommunistischen Partei [1848]“, Werke 2, S. 818f.

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Gattungslebens, solle in seinem Gattungsverhältnis aufgehen.16 Dies sei alles, was wir über ihn wissen können: seine Einzelzüge und Lebensmöglichkeiten übersteigen unsere noch so beschwingte Einbildungskraft. Indem der Mensch zu seinem gattungsmäßigen Selbst gelange, gehen denn selbst seine Sinnesorgane eine Metamorphose durch: seine Ohren werden taub gegen alles, was ihn allein anzugehen sich vorgibt. Von keinem Auge gesehen und keinem Ohr gehört seien die Erträge des endzeitlichen Zusammenpralls.17 Wie der oft heraufbeschworene ‚konkrete‘ Mensch nicht einen Einzelnen meint, der seine Entscheidungen aus der Tiefe seines persönlichen Selbst trifft, sind Individuen von weltgeschichtlichem Rang keine Hauptakteure im widerspruchsvollen Entwicklungsgang der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte.18 Der verzückt beteuerte Humanismus dieser Perspektive gilt vielmehr der Befreiung der Unterworfenen und Verachteten zu einer Welt der gemeinsamen Allgemeinheit. In einer konkreten Situationsanalyse kann der Revolutionär als Typus einer spezifischen Aktivität eine gewisse Bedeutung erlangen, dessen dialektische Heldentat sich in einem unumgänglichen Umsturz der überspannten Verhältnisse erschöpft. Der Wert seiner Leistung sei an ihrem objektiv richtigen Sicheinfügen in den Gesamtzusammenhang der selbstbeweglichen Weltgeschichte zu ermessen. Als eigentlicher Träger der rechtmäßigen Veränderungen biete sich auf den allein seinsgültigen Fundamenten diejenige Klassenlage, die dem Endzustand der Menschheit auch ungewollt am nächsten komme: es sei die „Proletariat“ genannte negative Besitzlosigkeit, die sich mit einem einzigen Schlage ins Positive des Gemeinbesitzes kehren müsse. Die Geburt eines Weltproletariats lasse sich an der Signatur – oder besser den Zeichen der Zeit ablesen. Die geistige Stoßrichtung dieser Absolutheitslehre fällt auf diese Weise mit spezifischen Schichteninteressen zusammen, die aber zugleich – durchaus unbewusst – bisher unerkannte Allgemeininteressen vorwegnehmen sollen. Das Freiheitsprinzip wird als radikale Befreiungstat zur Endgeschichte hin revolutionär ausgelegt. Die persönlich einverleibte Allgemeinheit werde dann keine äußeren Stützen mehr brauchen: Privates und Öffentliches, Inneres und Äußeres kommen im Menschen selbst zur Deckung. Die bisher staatlich verrichteten Funktionen

16 Marx: „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 13, S. 632 und ders.: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, Werke 1, S. 566ff. 17 Zur Bewandtnis mit dem Individuum des Kommunismus ders.: „Ökonomischphilosophische Manuskripte“, Werke 1, S. 597, zur Befreiung der Sinnesorgane ebd., S. 599ff. 18 Eine existentialistische Lesart wird immerhin bemüht von Herbert Marcuse und Alfred Schmidt: Existentialistische Marx-Interpretation.

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des Zusammenlebens fallen der Kompetenz eines in sich harmonischen Gattungswesens zu. Mit den Mitteln von Wesensbegriffen in die Zange genommen, solle hier die Wirklichkeit endlich ihre letzte, diesmal naturalistische Wahrheit selber aussagen. Auf diesem objektivistischen Boden der Wesenserkenntnis drängt sich die Rationalisierung des Identischen bis zum Gesellschaftsmenschen in seiner Ausschließlichkeit vor. Die neuzeitliche Entdeckung des außerstaatlich gedeihenden Sozialen,19 das in seiner zwischenmenschlichen Autonomie mit institutionellbürokratischen Verrichtungen nie restlos einzufangen sei, erhebt sich zur Weltanschauung mit totalen Ansprüchen. Das Reich persönlicher Beziehungen, das sich außerhalb der staatsphilosophisch vielfach behandelten Verfassungsformen aufgeschlossen hat, wird nun zur vollen Menschenwelt ausgebaut. Die weit ausgreifenden Zeitanalysen vermögen jedoch mit ihrem gemeinschaftlichen Interesse nur die Aspekte eines verbindend Allgemeinen im historischen Material zu fassen. Es ist das ‚bloß‘ Individuelle, was durch die noch so dicht gewobene Gattungsbegrifflichkeit immer wieder durchrieselt: es wird, wenn überhaupt wahrgenommen, als bedauerliche Verzerrung oder vergnügliche Kuriosität festgehalten. Der richtige Selbstbezug solle sich durch die unvermeidlich einstellende Selbstauffüllung mit dem Überpersönlichen wie von selbst herstellen. Es ist die Sicht einer Identität, die offensichtlich von einem mitmenschlichen Vereinigungswillen getrieben wird, der sich bald in geschichtsmächtigen Bewegungsdevisen artikuliert. Der Begriff des ‚Gattungswesens‘ hat seinen Ort in einer Anthropodizee, welche eine diesseitige Erlösung aus vereinigten Eigenkräften in Aussicht stellt. Allen klassischen Theodizeen liegt eine Konstruktion zugrunde, die für die Deutung der diesseitigen Vorgänge jenseitige Anhaltspunkte in Anspruch nimmt. Als Anthropodizee tritt nun die Geschichtsvision des dialektischen Materialismus an diejenige Stelle, die einst von religiös verankerten Weltsichten besetzt war. Der grundsätzliche Unterschied besteht in der Vorstellung einer irdischen Erfüllung als Ergebnis der immanenten Bewegung des Geschehens.20 Der Dualismus der menschlichen Verfassung wird, auf ‚Gott‘ verzichtend, ins Äußerste getrieben in die Welt hinein verlegt: diese durch und durch soziale Weltanschauung will wörtlich die Anschauung der ‚Welt‘ und des irdischen Menschen bleiben. Der Eindruck, dass die latent trinitärische Theoriedynamik von einer abgründigen religiösen Spannung getragen wird, wird durch die implizite terminologische Anleihe bei der gnostischen Religiosität der ersten nachchristlichen Jahrhunderte verstärkt. Dem apokalyptischen Urwort der 19 Vgl. dazu Art. „Gesellschaft“, in: Joachim Ritter – Karlfried Gründer – Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3. 20 Vgl. dazu Max Weber: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 314ff.

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‚Fremdheit‘ zufolge dehnt sich der Deutungsrahmen in noch weitere Tiefen der Religionsgeschichte aus. In der Denkfigur der ‚Entfremdung‘ wird die Welt- und vor allem Selbstferne des Menschen auf den Punkt gebracht, die eine sich wiederholende Gesinnungslage modernisiert.21 Als Gefangener der eigenen Verhältnisse sammelt dieser ‚Fremdling‘ all seine Wesenskräfte diesmal gattungsmäßig für einen letzten Durchbruch. Die Sozialökonomik der Gegenwart erweist sich als Heilsökonomik der Selbstverwirklichung. Die transzendenten Visionen werden in die immanente Zukunft verlegt. Es wird ein totaler Umsturz der Weltzustände erhofft: der Weg werde durch eine reflexiv geförderte Revolution eingeschlagen.22 Die kommunistische Ausgleichsidee wurzelt in vertragstheoretischen Vorstellungskreisen aus neueren Zeiten einerseits, die den Einzelwillen mit dem Gemeinwillen ineinanderfallen und so das Gemeinwesen des Gemeinwohls mit einem Schlag hervorgehen lassen, in historischen Spekulationen der altjüdischen Prophetie andererseits, die das kollektive Wohlergehen der späten Nachfahren verkündet hat: die positive Anthropologie des selbstbefreienden Gruppenmenschen hat für ihre innerweltliche Perspektive auch die biblische Volkseinheit zu ihrem Vorbild. Aus der antagonistischen Energie zwischen der Gegenwart der Vereinzelung und der nachgeschichtlichen Zukunft der totalen Vergemeinschaftung bezogen diese Betrachtungen ihre handlungsleitende Wirkungsmacht.

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Durch einen weiteren „Engpaß“, der in den Mauern des Systemganzen mit „Furcht und Zittern“ geöffnet wurde, meinte die Selbstreflexion das Einzige, was den Menschen ernstlich betreffe, ebenso als Verhältnis zu erfassen – ein Verhältnis jedoch, das sich zu sich und zu einem radikal Anderen verhalte, der das Menschenselbst in einem Setzungsakt überhaupt begründe. Das ‚Konkrete‘ als das persönlich Eigenste wird von Søren Kierkegaard, einem einstigen Pastorenkandidaten im Geistesklima des Hegelianismus, als Fluchtpunkt der eigenen Philosophiedynamik gewählt. Diejenige philosophische Kritik, die das ‚genuin Historische‘ dem Absolutheitsdenken entgegenhielt, schöpfte sein schlagendes Argument aus der unmittelbar erlebnishaften Erfahrung, wonach das für den Einzelnen letztlich Wesentliche im Unverallgemeinbaren stecke. Vom gewaltigen Ernst des Christlich-Religiösen getragen, von Schwermut als einem „Pfahl im

21 Vgl. Kurt Rudolph: Die Gnosis, S. 98ff, Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie, S. 25ff und Hans Jonas: „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“. 22 Vgl. Max Weber: „Roscher und Knies“, GAWL, S. 33.

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Fleisch“ gezeichnet, denkt Kierkegaard auf den authentischen Vollzug des persönlichen Selbst hin. Für diese Denkhaltung, die von der Idee des Historismus theoretisch betrieben wird, kann die schlechthinnige Individualität kein unphilosophisches Beiwerk mehr bleiben. Das durchaus Individuelle sei im Denken mit seinem inhärenten Universalisierungsdrang, der nach ‚Essenzen‘ strebt, letztlich nicht einzufangen. Die Kluft zwischen ‚Sein‘ und ‚Bewußtsein‘ dürfe sozusagen aus ‚höchstpersönlichen‘ Gründen nicht geschlossen werden. Der Intellekt könne an die Wirklichkeit noch so dicht herankommen – das Persönlichste bleibe begrifflich unerobert, oder nach den Worten Kierkegaards: das Dasein habe für den Einzelnen kein System, ein System gebe es allenfalls für das Denken.23 Als archimedischer Punkt der Systemnotwendigkeit wird das frei waltende Individuum behauptet. Der wirkliche Mensch sei unfähig, sich aus seinem subjektiven Standort „hinauszureflektieren“, um sich zur objektiv erkennenden Übersicht des Weltprozesses emporzuschwingen. Die Scheidelinie, die das diskursive – oder eben dialektische – Erkennen von der undiskursiven Wirklichkeit trenne, gewinnt damit höchste philosophische Bedeutung. Die neue Denkbewegung, die sich den Existenzmöglichkeiten des Menschen widmet, meint nicht mehr den abstrakten Erkennenden, dessen Begriff Kant zum ‚Bewußtsein überhaupt‘ gereinigt habe, sondern den ‚lebendigen‘ Menschen. Der subjektiv Denkende stoße immer wieder auf lebendiges Sein. Der sich auf sich selbst besinnende Mensch finde sich ja als ein Wesen vor, das sein Leben in einer Differenz, gleichsam „zwischen“ der Allgemeinheit des Denkens und der Einmaligkeit des Wirklichen eingespannt führe. Er sei von der Einzigartigkeit des eigenen Daseins, fortan „Existenz“ genannt, am nächsten betroffen: diese Anlage des Menschen wird von Kierkegaard zum Begriff „Inter-esse“ verdichtet.24 Der neue Bezug zum Zeitlichen, das weder an äußerer Dauer, noch an innerem Wesenstakt gemessen wird, artikuliert sich in einer Geschichtslehre durch und durch individualistischen Charakters. Es erfolge, ziehe man das menschlich überschaubare Geschehen in Betracht, Einzelnes nach vorausgehendem Einzelnen im endlosen Ereignisgeflecht, das jeder Art von höherem Sinn für das menschliche Tun entbehre. Das notwendigkeitsfreie Nacheinander der Begebenheiten ist – für die existenziell relevante Innenansicht – nichts anderes, als das

23 Vgl. Søren Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken 1 [1846], GW 10, S. 101ff.. 24 Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken 2, GW 11, S. 15. Zu einer Kritik am identifizierenden Rationalismus siehe später, von Kierkegaard beeinflusst, Theodor W. Adornos „Konstellationsanalyse“: Negative Dialektik [1966].

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Wirklichwerden von Möglichkeit durch Freiheit.25 Der Begriff des Glaubens gelte in seiner breiteren Fassung dem Historischen selber: es gehe um das Gespür für den „Augenblick“, für das Entstehen diesseits jeder Vermittlung. Für die radikal zeitliche Sicht erscheint jeder Augenblick als erstreckungsloser Moment potenzieller Neuheit. Die Zeit wird zu einem unendlichen Nacheinander von Augenblicken vereinzelt. In einer Welt der unablässig quellenden Individualitäten ist auch die Verfassung des Menschen historisch durchtränkt. Das fließende Jetzt lässt freie Tat aus Verantwortung geboren werden. Das souveräne Tun und Lassen gehört schon für Schelling nicht den ‚quantitativen‘ Bestimmungen der Zeit, vielmehr der ‚qualitativen‘ der Ewigkeit an. Ob es nun unter der Bezeichnung der ‚Ewigkeit‘ oder der einer genuinen ‚Zukunft‘ angeführt wird – immer sei es das Leben des Menschen als Einzelnen, was in seiner unendlichen Interessiertheit auf dem Spiel stehe. Entspringe jedes Entstehen aus Freiheit, so sei die Entscheidung dem Einzelnen anheimgestellt, sobald er aus den entscheidungslosen Verhältnissen der ‚ästhetischen‘ Unmittelbarkeit herauswage. Die persönliche Wahl des Wählens wird als Grundstruktur jedes höheren Menschentums herausgestellt. Die radikale Verzeitlichung des Geschehens tut sich, was das Handeln und seine Bedingungen betrifft, in einer um sich greifenden Entscheidungs- und Kontingenzbegrifflichkeit kund. Für die Idee der letztlich unsystemischen Handlungsfreiheit des Menschen füllt sich jeder Augenblick mit ungeheuerer Entscheidungslast auf. „So wahr es also eine zukünftige Zeit gibt, so wahr gibt es ein Entweder–Oder.“26 Um diese Stufe des Menschseins zu erklimmen, habe man jedoch zuerst die Unentschiedenheit des schlicht vorgefundenen Lebens hinter sich zu lassen und sich für das Wählenkönnen überhaupt zu entscheiden. Die Sphäre des „Ästhetischen“, die sich auch als jugendliches Stadium auf dem Lebenswege darstellen lasse, gründe sich auf die nächstliegende Anschauung der Welt, diesseits jeder Reflexion höherer Potenz. Mit dem Organ der Vorstellungskraft ins Endlose bereichert, lebe der Ästhet, an dem situativ Gegebenen hängend, gleichsam in die Welt hinein: sein Leben erschöpfe sich im Erleben. Entwickeln sich seine Naturanlagen zur höchsten lebensanschaulichen Virtuosität, so bilde sich eine eigene Lebensform, vom Formgebungswillen beherrscht, heraus. Seine Sublimationsleistung sei die Spitzfindigkeit der überhaupt ausdenkbaren Variationsfülle von Oberflächenerscheinungen ohne Tiefendimension. Von Sinnlichkeit und Bedürfnissen bestimmt, verbleibe die Reflexion im Umkreis der temperierten Genussgestaltung, so etwa im Fall der ins Kunstvolle gesteigerten Klugheitslehre des Hedonismus. Die systematisch vollzogene Verführung eines Anderen hantiert 25 Vgl. vor allem Kierkegaard: Philosophische Brocken [1844], GW 6, S. 68ff. 26 Kierkegaard: Entweder–Oder [1843], S. 723.

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mit Gefühlsregungen durchaus im Kalkulationsgeist des modernen Wirtschaftsrationalismus. Die Leere der Beziehungen kulminiere in der Vernichtung des Anderen. Die „sinnliche Genialität“ vergeistige dabei das Fleisch aus „des Fleisches eigenem Geist“. Die besessene Suche von Stimmungen und Befindlichkeiten könne sich, über die Gegenwart hinausgehend, auch im Vergangenen verlieren, indem der in seinen Erinnerungen Lebende das je Erlebte idealisierend verewigen, d.h. mit der Ewigkeit verschränken will. Wer nach Flüchtigem und Vorübergehendem greife, gehe, von der Richtung seines Ausgreifens unabhängig, im Hier und Jetzt der Lust auf. Die literarische Höchstleistung des ästhetisch Lebenden sei die kunstvolle Nacherzählung seines zum Kunstwerk ausgefeilten Lebens. Die inszenierte Lebenseinheit, die jeder Selbsthingabe an Personen oder Sachen ermangelt, bewirke keine Identität: eine Kontinuität, die am Äußerlichen haftet, sei schließlich Zufallsprodukt. Tat und Folgetat bauen nicht innerlich aufeinander auf; die immanente Systematisierung des Ästhetischen vermöge keine Dauergebilde hervorzutreiben. Der Unbedingtheitsanspruch des Menschen könne im bloß Verschwindenden keine Erfüllung finden: die durchgeistigsten Naturen schwingen sich bis zur Melancholie oder zur andauernden Verzweiflung auf.27 Erst durch die Wahl des Wählenkönnens als Selbstwahl in Verzweiflung gelinge der Durchbruch zum eigentlichen Selbst, indem die Persönlichkeit durch ihren eigensten Freiheitsakt „ihr Zentrum in sich selbst“ gewinne. Die Selbstbestimmung sei nicht die Verwirklichung eines bereits Vorhandenen: der Mensch wird ethisch zu dem, was er wird. In dieses Konstitutionsmoment fließe die volle „Leidenschaft“ des Ästhetischen ohne seine Zerstreuungen hinein, wodurch es im „Ethischen“ aufgehoben und zum Eigensten geweiht werde. Das Moralische im engeren Sinne, der Scheideweg zwischen Gut und Böse, komme erst durch den originären Akt der Urwahl des Selbst in die Welt. Indem die Bedingungen des Konkreten mit der Verantwortung des Allgemeinen übernommen werden, wähle der Mensch durch seine Grundentscheidung sich – sein ästhetisches, vielfältig bestimmtes Selbst – gleichsam in die Welt zurück, was einer zweiten Geburt gleichkomme: „Wer ethisch lebt, hat also sich selbst als seine Aufgabe. Sein Selbst ist als unmittelbares zufällig bestimmt, und die Aufgabe ist, das Zufällige und das Allgemeine ineinander zu arbeiten.“ Abhängigkeit und Freiheit fließen im Begriff der „Pflicht“ zusammen. Der ethisch lebende Mensch sei individuell im öffentlichen Leben verwurzelt: „Der ethische Satz, dass ein jeder Mensch einen Beruf habe, ist also der Ausdruck dafür, daß es eine vernünftige Ordnung 27 Vgl. Kierkegaard: Entweder–oder, S. 106ff, Zitat S. 107 sowie ders.: Stadien auf dem Lebensweg [1845], GW 9; zur Melancholie und Verzweiflung als Stufen des Ästhetischen s. Entweder–Oder, etwa S. 27ff und S. 476, 542, 547, 762.

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der Dinge gibt, in der ein jeder Mensch, so er will, seinen Platz ausfüllt, dergestalt, daß er zu gleicher Zeit das Allgemein-Menschliche und das Individuelle ausdrückt.“ Die Formel für das verinnerlichte Allgemeine laute daher: „ich tue meine Pflicht, tu du die deine“. Die ver-antwortende Wahl des bürgerlichsozialen Selbst gehe – paradigmatisch in den Rollenordnungen der Arbeit und der Ehe – über die Selbstwahl des Mystikers in seiner „Klosterbewegung“ hinaus, der seine isolierte Innerlichkeit auf außerweltliche Weise ausschließlich auf sein Gottesverhältnis gründe. Der Mensch „entdeckt nun, daß das Selbst, das er wählt, eine unendliche Mannigfaltigkeit in sich birgt, sofern es eine Geschichte hat, eine Geschichte, in welcher er sich zu der Identität mit sich selbst bekennt. Diese Geschichte ist von verschiedener Art, denn in dieser Geschichte steht er in Beziehung zu anderen Individuen des Geschlechts und zum ganzen Geschlecht, und diese Geschichte enthält etwas Schmerzliches, und doch ist er der, der er ist, nur durch diese Geschichte.“ Das beziehungsreiche Miteinander überwinde die monologische Selbstbindung der Selbstbesinnung nach dem Maße des Lutherschen Berufstheologems – „beharre in deinem Beruf“ (Sir 11,20f und 1Kor 7,20) – auf das Gemeinschaftliche zu. Der Horizont der individuellen Pflichterfüllung wird durch den göttlich-vernünftig zugewiesenen Ort im Schöpfungsgefüge umrissen. Die ethische Begründung des reformatorischen Austritts aus dem Kloster in die Welt sowie eines innerweltlichen Pflichtethos ist die prinzipielle Fassung eines Weltverhältnisses, das die Welt als Material seiner Selbstgestaltung versteht. Die organisch gegliederte Sozialethik mit ihren ortsgebundenen Pflichten als Ausfluss göttlichen Willens bietet verfasste Möglichkeiten der Selbstübernahme. Das Einheitsstreben des Einzelnen überwinde dabei sowohl das Abstrakte einer bloß verbietenden Ethik wie auch das Konkrete der völkischen Sittlichkeit, um eine innere Kontinuität der Vergangenheit auf sich zu nehmen – paradigmatisch in der Verehelichung der ersten Liebe. Verantwortung sei die nötige Fremdbindung des Selbst, Identität die einheitliche Gesinnung einer unablässigen Wiedergeburt, die alle Lebensereignisse zur Einheit einer Lebensführung verbinde. Die Dispositionen werden in die selbstgesetzten Positionen hineinsublimiert. Die Effizienzproblematik der Reue für die eigenen und die fremden Verfehlungen zeige jedoch an, dass ein zufriedenstellender Gesamtsinn des Lebens nicht in der immanenten Selbsttranszendenz der Ethik zu verankern sei: die unauslöschbare Schuld rufe die erlösungsbedürftige Verzweiflungslage des Menschseins immer wieder hervor. Die Ungewissheiten des Allgemeinen, die dem Mangel an wirklicher Unbedingtheit entspringen, finden keine menschliche Instanz für das Austragen der Gegensätze und keinen Ruhepunkt im Entscheidungsprozess: „Hat der Mensch zuweilen recht, zuweilen unrecht, bis zu einem gewissen Grade recht, bis zu einem gewissen Grade unrecht, wer kann es ent-

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scheiden, als der Mensch selber, aber kann er nicht in der Entscheidung wiederum bis zu einem gewissen Grade recht und bis zu einem gewissen Grade unrecht haben?“ Man springe nun zum ‚Absurden‘ der religiösen Unbedingtheit, aus Gottes Mund vernommen, weiter, oder bleibe als ‚Virtuose der Resignation‘ in der Verzweiflung stecken. Die Verzweiflung des Menschen sei aber unter christlichen Verhältnissen eine wahre „Krankheit zum Tode“ – so auch der biblisch inspirierte Titel von Kierkegaards eingehendster Analyse des Selbst (Joh 11,4, 1Joh 5,16ff).28 Die psychologische Phänomenologie der inneren Gebrochenheit des Menschen bietet so eine Art strukturelle Innenansicht des christlich gewachsenen Selbst. Wie der zutiefst dialektische Auftakt besagt: „Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis.“29 Die neue denkerische Haltung, für die sich die Bezeichnung Existenzialismus bald einbürgert, sieht für das Menschenselbst unabschließbare Relationierungsarbeit an Dichotomien vor. Geist und Selbst entsteht und wird in Gang gehalten in wachsamen Akten des Stellung nehmenden Menschen, erlischt aber immer wieder durch jedes augenblickliche Ausbleiben der Stellungnahme. Identisches Personsein ist gleichsam die Chance, Kontinuität des Sich-zu-sich-Verhaltens zu bewirken. Das unablässige Sich-Verhalten zum eigenen Sich-Verhalten bedeutet eine prinzipielle Offenheit auf die Realisierung der Zukunft hin. Das konstante Selbstverhältnis sei keine feste Größe, kein ruhendes Gleichgewicht, vielmehr vollziehe sich das Selbst in einer letztlich unerreichbaren Reflexivität des eigenen Seins. Selbstsein sei Identitätsstreben gegen ständige Nichtidentität. Der Begriff des Selbst erweist sich so als höchst anspruchsvoller Grenzbegriff: ein auf Dauer gestelltes Entscheiden. Der ins Unendliche gerichtete Kampf um Identität unter den gefährdenden Bedingungen der unschließbaren Grunddifferenz von Endlichem und Unendlichem verfalle immer wieder der Versuchung des Endlichen, um sich durch Einrichtungen der alltäglichen Selbstflucht – wie Ehe, Freundschaft, Beruf und Amt – Stabilität vorzutäuschen. Es ist die außeralltägliche Romantik der äu28 Kierkegaard: Entweder–Oder, S. 792, 817, 822, 865, 804ff; 774, 922ff. Zur Lutherschen Berufsidee Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, GARS I, S. 63ff.; zur Soziologie der organischen Sozialethik überhaupt ders.: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 551ff. 29 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode [1849], S. 9.

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ßersten Gegensätze, die diesem Selbst seinen Charakter aufprägt. Der Wille zur Originalität erhält Triebkraft aus der Angst vor allem Geformten, um gegen das Sichverlieren in der bloßen Willkür wieder nach Kontinuitäten zu greifen. Die archaische Möglichkeit des rein zeitlichen Selbstverhältnisses ohne verbindliche Ewigkeitsbezüge werde bereits von Sokrates mit seiner Lehre der präexistenten Seele überboten. Die allgemein gestellte Frage nach dem Guten werde hier zum ersten Mal zur leidenschaftlich verfolgten Sache des betroffenen Einzelmenschen. Das aus Menschenkraft überhaupt Erreichbare bestehe in der Erinnerung an das durch Geburt vergessene „Ewige dahinten“. Geht einmal die kosmische und soziale Verankerung des Menschen verloren, wie in der Übergangszeit der in Verfall geratenen Poliswelt, gilt es, so Kierkegaards Sokrates, die einst – vorgeburtlich – besessene Identität im Seeleninneren aufzuspüren, auch wenn sie von idealistischen Denkarbeiten immer wieder verobjektiviert werde. Die rückwärtsgewandte Geistesbewegung des Erinnerns finde ihr unverlierbares Ich immer wieder auf, um es sich sicheren Geistes erneut anzueignen. Die sokratische Erinnerungslehre führe zu bis dahin unbekannten Steigerungsformen der „Innerlichkeit der Existenz“. Diese Stufe der Subjektivität stelle gleichsam den Idealtyp der allgemeinmenschlich möglichen Teilhabe am Ewigen dar. Sokrates‘ Leidenschaft bleibe jedoch ständig in der „Schwebe“, die in der „Negativität“ seiner ironischen Geistesart ihren treffenden Ausdruck finde. Durch die Einsicht ins eigene Nichtswissen werden die Höhen des Wissens erschwungen. Die distanzierte Selbstenthaltung von direkt mitteilenden Lehren sei das Absolute in der Gestalt des Nichts. Sokrates’ geistige und praktische Anstrengungen erweisen sich somit für den späten Rückblick als frühe Anläufe zur modernen Idee und Wirklichkeit der Subjektivität.30 Auf dem Boden des christlich gesetzten Begriffs der Sünde, der die griechische Selbstvergessenheit zur eigenen Tathandlung radikalisiere, erreiche die Verzweiflung ihren Höhepunkt – mit der Aussicht auf Erlösung aus Gottes Gnade. Während das sokratisch Paradoxe im schwierigen Gedanken bestehe, dass die ewig seiende Wahrheit sich zu einem Existierenden verhält, steigere sich das Paradoxe in der historisch einmaligen Verwirklichung des Ewigen bis zur höchsten Absurdität. Die Wahrhaftigkeit als eigenstes Wahrheitsverhältnis könne sich nicht mehr mit dem Vollzug eines ewig vorgegebenen Modells begnügen, dessen Aneignung sich in seiner noch so virtuosen Nachahmung erschöpfe. Die christliche Erwartung an den Einzelnen fordere die Begründung des Selbst durch etwas Historisches, das sich nicht in seiner Geschichtlichkeit erschöpfe. „Wie bekannt 30 Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 2, GW 11, S. 284; ders.: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 1, GW 10, S. 179ff; ders.: Om Begrebet Ironi med stadigt Hensyn til Socrates, SV 1, 158ff.

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ist nämlich das Christentum die einzige geschichtliche Erscheinung, welche dem Geschichtlichen zum Trotz, ja eben vermöge des Geschichtlichen, dem Einzelnen für sein ewiges Bewußtsein hat Ausgangspunkt sein wollen, ihn anders als bloß geschichtlich interessieren wollen, ihm seine Seligkeit hat gründen wollen auf sein Verhältnis zu etwas Geschichtlichem.“31 Das prinzipiell Christliche beruhe ja auf dem menschgewordenen Gott als Lehrer, der die Bedingung des Glaubens am Paradox dem Einzelnen gewähre. Da Gott als der radikal Andere, der sich offenbarend in die Welt eingetreten sei, auf dem Wege des Denkens nicht eingefangen werden könne, tue auf diesem Grenzpunkt des Verstandes Entscheidung not: der Mensch verärgere sich – oder springe zum Glauben hinüber. Die virtuose Geste der neuartigen Religiosität fordere schließlich die Aufopferung der höchstgeschätzten Kompetenzen des Intellekts. Durch die selbstverantwortete Sünde der immer möglichen Ablehnung tun sich unendliche Tiefen im Inneren des Menschen auf. Es war ja das Christentum, das den Gegensatz von Leib und Seele verschärfte, die Ehe spiritualisierte und damit der Sinnlichkeit das Zeichen des Dämonischen aufprägte – was ein prinzipielles Licht auf die Ausdifferenzierung der historischen Lebensordnungen werfe. Durch diese Konstitution des ewigen Bewusstseins werde der Mensch, über das alte Griechentum hinausgekommen, aus „noch größere(n) Gegensätze(n) zusammengesetzt“. Die unendliche Reflexion führe bis zu den Schwellen des Absprungs in den Glauben. Sich im Christentum einzuüben heiße den Sprung in die Untiefe der gottmenschlichen Paradoxie Augenblick für Augenblick zu vollziehen. Diese „vorwärts“ gerichtete Verwirklichung des Ewigen komme, im Gegenzug zur „Rückwärtsbewegung“ der erinnernden Spekulation, einer unablässig wiederholten Wiedergeburt gleich: eine habitualisierte Konstanz der Lebensführung als Erbstück von protestantisch hochgesteigerten Forderungen. Der unableitbare Transzendenzbegriff der „Wiederholung“ hat die „Kreuzigung des Verstandes durch den Glauben“ zu seiner elementaren Voraussetzung.32 Der christlich ausgespannte Identitätsrahmen, der nun mit eigenen Gedanken, Gefühlen, Handlungen – kurz mit persönlicher Identifikation ausgefüllt werden könne, sei dem griechischen gegenüber grundverschieden, wie auch der christlich ermöglichte Begriff des Selbst von allen vorausgegangenen IchBegriffen abweiche. Es werden früher unbekannte Innenräume, eine ganze Höhlenwelt von Körper-, Seelen- und Geistesregungen ausgebaut; ist Gott der Maßstab, so potenziere sich ja das Selbst ins Unendliche, oder in eine einfache Glei-

31 Kierkegaard: Philosophische Brocken, GW 6, S. 106. 32 Kierkegaard: Entweder–Oder, 74ff; ders.: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 2, GW 11, S. 58, 276 und ders.: Die Wiederholung, GW 4.

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chung gefasst: „je mehr Gottes-Vorstellung, desto mehr Selbst“.33 Mit dem Erstarken der Selbst-Sicherheit wachse die Gefahr der Selbst-Verfehlungen auch. Es ist zutiefst symptomatisch für die Bewandtnis mit dem Selbstsein des Menschen, dass es von seinen Verfehlungsmöglichkeiten her durchleuchtet wird. Die verzweifelte Grundgestimmtheit wird in all ihren Facetten und Intensitätsgraden konsequent zu Ende gedacht. Für den sokratisch-griechischen Heiden ist echte Verzweiflung aufgrund seines unverlierbaren ewigen Ichs nach Kierkegaard schließlich unmöglich gewesen. Der Übergang vom griechischen Allgemeinmenschlichen zum christlichen Einzelnen könne vor der Angst, „in das Absurde zu stürzen“, in den Dauerzustand der Resignation münden.34 Kommt man über diesen hinaus, so sei bereits die Stufe der Verzweiflung, dieses Missverhältnis im Selbstverhältnis, erreicht. Der Verzweifelte beharre nun entweder darauf, grenzenlos sich selbst sein zu wollen, oder im Gegenteil darauf, anstelle seiner selbst ein anderes Selbst sein zu wollen. Sich in der ausschweifenden Endlosigkeit der eigenen Vorstellungskraft zu verlieren, oder verantwortungslos eben dieses endlich gegebene Selbst abzuwehren – d.h. die Verzweiflung der Unendlichkeit und die der Endlichkeit erweisen sich so als die beiden Grundformen des unablässigen Sterbens aus Uneinheit im eigenen Selbstverhältnis. Erst das Verhältnis zu demjenigen Anderen, der das Menschenselbst überhaupt ermögliche, könne Ruhe in diese Schleuderbewegung bringen. Nachdem Kierkegaard die Möglichkeit eines ursprünglichen Selbstsetzens des Menschen flüchtig anspricht und sogleich fallen lässt,35 rundet er seine Ausführungen mit der Gottesbeziehung als abschließendem Strukturmoment des Selbst ab: „indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, von der es gesetzt wurde.“36 Echte Selbstgründung sei in der göttlichen Geschöpftheit verankert. Identität blitze gleichsam zwischen drei Polen auf. Erst der Glaube vermöge den Menschen aus seiner verzweifelten Endlichkeit in eine Unendlichkeit herauszuheben, die ihn auch das Endliche wiedergewinnen lasse, sofern er denn nicht über seine Sünden – oder eben über ihre Vergebung verzweifelt. Dem entspricht die Kernfrage der rückblickenden Selbstdeutung: „Wie wird man ein Christ?“37 Keine einfache Zusammensetzung also aus Körper und Seele, vielmehr ein Dreierverhältnis, vom Geist vermittelt – diese Synthese deute auf eine höhere 33 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 118. 34 Dazu Kierkegaard: Frygt og bæven [1843], SV 5, S. 33. 35 In der Tradition des Existenzdenkens wurde diese Option viel später von Jean-Paul Sartre konsequent durchdekliniert, s. Das Sein und das Nichts [1943]. 36 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 10. 37 Vgl. Kierkegaard: Die Schriften über sich selbst, GW 23, passim.

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Bestimmung des Menschen hin, die ihn aus einem naturhaften Wesen zu einem angstfähigen mache. Diese ahnungshafte Neigung zu seinem höheren Selbst rufe ihn im ‚Augenblick‘ in die Freiheit hinaus, um den Zustand der Naturgebundenheit hinter sich zu lassen. „Das ist die tiefe Heimlichkeit der Unschuld: sie ist zugleich Angst. Träumend spiegelt der Geist seine eigene Wirklichkeit hin, aber diese Wirklichkeit ist Nichts, aber dieses Nichts sieht die Unschuld fort und fort außerhalb ihrer.“ Der „Schwindel der Freiheit“, dessen objektlose Gestimmtheit als ‚Angst‘ hier für jede spätere Psychologie auf den Punkt gebracht wird, kreist um das ‚Nichts‘, das christlich mit dem ‚Sündenfall‘ in die Welt gekommen sei. Für die Unschuld der Geistlosigkeit stelle die Versuchung der Ewigkeit die Möglichkeit des Ausbruchs dar – sowie die der jederzeitigen Sünde, das Selbstverhältnis zu verfehlen. Wer Anhalt im Irdisch-Zeitlichen suche, anstatt den ‚Sprung‘ ins Unendliche zu wagen, baue seine ganz persönliche Angst immer selbstischer aus. Von der Angst zum Glauben erzogen, überwinde der Grieche die Angst vor dem Schicksal, der Christ aber die Angst vor der Sünde. Die Geistesbewegungen des Menschen führen nun den Anbruch der Zeitlichkeit im strengen Sinne herbei, indem er nicht mehr quantitativ weiter aufgeschoben werden könne. Die Angst des Heiden vor dem Schicksal bleibe denn am Äußeren haften: im Zusammentreffen des Notwendigen und des Zufälligen liege seine sprichwörtliche ‚Blindheit‘. Das griechische Orakel bleibe unvermeidlich in der Zweideutigkeit stecken: darin liege die Tragik des griechischen Genies. Der Seelenhaushalt des Menschen werde durch das Christentum somit neu gegliedert: „Denn das Gesetz macht einen zwar zum Sünder – aber die Liebe macht einen zum weit größeren Sünder“.38 Die Bewegung weg vom Allgemeinen hin zum persönlich Einzigartigen, die von vornherein in diesem Denken angelegt war, findet schließlich im „Einzelnen“ als ausgezeichneter Kategorie des menschlichen Selbstverhältnisses ihren Endpunkt. Der Einzelne sei „die Kategorie, durch welche, in religiöser Einsicht, die Zeit, die Geschichte, das Geschlecht hindurch muß“.39 Für ein Denken, das sich intensivst auf sich selbst und immer angestrengter auf sein inneres Selbst fokussiert, kann keine noch so dichte Verschränkung von allgemeinen und besonderen Beziehungen den Einzelnen ergeben, der sich selbst nur außerhalb jeder äußeren-geschichtlichen Bindung – „vor Gott“ zu finden vermöchte. Da wahre Freiheit in der Fremdbindung des Ethischen nicht zu erreichen sei, führe die begriffliche Auflösung der letzten Reste des verfremdenden Allgemeinen aus 38 Kierkegaard: Der Begriff Angst [1844], S. 40f, 78ff, 57; ders.: Die Tagebücher, Bd. 2, GW 29, S. 243. 39 Kierkegaard: „Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller“, GW 23, S. 112.

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dem Gattungsmäßigen heraus. Die Unzufriedenheit Kierkegaards mit dem Bestehenden sowie mit dem offiziellen Verwalter des Heils erklärt schließlich alles je Geschehene, als für das Eigenheil irrelevant, für ungültig. Es geht nicht nur darum, dass die Weltgeschichte kein Weltgericht aufführe. Es gelte auch, was nun das Christentum angeht, dass ihr nichts Bedeutsames zu entnehmen sei, nicht einmal zur leibhaften Gestalt Jesu als zu seiner historischen Mitte. Wenn es im homogenen Raum des Geschehens keine ausgezeichneten Anhaltspunkte gibt, wird für den konsequent zu Ende gedachten Historismus jeder Absolutheitsanspruch hinfällig. Das Erscheinen des Ewigen in der Zeit geht nach Kierkegaard ausschließlich den Glauben im eminenten Sinne an. Es sind Lessings Worte, die das Kerndilemma des untilgbar kontingenten Historischen am prägnantesten aussprechen: „Wer leugnet es − ich nicht −, daß die Nachrichten von jenen Wundern und Weissagungen ebenso zuverlässig sind, als nur immer historische Wahrheiten sein können? − Aber nun, wenn sie nur ebenso zuverlässig sind, warum macht man sie bei dem Gebrauche auf einmal unendlich zuverlässiger?“ Und weiter: „Wenn keine historische Wahrheit demonstriert werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriert werden. Das ist: Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.“.40 Für das ewige Verhältnis des inneren Menschen entbehren die kontingenten Wahrheiten des ‚bloßen‘ Geschehens jedes argumentative Gewicht. Er spitzt seine Ohren immer entschlossener auf das Hören des ihn allein angehenden, innerlich vernehmbaren, Wortes. Was aus menschlichem, durch die Verallgemeinbarkeit der Vernunft beglaubigtem Gesichtspunkt als Ärgernis gelte, könne nur durch den Glauben als „für mich“ gültig bewährt werden. Der „Ritter“ des Glaubens im engeren Sinne breche durch diese letztlich uneinsehbare Geste aus den allgemeinen Menschenverhältnissen heraus: in diesem Sinne ziehe er seines einsamen Wegs im Reich des „Absurden“.41 Das Selbst als der glaubensmäßige Kern der Person hat nichts anderes zu tun, als den Identifikation heischenden falschen Mächten der alles verzehrenden Geschichte, das religiöse Gemeindeleben mit inbegriffen, standzuhalten. „Denn ‚Menge‘ ist die Unwahrheit. Ewig, fromm, christlich gilt nämlich das, was Paulus sagt: ‚Nur 40 Gotthold Ephraim Lessing: „Über den Beweis des Geistes und der Kraft [1777]“, S. 34. Lessing hat damit bekanntlich den von Leibniz aufgestellte Dualismus von „Tatsachenwahrheiten“ und „Vernunftwahrheiten“ religionsphilosophisch ausgedeutet, vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: „Monadologie [1714]“ § 33; vgl. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 1, GW 10, S 90. 41 Siehe dazu die Ausführungen – unter dem Pseudonym Johannes de silentio – zum Glaubensritter Abraham, der auf den Aufruf Gottes hin sich bereit zeigt, seinen Sohn zu opfern, in Frygt og bæven, SV 5, S. 13ff.

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Einer gelangt zum Ziel‘,42 nicht etwa vergleichsweise, denn im Vergleiche sind ja doch ‚die andern‘ mit dabei. Das will besagen, ein jeder kann dieser Eine sein, dazu wird Gott ihm helfen – aber nur Einer gelangt zum Ziel; und das wieder will besagen, ein jeder soll mit ‚den andern‘ nur vorsichtig sich einlassen, wesentlich allein mit Gott und mit sich selber reden“. Für das individuelle Selbstverhältnis heißt dies, dass die persönliche ‚Absolutheit‘ der subjektiven Innerlichkeit anvertraut werde.43 Die „Menge“, dieses zahlenmäßige Einerlei, zehre die Entscheidungsfähigkeit der Einzelperson von innen heraus auf. Die Entweltlichung der Subjektivität mündet hier in die Vorstellung einer akosmischen Privatperson ein. Die Flucht aus den Fesseln der geschichtlichen Bedingungen führe ins Charismatische einer absoluten Gegenwart, christlich bestimmt als immerwährende Gleichzeitigkeit mit Jesus Christus. Der Glaubensbegriff nimmt bei Kierkegaard, in der Folgerichtigkeit seiner Denkbewegung, immer paradoxere Formen an, die sich schließlich in den heftigsten verbalen Angriffen gegen das Bestehende manifestieren, um das „Christentum“ endlich in die „Christenheit“ einzuführen. Indem sein Denken die Zukunft als Existenzhorizont zu ermessen trachtet, bewegt es sich unentwegt im Bereich des Eschatologischen. Die „Ex-sistens“ sei das „ek-statische“ Herausspringen aus der Leere der Gegenwart in die Fülle des „Hier und Jetzt“. Die Gegenwartslosigkeit gipfelt im Begriff des „Augenblicks“, verstanden als „Fülle der Zeit“.44 Diese radikal individuelle Form der persönlichen Identität impliziert unendliche Weltferne. Indem Kierkegaard das immer konsequenter ausgearbeitete Prinzipielle des von ihm gemeinten Christentums – das Ewige in der Zeit – immer mehr in den Mittelpunkt seines Denkens rückt, erfolgt eine folgenschwere Entwicklung zur Weltlosigkeit, die in der Konsequenz jeder religiösen Weltablehnung verläuft. Wird Gott zum unvermittelbaren Paradox, dann soll das Heroische des Einzelnen die Haltung einer außerweltlichen Persönlichkeit anstreben, die sich nicht mehr ins Konkrete der Welt zurückwählt. Die eigentliche Men-

42 Vgl. 1Kor 9,24 und Phil 3,13. 43 Zum Begriff des ‚Einzelnen‘ vor allem den Anhang zu „Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller“, Zitat S. 99.; zur Bedeutungslosigkeit des historischen Jesu in Sachen des Glaubens ders.: Indøvelse i Christendom [Einübung im Christentum, 1850], SV 16, S. 34ff; zur Gestalt des Glaubensritters ders.: Frygt og bæven [Furcht und Zittern], SV 5, S. 63ff. 44 Kierkegaard: Philosophische Brocken, GW 6, S. 16., vgl. Gal 4,4. Vgl. dazu Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie, S. 168ff.

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schengleichheit und Menschenliebe binde einen ja an isolierte Anderen, die ebenfalls „vor Gott“ stehen.45 Die Welt als Element der Unvollkommenheit entwertet sich in der verschärften Spannung mit einem ethisch ausgerichteten religiösen Erlösungsbedürfnis immer wieder zur weitgehenden Gottlosigkeit. Die Verinnerlichung der Glaubensinhalte durch einige Spielarten des reformatorischen Christentums steigert die prinzipielle Weltablehnung jeder konsequenten Heilssuche stellenweise ins Äußerste. Die neuzeitlichen Abschwächungen der Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Gott und Welt verlaufen parallel zueinander. Während die alttestamentlich-protestantische Konzeption eines deus absconditus mit der Neustrukturierung des Weltverhältnisses einhergeht, gräbt das zunehmende Bewusstsein eines unendlichen Kosmos die Kluft zwischen Gott und Welt immer tiefer. Der moderne Einsturz des ‚Himmels‘ und die kosmische Leere wurde in seinem vollen Ausmaß zuerst wohl von Blaise Pascal am beredtesten beschrieben: „Verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, […] erschaudere ich.“ Es ist das Innere des Menschen, das somit als einzige Stätte von authentischen Verhältnissen, nunmehr ausschließlich zu sich und zu Gott, zurückbleibt.46 Die griechische Position also wird für Kierkegaard in der christlich auf die Spitze getriebenen Inkommensurabilität des Individuums übertroffen. Indem der Einzelne in den Ordnungen der Welt lebe, sei er freilich Ding unter Dingen, Lebewesen unter Lebewesen, Mensch unter Menschen, als exemplarischer Vertreter aller in die Gattung eingewoben. Das Individuum erschöpfe sich jedoch nicht in der Besonderung innerhalb eines menschheitlichen Allgemeinen, dem es restlos untergeordnet werden könnte. Auch wenn es sich gelegentlich in die Welt hinein verliere, bleibe es unverwechselbar es selbst in seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit. Die grundsätzliche Verschiedenheit, nicht nur von den anderen, vielmehr auch von uns selbst, radikalisiert sich zur unbedingten Unikalität.47 Die

45 In den Forschungen zu Kierkegaard wird in diesen Bezügen häufig von „Ambivalenz“ gesprochen, s. etwa Hermann Deuser: Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, S. 14ff. – Zur Kritik an der politischen Idee einer bloß quantitativen Menschengleichheit s. auch Kierkegaard: „Eine literarische Anzeige“ [1846], GW 12, S. 89ff und ders.: Die Schriften über sich selbst, GW 23, 96ff. 46 Blaise Pascal: Pensées, fr. 205. Zu den Tendenzen der religiösen Welt- und Kulturentwertung auf dem Boden der genuin weltablehnenden Erlösungsreligionen s. Max Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 567ff. 47 Vgl. Max Webers Hinweis: „Daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, bildete eine der wichtigsten geschichtlichen Grundlagen des modernen ‚Individualis-

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ursprünglich religiös explizierten Grundbegriffe steigern sich dabei zu allgemeinen Existenzkategorien: das christlich erwachsene Innengefüge des Menschen wird ins Anthropologische projiziert. Die Semantik der Existenz beruht, nach der Vorgabe der zusammengesetzten Natur Christi, auf der gleichzeitigen Geschichtlichkeit und Ewigkeit des Menschen. Es gelte somit keineswegs mehr bloß religiös, dass „der Einzelne höher steht, als das Allgemeine“.48 Konzeptionell zwischen christlicher Lehre und menschlicher Anlage schwankend, stellt denn Kierkegaard auf einmal unzweideutig fest: „Mit dem Menschsein ist es nicht wie mit dem Tiersein, wo das Exemplar stets weniger als die Art ist. Der Mensch zeichnet sich vor anderen Tier-Arten nicht nur durch die Vorzüge aus, die üblicherweise genannt werden, sondern er zeichnet sich im qualitativen Sinne dadurch aus, daß das Individuum, der Einzelne mehr als die Art ist.“49 In den Bereich des Ethisch-Anthropologischen einbezogen verliert die Idee des Wählens, nach wie vor in der Konsequenz der Verinnerlichungstendenzen des Christentums, ihr eminent christliches Gepräge. Die Grenzpunkte des Denkens fordern den „Sprung“50 jenseits aller Zerrissenheit. Sich durch das Geflecht von überhaupt möglichen Reflexionen durchschlagend werden zusammenhängende Akte der Selbstbehauptung möglich. Das begriffliche Kernstück der logisch konzipierten Identität, die „Entscheidung“ zwischen einander ausschließenden Gegensätzen, wird im „Entweder–Oder“ der Selbstwahl ins Existenzielle gewendet. Die Entscheidung für die Kontravalenz des „aut/aut“ wird zum Konstitutionsmoment der echten Persönlichkeit geweiht. Der Ausbruch der Vermittlungsdialektik aus der okzidentalen Denktradition der zweiwertigen Logik wird damit aus existenziellen Gründen verpönt. Die inneren Widersprüche des Einzellebens seien keine bloße ‚List‘ einer ansonsten versöhnenden Weltvernunft. Es walte jedem ein übergangsloses Gegeneinander von angefeindeten Prinzipien ob, das jedem glatten Überfließenlassen und bequemen Geschehenlassen trotze. Indem die Wahlsprünge sich zum Springen kontinuieren, werde Existenz gleichsam in Gang gehalten. Der Wählende sei „also im Augenblick der Wahl in der vollkommensten Isolation, denn er zieht sich aus der Umgebung heraus; und doch ist er im selben Moment in absoluter Kontinuität, denn er wählt sich selbst als Produkt; und diese Wahl ist die Wahl der Freiheit, dergestalt, daß man, inmus‘.“ („Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“, GARS I, S. 235) 48 Kierkegaard: Frygt og bæven, SV 5, S. 52. 49 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 125 50 Vgl. die Formulierung in Frygt og bæven, SV 5, S. 50: „der Glaube gerade da anfängt, wo das Denken aufhört“, s. auch Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 1, GW 10, S. 91.

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dem er sich selbst als Produkt wählt, ebensogut von ihm sagen kann, er produziere sich selbst.“ Die einmalige Abkehr und die punktuelle Enthaltsamkeit von der Sünde reiche also nicht mehr aus, wenn es darum geht, sich selbst in einer Dauerwahl zu stiften. „Darin liegt nämlich die ewige Würde des Menschen, daß er eine Geschichte bekommen kann, darin liegt das Göttliche an ihm, daß er selbst, wenn er will, dieser Geschichte Kontinuität verleihen kann; denn die bekommt sie erst, wenn sie nicht den Inbegriff dessen darstellt, was mir geschehen oder widerfahren ist, sondern meine eigene Tat, dergestalt, daß selbst das mir Widerfahrene durch mich verwandelt und von Notwendigkeit in Freiheit übergeführt ist.“51 Die geistige Nähe dieser übergeschichtlichen Virtuosität zur intuitiven ‚Genialität‘ der Romantik, dieses ungebändigten Selbsteinsatzes des weltabgewandten Individuums für seine eigenste Sache, ist unverkennbar. Das ‚Unheimliche‘, dieses romantische Motiv des reizvollen Schauders, suchte ja auch schon die verzweifelte Seele an ihren Abgründen heim, wie auch der zeitgenössische Sinn für das ‚Unendliche‘ künstlerisch mit verschärft wurde. Die historischen Wurzeln der sich entscheidenden Identität reichen jedoch viel weiter, in die Tiefe der prophetischen Verkündigung, zurück, welche die kollektive Zukunft an gruppenhaften Wahlhandlungen entscheiden lässt. Der altisraelische Prophet weiß sein Volk jeden Augenblick vor Alternativen und ruft sein Wort in die jeweilige Situation hinein. Statt sich über den bedrohlichen Gang der Geschehnisse zu erheben, fordert er eine Entscheidung. Der Prophet kennt ja, im Gegensatz zum Apokalyptiker, der seine Einblicke in kommende Äonen verkündet, keine von jeher festgelegte Zukunft. Die Gegenwart versteht er als entscheidenden Augenblick: das Schicksal der Zukunft entscheidet sich im Besitz des deutungsbedürftigen, aber klaren göttlichen Worts an den Taten der angesprochenen Gemeinde.52 Die Identitätsfigur der „inneren Teleologie des Selbst“53 nimmt auf ihrem weiteren Weg Elemente der christlichen Forderung der ‚Metanoia‘, eines tiefgreifenden Wandels der menschlichen Gesinnung, in sich auf. Die Bekehrung zu einem „neuen Menschen“ (Kol 3,9f) lasse nunmehr die Wahrheit in Ichform aussprechen. Seine Gegenwart sei von nun an kein beliebiger Augenblick in einer gleichmäßig abrollenden kosmischen Zeit; sein Leben konzentriert sich zu einem Dauerhabitus unablässig vollzogener Entscheidungen. Dies wird in den absurd

51 Kierkegaard: Entweder–Oder, S. 815f. 52 Zu diesem Begriff des Propheten Martin Buber: Der Glaube der Propheten. Kritisch dazu Jacob Taubes: „Martin Buber und die Geschichtsphilosophie“. 53 Kierkegaard: Entweder–Oder, S. 844.

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klingenden Appell gefasst: „Du sollst ja keinen andern Menschen, Du sollst nur Dich selbst gebären.“54 Es waren allerdings, nach langwierigen Vorbereitungen, die spezifischen Verunsicherungen der modernen Existenz, die im Begriff des „Sprungs“ bei Kierkegaard auf die Spitze getrieben wurden. Was die Lage des Menschen angehe, bestehe das Gepräge der Zeit in seiner „Vereinzelung“: das Dasein sei „von dem Zweifel der Subjekte unterminiert, die Isolation nimmt ständig zu“.55 Im Konjunktivistischen des Auftakts von „Furcht und Zittern“ drückt sich wohl die Befürchtung des Indikativs aus: „Wenn kein ewiges Bewusstsein wäre im Menschen…“ Der nicht bloß erkenntnismäßige, sondern lebenspraktische und daher „wirklich“ genannte Zweifel lasse den Menschen hin- und hergerissen werden zwischen Thesen und Gegenthesen, ohne dass er mit denkenden Vermittlungsleistungen je zur Realität durchbrechen könnte. Die Lessingsche Metapher des „Grabens“, der zwischen ungleichartigen Wahrheitsformen gähnt, verdichtet auf anschauliche Weise die Zerrissenheitserfahrungen historistischen Charakters. Im Spannungsraum des Historismus, in dem sich die volle Problematik der Identität entfaltet hat, lassen sich die elementaren Gegensätze des Menschseins nicht versöhnen. Mit der Radikalisierung des Individualitätsgedankens gingen die Objekte wie auch die Subjekte der Welt im Prozess des historischen Werdens auf. Die Auffassung der Zeitlichkeit als Vergänglichkeit, durch das Gefühl des „Allfließens“ gestützt, brachte die Geltung des Überkommenen wie des neu Aufsteigenden nach und nach in Verdacht.56 Selbst die höchst geschätzten Verbindlichkeiten, gemeinhin „Werte“ genannt, werden vom Strom des geistigen und ungeistigen Geschehens mit fortgerissen. Es ist ja nicht nur der Boden unter den Füßen, vielmehr der Mensch selbst mit seinen erhabensten Überzeugungen, der je nach Umständen auch anders sein könnte. Nachdem die Naturwissenschaften die Welt zu einem kausalen Mechanismus im Sinne der „Natur“ verwandelt hatten, machten sich die historischen Wissenschaften daran, alles in bloßes „Geschehen“ zu überführen und dadurch die Entzauberung der Welt zu vollenden. Die Welt der Moderne ist kein dem Menschen verwandter „Kosmos“ mehr, wie die der Antike, aber auch keine von Gott erschaffene „Schöpfung“, wie die des Mittelalters. Die Erkenntnisoperationen der historischen Wissenschaften tragen in hohem Maße dazu bei, dass die historische Reflexion ihre Orientierungsmacht im großen – für die Weltgeschichte – wie im kleinen – für das Einzelleben – verliert. Das Umsichgreifen der historistischen Rationalisierung macht auch an den 54 Kierkegaard: Entweder–Oder, S. 762. 55 Kierkegaard: ebd., S. 167 56 Die weltanschaulichen Konsequenzen der Durchhistorisierung unseres Weltverhältnisses werden plastisch geschildert in Ernst Troeltsch: „Die Krisis des Historismus“.

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Grenzen des Sakralen keinen Halt. Die historisch-kritische Forschungsmethode wird schließlich ins Allerheiligste derjenigen Religion eingeführt, die ihrem Selbstverständnis nach auf eminent historischen Grundlagen beruht. Die Erlösung befreit einen aus den Wirbeln des Geschehens; Gott entfernt sich immer mehr zum „verborgenen Gott“; der theologische Schwerpunkt des Christentums verlagert sich immer mehr vom geschichtlichen Jesus auf den menschgewordenen Christus. Die weltanschaulichen Möglichkeiten des modernen Menschen sind weitgehend historistisch vorgeformt. In diesem Kontext gewinnt Kierkegaards verzweifelte und fordernde Hypothese ihre volle Bedeutung: „Soll der Augenblick entscheidende Bedeutung haben“, so habe Gott als Lehrer die Bedingung des Glaubens dem Menschen mitzugeben, um über die griechische Option hinauszukommen. „Sokratisch“, d.h. allgemeinmenschlich gesehen, sei ja „jeglicher Ausgangspunkt in der Zeit eo ipso ein Zufälliges, ein Verschwindendes“.57 Die Glaubens- und Entscheidungsstruktur der Existenz wird schließlich in „unwissenschaftlichen“ Ausführungen auf den Punkt gebracht. Alle Folgerungen sammeln sich im unendlichen Nachdruck auf dem Wie des Wählens: „die Subjektivität, die Innerlichkeit ist die Wahrheit“.58 In einer Welt, die ihre Selbstverständlichkeit verloren hat, macht jede Weltanschauung, die Einheitlichkeit erzielt, die sprunghafte Geste des Glaubens. Wahrheit sei nicht auszuklügeln, sondern in lebendiger Leidenschaft als Wahrhaftigkeit vollzuziehen, im Angesicht der schärfsten Paradoxien des Denkens. Die Momente der Entscheidung sind inmitten von Kontingenzen Augenblicke der Innerlichkeit, die nicht mehr nur der Virtuose der Religion kennt. Der „Glaubenssprung“ der Identität wird mit christlich vorgeprägter Seele, wenn auch eben ohne christlichen Glauben ausgeführt.59 Die moderne Idee des Individuums stelle der griechischen, relativen Einmaligkeit gegenüber höhere Anforderungen an den Menschen. Das Pathetische der Ausnahme, die dem Anspruch des Gedankens nach ein jeder sein soll, spricht jedoch wohl nur die wenigsten an, die von der inneren Not des persönlichen Selbstseins getrieben werden. Es ist nicht mehr die uns innewohnende Vernünftigkeit, wie seit der Antike bis Kant hinauf, worauf Entscheidung beruht. Der altehrwürdige Philosophenstreit über Freiheit und Determiniertheit des Handelns war wohl selten mit einer solchen Emphase fürs erstere ausgetragen.

57 Kierkegaard: Philosophische Brocken, GW 6, S. 9. 58 Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken 1, GW 10, S. 195. 59 Vgl. dazu Max Horkheimers Ausführungen zur Gestalt Hamlets: „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, Kap. 4: „Aufstieg und Niedergang des Individuums“.

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Die Logik der Individualisierung, die dem traditionellen Gang der nomothetisch-prinzipiellen Weltbearbeitung entgegenläuft, heischt für das Denken über die konsequente Vereinzelung des Einzelnen, jenseits des Menschen überhaupt, philosophische Geltung. Der seit Aristoteles für zwei Jahrtausende verbaute Weg einer philosophiewürdigen Theorie des Individuellen wird hier, mit stilistischer Vorliebe für das Fragmentarische und Versucherische, eröffnet. Die Geistesarbeit am Individuellen gewinnt negative Triebkraft aus der allerseits diagnostizierten ‚Verdinglichung‘ (Marx), ‚Versachlichung‘ (Weber) oder eben ‚Nivellierung‘ (Kierkegaard) der Lebensverhältnisse, unmittelbare geistige Munition aber aus der humanistisch-individualistischen Tradition der Renaissance, der Reformation und der Romantik.60 Die urtatsächliche Individuation des Menschengeschlechts, d.h. das Naturhafte der angeborenen Unterschiede in der Anlage wird zur Hochwertung des Individuellen sublimiert. Der zeitdiagnostische Aspekt von Kierkegaards literarischem Ausbruchsversuch aus den versteinerten Lebensordnungen ist eine Auflehnung gegen die Nivellierungsmächte seiner Gegenwart, die den „Einzelnen“ in Bedrängnis halten.61 Das adäquate Mittel zur Veranlassung zum Einzelsein findet er in der „indirekten Mitteilung“ der Ironie als Selbstdistanzierung, die sich zu einer Haltung der Selbstenthaltung vor jeder Entscheidung radikalisieren kann. Eine vielfältige Pseudonymität lässt die unterschiedlichsten Perspektiven als Gedankenprojekte ausbuchstabieren, um die einzelnen Existenzmöglichkeiten bis zu den letzten Konsequenzen durchzudenken. „Tagebücher“, „Briefe“, „lyrische Auslassungen“, „Brocken“, „Aphorismen“ 60 Zur „Entdeckung“ des Individuums in der Renaissance s. die klassische Arbeit von Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, bes. S. 304ff; immer weiter wird die Geburtsstunde des Individuums zurückgeschoben, s. Aaron Gurjewitsch: Das Individuum im europäischen Mittelalter, ferner Colin Morris: The Discovery of the Individual 1050–1200. Für den christlich inspirierten innerweltlichen Individualismus im Vergleich mit dem weltfliehenden Eremiten Indiens s. Louis Dumont: Individualismus, der den geistigen und institutionellen Prozess des Eintretens des außerweltlichen Subjekts in die „Welt“ seit dem 11. Jahrhundert beschreibt. Freilich hängt jede Genealogie vom leitenden Gesichtspunkt des jeweiligen Individualitätsbegriffs ab, der wiederum aus der Vielfältigkeit des erlebnismäßigen Individualismus schöpfen kann. Man kann die moderne Einzigartigkeitsidee etwa bei Herder festmachen, die jedem Menschen sein „eigenes Maß“ zukommen lässt, s. Charles Taylor: Die Quellen des Selbst, S. 639ff, bes. S. 654. 61 „Das Altertum ist dialektisch in Richtung auf das Hervorragende […], das Christentum ist bis auf weiteres dialektisch in Richtung auf Repräsentation […]; die Gegenwart ist dialektisch in Richtung auf Gleichheit.“ Kierkegaard: Eine literarische Anzeige, GW 12, S. 90.

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usw. sind die literarischen Gattungen, die als Instrumente der Existenzerkundung einen unendlichen Gedankenreichtum einzufangen und zugleich zu generieren vermögen. Der Subjektivierung der Wahrheit entspricht die Subjektivierung der Darstellungsform. Das Interesse am Einzelnen führt das noch so systematische Denken weg von „schulmäßigen“ Abhandlungen immer wieder in die Bahnen der Dichtung. Die stilbedingten Grenzen, die dem okzidentalen Philosophieren klare Prinzipien des überhaupt Erfassbaren vorgezeichnet haben, werden überschrieben: das philosophisch seit jeher verbannte Literarische bricht als Darstellungsform der individuellen Authentizität ins Existenzdenken hinein. Auch das Mahnwort, das mit der Zeit die Oberhand gewinnt, dient nicht dem gelehrsamen „Dozieren“, sondern dem angestrengten „Einüben“. Die reichhaltigen Möglichkeiten des romantischen Kunststils, der auch das Alltägliche zum Außeralltäglich-Symbolischen verklärt, werden philosophisch weitgehend ausgewertet, um das Einzelselbst im Zeichen einer höchstgesteigerten Personalität zu rationalisieren, die das Abstrakt-Allgemeine zum Irrationalen stempelt. Romantische Merkmale des unvergleichbaren Menschen sind es auch, die bei Friedrich Nietzsche, diesem Pfarrerenkel und Pfarrersohn, an der griechischrömischen Antike gebildet, trotz aller Beteuerung des Antiromantischen bald in die Idee des ‚Übermenschen‘ einfließen sollten. Das Wort Herders, wonach jeder Mensch „sein eigenes Maß“ habe, wird am ernstesten genommen in religiöse Höhen gehoben, sofern denn das Religiöse mit Schleiermacher als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ definiert werden kann.62 Der Genius des beispiellosen Wertens ist die ideale Hauptfigur einer Philosophie, die die Frage der Werte als Grundproblem jedes subjektiv betroffenen Denkens in das Bewusstsein aller später Kommenden einbrennt. Die Grundintuition dieser Philosophie, die ihren persönlichen Träger – seinem eigenen Bericht zufolge – wie eine epiphanische „Erleuchtung“ überkommen hat,63 ist der Gedanke der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, der im engsten Zusammenhang mit dem Übermenschen als Verheißung für den heutigen Menschen entwickelt wird. Dieser mühsam vorbereiteten Einsicht, die eine originäre Sinnmöglichkeit der Welt verkündet, geht eine Unmasse von versucherischen Untersuchungen psychologischer Art an diesem Wesen, zwischen Tier und Übermensch hängend, voraus. Ohne die ungeheuere Vielschichtigkeit und die der menschlichen Verfassung zugeschnittene Widersprüchlichkeit dieser Schriften zu verkürzen: das gemütliche Selbstverständnis des abendländischen Menschen, der sich christlich eingerichtet zu haben meint, wird hier mit boshafter Geistesgewalt zersprengt. „Unter“ dem ver62 Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1791], S. 283; Friedrich Schleiermacher: „Über die Religion [1799]“, S. 212. 63 Vgl. Friedrich Nietzsche: „Ecce homo [1888]“, KSA 6, S. 325.

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meintlich Innersten des Menschen werden mit unerbittlicher Wühlarbeit, ohne Selbstschonung des Herausforderers, immer weitere und „unedlere“ Tiefenschichten bloßgelegt. Es entsteht dabei eine neue Topographie der Identität, die nun nach dem überpersönlichen Allgemeinen auch den persönlichen Einzelnen immer stärker für etwas Unterpersönliches ausblendet. Ausgegangen wird dabei, durch ein betont „unzeitgemäßes“ Unbehagen getrieben, von der Frage nach dem Ursprung – und d.h. dem ‚wahren‘ Wert der höchst geschätzten Werte der eigenen Kultur. Am intuitiven Maßstab der ‚Gesundheit‘ erweise sich etwa die moderne Bildungsmacht der Geschichte als ohnmächtige Selbstaufgabe. Durch bildungsmäßige Selbstüberfüllung mit der Größe von einstigen Anderen sei die Vergangenheit dem modernen Menschen zur handlungshindernden Last geworden. Gegenüber dem vorbildlich Schöpferischen des archaisch-vorklassischen Griechentums, dem es in der Tragödie paradigmatisch gelungen sei, die Dualität des rauschhaften Wollens und des maßvollen Formens aufeinander abzugleichen, bleibe der historistische Geist in seinem Nichtvergessenkönnen gefangen. Aus einem wahrlich ‚philosophischen‘, also unwissenschaftlich-existenziellen Studium von kulturfähigen Zeitaltern wird nun die Lehre gezogen: Der Mensch „muß das Chaos in sich organisieren, dadurch, daß er sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt.“ Wie in einem negativen Abdruck zeichnen sich, spätere Konsequenzen vorwegnehmend, die Konturen des „überhistorischen“ Menschen ab, „der nicht im Prozesse das Heil sieht, für den vielmehr die Welt in jedem einzelnen Augenblicke fertig ist und ihr Ende erreicht.“ Im Namen einer nicht näher definierten „Lebendigkeit“ verlangt Nietzsche, uns selbst in einer kunstvollen Produktivität freizulassen. Der so geprägte Charakter gleiche dem geschlossenen Horizont eines Kunstwerks, auch indem er im ‚principium individuationis‘ einen Hauch des Illusorischen an sich trägt.64 Im Interesse einer eigenen Philosophie, die nun jeden Wissensgehalt auf seine Bedeutsamkeit für den Fragenden selbst hin auslotet, sollen endlich die echten Gründe aller Welterscheinungen in geistiger Redlichkeit freigelegt werden, unter dem Einsatz des eigenen Lebens. Weltliches dürfe dabei, indem man auf die ganze metaphysische und religiöse Tradition verzichte, nicht mehr auf Überweltliches zurückgeführt werden. Nietzsche lässt die zentralen Identifikationsgüter der jüdisch-christlichen Geisteswelt gleichsam von „unten“ entstammen: die Wurzeln der Moral, die hier den Inbegriff alles für uns Wertvollen darstellt, reichen ins Amoralische, ja stellenweise ins Unmoralische hinab. Als der Mensch in seiner Schwäche, durch geistliche Manipulationen unterstützt, die Welt der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Freuden, „die uns wirklich etwas 64 Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874]“, KSA 1, S. 254ff, 330ff, ; ders.: „Die Geburt der Tragödie [1872]“, KSA 1, S. 28.

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angeht“,65 verneint habe, sei es zur Herausbildung der Idee einer anderen, vermeintlich „wirklicheren“ Wirklichkeit gekommen. Im Zuge kompensatorischer Mechanismen, die sogar die niedrigsten Antriebe für sich mobilisierten, log sich der Mensch eine Gegenwelt des Glücks für sein gegenwärtiges Unglück vor. Dem grollenden Argwohn gegen das diesseitige Glück von „vornehmen und gutgeratenen“ Anderen seien die asketischen Ideale der jüdisch-christlichen Tradition entwachsen, deren zweifelhafte Errungenschaft darin bestehe, den Menschen zum geistreichen Wesen ausgefeilt zu haben.66 Damit sind zugleich die sozialen Einfallsstellen – die priesterlich angeführten Sklavenschichten – aller Verkehrungen bezeichnet. Die Unredlichkeit jeder Zurückführung des Diesseits auf ein „wirklicheres“ Jenseits wird dem Christentum in immer heftigeren Auslassungen vorgeworfen, das die esoterische „Hinterweltlerei“ der platonischen „Zweiweltenlehre“ für die Massen rezipierbar gemacht habe. Der metaphysische Begriff des „Ansichseins“, der zur Rechtfertigung des persönlich jeweils Guten diene, entwerte ja das „wirkliche“ Leben im Namen eines vermeintlich Ewigen ebenso, wie dies durch die Idee des überweltlichen Gottes religiös erreicht werde. Der Virtuose der Reflexivität nimmt sich vor, aller Doppelsinnigkeit auf die Spur zu kommen, um die angebliche Reaktivität des Diesseits als eigentliche Aktivität auszuweisen. Für die reaktive Sicht der Welt erweise sich denn jede Tat, wie produktiv sie für das Selbstempfinden auch sein mag, als letztlich fremdgeleitete Antwort auf außermenschliche Herausforderungen.67 Nietzsche beschrieb in der Vision des „tollen Menschen“ die Situation des Menschen nach dem „Tod Gottes“ mit der ganzen Gewalt seiner Wortmächtigkeit: „Was taten wir als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten?“68 Die Welt sei mit der Entwirklichung ihres zentralen Bezugspunkts, soviel besagt ja die Feststellung des göttlichen Todesfalls, orientierungslos und der Mensch in ihr unendlich einsam geworden. Der Mensch, hat er überhaupt den Mut, den Verlust wahrzunehmen, sei nur dann kein Verlierer des Prozesses, wenn er auch die Kraft hat, diesen Verlust als eigenste Tat auf sich zu nehmen.69 Werden auch die meistgeschätzten Werte als 65 Nietzsche: „Nachlaß 1880–1882“, KSA 9, S. 624., vgl. ders.: „Jenseits von Gut und Böse [1886]“, KSA 5, S. 54. 66 Vgl. dazu Nietzsche: „Zur Genealogie der Moral [1887]“, KSA 5. 67 Vgl. z.B. Nietzsche: „Also sprach Zarathustra [1883–85]“ KSA 4, S. 35ff. Zum Problem der Reaktivität grundsätzlich Gilles Deleuze: Nietzsche et la philosophie, Kap. 2. 68 Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft [1883]“, KSA 3, S. 481. 69 Vgl. Nietzsche: „Nachlaß 1880–1882“, KSA 9, S. 577.

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menschliche Wertschätzungen entlarvt, so sei es an der Zeit, sie in uns zurückzunehmen. Von diesem Augenblick an gilt für Nietzsche die Erschaffung einer „neuen“ Welt, die sich nach zurechtgerückten Maßstäben richtet, als höchste philosophische Aufgabe. Im Gefolge einer „Entwertung aller Werte“, die das Auge auf das Fehlen ewig seiender Wahrheiten eröffnet habe, solle eine vollständige Neuinterpretation der platonisch-christlich orientierten Welt erzielt werden, um ein Selbst- und Weltverhältnis nach der Trennung von Gott zu begründen. Die immer aphoristischer verdichteten Gedankenkaskaden machen unter den äußeren Welt- und Selbstschichten den durchgehenden, mal grobschlächtig, mal raffiniert sich manifestierenden „Willen zur Macht“ als einen grundlosen Grund alles Menschlichen und Allzumenschlichen frei. Der theoretisch von Arthur Schopenhauer aufgewertete und existenziell – unter dem Einfluss des Buddhismus – als höchsten Leidensquell allsogleich verneinte „Wille“, diese unbeherrschbar waltende ‚dunkle‘ Macht des Menschenlebens wird zur Leitidee dieses Philosophen, Psychologen und Antichristen.70 Der provokative Verkünder eines neuen, „fünften Evangeliums“, Zarathustra genannt, ruft im durchaus biblischen Ton an die „Weisesten“ aus: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.“ Ferner: „wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich‘s dich – Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht!“ Bezogen auf den Menschen gilt es in einem Nachlassfragment ähnlich: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“71 Aus dieser Stellung heraus wird nun der unversöhnlichste Ansturm auf die vertrautesten Denkgewohnheiten des abendländischen Menschen, vor allem sein Selbst betreffend, unternommen. So gesehen verkörpert Zarathustra, diese literarisch evozierte persische Option, einen lebendigen Austritt aus den Bedingungen sowohl der christlich-religiösen wie auch der platonisch-metaphysischen Tradition. Indem das Gute und das Böse, diese ethischen Platzhalter aller falschen Dualismen entkräftet werden, kommen die grundsätzlichsten Unterscheidungen unserer theoretisch und praktisch eingeübten Weltkonstitution ins Wanken. Selbst das Erkennen wird als Machtwille enthüllt, der auf begrifflichem Wege bleibend Seiendes und dinghaft Beharrendes im Strom des Werdens erdichte, in Form von Gedanken und Denkenden Unveränderlichkeit vortäusche. Descartes’ 70 So der Untertitel von Walter Kaufmanns Nietzsche-Monographie. 71 Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“, KSA 4, S. 147ff; ders.: „Nachlaß 1884–1885“, KSA 11, S. 611.

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Schluss von dem Denken auf einen Denkenden, das „ich denke, also bin Ich“ als Prämisse eines epochalen Selbstbewusstseins, wird als ein allzu waghalsiges Postulat verspottet; ein „es denkt“ durch mich träfe ja die Lage des Daseins viel genauer.72 Das Ich sei allerdings, trotz der charakteristisch überzogenen Statik aller Seinsbegriffe, eine unentbehrliche Illusion, um Leben und „mehr Leben“ zu erlangen. Die Täuschungsmanöver des Erkennens produzieren lebensnotwendige, also perspektivistische „Wahrheiten“ für ein naturhaft „nicht festgestelltes“ Wesen. Was die elementarsten Denkregeln des Logischen angeht: „Logik ist der Versuch, nach einem uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulierbar, berechenbar zu machen…“ Oder noch zugespitzter formuliert: „hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben.“73 Der Machtwille nimmt seine geistigste Gestalt in philosophischen Weltordnungsplänen an: das Verhältnis der Weltbeherrschung durchwirkt sogar die vermeintliche Neutralität jeder Kategorientafel. Die hierarchisch aufgebauten Ordnungsschemata, die über dem wirbelnden Werden fabriziert werden, dienen, aus flüchtigen Bildern zu feststehenden Metaphern geronnen, zur kastenmäßigen Untergliederung von eigensten Wachstumsbedingungen. Die Bändigung des ungezügelten Geschehens mit sprachlichen Mitteln sublimiere die untergründigsten Selbstinteressen für ihre höchstmögliche Befriedigung. Das „tertium non datur“ des Identitätsprinzips ergebe sich aus unserem bloßen „Nicht-Vermögen“ – oder vielleicht Nichtwillen, hinter der Oberfläche unserer bewussten Motive das unbewusste Ungeheuer von miteinander ringenden Lebenskräften zu erblicken. Die okzidentale Gemeinmetaphysik des Einen, Guten und Wahren beruhe in ihren asymmetrischen Dualitäten auf der Einseitigkeit des in sich vielfältigen Überzeugungswillens. Für diesen Überwindungsversuch von jeder Metaphysik kann daher auch die Macht kein essenzielles Letztprinzip bedeuten: die tendenziell plural verstandene Idee des Willens zur Macht ist bestrebt, gegenüber dem jenseitigwertvollen Einen das Viele zu seinem Recht kommen zu lassen.74 Es stemmen 72 Nietzsche: „Nachlaß 1885–1887“, KSA 12, S. 549. 73 Nietzsche: „Nachlaß 1885–1887“, KSA 12, S. 391 und ders.: „Jenseits von Gut und Böse“, KSA 5, S. 17. Vgl. auch die kurze Schrift: „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873]“, KSA 1, S. 873ff. Die Wendung „Mehr-leben“ z.B. ders.: „Ecce Homo“, KSA 6, S. 266; zur biologischen Undeterminiertheit s. „Jenseits von Gut und Böse“, KSA 5, S. 81. 74 Zum „Nicht-Vermögen“ Nietzsche: Nachlaß 1885–87“, KSA 12, S. 389. Die bis heute andauernde Debatte, ob Nietzsche die Metaphysik schließlich zu überwinden vermochte, soll hier keinesfalls entschieden werden.

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sich unzählige Kräfte gleichursprünglich gegeneinander. Indem alles Seiende sich als Illusion entpuppt, erweist sich auch das Subjekt, diese ausgezeichnete Menschensubstanz, als selbstgefällige Konstruktion, die über unterpersönlichen Untiefen errichtet werde. Lausche man gleichsam in sich hinein, so zeuge die innere Stimme von einem blinden Streben, das sich auszuleben trachte, genauer von einer Vielheit von Bestrebungen, die sich für Begierden, Wünsche und – immer raffinierter getarnt – Ideen ausgeben. Hinter den mannigfaltigen Masken walte ein urmächtiges Wirbeln von zielfreien Gewalten. Lässt die Liebe zu höchst undialektischen Widersprüchlichkeiten die Wirklichkeit weitgehend entsubstanzialisieren, dann beruht auch Konstanz und Kontinuität der Person, im Physiologisch-Leiblichen verankert, auf der Abgründigkeit des Machtwillens. Mit Nietzsches höhnisch-verbissenen Worten: „Das ‚Subjekt‘ ist ja nur eine Fiktion, es gibt das Ego gar nicht.“75 Die uns zurechtgeschnittene Welt werde für „Erkennen“, die Maßstäbe des Zurechtschneidens für „Weltgesetze“ ausgegeben. Die Fragmentierung der Subjektidee erreicht ihren unübersteigbaren Höhepunkt in dem Gedanken der inneren Mannigfaltigkeit von Wollungen, wodurch die marginal gewordenen Fremdverhältnisse zum Teil wieder in den Menschen eingebaut werden. Das Dionysische, diese tobende Macht in der Welt und im Menschen, wird jedoch immer weniger durch seine plastische Verknüpfung mit dem harmoniefähigen Apollonischen aufgewogen – wird es doch als eine seiner unzähligen Masken durchschaut. Die Produktionsmetaphorik radikalisiert sich bis zum Gedanken einer machtgesteuerten Welterschaffung, der jede Art von ursprünglicher Rationalität abgeht. Die neuen Werte und Ziele, mit einem Wort der neue „Weltsinn“ persönlichen Zuschnitts werde von jemandem verkündet, der über den Menschen hinausweise, indem er, sich selbst überwindend, den „Sinn“ seines Lebens selber stifte. Nietzsches Gedanken zur Selbststiftung tasten sich in der Gegenrichtung zur Weltverneinung, die in der „nihilistischen“ Konsequenz sowohl des Christentums wie auch des Buddhismus liege. Die durchaus ästhetische Gestalt des Übermenschen, „jenseits von Gut und Böse“ aufgestellt, sei durch sein Leben im „größten Stil“ die schönste Illusion des Menschen. Die unbedingte Bejahung des Lebens als einzig möglicher Erlösungsweg nach Gottes Tod wird von Nietzsche in die „Lehre der ewigen Wiederkunft“ gefasst. Eine unermessliche Schwere laste allerdings auf den Taten des einsamen Trägers dieser einverleibten Lehre: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird 75 Nietzsche: „Nachlaß 1885–1887“, KSA 12, S. 398. Vgl. Nietzsche: „Nachlaß 1880– 1882“, KSA 9, S. 442–443. „Meine Hypothese: das Subjekt als Vielheit“.

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nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge […]!‘“ Leidenschaftlich gewollt werden will jeder Augenblick in seinem Entstehen und Entweichen, sogar rückläufig in die leiderfüllte Vergangenheit hinein: „Das Vergangene am Menschen erlösen und alles ‚Es war‘ umzuschaffen, bis der Wille spricht: ‚Aber so wollte ich es! So werde ich‘s wollen! –‚ – Dies hieß ich ihnen Erlösung.“76 Das Vergangene nicht als für ewig vergangen, vielmehr als ewig gegenwärtig zu wollen sei die höchste Stufe der Welt- und Selbstaffirmation. Es geht für Zarathustra um die Ewigkeit des endlichen Augenblicks, der sozusagen nur mit sich selbst in Berührung komme, damit das Leben in jedem – ewig wiederkehrenden – Augenblick zu Ende gehend sich erfülle. Jeder Moment sei ewiger Anfang und zugleich ewiges Ende, dem kein Urbild vorangehe. Wird einmal die Grundunterscheidung von Diesseits und Jenseits widerrufen, so soll die wechselvolle Vergänglichkeit des Lebens für den Übermenschen als ewiges Leben gelten: es ist die Teilhabe am ewigen Leben hier und jetzt. Das eigene Schicksal vor- wie rückwärts zu wollen, sich dem Lebensstrom mit Freude hinzugeben (amor fati), das Leben im eigenen Wollen pulsieren zu lassen – darin bestehe der eigentliche Durchbruch jenseits von Gut und Böse, der zugleich die Natur als mächtige Lebendigkeit zur Erfüllung vorantreibe. „Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“.77 Die außerordentliche Figur des überschwänglich „Gesunden“ rage mit seiner absoluten Autonomie des Selbstsetzens über das Allgemeingültige der allzu „gemeinen“ Angleichungsbewegungen hinaus. Um Kierkegaard zu paraphrasieren: jeder kann Übermensch sein, und soll es auch werden. Nichts steht nach Nietzsche dem immer selbstzentrierten Übertreffenwollen ferner, als die rohe Absicht, anderen weh zu tun, die den Schwachen auszeichnet. Der edelste Machterweis bestehe in der Selbstüberwindung des selbstverneinenden Menschen im selbstbejahenden Übermenschen. Auch wenn die „Herden“-Menge der Allzuvielen als Gefahr für die Selbstmächtigkeit vor allem im eigenen Inneren lauere, neigt die Metaphorik der „Züchtung“ leicht zu einer biologistischen Ausdeutung. An diesem Punkt ist es ja möglich, und Nietzsche wiedersetzt sich dieser Möglichkeit in seinem Einklangswillen mit zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Einsichten nicht immer, das Machtstreben mit naturalistischen Trieblehren zu vermählen. In einem darwinistischen Zeitalter liegt es allzu nahe, den Menschen auf den Affen statt auf Gott zurückzuführen. Die Berichtigung 76 Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“ KSA 3, S. 570; ders.: „Also sprach Zarathustra“, KSA 4, S. 249. 77 Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie“, KSA 1, S. 47.

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des siegreichen Biologismus streift allerdings jeden teleologischen Bezug ab: „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“78 Sofern nun die übermenschliche Durchorganisierung des inneren Leidenschaftschaos vom Willen zur Macht getrieben wird, bedeutet Selbstüberwindung zugleich Macht über sich selbst, während der Übermensch als eminenter Träger und Instrument dieses Willens dauernd aus dem Untermenschlichen zehrt. Die jeder Weltflüchtigkeit entkleidete indisch-orientale Idee der Selbsterlösung wird mit zutiefst christlich-okzidentalen Elementen vermengt: der Wille des ewigen Lebens, die Bejahung des Leidens sowie der Bedarf an schöpferischer Spontaneität gehört ja der wohlbekannten Haltung der Welt- und Selbstbeherrschung an. Der eine Ring der ewigen Wiederkunft streckt sich mitunter zu linearen Identitätskontinuen aus.79 Die Wirkungsmacht dieser Lehre von der gleichzeitigen Überschwänglichkeit und Unterschwelligkeit der persönlichen Identitätsgebilde, die ein ganzes Jahrhundert in ihrem Bann gehalten hat, erklärt sich aus der Empfänglichkeit einer orientierungslosen Welt in „Kulturnot“. Unter dem Gewebe eines stolzen Rationalismus, der die betriebsmäßige Weltbearbeitung mit Erfolgen beschert hat, wähnt die gebrochene Selbstdeutung der Zeit eine Vielfalt von Irrationalitäten am Werk. Die endlose Bereicherung der Lebenswelt mit Kulturgütern ging mit einem Verlust von Endgültigkeiten im Einzelleben einher.80 Nach dem Verfall einer – laut Nietzsche – fremdgesicherten Selbstgewissheit greift eine Sinnsemantik um sich, mit dem Wunsch nach einem ästhetisch-expressiven „Lebenssinn“ in ihrer Mitte. Der bezweckte Umbau der dualistischen Menschenverfassung rüttelt dabei an den weltanschaulichen Fundamenten des Okzidents. Die Verflüchtigung von schlechthinnigen Maßstäben drängt hier im Namen der geistigen Unabhängigkeit zu experimentierenden Selbstversuchen. Die aphoristische Stilisierung neigt dabei zu einer sich immer mehr aufspannenden Spirale von Pa78 Nietzsche: „Jenseits von Gut und Böse“, KSA 5, S. 27. Zu Nietzsches Abneigung gegen demokratische Bewegungen s. etwa dortselbst, 139ff. 79 Oft wird die Idee der ewigen Wiederkunft mit dem zyklischen Gedanken des Stoizismus in Verbindung gebracht. Wir halten uns hier an Nietzsches Devise: „Wir müssen auch die Griechen überwinden“, in: Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, KSA 3, S. 570. 80 S. dazu Max Weber: „Wissenschaft als Beruf“, GAWL, S. 593ff; zur Geburt der Kultursoziologie aus dem Gefühl der Fragmentiertheit Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende.

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radoxien. Es gelte, das wahre Selbst mit voller Rechtschaffenheit aus seinen Verkehrtheiten herauszulösen, ohne jedes „Außerhalb“ gleichsam „zum eigenen Projekt zu werden“. Die äußersten Konsequenzen einer ausschließlichen Selbstbindung werden von Nietzsche gezogen: die Selbstgesetzgebung steigert sich in einem verwüsteten Kosmos ohne Gott bis zur beziehungslosen Einsamkeit des über sich hinausstrebenden Einzelnen, der sich nur noch an sich selbst messen solle. Religiöse Fremderlösung wird zur Selbstbefreiung subjektiviert, was den Weg zu einer prinzipiellen Vergöttlichung des Menschen anbahnt. Auch wenn die virtuose Einzelheit und Originalität – trotz der literarischen Zugänglichkeit dieser Identitätslehren – nicht jedermanns Sache werden kann, wirkt die Idee der Selbstentscheidung über die Kreise ihrer Leserschaft bis in den Alltag der unphilosophischen Laienschaft hinein. Eine spannungsreiche Welt von antagonistischen Ordnungen und Werten lässt ja für seine Bewohner vielfältige Bedrängnisse aufkommen.

IN

UNTERPERSÖNLICHEN

U NTIEFEN

Den Gedanken der unterpersönlichen Konkretheit der Identität, dass nämlich der Mensch „nicht Herr im eigenen Haus“ sei,81 hat bald darauf Sigmund Freud, medizinisch ausgebildeter Sohn einer assimilierten österreichisch-jüdischen Bürgerfamilie, mit beispielloser weltanschaulicher Massenwirkung theoretisch weiter rationalisiert. Es wird ein Paradigma des Menscheninneren erarbeitet, das seine Rezipierbarkeit für das allgemeine Gefühlsleben bis heute nicht völlig eingebüßt hat. Die Begrifflichkeit dieser erlebnisanalytisch angelegten „Tiefenpsychologie“ hat sich inzwischen zu erlebnissteuernden Alltagsformeln erhärtet, welche die Prozesse der persönlichen Identitätsbildung wie unhinterfragte Gussformen prägen.82 Selbst eine weniger gebildete Gefühlswelt gliedert sich durch dieses interpretatorische Gemeingut in ‚bewusste‘ und ‚unbewusste‘ Inhalte; das ‚Ver-

81 Zu den weltanschaulichen „Kränkungen“, die von Kopernikus, Darwin und ihm selbst der Menschheit mit theoretischen Mitteln zugefügt wurden, Sigmund Freuds kurze Schrift: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917]“, GW 12, S. 3ff. – Für die Zusammenhänge besonders hilfsreich: J. Laplanche – J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. 82 Kritisch dazu Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele, die eine „Tyrannei der Intimität“ im allgemeinen Freudianismus des 20. Jahrhunderts mit seinem „therapeutischen Weltbild“ beanstandet. Vgl. schon Lionel Trilling: Freud and the Crisis of Our Culture.

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drängte‘ und das ‚Abgewehrte‘ wird ‚libidinös‘ auf Andere ‚übertragen‘ und ins Fremde ‚projiziert‘. Vor dem baldigen theoretischen Erlöschen der ‚Seele‘ flammt hier eine intellektuell raffinierte Seelenmetaphysik auf. Die punktuellen Einblicke hinter die vorgelogenen Wahrheitsfassaden, von Nietzsche als „Rationalisierungen“ des Irrationalen gedeutet, fügen sich immer konsequenter in eine flächendeckende Gesamttheorie der Persönlichkeit zusammen, wobei weitere Konkretisierungen in Richtung auf das Triebhafte vorgenommen werden. Unter der Doppelbödigkeit der Wissens- und Willensschichten waltet denn für Freud ein ungeheueres Triebleben, das sich in nächtlichen Aussetzungen und tageszeitlichen Entgleisungen der Vernünftigkeit verräterisch kundtut. Der Schlüssel zur inneren Geheimwelt scheint damit zuhanden, der Mensch an seiner lebendigsten Quelle gefasst zu sein. Auf einmal strömen Ungeheuerlichkeiten aus einem brunnentiefen Untergrund des Subjekts hervor, welche die fest eingewurzelte Vernunftgläubigkeit nicht wahrhaben wollte. Wie in einer Gegenwelt zur funktional rationalisierten Außenwelt schließen sich verdeckte Abgründe der Privatperson auf, die darauf angewiesen sei, allein zwischen verschlingenden äußeren – gesellschaftlichen – und inneren – seelischen – Mächten Stand zu halten. In diesem unausgesetzt zu vollziehenden Ausgleichsprozess bestehe das Selbst fort; seine Labilität liege in der heiklen Stellung des nüchtern abwägenden Ich zwischen einem bedrohlich wogenden Es und einem wachsam lenkenden Über-Ich. Eine Geselligkeitskultur des Vortäuschens und Verschweigens, der unterdrückten Sexualität, des patriarchalen Familienlebens und der aufreibenden Wirtschaftsmechanismen des Alltags ist der Boden, der diese höchst intimisierte Selbstlehre gedeihen ließ. Die „Seele“, diese traditionelle Zentralinstanz der Psychologie, sei weder das verkleinerte Abbild des Makrokosmos, wie für die griechische Antike, noch der innere Weg zu Gott, wie für das Christentum, noch auch der alleinige Sitz vernünftiger Gewissheiten oder der mechanische Verwalter von Empfindungen, wie für die aufklärerische Moderne. Indem hier die purifikatorisch ausgeblendete Gegentradition des Nichtrationalen in Form einer symbolistischen Seelenmythologie wiederbelebt wird, bringt eine mächtige Welle der Wiederverzauberung die grundsätzliche Rationalität des Subjekts in Verdacht.83 Hinter den gemächlichen Tagesstuben von klaren und deutlichen Denkverhältnissen werden dunkle Räumlichkeiten aufgerissen, überreich an deutungsbedürftigen Bildern. Ein systematisch betriebenes „Mißtrauen“ (Paul Ricoeur) mit emanzipatorischer Absicht, von Marx und Nietzsche beerbt, lässt Freud eine untergründige Höhlenwelt des 83 Zur Geschichte der okzidentalen Seelenkonzepte Gerd Jüttemann et alii (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Zum vormodernen Traditionsstrang der „irrationalen“ Seelentiefen Lancelot Law Whyte: The Unconscious Before Freud.

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inneren „Unbewussten“ ausdeuten. Der Begriff steht für alles, was nur durch „archäologische“ Deutungsarbeit ans Tageslicht der Vernünftigkeit befördert werden kann, wobei die berühmte Eisbergmetapher die inneren Proportionen plastisch veranschaulicht. Das kundige Verfahren der Selbst- und Fremdanalyse beruht auf der Annahme, dass die verschüttete Seelenkrypta durch Entzifferung von schlafend oder wach entfesselten Bildsequenzen aufgedeckt werden kann. Hinter der vorgeschobenen Einstimmigkeit des Rationalen stecke eine Vielstimmigkeit, ja Unstimmigkeit des unbewussten Lebens. Da jede Rationalität über den Abgründen der Irrationalität schwinge, solle die bewusste Denkgeschichte der Menschheit in die unbewusste Triebwelt des menschlichen Daseins zurückgebettet werden. Die spontane Wiederkehr des Verdrängten, die in den – psychotischen, träumerischen oder assoziativen – Brüchen der bewussten Sinnzusammenhänge erfolge, gewährt Einsicht in unterschwellige Tiefenströmungen, die sich für die immer ‚tiefer‘ bohrenden sinnhaften Deutungen darbieten. Die Suche nach dem eigentlichen Selbst führt Freud in die beiden Abseitsregionen des bürgerlichen Tageslebens: die verworrensten Traumgebilde und die heimlichsten Sexualphantasien werden als verschlüsselte Botschaften des eigensten Persönlichkeitskerns gelesen. Hinter den wohlgeordneten Alltagsfassaden walten Urmächte einer chaotischen Außeralltäglichkeit. Die bildlichen Abdrücke des träumenden Seelenlebens tragen gleichsam Spuren eines inneren Jenseits. Ihre ‚verhüllte‘ Wahrheit führt nun weder in die Höhenregionen des Orakels, der Offenbarung oder der metaphysischen Einsicht, noch ins Bodenständige der Magie, vielmehr in das Kellergeschoß der Persönlichkeitsbildung.84 Die unterpersönlichen Innenräume seien durch „Introspektion“ zu beleuchten, in der Gegenrichtung zu den Mechanismen der „Projektion“, die das Innere auf das Äußere aufblenden. Die beinahe unendliche innere Ausdehnung entspricht einer unbegrenzten Welterfahrung, wobei die seelischen und körperlichen Wahrnehmungsapparate die Rolle des Vergrößerungsglases nach dem Modell des zeitgenössischen Lichtbilderlebnisses erfüllen. Was innen ist, sei auch außen; was außen ist, sei auch innen; beides in der Lichtbrechung der Seele. Das schlechthin Symbolische der Seelentiefe, die jedem menschlichen Handeln ein symbolisches Gepräge verleihe, erfordere nach Freud einen ebenso symbolistischen Ansatz zu ihrer Enthüllung. Die früher literarisch behandelten Elemente des Menschenselbst erfahren eine konsequent seelenanalytische Auslegung, die ihrerseits nach metaphorischen Darstellungsmitteln greift. Die analytische Metapsychologie entfaltet sich als die theoretisch rationalisierte Kunstlehre einer Heilspraxis. Indem die metapsychologischen Spekulatio84 Zu einer Kulturgeschichte des Traumes Michel Foucault: „Einführung zu ‚Traum und Existenz‘ von L. Binswanger“, in: ders.: Schriften 1.

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nen, die dem ärztlichen Interesse der Behandlung von Neurotikern entgegenkommen, ihren primären Erfahrungsgrund im Kranken haben, werden Randphänomene der Lebenswelt zum Paradigma erhoben. Für diesen existenzialistischen Denkstil erscheint das Außeralltägliche als Steigerungsform des Alltäglichen, das auf dem Wege des Zurückschließens aus dem Pathologischen zu entflechten sei. In einer zunehmend zerstückelten und äußerlich-bürokratisch reglementierten Umwelt häufen sich die Fälle der gebrochenen Innenwelt, was die Sensibilität für die Bedrohungen des Personseins verschärft. Das Geflecht der zeitgeschichtlichen Zwiespältigkeiten findet allgemeinen Einlass in die Theorieanlage: die Undurchschaubarkeit des Innenlebens reimt auf die Unübersichtlichkeit der äußeren Weltverhältnisse.85 Die neuzeitliche Erfahrung von ungefügig aufstürmenden Außenmächten plausibilisiert ein Persönlichkeitsmodell der immer fraglichen Selbstbeherrschung. Der grundsätzliche Riss zwischen öffentlichem und privatem Leben führt den analytischen Blick ins Allerintimste des Einzellebens. Instabilität und Unsicherheit als diagnostische Grundmerkmale der modernen Lebenssituation schreiben sich in unhistorischer Art in die prinzipielle Fassung des Selbst hinein. Als Hauptfigur dieser Identitätslehre erscheint nicht mehr der entscheidungsund verantwortungsfähige Erwachsene, vielmehr das traumatisierte Kind, das jedem von uns – mehr oder weniger – untergründig innewohne. In der bestimmenden Zeitdimension der Vergangenheit, die immer schon verflossen und daher unwiederrufbar sei, seien dem Einzelnen unbeherrschbare Einbrüche widerfahren, deren Bewältigung sich zur untentrinnbaren Lebensaufgabe auswachse. Die wichtigsten Erinnerungsspuren des Unbewussten entstammen nicht dem vorgeburtlichen, sondern dem nachgeburtlichen Frühleben.86 Da die Ausformung des ganz persönlichen Unterpersönlichen größtenteils von individuellen kindheitsgeschichtlichen Ereignissen bestimmt werde, habe jeder gleichsam seine eigene Unterwelt. Die Grundprozesse der persönlichen Identitätsbildung seien dem Zufall der je individuellen Familienkonstellationen ausgeliefert. Die Peripetien des Lebensschicksals gewinnen ihre Sinnhaftigkeit im Geiste eines psychologischen Rationalismus. Die Behandlung besteht in der Zurechtlegung eines verschütteten Gedächtnisüberschusses und somit in der Entknechtung aus erdrückenden Bindungen. Das Ziel des befreiten Trieblebens hat dabei schließlich den Einzelnen vor Augen: das Eintauchen in die immer individuellen Symbolwelten ergibt kei85 Siehe Peter L. Bergers richtungsweisende Studie zur Soziologie der Psychoanalyse als Theorie und Massenbewung: „Towards a Sociological Understanding of Psychoanalysis“, 86 Vgl. Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 691. Zum grundlegenden Vergangenheitsbezug der Träume Freud: „Traumdeutung [1900]“, GW II–III, Kap VII/E.

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ne gemeinsame Orientierung. Das Eigentliche stecke in unbewussten Tiefen des Einzeldaseins, jenseits der Gedämpftheit der familiären Autoritätsverhältnisse. Die analytische Situation neigt jedoch selber dazu, gegenseitige Abhängigkeiten zwischen dem Meister und dem Schüler zu entfachen. Das urwüchsige Paradigma der religiösen Seelsorge kehrt im Verhältnis des Patienten zu seinem ‚Guru‘ wieder. Das einstige Bekenntnis, das die Sündenlast an einen Beichtvater oder die ganze Gemeinde nach festen Vorlagen abgelegt hat, wird jetzt zur assoziativen Selbstentblößung, die trotz aller distanzierenden Maßnahmen ein inniges Band zwischen ungleichen Partnern stiftet. Parallel zur Entladung der Ängste an einen persönlichen Anderen blüht eine Kultur des verschlüsselten Tagebuchs – ein weiteres Instrument der Selbstaussage. Die niemals abzuschließende Erkundung des ‚unverfälschsten‘ Selbst mit eingeweihten Kunstgriffen kommt wiederholten Höllenfahrten gleich. Der alltäglichen Bagatellisierung entgegen wird der Traum als Wunscherfüllung ausgelegt. Das „tiefste Wesen des Menschen“ bestehe ja in Triebregungen, „die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen“. Kommt man durch die selbstschützenden Zensurmechanismen des bewussten Seelenteils hindurch, stoße man schließlich, unter dem kombinationsreichen Assoziationsgeflecht von Verdichtungen, Verschiebungen und Verstellungen, auf die verdrängteste Urszene der Persönlichkeitsentwicklung: „Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen“. Die mitreißende Kraft des griechischen Mythos mit seinen weltweiten Varianten weise auf einen inneren Zwang hin, den gleichgeschlechtlichen Elternteil zu töten und den andersgeschlechtlichen zu heiraten.87 Überhaupt seien die schicksalshaften Lebensphasen zutiefst erotischer Natur: der frühkindliche Überschuss oder Mangel an Befriedigung der erregbaren Körperzonen präge im bestimmten Nacheinander den erwachsenen Charakter. Die Abwertung des Körpers, die christlich-religiös angestoßen und neuzeitlich-philosophisch weitergeführt worden ist, wird hier zugunsten einer Einbindung des Menschen in die Naturwelt gleichsam zurückgenommen. Das Unbewusste repräsentiere so ein spezifisch menschliches Triebgewühl, gleichsam an den Grenzgebieten des Körperlichen und des Seelischen. Die im87 Freud: „Zeitgemäßes über Krieg und Tod [1915]“, GW X, S. 331; ders.: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, GW V, S. 127. Das Familiendreieck von Kind, Mutter und Vater als Zentralort der Persönlichkeitsbildung entspricht den modellhaften Erwartungen an die Familie in einer Massengesellschaft, ihre Brüchigkeit den erfahrungsmäßigen Ungeheuerlichkeiten des Familienlebens. Dazu P. L. Berger: a.a.O. Zur anthropologischen Universalität des Ödipus-Modells Claude Lévi-Strauss: Strukturelle Anthropologie, Bd. 1, Kap. XI.

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mer psychosexuell bestimmte Lebensenergie, dieses Begriffsscharnier zur darwinistischen Biologie, drängt nach Freud auf ihr lustvermehrendes Ausleben, was sich im Laufe der Theorieentwicklung zum „Eros“ prinzipialisiert.88 Die blühenden Altertumswissenschaften liefern dabei gemeinsames Beweismaterial für die innersten Triebkräfte des Allgemeinmenschen – ein Verhältnis, das für Freud auch in seiner Umkehrung seine Gültigkeit behält: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.“89 Der Reichtum des mythologischen Schattenreichs führt eine Aufwertung der Kunsttätigkeit sowie überhaupt der Bildlichkeit herbei. Die Denkbahnen seien ja nie restlos von verführerischen Bildern zu reinigen: die Bändigung des Ungeheuers hat ihre Grenzen. Das Bild des Eisbergs ist zugleich ein Bild der Unbezwingbarkeit. Die Kräfte der lebendigen Spontaneität ringen mit denen der lebensnotwendigen Kalkulation. Die Auslöschung der Ordnungsformen erreicht ihren Höhepunkt in erotischen Traumvorstellungen, die, bewusst abgewehrt, zu einer stellvertretenden Verwirklichung im halbzensiert träumenden Unbewussten neigen. Die prinzipielle Aufwertung des Erotischen stimmt mit Sozialtendenzen sexueller Befreiungsbewegungen überein. Die Ausbruchsversuche aus den Rahmen des bürgerlich geregelten Familienlebens sowie überhaupt jeder autoritären Kontrolle finden ja einen ihrer Fluchtpunkte im spezifisch Irrationalen der Geschlechtlichkeit. Die fortgeschrittenen Mechanismen der eigenlogischen Rationalisierungen, welche die Lebensbereiche des Alltags immer konsequenter organisieren, lassen ja die Erotik als „Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern“ erscheinen. Sexualität kann nun zum Erotischen sublimiert und als bewusst genossener Inhalt zum Wert eigenen Rechts geweiht werden: die Möglichkeit des sensationellen Einswerdens mit einem Anderen birgt in ihrer Außeralltäglichkeit das Versprechen einer innerweltlichen Erlösung in sich. Das Ideal der beherrschten Leidenschaft, d.h. die Pflege dieser „leibgewordenen Schöpfermacht“ stellt wiederum eine Rationalisierungsleistung ersten Ranges dar, die im personalen Autonomiegedanken ihren unbestreitbaren Platz hat.90 Die Persönlichkeitsdynamik von Trauma, verdrängender Abwehr und gezügelter Entladung wird jedoch später von einer anderen Identitätsdialektik in den 88 Zu „Eros“ im Gegensatz zum destruktiven Prinzip „Thanatos“ Freud: „Jenseits des Lustprinzips [1920]“, GW XIII. 89 Freud: „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1933]“, GW XV, S. 101. 90 Zur eigengesetzlichen Rationalisierung des Erotischen, vor allem in ihrer zunehmenden Spannung zum religiösen Rationalismus, Max Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 556ff, Zitate S. 558 und 561.

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Hintergrund gerückt. Die bürokratisch inspirierte Polizeimetaphorik gipfelt in einer nicht mehr räumlich geordneten „Instanzen“-Lehre des psychischen „Apparats“. Das dreifaltige Innenverhältnis des Menschen ist das Ergebnis einer leidensvollen Entwicklung von der Ursprünglichkeit einer inneren Eswelt durch die primäre Abspaltung einer Ichwelt bis zur sekundären Abspaltung einer nach wie vor innerpersönlichen Überichwelt. Diese theoretische Umschichtung der Seele erhöht allerdings die Bedeutung des Unbewussten weiter, indem es einen Platz für sich in jedem der drei Seelenreviere einfordert: die Wahrheit der Unverfügbarkeit bleibt erhalten.91 Am Anfang war also der ungegliederte Urwirbel des unpersönlichen Es, dieser „Kessel voll brodelnder Erregungen“, wobei die Nietzschesche Wortprägung zur Bezeichnung von elementaren Triebbedürfnissen dient, die vom Lustprinzip betrieben dem Ich vorausgehen.92 Die unbefangene Selbst- und Weltbesessenheit müsse jedoch in der Konfrontation mit der „Welt“ im eigenen Interesse des Überlebens zunehmend aufgegeben werden. Da die Einwirkung der Außenwelt zur Selbstbehauptung dränge, breite sich im Spannungsfeld der beiden antagonistischen Mächte des inneren Wunsches und der äußeren Wirklichkeit eine immer „realistischere“ Schutzhülle um den Eskern aus. In dieser unausweichlichen Unterordnung den Weltgegebenheiten gegenüber erfolgt die zeitgleiche Geburt der Welt und des Ich. Die prinzipiell möglichen Welthaltungen der Weltanpassung, der Weltflucht und der Weltbeherrschung liegen in dieser psychischen Doppelkonstitution begründet.93 Die immer prekäre Ausbildung des Ich sei daher eine Verlustgeschichte: als „Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen“94 sei es eine unendliche Fülle von gebrochenen Beziehungen. Die traditionsreiche Denkfigur der Spiegelung kehrt im Ichbegriff zurück, indem er durch einstige Identifikationen Innen und Außen projektiv miteinander verbindet. Das Identitätsstreben lässt das Ich nach außen durch scharfe Konturen abgrenzen, während es nach innen mit dem ichlosen Es unzertrennbar verschlungen bleibt. Die vermittelnde Identifikationsfläche zwischen Innen und Außen bietet immer sublimiertere Absonderungen von und Verbindungen zu der Welt: „Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.“ Und die Ergänzung in der englischen Ausgabe: „The ego is ultimately derived from bodily sensations, chiefly from those springing from the surface of the body. It may

91 Wir lassen hier das schwierige Verhältnis der topologischen und der strukturellen Seelenlehre beiseite. 92 Freud: „Neue Folge der Vorlesungen…“, GW XV, S. 80. 93 Freud: „Abriß der Psychoanalyse [1940]“, GW XVII, S. 9f. 94 Freud: „Das Ich und das Es [1923]“, GW XIII, S. 297.

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thus be regarded as a mental projection of the surface of the body, besides […] representing the superficies of the mental apparatus.“95 Im geselligen Verkehr, zunächst mit den engsten Anderen aus der Familie, entwickeln sich nun persönliche Bindungen, Objektbeziehungen genannt, in Form von ausgelieferter Abhängigkeit. Ohne Göttliches noch zu gewahren und somit über den Menschen hinauszubewegen ragt der seelische Apparat aus den triebhaften Tiefen durch das Ich balanciert ins Soziale hinein. Die Zwitterlage eines vermeintlich authentischen Selbstverhältnisses ergibt sich aus der Angewiesenheit des Menschen auf die ihrem Prinzip nach repressive Kultur. Die identifizierende Personenbesetzung durchlaufe mit der Zeit, unter dem andauernden Druck der Selbstbehauptung, einen mühevollen Trennungsweg vom Habenwollen zum Soseinwollen: die dialektische Kehrseite der persönlich ausgeprägten Identität bestehe in der Identifikation mit noch so entpersönlichten Selbstidealen. Die Doppelfigur des Vaters als Paradigma des eigenen Über-Ich verkörpere dabei das Gebot der Individualisierung – dem er schon mit seinem bloßen Dasein entgegenwirke. Diese Paradoxie wird in folgende Worte gefasst: „Alle Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen, trotzigen, selbstherrlichen, sind durch den einen Wunsch befriedigt: sein eigener Vater zu sein.“96 Das „Werde, der du bist!“ strande so, trotz steigender Autonomiefähigkeit, allzuleicht an noch so unkörperlich einverleibten Fremdinhalten, wie etwa dem idealisierten Selbstbild der nächsten Bezugspersonen. Als grundsätzliche Ichfunktion bewirke die selbstbindende „Besetzung“ von Anderen einen unauslöschlichen Wunsch nach einer Wiedervereinigung in der unvermeidlichen Separation. Unter Umständen wachse dieser Wunsch bis zur Selbstaufgabe zugunsten einer Gruppe: die Teilnahme in Massenformationen bekleide den Einzelnen mit einem sicherheitsspendenden Gefühl unendlicher Machtsteigerung, das alle Grenzen der Persönlichkeit übersteige. Der weitgehend willkürliche Bezugspunkt dieser Verschmelzung bestehe in einem Objekt, das alle Identifikationswillen wie ein gemeinsames Ichideal auf sich ziehe. Bis zu einer todesfeindlichen Ablehnung anderer Selbstideale fehle nur noch ein letzter Schritt – in kriegerischen Ausbrüchen tatsächlich vollzogen.97 Die Kräfte und Gegenkräfte der Einverleibung tragen zwar unverkennbar dialektische Züge, ohne aber je zur ruhevollen Synthese zu gelangen. Die Vermitt95 Freud: ebd. 96 Freud: „Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne [1910]“, GW VIII, S. 66f. 97 Vgl. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921]“. Dieser Gedanke wird später in seinen negativen Konsequenzen von René Girard in seiner Sündenbocktheorie weiterentwickelt, s. Das Heilige und die Gewalt.

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lungsarbeit des Ich, das wie ein platonischer Seelenreiter die Rösser des ungebändigten Es, der harten Realität und des zügelnden Über-Ich zu besitzen trachtet, sei unter den vielfachen Restriktionsbedingungen zur Versöhnungslosigkeit verurteilt. Der Identitätsbegriff der ‚Seele‘, diese einstige Nahtstelle zur Welt und zu Gott, sammelt hier Ansprüche des authentisch Lebendigen und des ausgefeilt Geistigen gleichzeitig in sich, indem er zwischen triebhafter Naturanlage und sublimiertem Kulturgut zu vermitteln sucht. Die Kontinuität und Kohärenz der Lebensführung sei indessen durch bleibende Seelenbrüche gefährdet. Indem die immer geistigeren „Besetzungen“, die immer etwas Militantes an sich haben, ihre gemeinsame Energiequelle in der Es-Welt haben, bedeutet die fortschreitende Instanzenbildung gleichsam die Spaltung einer Monade.98 Das theoretische Übergewicht des Privatmenschen zuungunsten seiner Außenbeziehungen bürdet seinem Selbst eine unendliche Schwerkraft auf, die es immer weniger zu tragen vermag. Freuds spekulative Denkbewegungen neigen da zur genuin lebensfeindlichen Dynamik eines Todestriebes hin. Die Erstarkung dieser spätgeborenen Annahme ins Prinzipielle löst die homöostatische Kräfteordnung des Lebenstriebs – und damit die inneren Spannungen des Selbst, „jenseits des Lustprinzips“, in einer Rückkehr zum Anorganischen auf.99 Der Kampf der beiden mythischen Mächte, Eros und Thanatos, leidet immer mehr unter einer gleichsam dionysisch-dämonischen Unausgeglichenheit zum Vorteil des letzteren. Die Sinnsuche der immer breiter angelegten Theoriebildung führt bei Freud, die bleibende Heilungsabsicht auf die Menschheit ausweitend, schließlich zu „metapsychologischen“ Kulturvisionen zur Heilung der inneren Zerrissenheit einer ganzen Epoche. Der Reim der Kulturtheorie wird dabei von der seelischen Architektur vorgegeben, die den Schlüssel zu den tiefsten Gegenwartsproblemen darbieten soll. Die hypothetische Urszene aller Kultur entwirft eine Konstellation der geselligen Ungeselligkeit. Der geistige Horizont der Psychoanalyse breitet sich nun in die urmenschheitliche Tiefe der Zeiten, um den heutigen Menschen, zwischen biologischer Vererbung und kultureller Überlieferung schwankend, bei seinen Wurzeln zu fassen. Die Zwitterlösung des notgedrungenen Triebverzichts wird im Begriff der Kultur zum Prinzip erhoben. Die Reihe der 98 Zum Begriff der „Ichspaltung“ Freud: „Abriß der Psychoanalyse“, GW XVII, S. 132ff. 99 Die heftigen Debatten um den Todestrieb können und müssen hier nicht verfolgt werden. Siehe nur Jacques Lacan: „Subversion des Subjekts“, der ihn, durchaus in Nietzsches Geist, als exzessiven Lebensdrang deutet. An diesem Punkt werden die Probleme eines symbolistischen Ansatzes freilich besonders handgreiflich, wenn für die Erklärung einer bestimmten Erscheinung ein Prinzip und sein Gegenprinzip gleichwertig herangezogen werden kann.

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Freudschen Entdeckungen mündet denn in die Einführung eines janusköpfigen Kulturbegriffs. Die nützlich erscheinende Gesellung führe ja zwar aus der Schwäche der Einsamkeit heraus, um auf längere Sicht das Maß der Befriedigung reicher ausfüllen zu können. Die Urtäuschung der Geselligkeit bestehe aber in ihren grundsätzlich umweghaften Ersatzmitteln, die Freud resignativ stimmen: „Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut.“100 Das Eintauschen von Glück für Sicherheit stutze das Individuum halbwegs zurecht, um den Preis der fortschreitenden Selbstaufgabe. Auch der Sublimationsgedanke erfährt dabei eine charakteristische Verengung. Bedeutete er bei Nietzsche die Umleitung der Triebe im Interesse der Steigerung des Machtgefühls, die ihren Höhepunkt im Agonalen des homerischen Wettkampfs erreicht hatte, wird er von Freud zur verdunstenden Vergeistigung im Interesse eines mehr oder weniger akzeptablen Lustgefühls herabgesetzt. Das Rauschen des Blutes und die Regung des Triebes wird unter sozialer Daueraufsicht in die Bahnen des schöpferischen – etwa künstlerischen – Gestaltens gelenkt, um gemäßigte Befriedigung mit Zeitverschiebung zu vermitteln. Das individuell errichtete Kunstwerk biete ein öffentlich zugängliches Element der ästhetisch verallgemeinerten Wunscherfüllung. Die Seelendynamik als Kulturdynamik kann nunmehr problemlos auf Religionsphänomene weitergewälzt werden. Das Muster der ödipalen Situation wiederholt sich für die urzeitliche Menschengruppe einem Urvater gegenüber. Die ambivalente Identifikation mit dieser unterdrückenden Urautorität nach seiner tatsächlichen Ermordung führt ja nach Freud zu seiner verbotsreichen, weil latent sündenbewussten Vergottung.101 Gott als überschätzter Übervater sei die archetypische Grundfigur jedes weiteren Herrschaftsverhältnisses, die eine illusionistische Versöhnung mit den sich verstärkenden Kulturverdrängungen zum Ziel habe. Der zweifelhafte Verdienst der blutigen Opferakte bestehe in einer kulturell bewilligten Triebabfuhr, um zumindest Schlechteres abzuwenden. Die Freudsche Kulturlehre wird in den folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Die Gesellschaft ruht jetzt auf der Mitschuld an dem gemeinsam verübten Verbrechen, die Religion auf dem Schuldbewußtsein und der Reue darüber, die Sittlichkeit teils auf den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft, zum anderen Teil auf den vom Schuldbewußtsein geforderten Bußen.“102 Kulturalisierung und Vergesellschaftung treiben Mechanismen der einverleibten Befangenheit und der potenzierten Selbstdisziplin an. Daß die Begründung der Kulturschöpfungen auch 100 Freud: „Das Unbehagen in der Kultur [1930]“, GW XIV, S. 455. 101 Vgl. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, GW XIII, Kap. X. sowie ders.: „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, GW XV, S. 175. 102 Freud: „Totem und Tabu [1913]“, GW IX, S. 176.

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durch „rationelle Geistesarbeit“103 möglich sei, zeigen schon Freuds psychohistorische Erörterungen zum Monotheismus. Die Steigerung der ödipalen Grundstruktur im bildlosen Gott sei eine beispiellose Sublimationsleistung, die eine Entzauberung des Weltlichen in Gang gesetzt habe. Der „Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“ sei seitdem immer wieder kulturell zu erringen. Freuds entmagisierende Befreiungstheorie mit der Tötung des eigenen Gottes steht so selber in der ethischen Tradition des entgötzenden Bilderverbots.104 Das durchaus mechanistische Theorem des Seelenapparats lässt jede Selbstspannung organisch-triebhaften Anspannungen entstammen, die wie andere Überdruckzustände durch Abführung der angelaufenen Seelenenergien zu meistern seien. Die kompressionsdynamische Metaphorik der Psychoanalyse, die ihre Logik der Ausgeglichenheit aus der siegreichen Physik entlehnt, soll das Prinzip der natürlichen Ursächlichkeit in seine Rechte zurücksetzen. Diese dichotome Hermeneutik der Kräfte und Gegenkräfte klingt mit der entfalteten Idee der wirkungsvoll kalkulierenden Selbstarbeit durchaus zusammen. Die Bewusstmachung des Unbewussten ist Aufklärungstätigkeit, deren therapeutisches Ziel in der weiteren Einbindung der Persönlichkeit in die rationalisierte Weltbeherrschung besteht. „Eine intellektuelle Funktion in uns fordert Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit von jedem Material der Wahrnehmung oder des Denkens, dessen sie sich bemächtigt“.105 Die immer vollkommenere Selbsterkenntnis richtet sich nicht mehr vordergründig auf das religiöse Seelenheil: das Funktionsmodell der Person klingt seinem gemeinten Sinn nach mit einer innerweltlichen Zielstrebigkeit überein, sofern diese nur noch in einer inneren Ruhe auf der Erde bestehen solle. Die analytische Selbstformung bezweckt ein Gleichgewicht der Persönlichkeitsfunktionen im Sinne einer vermeintlichen Gesundheit, um Fehlanpassungen an die äußeren Störungen zu korrigieren.106 Die therapeutische Sinnwelt der Identität erfasste massenmedial eine breite Mittelschicht, um sie sich durch eine interiorisierte Selbsthilfepraxis gefügig zu machen. Der Wunsch nach Einheit und Zusammenhang, diese gemeinsame Quelle von Mythos und Wissenschaft, lässt jedoch die Kluft zwischen Sinnhaftem und Sinnlosem nach Freud nie schließen: die Identität der absoluten Identifikation 103 Freud: „Die Zukunft einer Illusion [1927]“, in: GW XIV, S. 386. 104 Freud: „Der Mann Moses und die monotheistische Religion [1939]“, in: GW XVI, S. 559. Zur Analyse und Kritik siehe Jan Assmann: „Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Reflexionen zu Freuds Moses-Buch“, sowie ders.: Die Mosaische Unterscheidung, S. 121ff. 105 Freud: „Totem und Tabu“, GW IX, Kap. III/4. 106 Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 17ff.

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bleibe unerreichbar. Der Empirismus der energetisch orientierten Seelenmechanik, der Romantizismus des dunklen Es, der Rationalismus des selbstkoordinierenden Ich und der Pessimismus des überdisziplinierten Über-Ich – dieses spezifische Geflecht von Motiven spricht die Gefühlslage einer kulturmüden Generation an, die aus den unpersönlichen Hörigkeiten ausbrechen, aber die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit nicht aufgeben will.107 Der verstärkte Mythenbedarf einer entzauberten Welt scheint durch die mythopoetisch gestimmte Behandlung der Person seine Nahrung zu finden, mit dem gleichzeitigen – wohl ungenügenden – Tribut an die Naturwissenschaftlichkeit durch eine neurophysiologische Verankerung des Psychischen. Die prinzipielle Bewandtnis mit der materiellen ‚Basis‘ wird jedoch in aller Klarheit formuliert: bestünde eine direkte Beziehung zwischen Seelenleben und Nervensystem, „würde sie höchstens eine genaue Lokalisation der Bewusstseinsvorgänge liefern und für deren Verständnis nichts leisten.“108 Was zurückbleibt, ist ein sinnhaftes Instrument der Selbstdeutung und Selbstformierung mit unleugbarer, wenn auch zeitbedingter Regenerationskraft. Die Artikulation des Verborgenen ist für Freud kein bloßes Vehikel einer Kundgebung: erst durch die Selbstaussage wird es zur befreienden Wirklichkeit formuliert. Es werden dabei allerdings Persönlichkeitsmuster angeboten, die zur gesteigerten Selbst- und Fremdbeherrschung hinsteuern, indem sie die intimsten Gefühle im Griff zu halten versprechen.109 Die Idee von der Macht des Wortes erweist auf diese doppelte Weise ihre Wahrheit.110 Der dreifach erhobene Anspruch zur Konkretisierung, der den Identitätsgedanken in steigendem Maße bestimmt, entscheidet sich für eine radikale Innenansicht des Menschen, indem er sich von zwei Grundfaktoren der abendländischen Metaphysik immer entschlossener lossagt. In dieser Selbstbeschränkung sind ja zwei ‚Momente‘ des metaphysischen Dreigestirns – Gott und Welt – da107 Zur Sozialgeschichte der Psychoanalyse von einer charismatischen Sektenbewegung zur innerweltlich rationalisierten Lebensführung vor dem Hintergrund der „zweiten industriellen Revolution“ des Massenkapitalismus Eli Zaretsky: Freuds Jahrhundert. 108 Freud: „Abriß der Psychoanalyse“, GW XVII, S. 67. 109 Eine Spirale des Findens und Erfindens, die sogar für wirtschaftliche Interessen dienstbar gemacht werden könne, mutet für zahlreiche Kritiker Freuds wie Opportunismus an, z.B. Lionel Trilling: a.a.O. 110 S. dazu eine Bemerkung Freuds, in der Tradition Aristoteles‘: „Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler [...]. Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander.“ Freud: „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, GW XI, S. 10.

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bei, sich zu konstitutiven ‚Elementen‘ des dritten zu verwandeln: denen des Menschen. Als „Opium“ oder eben „Illusion“ hat Gott mit dem Menschen kaum mehr zu tun, als in einer stummen „Verborgenheit“. Das gemeinsame und das eigene Innere nach außen zu tragen, sei es in der Weise einer objektivistischen Produktivität oder einer subjektivistischen Expressivität111 – diese Haltung der hervorbringenden Kreativität lässt die Identitätslehren des Konkretismus immer innermenschlicher ausformen. Die gestaltende Macht verliert zunehmend ihren göttlichen und weltlichen Außenhalt. Keine vorgegebenen Modelle irgendwelchen Ansichseins führen Hand und Wort des nunmehr notgedrungen schöpferischen Menschen. Die augustinisch in die Welt hineingerufene Idee, „Kehr in dich selbst zurück“, erfährt dabei Ausdeutungen, die in ihrer diesseitigen Konsequenz auf Unheimliches in der Innenanlage des Menschen stoßen: mit verschiedenen Anderen der noch so absolut gefassten Vernunft habe er nun klarzukommen. Die Bahnen der Rationalisierung des Unvernünftigen verlaufen, wie gesehen, nach überpersönlichen, persönlichen und unterpersönlichen Richtpunkten. Weitgehend untheoretisch-irrationale Instanzen werden als Triebkräfte des Menschendaseins zu Tage gefördert: ‚Bedürfnis‘, ‚Wille‘, ‚Entscheidung‘ und ‚Unbewusstes‘ sträuben sich gegen das intellektuell Versöhnerische einer absoluten Identität. Dem Utopischen, Phantastischen und Träumerischen wird freier Lauf gelassen, um ‚Authentizität‘ zu erwirken. Die theoretischen Ausführungen verankern sich dabei in explizit erweckerischen Motiven: die Hülle von versteiften Ordnungen sei mit einem letzten Geistesschlag aufzubrechen. Die prinzipielle Verfassung der Identität weist zugleich den Weg zu ihrer Verwirklichung: ein starker Nachdruck fällt auf den Vollzugscharakter des Selbst. Die konkretistischen Identitätslehren liefern somit geistige Munition für den Wunsch, sich von einem ablehnungswürdigen Umfeld abzuheben – auch wenn der ‚Kapitalist‘, der ‚Spießbürger‘, die ‚Masse‘ oder die ‚Autorität‘ in der eigenen Mitte lauern mag. Der intellektualistische Rationalismus wird pragmatisch. Das angestrebte Identitätsspektrum der Selbstbefreiung erstreckt sich formelhaft von einem „Vereint euch!“ durch ein „Vereinzele dich!“ und „Werde, der du bist!“ bis zu einem „Wo Es war, soll Ich werden!“ Die romantische Doppelbewegung dieses Weltgefühls pendelt in der Ambivalenz von auseinanderstrebenden Wünschen: sich selbst zu werden einerseits, nicht auf ein statisch-endgültiges Selbst festgelegt zu werden andererseits. An materiellen und geistigen Randgebieten der etablierten Moderne wird nach dem ‚wahren‘ Selbst gefragt. Abseits jeden Systems und Amtes sind die 111 Zur Metaphorik des Ausdrucks und der Produktion Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, S. 106ff; zum Expressivismus Charles Taylor: Die Quellen des Selbst, S. 639ff.

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Träger dieser Konkretisierung Grenzgänger und Außenseiter vor allem des akademischen Lebens, im eigentlichen Quellbereich des Intellektuellenbegriffs.112 Der Identitätsgedanke wechselt somit seinen sozialen Ort: der Konkretismus verlässt in seiner Betroffenheit die Räume der Universität, um gewissermaßen für eigene Belange denken zu können. Das metaphysische Bedürfnis eines einheitlichen Welt- und Lebenssinns, dieses Merkzeichen des Intellektualismus überhaupt, lässt hier, mit einer als radikal verfremdet empfundenen Außenwelt konfrontiert, kulturkritische Konzeptionen der breiträumigen Verbundenheit, der unverwechselbaren Einzigartigkeit und der sublimierten Intimität erwachsen.113 Die Auswege der denkerischen Ordnungsentwürfe führen zur Idee des SichAuflösens in der umfassendsten Gruppe aller Menschenkinder einerseits, des Insich-Zurückziehens andererseits. Dem Konkretismus der gemeinsamen und personalen Identitätsgebilde ruhen Theodizeen auf, die nicht mehr ins Jenseits überführen. Die heilvolle Zukunft der Menschheit in besitzloser Gleichheit bildet bei Marx Paradiesvorstellungen irdisch nach. Der Anspruch eines erlösten Dauerhabitus findet seinen endgültigen Erfüllungsort bei Nietzsche im „Hier und Jetzt“ der „ewigen Widerkehr des Gleichen“. Die unausgesetzte Wiedergeburt des Glaubenssprungs wird bei Kierkegaard zur konstanten Heilsgesinnung erhoben – alles Andere ist Verzweiflung. Gemeinsame Weltbeherrschung und einsame Selbstbeherrschung finden hier zu ihren gedanklich und psychologisch konsequenten Steigerungsformen. Die Mahnworte fallen auf den Resonanzboden vielfacher Verunsicherung des persönlichen wie des gemeinsamen Lebens. Ein verbreitetes Weltgefühl der Wurzellosigkeit, das nach neuem Gesamtsinn sucht, verschafft im Zeitalter der Massenpresse und der Massenbildung, die den Privatmenschen im Publikum wie das Publikum im Privatmenschen erreichbar machen, eine mächtige Wirkungskraft für theoretisch-existenzielle Sinnkonstruktionen der Identität – die wohl erst diesen Umständen ihre Vollentfaltung verdanken. Diese Art Soziologisierung des Denkens im Sinne seiner Seinsverbundenheit, d.h. der gegenseitige Bezug zwischen Ideen und Seinslagen, führt uns aber schon zu Ansätzen der Soziologisierung von Identität weiter.

112 Zu einem wissenssoziologischen Konzept des Intellektuellen Karl Mannheim: „The Problem of the Intelligentsia“. 113 Zum Begriff des metaphysischen Bedürfnisses Max Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 572 und ders.: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 275, 304.

Die Soziologisierung der Identität

Es sind überhaupt die Randgebiete der durchreglementierten Beziehungswelt, die ein zunehmendes Interesse für Lebensbereiche wecken, welche von herrschaftlichen Anordnungen immer schon unerreicht geblieben sein sollten. Die neu entdeckte Dimension des Sozialen, dessen Lebendigkeit diesseits jeder verfassten Staatlichkeit waltet, breitet sich in regelrechter Erfindungslust zum universalen Weltmodell aus. Auf das Gesellschaftliche hin geprüft, zeigt nun alles ein spezifisch gesellschaftliches Antlitz. Unter dem erlebnishaften Eindruck des planmäßig Unverfügbaren, das in den neuesten Weltumwälzungen über den Einzelnen hergefallen ist, entsteht eine soziologistische Geisteskultur, die sogar das Unsoziologische als Ergebnis von gesellschaftlich bedingten Abzügen erscheinen lässt. Der traditionelle Wissensbestand von der Menschenwelt wird immer konsequenter auf den weltanschaulichen Mittelpunkt der Mitmenschlichkeit hin geordnet. Die Entdeckung und systematische Erkundung des sozialen Kosmos verdankt sich nicht so sehr den sozialen Spannungen, die die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch in wechselnder Gestalt immer schon beherrscht hatten, als vielmehr den neuesten Erschütterungen, die das Bestehende von Grund auf fraglich werden ließen. Es ist ein allgemein geteiltes Erlebnis der allseitigen Bedingtheit, das der soziologischen Betrachtung öffentliches Gehör verschafft. Wie die klassische Philosophentradition des Hellenentums als Infragestellen des einst lebensweltlich evidenten und undiskursiv deklarierten Weltwissens auf die Bühne getreten ist,1 schießt die Soziologie, diese theoretische Fokussierung auf das Zwischenmenschliche, als eine Denkhaltung auf, die den prinzipiellen Zusammenhängen von Einzelhandlung und Gesellschaftsordnung unter veränderten Weltbedingungen nachforschen will. Da die historisch bewegte Welt zugleich eine sozial bewegte ist, wächst die Empfindlichkeit für die soziale Verankerung nicht nur der Sozialwelt im vordergründigen Sinne. Die um sich greifende sozia-

1

Vgl. Friedrich H. Tenbruck: „Zur Soziologie der Sophistik“.

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le Deutungsart bezieht ihre Erklärungsabsicht aus den erfolgsmäßig legitimierten Naturwissenschaften, und sucht nach eigengesetzlichen Ursachengefügen unterhalb der Ebene von versteiften Staatsordnungen und außerordentlichen Persönlichkeiten.2 Die Gesellschaftslogik rollt den immer breiteren Anspruchsbereich des welterklärenden Intellekts unaufhaltsam durch, bis sie sich schließlich des Nachdenkens über das Denken überhaupt bemächtigt. Soziologen treten gerne als neue Verwalter der sinnhaften Selbst- und Weltverhältnisse auf. Zur vollständigen Weltansicht ausgewachsen, bestürmt die Soziologie zuzeiten die höchsten Positionen der Philosophie als letzter Deutungsmacht: für einen so verstandenen Soziologismus sollen sich in seinen genetischen und strukturellen Behauptungen zugleich Gültigkeitsfragen entscheiden. Das ‚Soziale‘ wird dabei vom adjektivischen Gesichtspunkt immer wieder zur substantivischen Gegenständlichkeit erhärtet. Die Reihe der überhaupt möglichen soziologischen Perspektiven fächert sich von Einzeltaten, die sich an Einzeltaten anderer orientieren, bis zu selbsttragenden Ganzheiten aus. Verfolgen wir die identitätsklärenden Fluchtlinien aus dem absoluten Systemgedanken weiter, so stoßen wir auf die prinzipiellen Eckpunkte der Geselligkeit und der Ungeselligkeit des Menschen, wobei das Prinzipielle in ihrer empirischen Undurchdringlichkeit besteht. Die weiteren Begriffsbewegungen, die den Bestand der menschlichen Identifikationsmöglichkeiten in zunehmend ‚empiristischem‘ Wissenschaftsgeist verzeichnen wollen, lassen sich aus Immanuel Kants bekanntem Wort über die doppelte Beschaffenheit des Menschen – sowie aus seiner Umwendung rekonstruieren. Für Kant ist es eine Zwietracht im Menschen, seine „ungesellige Geselligkeit“, die ihn zur andauernden Verbesserung seiner angeborenen Fähigkeiten anspornt: „Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist.“3 Die soziologische Weltbearbeitung gliedert sich um die Polarität der ursprünglichen Sozialität und Asozialität des Menschen; das Spektrum reicht von seiner geselligen Ungeselligkeit bis zu seiner ungeselligen Geselligkeit. Indem nun die so gewonnenen Identitätsbegriffe über die bloße Aufzählung und schlichte Systematisierung von Faktoren hinausgehen, welche die individuellen und sozialen Lebenswelte bedingen – eine Arbeit, die 2

Vgl. Norbert Elias: „On the Sociogenesis of Sociology”.

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Immanuel Kant: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, Vierter Satz.

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unter den Kategorien des ‚Individuums‘ und der ‚Gesellschaft‘ durchgeführt wird –, steckt die persönlich beunruhigende Frage „Worin finde ich meinen eigentlichen Bestand?“ und „Ist echte Zusammengehörigkeit überhaupt möglich?“ in ihrer Mitte. Soweit es um die Möglichkeiten der Selbstidentifikation geht, schreibt sich in die Identitätsfrage, im Gefolge der konkretisierenden Anstrengungen, immer unsere Betroffenheit mit hinein. Die immer wissenschaftlicher angelegten Deutungen der zwischenmenschlichen Verhältnisse speisen sich daher nach wie vor aus der prinzipiellen Spannung zwischen dem ‚Einzelnen‘ und dem noch so besonderen ‚Allgemeinen‘. Die Leitidee der doppelten Disposition des Menschen ließ sich für den Identitätsgedanken in beiden Richtungen rationalisieren und nuancenreich sublimieren. Die Wendung der Wortwahl von Identitätsfragen zu Identifikationsfragen setzt sich dabei, der neutralisierenden Geistigkeit der modernen Wissenschaften gemäß, an breiten Forschungsfronten durch. Der altehrwürdigen philosophischen Substanzmetaphysik des „Worin etwas besteht?“ wird mit Entstehungs- und Funktionsfragen ausgewichen, im Sinne des ‚nüchtern‘ gemeinten Entschlusses, ohne jede ‚Metaphysik‘ klarzukommen.4 Die Erkenntniswelt schließt sich zu einem mechanistischen Kosmos von immanenten Ursachenreihen zusammen, der jeden transzendenten Einbruch als irrational abprallen lässt. Die Welt sollte dazu, in offensichtlicher Entsprechung zur Verunpersönlichung der Lebensbeziehungen, in ihrer weitgehend formalen Welthaftigkeit durchrationalisiert werden. Die physikalistische Kosmologie eines wissenschaftlich entzauberten Weltmechanismus kommt einem sozialwissenschaftlichen Anliegen besonders entgegen, ‚Konstitutionsprozessen‘ von Gesellschaftsgebilden auf die Spur zu kommen. Der Geist des Formalismus treibt eine immer inhaltsfreiere Relationierung von Phänomenen auch der Menschenwelt voran. Die intellektuellen Regeln des Beweisens und Experimentierens etablieren sich zur dominanten Wissensform. Das genuin politisch-sozialkritische Interesse einer Philosophie,5 die seit dem Übergang zu einer selbstbewusst aufgerichteten Poliswelt nach der besten – gottgefälligen oder eben menschengerechten – Verfassung fragt, macht eine sinnhafte Wendung zu innerweltlichen ‚Beweggründen‘ und ‚Entwicklungstendenzen‘ durch: die Konzeptionen geben sich immer empirischer, die Lehren immer induktiver, auch wenn die Beziehung zwischen Begriffen und Begriffenen gleichzeitig immer gebrochener wird. Die Interessenrichtung der aufblühenden Sozial4

Zu dieser Unterscheidung grundlegend Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, der die verschlungenen Wege von Dingbegriffen der Wesenskräfte zu Relationsbegriffen der vergleichenden Gesichtspunkte nachzeichnet.

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S. Max Weber: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, S. 146 und ders.: „Wissenschaft als Beruf“, GAWL, S. 596.

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forschung nähert sich einer geteilten Erfahrungswelt der ‚Tatsächlichkeiten‘ an. Da der Verzicht auf Wesensbegriffe, nach den eingeübten Denkgewohnheiten einer wissenschaftlichen Weltepoche, Konzepte der Identität im Geiste von ‚Möglichkeitsbedingungen‘ zeitigt, wird diese Art des abstrakten Denkens von reger historischer Aktivität begleitet. Der begriffliche Durchbruch zum Sozialen, von Spezialisten der disziplinierten Kleinarbeit in Teilanalysen weitergetragen, lässt eine Fülle von individuellen und kollektiven Sinnwelten artikulieren. Das ethnologische Interesse kann nun darangehen, die inneren und äußeren Identitätsstrukturen einzufangen, die unsere Selbstbilder je getragen hätten. Ein so geprägter Begriff sowie sein historisches Material tendiert bereits durch seine Anlage dazu, das ‚Wesenhafte‘ der persönlichen und kollektiven Identität zur bloßen ‚Vorstellung‘ zu stempeln und in seiner Glaubensmäßigkeit ins Schwanken zu bringen. Selbst die noch so organistisch geformten Begriffsvarianten zeigen eine generelle Akzentverschiebung auf Zuschreibungsmomente des Identischen zu.6 Selbstbild wird zum ortsbedingten Entwurf, der sich in die aktuell akzeptierte Sinndeutung der eigenen Gruppen einfügt – oder sich zumindest, befolgend oder abweichend, daran orientiert. Selbstdefinition stellt sich als eine gefährtenbedingte Festlegung der Handlungsmöglichkeiten dar, die sich anderen Möglichkeiten verschließt.

N ACH E INZELMASS Den sinnhaften Kern der unterschiedlichen Gestaltlehren, die von der menschlichen Geselligkeit mit welthistorischem Anspruch entworfen werden, stellen die fließenden Verhältnisse von Bekanntheit und Unbekanntheit dar, je nach dem Grad der Vertrautheit mit den Anderen – und mit sich selbst. Es wurden hierzu (Georg Simmel), durch weitgehend unhistorische Abstraktionsleistungen, inhaltsarme Formationen von persönlichen Wechselwirkungen herauspräpariert, etwa je nach Anzahl ihrer Teilnehmer, die an Kreuzungspunkten verschiedener Personenkreise eine eher durchschnittshafte, oder eben als allgemein uneinholbare Ausnahmen eine eher exzeptionelle Individualität vertreten. Das Differenzierungsmodell des Individuums lässt dieses, mit durchaus soziologischen Gesten, durch ursprüngliche Mitbeteiligung an den mannigfachsten Menschengruppen

6

Zur Entzauberung der Welt durch Wissenschaft Max Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 564; zur Wissenssoziologie der formalen Rationalisierung des Denkens Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 259ff.

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entwickeln. Die Vielfalt der eigenen geselligen Betroffenheiten in sich zu ordnen, d.h. die eigene „Eigenart zurückzugewinnen“ sei dann – in transzendentalem Geiste – die selbstbestimmende Tat der Persönlichkeit, nachdem sie sich in die ihm zugekommenen Verhältnisse hineinbegeben habe. Es wurden ferner (Alfred Schütz), und dies am selben empirischen Material, Elemente einer typisierenden Haltung gegenüber einer sinnhaften Mitwelt systematisiert, in der interpretatorischen Mitte zwischen vergangenen Vor- und kommenden Nachwelten. Die innere Bewusstseinsarbeit der lebensweltlich Handelnden gewähre Einheit und Kontinuität ihrer Orientierung an gemeinsam gedeuteten Weltinhalten, indem sie sich auf die Austauschbarkeit der jeweiligen Eigen- und Fremdperspektiven verlassen. Es wurden aber auch (Niklas Luhmann), am unveränderten geschichtlichen Rohmaterial, stabilisierte Verkehrsmöglichkeiten zwischen kommunikativen Systempositionen von ursprünglicher Labilität herausgestellt.7 Nicht einmal die harmonisch geratenen ‚Phänomenologien‘ der Persönlichkeitsund Zusammengehörigkeitsentwicklung – oder des Individuations- und Sozialisationsablaufs, wie die neugebackenen Termini heißen – können jedoch verdecken, dass in der Prioritätsfrage zwischen Individuum und Kollektivum ein empirisch kaum abzuhandelndes Moment zurückbleibt. Die Alternative des gemeinschaftlich getragenen Einzelnen und der individuell getragenen Gruppe scheint jenseits der historischen Entscheidbarkeit zu liegen.8 Das sozialwissenschaftliche Paradigma einer personalen und kollektiven Identität, die individuell von Individuen zu erkämpfen, festzulegen und anzueignen sei, liegt in reinster Form im „verstehenden“ Ansatz Max Webers, eines Universalgelehrten mit protestantisch-bürgerlicher Herkunft, eingeschlossen. Als letztlich unhinterfragter Ausgangpunkt dieses mächtigen Forschungsprogramms, das bereits durch seine rigorose Begriffslehre ins Philosophische hineinragt, gilt der handelnde Einzelmensch, der mit seinem Tun und seinem Lassen, dem Nebel des un- und halbbewussten Verhaltens entstiegen, einen wie auch immer gemeinten Sinn verknüpft. Er sei es, der als welt- und selbstdeutendes Sinnzentrum die Unmasse von deutenden Erklärungen hauptsächlich trage, die schließlich alle 7

Zur formalen Struktur der Beziehungsintensität Georg Simmel: „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“, Soziologie [1908], S. 63ff.; zur „romanischen“ und „germanischen“ Form des Individualismus ders.: „Individualismus [1917]“; zur Syntheseleistung der Persönlichkeit ders.: „Die Kreuzung sozialer Kreise“, Soziologie, S. 467. – Zu einer wissensmäßigen Gliederung der interpersönlichen Entfernungstypen Alfred Schütz: Strukturen der Lebenswelt, bes. S. 69ff. und S. 541ff. – Zu kommunikativen Systempositionen Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 191ff.

8

Zur doppelten Begründung der Soziologie durch Max Weber und Émile Durkheim ähnlich Reinhard Bendix: „Two Sociological Traditions“.

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zur „uns umgebenden Wirklichkeit“ hinführen. „Transzendentale Voraussetzung“ jeder Kulturwissenschaft ist für Weber, „daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.“ Indem hier die hermeneutische Tradition der Entzifferung von Schriftwerken auf alle Menschenwerke ausgedehnt wird, eröffnet sich für die soziologische Betrachtung eine sinnträchtige Welttextur, die in subjektiven Stellungnahmen verankert bleibt. Kultur sei ja nichts anderes, als „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens. Sie ist es für den Menschen auch dann, wenn er einer konkreten Kultur als Todfeind sich entgegenstellt und ‚Rückkehr zur Natur‘ verlangt. Denn auch zu dieser Stellungnahme kann er nur gelangen, indem er die konkrete Kultur auf seine Wertideen bezieht und ‚zu leicht‘ befindet.“ Kultur sei, mit einem Wort, der Inbegriff der menschlichen Sinngebungen – und ihrer nie zur Ruhe gelangenden Deutungen. Es ist dieser ‚anthropologische‘ Begriff der ‚Stellungnahme‘, in dem Wissenschaftslehre, Geschichtsforschung und existentielle Haltung sich verbinden. Dieser breit gefasste Formalbegriff der Kultur geht nun, nur scheinbar paradox, mit einem strengen Konzept des Handelns einher, das jede Art von bloßer Reaktivität – entspringe sie Affekten oder Gewöhnungen – ausblendet. Im Vorstellungskreis dieser bewusstseinsbetonten Tradition haben wir mit einer Aufwertung des – wie wir auch von Weber selber wissen – protestantisch mitgeprägten Subjekts zu tun, die nicht einmal von den puritansten Strängen der Reformation bedacht wurde. Die Signatur der Zeit schreibt sich in die Begrifflichkeit ein: nicht nur, ganz trivial, in die Typenlehre des Handelns, sondern auch in seine konzeptionelle Anlage. Menschliche Handlung sei ausgeübter Sinn, wobei sich der Umfang des ‚Sinn‘-Begriffs zu dem der ‚Bedeutung‘ verhält, wie die Kompetenz des „Stellung nehmenden“ Menschen zu der eines symbolerzeugenden und -verwendenden Wesens.9 Die einzig mitgebrachte Voraussetzung der wissenschaftlichen Kulturerkenntnis sei also, am diametralen Gegenpunkt zu den Totalitätsbestrebungen des Wissens, die menschliche Bedeutsamkeit des an sich Sinnleeren. Für eine Geschichtsbetrachtung welthistorischen Zuschnitts, die auf dem konsequent zu Ende gedachten Individualitätsgedanken beruht, biete der unermessliche Ge9

Zu den Grundlagen dieses Forschungsprogramms Max Weber: „Soziologische Kategorienlehre“, WuG, S. 1ff. Zur Interpretation und Explikation desselben zuletzt Wolfgang Schluchter: „Handlung, Ordnung und Kultur. Grundzüge eines Weberianischen Forschungsprogramms“. Zu Webers Menschenbild in vergleichender Perspektive Karl Löwith: „Max Weber und Karl Marx“. Webers methodologische Schriften finden sich in GAWL, Zitate S. 170 und 180.

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schichtsstrom keine überhistorischen Anhaltspunkte für seine Ausschöpfung. Die empirische Wirklichkeit führe eine Unmenge von geeigneten Perspektiven zur gedanklichen Bearbeitung der endlosen Mannigfaltigkeit vor Augen. Die Geschichte selber lege keine Orientierungspunkte für ihre an sich gültige Systematisierung fest: nicht einmal die sublimste Abstraktion vermöchte es, sich aus ihrer durch und durch historischen Gegenwart hinauszureflektieren. Ins unermessliche Sinngeflecht, das allenthalben von sinnfreien Einschlägen durchwoben sei, eine Ordnung für uns zu bringen, liege den Wissenschaften vom Menschen ob. Die transzendentale Einsicht, dass wir uns bis zur Dingwelt an sich nicht durchschlagen können, wird hier auf die geschehende Welt übertragen. Indem der Mensch im an sich homogenen Ereignischaos, das jede vorgegebene Einheit entbehre, geistige Ordnung stifte, greife er die perspektivistisch bedeutungshaften – mit Sinn bedachten – Zusammenhänge heraus, um sie zu Begriffen zu gestalten. Die so gegossenen Gebilde seien von der historischen Wirklichkeit, wie sie „eigentlich gewesen“, durch eine „irrationale Kluft“ getrennt, die von keinem Quellenstoff aufgefüllt werden könne. Die „idealtypischen“ „Grenzbegriffe“, die von den immer einmaligen Geschichtsfiguren mit einem Gespür für ihr Gewordensein geprägt werden, haben die je individuellen Bedeutsamkeiten auf vorausgehende Konstellationen von Individualitäten zurückzuführen. Die prinzipielle Nichtidentität von Denken und Sein versperrt den Weg zu einer geschlossenen Weltgeschichte der Identität ab: das Bild der eigensten Eigenart müsse in vergleichenden Fragmenten in wiederholten Anläufen neugezeichnet werden.10 Die nur noch „regulativ“ gemeinte Einheitsperspektive für die unendliche Mannigfaltigkeit besteht für Weber gerade in der „Eigenart“ des „okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus“. Es ist ja nicht mehr der eine, innerlich noch so beziehungsreich gegliederte Weltgeist, der hier seinen historischen Weg der Selbstentfaltung durchläuft. Da „Rationalität“ für eine restlos historische Sicht nichts zeitlos Bleibendes bedeute, könne sie auch kein Einheitsprinzip eines Geschichtsganzen darbieten. Jede Sphäre der Welt sowie der Hinterwelt könne verschiedentlich – von unterschiedlichen Urerfahrungen getrieben, nach unterschiedlichen Voraussetzungen ausgerichtet – rationalisiert, d.h. mit innerer Konsequenz theoretisch und praktisch in bearbeitenden Angriff genommen werden. Die verschiedenen Typen der historisch gewachsenen Rationalismen werden aus dem Blickpunkt unserer eigenen Weltepoche gesichtet: die charismatisch verklärte Vernunft, diese große Hoffnung der Aufklä10 Siehe vor allem Weber: „Objektivitätsaufsatz“, GAWL, S. 146ff. Zu Webers Geschichtsauffassung Zoltán Hidas: Entzauberte Geschichte. Die Webersche und die Hegelsche Begriffslehre stellen prinzipielle Kontrapunkte des Identitätsdenkens dar.

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rung, entzaubert sich hier zu einer von mehreren Rationalitäten, auch wenn sie uns – zeitlich wie innerlich – am nächsten liegen möge. Den dialektischen Vermittlungen der einen Weltvernunft steht hier eine unversöhnliche Vielfalt von Rationalismen gegenüber. Im Mittelpunkt der so angelegten „Soziologie und Typologie des Rationalismus“ stehen demnach die verschiedenen Ausprägungen der Welt- und Selbsthaltung, die sich hochkulturell Geltung verschafft hätten.11 Sobald der Mensch, dem „organisch vorgezeichneten Kreislauf des natürlichen Lebens“ in den antiken Kulturreligionen entstiegen, die Ungeschiedenheit seiner Innenwelt einbüßte, wurde er nach Weber Bewohner zweier Sphären. Die prinzipielle Einheit des magisch gesättigten Weltbilds, dessen „Zaubergarten“ der naturgegebenen Einheitlichkeit des Welterlebens entsprach, spaltete sich immer unwiderruflicher entzwei. Die Konsequenz der überweltlichen Symbolisierung baute, jenseits des bloß Gegebenen und Geschehenden, prinzipiell eigenständige Hinterwelten von Bedeutsamkeiten aus. Das fortschreitende Abrücken von der „naive(n) ‚Weltbejahung‘ des ungebrochenen Menschentums“ führte zur verklärenden Bereicherung einer Gegenwelt, die als Stätte der „Erlösung“ oft einen positiven Abdruck des irdisch jeweils Irrationalen aufzeigte. Wenn der vollständige Kosmos der menschlich neutralen „Naturkausalität“ und der ebenso vollständige Kosmos der gerechten „Vergeltungskausalität“ nicht mehr miteinander in Deckung zu bringen seien, verlagern sich die Lebenshoffnungen auf ein wie auch immer geartetes Nachleben über den Tod hinaus. Indem diese tiefgehende Entzweiung, durch Erfahrungen des ungerechten Leidens bisweilen zur Unerträglichkeit gesteigert, eine distanzierte Haltung allen nichtreligiösen Kulturinhalten gegenüber bewirkte, erwarb der Mensch die fordernde Fähigkeit, der ganzen „geformten Welt“ entgegen für sich zu bleiben. Der „außerweltliche“ Mensch sehe sich mit einer ethisch immer mehr entwerteten Kultur konfrontiert, die sein Verweilen in ihr durch die Sinnlosigkeit des Todes immer sinnloser erscheinen lasse.12 Eine Gruppe von Menschen widmete sich nun, als geistige Anführer des Ausbruchs aus dem traditionalistisch gebundenen Alltag, einem prinzipiengeleiteten Leben, in einem zunehmend unweltlichen Grübeln über den Weltverlauf. Die allgegenwärtige Erfahrung der Irrationalität des Geschehens brachte Rationalisierungsprozesse der Sinnhaftigkeit in Gang: die spezifisch Sinnbedürftigen arbeiten sich zu deren eminenten Trägern heran. Sie waren es, diese Virtuosen 11 Vgl. Weber: „Vorbemerkung“, GARS I, S. 11f. und „Zwischenbetrachtung“, ebd., S. 537. Zu den geistigen Durchbrüchen, die auf Webers zentrale Fragestellung hinführen, Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung 1, S. 40ff. 12 Weber: GARS I, S. 570, 513, 263, 252 und 569 („Einleitung“ und „Zwischenbetrachtung“).

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des Intellekts, die das Ganze der Welt aus innerem Antrieb zum ersten Mal als Problem betrachteten, um zur äußersten Verschärfung von Sinnfragen in einer einheitlichen Stellungnahme vorzudringen. Ihre Gedanken können – eminent soziologisch gesehen – durch ihren Abstand von denen charakterisiert werden, die, in sich reich gegliedert, „praktisch handelnd im Leben“ stehen. Sowohl ihre äußere, wie auch ihre innere Interessenlage ermöglichte es ihnen, sich aus den alltäglichen Bedrängnissen hinauszudenken. Die relative Ungebundenheit ihrer Ideen ließ eine ganze Reihe von „Weltbildern“ entfalten, die die Welt als immer erlösungsbedürftiger aufzeigten. Das „metaphysische Bedürfnis“ des Menschen, im Äußeren durch Verinnerlichung einen Sinn und aus den innersten Spannungen einen Ausweg zum Einen zu finden, verschaffte sich die prinzipiell unterschiedlichsten Lösungen. In ihrer Mitte stehe allerdings die gemeinsame Frage jeder religiösen Prophetie und nichtreligiösen Philosophie: „wenn die Welt als Ganzes und das Leben im besonderen einen ‚Sinn‘ haben soll, – was kann es sein und wie muß die Welt aussehen, um ihm zu entsprechen?“ Bis an die Schwelle der Neuzeit manifestieren sich die mächtigsten Sinnkonstruktionen, von Propheten als Charismatikern der Erleuchtung verkündet, in religiösen Theodizeen, die sich dem Problem „der Irrationalität der Welt“ widmen. Ihre Übersicht biete Einblick in die welthistorische Vielfalt von rational unergründlichen Entscheidungen, die den großen Erlösungskulturen mit ihren bevorzugten „Menschentypen“ weltanschaulich unterliegen.13 Das Streben nach Selbstbehauptung formte, in die Welt von grundsätzlichen Dualitäten eingespannt, eine Reihe von historischen Subjektmöglichkeiten aus, von der konfuzianischen Selbstvervollkommnung zum literarisch durchkultivierten Gentleman in der besten aller möglichen Welten bis zur puritanen Gesamtlebensführung als Gottes Werkzeug inmitten einer kreatürlich verderbten Welt. Der chinesische Sinn einer erlösungsfreien Selbstbeherrschung bestehe im Ideal der allseitig ausgebildeten Weltmenschen, der das äußere Gefüge des Weltkosmos in seiner Persönlichkeit harmonisch abbilde; in der Erfüllung der überlieferten Pflichten nehme er seine Stelle unter dem Himmel anmutig und würdevoll an, ohne sein Gleichgewicht durch irrationale Leidenschaften erschüttern zu lassen. Die Radikalisierung der religiösen Weltablehnung, vom häufigen Versagen jeden ethisch-einheitlichen Weltsinns vorangetrieben, entwertete indessen, mit der zunehmenden Ausfeilung

13 Weber: GARS I, S. 254 und 572; ders.: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 275; ders.: „Politik als Beruf“, GPS, S. 542.; ders.: „Soziologische Kategorienlehre“, WuG, S. 21f.

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der innerweltlichen Kulturgüter, alle bloß diesseitig ausgerichtete Selbstformung bis zur völligen Sinnlosigkeit.14 Jede Religion, die den Menschen, das Punktuelle der Riten und Gesetzen überwindend, durch einheitliche Gesinnung orientiere, rüste ihn für eine innengesteuert eingeübte Lebenspraxis aus. Die gelegentliche Wiedergeburt in der lebensspendenden Ekstase vermöge ja, so die Einsicht der religiösen Lebensrationalisierung, keinen Dauerhabitus zu gewähren. Die prophetische Forderung eines konzentrierten Lebens, d.h. einer „bewußt einheitlichen sinnhaften Stellungnahme“ zu ihm, führe sowohl im Orient, wie auch im Okzident aus der traditionellen Lebenswelt heraus: die Leistung der Prophetie sei „die systematische Orientierung der Lebensführung an einem Wertmaßstab von innen heraus“.15 Die virtuos weltflüchtige Geste des indisch-orientalen Menschen lehne dabei jede Art von Welt- und Selbstgestaltung als erlösungsgefährdende Verwicklung in das sinnlose Weltgetriebe ab. Jede äußere und innere Regung binde ihn ja, durch die ihr innewohnende Leidenschaft, an die flüchtige Scheinwelt der Vergänglichkeit, was ihn von seiner methodisch betriebenen Selbsterlösung aus dem endlosen Rad der Wiedergeburten immer ferner abrücke. In der Wurzel jeden Leidens werde das individuell geformte Leben erkannt und aus diesem Grunde geflohen.16 In der immanenten Ordnung des unpersönlichen Göttlichen gedeihe eine ihm wahlverwandte Haltung der weltablehnenden Mystik, die sich, das Göttliche wie ein Gefäß in sich aufnehmend, von der Welt radikal abwende. Im weiten Horizont von befriedeten Großreichen neige ja die philosophische Spekulation, unter dem mächtigen Eindruck der ewigen Wiederkunft des Gleichen, zur Verunpersönlichung der Weltmechanismen. Die religiös angetriebene Enthaltung von jeder Aktivität in der Welt lasse breiten Raum für die Sublimierung von Sinngedanken. Da die so gerichtete intellektuelle Durchdringung der Welt, von einer entpolitisierten Priesterschicht getragen, schließlich in die ungeformte „Leere“ der Seligkeit ausmünde, vermöchte die Lebensmethodik der mystischen Heilssuche keine Lebenseinheit im Sinne einer konstanten Persönlichkeitsgestaltung zu stiften. Die letzte Konsequenz des gottinnigen Aufgehens im All-Einen bestehe im außerweltlichen Verzicht auf ‚Persönlichkeit‘ überhaupt: die kontemplative Selbstentleerung könne erst in der völligen Ichlosigkeit ausruhen, was dem okzidentalen Beobachter einer sich verlierenden Selbstaufgabe gleich14 Vgl. Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 567ff. Zur Gegenüberstellung der Selbsthaltungen der Weltanpassung und der Weltablehnung ders.: „Konfuzianismus und Taoismus“, GARS I, 512ff. 15 Weber: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 324 und 275; ders.: „Konfuzianusmus und Taoismus“, GARS I, S. 521. 16 Vgl. Weber: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, S. 331ff.

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kommt. Für die Unerbittlichkeit des Buddhismus stelle eben der Wille zum ‚Ich‘, diesem bleibenden Träger aller Sensationen, die hartnäckigste aller Begierden dar. Auch wenn schwer zu erlöschen, mache der Durst nach Leben nicht einmal die Seele unvergänglich im Wellenschlag der Nichtigkeiten. Der innerweltliche Heilsweg von geminderter Folgerichtigkeit schreibe dem Hindu die korrekte Befolgung seiner kastenmäßigen Verpflichtungen vor, die ihm eine Stelle im organisch gegliederten Ganzen auf Lebenszeit zuweisen. Sein Teildharma, aus dem kosmischen Einheitsdharma abgeleitet, schreibe ihm berufsgebundene Ritualhandlungen vor, deren Charakter weitgehend der „Natur der Sache“ entspringe. Die Ethisierung des Lebens bleibe so, diesseits einer verinnerlichten Wertetotalität, bei der Vollführung von technisch bedingten Kunstlehren stecken. Für eine bedachte Position innerhalb der Welt biete sich die innerlich unbeteiligte Ausübung des angeborenen Berufs, wie in der Bhagavadgita, dieser literarischen Höchstleistung des Hinduismus bezeugt. Das karmische Inventar der sittlichritualen Verdienste und Verschuldungen bestimme die nächste Wiedergeburt des religiös durchaus einsamen Einzelnen: die gemäßigte Heilsprämie bestehe in der Verbesserung seiner Geburtschancen im drauffolgenden Erdenleben. Die Seelenwanderung sei die angemessene Lehre für einen dauernden Träger der Ausgleichskausalität durch die Wiedertode hinaus: dies mache die Seelenlehre zu einem Kernstück aller indischen Philosophie.17 Die Frage nach Anspruch und Möglichkeit eines durchrationalisierten Gesamtlebens führt den vergleichenden Blick in die eigene Vergangenheit des jüdisch-christlichen Okzidents weiter. Der biblische Prophet fordere, in bedrohten Zwischenräumen von kriegerischen Großreichen, Treue zum eigenen Gott als überweltlichen Vertragspartner. Jahwes „Sache“ allein sei es, was ihn bewege und seinem Wort das unverkennbare Pathos aufpräge. Sein Interesse gelte dem Zukunftsschicksal des Volksganzen, der sich an dem Wandeln der Volksgenossen vor Gott entscheide. Die einheitliche Durchrationalisierung des Einzellebens finde ihre Schranke an der Grenze der Gruppe: das prophetisch verkündete Heil bleibt an die eidgenossenschaftlich gestiftete Volkseinheit gerichtet. Die altjüdische Theodizee verspreche immanente Transzendenz in den Nachfahren. Erst das Christentum brachte hier nach Weber eine Wandlung, die freilich in der Konsequenz des Judentums steht. Der mittelalterliche Christ führe zwar sein Leben in der Hierarchie der göttlich festgefügten Lebensordnung. Für die vollständige Durchorganisierung der Lebenstaten habe jedoch nur der außerweltliche Mönch heilbringende Richtlinien zur Verfügung. Weber leitet nun die innere 17 Vgl. ebd., S. 191ff, 171ff. Zum kontemplativen Erlösungsweg im Gegensatz zum asketischen z.B. „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 328ff; zu den äußeren Bedingungen der Gotteskonzeptionen „Konfuzianismus und Taoismus“, GARS I, 298ff.

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Entstehungsgeschichte des konzentrierten Berufsmenschentums aus der Selbstdisziplin des puritanischen Protestanten ab: jeder solle ja, so die berühmte Devise Luthers, innerhalb der Ordnungen der Welt zum Mönch werden. Kohärenz und Kontinuität des individuellen Gesamtlebens, diese Attribute einer als Eigenleistung verstandenen Identität tauchen in den reformatorischen Bewegungen zum ersten Mal auf. Unter den innerweltlichen Lebensmöglichkeiten entsteht hier die Option, die eigene Person – aufgrund der verwickelten Psychologie der Prädestinationsidee – aus innerer Notwendigkeit zu einem Ganzen zu rationalisieren. „Das occidentale Ideal der aktiv handelnden, dabei aber auf ein, sei es jenseitig religiöses, sei es innerweltliches, Zentrum bezogenen ‚Persönlichkeit‘“18 erlangte seine bis heute maßgebende Ausprägung im protestantischen Christentum. Mit der Abschaffung der sakramentalen Beichte erkläre der Christenmensch, der in seiner langen Geschichte ein empfindsames Gewissen in sich entfaltete,19 eine zentrale Institution der äußeren Selbstkontrolle für machtlos, um die Höchstinstanz der religiös-moralischen Selbstbeurteilung nach innen zu verlegen. Zugleich verzichte er auf die beliebigen Unterbrechungen der Lebenskontinuität: aus der Perspektive des Heils könne das Lebensganze unbehindert durchschaut, d.h. von seinem Anfang bis zu seinem Ende durchrationalisiert werden – und im Interesse der Selbsbewährung soll es auch tatsächlich erfolgen. Seine konsequente und kohärente Persönlichkeit erbaue er mit Hilfe „eingeübter“ Motive, während er alles Unsystematische in sich methodisch absterben lasse.20 Das biblische Gebot der Welt- und Selbstbeherrschung liege nun mit voller Schwere auf all seinen Taten. Die an religiösen Heilswerten orientierte innerweltliche Arbeit am Selbst füge die eigenen Lebenselemente zu einem Gesamtdasein im rühmenden Dienste des überweltlichen Gottes zusammen, was freilich eine gewisse Unselbständigkeit impliziere. Ein durch ständige Selbstreflexion begleitetes Leben aus „letzten einheitlichen Wertpositionen heraus“21 sei im engeren Sinne „Lebensführung“, ihr Träger aber, zu immer souveräneren Entscheidungen gedrängt, im engeren Sinne „Persönlichkeit“ zu nennen. Die rationale Erziehungsarbeit der Sekten, die den Außenhalt zur Selbstkonzentrierung gewährte, drang dabei, effizienter als jede kirchliche Befehlsgewalt, zur „Selbstbehauptung im Kreise der Genossen“. Vor wachsamen Augen von seinesgleichen wuchs der sich selbst beherrschende Puritaner heran. Für die weltgestaltende „Askese“, aus dem Kloster hinausgetreten, werde die Welt, religiös noch so ent18 Weber: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS II, S. 373. 19 Vgl. dazu Alois Hahn: „Zur Soziologie der Beichte“. 20 Vgl. Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, GARS I, S. 115ff. 21 Weber: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 280.

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wertet, zur Stätte der systematisierten „Werkheiligkeit“.22 Der aus philosophischen und theologischen Quellen gespeiste Einheitsgedanke werde, auf die Person bezogen, in der Methodik eines so „geführten“ Lebens massenhaft praktisch. Von hier aus war nun der Weg, unter zunehmend entzauberten Weltbedingungen, für theoretische Bearbeitung der praktischen Einheit frei – etwa im Zeichen von rein formalen Handlungsmaximen. Ja, der Wille zur Identität könne nun sogar den inneren Einklang eines kunstvoll stilisierten Lebens prinzipiell haben wollen, auch wenn diese Einheit, den Eigengesetzlichkeiten der rationalisierten Kunst gemäß, auf die Form beschränkt bleibe. Die „Persönlichkeit“ erweist sich somit als konsequent rationalisierte Steigerungsform des Stellung nehmenden Menschen.23 Der Protestant wollte noch, um Webers berühmte Worte zu paraphrasieren, ein Mensch der Identität sein, wir müssen es – unter immer mehr zugeschärften Umständen, in immer heterogenere Eigengesetzlichkeiten der Lebensordnungen eingespannt – sein. Der Mensch des modernen Okzidents solle in restloser innerweltlicher Lebensreglementierung zu sich finden. Der innere Anspruch auf ein konstantes Selbstverhältnis blieb allerdings, mit dem Eifer des aufstrebenden Kleinbürgertums verwoben, gruppenhaft verankert. Ja, noch breitere Zusammenhänge zwischen Geistigem und Materiellem tun sich hier auf: das religiöse Ideal des berechenbaren Menschen komme ja den Interessen eines kalkulierenden Wirtschaftslebens durchaus entgegen. Das in sich gesammelte Ich, diese Bedingung des kapitalistischen Weltbetriebs, beziehe seine Kraft aus religiösen Motiven. Die Bilanzführung der Tugenden sei mit einem kapitalistisch perfektionierten Rechnungswesen wahlverwandt. Das Bedürfnis der persönlichen Identität im Sinne einer vollständigen Lebenskonstanz fand auf dem Boden eines kalkulierenden Wirtschaftens Verbreitung. Indem die formalrechtliche Rationalisierung der Lebensverhältnisse die Stabilität des Innenlebens – die verleiblicht-mechanisierte Bereitschaft zur rentablen Ausführung von Sachaufgaben im Großbetrieb – begünstige, bewirke die handlungsformende Kraft der wirtschaftlichen Lebensordnung eine Vereinheitlichung der Lebensführung von außen her. Der eingefahrene Hochkapitalismus komme schließlich ohne religiösen Unterbau aus: der Eigenwert des berufsmäßig durchrationalisierten Selbst werde zum unentbehrlichen Mittel der zielstrebigen Erwerbsarbeit zweck-

22 Weber: „Die protestantische Ethik…“, GARS I, 114. 23 Vgl. Hans-Georg Soeffner: „Luther. Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherisch-protestantischen Individualitätstypus“, S. 50: „Ein Kausalitätsmuster eigener Art entsteht, das jedem Ereignis sein ‚weil‘ und ‚um zu‘ zuweist, das den Zufall eliminiert und aus jeder Autobiographie eine individuelle Heils- und Versagensgeschichte macht: die Autobiographie wird erzählbar.“

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rationalisiert.24 Durch weitere Stützen der Disziplin – etwa den Bedarf der Herrschaft an der ergebenen Vollbringung von Geboten, die ihren Höhepunkt in der kriegerischen Hingabe an eine gemeinsame Sache erreiche – werde die personale Kohärenz vervollständigt. Auch wenn der heutige Mensch sich in einem weitgehend säkularen Weltgehäuse vorfinden mag, lastet das Erbe des Gebots einer Gesamtlebensführung, so Webers persönliche Stellungnahme, nach wie vor auf seinen Taten. Soll das Leben nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewusst gelenkt werden, so müsse hinter dem Leben als Ganzen „eine Kette letzter Entscheidungen“ liegen, „durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: – den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das − wählt.“ Ohne hier auf den unausgeführten Verweis auf Platon näher einzugehen: Konstanz und Einheit der Persönlichkeit könne die bloß naturgegebene Einheitlichkeit des sich vorfindenden Individuums nur dann übertreffen, wenn sie sich als Produkt eines stetigen und konsequenten Entscheidungsprozesses ergibt. Persönlichkeit sei nicht unterpersönlich, im „vegetativen ‚Untergrund‘ des persönlichen Lebens“ vorgebildet, dessen originäre Temperamente einfach stimmungsvoll, im Geiste einer romantischen Persönlichkeitsentfaltung, freizulassen wären. Das Leben kenne ja nur „die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.“25 Die Webersche Auffassung der „Persönlichkeit” weist über die einfache Beschreibung eben in Richtung einer solchen Aufgabe für das Menschentum hinaus. Eine Persönlichkeit mobilisiere außeralltägliche Kräfte gegenüber den verflachenden Mächten des Alltags in seinem Inneren, was seinen Entscheidungen Züge einer eminent religiösen Haltung aufprägt. Seine Einstellung sei eine virtuose Leistung: eine fortwährende Selbstüberwindung gegenüber den Verlockungen des Alltags. Er stelle Anforderungen sich selbst gegenüber, denen er, „außer in großen Höhepunkten seines Daseins, generell nicht gerecht zu werden vermag, die als Richtpunkte seines Strebens im Unendlichen, wegweisend, liegen.”26 Die Motivationsgrundlage des Auf-sich-gestellt-Seins bestehe, nach 24 Vgl. Weber: „Die protestantische Ethik…“, GARS I, S. 203f. Dass auch die Idee der Menschenrechte, im modernen Kosmos von abstrakten Rechtsnormen erwachsen, mit Marktverbreitungsinteressen einer ungehinderten Kapitalverwertung zusammenhänge, betont Weber in seiner „Herrschaftssoziologie“, WuG, S. 725f. Zur „Disziplin“ ebd., S. 681ff. 25 Weber: GAWL, S. 507f, 132 und 608 („Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“, „Wissenschaft als Beruf“). 26 Weber: Briefe 1906–1908, S. 399.

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urzeitlichen Ansätzen von animistischer Verkörperung höherer Mächte, in der leidenschaftlichen Hingabe an eine „Sache“, die an der Grenze zwischen affektiver Ergriffenheit und entschlossener Wertbindung aufbreche. Das als wertvoll Gemeinte müsse, wie schon von Kant hervorgehoben, auch gewollt werden. Die moderne Idee der Selbstgesetzgebung nimmt hier eine höchst heroisch-individualistische Gestalt an. Die äußeren Bedingungen der Selbstwahl liegen nun für Weber, wie seinen zeitdiagnostischen Ausführungen zu entnehmen ist, im Druck von eigenmächtig gewordenen Lebensordnungen, die den Einzelnen nach immer unverträglicheren Wertperspektiven innerlich auseinanderzutreiben drohen. Die Forderung, „sich seine letzten Ideale autonom zu stecken, tritt an den Einzelnen“ in der wertreichen Heterogenität des Religiösen, des Wirtschaftlichen, des Politischen, des Künstlerischen, des Erotischen und des Wissenschaftlichen heran.27 Persönliche Identität sei in einer Welt der unversöhnten Differenzen zu stiften. Dem modernen Alltag sei der Mensch demnach nur gewachsen, falls er seine eigensten Gewissheiten mit heroischen Gesten verinnerlicht und sich vorbehaltlos seiner gewählten Sache widmet. Sein „individuelles Gesetz“,28 d.h. seine letzten Stellungnahmen, die auch seinem So-und-nicht-anders-Sein Rechnung tragen, erweisen sich nicht ihre allgemeine Gültigkeit. Sei er der überweltlichen Anhaltspunkte für seine Wahl verlustig gegangen, so habe er seine Ideale „aus der eigenen Brust“ zu holen. „Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß ‚Weltanschauungen‘ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren.“ Die Weber vorschwebende Persönlichkeit ist jedoch, seinen Intentionen nach, das allgemein Menschliche: um Kierkegaard zu paraphrasieren, jeder kann und soll Persönlichkeit werden, will er kein „Ordnungsmensch“ werden oder sein Leben in gedämpfter Unbewusstheit vergehen lassen. So sei das Gegenbild der verantwortenden Persönlichkeit der nie entscheidende Mensch mit geschrumpftem Entscheidungswillen, der am ganzen

27 Weber: „Roscher und Knies“, GAWL, S. 40. Zur Systematisierung der Lebensordnungen nach dem religiösen Weltablehnungsmotiv Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 536ff. 28 Ein Begriff Georg Simmels, siehe seine gleichnamige Arbeit; vgl. auch Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung 1, S. 259ff.

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Wesen bebe, „wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt“.29 Die Idee des sinngebenden Individuums gibt an Stellen wie diese ihre weltanschauliche Verankerung kund. Es ist dieselbe Sicht des „Stellung nehmenden“ Menschen, die die Webersche Grundbegrifflichkeit der sozialen Verhältnisse durchzieht. Jede gemeinsame Ordnung bedeute einen vorübergehenden Zusammenhang, dessen Bestehen überhaupt von ihrer je individuellen Akzeptanz „Chance“ bekomme. Wie das Fortbestehen von geltend gedachten Ordnungen an der aktiven oder passiven Zustimmung von Einzelnen hänge, so seien auch die „genuinen“ – das immer schon gültig Gewesene und das rechtmäßig Gesetzte verlassenden – Geschichtsbewegungen ebenso individuell angestoßen. Das herrschaftliche „Charisma“ stellt für Weber die „spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte“ dar, indem es die Welt „von innen heraus“ revolutioniert. Die absolut einzigartigen Taten des „Schöpfers der Ideen oder ‚Werke‘“30 bringen mit ihrer Wirkmächtigkeit die geselligen Strukturen der Welt immer wieder in neuen Gang. Der zentrale Aspekt des persönlichen Charisma bestehe so in der Fähigkeit der Person, das Bestehende zu brechen, d.h. dem Sinn nach neuzugestalten. Als reinste Typen des charismatisch Herrschenden führt Weber den Propheten, den Kriegshelden und den großen Demagogen an. Sie repräsentieren den Menschen, der sogar die Kraft besitze, neue Ordnungen zu schaffen und ihre Wahrheit vor anderen dauernd zu heiligen. Ihre ungebundene Souveränität berufe sich dabei auf etwas „nie Dagewesenes“: etwa ihre persönliche Offenbarung, die Kraft ihres Schwertes – oder eben, zunehmend unpersönlich, die von ihnen eingesehene allgemeine Vernünftigkeit.31 Wie aber gewisse Fähigkeiten unter spezifischen Umständen, wie „Begeisterung oder Not und Hoffnung“, als charismatisch anerkannt werden, so weist der Begriff selber auf seine äußeren Entstehungsbedingungen hin. Die verschlechterten Chancen eines Ausbruchs aus versteiften Zwangsordnungen der Moderne lenken den theoretischen Blick unschwer auf einstige Fluchtpunkte in wahlverwandten Situationen zu. Der angeschwollene Anspruch auf Selbstbehauptung mag für Ausnahmegestalten der Vergangenheit eine besondere Sensibilität erwecken. Wie jeder Idealtyp vom Sinn für die Entstehung des Einmaligen gezeichnet werde, so bilde der Idealtyp des persönlichen Charisma den Grenzbegriff der Souveränität, vom Sinn für den

29 Weber: „Debattenreden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909“, GASS, S. 414. und 420. 30 Weber: „Soziologische Kategorienlehre“, WuG, S. 16ff und „Herrschaftssoziologie“, WuG, S. 658. 31 Zum „Charisma der Vernunft“ Weber: ebd., S. 726.

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außerordentlich Einzigartigen getragen.32 Die charismatischen Individuen vertreten ja die persongebundene Möglichkeit der „Außeralltäglichkeit“. Das charismatische Interesse zehrt so, über die kultische Empfindlichkeit der Zeit für „große Persönlichkeiten“ hinaus, aus einer konsequent individuellen Sakralisierung des Subjekts. Was nun die geselligen Selbstbindungen eines so konzipierten Menschentums betrifft, ist es eine bleibende Überzeugung Webers, die er auch in die Fundamente seiner Gesellschaftslehre einlässt, dass es nur aus Zweckmäßigkeitsgründen einen Sinn mache, überindividuelle Ordnungsgebilde mit einem Maß an Objektivität auszustatten, das die von Vorstellungen „in den Köpfen realer Menschen“ übersteige.33 Das Begriffsgefüge der verstehenden Soziologie entwickelt sich in Auseinandersetzung mit organizistischen Gemeinschaftsideen zu seiner ausgereiften Form. Das Hegelsche Modell des emanierenden Geistes inspirierte ja eine lange Reihe von Epigonen, welche die Gattungsbegriffe als real existierende Kollektiven behandelten.34 Im metaphysisch beladenen Volksbegriff wird die Erklärung des Gemeinschaftlichen, das die Reichweite des Individuums übersteige, von überpersönlichen Kräften erhofft, die dem lebendigen Wesen der Völker entströmen sollen. Nach gängiger Historikermeinung der Zeit bezeugt die in Quellen erreichbare Vergangenheit den Aufstieg, die Blüte und das Absterben der Kulturen sowie der sie tragenden Völker. Ihre eigenste Sprache, ihre Vorstellung vom Guten, Wahren und Schönen sowie ihre ganze Verfassung entstehen und vergehen mit ihrem innersten Wesen. Die organistischen Theorien teilen, trotz erheblicher Differenzen nach Inhalt und Tragweite, die Vorstellung, dass die unzähligen Lebensströme immer die gleiche Bahn durchlaufen, auch wenn diese durch historische „Zufälligkeiten“ gefärbt werde. Wissenschaftlich aufzudecken seien die Gesetzmäßigkeiten dieser Lebensprozesse. Der schließlich ungreifbare Volksgeist, der Züge einer lebendig-einheitlichen Persönlichkeit aufzeige, verhalte sich dabei als geheimnisvolle Mitte zu seinen verschiedenen Anlagen und Äußerungen wie der vermeintliche Kern eines menschlichen Individuums zu seinen Eigenschaften und seinem Verhalten. Die Erfahrung kennt aber nach Weber den handelnden und leidenden, sein Tun und Erleiden in umfassende Sinnzusammenhänge hineinwebenden Menschen als ausschließliches Subjekt des Geschehens; in der sozialen Welt ist sie mit den gewollten und ungewollten 32 Vgl. Johannes Weiß: „Le charisme. Aux frontières de la sociologie“. Zur Grenzhaftigkeit des Idealtyps Weber: „Objektivitätsaufsatz“, GAWL, S. 194. 33 Weber: „Soziologische Kategorienlehre“, WuG, S. 7. Über die Rolle von Kollektivbegriffen ebd., S. 6 ff. und S. 13. 34 Vgl. „Roscher und Knies“, GAWL, S. 144; zu Webers Kritik an den organistischen Sozial- und Geschichtstheorien seiner Zeit ebd., S. 22 ff.

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Folgen seiner Taten konfrontiert. Weber arbeitet an einem theoretischen Modell des Gesellschaftlichen, das auf der Idee der Einzigartigkeit der Individualität beruht. Der soziale Kosmos als ein Zusammenhang von verschränkten Sinnwelten soll aus seinem subjektiven Sinnzentrum heraus eingefangen werden. Da nur Individuen aus Fleisch und Blut zu Trägern von sinnhaften Handlungen werden können, bedeute jedes Kollektiv ein Geflecht von aneinander orientierten individuellen Handlungen. In dieser Perspektive sei sogar die „Chance“ des Bestehens von Menschengemeinschaften an den Glauben der Zusammengehörigkeit gebunden. Die gegenseitigen Beziehungen entsteigenden Strukturen bleiben auf Bestätigung durch immer neue Einzeltaten angewiesen. Auch das gemeinsamste Lebensschicksal könne sich nur durch seine anerkannte Geltung zur Schicksalsgemeinschaft stabilisieren. Die objektivistisch gemeinten Gruppensubstanzen werden von Weber zu Prozessen von „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ dynamisiert. Die Verschiedenheiten von angeborenen Anlagen und kontingenten Lebensweisen müssen – im Sinne einer „tagtäglichen Volksabstimmung“35 – zu bewusst gepflegten Traditionen gerinnen, um Gemeinschaft beseelen und aufrechterhalten zu können. Das Gemeinschaftliche stelle eine Wirklichkeit dar, deren Dauerbestand an der An- oder eben Aberkennung von der Seite des Einzelnen liege, der sich in seinen Beziehungen erhalte und erneuere. Die Zuständlichkeit, die vom Mitsammensein in ihm erweckt werden sollte, sei auf bewusste Akzeptanz angewiesen. Auch die noch so naturgegebene Gemeinschaft, wie die der Sippe und der Nachbarschaft, sei gedeutete Verbundenheit; Fremdheit aber bewusst gemachte Verschiedenheit. Die elterliche Fürsorge sei erst zur wie auch immer gearteten Familie zu vergeistigen, um aus der „urwüchsig“ scheinenden Enge der Versorgungsgemeinschaften herauszubrechen. Was etwa die Möglichkeit einer politischen Erinnerungsgemeinschaft angeht: jeder Einzelne müsse das gemeinsame Erinnerungsgut aufgrund seiner privaten, allgemein undurchdringlichen Erinnerungen zubilligen können. Er könne aber auch seine eigensten Erinnerungen zum Gemeingut stiften, gelinge es ihm, für seine Sache mit charismatischer Geste Gefolgschaft zu finden.36 Aus Gefühlen und Interessen heraus verbinden sich die Menschen, sobald sie sich in ihren Handlungen aneinander ausrichten. Die gefühlte Zusammengehörigkeit, dieses Lieblingsstück des romantischen Organizismus, stellt also für Weber einen Sonderfall der zwischenmenschlichen Beziehungen dar, die zur Gegenseitigkeit veranlassen. Eine schichtbildende Grundlage der gruppenmäßi35 Zu dieser Wendung Ernest Renan: „Qu‘est-ce qu‘une nation? [1882]“ 36 Vgl. Weber: „Soziologische Kategorienlehre“, WuG, S. 1ff und 140ff. Zu den historisch maßgeblichen Familienformen ders.: „Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in ihrer Beziehung zur Wirtschaft“, WuG, S. 212ff.

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gen Identifikationen bestehe in der Wertschätzung, die der gemeinsamen – angeborenen oder angelernten – Lebenslage entgegengebracht wird; sie finde ihren symbolischen Ausdruck in der härtesten Wirklichkeit der Tisch- und Ehegemeinschaft. Wie auch immer, der eigentliche Ort der Vergemeinschaftung sei der Emotionshaushalt der Beteiligten. Gemeinschaftliche Empfindungen heften sich zumeist an naturwüchsige Gemeinsamkeiten, um das Unterschiedliche bis zum Gegensätzlichen aufzuschüren. Gemeinsam verfolgte Zwecke und gemeinsam befolgte Sachen lassen dann Geselligkeit rational vereinbaren: für Theoretiker des Gesellschaftsvertrags die einzig echte Grundlage des eigentlichen Zusammenhalts. In dieser Rationalität stehend lassen sich Erwartungsunterstellungen wagen, um die Aussichten am wirtschaftlichen Markt – oder eben in der religiösen Seelenfischerei zu verbessern. Das gleichgerichtete Wollen von Vielen, sei es noch so materiell gesinnt, erzeuge eine Einheit, die auf Vereinbarung beruhe. Selbst an gemeinsamen – guten oder schlechten – Marktchancen könne sich ja bisweilen Gemeinschaft ausbilden: wer seine geselligen Identifikationen an ökonomischen Gesichtspunkten orientiere, verinnerliche damit die „Güterknappheit“ oder eben die „periphere Lage“ zu seinem Identitätskern. „Klassenhandeln“ sei das Ergebnis einer radikal kontrastierenden Interessenhaltung. Eine Interessengemeinschaft, die sich für die Beschützung des gemeinsamen Bodens zusammenschließe, könne jedoch mit der Zeit ein mächtiges Ehrgefühl aus ihren siegreichen Kriegsleistungen schöpfen.37 Ob nun das Wir-Gefühl sich an der Nähe zum Einen oder eher der Ferne vom Anderen entzünde, die Gruppenbezüge des Einzelmenschen bedürfen innerer und äußerer Stützen. Erst prinzipiengegründete Ordnungen vermögen es, den emotional und rational gestifteten Vereinigungen ihre Schwäche zu beheben. Die persönlichen Motive der Identifikation mit einer gedachten Ordnung können dabei von zusammenfallenden Wollungen bis zur religiösen Hingabe reichen. An der Spitze der Begriffsarchitektur befinden sich nun Gebilde mit betriebsmäßig organisiertem Außenhalt: anstaltsmäßige Verbände stellen Geltungsvorstellungen auf längere Dauer. Indem etwa das Stammesleben in Staatsordnung überführt werde, steigere sich die „Chance“ der Befolgung – bis zur Selbstopferung für ein gesatztes Regiment.38 Wie ist es nun für eine sinndeutende Betrachtung mit dem „Volk“ und seiner vermeintlichen Natursubstanz bestellt? Es stechen Glaubenselemente der ethnischen Gebilde ins Auge, die Unterschieden der ererbten Anlage und der 37 Vgl. Weber: WuG, S. 21f („Soziologische Kategorienlehre“), 527f und 532f („Politische Gemeinschaften“). 38 Zum Begriff der ‚Ordnung‘ und des ‚Verbands‘ s. Weber: „Soziologische Kategorienlehre“, WuG, S. 16ff. und 26ff.

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gewohnten Lebensart anhaften. Im Selbstbewusstsein einer Besonderheit wurzle jenes Würdegefühl, das alle Genossen derselben Ehre verbindet, wobei ein Gemeinsamkeitsglaube an jeder beliebigen Äußerlichkeit erwachen könne. Indem der Glaube dazu neige, sich am materiell Gegebenen zu konkretisieren, könne die Idee der Stammverwandtschaft, nach primordialer Verwurzelung greifend, sogar am Ende eines Idealisierungsprozesses stehen: der handfeste Wirklichkeitsbedarf der Gruppenmitglieder verschaffe sich die nötige Materialität. Wie auch immer, eine bestimmte Vielheit von Menschen, die demselben Blut entstammen, dasselbe Gebiet bewohnen, dieselbe Sprache sprechen und gemeinsame Sitten befolgen, bilden für Weber nur dann ein „Volk“, wenn sie sich in ihren Taten nach dieser Idee ausrichten. Das bewohnte Territorium ins heimatliche „Land“ zu überführen sei eine Verinnerlichungsleistung, die auf subjektiv sinnträchtigen Momenten des Schicksals beruhe. Die außeralltägliche Weihe des Anfangs sowie die gleichsam von selbst zugehenden Prozesse des Anwachsens verleihen dabei dem so Entstandenen ein organisches Gepräge, was den einstigen Vereinbarungscharakter ins Unbewusste herabsinken lasse. Das Imaginative der erlebten Einheit werde zur handlungsleitenden Realität. An dieser Glaubensstelle könne das Gemeinschaftliche, mit einem entwickelten Anspruch auf das Ganze, ins Religiöse auswachsen. Wie auch immer die Herkunft urkundlich ausfallen möge, stehe ja hinter allen ethnischen Gegensätzen „irgendwie der Gedanke des ‚auserwählten Volks‘“.39 Weitere Nahrung könne das ethnische Pathos des Gemeinsamkeitsgefühls aus dem Bestand von Machtgebilden gewinnen. Gelinge es der Ethnizität, Staatlichkeit für sich zu erlangen, wie massenweise in den neueren Zeiten, sei für sie eine außerordentliche Befestigung möglich: die Gesinnung des neugebackenen Nationalismus vermöge eine Gemeinschaft der diesseitigen Erlösung zu tragen. Es geht um ein nationales Aufflammen der Religiosität an einem neuen Gegenstand. Das Prestige der Macht entbinde, von vornehmen Kreisen abwärts nachlassend, ein Nationalbewusstsein bis zum „Ernst des Todes“. Die Leidenschaftlichkeit der Kriegsführung verschmelze die Kämpfenden bis zur dienenden Aufgabe des eigenen Ich.40 Es gebe jedoch Verbindungen, die weit über die Grenzen von innerweltlichen Gebundenheiten hinausreichen. Indem die Religionen die Misstrauensverhältnisse der Magie durchbrechen, bieten sie geeigneten Geistesboden für Gemeinden der weiträumigsten Solidarität. Werde ja das Unglück nicht mehr als göttliche Bestrafung aufgefasst, so entwickle sich, jenseits der Kühle der noch so 39 Weber: „Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen“, WuG, S. 239. 40 Ebd., S. 515. Zum Begriff der Nation S. 240ff und 527ff; vgl. auch Stefan Breuer: „Das Charisma der Nation“. Auch die Fremdherrschaft bringt freilich – umgekehrt – eine Verfestigungsdialektik der Vergemeinschaftung leicht in Gang.

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weitgehend rationalisierten Menschenfreundlichkeit, ein Gemeinschaftsgefühl des mitmenschlichen Leidens. Die Größenordnung der nationalen Verbrüderungen, d.h. die ethnischen und ständischen Schranken des Verkehrs werden schließlich vom universellen Brüderlichkeitsideal der Erlösungskulturen immer wieder gesprengt.41 Der Universalismus der Weltablehnung entsteigt dabei dem jeweiligen Partikularismus, um die entscheidenden Anhaltspunkte der vermeintlichen Universalität von dort mitzubringen. Die Kompromisse zwischen Religion und Partikularität lassen sich an reichem historischem Material studieren, von den national geprägten Religionen bis zu den religiös besetzten Nationen. Der urwüchsige Zusammenhalt der nachbarschaftlichen Gegenseitigkeitsethik werde jedenfalls von einer Zugehörigkeit zur religiösen Weltgemeinde überschrieben: die einfache Idee der Reziprozität könne bis zur akosmischen Gesinnung der Nächsten-, ja Feindesliebe rationalisiert werden. Die maßgeblichen Überlieferungen der Erlösungsreligionen rufen ihre Anhänger – unter dem Druck des allgemeinmenschlichen Los des Leidens – aus der Identifikation mit den engsten Lebenskreisen heraus. Zu diesem Schritt seien, inmitten der Zwänge des Alltags, die jede Konsequenz erschlaffen, nur die virtuosesten Träger der Religionen fähig.42 Der menschheitliche Universalitätsglaube der Neuzeit zeigt auffällige Parallelen zur christlichen Allbrüderlichkeit. Die Universalität der Menschenrechte stieg zum Gemeinglauben auf, der von seinen Verfechtern den unterschiedlichsten Partikularitäten gegenüber verteidigt wird. Die universale Identität des Kosmopolitismus ist mittlerweile zum Erlösungsprogramm geworden.43 Die Handlungsbedeutung von sozialen Großgebilden nehme jedoch mit ihrer Größe ab: die Abstraktion der Gesamtmenschheit ist mit erinnerungsleitenden und handlungsstiftenden Inhalten erst aufzufüllen.44

41 Eine kühle Temperiertheit der Gemeinschaftsgesinnung wird von Weber der konfuzianisch geprägten Interaktionskultur zugeschrieben, s. „Konfuzianismus und Taoismus“, GARS I, S. 520. 42 Vgl. Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 542ff. 43 Vgl. Werner Gephart: „Zur Bedeutung der Religion für die Identitätsbildung“. Zur Idee der Menschenrechte als eines „extrem rationalistischen Fanatismus“ Weber: „Soziologische Kategorienlehre“, WuG, S. 2, kritisch dazu Hans Joas: Die Sakralität der Person, S. 54ff. Zu den potenziellen Gefahren einer trotz jeder Universalität asymmetrischen Menschheitssemantik Reinhart Koselleck: „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“, in: ders.: Vergangene Zukunft, S. 211ff. 44 Vgl. Wolfgang Schluchter: „Kampf der Kulturen?“, in: ders.: Handlung, Ordnung und Kultur, S. 167ff.

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V OM G RUPPENMASS

ZUM

S TRUKTURMASS

Den anderen Weg, Identität von der Gruppe her zu denken, beging Émile Durkheim, säkularisierter Rabbinersproß aus dem Grenzgebiet des nachrevolutionären Frankreichs, mit einer Konsequenz, die schließlich selbst den Begriff der Individualität bis zu einem kollektiven Kern zu reinigen suchte. Am Anfang sowie am Ende alles Menschlichen, das die Tierwelt übersteigt, steht für Durkheim das Umgreifende der Gruppe. Die „soziale“ Welt substanzialisierte sich bei ihm zur „Gesellschaft“, was anhaltende Streitigkeiten über ihre Handgreiflichkeit entfesselte. Die empirische Unwahrscheinlichkeit der völligen Isolation, oder, positiv gewendet, der historische Vorrang der Geselligkeit stellt jedoch einen elementaren Erlebnisgrund für das Anliegen dar, Strukturen der zwischenmenschlichen Solidarität in einem unsolidarisch erscheinenden Zeitalter aufzudecken. Der Einzelne sei immerfort in die ihn überdauernde Wirklichkeit der Gruppe eingebunden, die aber auf ihre tagtägliche Manifestation in den immer gesonderten Beziehungen angewiesen bleibe.45 Die allzu offensichtliche Tatsache, dass ein jeder im Kreis von seinesgleichen heranwächst, verdichtet sich für jede weitere Identitätslehre in die Begrifflichkeit der „Sozialisation“. Erst im Prozess der Vergesellschaftlichung gewinne der Mensch seine endgültige Prägung, die er – so oder so – als die seine anzunehmen habe. Selbstannahme gehe dabei über die schlichte Orientierung am Überkommenen prinzipiell hinaus. Die Theorien über den Anbruch der Neuzeit nehmen in der Regel einen radikalen Bruch, bzw. Durchbruch zu ihrem Drehpunkt, etwa den zwischen Traditionalität und Modernität der Weltverhältnisse, der das ganze Weltgeschehen in zwei ungleiche Teile auseinanderfallen lässt. Es wird somit, in künstlicher Zuspitzung, auf eine Dichotomie abgestellt, die den Strom der fließenden Übergänge aufreißt, um das tragende Prinzipiengerüst der sozialen Aggregatszustände aufzuhellen. Im begrifflichen Kontrast, der somit zur historischen Unangemessenheit tendiert, wird in Form einer Entwicklungs- oder eben Verfallsgeschichte etwas vermeintlich Erklommenes – oder eben Verlorenes als Gegenwelt zur Gegenwart herausgestellt. Unabhängig von der Richtung der Weltbewegungen gilt es, im Spiegel von Gegenepochen die eigene Signatur zu erschauen. In den soziologisch aufgestellten Gegenbegriffen von ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ wird auf diese Weise, trotz all ihrer Erklärungskraft, eine Angst vor dem Zerfall von wirklichen oder vermeintlichen Einheiten und vor dem Verlust aller menschlichen Kontrolle theoretisiert. Soziologie wird weitgehend zur „Krisenwissenschaft“ ausgestaltet. In dieser Reaktion auf die Verflüchtigung von ver-

45 Vgl. Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode [1895], S. 105ff, 139.

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wurzelten Lebensformen liegen, für die Darstellung einer verlorenen Lebendigkeit, biologische Metaphern nahe: es sei das ‚Organische‘ des Hergebrachten, das dem ‚planvoll‘ Hervorgebrachten schließlich unterliege.46 Der Gegensatz zwischen gehaltvoll beseelten Lebenswelten und formell entleerten Lebensordnungen wird mit nachhaltiger Wirkung von Ferdinand Tönnies, einem sozial sensiblen Sozialphilosophen mit ländlicher Herkunft, beschrieben. Die Grundidee besteht in der Entdeckung einer Theorielücke: während die modernen Verhältnisse in den Vertragstheorien naturrechtlichen und ökonomistischen Geistes ein treffendes Selbstkommentar finden, fehle es an einer angemessenen Erfassung des früheren Gruppenlebens. Die beiden Großepochen der sozialen Kulturentwicklung ruhen unterschiedlichen Arten des Handlungswillens, der die aktive Seite des Menschen überhaupt bezeichnet, auf. Das Gewachsene der „Gemeinschaft“, die durch Erlebnisse des Gemütlichen, Intimen und Warmen den Zusammenhalt ihrer Mitglieder wie unbemerkt sicherte, wurde von einem jedem innewohnenden „Wesenswillen“ angetrieben.47 Die umfassende Lebensgemeinschaft stand als Selbstzweck mit bejahter Ungleichheit und dienender Gegenseitigkeit letztlich außerhalb der menschlichen Verfügungsmacht. Die historische Reihe der Größenordnungen reiche vom paradigmatischen Bluts- und Nachbarschaftsverband bis zur vorkapitalistischen Stadt. „Gefallen“, „Gewohnheit“ und „Gedächtnis“ – so reimen die Dimensionen der Zeitbezüge aufeinander, mit einem offensichtlichen Schwergewicht auf der bindenden Vergangenheit. Alles scheint sich in sein Gegenteil zu kehren, indem die effiziente Vernünftigkeit sich des Willens von außen bemächtigt: der immer vorauseilende „Kürwille“ öffne der isolierten Willkür Tür und Tor. „Belieben“, „Bedenken“ und „Begreifen“ – der neue Reim der zeitlichen Welt- und Selbstverhältnisse wird auf die Zukunft 46 S. dazu Hartmut Rosa u.a.: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 30ff. Zum Krisenbegriff die wissenssoziologische Studie Armin Steils: Krisensemantik, zu den soziologischen Pathologiediagnosen S. 194ff. 47 Eine romantische Anziehung der „Urwüchsigkeit“ kann dann, besonders unter dem Hochdruck von angespannten Zeitverhältnissen, bis zur radikalen Zuspitzung von politischen Gegenbegriffen rationalisiert werden. Das Wesen des Politischen liegt für eine solche Sicht in der Zweiwertigkeit der Zu- und Abneigung, Verbindung und Trennung von ‚Freund‘ und ‚Feind‘, wie der Unterschied des Guten und des Bösen das Moralische, der des Nützlichen und des Schädlichen das Wirtschaftliche, der des Schönen und des Hässlichen das Ästhetische begründet. Es sei eine fundamentale Andersheit der Existenz, die im Ausnahmezustand des Kriegs das wahre Gerüst des Politischen aufdecke. Die intensiven Zeiten der Eskalation machen dann die unvermeidbare Entscheidung zwischen Freund und Feind offensichtlich. S. dazu die berühmtberüchtigte Arbeit von Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen [1932].

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hin eigennützlich „berechnet“. Symbolisch verdichten sich diese Zusammenhänge im „Papiergeld“, in dem sich die Gesellschaft gleichsam auf einen abstrakten Begriff bringe. Die Logik der Gegenbildlichkeit fordert stellenweise ihren historischen Preis in der Ausschließlichkeit der Formungen ein.48 Indem Durkheim die traditionelle und die moderne Art der Solidarität, dieses wohl urwüchsigen Gemeinguts, aufstellt, richtet sich seine zentrale Fragestellung, in scheinbarem Einklang mit Tönnies‘ Programm, auf das neuzeitliche Nachlassen der Kraft des zwischenmenschlichen Zusammenhalts. Immer dichter gewoben und immer weiter gespannt strecke sich das Menschennetz über der bearbeiteten Welt aus. Die immer breiteren Lebenskreise des Einzelmenschen, der sich in immer zahlreicheren und immer enger geschnittenen Teilordnungen vorfinde, reichen nunmehr bis zur Gesamtmenschheit hinauf. Der Großteil seiner Verhaltensnormen gelte jedoch ihn allein: seine Gedanken, Taten und Gefühle zeigen individuelle Züge. Es sei nicht mehr das Ineinanderfallen der einzelnen Geister, das Ordnung stifte, wie noch in Zeiten des engräumigen Gruppenlebens. Einst herrschte ja Ähnlichkeit in den inneren und äußeren Gesten aller Mitglieder: die gleichartig verrichteten Tätigkeiten waren von durch und durch zusammenklingenden Geistesregungen begleitet. Wie die mit wachsender Bevölkerungszahl fortlaufende Bildung von neuen Einheiten, so folgte auch das weitgehend gemeinsame Denken dem Prinzip des Wiederholens und des Nachahmens. Dieses Mechanische ließ ein gleichförmig-allgegenwärtiges „Kollektivbewusstsein (conscience collective)“ entwickeln, das sein Eigenleben in den Einzelköpfen und Einzelherzen hatte. Jede Abweichung wurde mit vergeltenden Gegenschlägen abreagiert: Bestrafungen lenkten das abschwenkende Einzelbewusstsein in die eingefahrenen Verhaltensbahnen zurück, wobei „conscience“ immer Besinnung und Gesinnung in einem bezeichnet. Die Kränkungen des leidenschaftlichen Gemeingefühls wurden mit selbsterhaltender Härte gezüchtigt. Die Heftigkeit der Strafreaktion weise dabei auf eine dem Einzelmenschen gegenüber mächtigere Wirklichkeit hin. Der Mensch ging so, in die Gleichmäßigkeit des Kollektivlebens eingewoben, ohne beträchtliche Vereinzelung in der Gruppe auf.49

48 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887 und 19122]. Betontermaßen geht es für Tönnies um vereinfachende „Normalbegriffe“. Geld wird von Georg Simmel in seiner Zwiefältigkeit – Entfremdung einerseits, Befreiung andererseits – als zentrales Sinnbild des modernen Lebens systematisiert: Philosophie des Geldes [1900]. 49 Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung [1893], S. 135ff. In der Begriffsgeschichte von „consciencia“ bezeichnet Descartes einen Wendepunkt, indem die unmittelbar morali-

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Ein neuer Bewusstseinszustand erwuchs nach Durkheim, weit davon entfernt, in einer Rationalisierungswelle von wohlbedachten Vertragsschließungen zustande zu kommen, erst auf dem Boden voluminöserer und gedrängterer Lebensverhältnisse. Diesem neuen, reich gegliederten „materiellem Milieu“ entspreche ein „moralisches Milieu“ mit neuen Besinnungen und Gesinnungen. In einem vielschichtigen Geflecht von Zusammenhängen werden die weltbearbeitenden Betätigungen immer spezieller verteilt; die Unterschiede der Wirkungsbereiche stecken jedem die Rahmen des ihm Tun-, Denk- und Fühlmöglichen ab. In einem sich aufbauenden Gefüge nicht der Individuen, vielmehr der Funktionen ist der Einzelne Platzhalter einer ihm zugekommenen Stellung. Die Devise, die ihn persönlich gelte, schreibe Besonderung vor: identifiziere dich mit einer bestimmten Funktion. Der Grund der persönlichen Identität bestehe in der aufs Höchste getriebenen Verschiedenheit der Lebensformen; der Grund der gemeinsamen Identität bestehe in der Ausfüllung einer Stelle im sozialen Ganzen. Das Welt- und Selbstgefühl der früher Gleichgesinnten wandle sich, aufgrund einer angeblichen Interdependenz der Teile, in die Gefühlsökonomie der Komplementarität. Die repressiven Sanktionen können nun durch Kooperationsregelungen weitgehend abgelöst werden. Eine unmittelbare physikalische Metaphorik leitet so zur Idee der spontanen Ausgleichsmechanik. So komme es, um nun Durkheims Frage, die seine Antwort lenkt, als Behauptung vorzuführen, „daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt“, so „kann es zugleich persönlicher und solidarischer sein“.50 Indem hier die Individualität nicht auf Kosten der Solidarität wachse, haben wir mit einer seltenen Gegengeschichte zu den gängigen Narrativen der verhängnisvollen Vereinzeilung zu tun. Der Schlüsselbegriff der Erzählung ist das „Organische“ eines Ganzen, was für viele nach einer petitio principii anmutet, indem es einen Willen zur Entfremdungslosigkeit in seiner Anlage zu tragen scheint. Der noch so organisch gewachsene Zusammenhalt der frühmenschheitlichen Zustände wird zum „Mechanischen“ qualifiziert, was wie ein sprachlicher Kunstgriff vorkommen mag, um die gegenwärtigen Mängel an Verbundenheit aufzuwiegen. Wie auch immer, der Einzelne sei als vielfaches Gruppenmitglied zur Selbstbestimmung gezwungen. Das gegebene Ganze der Gesellschaft verbürge jedoch, wenn auch in schmerzlicher Phasenverschiebung, die Hervorbringung von entsprechenden Regelungen, die die vorausgeeilte Differenzierung der Tätigkeitsbereiche schon immer wieder einholen werden. Die Zahl der Elemente und der Verbindungen, kurz ihre Zusammenstellung liege als „Struktur“ auch schen Bezüge des Gewissenhaften bei ihm wegfallen, um das Kognitive und das Emotionale beizubehalten, mit einem steigenden Nachdruck auf dem ersteren. 50 Durkheim: ebd., S. 82.

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dem noch so geistigen Sozialphänomen zugrunde: die „materielle Dichte“ verdichte auch das moralische Leben. Die temporäre Verspätung der Normenproduktion beeinträchtige keineswegs den strukturgeprägten Nomos der gegebenen Ordnung. Die Not der Gegenwart ergebe sich vor allem aus den anomischen Geburtswehen von neuen Teilregeln der Kooperation, und nicht so sehr aus den Entfremdungsschmerzen von aufgezwungenen Identitäten. Es sei nur eine Frage der Zeit, dass jeder Position die ihr entsprechende Gesinnung und Besinnung zuwachse. Im Inneren des Einzelnen laufe dabei ein Nullsummenspiel ab: die immer individueller gearteten Bewusstseinselemente, die der eigentümlichen Anlage des Einzelnen immer größeren Raum lassen, verdrängen – in der plastischen Art der kommunizierenden Röhre – die einstigen Kollektivinhalte.51 Die Unzulänglichkeit des eigenen Erklärungsangebots, das auf einer einfältigen Logik des quantitativen „Je–desto“ beruht, lässt Durkheim – in einer „schweren Krise“ der Moral – nach zusätzlichen Stützen der Solidarität suchen. Das Bedürfnis, das „Gemeinschaftliche“ auch in der „Gesellschaft“ aufzufinden, führt noch im selben Buch, aber wohl in einem neuen Rahmen, weitere theoretischen Anstrengungen herbei. Die Bindungskraft der noch so komplementär angelegten Kontrakte kommt zu schwach vor, um Riesensubjekte am Leben zu halten. Der wichtigste Identitätsaspekt der modernen Situation bestehe ja, trotz jeder Plausibilität der Selbstergänzungsidee, in dem bedenklichen Verhältnis zwischen dem wachsenden Einzel- und dem schrumpfenden Kollektivbewusstsein. Auch wenn die Beziehungen größtenteils von Verträgen getragen werden, bleibe ein nicht unwesentlicher Rest notwendigerweise ungeregelt. Die Kollektivinhalte des Bewusstseins verdünnen sich bis zu bleichen Abstraktionen: die organische Gemeinmoral „verlangt nur, unsere Nächsten zu lieben und gerecht zu sein, unsere Aufgabe gut zu erfüllen, darauf hinzuwirken, daß jeder in die Funktion berufen wird, die ihm am besten liegt, und daß er den gerechten Lohn für seine Mühe bekommt.“ Die gesteigerte Sensibilität für Ungerechtigkeit, Leiden und Menschenwürde zeugt für Durkheim von der erfolgreichen Verinnerlichung des Allgemeinmenschlichen. Alles andere – der individuelle Variationsreichtum der Sentiments und Denkeinfälle – gehöre ins Reich des mehr oder weniger zerstreuenden Privatbedünkens.52 Im zweiten Anlauf zum Integrationsproblem, diesmal über ein durchaus individuell anmutendes Phänomen, sollen seine sozialen Elemente durch die Häufigkeitsverteilung des radikalen Lebensverzichts beleuchtet werden. Als Indiz 51 Durkheim: ebd., S. 162ff, 314ff, 344ff. Zum sozialen „Substrat“ Durkheim: Soziologie und Philosophie, S. 45ff., bes. S. 71f [1898]. 52 Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 478f. Zu den außervertraglichen Bedingungen des Vertrags ebd., S. 267ff.

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von kollektiven Geisteszuständen deute denn der Selbstmord auf Über- und Unterregelung der Gruppenverhältnisse einerseits, auf Über- und Unteridentifikation des Einzelnen mit der Gesamtheit andererseits hin. Die Kraft der Vernetzungen und der Inhalt der Gemeinideale seien es vor allem, die die Lebensfähigkeit der Kollektivität bedingen. Der Protestantismus, dieser spätere Paradefall Max Webers, exemplifiziert hier den „Geist der freien Prüfung“, der den Einzelnen äußerlich und innerlich auf sich stelle. Die vierfache Gefährdung der Gruppe schlage sich jedenfalls in extremen Individualtaten nieder, deren soziologisches Wesen im selbstgewollten Ausscheiden aus dem Gruppenleben bestehe. Der kollektive Bestand sei von seiner organisatorischen und geistigen Anlage her im Absterben begriffen. Es liegt in der Konsequenz der organizistischen Logik, die „Pathologie“, d.h. die sozialen Krankheitsschwellen der Ich- sowie der Gruppenbesessenheit für die jeweiligen Sozialformationen abtasten zu wollen.53 Es ist ein Ansatz, der in naturwissenschaftlicher Manier, unter dem Einfluss der blühenden Biologie und der aufkeimenden Experimentalpsychologie, überhaupt ohne Deutung, geschweige denn Introspektion auskommen will. Für die Außenperspektive der Solidarität bietet sich das Studium von Rechts- und Gesetzbücher als geeigneter Einstieg in die Abdrücke des kollektiven Innenlebens. Das Beharren auf soziale „Tatsachen“ steht in der Tradition einer Geisteskultur von spezifischer Rationalität, die einen Descartes und einen Comte hervorbrachte. Zum allgemeinen Kern der Sachen, jenseits des allzu Individuellen und Konkreten vorzudringen – dies charakterisiert nach Durkheim die französischen Denkbewegungen seit Descartes auf.54 Der Anspruch, hinter dem Blendwerk von mitgebrachten Vorurteilen sicheres Wissen zu erlangen, wird als Verwerfung jeglicher „Metaphysik“ bekannt gegeben. Die Konsequenz eines empirisch ausgerichteten Rationalismus möchte sich auf unvoreingenommene Beobachtung von unbezweifelbaren Gegebenheiten verlassen. Das soziologische Erkennen habe bis zur Gruppe als einer klar und deutlich identifizierbaren Größe vorzustoßen, die in den Gedanken, Gefühlen und Handlungen der Einzelnen auswirke. Die Stilisierung des Sozialen zum eigenständigen Seienden erfolgt in Abgrenzungsgefechten von den biologischen und psychologischen, d.h. für die Einzelperson in ihrer Abgeschiedenheit interessierten Menschenwissenschaften. Das Programm, den Geist der Kollektivität in Zeiten der Individualität aufzufinden, trifft mit dem Gegenstandswillen eines Positivismus zusammen: die gemeinte Großeinheit der Analyse ist von einer gewollten Einigkeit mitgetragen. Der wis53 Durkheim: Der Selbstmord [1897]. Zum heiklen Verhältnis des Normalen und des Pathologischen s. die „Regelschrift“, S. 141ff. 54 Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft [1902/1903], S. 273ff, mit Bemerkungen zum spezifisch französischen Geist.

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senschaftliche Griff nach den festen Konturen eines „Dinges“, diese verdinglichende Rede von Kollektivität als Wirklichkeit sui generis, scheint jedoch den Charakter des Gefundenen auf weiten Strecken zu bestimmen: wie das Einzelleben zum Nervenleben, so verhalte sich das Kollektivleben zum ersteren. Im Zuge der Wissenschaftsgründung durch einen eigenen Gegenstand unterlaufen Durkheim, am Gemeinten gemessen, sprachliche Übergriffe, bis zu eingestandenermaßen unbeholfenen Ausdrücken der „Wesentlichkeit“ der „Kollektivpersönlichkeit“.55 Die stabilisierende Begrifflichkeit von „Mechanismen“ und „Funktionsweisen“ von sozialen Großeinheiten, die sich auf eine gewisse empirische Kontinuität des Kollektiven berufen kann, birgt eine weitere Möglichkeit der Substanzmetaphysik in sich. Für eine Zeit mit nominalistischen Denkgewohnheiten, die allen überpersönlichen Wesenheiten abgeneigt ist, geht jedoch der primäre Weg der Selbsterkenntnis vom Einzelmenschen aus.56 Zur „Gesamtheit der assoziierten Individuen“ gehöre also für Durkheim ein selbständiges Bewusstsein, von der Gruppe getragen, in Einzelnen manifestiert. „Die Repräsentationen, welche die Fäden des sozialen Lebens sind“, verselbständigen sich von den zwischenmenschlichen Beziehungen, um auf sie wieder zurückzuwirken. Sie befinden sich so „außerhalb“ des individuellen Bewusstseins, was nicht so sehr als physikalische, eher als transzendentale Ortsbestimmung verstanden werden will.57 Durkheims zutiefst antiatomistischer Denkweg führt ihn zum Gedanken der doppelten Beschaffenheit der Gesellschaft: ihr pflichttreuer Zwangscharakter, dem sich der Mensch nicht entziehen könne, sichere ihre dinghafte Unabhängigkeit; ihr Erstrebenswertsein, dem der Mensch sich auch gerne und von sich aus widme, verleihe ihr Innerlichkeit. In dieser Doppelbindung zu einem Wesen, welches das unsrige übersteige, bestehe der Inbegriff der Moral. Die Gesellschaft „reicht über uns hinaus und ist uns zugleich innerlich, da sie nur in uns und durch uns leben kann. Oder besser: sie ist in gewissem Sinn wir selbst, und zwar der bessere Teil von uns, denn der Mensch ist nur insoweit Mensch, als er zivilisiert ist.“58 Nur in diesem Sinne 55 Vgl. dazu Durkheims Korrektionen im zweiten Vorwort [1898] zu den Regeln, S. 88ff. Zur Gesellschaft sui generis das „Regelmanifest“ etwa S. 187, zum Gebot der Vorurteilslosigkeit ebd., S. 115ff, 128ff. Zum Stufenbau von Organismus, Einzelbewusstsein und Kollektivbewusstsein ders.: Soziologie und Philosophie, S. 45ff. 56 Für eine bereits klassische Kritik an einem „hypostasierten“ Kollektivum s. Theodor W. Adornos „Einleitung“ zu Durkheims Soziologie und Philosophie. 57 Durkheim: Soziologie und Philosophie, S. 71, s. dazu René Königs „Einleitung“ zur „Regelschrift“. 58 Durkheim: Soziologie und Philosophie, S. 108. Zur Gesellschaft als äußerem Zwang ders.: Die Regeln der soziologischen Methode, S. 114; zur Gesellschaft als Wunschob-

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könne die Autorität der Gesellschaft Selbstbehauptung und Gruppenbindung zugleich vermitteln. Die Moral soll, nach langen Zeiten ihrer Überindividualisierung und Überintellektualisierung, wieder in die Gruppe und ihr Gefühlsleben zurückgebunden werden. Über dem Menschen gebe es ja ein höheres Geistiges, das uns nicht an uns bindend der Befolgung würdig scheint: die Gesellschaft als „Urquelle“ alles moralischen und geistigen Lebens. In vereinfachender Anspielung an Nietzsches Selbsterhebungsgedanken: „Die Autorität ist Charakter eines Menschen, der über andere Menschen erhaben ist; er ist ein Übermensch. Nun ist aber auch der intelligenteste, der stärkste oder gar der gerechteste Mensch immer nur Mensch, zwischen ihm und seinesgleichen besteht nur ein Gradunterschied. Es ist allein die Gesellschaft, die über den Individuen steht. Von ihr emaniert also jede Autorität. Sie vermittelt dieser oder jener menschlichen Eigenschaft jenen Charakter sui generis, jenes Ansehen, die die Individuen, die es besitzen, über sich erhebt. Sie werden Übermenschen, weil sie dadurch an der Höherwertigkeit, an jener Art von Transzendenz der Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern, teilnehmen.“ Die Moral als Inbegriff von überpersönlichen Zielen habe das „bewußte Wesen, das die Gesellschaft ist“,59 diese höchste Identifizierungsmöglichkeit zu ihrem Inhalt. Gerne ordne sich der Mensch diesem bewussten Großsubjekt unter. Es ist der Begriff der Erziehung, der dieses Programm dem Einzelmenschen am nächsten herankommen lässt. Die Entdeckung der Sozialität der persönlichen Identität besagt in ihrer radikalen Form, dass wir aus uns selbst heraus nichts von wirklichem Belang haben. Der Erzieher habe nicht dem präexistent Gegebenen ans Licht oder dem keimhaft Vorgeformten zu seiner Reife zu verhelfen. Die allzu plastischen Dispositionen münden ohne Außenleitung in „vage und verworrene Veranlassungen“ aus: „unsere ganze Natur hat das Bedürfnis, begrenzt, zusammengefaßt und umschränkt zu sein; unsere Vernunft genauso wie unser Gefühl.“ Die pädagogische Leistung, das Kollektivbewusstsein „in die Seele des Kindes eingeschleust“ zu haben, komme für die Gruppe einer Selbstreproduktion, für das Individuum einer „zweiten Geburt“ gleich. Die Verfassung des Kindes biete dafür geeigneten Boden: außer dem Wechselhaften der Stimmungen stecke ja eine „Vorliebe für eine regelmäßige Existenz“, der Grund aller Selbstdisziplin, sowie eine Neigung zu etwas Höherem, der Grund jeder Gruppenbindung, in ihm. Der Traditionalismus und die Aufopferungsfähigkeit seien gleichjekt ders.: Soziologie und Philosophie, S. 96ff sowie ders.: Erziehung, Moral und Gesellschaft, S. 251ff und 265; zur sozialen Autorität in Analogie zum biologischen Organismus Der Selbstmord, die Ausführungen zum anomischen Selbstmord, Kap. II/5. 59 Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft, S. 138f (Übersetzung modifiziert), S. 111.

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sam die beiden organischen „Öffnungen“, durch welche hindurch Gesellschaft in die Nachkommenden eingepflanzt werden könne. Das egoistisch angelegte „Selbstgefühl“ bereichere sich so nach und nach mit dem altruistischen „Gefühl einer Gruppe“. Indem wir das Höhere der Gruppe „lieben und suchen, suchen und lieben wir etwas anderes als uns selbst.“ Wir können uns mit ihr „nur verbinden, wenn wir aus uns heraustreten, wenn wir uns entfremden, wenn wir uns teilweise von dem, was wir sind, lösen.“ Die historisch wandelnden Erziehungsideale reichen zwar vom Bedürfnis der starken und hochgeachteten Traditionen bis zur Selbstbindung an immer breitere Sozialeinheiten.60 Das pädagogische Ziel höchster Dignität bestehe aber in der Entwicklung zur Gruppe hin: zu diesem Einen gegen die Zerstreuung im individuell-willkürlichen Vielerlei. Die Erweiterung des Einzelbewusstseins im Vollzug von gemeinsam ausgeübten Handlungen lässt schließlich ein Bedürfnis des Gruppenlebens erwachsen: „Es macht Vergnügen, wir zu sagen anstelle von ich, denn wer das Recht hat, wir zu sagen, fühlt hinter sich etwas, eine Stütze, eine Macht, auf die er rechnen kann; eine wesentlich stärkere Macht als diejenige, auf die sich das isolierte Individuum verlassen kann. Und das Vergnügen ist umso größer, je sicherer und überzeugter wir wir sagen können.“ Die Zeiten des „Ichkults“ im Gefühl der Unendlichkeit seien – wie eine Gegenprobe – von einer spezifischen Schwermut gekennzeichnet, wofür der Buddhismus den besten Beweis abgebe. Persönliche Identität sei eine Frage der Einübung ins Kollektive, um in eine höhere Existenz eingeweiht innere Ruhe am eigenen Platz zu finden.61 Zu den ersten Anfängen der Kollektivität zurükzukehren, steht in der letzten Konsequenz dieser Gesellschaftslehre. Habe denn jede Wirkung dieselbe Ursache, wie es der strukturalistische Gedanke so oft will, so gelte es, über jede Ausund Verformung hinweg, zu den einfachsten Ursprüngen vorzudringen. Unter den dicken Schichten von historischen Sedimenten liege die immerwährende Elementarstruktur verborgen. Der Kern des Sozialen sei daher den Befunden einer Ethnologie einfachster Stämme zu entnehmen. Was von Anfang an fest stand, dass es das individuelle Leben sei, das dem kollektiven entstamme, und nicht andersherum, wird erst hier zufriedenstellend eingelöst. Erst diese außerordentliche Dichte des Gruppenlebens mache es möglich, alles Soziale mit Sozialem wie selbstverständlich zu erklären. Indem die Erscheinungen der Menschenwelt durch Kollektivbegriffe hindurchgeläutert werden, werden sie zu ihrem wahren Ursprung zurückgeführt. 60 Die Ideale der körperlichen Erziehung reichen etwa von der ritterlichen Unermüdlichkeit durch die mönchische Askese bis zur städtischen Hygiene. 61 Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft, S. 39, 50, 156, 311, 48, 173, 254, 138, 251, 276, 122.

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Auf der Suche nach der ewigen Ursprünglichkeit des Geselligen stößt nun Durkheim auf den elementaren Totemismus von primären Gemeinschaften. Die überpersönliche Realität der Gruppe werde in der Urszene von religiösen Zusammenkünften greifbar. Die „moralische Person“ der Gesellschaft als das Höhere jeder Selbstlosigkeit nimmt hier religiöse Gestalt an. Nicht nur die Moral, auch die Religion „beginnt also dort, wo das Gruppenleben beginnt“.62 Es sei kein Übervater, sondern die Gruppe selbst, was in der Mitte des Kultes die Ambivalenz von Furcht und Liebe auf sich ziehe; es sei ihre Mächtigkeit, was im Vollzug der rituellen Bewegungen walte. In den außeralltäglichen Erlebnissen werde die Wirklichkeit der Kollektivität erfahren: aus der Zerstreuung des Alltags in die Verdichtung des Festes immer wieder hineintretend, vergewissere sich die Gruppe ihrer selbst. „Innerhalb einer Ansammlung, die eine gemeinsame Leidenschaft erregt, haben wir Gefühle und sind zu Akten fähig, deren wir unfähig sind, wenn wir auf unsere Kräfte allein angewiesen sind. Löst sich die Ansammlung auf und stehen wir allein da, dann sinken wir auf unsere gewöhnliche Ebene zurück und können dann die Höhe ermesse, über die wir uns über uns erhoben haben.“ In der „Ek-stase“ des Kults, d.h. dem Heraustreten der erwachsenen Person „außer sich“, sei die Transzendenz als Selbstüberschreitung in Richtung auf die Gesellschaft wirklich. Die gleichartigen Körper- und Seelenbewegungen, die in der totemistischen Verschmelzung mit der Gesamtheit ausgeübt werden, repräsentieren das Selbstgefühl der Gruppe – und rufen es auch hervor. Die totemistische Urszene der Kultur sei die Grundlage jeder späteren Kulturleistung. Es gibt denn nach Durkheim „keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen, die ihre Einheit und Persönlichkeit ausmachen, in regelmäßigen Abständen zum Leben zu wecken und zu befestigen.“63 Dem Totem als dem sichtbaren Zentrum der Religion scheinen „geheimnisvolle Kräfte“ zu entströmen, während es nach Durkheim gerade umgekehrt, die Eigenkräfte der gemeinschaftlichen „Fusion“ und „Kommunion“ in sich versammelt. Das Geheimnis des Emblems sei die Gruppe selbst. In der Verdichtung der corrobori komme es wie von sich zur Bildung von Symbolen, die das gemeinsame Selbst der Teilnehmer, die Gemeinschaft ihrer Kraft versinnbildliche. In gegenständlicher Handfestigkeit soll nun der elementare Zusammenhalt auch für die Sinne dauernd gegenwärtig gehalten werden. Die Mitglieder der Gesellschaft verkörpern in das gemeinsame Totem ihr gemeinsames Wesen hinein; die Gesellschaft setzt sich in der Religion sichtbares Zeichen, um sich erleben, inszenieren und sich ihrer selbst entsinnen zu können. Der jeweilige Fokus der 62 Durkheim: Soziologie und Philosophie, S. 105. 63 Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 289, 311 und 571.

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Szene werde zum Vertreter des Sozialen, wobei die Potenz der Heiligung in der Gruppe und in ihrem Belieben liege. Alles, was sie ihrem eigenen Wesen zugehörig finde, vom eigenen Territorium bis zu den persönlichen und unpersönlichen Trägern von gemeinsamen Bedeutungen, gewinne als bevorzugter Teil eines Ganzen – wie in einer Ansteckung – die Weihe der Sakralität. Selbst der Weg des Leidens führe vom Kollektivum zum Individuum: in den Trauerriten klage man nicht, „weil man traurig ist, sondern weil man die Pflicht hat, zu klagen“. Jedes Unglück fordere Sühneriten der Trauer heraus: die heftigsten Qualen rufen nach erleichternden Äußerungen der Zusammengehörigkeit. Die Beteuerung der Empathie stifte immer erneut Solidarität, die nicht aus zusammenaddierten Privatgefühlen von Einzelseelen ihre Kraft gewinne. Die Schmerzschwingungen der kollektiven Gesinnungen und Besinnungen schlagen das Innere der Einzelperson an: die Einzelseele entwickle Empfindlichkeit für die Kollektivgefühle, die im Gefolge des momentanen Gruppenschrumpfs aufsteigen. Die Schwächung der Gruppe durch das Ausscheiden eines Gruppenmitglieds drängt sie am dichtesten zusammen. Die Bezugsgröße des Klans erfahre dabei eine Steigerung ins Absolute: das Prinzip der Kultgemeinschaft könnte mit den Worten sive deus, sive societas paraphrasiert werden. Indem Gott und die eigene Abstammungsgesellschaft in einem gefeiert werden, binde das heilige Ritual unzertrennlich an die Gruppe. Die Göttlichkeit, dieses gemeinsame Objekt der Hingabe und der Berührungsangst, sei „transfigurierte und symbolisch gedachte Gesellschaft“. Soziogonie ist für Durkheim Theogonie und Kosmogonie in einem.64 Die gemeinsam ausgeübte rituelle Praxis in ihrer Expressivität ist also für Durkheim der Geburtsort von kollektiven Projektionen: die Gruppenseele übertrage ihre eigene Identität auf das Andere des Totems. Die Riten seien dazu da, zwischen grundsätzlichen Differenzen, die sich erst religiös – und das heißt gesellschaftlich – auftun, zu vermitteln. Der Rhythmus der Identität pulsiere in der periodischen Erhebung des immer begrenzten Ich in der verlebendigenden Versammlung des Wir. Auch das Schöpferische der Weltgeschichte wird in der Folge konsequent soziologisiert. Die historischen Wellen von großen Erschütterungen lassen die Menschen – für diesen Blick durch die Gruppe – immer wieder zusammenfinden: „Die Individuen streben zueinander und sammeln sich mehr als jemals. Daraus entsteht eine allgemeine Gärung, die für revolutionäre oder schöpferische Epochen kennzeichnend ist. Aus dieser Überaktivität folgt eine allgemeine Stimulation individueller Kräfte. Man lebt mehr und anders als in normalen Zei64 Durkheim: Die Elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 303, 296, 305 und 532ff; ders.: Soziologie und Philosophie, S. 105.

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ten.“65 Die Bedeutsamkeit, die den Ereignissen und Erscheinungen ihre echte Neuheit zukommen lässt, verdanke sich der Gemeinschaft. Es gibt keine Umschwünge in der Vergangenheit, deren Akteure ausschließlich ihre eigensten Bewegungen ausgeführt hätten: die Privatregungen schwellen nur die Unmenge der historisch belanglosen Manipulationen. Die kreative Zeit der Geburt von Idealen sei das Beisammensein der Gruppe. An Stellen, wo Weber charismatische Einzelnen wähnt, stehen für Durkheim die personhaften Verkörperungen der Gemeinschaft. Auf das kollektive Gedächtnis bezogen: an den gemeinsam produzierten und reproduzierten Erinnerungsbildern könne ein jeder seine eigenen Wesenszüge erkennen – und solle es auch. Die schöpferische Kraft dieser Zusammenkünfte organisiere dann auch die alltäglichen – praktischen und geistigen – Betätigungen. Der Wille einer lebendigen Einheit zur Selbsterhaltung wird feste Grundlage für einen inhaltsreichen Traditionsbegriff: „Wir sprechen eine Sprache, die wir nicht gemacht haben; wir nutzen Instrumente, die wir nicht erfunden haben; wir berufen uns auf Rechte, die wir nicht eingesetzt haben; ein Schatz an Kenntnissen wird jeder Generation vermacht, den sie nicht angehäuft hat usw. Diese verschiedenen Zivilisationsgüter […] geben dem Menschen seine persönliche Physiognomie unter allen Lebewesen“. Nach dem Auftauchen aus der kollektiven „Efferveszenz“ werde das erlebnishaft Erfahrene in die Welt hineingetragen. In der Ruhe des Alltags laufe so die weltgestaltende Rationalisierung des gesellschaftlichen Irrationalen.66 Auch wenn die Gesellschaft sich heute nicht mehr in vordergründig religiösen Akten begreife und inszeniere, gelte ihre Mitte nach wie vor als heilig. Im Zentrum der Solidarität liege immer etwas Sakrosanktes,67 das es – bei der jeweiligen Höchststrafe – im Denken und Handeln zu begehen gelte. Die gültige Gliederung der Weltinhalte für die Praxis und die Theorie sei letztlich religiös, und dies heißt gruppenhaft gegeben. Man könne sogar fragen, „ob nicht der Begriff des Widerspruchs ebenfalls von sozialen Bedingungen abhängt. Was das glaubhaft macht, ist, daß die Macht, die er auf das Denken ausübt, in verschiedenen Epochen und Gesellschaften eine unterschiedliche war.“ Die Dichotomie der beiden Lebensperioden lasse die Welt ins Heilige und Profane zerfallen, was das Muster jeder weiteren Aufteilung vorgebe. Die Identitätslogik der zweiwertigen Differenzierung ahme den Unterschied der radikalen Nähe und der radikalen Ferne zur Gruppe nach. Die Dualität allen systematischen Denkens, somit die 65 Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 290. 66 S. dazu das Durkheim-Kapitel in Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, S. 76ff und ders.: Die Entstehung der Werte, S. 87ff. Zur „Tradition“ Durkheim: Die Elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 292. 67 Vgl. Durkheim: Soziologie und Philosophie, S. 105.

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Unterscheidung des Eigenen und des Anderen, wurzele in der gesellschaftlichen Urtrennung des Heiligen vom Profanen, die dann auf Beliebiges übertragen lasse. Die Urszene der Symbolisierung ist die totemistische Zusammenkunft mit einer unantastbaren Figur in ihrer Mitte, welche die Gruppe selbst darstelle. Das jeweils Gemeinsame werde heilig, das jeweils Private werde profan. Die Differenzierungen und Identifizierungen des Alltags nähren sich aus dieser außeralltäglichen Grunddifferenz. Die beiden Sphären des Gesellschaftlichen und des Nichtgesellschaftlichen liegen so jeder noch so elaborierten Kategorientafel zugrunde. Allgemein und zwingend, d.h. gültig gedacht werden könne nur, was die Gruppe zu denken jeweils zulässt. Das Wahre ist das Gruppenhafte. Zwischen dem bleibenden Wunsch und der wachsenden Unmöglichkeit der absoluten Identifizierung mit der eigenen Volkschaft schlagen die Antagonismen des Geistes: die vorgestellten Beziehungen der Dinge fallen mit den zwischenmenschlichen Beziehungen ineins. In unsere Weltkonzepte lassen wir – jenseits des Chaos der strudelnden Vermeinungen und privaten Vorurteile – unser jeweiliges Kollektivselbst ein. Die Kraft der Gruppe vergeistige sich dabei zum Kraftbegriff, die moralische Kraft zur Idee der innewohnenden Schwungkraft, die Gruppenkausalität zur Naturkausalität; in den Begriffshierarchien walten Verwandschafts- und Feindesbeziehungen der Unter-, Neben- und Gegenordnung. Überhaupt gelte es: „die Einheit des Wissens ist nichts anderes als die aufs ganze Universum erweiterte Einheit des Kollektivs.“ Die denkerische Repräsentation des gemeinsamen Selbst in der Philosophie, diese Selbstmitteilung der Gruppe, modelliere Welt, Mensch und Gott in ihren immer reicher ausgeprägten Beziehungen. So ist die Soziologie bei Durkheim zu dem geworden, was die Philosophie einst war. Kierkegaards verzweifelte Frage, wer denn über die Authentizität der Existenz entscheidet, wird von ihm entschieden mit der Gruppe beantwortet – wie die „Wirklichkeit“ der Gruppe existenzialistisch immer schon als massenpsychologische Täuschung entlarvt wird.68 Die immer neutraler gearteten Beziehungen der fortschreitenden Arbeitsteilung ließ nach Durkheim auch neue Paradigmen des Denkens entstehen: der Druckfall des Emotionalen gebe immer mehr entpersönlichten Klassifikationen Raum. Dem funktionalen Zusammenhalt entspreche eine symbolische Ordnung 68 Durkheim: „Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen“, S. 252. Zur wesentlichen Sozialität jeder Logik s. auch Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 488ff, Zitat S. 31f.; zur Ablösung der Erkenntnistheorie durch Erkenntnissoziologie ebd., S. 557ff. Hier auch die ausdrückliche Bestreitung des „historischen Materialismus“. – Zur späteren Frontstellung zwischen Existenzialismus und Strukturalismus mit soziologischer Relevanz s. Jean-Paul Sartres und Pierre Bourdieus Arbeiten.

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von systematischer Wissenschaftlichkeit. Die Verdünnung der Verbindungen einerseits, die Abstrahierung des Raumes und der Zeit andererseits gehören zusammen, nach der Logik der beliebigen Besetzbarkeit von Betätigungsposten. Die wachsende Menschheitsdichte sporne zu allgemeinen Ideen an, auch im Bereich des Menschlichen: „Zum Beispiel ersetzt der Begriff vom Menschen im Recht, in der Moral, in der Religion den des Römers, der konkreter und dem allgemeinen Wissen weniger gut einpaßbar ist.“ Nur noch Kriege werfen immer wieder in archaischere Zustände zurück, indem sie die „Sympathie für das Individuum“ zurückdrängen. Die Gesellschaft sehe nunmehr die härteste Strafe für die Verletzung der Mitmenschlichkeit vor.69 Es ist nur konsequent, dass Durkheim an den prinzipiellsten Stellen seines Denkwegs – sowohl in seinem Solidaritätsbuch am Anfang, wie auch in seinem Religionsbuch am Ende – auf den wachsenden Spielraum des Einzelnen, im Kreise von ihm immer weniger Gleichen, zu sprechen kommt. Die historischen Gestaltwandlungen der Kollektivideale führen vom Kollektivismus zu einer individualistischen Geisteskultur, die den Allgemeinmenschen heilige. Was zunächst, durch die gleichsam zentrifugale Selbstbindung des Individualitätsglaubens, als ein letzter Rest von mächtigen Glaubenswelten die Gruppe zu bedrohen scheint, reinigt sich in angestrengter theoretischer Arbeit zum „besseren Teil“ des Menschen. Die Lösung – die ursprüngliche Gruppenhaftigkeit der Person – wird schließlich in den Höhen einer Anthropologie mit philosophischem Anspruch gefestigt. Die seit Philosophengedenken beschworene Dualität der Menschennatur erfährt dabei eine soziologische Wendung. „Das Ich kann sich nicht gänzlich von sich selbst unterscheiden, um sich nicht zu verflüchtigen. Eben dies geschieht in der Extase. Das Ich kann jedoch auch nicht ausschließlich und gänzlich es selbst sein, um sich nicht jeden Inhalts zu entleeren.“ Es sei das Reich der Gesellschaft, die für die menschliche Zweiweltenbürgerschaft das echte Andere der Körperlichkeit biete. Paradox formuliert bestehe das sich selbst richtig verstehende Individuum in der Gruppe, die ihm den eigentlichen Bestand verleihe.70 Die Vorstellung des Überlebens der Seele über den Tod hinaus spiegle die Wirklichkeit der den Einzelnen überdauernden Gesellschaft. Die Einzelseele scheide aus der Gruppenseele, von ihr gesegnet, aus, um schließlich Träger einer persönlichen Identität zu werden. Die individuierte Teilhabe am unpersönlichen Prinzip

69 Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 351, ders.: Physik der Sitten und des Rechts, S. 166. 70 Vgl. Durkheim: „Der Individualismus und die Intellektuellen“ und ders.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 37; ders.: „Der Dualismus der menschlichen Natur und seine sozialen Bedingungen“.

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des Totems lasse den Seelenbegriff aus einem diffusen Inkarnationsbündel zum geschlossenen Persönlichkeitsgrund sublimieren, der den Einzelnen trage.71 Es seien also Ideale aus seinem Kollektivleben, die den Menschen über das selbstzentrierte Individuum hinausheben, dies auch dann, wenn die kultische Hochschätzung – in einer merkwürdigen Übertragung – dem Individuum gilt. In diesem Sinne stellt der „moralische Individualismus“ gleichsam das wichtigste Sozialtotem unseres neuesten Weltzustandes dar. Die Achtung vor bloßen Individualmerkmalen, die außerhalb des Sozialethischen stecken bleiben, sei private Magie. Die ausschließlich als Kollektivideal gültige Individualität wurde erst neulich, in der Begeisterung des heiligen Zusammenseins von Revolutionen, geboren. Nach der Rückkehr aus dem Gruppenrausch gewinnt freilich auch diesmal das Zwangsmoment die Oberhand: die gemeinschaftlich gestiftete Ordnung etabliere sich durch die profansten Sphären des modernen Lebens nüchtern hindurch. Selbst das persönliche Identitätsbewusstsein wurzle aber in Gruppenerlebnissen, die sogar die Kraft haben, der Individualität freien Lauf zu geben. Individualität sei, als Produkt der „fortschreitenden Autonomie“,72 eine spezifische Ausformung des Personseins, das für Durkheim das Übergreifende darstellt. Unsere Selbstreflexionen zeigen heute eine Gestalt, deren Wesenszüge universalmenschlich vorkommen. Der bleibende Kern der Person sei die solidarische Gemeinschaft, die heute, nach Jahrtausenden der „Sensibilisierung für die Belange der menschlichen Persönlichkeit“, eben Autonomie von ihren Mitgliedern erwarte: es gehe um „aufgeklärt zuzustimmende“ Forderungen des allgemeinen Menschseins.73 Identität solle im Vollzug der Gruppenkohärenz bestehen, belastet mit den Spannungen einer gleichzeitigen Liebe zum idealen Gruppenmitglied und zum idealen Allgemeinmenschen. Identität als privates Lebensproblem drücke sich im Schmerzen des Opfers aus, unserem „besseren Teil“ gehorchend das falsche Bewusstsein des Eigensinns aufzugeben. Wenden wir nun die hegelsche Gedankenanleihe Durkheims, welche den jeweiligen Gottesbegriff als Selbstbegriff eines Volkes liest, soziologisierend auf seine eigenen Ausführungen an, so lassen sich in der Intensität der Solidaritätsfrage altisraelitische Elemente einer opferzentralisierenden Gemeindereligiosität, katholische Elemente einer staatstragenden Einheitskirche und politische Elemente eines nachrevolutionären Zeitalters mühelos antreffen. Der zeitgeschichtliche Problemhorizont der erschütterten Ordnung lenkt den theoretischen Blick immer wieder auf den dauernden Gruppenbestand. Französisch denke man – kosmopolitisch – gleichsam für die 71 Vgl. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 338 und 359ff. 72 Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft, S. 159. 73 Durkheim: Physik der Sitten und des Rechts, S. 100. Zur „aufgeklärten Zustimmung“ ders.: Erziehung, Moral und Gesellschaft, S. 163.

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Menschheit: auch die Formulierung der Menschenrechte sei, wie wir von Durkheim selber wissen, dieser Denkbewegung zu verdanken. Die Idee einer Geselligkeit, die der Ungeselligkeit grundsätzlich vorausgeht, ließ sich nun sowohl im Zeichen der Gegenseitigkeit, wie in dem der Wohlgefügtheit weiter vertiefen. Der „Kommunikation“ einerseits, dem „System“ andererseits sollte dann je auch Identität entwachsen. Die Selbstlehre der Interaktionen von George Herbert Mead, diesem pragmatistisch orientierten Pastorensohn mit philosophischer Ausbildung und psychologischem Interesse, hebt beim organisch unfestgestellten Menschenwesen an, um sich denkerisch zu der Hoffnung einer universalen Menschheitsgemeinschaft fortzuarbeiten. Über die üblichen Dualismen der Metaphysik hinweg, entspringt für ihn die ganze Vielfalt alles Menschlichen unserer Angewiesenheit auf zwischenmenschlich abgestimmte Akte der Weltgestaltung. Die nervliche Möglichkeit des „Triebaufschubs“ sei der entscheidende Evolutionsvorteil dieses gebürtigen „Mängelwesens“,74 mit naturgegebenen Gussformen des Verhaltens dürftig ausgestattet. In dieser augenblicklichen Verzögerung entstehe, vom Druck der Natur in natürlicher Weise befreit, leibhafte Sozialität in der Form des Sichhineinversetzens ins jeweilige Gegenüber. Für die erfolgreiche Einrichtung der menschlichen Welt in einer beliebigen Umwelt komme es auf die innere Vorwegnahme der Entgegnungen an, die durch das eigene Handeln im anwesenden Anderen hervorgerufen werden. Könne nun ein Gebärde die gleiche Reaktion in beiden Partnern auslösen, gewinne es plötzlich „Bedeutung“: in der funktionalen Kluft zwischen Reizen und Reaktionen baue sich aus symbolischen Gebärden die ganze Welt des Bewusstseins wie eine neue „Phase“ der Handlung aus. Nur für den Menschen stehe es offen, seine Gesten von nun an geisthaft zu „manipulieren“: sie, ihrer Ausführung beizeiten vorgreifend, in neue Bahnen zu lenken. Das Vehikel der stimmlichen Gebärden biete dabei, von der Konkretheit der Sprechsituation weniger oder mehr entbunden, die Grundlage für die vergeistigsten Abstraktionen. Die genuin dialogische Geisteswelt verdanke sich der Verbindung mit Anderen durch stumme und stimmhafte Gesten, die in den leibhaften Tiefen des Menschen wurzeln. Das Zusammenspiel von tastender Hand und spähendem Auge entfalte sich, vom Greifbaren und Sichtbarem immer weiter abgehoben, bis zu virtuellen Gesprächen im eigenen Inneren, mit Vorwegnahme der Antworten ei74 Der Ausdruck wird erst von Arnold Gehlen geprägt: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt [1940], während die Idee selber bis Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772] zurückverfolgen lässt. Zum spezifisch menschlichen Nervensystem George Herbert Mead: Mind, Self and Society [1934], S. 86 (die deutsche Übersetzung wird stellenweise am Original stillschweigend modifiziert, Seitenzahlen werden in Klammern angeführt).

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nes vorgestellten Publikums. Dieser Monismus der organischen Verankerung wendet sich von jeglicher Zertrennung von Denken und Sein ab, die eine ihrer maßgeblichen Ausgestaltungen in der Doppelheit des theoretischen und des praktischen Ich bei Kant erfahren hat. Weder aus dem Reich der Triebe, noch aus dem der Ideen, sondern aus dem pragma des gemeinsamen Handelns heraus entwickelt sich für diese sozialpsychologische Sicht die ganze Komplexität der Person. Das einfache Verhaltensschema der auch tierweltlich möglichen Aktivität und Reaktivität wird jedenfalls vom Menschen lebensweltlich durchbrochen: die Logik der motorischen Konditionierung wird – in einer Atmosphäre der kommunikativen Erfindungen – auf die der bedeutungshaften Kommunizierung umgestellt. Darin besteht die Grundintuition dieser kommunikativ rationalisierten Selbstlehre.75 Für die Entfaltung des selbstbewussten Personseins heißt dies, dass die symbolvermittelten Begegnungen jeden an jedem Anderen ursprünglich teilhaft werden lassen. Die Symbole, die sich von der gemeinsam angegangenen Welt bilden, repräsentieren ja den jeweiligen Anderen in seinen aktuell bedeutsamen Bezügen mit. Mehr noch: erst durch die Übernahme von fremdem Einstellungen kommt man für diese Anthropologie überhaupt zu sich. Selbsterfahrung sei nur auf dem Umweg durch Andere, in der Geste der „Identifikation“ mit ihrer Haltung zu uns, möglich. Selbstsein beruhe in diesem Sinne auf Anteilnahme am Fremdsein. In den prägnanten Worten Meads: „Wir müssen andere sein, um wir selbst sein zu können.“ Die durch und durch kommunikative Verhältnisbestimmung des Selbst lautet demnach: „Das Individuum hat ein Selbst nur in Bezug zu den Selbst anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe.“ Wer wir sind, sei in Kontakterfahrungen zu ermitteln: nur spiegelbildlich könne das interaktiv entstandene Selbst erkannt und aufrechterhalten werden. Mit dem Universalschlüssel der Kommunikation lasse sich auch das Selbst entziffern. Selbstreflexivität bedeutet hier, mangels ursprünglicher Selbstverhältnisse, Rückspiegelung in bedeutungshaften Gebärden von Seiten bedeutsamer Anderer. Die cartesianische Selbstgewissheit des einsam Denkenden wird hier, im Umfeld von weltgestaltenden Erwartungen eines amerikanischen Protestantismus, zur Selbstkonstitution im sozialen Handeln soziologisiert. Die innere Geste, die den Anderen und somit sich selbst zum Objekt macht, lässt für Mead Subjektivität überhaupt entstehen. „Geselliger“ könnten Anerkennungsverhältnisse kaum angelegt werden, als in der Konstitution des Selbst in gegenseitigen Spiegelungsprozessen. Das Selbst und sein Anderer sind des gleichen Ursprungs; der „Doppelgän75 Zur menschlichen Umwelt Geist, Identität und Gesellschaft, S. 291ff; zum Denken als einem Übermittlungsprozess von inneren Gedankengesten ders.: Mind, Self and Society, S. 141ff (deutsch S. 184ff).

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ger“ des Primitiven ist das Selbst als ein Anderer. Bildhaft gesprochen ist es das Gesicht und das Auge des Gegenübers, in dem sich das eigene Wesen kundgibt. Auch das Leblose wird dabei wie ein belebter Wirkungskern in die Dialogik menschlich einbezogen: in der Auseinandersetzung mit der virtuellen Perspektive von Gegenständen entwickelt sich für Mead das eigene Körperbewusstsein, zeitgleich mit der Abzeichnung von konstanten „Dingen“ in dem Strom der Wahrnehmungen. Die naturbedingte Fähigkeit der Perspektivenübernahme wird so zur Grundlage der Selbstorientierung, indem sie die „Rolle“ der Anderen im eigenen Inneren durchspielen lässt – eine bedeutungsschwere Theatermetapher, die nun, im Soziologischen angelangt, das Muster der Erwartungen und Erwartungserwartungen bezeichnet. Es geht allerdings nicht um eine wörtliche Identifikation mit den Rollen, da es nichts gibt, das sich identifizieren könnte: es gibt nichts den Rollen Vorausgehendes, das eine Identifikation aus eigener Kraft vollziehen könnte. „Das Selbst ist nicht etwas, was zuerst da ist und dann in Beziehung zu anderen tritt; es ist sozusagen vielmehr ein Wirbel in der gesellschaftlichen Strömung und somit immer noch Teil dieses Stromes.“76 Die Person in ihren vielfältigen Fremdbezügen wird von Mead „Mich (me)“ genannt, genauer: es ist unsere Vorstellung vom Bild, das die jeweils bedeutsamen Anderen von uns haben mögen. In der Konstitution dieses Selbstkerns, der bei näherer Betrachtung als ein unabschließbarer Bildungsvorgang abläuft, schwingt immer eine gewisse Unsicherheit, indem die eigenen Vorstellungen, trotz aller Fremdbestätigung, als Elemente eines inneren Selbstgesprächs eben etwas Imaginatives in sich tragen. Die Perspektiven haben jedoch ihre Festigkeit in den ausgefüllten Positionen, ohne sich in relativistischer Beliebigkeit aufzulösen.77 Durch das „Mich“ als verinnerlichte Andere baue sich schließlich das Ganze der Gesellschaft mit ihren Erwartungen ins Einzelne ein: die Gesellschaft ist für diese Auffassung der Inbegriff der unvermeidlich geteilten Verbindlichkeiten. Eine wachsende Zahl von Anderen schreibe sich mit den immer verzweigter gedeihenden Verbindungen in das Selbst hinein: der Identitätsaspekt der Einwohnung der gemeinsam durchwirkten Weltbereiche bestehe im Hervorrufen der Anderen im eigenen Inneren. So laufen, in der nahezu unmerklich eingesetzten physikalistischen Terminologie, diesseits jeder inneren Selbstbeobach76 Mead: „Die Genesis der Identität und die soziale Kontrolle [1925]“, S. 327; ders.: Mind, Self and Society, S. 140, 182, 164 (182, 225, 206). Die Idee des „Spiegelbildselbst“ wurde vorbereitet bei Charles Norton Cooley: Human Nature and the Social Order [1902]. Zur „Rollenübernahme“ besonders Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 418ff. Zur Lösung des Anerkennungsproblems bei Hegel und Mead Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 20ff und 114ff. 77 Zur Objektivität Mead: „Die objektive Realität der Perspektiven“.

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tung des Menschen, die „Mechanismen“ der Selbstbildung ab. Die seelenlose Psychologie, die im Traditionsstrang des transzendental aufgelösten Ich steht, spricht von „Funktionen“ statt „Substanzen“, von „Prozessen“ statt „Elementen“, von „ego“ und „alter“ statt „Ich“ und „Du“. „Sinn“ verliert seine existenziale Schwere im „Zeichen“; der „lebendige Geist“ wird zu einem „Zusammenspiel der Gesten“, die verspürte „Lebendigkeit der Beziehungen“ zu „Situationen der Verhaltensregelung“. Indem der Mensch verschiedene Instanzen der Selbstorientierung im Verkehr mit Anderen in sich ausbildet, ist Konflikt im „Mich“, in diesem dem Niederschlag der unterschiedlichsten Bezugspersonen, für Mead gleichsam vorprogrammiert. Die immer mehr ausgefächerten Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, gemeinhin Differenzierung genannt, entwickeln innere Differenzen des Selbstverständnisses. Der Kampf der wetteifernden Einordnungen im sozialen Miteinander müsse zur Ruhe gebracht werden. Für den Einzelnen heiße dies, dass die verschiedenen Verhaltenserwartungen des Rollengeflechts schließlich zum einheitlichen Selbstbild zusammengefügt werden sollen, um bedachte Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Selbstbewusstsein sei weitgehend mit Positionsbewusstsein ausgefüllt. Die kohärente Verschränkung der ganzen Fülle der Fremdperspektiven ist für diese Identitätslehre eine gemeinsame Kommunikationsleistung der Gruppe. Die Anderen fügen sich in einem immer funktionaler gegliederten Gebilde zur arbeitsteiligen Gruppe zusammen, was im eigenen Selbst ein geordnetes Rollengefüge entfalten lasse. Die Erschütterungen des Selbst scheinen sich, weit von Verzweiflungen entfernt, im Unverhältnismäßigen des Wollens und des Könnens zu erschöpfen. Im Entwicklungsgang des Selbst organisiere sich der Mensch, nach der Desorientierung der Rollenkonflikte, in immer umfassenderen Gesamtbildern immer wieder neu. Dem Vielerlei der allerseits eingebrachten Gesichtspunkte entwächst in mühevollen Vermittlungen die eine Sicht der imaginären Gesellschaft. Die Denkfiguren der alltragenden Wesensdialektik werden hier zu personentragenden Interaktionen vermenschlicht. Indem ja die Mitteilung von Bedeutungen Teilhabe an immer breiteren Kreisen von Anderen begründe, lasse Kommunikation den Einzelnen durch das immer konkrete Gegenüber in die Ganzheit der Communitas einbinden. In diesem Sinne setzt das Selbst – in implizitem Kontrast zu Platos Seelenlehre – die „Präexistenz der Gruppe“ voraus. „Die Einheit und Struktur des kompletten Selbst spiegelt die Einheit und Struktur des gesellschaftlichen Prozesses als Ganzen.“ Die primäre Ordnung des Selbst ist die gemeinsame Ordnung der kommunikativen Gemeinschaften. Die Logik der äußeren Zuschreibungen zieht dann diese Kommunikationslehre der Identität zunehmend in ihren Bann. Nichts wird dann die Weiterdenker der Theorie daran hindern, die Idee einer Selbstka-

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tegorisierung, die auf Fremdkategorisierung beruht, zur „Etikettierung“ als zum alles entscheidenden Bildner der Persönlichkeit zu steigern.78 Nicht so sehr die Urzeiten der Menschheitsgeschichte, sondern – nach verbreitetem Psychologengebrauch – die frühkindlichen Wurzeln der Personalität sind für diesen Ansatz von Interesse. Spielerisch übe sich der Einzelmensch ins Soziale hinein. Die Stufenleiter der Spiele nach dem Universalitätsgrad der Rollenübernahme reiche von den Elementarbeziehungen der Familie durch das Regelwerk überschauberer Gruppen bis zum Allgemeinmenschen. Das Individuum orientiere sich schließlich am breitesten Horizont der idealisierten Menschheit. Das Programm der kommunikativen Identität arbeitet sich, dank seinem Konstruktionsprinzip, ungehindert bis zu der begründeten Hoffnung einer umfassenden Kommunikationsgemeinschaft hinauf: das Idealbild der alles durchdringenden Gegenseitigkeit heißt für Mead „Demokratie“. Bleibt das Selbst im Sozialen, das Soziale im Organischen verankert, so ist weltgemeinschaftliche Fremdkontrolle zugleich natürlich-vernünftige Selbstkontrolle. Anfeindungen dienen schließlich dazu, dem Erschlaffen des Interesses an Brüderlichkeit vorzubeugen, auch wenn der Feind mal Teufel, mal Parteipolitik heiße. Der inhärente Optimismus der Kommunikationsidee, die schon rein sprachlich zur Gemeinschaftlichkeit tendiert, bringt hier utopische Früchte: in der Verständigung ist Einverständnis potenziell angelegt. Die Universalität der Vernunft könne durch einen ins Unendliche laufenden Perspektivenwechsel errungen werden: die Größen der Philosophie nehmen so nur die von jedem einsehbaren Wahrheitshöhen in Besitz, die übrigens mit dem praktisch Bedeutsamen zusammenfallen. Um dies auf die Philosophiegeschichte anzuwenden: Die hegelschen „Aufhebungen“ der Ideenentwicklung seien – zumindest der Möglichkeit nach – pragmatisch vorgezeichnet, was auch den welthistorischen Sozialprozess dem Gleichgewicht der Herrschaftsfreiheit zulaufen lasse.79 78 Mead: Mind, Self and Society, S. 164 144 (207, 186). Zu Meads Hegel-Bild sowie zur inneren Konsequenz seines Denkwegs Hans Joas: Praktische Intersubjektivität. – Eine Strukturtheorie der „Bezugsgruppen“ mit Blick auf die inneren Spannungen des „Rollenvorrats“ wird später von Robert K. Merton ausgearbeitet: Social Theory and Social Structure [1968]; während das Ich für Jacques Lacan durch die Brechungen der Spiegelungen, die immer nur das „Bild“ zeigen, von vornherein auf Selbstentfremdung angelegt ist, s. „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion [1949]“. Das Problem hängt in seinen Augen mit der Massenproduktion von Spiegeln in der angehenden Neuzeit zusammen: eine zutiefst soziologische Einsicht. – Zur „Etikettierung“ s. Howard S. Beckers Ansatz zur Erklärung des abweichenden Verhaltens: Etikettierung. 79 Vgl. Mead: Mind, Self and Society, S. 220f, 286 (264f, 333). Zu den ethischen und politischen Konsequenzen – oder eben Vorannahmen – von Meads Denken s. Joas:

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Nicht einmal der noch so starke Wille zum Eintracht könne jedoch – besonders unter dem Eindruck eines Weltkriegs – verdecken, dass der Mensch nicht in passend ausgefüllten Sozialposten eines kommunikativen Gesamtmechanismus aufgeht. Auch wenn die unablässige Verinnerlichung der Gesellschaft, je nach historischem Zufall der persönlichen Begegnungen, unvermeidlich individualisiere, bleibt Erklärungsbedarf für die selbstbewussten Ausbrüche aus dem jeweils beerbten sozialen Gefüge übrig – zumindest für das Selbstverständnis des modernen Menschen, in der Idee der persönlichen Freiheit erzogen. Anders formuliert: was kann das eine Selbst prinzipiell daran hindern, mit dem anderen schließlich zusammenzufallen, wenn die einzelnen Parteien spiegelbildlich die gleiche Position vertreten? Die unbewussten Elementarkräfte, für die Freud den ebenso neutral wie ungeheuerlich klingenden Namen „Es“ gefunden hat, werden von Mead auch sprachlich zum „Ich“ gezähmt. Am Rande der Routine des „Mich“ tut sich das Reich der Spontaneität auf. Das „Ich“ als eigentliche Quelle der Überraschungen, die auch als „Kreativität“ bezeichnet werden kann, breche immer wieder in unwillkürlichen „Impulsen“ aus, um das Seine – „sich selbst verwirklichend“ – in den Verkehr einzubringen. Innovation sei bessere Anpassung aus dem „Ich“ heraus: das Unerwartete entlade sich im Faszinosum der Einbildung. Die Unbestimmtheit der persönlichen Dispositionen lässt einen in die eigentliche Zukunft hinaustreten. Die Größe der herausragenden Geister liege in ihrer Fähigkeit, die unterschwellige Haltung größerer Menschenkreise vorweg- und einzunehmen. Was nun das prekäre Verhältnis der beiden Selbstteile betrifft: „Das Ich ruft das Mich nicht nur hervor, es reagiert auch darauf. Zusammen bilden sie eine Persönlichkeit, wie sie in der gesellschaftlichen Erfahrung erscheint. Das Selbst ist im wesentlichen ein gesellschaftlicher Prozess, der in diesen beiden Phasen abläuft.“80 Die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung der Angebote vom „Ich“ bleibt allerdings dem „Mich“ anheimgestellt. Die besseren Lösungen von Handlungsproblemen als gemeinsamen Anpassungsproblemen können allgemeine Geltung gewinnen, indem sie zum Gemeingut gedeutet werden. Die erfinderischen Ausnahmeerfahrungen müssen in übernahmefähige Gestalt gegossen werden. Die organisierte Kulturwelt öffne sich immer wieder den ungegliederten Selbstregungen: Kultur und Triebbefriedigung seien durch geglückte Symbolisierung miteinander versöhnbar. Die Rationalisie-

Praktische Intersubjektivität. Die Idee der herrschaftsfreien Identität auf sprachphilosophischer Basis wird von Jürgen Habermas weitergeführt, s. vor allem Die Theorie des kommunikativen Handelns sowie Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. 80 Mead: Mind, Self and Society, S. 213, 178 (257, 220f), zu Jesus, Buddha und Sokrates als Führerpersönlichkeiten S. 216 (262).

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rung des Identitätsgedankens aus der Perspektive der Kommunikation gravitiert dazu, Identität im großräumigen Interaktionsgeschehen aufzulösen. Auch wenn das metaphysisch überfrachtete „Verhältnis“ durch „Interaktion“ ersetzt wird, wird es auf die personenstiftende Dynamik des zwischenmenschlichen Verkehrs nur noch selten verzichtet. Die Harmonie zwischen Individuellem und Sozialem soll durch die immer gefährdete Wechselbeziehung zwischen veräußerlichter Innenwelt und verinnerlichter Außenwelt aufrechterhalten werden.81 Unsere Institutionen sind für diese Betrachtung nichts anderes, als gegenständlich geronnene Versuche zur Abwehr der Zerfallsgefahr. Die immer breiteren Kreise der Kommunikation, die für die jeweilige Ausbildung der Persönlichkeit von Bedeutung sein sollen, seien eindeutig auszumachen, wie auch die Lebenslagen, welche für die wohlgeordnete Einheitlichkeit Bedrohung bedeuten. Die persönliche Identität überwölbe die immer mehr auseinanderfallende Vielfalt der individuellen Lebenskreise wie ein innerweltliches Jenseits.82 Die individuellen „Restbestände“ werden in immer sozialer geprägten Modellen theoretisch bewältigt. Die populärste Harmonielehre der Identität, die von Erik H. Erikson, der in verworrenen Familien- und geplagten Geschichtsverhältnissen aufgewachsen zeitlebens mit den Dämonen des eigenen Selbst zu kämpfen hatte, organisiert das heranwachsende Selbst um den Doppelfokus von Krisen und ihrer Bewältigung. Die vielfache Kontingenz der persönlichen Identität, die sich in Interaktionen entfalte, ist eine historisierte Abwandlung der von Freud festgestellten Labilität des seelischen Apparats. Die „elliptisch“ aufgespannte Spirale der lebenslänglichen Entwicklungsbahn hat die „Gesundheit“ und das „Gelingen“ zu ihrem Maß. Vom therapeutischen Zweck angeleitet, fasst diese Theorie unter dem Begriff der Identität diejenigen Kompetenzen, die den Einzelnen befähigen sollen, „angesichts des wechselndes Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten“. Das psychosexuelle Entwicklungsmodell der Persönlichkeit wird in den Lebensabend hinein verlängert: in immer vielfältigeren Außenbeziehungen wachse der Mensch zur „Reife“ heran. Da „Ich-Identität“ sich in organisch vorgeprägten Stufen in dauernder Wechselwirkung mit Anderen entfalte, können die Akten der psychoanalytisch ausgedeuteten Traumfälle für eine psychosoziale Auswertung wiedereröffnet werden. Die triebenergetisch bedingten Altersphasen 81 Dies geschieht mit einem prinzipiellen Nachdruck entweder auf den Prozessen der persönlichen Deutung wie im „symbolischen Interaktionismus“ (Herbert Blumer: Symbolic Interactionism, [1969]), oder auf der Macht des eingespielten Handelns wie in der „philosophischen Anthropologie“. 82 Zu den fundamental religiösen Bezügen der Identität überhaupt in der Tradition der phänomenologischen Soziologie vgl. Hubert Knoblauch: „Religion, Identität und Transzendenz“.

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vom Säugling bis zum Greis tragen dabei je spezifische Erschütterungen in ihrer Mitte, die – von Rückmeldungen aus der geselligen Umwelt gelenkt – zur Arbeit an der eigenen „Ausgeglichenheit“ herausfordern. In einer strikten Abfolge von „Kernkonflikten“ soll der Mensch immer wieder Stabilität erlangen, um zur jeweils nächsten Stufe voranzuleben. Zwischen ‚Misstrauen‘ und ‚Urvertrauen‘, ‚ Zweifel‘ und ‚Autonomie‘, ‚Schuldgefühl‘ und ‚Initiative‘, ‚Minderwertigkeit‘ und ‚Werksinn‘, ‚Rollenkonfusion‘ und ‚Identität‘, ‚Isolation‘ und ‚Intimität‘, ‚Stagnation‘ und ‚Generativität‘, ‚Verzweiflung‘ und ‚Integrität‘ schwankend erhasche man beim glücklichen Ausgang, beide Pole durchlebend, jeweils ‚Hoffnung‘, ‚Wille‘, ‚Entschlusskraft‘, ‚Kompetenz‘, ‚Treue‘, ‚Liebe‘, ‚Fürsorge‘ und ‚Weisheit‘ als „Qualitäten“ des Ich, um mit der Kraft der früheren Lösungen ausgerüstet sich zum nächsten Lebenskonflikt fortzuschwingen. Die schwerste Gefährdung scheint dabei nicht mehr in neurotischen Zusammenbrüchen aus dem „Es“ heraus, vielmehr in funktionalen Spaltungen des „Ich“ zu liegen, die sich aus den Zwängen der Rollenvielfalt ergeben. „Die Funktion des Ichs besteht darin, die psychosexuellen und psychosozialen Aspekte einer bestimmten Entwicklungsstufe zu integrieren und zu gleicher Zeit die Verbindung der neu erworbenen Identitätselemente mit den schon bestehenden herzustellen.“ Über das zentrale Dilemma der Jugend durch Entscheidungen hinausgekommen, „Wer bin ich, wer bin ich nicht?“, kristallisiere sich eine „neue Kombination alter und neuer Identifikationsfragmente“ heraus. Man soll in seine Rollen ohne restlose Identifikation mit Anderen hineinfinden. Eine lebensfähige Mitte zwischen Einzigartigkeit und Gleichförmigkeit wird in diesem Vermittlungsgedanken gesucht. Der klinische Gesichtspunkt, d.h. das belastungsfähige Tragen von Antagonismen fällt so mit der ersehnten Zufriedenheit des Subjekts – sowie mit dem tatsächlichen kapitalistischen Bedarf an tüchtigen Rollenträgern zusammen, im Rahmen einer vielfältigen Ordnung öffentlicher und privater Funktionen. Auch die Ruhepunkte von gewissen Dichotomien scheinen moderne Ansprüche zu spiegeln: in der begrifflichen Fassung von ’Autonomie‘ und ‚Initiative‘ wie überhaupt in der Erwartung von Entscheidung und Kontinuität klingen – so die häufige Kritik – Inhalte an, die sich großer Wertschätzung eben in unserer Gegenwart erfreuen. Nicht nur rückwärts, auf die Psychobiographie eines Luthers bezogen, erscheint „Identitätskrise“ als Aufruf zum persönlichen Abstecken der äußersten Lebenshorizonte anachronistisch: für die Flexibilitätszumutung eines Projektkapitalismus erweise sich die Stetigkeit der Persönlichkeitsstruktur geradezu als „dysfunktional“.83 83 Erik H. Erikson: „Identität und Entwurzelung in unserer Zeit“, S. 82 und 77, ders.: „Das Problem der Ich-Identität“, S. 143. Zu den Lebensphasen grundsätzlich ders.: „Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit“; zur Trennung von ‚Identifikati-

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Auch moralpsychologisch wird „Souveränität“ zur gleichen Zeit mehrfach zur allgemeinmenschlichen Größe festgeschrieben. Eine steife Stufenleiter der Moralentwicklung soll den Einzelnen von der engstirnigen Selbstbesessenheit durch die traditionalistische Gruppengebundenheit bis zum unpersönlichen Prinzipiellen führen, indem seine innengeleiteten Handlungen, über die bloße Konventionalität hinaus, immer konsequenter auf ihre abstrakte Absicht hin bedacht werden. Der autonome Mensch – so die Behauptung von empirisch oft bezweifelter Signifikanz – beziehe seine ethische Selbstbewusstheit immer mehr aus seiner Verwirklichung des allgemein Gültigen. Es ist eine ontogenetische Perspektive, die der geschichtsphilosophischen Fortschrittsidee ebenso entspricht, wie den hochabstrakt gewonnenen neuzeitlichen Grundidealen.84 „Krise“ bleibt allerdings – wie in plastischer Weise bei Erikson, der „Identität“ für unsere Zusammenhänge terminologisch festlegt – ein nicht mehr auszuscheidender Bestandteil des Identitätsdenkens. Die Krisen manifestieren sich dabei in der Übermacht einer unübersichtlichen Außenwelt, in der unbeherrschbaren Vielheit ihrer selbständig gewordenen Ordnungen, oder in der Unvereinbarkeit der persönlichen „Rollen“, die in letztere eingespannt bleiben. Es sind alles Krisen hauptsächlich aus den umgebenden Bedingungen: die Identitätsnöte aus inneren Tiefen und Untiefen der Persönlichkeit rücken in den Hintergrund. Die Möglichkeit, in der „Angst“ der Existenz ein ganz Anderes sprunghaft zu wählen, verliert sich im schmalen Streifen der statistischen Unwahrscheinlichkeit. Die möglichen Pathologien ergeben sich für diese Sicht nicht so sehr aus dem Außeralltäglichen von Glaubenskrisen, vielmehr aus dem allzu Alltäglichen von Rollenkonflikten. Es ist immer mehr die quantitative Häufigkeit, die in Identitätsfragen entscheidet: im Umfeld von festen Krisen- und Entscheidungsmodellen soll sich Identität nach und nach „konstituieren“. Selbst die Krise hat ihr Muster, das bereits als solches Stabilität verspricht. Das Identitätsdenken geht nun in seinem weiteren soziologischen Verlauf immer näher an zugrunde liegende Großgebilde heran, um sich gleichzeitig immer weiter von persönlichen Innenperspektiven zu entfernen. Der existenzialistischen Idee der Einzigartigkeit entgegen bäumt sich eine soziologische Sicht auf, an übergreifenden „Gefügen“ und langfristigen „Anlagen“ interessiert. Die massivsten Fundamente der persoon‘ und ‚Identität‘ ders.: „Das Problem der Ich-Identität“, S. 138ff (alle in ders.: Identität und Lebenszyklus) Zu Luthers „Identitätskrise“ ders.: Der junge Mann Luther. Charles Taylor: „Ursprünge des neuzeitlichen Selbst“ S. 11ff, Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen, S. 30 und andere werfen der letztgenannten Arbeit Anachronismus vor. 84 S. dazu exemplarisch Jean Piagets und Lawrence Kohlbergs Schriften zur Moralentwicklung.

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nalen und kollektiven Identität sollen in vorsinnhaften Gerüsten aufgefunden werden. Im Horizont einer Gegenwart, die als mehrfach kontingent empfunden wird, läuft die semantische Befestigung der Identität: die Prozessbegrifflichkeit wird immer konsequenter auf Strukturbegrifflichkeit umgestellt. Nach Ansätzen der existenziellen „Betroffenheit“ wird nun Identität, wie in einer geistigen Gegenbewegung, durch immer entferntere Optik betrachtet. Selbst die persönlichsten Privatregungen zeichnen aus soziologischer Höhe gemeinsame Verhaltensfiguren ab; die Bruchstellen des Einzellebens fügen sich in eine durchgegliederte Ordnung von Lebensphasen ein. Nicht nur Soziales, auch Privates soll durch Soziales erklärt werden. Die Theoriedynamik dringt bis zu Gedanken voran, die das Geschehen von Strukturen getragen und die Rede von der Sprache gesprochen werden lassen. Die vermeintliche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird als „Struktur“ herausgeschält. Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit sollen, Epochenschwellen überwindend, in „langen Dauern“ oder in „zeitlosen“ Anthropologismen aufeinandertreffen. Es geht um Gestalten des Handelns, Denkens und Fühlens, die, auf unterschiedlichen Stufen der Allgemeinheit, vom „kollektiven Leben“ durchwirkt seien, wobei die einst gemeinte „Lebendigkeit“ der Kollektivität zu Lagerungsverhältnissen und Funktionsgefügen in einem „sozialen Raum“ entseelt wird. Zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Struktur‘ soll der ‚Habitus‘ vermitteln: unterhalb der Oberfläche der persönlichen Entscheidungen, die den „Subjektivismus“ eines Existenzialismus in ihrem Bann halten, und oberhalb des Kernbereichs der tragenden Ordnungen, dem der „Objektivismus“ eines Strukturalismus verfällt, stecken für Pierre Bourdieu die ungewählten Gestaltungsprinzipien jeder Wahlhandlung. Wer sich den „wirklichen“ Taten in diesem Geiste nähere, dem zeige sich die „inkorporierte“ Geschichte in der menschlichen Lebenspraxis. In den eingelebten Haltungen halte sich die sedimentierte Vergangenheit vorbewusst fest, um Triebkräfte gegebenenfalls auch für Schöpferisches freizusetzen. Die bewohnten Formen der Lebensgestaltung erlauben zwar, der unzählbaren Menge von Lebensläufen gemäß, unzählbare Kombinationen mit individuellem Charakter. Die persönlich angeeigneten Positionen zeigen aber schließlich ein unausgewogenes Doppelgesicht: die Träger von bereitliegenden Dispositionen verlieren sich in den „Spielen“ des sozialen Lebens mit den schwersten Machteinsätzen zuzeiten bis zur Selbstvergessenheit. Auch wenn ihre körperlichen und geistigen Gesten sich nicht in der Verwirklichung von immerseienden Strukturen erschöpfen, seien es die unterschwelligen Gruppenverhältnisse in ihrer Anlage, die den hintergründigen Sinn, d.h. die eigentliche Bedeutung ihrer Handlungen sichere. Die existenziell gemeinten Bewegungen halten tief in Leib und Glauben eingeschriebene Strukturen in Gang, wofür Bourdieu die ökonomistische Spra-

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che der „Produktion“ und „Reproduktion“ heranzieht. In kämpferisch ausgebauten „Feldern“ mit je spezifischer „Ökonomie“ könne die Logik der „Investitionen“ erlernt und subjektiver Sinn überhaupt einverleibt werden. Die Einheit der Lebensäußerungen, die den Vollzug der Werke bis zu den feinsten Stildifferenzen regiere, liege in der Einheitlichkeit der sozialen Existenzbedingungen; Richtung und Orientierung für das Selbstbewusstsein liege in den angeborenen Zugehörigkeiten. Jede Initiative aus persönlichem Interesse sei so schließlich eine „illusio“, die von Verschiebungen im Lauf der sozial bewältigten Zeit geweckt werde. Die immer wandelnde Ordnung der Ereignisse werde von agonistischen Gruppenrhythmen noch so kalkulierender Handlungen gewoben. Der noch so individuelle „Sinn für das Spiel“ sei – für diesen soziologisch-nüchternen Blick – nichts anderes, als „der häufig als ‚Berufung‘ beschriebene langwierige dialektische Prozess, durch den man ‚sich zu dem macht‘, durch das man gemacht wird, ‚wählt‘, was einen wählt, und an dessen Ende die verschiedenen Felder genau zu den Handelnden kommen, die mit dem für das reibungslose Funktionieren dieser Felder erforderlichen Habitus ausgestattet sind“. Das Geheimnis der Ordnungen sei die Unbewusstheit dieser Täuschung auch über sich selbst. Die später Kommenden ermangeln freilich dieser Selbstverständlichkeit: es bedarf der Selbst- und Fremdsuggestion mit magischem Aufwand aller symbolischen Kräfte. Das immer ausgefeiltere Triebwerk der sozialen Inklusion und Exklusion diene dazu, die herrschaftlich erforderten Grundhaltungen in die persönlichsten Selbstbilder leibhaft einzupflanzen. Die Menschen führen die Gesten ihrer Stellungen aus, indem dauerhafte und breiträumige Strukturen sich in ihnen manifestieren. Originalität erweise sich schließlich als Blendwerk von unbewusst waltenden Interessenpositionen.85 Es ist der amerikanische Soziologe Talcott Parsons – in Biologie und Ökonomie ausgebildet, mit europäischem Gedankengut gaststudentisch bedacht –, der auf der Suche nach den ermöglichenden Bedingungen der gesellschaftlichen ‚Ordnung‘ überhaupt die stabilste theoretische Lösung aller erlebnismäßigen Identitätsschwankungen ausarbeitet. Die naturwissenschaftlich aufgestiegene Idee der ‚Systemhaftigkeit‘ wird von ihm ins Freiheitsreich des Handelns mit fortschreitender Konsequenz einbezogen. Die heftig angeprangerten Unzulänglichkeiten jeder Elementarsicht isolierter Menschen führen seine Gedanken zu Ganzheiten mit innerem Zusammenhalt: erst durch geteilte Wertbindungen werde das Chaos – oder eben die bloß statistische Ordnung – selbstzentrierter Privat85 Zum Habitus s. nur Pierre Bourdieu: „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“; zum Begriff der „illusio“ ders.: Sozialer Sinn, S. 122f, Zitat ebd., S. 124, ferner ders.: Praktische Vernunft, S. 75ff; zu den Stildifferenzen der Lebensführung ders.: Die feinen Unterschiede.

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leidenschaften in geordnete Verhältnisse überführt, denen der Name ‚Gesellschaft‘ gebühre. Die Denkfiguren des zwischenmenschlichen ‚Vertrags‘, die in unterschiedlichen Abwandlungen das sozialphilosophische Denken eines individualistischen Zeitalters organisieren, greifen für Parsons zu kurz, die emanatistischen eines überempirischen ‚Weltgeistes‘ aber, die in der Idee des ‚Zeitgeists‘ ein langes Nachleben führen, zu weit, um die eigentliche Sozialwelt zu erfassen. ‚Ordnung‘ werde durch außerkontraktuelle Normelemente des Zusammenlebens gestiftet.86 Die Evidenz eines als konstant gedachten menschlichen Ordnungsdrangs einerseits, die Effizienz von betriebsmäßigen Organisationsformen andererseits legt es allerdings – im zugegebenen Banne des reinen Theoretisierens – für Parsons immer näher, auch für überorganische Zusammenhänge nach organischen Analogien zu greifen. Die ‚Architektur‘ des einstigen ‚Weltgebäudes‘, das allerdings von immer ‚entfremdeteren‘ Menschen bewohnt war, wandelt sich unter seiner Hand zunehmend zum selbstregulierenden ‚Weltsystem‘. Für diese zutiefst unhistorische Sicht zeigt das menschliche Geschehen immer systemischere Züge: als immerwährender Ursprung jeder nennenswerten Begebenheit stellen sich unverzichtbare ‚Funktionen‘ heraus, die das jeweilige Systemganze durch alle evolutiven Wandlungen hindurch in einem vorangleitenden Gleichgewicht halten. Funktionen sind in einer organischen Metaphorik auf die Selbsterhaltung von Großeinheiten bezogen. Die gruppendynamisch abgelesenen Grundmechanismen – Anpassung an die Umwelt (Adaptation), Verwirklichung von Zwecken (Goal attainment), Verbindung der Mitglieder (Integration), Erhaltung der eigenen Strukturmuster trotz immer wechselnder Teilnehmer (Latent pattern maintenance) – sollen in einem unausgesetzten Wechselspiel walten, um als AGIL aktivistisch zusammengelesen Ordnung auf Dauer zu stellen. ‚Strukturen‘ mit noch so starken normativen Absicherungen scheinen ja Stabilität nicht genügend zu sichern: die Denkbewegungen führen hier von grundsätzlichen ‚Komponenten‘ des ‚situativ‘ abwägenden Handelns durch seine Orientierung in inneren und äußeren ‚Strukturen‘ zu seinem ‚System‘ mit funktionalen ‚Subsystemen‘. Ist ein ‚System‘ einmal gegeben, ordnen sich ja ihre Elemente, die für diese Begriffsstrategie eben als ‚Teile‘ gelten, wie von selbst der Erhaltung des ‚Ganzen‘ unter. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass das Einheitsgebot der ‚Homöostase‘ die teilgesetzlichen Abweichbewegungen zur systemischen Ausgeglichenheit zurückführt. Die Systemlogik kennt letztlich keine prinzipiellen Schranken. Alles 86 S. dazu das frühe Hauptwerk, diese erste Kanonisationsleistung für das Fach, die eine Konvergenz der soziologischen „Klassiker“ in der normativen Auflösung des vertragstheoretisch angestoßenen „utilitaristischen Dilemmas“ auszuweisen sucht: The Structure of Social Action [1937].

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scheint an der theoretischen Findigkeit des systemstiftenden Geistes anzukommen, von der vierfältigen Aufteilung der conditio humana in physikalische, organische, handlungsleitende und transzendente Systeme bis zur Aufstockung der christlichen Trinität: das Adaptive des Sohnes, das Integrative des Geistes, das Mustererhaltende des Vaters wird – an der Leerstelle der Zielverwirklichung – durch den religiösen Menschen vervollständigt. Das universelle Funktionsgeviert nimmt wie eine Gussform jedes beliebige Weltelement in sich auf.87 Aus den systematisierenden Höhen mit immer brüchigeren Erfahrungsbezügen werden nun die persönlichen und kollektiven Aspekte der Identität als eine spezifische Dimension der Ordnungsfrage, nämlich die der ‚Integration‘, abgehandelt. Zwei Texte verdienen besondere Beachtung, aus unterschiedlichen Stationen der Werkentwicklung: einer aus der Mitte, mit gegliederten Funktionswelten des Handelns, und einer vom Ende, mit vollem Schwung funktionierenden Handlungssystemen. Die Persönlichkeit ist dabei selber auf dem Wege, sich in ein System zu verwandeln. Wenden wir uns zunächst der ersten Schrift zu. Eine Auseinandersetzung mit Freuds Persönlichkeitslehre soll hier die klassische Einheitsfrage der ‚Solidarität‘ in Fragen der ‚Motivation‘, der ‚Identifikation‘ und der ‚Legitimation‘ ausfächern. Bette sich ja das jeweilige Handeln in die Dreierstruktur der Persönlichkeit, der Gesellschaft und der Kultur ein, so komme alles auf die Entwicklung der nötigen persönlichen ‚Dispositionen‘, die Aneignung der sozial angebotenen ‚Rollen‘ und die Bindung an die kulturell eingeweihten ‚Bedeutungswelten‘ an. Es geht also nicht mehr um eine Tiefenhermeneutik von verborgenen Wollungen und allmählich eingefleischten Kontrollen, sondern um eine generalisierte Logik der sichtbaren Mechanismen, die das Außen im Inneren von den ersten Anfängen an verankern. Nicht im außeralltäglichen Glücksfall, vielmehr im theoriestiftenden Normalfall umfasse denn das Wertgefüge einer Gesellschaft und das Über-Ich seiner Mitglieder dieselben Inhalte: zu Rollen ‚institutionalisiert‘ einerseits, zu Fertigkeiten ‚internalisiert‘ andererseits. Gelange denn die äußere Wirklichkeit immer schon auf dem Vehikel sozialer Normen zum Einzelnen, so seien seine Handlungen bestens zubereitet, sich in strukturierte Ordnungen einzufügen. Die Bindungen erfolgen durch immer sublimere Objektbesetzungen: der unmittelbare Besitzwunsch der einverleibenden ‚Introjektion‘ verwandle sich in 87 Zur Möglichkeit von „Ordnung“ überhaupt als Kernfrage jeder Soziologie, von Hobbes beerbt, Talcott Parsons: The Structure of Social Action; zum umfassenden System der menschlichen Lebensbedingungen ders.: A Paradigm of the Human Condition [1978]; zur christlichen Dreieinigkeit Leon H. Mayhews Einleitung zu Parsons: On Institutions and Social Evolution [1985], S. 29; zum AGIL-Schema, das eine analytische Karriere machte, s. nur Talcott Parsons – Neil J. Smelser: Economy and Society.

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ein „So-sein-wollen-wie“ der idealisierenden ‚Internalisation‘. Durch das immer sozial verortete ‚alter‘ nehme das ‚ego‘ die ganze Komplementarität der jeweils möglichen Positionen liebend und lernend in sich auf. Da aber die Erwartungen in den gemeinsam bewohnten Kulturgebilden auf Erwartungen treffen, pflanzen die nächsten Anderen – wie unbeabsichtigt auch immer – eine reichhaltige Bedeutungswelt in den Einzelnen hinein, bis zu der jeweiligen Erlebensmöglichkeit des persönlichsten Freiheitsgefühls. „Von zwei Personen kann gesagt werden, dass sie insoweit miteinander identifiziert sind, als sie wichtige Komponenten der gemeinsamen Kultur miteinander teilen.“88 Das Über-Ich rückt vom Rande der Persönlichkeit in ihre Mitte. Im Interesse der Stabilität muss jedoch ein noch tiefer greifender Umbau in den inneren Instanzen des Menschen vorgenommen werden: die gesellige Welt, die durch Normen verinnerlicht werde, organisiere nicht nur ein „Über-Ich“, sondern präge auch breite Schichten des psychoanalytisch gestaltlosen „Es“. Die inneren Fäden, die einst ins unbewusste Reich der Triebe hinunterführten, werden hier durchgeschnitten. Selbst die elementarsten Bedürfnisse werden nach Parsons im wechselseitigen Verkehr mit Anderen geformt: die als eigenstes Gut empfundenen Veranlagungen zeigen eine reiche Tiefenformung. Das Erklärungsmodell bewegt sich, zur prinzipiellen Abwehr der innerlich drohenden Gefahren, in Richtung fest geordneter Verhältnisse. Was als Dilemma der sozialen Ordnung des Handelns aufgetreten ist, tendiert nun dem Schwerpunkt nach dazu, in eine Universaltheorie der Ordnung des Handelns zu münden.89 Eine unerwartete Konvergenz tut sich in dieser theoretischen Überwindung der empirisch allzu möglichen Instabilität auf: alles, was Freud gleichsam nur zeitbedingt versäumt habe, d.h. die interaktive Öffnung des selbstzentrierten Einzelmenschen, könne mit Durkheim nachgeholt werden. Die Gegenseitigkeit der geselligen Symbolisierung vermöchte die Geschlossenheit der ungeselligen Expressivität aufzubrechen. Dies wir in folgende Worte gefasst: „Die Bedingung einer Gruppe gemeinsamer expressiver Symbole besteht darin, daß sich die Generalisierung kathektischer Signifikanz in beide Richtungen ausdehnen sollte, zu den motivationalen Systemen sowohl von ego wie von alter, und zwar derart, daß die Bedeutungen miteinander kongruent sind.“90 Die schlichte Dichotomie von Gemeinschaftlichem und Gesellschaftlichem wird allerdings fünffach abgetönt: in zweiwertigen Wahlmustern orientiere sich jede bewusste Tat – wir wissen schon 88 Vgl. Parsons: „Das Über-Ich und die Theorie der sozialen Systeme“, Zitat S. 38. 89 So der Titel von Harald Wenzel: Die Ordnung des Handelns, der der inneren Folgerichtigkeit der Theorieentwicklung bei Parsons nachgeht. 90 Parsons: „The Theory of Symbolism in Relation to Action”, S. 37, zitiert nach Wenzel S. 416.

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– persönlich, gesellschaftlich wie auch kulturell. In gemeinsam ausgehandelten Bewegungsräumen habe der Mensch auch die Anhaltspunkte seines Selbstverständnisses aufzufinden. Das Schwanken der Beurteilungen zwischen Universalismus und Partikularismus, Neutralität und Affektivität, Ichbindung und Wirbindung, Leistungen und Eigenschaften, diffusen und spezifischen Erwartungen werde kulturell zur Ruhe gebracht.91 Die Kontinuität der Entscheidungen ebenso wie die kollektive Zusammengehörigkeit wurzle in geteilten Symbolwelten, gemeinhin Überlieferungen genannt. Die innere Stimmigkeit der drei Strukturen sei normativ verbürgt und sozial verwirklicht: Sozialisation lasse das Gesollte auch wollen. Das Anliegen der Persönlichkeit fügt sich reibungslos in die Komplementarität von Erwartungen und Erwartungserwartungen in einem umfassenden Rollenzusammenhang ein. Jede Abweichung aus unerträglicher Fremdbegrenzung könne allerdings zum Einzelaustritt und sogar zum Systembruch führen, sollten die etablierten Gegenmechanismen der geselligen Kontrolle dauernd versagen. Das Unsystemische der Eswelt scheint das Seine, den wohlgeordneten ‚Motivationshaushalt‘ kippend, stellenweise doch einzufordern. Die Tücken eines noch so „analytisch“ gemeinten „Realismus“, der das Konkrete mit dem Abstrakten gleichzusetzen neigt, nehmen an bestimmten Punkten der Wirklichkeit Rache: das funktional Unabgedeckte erhebt durchaus systematisch sein Haupt. Der Begriff der persönlichen Identität wird jedoch – wie die Ordnungsidee es will – immer konsequenter auf ein Systemdenken umgerüstet. Der theoretische Anspruch wird unmissverständlich formuliert: „Man besitzt die ideale Lösung, wenn ein logisch vollständiges System dynamischer Generalisierungen vorliegt, mit dem alle Elemente wechselseitiger Interdependenz zwischen den Variablen des Systems bestimmt werden können. Dieses Ideal wurde, im formalen Sinne, nur in den Systemen von Differenzialgleichungen der analytischen Mechanik erreicht.“92 Dazu sei zunächst eine numerische Quantifizierbarkeit der entscheidenden Variablen vonnöten. Von noch größerer Wichtigkeit sei aber der Bezug aller Angelegenheiten auf den aktuellen Bewegungsstand der Gesamtgesellschaft.

91 Zu den „Mustervariablen” Parsons–Shils: Toward a General Theory of Action [1951], S. 76ff. 92 Parsons: „The Present Position and Prospects of Systematic Theory in Sociology”, S. 46ff. Zum Folgenden Parsons: „Der Stellenwert des Identitätsbegriffs in der allgemeinen Handlungstheorie“, Zitate S. 68 und 84f (Übersetzung leicht modifiziert). Zum Schicksal der „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ in der Moderne ders.: Das System modernen Gesellschaften, S. 110ff.

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Die persönlichen Innenansichten der Selbsterfahrung werden nun, um der Klarheit des Ordnungsmodells willen, nicht nur immer verschwommener: Stilelemente der Ironie als Signatur einer Distanziertheit schleichen obendrein in die Analysen ein. Die Ausführungen klingen stellenweise wie eine Rede eines Antiintellektuellen vom Weltsystem herab, dass kein echtes Identitätsproblem sei. „Der Begriff ‚Identität‘ ist zu einem Modewort geworden“, so lesen wir, das „breitere Kreise von Intellektuellen anzieht“, wie das der „Entfremdung“ auch. Der Grund dafür liege, im Zusammenhang mit der funktionsmäßigen Ausfächerung der Sozialwelt, in der Vervielfältigung der Rollenerwartungen, die den Einzelnen jeweils betreffen. Gerade an diesem Punkt springe nun die Kulturwelt mit ihrem Wertsystem entlastend ein, um die Unübersichtlichkeit für den zunehmend individualisierten Menschen zu regeln. Das Identitätssystem der Persönlichkeit erlernt die Bedeutungsmuster seiner Selbstaufrechthaltung, über das gewissenhafte Über-Ich als eine wertvolle Familiengabe hinaus, im Austausch mit seiner immer breiteren Umwelt. Identität liege in den allgemeinsten Wertordnungen beschlossen. Das Gemeinschaftliche sei jedoch nicht zum Untergang verurteilt: Verbindungen erwachen in der Form der intimen Familiarität, der sachgebundenen Kollegialität und der politischen Aktivität auch im Gesellschaftlichen. Die symbolisch kodierten Bindungen, deren Schwerpunkt sich vom Prinzip der Herkunft zu dem der Leistung verlagere, werden gleichzeitig immer allgemeiner und „in irgendeiner Hinsicht“ immer einzigartiger. Zum einen: Dem wachsenden Niveau des Lebensstandards, der differenzierten Verfolgung der Interessen, der zunehmenden Einbeziehung des Fremden entspreche – als evolutionäre Kulturerrungenschaft – die Universalisierung der menschheitlich geteilten Wertvorstellungen. Je differenzierter das Sozialgefüge, umso universeller der Wertbestand, bis zur Idee der allgemeinen Menschenrechte hinaufgehend.93 Zum anderen: Gegenüber dem vermeintlichen Determinismus einer astronomischen, biologischen oder eben ökonomischen Bestimmtheit, welche die Zwangsstärke einer calvinistischen Prädestination erreiche, wachse in der Vielheit, von Intellektuellen oft unbemerkt, Freiheit heran. Der unausgesetzte Vorgang der Selbsteingliederung in die Rollenverhältnisse habe denn immer reichere Möglichkeiten, Einzigartigkeit im Schnittpunkt unterschiedlichster Verpflichtungen zu erlangen. Die „stilistischen Besonderheiten eines Autors“ zehren etwa von der flexiblen Allgemeinheit des gemeinsamen Sprachsystems. Individualität sei „immer eine Funktion der Verallgemeinerung von einigen Komponenten des relevanten Bedeutungsmusters.“ 93 S. Parsons: „Evolutionäre Universalien der Gesellschaft“ und ders.: „Comparative Studies and Evolutionary Change“. Vgl. dazu kritisch-ergänzend Hans Joas: Die Sakralität des Person, S. 260ff.

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Gliedert sich nun das System des Handelns in die Subsysteme des „Verhaltens“, der „Persönlichkeit“, der „Gesellschaft“ und der „Kultur“, das System der Gesellschaft aber – um eine Ebene tiefer in der Ordnungshierarchie hinabzusteigen – in die der „Wirtschaft“, der „Politik“, der „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ und der „normenerhaltenden Treuhand“, so wird konstantes Selbstbewusstsein schließlich zum Systemprodukt. Was oben und was unten ist, hängt von der jeweiligen Fragerichtung – „steuern“ oder „bedingen“ – ab. Die Grundbedingungen jeder identischen Verhaltenssteuerung liegen in Systemerfordernissen: das eigentliche Subjekt des Geschehens wird immer fraglicher. Die systemerrichtende Wucht durchbricht auch die Grenzen der Persönlichkeit: der Einzelne wird wieder einmal in theoretischen Allgemeinbesitz genommen. Die Riesensysteme der modernen Weltverhältnisse halten die unbewusste Höhlentiefe des spontansten Handelns unter Kontrolle. Übergangskonflikte können nur noch an Randgebieten der Austauschordnung aufbrechen. Tiefer könnte das Soziale nicht mehr in die Person eingelassen werden. Parsons‘ Ausführungen werden immer wieder als Beschreibung der Statussuche einer breiten Mittelschicht gelesen, auf herrschende amerikanische Selbstbilder zugeschnitten.94 Ein vermeintlicher Wertekonsens der liberalen Demokratie scheint hier systemtheoretische Gestalt anzunehmen. Die systemischen Anforderungen von der Anpassung an die Umwelt bis zur Bestandserhaltung eines gegebenen Kulturmusters holen die Theorie selber immer wieder ein. Die Rationalisierung der Identitätsidee im Zeichen einer Gesamtgesellschaft ist jedenfalls an ihrem prinzipiellen Endpunkt angelangt. Das Begriffsgelenk, das den Einzelnen mit seinem Anderen und durch ihn mit der Gesamtheit verbinden soll, ist dabei immer wieder die ‚Rolle‘. In diesem metaphorischen Kulminationspunkt scheinen zentrale Spannungen des Identitätsdenkens zu pulsieren: Wahl oder Zuschreibung, Freiheit oder Bestimmtheit?95 Die Konturen der ‚Person‘ verlieren sich, der Wortetymologie durchaus entsprechend, in tausendfachen Rollenkonstellationen. Die persona als schauspielerische Maske des altgriechischen Theaters kann die unterschiedlichsten Mienen unter sich verdecken, wie auch von Akt zu Akt, je nach dramaturgischem Bedarf, gewechselt werden. Ohne göttlichen Verfasser geblieben, der das Welttheater durch Jahrhunderte regiert hat, sind nun die Akteure im Sozialdrama auf Aufführungen ungewisser Urheberschaft angewiesen. Die Frage nach der Geburt von Ordnungen wird zumeist mit systemischen Anforderungen beant94 Vgl. dazu kritisch Dennis Wrong: „Das übersozialisierte Menschenbild in der modernen Soziologie“. 95 Vgl. Peter Wagner: „Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“, bes. S. 58ff. Für einen Überblick Joachim Fischer: „Die Rollendebatte – Der Streit um den ‚Homo sociologicus‘“.

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wortet: das Ganze halte sich in gegenseitiger Angewiesenheit von Leistungen zusammen. Einen gewissen Ruhepunkt scheint die Begriffsgeschichte in der Vernetzung von wechselseitigen Kontrollen erreicht zu haben, die sich im Verhältnis zueinander bestimmen lassen. Man führe die Handlungen seiner Stellung aus, denke ihre Gedanken und deute sich nach ihren Vorgaben. Das spezifisch Soziologische wird im „homo sociologicus“ als einem Rollenträger herausgestellt, der seine Position mit den gehörigen Lebensgesten inmitten eigener und fremder Bezugsgruppen erringe und innehabe.96 Das Rollengefüge bestehe für eine strukturelle Sicht in einem Funktionszusammenhang komplementärer Positionen, was das Ich sogar zum Reflex von äußeren Verhältnissen ohne eigene Syntheseleistung entblößen kann. Es seien die Rollen, die den „Mann ohne Eigenschaften“ überhaupt bekleiden. Das Funktionsmodell der Gesellschaft hat seinen Ort im breiteren Sinnzusammenhang der Beherrschbarkeit. Die Konflikte, die sich zwischen den heterogensten Erwartungen immer häufiger aufbrechen, sollen sowohl synchron wie auch diachron ausbalanciert werden, um der Erstarrung und dem Zerfall des Ichs – diesen modernen Pathologien – gleichermaßen zu entgehen.97 Der eingenommenen Stelle in der gegebenen Weltordnung wurde unter dem Begriff der ‚Person‘ schon stoisch nachgedacht, um auf die resignierte Hinnahme des Unveränderbaren einzustimmen. Stand, Position und Amt sollen den Menschen in seinen Taten nach Cicero führen.98 Die äußerlich aufgebürdeten Verpflichtungen und bewilligten Berechtigungen geraten jedoch mehr und mehr in Zusammenstoß mit dem Eigensten der sich als frei verstehenden Person, die sich von seinen Rollen immer mehr entfremdet: die Verselbständigung der ‚Person‘ geht mit der Entleerung der ‚Rolle‘ zur bloßen Hülle einher. Der Sitz der neuen Autonomie wehrt sich gegen heteronome Eingriffe. Starre Hüllen überziehen das lebendige Antlitz, damit es sich dem jeweils stärksten Rollendruck – dem „Ärgernis der Gesellschaft“ – beuge. Der Wunsch nach persönlicher Wahrhaftigkeit kann nun – im Namen einer näher nicht bestimmten Eigentlichkeit – 96 Vgl. Robert K. Merton: „Der Rollen-Set: Probleme der soziologischen Theorie“ und neulich Harrison White: Identity and Control, mit einem Akzent des agonalen Charakters der Identitätsbildung aus Ereignissen in einem Netzwerk unter kontingenten Bedingungen, um in einer Reihe von Identitätsmöglichkeiten Fuß zu fassen. 97 Vgl. Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, ähnlich Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. 98 Begriffsgeschichtlich wegweisend Ralf Konersmann: „Person. Ein bedeutungsgeschichtliches Panorama“. Zur geschichteten Persönlichkeitslehre des mittelstoischen Panaitios (2. Jhdt. v. Chr.) im Zusammenhang mit modernen Denkentwicklungen s. Richard Sorabji: Self.

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nicht anders, als in jeder Vorgeprägtheit eine vorgespielte Künstlichkeit zu wähnen. Der „echte“ Mensch möchte seinen erdrückenden „Doppelgänger“ loswerden.99 Seien jedoch, wie andere meinen, die Rollen keine soziologischen Produkte, sondern soziale Erfordernisse, die einem elementaren Normierungsbedarf des Zusammenlebens entspringen, so gelte es, dass wir alle unvermeidlich „Theater spielen“, auch wenn der jeweilige Rollenvorrat dem historischen Wandel unterliege. Man werde in seine immer schon gedeuteten Verhaltensroutinen durch Lernprozesse eingeweiht, mit der Möglichkeit des Übertritts unter ebenso geregelten Umständen. Unter der ‚Oberfläche‘ des Verhaltens schlage die Gesellschaft im Selbst Wurzel. Die Maske ist die nicht abzulegende Wahrheit, mit dem Gesicht untrennbar verwachsen.100 Die sozialen Verrichtungen können jedoch auch als Schutzwälle der freien Tat dienen: die Möglichkeit zur Distanzierung bringe Selbstbildung überhaupt in Gang. Hinter den spielerisch-ernsten Fassaden der dramatisierten Selbstaufführung zur Beeinflussung der Anderen suche man zumindest die Illusion seiner selbst vor einem Massenpublikum durch Kunstgriffe aufrechtzuerhalten. Die vielfach gefährdete Heiligkeit der Person könne nur in rollenhaft dargebotenen Botschaften bewahrt werden. Die rituellen Kunstgriffe zeigen allerdings zunehmend ironische Züge an. Die Grenze zwischen stigmatisierten „Abweichlern“ und standardisierten „Normalen“ zeige sich immer verschwommener. Das Maß des Gelingens verflüchtige sich dabei am jeweiligen Bühnenhorizont.101 Indem dann eine ursprüngliche Rollenhaftigkeit des Menschseins in seiner Unerschöpflichkeit und Unfestgelegtheit verankert wird, gewinnt Identität eine Tiefe voller Ungewissheiten über ihre Sozialität hinaus. Die unmögliche Unmittelbarkeit und die notwendige Selbstdistanz wird als kontingente Grundlage jeder menschlichen Ordnung mit neuer Entschlossenheit festgeschrieben. Die Geste der Namengebung, die das neugeborene Erdenkind in die Reihe der Ahnen einbinde, sei die erste Rollenhandlung, die ihm widerfahre. Die Freiheit oder Unfreiheit des Umgangs damit liege ihm selber ob. Die Identifikation „eines jeden mit etwas, was keiner von sich aus ist, bewährt sich als die einzige Konstan-

99

S. Ralph Linton: The Study of Man [1936] und Ralf Dahrendorfs Kritik: Homo Sociologicus, Zitat S. 59, zur Verdoppelung S. 20, der Hinweis auf Musil S. 80f.

100 S. etwa Heinrich Popitz: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Zu einer wissenssoziologischen Ausdeutung Peter L. Berger: „Identity as a Problem in the Sociology of Knowledge“. 101 S. Erving Goffmann: Wir alle spielen Theater [1959] und ders.: Stigma [1963]

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te in dem Grundverhältnis von sozialer Rolle und menschlicher Natur“.102 Mit der anthropologischen Fassung des Rollengedankens hat die Soziologisierung der Identität ihre Grenzen erreicht. Kultur wird nun zur Naturtatsache erklärt.

102 S. Helmuth Plessner: „Soziale Rolle und menschliche Natur [1960]“, S. 238. Ein Bogen von der mittelalterlichen Philosophie bis zum Rollenbegriff Plessners wird gezogen von Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person.

Die Kulturalisierung der Identität

Die historische Anschauung, die selbst das Streben nach anthropologischen und nachmetaphysischen Konstanten durchwirkt, verträgt sich allerdings in ihrer letzten Folgerichtigkeit mit keiner Unbeweglichkeit. Die noch so fest verankerten ‚Strukturen‘ und noch so lebendig aufscheinenden ‚Phänomene‘ verdünnen sich für das historisch gestimmte geistige Empfinden zu einem Geflecht von ineinandergreifenden Entwicklungsreihen. Das Werden und das Viele gewinnt, vor dem erlebnishaften Hintergrund der Verflüssigung vertrautester Elemente, weltanschauliche Oberhand über das Beharrende und das noch so vage Eine. Die äußeren Bewegungen des technischen und sozialen Geschehens ‚beschleunigen sich‘ gar bis zur Raserei, und reißen auch die inneren Lebensbewegungen mit sich: es entstehen Denkfiguren, welche die Welterscheinungen auf ihre Hochgeschwindigkeit hin erkunden, um sie in einen Strudel des zunehmenden Wandels einzubinden. Es ist nicht mehr der schwärmerische Wunsch der Zeitverkürzung einer apokalyptischen Heilserwartung, vielmehr die rück- und vorgreifende Ausdehnung von gegenwärtigen Beschleunigungsprozessen auf die innerweltliche Vergangenheit und Zukunft, die die zeitliche Verdichtung begrifflich aufnimmt – und mit herbeiführt.1 Für die Nüchternheit einer wissenschaftlich bearbeiteten Diesseitigkeit ist es die ordnende Haltung des Menschen, die in der Fülle von Welt- und Selbstregungen überhaupt Einheitsgestalten vernimmt. Der Mensch bringe nicht das ihm keimhaft Gegebene oder prinzipiell Vorgegebene zur mehr und mehr entwickelten Verwirklichung; er sei vielmehr auf die unablässige Hervorbringung seiner eigenen Welt geradezu angelegt. Für die geformte Welt in ihrem Gestaltenreichtum, die jenseits des natürlich ‚Notwendigen‘ liegt, wird der altehrwürdige Aus-

1

Zur Soziologie der Beschleunigung Hartmut Rosa: Beschleunigung, bezogen auf die subjektive Identität bes. S. 352ff. Zur Begriffsgeschichte Reinhart Koselleck: „Zeitverkürzung und Beschleunigung“.

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druck der ‚Kultur‘, aus den handfesten Bezügen des Ackerbaus schon altgriechisch bis zur Selbstpflege vergeistigt, nun am breitesten ausgespannt.2 Die Dynamik der wissenschaftlichen Rationalisierung des ‚Sozialen‘ wendet sich der menschlichen ‚Lebenswelt‘ zu, und geht daran, das angehäufte Forschungsmaterial im Zeichen der immer in Mehrzahl verstandenen ‚Kultur‘ zu sichten. Die Welt des Menschen bestehe dabei in ‚Sinnwelten‘, ‚Deutungsmustern‘ und ‚Wissensordnungen‘, die es auszulegen gelte. Es geht somit zunächst um ‚symbolische Ordnungen‘, die auf dem Umstand beruhen, dass Dinge und Vorgänge nicht bloß sind, sondern auch etwas für uns bedeuten. Der Mensch wird aus einem Träger von sozialen Rollen zu einem Wesen, das sich in der Mitte von selbst- und fremdgesponnenen Bedeutungsgeweben befinde. Auch die materiellsten Inhalte seien ja, infolge unserer mangelhaften triebhaften Festgelegtheit, darauf angewiesen, gedeutet zu werden. Es gebe nicht nur Kulturen des künstlerischen Schaffens, sondern auch solche des Wirtschaftens und des Politisierens, wie auch des leiblichen Erlebens und der körperlichen Praxis. Es geht weder um hochkulturelle Ansprüche im Sinne einer Lebensform ausgefeilter Welt- und Selbstpflege, noch um ein abgesondertes Teilgebiet der intellektuellen Betätigungen, vielmehr um die unauslöschbare Sinndimension des Menschentums. Kulturen seien in diesem Sinne unerschöpfliche Welten des sinnhaften Zuschreibens und Auslegens. Die Vielfalt der Deutungen – schon von Max Weber im breitesten Horizont behandelt – drängt die soziologisch erhoffte Eindeutigkeit einer rationalen Moderne aus dem wissenschaftlichen Gesichtskreis ab. Rationalität wird zu einem kontextualen Begriff, der auf das jeweilige Sinngebilde bezogen bleibt. Indem die einstigen Universalien sich zu bedeutungsträchtigen Partikularitäten vereinzeln, kommen die strukturalistisch verbannten Instrumente des ‚Verstehens‘ zum immer intensiveren Einsatz. Kommt es auf das menschlich Gemeinte sowie seine gewollten und ungewollten Effekte an, so führt die wiederentdeckte Idee der menschlichen Welt- und Selbstgestaltung zur Wiederbelebung interpretativer Ansätze der Welterklärung. Die Operationen des Deutens drängen sich, in dieser Radikalität durch Nietzsches Umwertungsprogramm der Werte heraufgeführt, sogar vor die Akte des Wahrnehmens: selbst Eindrücke der Sinnlichkeit seien für den Menschen immer schon ‚symbolhaft‘ vorgebildet. Gewähren Begriffe, wie die Einsicht der soziologisch informierten Befragung 2

Zu diesem Begriff der Kultur vgl. schon Max Webers „Objektivitätsaufsatz [1904]“, GAWL, S. 180 und ders.: „Religiöse Gemeinschaften“, WuG, S. 248f; später Clifford Geertz: Dichte Beschreibung [1973], S. 9. Zur Begriffsgeschichte aus der Fülle der Literatur Ralf Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung. Zur philosophischen Anthropologie des biologischen ‚Mängelwesens‘, das gleichsam von Natur aus auf Kultur angelegt sei, Arnold Gehlen: Der Mensch.

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des Wissens zeigt, nicht nur ins Begriffene, sondern auch in die Perspektive seines Begreifens Einblick, so fügt sich bereits der transzendentale Ansatz in den Mythos des menschlichen Mitschöpfertums der Welt und des eigenen Selbst. Diese erkenntnistheoretische Ausgestaltung des weltbeherrschenden Rationalismus reift nun im Begriff der ‚Kultur‘ zur vollen Weltanschauung. Der adäquate Zugang zu den menschlich belangvollen Weltgehalten wird in den mannigfachen Varianten der Auslegungskunst gesucht. Die Begrifflichkeit einer Epoche wird als eine komplexe Gussform abgetastet, die den jeweiligen ‚Erfahrungshaushalt‘ nicht nur sprachlich aufnehme, vielmehr auch menschliches Handeln – in einem „Kampf um Benennungen“ – von innen her gliedere und dadurch auch ermögliche. Das Gespür für den Begriffsaspekt des Geschehens stellt seinen Sozialaspekt bisweilen sogar in den Schatten. Es erwächst eine ‚hermeneutische‘ Geisteskultur der Ideen-, Begriffs-, Metaphern- und Diskursgeschichten, um das Vergangene und das Gegenwärtige in den Entwicklungen von kategorialen Unterscheidungen dingfest zu machen. Die formgebende Kraft von Differenzbildungen durch Menschenworte, deren Idee für uns in der welterschaffenden Benennungsmacht des biblischen Gottes untermauert ist, findet ihren Abdruck in Erfahrungen der lebensprägenden und ordnungsbildenden Wortmächtigkeit, die schließlich zu einer beliebig ausdehnbaren Philosophie der ‚Sprechakte‘ (John L. Austin) rationalisiert wird. Selbst eine weitgehend funktional ausgerichtete Systemtheorie der Sozialwelt kann im gegebenen Geistesklima schlecht umhin, eine ‚semantische‘ Parallelwelt auszubauen, um unserer hochpotenzierten Selbstreflexivität gerecht zu werden. Beobachtungen nach dem Schema System/Umwelt werden ja aus immer weiteren Beobachtungspunkten, die als „Blindflecken“ jeweils außerhalb des Beobachtbaren liegen, wieder in dualistischen Differenzierungen beobachtet.3 Auch Identitätslehren können für diese Sicht nur noch im Zeichen von dauernd wandelbaren Differenzen aufgestellt werden: Identität wird vom historisch gewachsenen und kulturell gepflegten Nicht-Identischen her gedacht. Gibt es keine natürliche Evidenz des körperlich-dinglichen Seins oder des prinzipiellen Sollens, die Identität verbürgen könnte, wird Identitätsbildung zur immer auch anders möglichen Selbstfixierung gegenüber allem Differenten: einer Form3

Zum mächtigen Programm einer Begriffsgeschichte s. außer Kosellecks Arbeiten die von ihm mit herausgegebenen Geschichtlichen Grundbegriffe (8 Bde) sowie das Historische Wörterbuch der Philosophie (13 Bde). Zur Beziehung von Sozial- und Begriffsgeschichte vgl. etwa Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 107ff, Zitat S. 112. Zur Idee der Wortmächtigkeit Hans-Georg Soeffner: „Der Mythos von der Macht des Wortes“. Zu einer systemtheoretischen Wissenssoziologie Niklas Luhmanns Gesellschaftsstruktur und Semantik (4 Bde).

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gebung unter kontingenten Bedingungen. Das Problem der eigenen und gemeinsamen Identität fällt zunehmend in den Umkreis der Selbsttätigkeit des Menschen, der sich selber aus der formlosen Unbestimmtheit – wie jeden anderen Gegenstand, dem er gegenübertritt – heraushebe. Das Moment der Willkür schleicht sich in die Idee der existenziellen Entscheidungen nach und nach hinein. Der vergleichende Horizont bescheinigt dabei der modernen abendländischen Selbstauslegung eine geschichtliche Beispiellosigkeit. Das personale Selbst mit seiner selbstgesteuerten Einzigartigkeit erweise sich als spezifische Form der Subjektivität. Die theoretische und praktische Integrität der Person, diese höchst individuelle Identifikationsgrundlage des heutigen Menschen, büße seine vermeintliche Allgemeingeltung aus wachsender historischer und kultureller Entfernung zunehmend ein. Personale Identität historisiert sich, über die noch so überzeugenden – philosophischen, soziologischen oder eben psychologischen – Phänomenologien der Persönlichkeitsentwicklung hinweg, aus einer „grundlegenden Daseinsform des Menschen“4 zum Ausnahmefall, einer besonderen Ausprägung in den mannigfachen Entwicklungsbahnen des Personseins. Die teleologisch angelegten Entwicklungsmodelle etwa der Moralentwicklung, die in einem ‚postkonventionellen‘ Stadium mit prinzipieller Innenleitung gipfeln, verraten für den kulturalistischen Blick ihren latenten Zeitindex. Die Projektion der individuellen Souveränität zum Ewig-Menschlichen wird zurückgenommen und als eine so-und-nicht-anders überkommene Aufgabe ausgewiesen. Der gesteigerte Sinn für das Vielerlei wird die allzu scharfe Abhebung vom Vormodernen beanstanden; die begrifflichen Dichotomien werden mit fließenden Zwischenformen nahtlos aufgefüllt.5 Auch die gemeinsame Selbstvergewisserung wird mit dem Zerfall der überkommenen Vergemeinschaftungen zum prinzipiellen Problem. Die identifikatorischen Grenzen von Gruppen erscheinen immer beweglicher: statt fester Konturen rücken „Übergänge“ in den Brennpunkt des historischen und ethnologischen Interesses. Für eine Wissenschaftlichkeit, die sich im Umfeld eines radikal verzeitlichten Geschehens bewegt, gilt die intensive Verunzeitlichung der Grenzen zwischen dem wertlosen ‚Draußen‘ und dem wertvollen ‚Drinnen‘ als 4

Thomas Luckmann: „Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz“, S. 295; zur neuzeitlichen Privatisierung der Identität ders.: „Personal Identity as an Evolutionary and Historical Problem“.

5

Marcel Mauss: „Eine Kategorie des menschlichen Geistes: der Begriff der Person und des ‚Ich‘ [1938]“ und Geertz: a.a.O., S. 294. Zur neueren Diskussion Carrithers – Collins – Lukes: The category of the person und Melford E. Spiro: „Is the Western Conception of the Self ‘Peculiar’ within the Context of the World Cultures?”

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unhaltbar. Die Muster von unablässig wandelnden Beziehungen zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ dürften nicht mit begrifflichen Mitteln zu stehenden Gebilden verfestigt werden. Die dramatischen Umwälzungen der Praxis etablieren sich als das Normale des Geschehens: die rituellen Vollzüge der vermittelnden Grenzüberschreitung besitzen die Kraft, selbst die noch so krassen Unterschiede zu bewältigen. Das „Liminale“ der Ausnahmezustände, diese periodisch inszenierte Aufhebung von Geltungen, nehme den asymmetrischen Gegenbegriffen des Politischen ihre todernste Schärfe. An den ekstatischen Schwellen zum Anderen können die einander Gegenüberstehenden bis zur Versöhnung aufgären – oder eben sich unreparierbar entzweien.6 Zugehörigkeit wird schließlich – in kulturalistischem Geiste – aus gegebenem Strukturmerkmal zum glaubensmäßigen Identifikationsakt, der inmitten interpretativen Verhältnissen als Selbstverpflichtung erfolgen sollte. Der ‚Fremde‘ gilt am sozialpsychologischen Endpunkt der hermeneutischen Denkbewegungen als ein Produkt von erfahrungsgesättigten Grenzziehungen im eigenen Deutungsschema; radikal fremd sei demnach, was die vertraute Sinnwelt grundsätzlich in Frage stelle. Fremdheit aufzuheben bedeute gegenseitige Neuorientierung der Selbst- und Fremdtypisierungen anhand gemeinsamer ‚Relevanzen‘.7 Von der Kultur als dem Inbegriff der jemals ausgeformten Lebensmöglichkeiten wird denn immer wieder auch Orientierung erwartet: im Durchgang durch die Fülle des je Gedachten, Gesprochenen und Ausgeübten sollten tragfähige Sinnzusammenhänge vorgefunden werden. In der durch und durch lesbaren Welt müssten bewährte Bestände entziffert werden können, die sich als ‚Traditionen‘ bewahrungswürdig erweisen. Unter wohl oder übel gegliederten Bedeutungsunterschieden sollte sich der denkende und handelnde Mensch zurechtfinden. Die Bedeutungslast der notgedrungen verabschiedeten Einheit der einstigen ‚Weltgeschichte‘ verlagert sich somit auf Erwartungen gegenüber einem sinnbeladenen Inventar der menschlichen Kulturleistungen. Zur Dominanz gelangt jedoch, unter den allzu labil empfundenen Umständen ungeheuerer Zeiten, ein drohendes Bewusstsein der Zufälligkeit. Dahin ist jede festgeschriebene Ordnung der Seienden, dahin jeder Anhalt der jeweils anstehenden Entscheidung. Der Horizont der Erwartungen löst sich von dem Raum der Erfahrungen ab, der Wirklichkeitsrahmen des Möglichen und Verfügbaren 6

Dazu klassisch Victor W. Turners literaturtheoretisch inspirierte ethnologische Arbeit: The Ritual Process: Structure and Antistructure.

7

Vgl. Alfred Schütz: „Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch“ und Peter L. Berger–Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Zum Problem der substantivistischen Erstarrung von sozialen Vorgängen u.a. Norbert Elias: Was ist Soziologie?, Kap. 1.

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verrückt sich ins Unbestimmte. Die Denkfigur des menschlichen Weltschöpfertums verbindet sich mit der Kontingenz des „es hätte auch anders kommen können“. Unter den noch so dynamisch aufgebotenen Einheitsformen des geradezu struktur- und systembesessenen Soziologisierens tun sich wieder Brüche und Diskontinuitäten auf: eine Tiefe von wirbelnden Sinngebungen, die – durchaus existenzialistisch gemeint – als Abgrund unterm Menschenfuß aufklafft.8 Die immer fragmentarischer ausfallende Wiederaneignung der eigensten Schöpfungen, die der Mensch aus sich heraus entfaltet, also der zunehmende Abstand zwischen „subjektiver“ und „objektiver Kultur“, wird von Georg Simmel als „Tragödie der Kultur“ auf den Punkt gebracht.9 Wir suchen die ursprüngliche Polarität zwischen unserem „Selbst“ und der „Welt“ mit einer wachsenden Masse von „Werken“ zu lindern, rücken aber die eigensten Erzeugnisse eben durch unsere unablässige Produktionstätigkeit in eine uneinholbare Ferne. Das Werk erstarre zur leblosen Gegenständlichkeit; der Zufall entscheide über die Rücknahme der Gebilde aus ihrer „selbstgenügsamen Isoliertheit“. Der Brückenschlag zwischen Subjektivem und Objektivem müsse mit jedem Fortschritt in der individualisierenden Geistigkeit fehlschlagen. Auch wenn einige sich für die Kontingenz mit einer nahezu selbstvergessenen Überschau der immensen Weltkulturgebilden trösten, während andere die modernen Entzweiungen mit Innerlichem und Ästhetischem aufzuwiegen trachten, haftet eine Gesinnung des Unbehagens der Kultur unwiderruflich an. Es geht um eine Verunsicherung des gesamten weltanschaulichen Horizonts, nicht nur eine Infragestellung einzelner Begebenheiten. Der Tatsachencharakter des Beliebigen und Zufälligen scheint den des Eindeutigen und Notwendigen an jedem Punkt zu überbieten. In der steigenden Ungewissheit der Weltempfindungen stemmt sich eine vollständige Weltsicht einer früheren, ebenso erschöpfenden Weltsicht entgegen. Das Doppelgesicht der Kontingenz als Unberechenbarkeit einerseits, als Verfügbarkeit andererseits, etabliert sich als zentrale Größe des allgemeinen Wirklichkeitsverständnisses: Zufallskontingenz solle, soweit möglich, in Gestaltungskontingenz gewendet werden.10

8

Vgl. Kierkegaard: „über der Tiefe von 70.000 Klaftern Wasser“ (Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 1, GW 10, S. 224; Nietzsche: „6.000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit“ („Ecce homo“, KSA 6, S. 335).

9

Simmel: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“.

10 Zu den Varianten der Kontingenz Odo Marquards Aufsatz in dem von ihm mit betreuten Sammelband zur Kontingenz. Zur Moderne als Kontingenzkultur Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz. Zur Kompensationsidee Joachim Ritter: Subjektivität.

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Indem die Wissenschaften vom Kulturmenschentum die Konstitution des Einzelnen und der Gruppe wie brüchige Verhältnisse analysieren, zerfallen diese zu zeitweiligen Übergangserscheinungen. Die Sprache der ‚Konstruktion‘ löst im steigenden Kontingenzdruck die der ‚Konstitution‘ ab. Unter der Oberfläche der Wissens- und Handlungsordnungen wird nicht einfach das nackte Gefüge, vielmehr das Künstliche der menschlichen Einrichtungen sichtbar. Die kulturell errichteten Sinngebäude erweisen sich als Schutzwerke gegenüber dem uns überströmenden Zufall. Auch wenn die Geste des Konstruierens Züge der Kreativität an sich trägt, liegt die ganze Schwere der Unentschiedenheit am Kontingenzbegriff. Statt Freude an wachsender Gestaltungsmacht herrscht eine Angst des Gefangenseins in fremdgefügten Ordnungen durch bloße Willkür vor. Werden sie nun als „bloße“ Konstruktionen entlarvt, so können wieder Möglichkeiten des freien Ausbrechens gesucht werden, mit dem Wunsch der ungebundenen Selbstgestaltung, der – merkwürdig genug – oft in die Idee der eigenmächtigen Willkür einmündet. Für ein Denken in Selbst- wie Gruppenkonstruktionen stehen freilich Motive aus der unfernen ideengeschichtlichen Vergangenheit vorgebildet zur Verfügung. Der Verdacht, dass die Person ihre eigene Einheit im losen Nacheinander der einzelnen Empfindungen nicht einfach vorfindet, führt die Engländer John Locke und David Hume in der anbrechenden Moderne zu der originellen Annahme der assoziativen Verbindung von Vorstellungen. Die Identität der Person, welcher der Name des ‚Selbst‘ gebühre, verdanke sich, so noch Locke, Leistungen des identischen Bewusstseins, das, an der numerischen Einheit des Körpers haftend, jeden Wahrnehmungs- und Denkakt wie von außen begleite. Prinzipien der Ähnlichkeit, der Kontinuität und der Kausalität bündeln das an sich Isolierte, so bereits Hume, zu Identitätsfiktionen, auch was Personen betrifft. Die Idee der freimütigen Gruppengestaltung nimmt ihren abendländischen Anfang zwar im Selbstverständnis der griechisch-antiken Demokratie, wächst aber zu ihrer philosophischen Reife in den frühneuzeitlich aufblühenden Vertragslehren. Die menschlich gestiftete Einheit einer jeden Gesellschaft komme – zumindest ihrem Prinzip nach – durch Vereinbarungen zustande, die zumeist auf kalkulatorischen Einsichten in den langfristigen Eigennutzen beruhen. Wie erzwungen und unbeständig auch immer, kommen dabei Entitäten zustande, deren Gesamtheit die einfache Summe der Teilnehmer übersteige. Wie die inneren Antriebe der Zugehörigkeit auf Dauer zu stellen sind, wie und ob der Einzelne seine Eigenständigkeit bewahren kann oder – in einer Transsubstantiation der Selbstaufgabe – überhaupt muss, daran scheiden sich die philosophischen Geister bis heute.11 11 Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding [1690], Kap. 2/XXVII: „Of Identity and Diversity”; David Hume: A Treatise of Human Nature

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Dass die „Konstruktionen“ der glaubensmäßigen Zusammengehörigkeit die stärksten Gemeinschaftsgefühle hervorrufen können, bedarf auch heutigentags kaum der empirischen Illustration. Frühere Ideen der „Verfehlbarkeit“ und „Homogenität“ der Identität geben jedoch im verwandelten erfahrungshaften Umfeld Platz für Ideen ihrer „Fragmentiertheit“ und „Multiplizität“. Das analytische Instrumentarium der Wissenschaftlichkeit neigt ja, an der neutralen Naturkausalität interessiert, schon durch seine bloße Anlage zur Auflösung jeder „irrationalen“ Glaubensmäßigkeit. Klein- wie Großsubjekte des Geschehens erfahren im geistigen Soge der allgemeinen Dezentrierung auch rückgängig ihren theoretischen Abbau. Die kulturalistische Forschung widmet sich immer öfter Fragen, wie unsere Vorfahren die persönlichen Untiefen des Einzelnen oder gesellige Formationen wie die Völker konstruiert haben. Eine virtualisierende Semantik der „Erfindung“ greift auch rückwirkend um sich. In den Fragestellungen, wie sich Gruppen der menschlichen Frühgeschichte – aufgrund weitgehend primordialer Faktoren – erfunden haben, schwingt allerdings, trotz ihrer unleugbaren Fruchtbarkeit, ein anachronistischer Unterton mit. Wie auch immer: Identität in den Kategorien des „Zuschreibens“ und „Erfindens“ zu behandeln, setzt einen Menschen voraus, der die Fähigkeit zur Distanzierung, gegebenenfalls bis ins Ironische gesteigert, besitzt – auch sich selbst gegenüber. Identität zu entwickeln sei das Privileg eines Menschen, der trotz jeder Krisenbelastung eine Gesamtorientierung für sich zu stiften vermag. Den Bann der Unverfügbarkeit abzuwerfen und die Beliebigkeit zum eigenen Vorteil zu kehren: in dieser Befreiung vom Kontingenten besteht das Anliegen der entsprechenden Philosophie. Wie kam es jedoch – so die Frage der kulturwissenschaftlichen Neugier – zu diesem höchsten Anspruch, wie stattete sich der Mensch mit einer „Subjektkultur“ der Identität aus? Der formalanalytischen Logisierung des Identischen steht Ludwig Wittgensteins Tautologiethese wie eine Warntafel lakonisch im Wege: „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.“12 Identität bleibt vorzüglich ein Begriffsmittel zur Auseinandersetzung mit persönlichen und kollektiven Lebensproblemen. [1739], S. 300ff. Zum Weiterdenken der sog. „analytischen“ Position mit einem körperlichen Schwerpunkt Peter Strawson: Individuals [1959], mit einer gewissen Verknüpfung von mentalen Ereignissen ohne einheitlichen Träger Derek Parfit: Reasons and Persons. – Zu den unterschiedlichen Varianten der Vertragstheorie Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Zur weitgehenden Aufgabe eines eigenständigen Ich zugunsten der Gesellschaft etwa Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechtes [1762]. 12 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 5.5303.

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Über alle Differenzen hinweg haben sich allerdings Versuche erhoben, wenn nicht mehr Einheit, so doch Kohärenz unter kontingenten Bedingungen aufzuspüren. Die eigene ‚Tradition‘, durch die Formungen des Erzählens und des Erinnerns gebrochen, wird als bewährte oder zumindest erinnerungswürdige Kontinuität wiedergelesen, Zukunft – mit aller Vorsicht – an Herkunft geknüpft. In einer Replik auf Simmels Tragödienaufsatz entwickelt Ernst Cassirer, indem er die Krisenhaftigkeit als Dauerzustand der Kultur annimmt, jenen Aspekt des Kulturbegriffs, der dafür maßgebend wird.13 Auch wenn die erdrückende Fülle der je hervorgebrachten Güter nie mehr zurückzugewinnen sei, bieten sie doch den notwendig mittelbaren Weg zum individuellen Anderen, um im gleichen Medium – dem des menschlichen Geistes – innerlich aufzuflammen. Erst durch Vermittlungswerke entspringe Beziehung zwischen einem „Ich“ und einem „Du“. Differenzen gelten so nicht mehr als End-, vielmehr als Ausgangspunkte der angestrengten Arbeit an uns selbst. Die geronnenen Formen des Menschentums können neues Leben in sich auffangen. Jenseits eines bloßen Selbstauffüllens mit Hergebrachtem gehe es auch in Zeiten der Renaissance, zwischen zwei entfernten Epochen also, um den Sieg der Spontaneität – der Gefahr der Erstarrung immerzu ausgeliefert. Kultur als brüchiges Gehäuse der Selbsttranszendenz trage das Siegel des Unendlichen an sich; das Wohnen darin sei des Menschen höchste Kunst. Dergestalt zwischen Differenz und Kohärenz pendelnd, waltet die Logik der Kulturalisierung von Identität.

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„Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war.“14 Es sind zwar Schreckensworte aus der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor Adorno, auf der Suche nach den Wurzeln der ungeheuersten Selbstzerstörung der Kultur; es sind aber zugleich Worte, die als Worte eines Befreiungsdrangs auch von Michel Foucault, diesem Ideenhistoriker mit psychologischer Ausbildung und theoretischem Anspruch aus großbürgerlicher Ärztefamilie, stammen könnten, wie ein Wahlspruch für eine ganze Welle von späteren Forschungen zur modernen ‚Selbstkultur‘. Die denkerische Grundintuition Foucaults lässt sich in seinem Hinweis auf den sprachlichen Doppelsinn von ‚Sub-

13 S. dazu Ernst Cassirer: „Die ‚Tragödie der Kultur‘“. Vgl. noch Odo Marquard: „Zukunft und Herkunft“. 14 Max Horkheimer – Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1947], S. 56

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jektivität‘ erfassen. Sub-iectum heißt ja einerseits, wie alltagssprachlich eingebürgert, autonomer Träger von Handlungen und Ordnungen zu sein; andererseits aber, dem lateinischen Wortlaut näher, fremden Mächten unterworfen zu sein.15 So wurde Foucault, Nietzscheschen Provokationen folgend, ein quellenforschender Virtuose in der Freilegung von verschütteten Differenzen, die das vielbeschworene Selbst immer künstlicher erscheinen ließen. Thematisch schritt er von neuzeitlichen Anstalten der schützenden und heilenden Absonderung zu denen der strafenden Disziplinierung voran, um schließlich in Praktiken der antiken Selbstsorge eine vergessene Art der Unverfälschtheit im Selbstverhältnis offenzulegen. Bei ihm wie bei Nietzsche wurde dabei auch ein Kampf gegen einen aufklärerischen Eigendünkel sowie eine christliche Selbstkasteiung zugleich ausgetragen, mit tiefer persönlicher Betroffenheit in Fragen der Ausformung von Geschlechtlichkeit. Grenzbereiche des vermeintlich Normalen in der vertrautesten Subjektivität werden aufgebrochen, abgrundtief verwurzelte Unterscheidungen im Menscheninneren hinterfragt. Die Denkbewegung der ‚Dezentrierung‘ des Menschen wird um einen Schritt weitergetrieben: was im transzendentalen Gedanken bei Kant seinen Anfang nahm, im Perspektivismus bei Nietzsche fortgeführt wurde, entwickelt sich hier zum breiten Forschungsprogramm um die Kernidee herum, dass nämlich jede Erkenntnis des Subjekts, aus welchen Motiven auch immer gespeist, bereits seine Umbildung bedeute. Unsere Selbstverständlichkeiten uns selbst betreffend entwickelten sich aus einer Fülle von Möglichkeiten zu ihrem So-und-nicht-anders-sein.16 Angefangen wird es gleich an der Wurzel unseres Selbstbewusstseins, am Stolz der modernen Selbstgewissheit, indem Foucault sich den steinernen Institutionen der Trennung von ‚Wahnsinn‘ und ‚Vernunft‘ widmet. Ohne analytische Tiefbohrungen ins Psychische gilt seine mehr als archivarische Aufmerksamkeit dem neuzeitlich errichteten Narrenhaus, diesem Instrument der bezähmenden und gefügig machenden Absperrung. Dass die ersehnte ‚Wahrheit‘ des Menschseins gerade im Unvernünftigen, ja im Tollen und Irren liege, dieser mal öffentlichen, mal heimlichen Ahnung, die immer wieder ‚romantisch‘ hochgekocht worden sei, werde erst im ‚aufklärerischen‘ Umfeld des 18. Jahrhunderts ein Ende bereitet. Den ‚Gesunden‘ vor dem ‚Kranken‘ zu beschützen, den Arbeitsunwilligen zur Tätigkeit zu erziehen, darin bestehe das wahre Motiv dieser Entfremdungsmaßnahme, weitab von jedem humanistischen Blendwerk. Die 15 S. etwa Michel Foucault: „Subjekt und Macht [1982]“, Schriften 4, S. 275 sowie ders.: Der Gebrauch der Lüste, Einleitung, III („les modes d’assujettissement“). 16 Vgl. Foucault: „Was ist Aufklärung? [1984]“, Schriften 4, S. 703. Zur Dezentrierung des Subjekts Andreas Reckwitz: Subjekt, S. 5ff.

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leibhafte Ausschließung des Nicht-Vernünftigen als eminent Anderen aus der Welt des Vernünftigen erweise sich als Vorbedingung des philosophisch zurechtgestutzten modernen Subjekts, das sein Maß und seine Währung in einem immer ‚reineren‘ Bewusstsein besitze. Weder die neue Ordnung des Denkens – dieser „Monolog der Vernunft“ über den verstummten Wahnsinn –, noch die ihr vorausgegangene spiegele jedoch eine Ewigkeitsstruktur der Sprache wider, die die überhaupt beziehbaren Positionen einfach vorschreiben würde. Das jeweils ‚Rationale‘ bilde sich in einem fortwährend geführten ‚Diskurs‘, der den Unterschied zum ‚Irrationalen‘ laufend umschreibe. Die eingespielte Klassifikationsordnung der Dinge biete die ‚Episteme‘ einer Epoche, über den nachdrücklichen epistemologischen Höhenflug unserer Zeit hinweg. Da es die jeweiligen Ausdrucksformen seien, die durch ihre kategorisierende Kraft Wirklichkeit herstellen, wird vorzüglich nach dokumentierten Arten, Mitteln, Stellungen und Festungen des Redens und Gegenredens gefragt. Die ‚Geburt‘ des Irrenhauses und damit auch die des Irren sei einem neuen Geiste der Grenzziehungen zuzuschreiben. Unvernunft werde aus weitgehend praktischen Gründen eines bürgerlichen Ordnungsdenkens in die Kompetenz der Medizin verwiesen und somit aus einer vermeintlich ursprünglichen Ungeschiedenheit herausgelöst: für die Wahrheit des Wahns werde – wie bei Nietzsche – mit dem Abbruch des Werks bezahlt. Die Darlegung der Äußerungen, die „im Zeitalter der Vernunft“ um die Bestimmung des ‚Wahnsinnigen‘ gekreist haben, erstrebe so gleichsam eine Ausgrabung von sprachlichen und außersprachlichen Monumenten aus der Vorgeschichte des modernen Selbst, ohne jedoch ‚Tiefsinnigkeiten‘ oder ‚Bewegungsgesetze‘ aufdecken zu wollen. Der ‚Archäologe‘ der menschlichen Lebensformationen taste sich im handfesten Dickicht des jeweils „Sichtbaren und Sagbaren“17 womöglich ohne jede theoretische Voreingenommenheit voran. Die Gestalt des heilenden Arztes als eines identifizierungswürdigen Ersatzvaters zeigt allerdings kräftige Züge eines Mythos in dieser Entstehungsgeschichte auch der Psychologie. Was überhaupt den neuen medizinischen Zugang zum Menschen angeht, erfolge in der „Klinik“ eine neue Gliederung des menschlichen Lebens – eben durch sein Ende im Tode hindurch betrachtet. Der klinische Blick, der im Sezieren des Körpers seine wichtigste Stütze finde, verschiebe die Verhältnisse zwischen Krankheit und Gesundheit von einem religiösen Diskurs des Heils zu ei17 Vgl. dazu die Analyse von Gilles Deleuze: Foucault, S. 79ff. Als Methodenschrift s. Foucault: Archäologie des Wissens [1969], zur Beziehung von Gegenständen und diskursiven Praktiken etwa S. 74., zu den oben aufgeführten Dimensionen des Diskurses S. 48ff. – Zur „Entfremdung“ des Irren ders.: Wahnsinn und Gesellschaft [1961], z.B. S. 455ff und 550; zu Descartes ebd., S. 70, zu Nietzsche ebd., S. 536; zur Kritik an Freud ebd., S. 533ff.

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nem profanen Diskurs der Endlichkeit.18 Die beobachtende, zerlegende und eingreifende Analytik der Endlichkeit gewinne somit – wie eine „stumme Ordnung“ des Denkens – eine Autonomie, welche die Sinnmuster unseres Welt- und Selbstverhältnisses individuell immer weniger verfügbar mache. „Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.“19 Was auf dem Spiel stehe, sei die überpersönliche Form dessen, was eine Person jeweils ausmache. Es seien Diskurse, die selbst den ‚Menschen‘ in jenen Wissenschaften erzeugen, die um seine Gestalt herum entspringen. Nicht mehr nach Prinzipien der abbildenden Ähnlichkeit, wie in der Renaissance, auch nicht mehr nach denen der klassifizierenden – identifizierenden und differenzierenden – Repräsentation, wie in der Klassik, sondern nach denen des produktiven Funktionierens werde Wissen über das Menschenwesen geregelt, flächendeckend in allen Disziplinen, die sein ‚Leben‘, seine ‚Arbeit‘ und seine ‚Sprache‘ behandeln. Der ‚reinen‘ Vernunft der Philosophie und dem ‚objektiven‘ Tatsachenbestand der Wissenschaft treten so ‚untergründige‘ Urkräfte der Metaphysik zur Seite, um den ‚Menschen‘ als zentrales Erkenntnisziel mit zu bedingen. Mit dem historischen Gedanken ergänzt, der den Ursprung in der Entwicklung meint, stehe das vierfache Mittel vor uns, das diese „empirisch-transzendentale Doublette“ erfassen soll. Die empirische Person werde ja erst jetzt, nach dem Vergehen der Wissensordnung der Zeichen, zum ‚Subjekt‘ objektiviert – zum erkennenden Weltschöpfer geweiht und eingebauten Fremdmächten unterworfen. Die verborgene Unheimlichkeit des lebendigen Körpers, der entfremdende Zwang der schöpferischen Arbeit und die unvordenkliche Vorgegebenheit der eigenen Sprache stoßen ja eine Schleuderbewegung in seinem Wesen an, deren er, zur alleinigen „Begründung aller Positivitäten“ gehoben, nicht Herr zu werden vermag. In „Ungedachtes verwickelt“ kommt er zur Welt, zum Verschwinden angelegt, das wohl – so die berühmte Wette der Schlussworte – nicht mehr lange auf sich warten lasse. Nietzsches Wort, das Gottes Tod anmeldet, bedeute ja für die philologische, biologische und ökonomische Einsicht zugleich des Menschen Tod. Der „anthropologische Schlaf“, den die Menschenwissenschaften wie die Geschichte

18 Foucault: Die Geburt der Klinik [1963], S. 207f. 19 Zur humanwissenschaftlichen Geburt des Menschen Foucault: Die Ordnung der Dinge [1966], S. 373 und 413ff; Zitat S. 22f.

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und die Psychologie mit der Philosophie geteilt hätten, gehe zu Ende; der Traum von der menschlichen Autonomie sei ausgeträumt.20 Der Übergangscharakter des selbstzentrierten Menschen wird von Foucault an dem ‚Autor‘ aufgezeigt, den wir seit einiger Zeit mit Werken der Literatur wie selbstverständlich verknüpfen. Die Frage nach dem Autor sei ein „Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte“.21 Die Möglichkeit von bestimmten Aussagen werde nach langen Epochen der literarischen Anonymität mit Eigennamen besetzt: die Einheitsfigur des ‚Autors‘ werde literaturwissenschaftlich zum Deutungsrahmen von Schriftwerken ausgeformt. Der ‚Autor‘ unterscheide sich ja nicht nur von seinen imaginativen ‚Helden‘, sondern auch vom virtuellen ‚Erzähler‘. Unabhängig von den spontanen Gesten, die einen Text seinem Hersteller zurechnen, entstehe diskursiv eine Reihe von Subjektpositionen, die von unterschiedlichen Individuen ausgefüllt werden können – während sich ein Individuum, wie in der Form der Pseudonymität, zeitgleich mit mehreren schriftstellerischen Funktionsstellen identifizieren könne. Es seien unsere interpretativen Projektionen auf einen Einzelnen, die zum ‚Urheber‘ gebündelt werden. Autorenschaft liege jenseits von textproduzierenden Absichten; die abgerundete Einheit von ‚Lebenswerken‘ sei literaturwissenschaftlich verbürgt. Auf diskursive Weise können sogar ‚Begründer‘ von Diskursen entstehen, die, von den konkreten Personen mehr und mehr abgelöst, an die Werke jedoch unlösbar gebunden, zur Bildung einer ‚Tradition‘ dienen. Die wiederholte Anrufung von ‚Marx‘ oder ‚Freud‘ stifte Möglichkeiten der Anknüpfung sowie der Abweichung, die eben ihre immer neu gelesenen Schriften zum Ausgang nehmen. Eine ins Unendliche laufende Reflexionswelle, von der Literatur selbst herbeigeführt, untergrabe allerdings nach und nach die Autorenfunktion. Unter der Oberfläche der lesbaren Welttextur rauschen selbstbewegende Diskurse auf. Die Folgerichtigkeit eines Denkens, das immer entschlossener die Bodenlosigkeit des Wissenden meint, drängt zur Frage nach Gründen der Wissensordnungen weiter, die außerhalb ihrer selbst liegen. Was eine Kultur wissen, und das heißt auch nicht wissen, könne, entscheide sich ja in Diskursen, die – aller beteuerten Sachlichkeit zum Trotz – mit elementarer Leidenschaft geführt werden. Im Sprachlichen der Diskurse walten strategische Momente: ‚Wahrheit‘ komme jeweils in einer gegebenen Konstellation von Kräften und Gegenkräften zustande. „Unter allem, was spricht“, liege „ständig das große Gewebe der gewaltsamen Interpretationen“.22 Bereits die Disziplinierung zur Arbeit verweise 20 Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 389ff, Zitate S. 384, 393, 410, 414. 21 Vgl. Foucault: „Was ist ein Autor [1969]“, S. 237. 22 Foucault: „Nietzsche, Freud, Marx“, Schriften 1, S. 735.

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denn durch ihren Zwang, diesseits allen Heilungswillens, etwa auf Interessen eines Wirtschaftens, das gemeinhin kapitalistisch genannt wird. Die ‚Genealogie‘ des je Wissbaren, die nicht mehr einfach unter erstarrten Fundgegenständen einer Epoche Umschau hält, führt so zu einer Dynamik von Wissen und Macht, die der Grenzgänger Foucault23 an der Herstellung des modernen ‚Verbrechens‘ studiert: eines weiteren Bauelements in der Konstruktion des modernen, mit Schuldgefühlen bestückten Selbst. Angestrebt wird dadurch eine Geschichte der Verfahren, „durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“.24 Subjektivität werde, über die Beredsamkeit der Zeichen hinaus, tief in die Materialität des Menschenleibes hineingeschrieben. Im Gefängnis, dieser durch und durch modernen Anstalt der Differenzierung und Identifizierung, erfolge eine Disziplinierung beispielloser Art, um fügsame und nützliche Individuen hervorzubringen. Der ewige Kampf um den Menschen werde im Zeichen der Produktivität auf seine ganze Anlage – eine Seele, die einem Körper innewohne – ausgedehnt. Die unterwerfende Bezwingung des Gefangenen bedeute, jenseits seiner bloßen Unfreiheit, eine umgreifende Kontrolle seines Daseins, die sich sowohl der inneren wie auch der äußeren Regungen bemächtigt. Der öffentliche Strafakt des Marterns wandle sich zur verschlossenen Erziehungsmaßnahme an der humanistisch laut beschworenen Seele, die jedoch erst durch „Prozeduren der Bestrafung, der Überwachung, der Züchtigung“ im Inneren aufsteige. Das geflügelte Wort, dieses illusorische Selbstmissverständnis der Theologie, könne nun in seinen unplastischen Gegensatz gekehrt werden: „Die Seele: Gefängnis des Körpers“. Die Fremdgliederung des Einzelnen setzte sich in allen Lebensbereichen fort: eine vollständige Ökonomie der inneren und äußeren Haltung werde schließlich in allseitigen Prüfungen erzielt. Die Fremdbeobachtung wandle sich in Selbstbeobachtung. Die architektonische Fassung der „Disziplinargesellschaft“, die im Panoptikon, diesem Entwurf Jeremy Benthams, ihre paradigmatische Gestalt annehme, stelle die Permanenz des Überwachens – oder zumindest die seines Bewusstseins zugleich her und dar. Dieser neue Ort des Anderen fügt sich in eine lange Reihe von „Gegenorten“ ein, die als rituelle Schlüsselstellen von „Öffnungen und Schließungen“ die Realorte der Sozialstruktur repräsentie-

23 Vgl. Foucault „Was ist Aufklärung?“, Schriften 4, S. 699: „Man muß der Alternative des Draußen und des Drinnen entkommen; man muß an der Grenze sein“. Zu den Prozessen der Wahrheitsfindung, des juristischen Recht- und des wissenschaftlichen Wahrsprechens Foucault: „Die Wahrheit und die juristischen Formen“. 24 Foucault: „Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts“, in: Hubert L. Dreyfus – Paul Rabinow: Michel Foucault, S. 243.

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ren und zugleich in Frage stellen.25 Es gebe daher kein Außerhalb der Macht: die Hoffnung auf ihre eindeutige Lokalisierung müsse aufgegeben werden. Macht sei ohne die Möglichkeit der widerstehenden Gegenmacht – und dies heißt der Freiheit – nicht zu denken. Hinter den vielfach entlarvten Mechanismen der Unterdrückung und Manipulation findet nun Foucault ein wucherndes Gewebe von Wissen und Macht vor, das immer neue Konflikte generiere. In den „strategischen Situationen“, die in einem unberechenbaren Rhythmus Anlässe des Handelns bieten, walten zumeist unstrategische Kräfteverhältnisse, die sich etwa in theoretischen Streitigkeiten oder eben in ‚Klassenkämpfen‘ äußern können.26 Es seien die immer neuen Verflechtungen von Macht und Wissen, deren Wechselseitigkeit immer neue Grenzziehungen bewirke. In jeder Geformtheit der Welt wie des Menschen seien fremde wie auch eigene Mächte im Spiel – diese Entdeckung einer ursprünglichen Kreativität, weitgehend von Nietzsche belehrt, lässt allmählich eine Idee des ‚Regierens‘ aufkommen, die sogar die persönliche Selbstführung mit einschließen kann.27 Der wechselhafte Umgang mit dem Leib, diesem subjektivsten aller Objekte, wird von Foucault schließlich in der „Geschichte der Sexualität“ sowie der Geschichte des „Regierens“ verfolgt, die immer mehr in die breitere Geschichte der Selbstbeziehungen einmündet. Eine mächtige Gegengeschichte entfaltet sich dabei in den „genealogischen“ Operationen: erst auf dem Wege der Verwissenschaftlichung sei der dunkle Bezirk der verdrängten Sehnsüchte des Körpers entstanden. Die traditionellen Konstellationen der „Allianz“, die den Einzelnen in ein Gefüge der verwandtschaftlichen Beziehungen eingebunden haben, seien medizinisch-psychoanalytisch in die der individuellen Sexualität überführt worden. Die sexualisierte Welt der Beherrschungen und Verbote beruhe auf dem Aussprechen der „Wahrheit“ über „sich selbst“, bis hin zu den winzigsten Verfehlungen von einer wohl normierten „Gesundheit“. Die okzidentale Kultur sei überhaupt von immer machtgesättigten Wahrheitsspielen des „Geständnisses“ 25 Foucault: Überwachen und Strafen [1975], S. 41f; zu den ‚Heterotopien‘ ders.: „Von anderen Räumen [1967]“. 26 Zu Foucaults Machtbegriff, der die Idee der Repression umgeht, ders.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 [1976], S. 101ff., vgl. auch ders.: Überwachen und Strafen, S. 40ff. 27 An diesem prinzipiellen Punkt scheidet sich Foucaults Denken von jeder Art des Strukturalismus, der die Möglichkeit der Selbstgestaltung dem Einzelnen entzieht und die letzte Formungsmacht Systemen vorenthält, wie z.B. Pierre Bourdieu in Bezug auf die Biographie des Individuums, die ihre Bedeutung von der Platzierung im „sozialen Raum“ erhalte: Praktische Vernunft, S. 7ff.

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durchdrungen: „sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was man sich verbirgt, woran man nicht denkt und was man nicht zu denken denkt.“ Am historischen Ursprung der Bekenntnisse findet Foucault das vorderasiatische Modell des „Hirten“, das in der Beichtpraxis ihre mittelalterliche Verschärfung erfahren habe, um protestantisch verinnerlicht „eine Regel für alle“ zu werden. Sexualität füge sich so in die pastorale Idee der Menschenlenkung ein, die ihre äußere Entsprechung in der zentralen „Biopolitik“ finde. Die Rationalität der Bevölkerungsgestaltung werde, zeitgleich zum Überwuchern der Sexualdiskurse, ins Regelwerk des modernen Staates mit seinen Reproduktionsdiskursen gefasst. Die Regierungskunst der Staatsräson solle, mit dem Gemeinwohl in ihrem ideellen Kern, „polizeyliche“ Eingriffe in die Sozialprozesse unternehmen, zur Mehrung des Reichtums und zur Gewährung der Sicherheit. Die Stärke der Macht verbinde sich untergründig mit der ausschweifenden Intensität der verbotenen Lüste. Individualisierung sei die Kehrseite der Totalisierung: die „Subjektivierung des Menschen“ zeige damit ihr Doppelgesicht. Die pauschale Kritik an der Idee des autonomen Subjekts wird mit archivarischen Mitteln zu Ende geführt.28 „Doch die Beziehungen, die wir zu uns selbst unterhalten müssen, sind keine Identitätsbeziehungen; sie müssen eher Beziehungen der Differenzierung, der Schöpfung und der Innovation sein.“ Sexualität sei kein verborgenes Reich der Begierde, die es von Repressionen zu befreien gelte, kein ursprüngliches Beisich-Sein des Menschen, vielmehr eine selbsterschaffene Möglichkeit des „schöpferischen Lebens“, die das Begehren erst definiere und konstruiere.29 Das Interesse für das Ineinander von Herrschaftsformen und Selbsttechniken führt den historischen Blick zu alternativen Möglichkeiten des Umgangs mit ‚sich selbst‘. Im Unterschied zum Projekt der christlichen Selbstkasteiung und der modernen Selbsterkenntnis habe die antike Selbstkultur die „Sorge um sich“ in ihrer prinzipiellen und praktischen Mitte. Es gehe dem alten Griechen zunehmend um eine „Ästhetik der Existenz“, die zur Vermeidung der verschiedensten körperlichen „Übel“ das Sexualleben immer moralischer verstehe. Es stehe die Askese der Mäßigung gegen die Askese des Gehorsams. Die Wahrheit der Existenz gehe dabei nicht vom Erkennen des Seinsollenden, wie für die Selbsttäuschung der Moderne, sondern von der Einübung der ‚Wahrhaftigkeit‘ aus, bis zum Einsatz des eigenen Lebens. In einer vermeintlich ursprünglichen Harmonie 28 Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 31, 78; zum „Dispositiv“, d.h. zum ideellen und materiellen Bestimmungsgeflecht der „Allianz“ im Vergleich zu dem der „Sexualität“ S. 131; zur Idee und Praxis des Pastorats ders.: „Das Subjekt und die Macht“ und ders.: Geschichte der Gouvernementalität I [1977/78]. 29 Foucault: „M.F, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität“, S. 301, 306.

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zwischen Selbstpraxis und Selbsterkenntnis, die auf einer ärztlich geratenen Enthaltsamkeit beruht, keimt dabei für Foucault eine souveräne Selbstgestaltung des anfangs verabschiedeten Subjekts immer offensichtlicher auf. Eine Identitätslehre der Differenz, die sich den ‚Randbedingungen‘ des Menschendaseins in zunehmendem Maße ausgesetzt findet, begibt sich hier auf die Suche nach historisch verwirklichten Möglichkeiten, jenseits eines gleichbleibenden Persönlichkeitskerns die eigene Handlungsfähigkeit zu retten.30 Das Einströmen der Mannigfaltigkeit in die wohlumgrenzte Einheit von Gruppen und Einzelnen findet bald keinen prinzipiellen Einhalt mehr: erlebnisgestützt dringt die Differenzidee bis zur völligen Dezentrierung von Identitäten vor. Die konsequente Logik der Grenzüberschreitung kennt keine Grenzen. Die vielfach diagnostizierte Zersplitterung der gemeinsamen wie der persönlichen Lebenshorizonte, die eigengesetzliche Ausfächerung der Lebensgebiete könne Kontinuität und Kohärenz sowohl im Sozialen wie auch im Individuellen sogar ‚dysfunktional‘ machen. Der psychoanalytisch und sozialstrukturell integrierte Mensch sehe sich nun einem bedrohlichen Zwang zur ‚Flexibilität‘ gegenüber; die vertrauten Modelle der Lebensgestaltung greifen nicht länger; Beständigkeit erhalte nicht mehr ihre gesellschaftliche Belohnung.31 Sei das Ich in seiner referenzlosen Unstetigkeit nicht zu „retten“, so sinke das „Subjekt“ schließlich zu einer „Position“ im Satz.32 Das Selbst stelle eine sprachlich getragene Einheit dar, die aus den kulturell ‚kodierten‘ Differenzen als das Nicht-Andere hervortrete: darin liege seine prinzipielle Instabilität. Im radikal Anderen wohne uns eine dauernde Bedrohung inne: das Subjekt einer erstrebten ewigen Wiederkehr sei „nicht das Selbe, sondern das Differente, nicht das Gleiche, sondern das Ungleiche, nicht das Eine, sondern das Viele“.33 Die von Nietzsche wie ein lange

30 Foucault: „Technologien des Selbst“, Schriften 4, sowie ders.: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, S. 301ff; Zur Idee der Mäßigung (Enkrateia) a.a.O. Über die antike Kehre zur wahren Lebenspraxis s. Foucaults Vorlesungsreihe: Hermeneutik des Selbst. Pierre Hadot findet Foucaults Ausführungen trotz ihres Glanzes anachronistisch, da es den Stoikern um die Universalvernunft und nicht das Einzelselbst gegangen sei, s. seine „Reflections on the idea of the cultivation of the self“. 31 Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch, etwa S. 37. 32 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, §18; zur „Unrettbarkeit“ des Ich Ernst Mach: „Antimetaphysische Vorbemerkungen“. 33 Gilles Deleuze: Difference and Repetition, S. 126. Neue Unterscheidungen müssen her, um die Beziehungen („Hybride“) zwischen Natur, Gesellschaft und Kultur in ihrer ursprünglichen Unseparierbarkeit zu erfassen, meint etwa Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen.

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verschwiegenes Gehemnis verkündete ‚Fiktionalität‘ des Subjekts wird nun in allen Lebensdimensionen durchdekliniert. Die positiv gestimmte Konstruktivität wird in der ungebundenen ‚Kreativität‘ auf den Begriff gebracht, die jenseits aller Herrschafts- und trotz aller Regelungsinteressen die Welt von innen her durchwirke. In der weltanschaulichen Mitte dieser Welthaltung steht die Idee der unausgesetzten Erneuerung. Äußerlich und innerlich prämiiert, ja erst wahrgenommen werden ‚originelle‘ Leistungen mit erheblichem Neuheitsanteil, die sich den fortwährend wandelnden Bedingungen immer geistreicher anpassen. Es werden immer neue gestalterische Freiräume entdeckt, ja ‚erschlossen‘, im Praktischen eines ‚innovativen‘ Wirtschaftens ebenso wie im Theoretischen einer Anthropologie des ‚formgebenden‘ Menschen. Bei Selbst- und Weltbeschreibungen stellt man sich von ‚Entdeckungen‘ auf ‚Erfindungen‘ um: der Einzelne übernimmt die volle Initiative inmitten wachsender Unberechenbarkeit. Die hochgesteigerte Affinität für das Neue temporalisiert sogar rückwirkend die nachahmenden Gesten etwa der Kunstgeschichte. Nach maßgebender Tradition des antiken Griechentums, vom Christentum durch Jahrhunderte hindurch ungebrochen übernommen, komme ja nichts Wesentliches durch Menschenhand zustande: die demiurgischen Handlungen verwirklichen das urbildhaft programmierte Weltmodell einsichtig zu Welt. Es ist also nicht der kosmologisch wirkende Handwerker, sondern der gottebenbildliche Mitschöpfer, der neuerdings, sich von der göttlichen Gehorsamspflicht befreiend, zum alleinigen Welt- und Selbstschöpfer emporsteigt. Kunstwerke verdanken sich dem nicht mehr ausführenden Genius, wie jedes Werk im strengen Sinne auch. Der frei verfügende ‚Wille‘ wird hier zur Höchstinstanz der Selbsbewährung geweiht.34 Kreativität besetzt mit ihrem prinzipiell unfüllbaren Maß die Mitte der abendländischen Sozialwelt. Eine etablierte – begrifflich und institutionell eingerichtete – Kreativitätskultur ruft nahezu imperative Techniken zur Erweckung des Charismatischen hervor: Bildungsanstalten sind dabei, sich auf die Entfaltung von schlummernden Kompetenzkeimen umzurüsten. Das Streben nach Einzigartigkeit zeigt ästhetische Züge: das gesinnungshafte Projekt der „Lebensstilisierung“ wirkt stilbildend oder zerstreut sich in Erlebnissucht.35 Die Verschärfung der Gestaltungsidee bricht schließlich in eine Sphäre der vermeintlich restlosen Willkürlichkeit hinein. Der konstruktivistische Wille zur 34 Vgl. Hans Blumenberg: „‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“ und ders.: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 158ff; Albrecht Dihle: Die Vorstellung vom Willen in der Antike. 35 S. dazu Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität und Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Zur Erziehung s. Max Weber: „Herrschaftssoziologie“, WuG, S. 677.

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Autonomie erreicht einen prinzipiellen Endpunkt in einem Begriffs- und Lebenskult der Selbsterfindung, der sich um die beliebige Neuerschaffung des Subjekts dreht. Der Träger einer nicht weiter steigerbaren Handlungsfreiheit unter kontingenten Bedingungen sei der Mensch mit unverkennbar übermenschlichen Zügen, der – zumindest seinem Selbstbild nach – sogar die eigenen Lebenskrisen willentlich anstifte. Er bewege sich in seinen Bindungen völlig ungebunden, habe er doch sich selber in sie hineingewählt. Das „Werde, der du bist!“ wird zur massenhaft ersehnten Devise. Man könne sogar paradoxerweise das Viele und Gelegentliche der Selbstbildung durchaus ironisch, diesmal aber mit einem Ernst des Sich-nicht-ernst-Nehmens, einheitlich wollen – eine nur scheinbar spielerische Maßnahme gegen ungegliederte Verzweiflungen. Die Liberalisierung der personalen Identität mündet hier im Gedanken von selbststiftenden Einzelwesen, in ihrer gemeinsamen Leidensverfassung zur „Solidarität“ angelegt.36 Für die gemeinsame Identität greift zur gleichen Zeit eine ähnliche Semantik und Pragmatik der „Imagination“ und „Invention“ um sich. Die Sachfrage nach den Möglichkeitsbedingungen verknüpft sich wieder einmal mit Enthüllungsmotiven. Ethnien, Nationen und Traditionen seien „Kreaturen“ und „Erfindungen“ auf immer weniger primordial gearteter Basis. Die einstigen Differenzmuster der Abschließungen werden begrifflich aufgeweicht: wenn wir zugleich die Anderen sind, lauert der „Osten“ im „Westen“ nicht mehr so bedrohlich. Indem Innen und Außen als austauschbar behauptet werden, gehört selbst das Ausgegrenzte zu uns. Während der Soziologismus Fugen des Zusammenhalts aufdeckte, lässt der Kulturalismus Gruppen in virtuell-imaginativen Zugehörigkeiten aufgehen, was durch die historische Kontingenz der Grenzziehungen auf die immerwährende Möglichkeit ihrer Neubildung hinausläuft. Das Mythische der Gemeinschaften liege ja bereits in ihren urwüchsig-mythischen Begründungen beschlossen. Der vielfach begründete intellektuell-humanistische Anspruch einer grenzenlosen Kommunikationsgemeinschaft lässt die Elemente der erlebnishaften Unmittelbarkeit – Abstammung, Sprache, Territorium, Gebrauch – angesichts ihrer Gewaltpotenziale zur Aufgabe werden. Das selbstreflexive Ziel bestehe in der Ausschaltung jeder naturalistischen Ungebrochenheit.37 Wie ein Gegenstück zu Hegels absoluter Identitätslehre, ihrer Bandbreite durchaus gewachsen, steht nun Niklas Luhmanns systemische Gesellschaftslehre 36 Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“, KSA 4, 297. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, bes. S. 127ff und 305ff. Zum „diskursiven“ Charakter der Geschlechtsidentität Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 37 Vgl. dazu Eric Hobsbawm: „The Invention of Tradition”, Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation, Ernest Gellner: Nations and Nationalism, Anthony D. Smith: Myths and Memories of the Nation, Werner Sollors: The Invention of Ethnicity.

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der radikalen Differenzen da. „Am Anfang“, wie diese biblisch widerhallende Pathosformel besagt, d.h. am Anfang alles Wirklichen sowie seiner theoretischen Verwaltung steht ja für diesen juristisch ausgebildeten und in Verwaltungsarbeiten geübten Schüler von Parsons nicht mehr die versöhnliche Identität von Identität und Differenz, sondern die Paradoxie der „Differenz von Identität und Differenz“. Nicht mehr Identität, sondern Differenz halte das Differente zusammen – darin bestehe seine Einheit. Es seien denn Unterschiede zwischen Systemen und ihren Umwelten, die sich von einem ungegliederten All-Einen überhaupt abheben, um das Weltgeschehen in Gang zu halten und Unterscheidungen seines beobachtenden Begreifens zu ermöglichen. Systeme, ob lebendige oder unlebendige, können dann nicht anders, als in der Perspektive ihrer Gründungsdifferenz zu verharren. Es werde dabei immer nur auf die eine Seite der Unterscheidung, die des Systems, ankommen, auch wenn die andere, die der Umwelt, gegenwärtig bleibe. Die Eigendynamik der Systeme lebe aus immer wiederholten Unterscheidungen, die ihren Schwerpunkt in einer abgrenzenden Selbstbezeichnung haben: sie sind ihre eigene Differenz zu dem, was sie nicht sind. Dieses Paradox von unaufhebbaren Zweiwertigkeiten spannt auch eine systemtheoretische Differenzlehre der personalen und sozialen Identität aus. Es geht für Luhmann, einer Differenztheorie universalen Zuschnitts entsprechend, um die „Gesamtwelt“ aus einer besonderen Perspektive, der des wissenschaftlichen Beobachtens, die sich jeder anderen Unterscheidung gegenüber different halten möchte, ohne je ins Absolute abzuschweifen. Selbst das Verlassen dieser Perspektive würde ja, werde mit dem Differenzgedanken ernst gemacht, nicht zu höheren, nur noch zu immer weiteren Leitdifferenzen führen. Die jeweilige Unterscheidung könne denn als Unterscheidung nicht gleichzeitig unterschieden werden: ein ‚blinder Fleck‘ in jeder Beobachtung. Dem konstruktivistischen Geist der Differenzbildung lasse sich nie entkommen: aller Austritt leite zu immer weiteren Beobachtungskonstruktionen „zweiter Ordnung“ über. Es gehe um eine ins Unendliche laufende Sequenz der Reflexionen, mit der Unmöglichkeit der Selbstbeobachtung in Identität. Identitäten seien nur von Differenzen her zu beobachten. Die immer neuen Beobachtungen schreiten von Differenz zu Differenz fort, ohne in einem umgreifenden Einen aufzugehen: die unterschiedslose Welt sei das vorausgesetze Außen jeder Unterscheidung. Unterscheidungen bleiben letztlich unhinterfragbar: die Paradoxie ihrer Unanwendbarkeit auf sich selbst lasse sich nicht beheben.38 Identisches gegenüber dem jeweils Differenten in der Differenz zu erhalten, Element an Element, Operation an Operation anzuschließen und dadurch erst zu 38 Niklas Luhmann: Soziale Systeme [1984], S. 26 und 112; zur Methodologie ebd., S. 8ff. Zur Selbstbeobachtung etwa Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, S. 88.

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erzeugen – das sei für Luhmann das Prinzip der menschlich relevanten Welt sowie ihrer gedanklichen Bearbeitung. Lebendige Systeme stiften durch Selbstbeobachtung ihre Elemente, die eigenen Grenzen mit inbegriffen: durch die laufende Betätigung ihrer Gründungsunterscheidung bauen sie sich selbst, d.h. ihren inneren Reichtum auf. Sie seien dauernd mit sich selbst beschäftigt, indem sie immer wieder selbstschöpferisch auf ihre eigenen Ereignisse zurückkommen. Das Selbst der jeweiligen ‚Auto-Poiesis‘ sei dabei auf das Prozessieren der eigensten Differenz an der Umwelt angelegt: die unterscheidenden Operationen verwandeln Momente der Umwelt zu Elementen des Systems, ohne ihre Einbeziehbarkeit für andere Systeme zu beeinträchtigen. Um Späteres zur Illustration hier vorwegzunehmen: indem das Denken für sein Weiterlaufen immer neue Gedanken produziere, schreibe es sich immer vielfältiger in die Welt hinein, ohne diese denkerisch aufzuzehren. Alles momentan Undenkbare bleibe als Umwelt draußen, während das Gedachte nur für das Bewusstsein zum Gedanken werde. Ein Nachdenken über den eigenen Organismus greife in die gleichzeitigen Abläufe des Zellenlebens nie ein. Und ebenso in allen Unterscheidungen: die Offenheit gegenüber Umwelt gehe mit einer Geschlossenheit im Selbstvollzug einher. Was-Fragen werden damit restlos in Wie-Fragen überführt; die Logik der Bestände will zugunsten einer Logik der Vorgänge aufgegeben werden. Der entsprechende Name des ‚Bewusstseins‘ laute daher, um bei unserem Beispiel zu bleiben: ‚psychisches System‘. Die einst fundierende Zweiheit von ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘ werde als Unterscheidung unter Unterscheidungen genommen, ‚Subjekt‘ als ‚Selbstreferenz‘, ‚Objekt‘ als ‚Fremdreferenz‘ gefasst. Gegenstand einer so angelegten Soziologie könne nur die „Gesamtwelt“ sein – bezogen freilich auf die spezifischen Unterscheidungen sozialer Systeme in ihrer differenzstiftenden Selbstbezogenheit. Das Gesellschaftliche liege für Luhmann in der dreifachen Selektionsleistung der ‚Kommunikation‘, die von Information über Mitteilung zum Verstehen führe. Die Ereignisse der Sozialwelt werden so mit einer geistvollen Übertragung an die biologische Reihe von Variation–Selektion–Stabilisation angeschlossen, die nun mit ihrer Denkfigur der Selektivität das Paradigma alles Menschlichen vorgibt. Menschliche Systeme, seien es psychische oder soziale, ereignen sich nach der Kerndifferenz alles Lebendigen, das sich selbstbezüglich organisiere. Das prinzipielle Mehr des spezifisch Menschlichen bestehe dabei in einer rein technisch verstandenen ‚Sinnhaftigkeit‘, die den immer möglichen Rückgriff auf alles einst Verworfene bedeute. Sinn speise sich somit aus der Möglichkeit des „Nein“: der Horizont der Möglichkeiten bleibe für Aktualisierungen ständig offen. Nur psychischen und sozialen Systemen – oder wie es nach Luhmann „alteuropäisch“ heißt: Menschen und Gesellschaften – stehe es zu, die Differenz des Möglichen und des Wirklichen in

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ihrer Selbstbildung zu handhaben. Da das Andere des Systems als eines Selbst immer mitgeführt werde, komme sinnhafte Selbstreferenz nie ohne Fremdreferenz aus: sich in sich selbst oder in der Welt restlos zu verlieren sei menschliche Unmöglichkeit.39 Die Möglichkeitsfülle der Menschenwelt, die das funktionale Verständnis von ‚Sinn‘ begründet, bedeutet allerdings auch eine spezifische Unsicherheit in der Zeit, dass es nämlich immer auch anders kommen könnte. Nicht mehr der Zusammenhalt einzelner Elemente in einem Ganzen, wie etwa Individuen in einer Gesellschaft, als vielmehr die Anschlussfähigkeit der Kommunikation sei es, die auf dem Spiel stehe. Unwahrscheinlichkeiten müssen in Wahrscheinlichkeit überführt, Erwartungen im Umfeld einer allgemeinen Kontingenz festgeschrieben werden – seit der Erfindung der Schrift in handgreiflichem Sinne. Der andauernde Rückgriff auf frühere Eigenoperationen diene dazu, die eigene Willkür zu nehmen, mit der Kontingenz des Auch-anders-Möglichen sowie der doppelten Kontingenz des gegenseitig Unberechenbaren umzugehen. Auf Dauer gestellt werden Kommunikationen durch Verdichtung von Formen, welche die künftigen Selektionen gleichsam auf sich ziehen. Es kommen Prozesse der Symbolisierung in Gang, bis zur Wiederanwendung der Anfangsunterscheidung in ihr selbst: mit Geld könne Geld gekauft, Liebe könne geliebt werden. Entschieden werden könne es aber immer auch anders. Die Kette der innergesellschaftlichen Unterscheidungen webe sich dabei, wie die bekannten Verschiebungen der Gesellschaftsgeschichte zeigen, immer wieder neu, um mit Unbestimmtheiten wirkungsvoller umgehen zu können. Selegiert und stabilisiert werden Variationen, die höhere Leistungsfähigkeit versprechen. Auf das Nebeineinanderkopieren von einfachen Verbindungen in ihrer Gleichheit folge historisch eine Übereinanderordnung von ungleichen Positionen, um schließlich einer gleichartigen Ausdifferenzierung von ungleichen Funktionalitäten Platz zu geben. Heute leben problemgesteuert angelegte Ordnungen ihr systemisches Eigenleben in ihrer immer vielfältiger gegliederten Umwelt. In der Vielheit gleichrangiger Systeme mehren sich Verweise in der Form von Fremdbeobachtungen, ohne sich in der Einheitsordnung einer Universalbeobachtung zusammenzufinden. Auf ein gemeinsames Differenzschema werde verzichtet: was jeweils Außen und Innen heiße, sei funktional bestimmt. Eigenheit und Fremdheit bleibe eine Zurechnungsfrage, die immer wieder anders beantwortet werde, bis zur Ausbildung eines alles überwölbenden Kommunikationsreichs der Weltgesellschaft hinauf. Er39 Zum biologistischen Paradigma der Selbstreferenzialität, dem sich Luhmann anschließt, s. Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Zum systemtheoretischen Sinnbegriff in funktionalem Geiste Luhmann: Soziale Systeme, S. 92ff und ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft 1, S. 44ff.

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reichbarkeit und Einbeziehbarkeit kenne heute prinzipiell keine Grenzen mehr. Die Möglichkeit des radikalen Ausschließens ziehe sich in festgefügte Organisationsverhältnisse zurück: über Mitgliedschaft werde hier nach wie vor nach Prinzipien der Ungleichheit entschieden. Das Originelle für die Identitätsfrage liegt dabei nicht so sehr in der biologistischen Anlage der Welt- und Selbstbeschreibung, als in der Konsequenz, mit der Luhmann das Psychische und das Soziale auseinanderhält. Vom Traditionsstrang der Subjektivität, in der Arbeit der letzten Jahrhunderte ausgefeilt, rückt er sich damit in die weiteste Ferne: Individualität wird in der Form des innermenschlich-psychischen Systems aus der gemeinsamen Menschenwelt ausgesiedelt, damit es in der Geschlossenheit des Bewusstseins, immer neue Gedanken herausfordernd, sein systemisches Eigenleben in eigenartiger Ruhe führen kann. Das Denken vermöchte die Gesamtwelt in seine individuelle Systemwelt einzufangen, soweit es nämlich fähig sei, sie zum Gedanken zu prägen. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen haben da ihren Platz, indem sie – wieder in Gedankenform – in das Einzelbewusstsein Eingang finden können: in der Macht der eigenen Gedankenbildung bestehe die Eigenständigkeit des Individuums. Autonomie bedeute nicht mehr Selbstbehauptung gegenüber einer übermächtigen Umwelt, sondern operative Geschlossenheit des psychischen Systems zur gedanklichen Reduktion der immensen Weltvielfalt. Wie das Organische immer Organisches hervorbringe, so lasse jeder Gedanke neue Gedanken, jedes Erleben neues Erleben entspringen. Erst so werde, wenn auch nicht der Mensch als Ganzes, so doch jedes psychische System, sich außerhalb des Sozialen setzend, in der Tat „Herr im eigenen Hause“.40 Parallel dazu baue sich jedoch durch die Teilnehmer der Sozialwelt ein anderes System in unablässiger Kommunikation auf. Auch wenn Kommunikation immer auf Einzelbewusstseine angewiesen bleibe, seien die miteinander verkehrenden Parteien – „alteuropäisch“ ‚Personen‘ genannt – nicht von individueller Natur. Selbst die Zuweisung bestimmter Kommunikationsereignisse zu persönlichen Adressaten von Verhaltenserwartungen gehöre in die Kompetenz des Sozialsystems: Erlebnisse in Handlungen zu überführen diene der binären Vereinfachung der Eigenkomplexität. Das ‚Ich‘ ist bald die selbsterzeugende Innenwelt des Denkens und Fühlens, bald eine funktional besetzte Position der Kommunikation, der Verstehen zugerechnet werde: ‚Ego‘ einem mitteilenden ‚Alter‘ gegenüber. Die eigene Vielfalt des Bewusstseins sei in die der Gesellschaft, trotz gemeinsamer Entwicklungsstrecken und sprachlicher Verbindungen, letztlich nicht zu übertragen. Die gelegentliche Kontaktierung beider Systeme, die in den empirisch unleugbaren Einzelmenschen im Sinnhaften der Sprache geschehe, 40 Vgl. dazu Luhmann: Soziale Systeme, S. 354ff.

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müsse sich als ernüchterter „Ersatzbegriff“ für das Subjekt hergeben.41 Ein Ineinandergreifen bleibe ausgeschlossen: die Logik der Unterscheidungen kenne auch an den heikelsten, da den Menschen – diesen Überrest einer alten Weltsituation – innerlich betreffenden Stellen keine Versöhnung. Die anfängliche Einheit und die spätere Differenz von Subjekten und Objekten als Wesenheiten, von Individuen und Gesellschaften als Beständen, wird im Geiste der differenzgetriebenen Selbsterzeugung und Selbstorganisierung überwunden. Es gebe denn kein System, dessen Grenzen mit den Konturen des Menschen zusammenfallen würden. Da der Mensch im Schnittpunkt verschiedener Systeme kein eigenständiges System bilde, sei er – so seine pointierteste Charakterisierung – die Umwelt aller Systeme. Individualität sei nur noch durch Exklusion zu definieren.42 Die Möglichkeiten der Zugehörigkeit, d.h. der Zurechenbarkeit zu einer bestimmten Sozialeinheit, legten einen langen Weg – von der Einfältigkeit des sippenhaften Nebeneinanders und des rangmäßigen Untereinanders zur Vielfältigkeit eines problembezogenen Miteinanders – zurück. Der Mensch wurde zum Teilnehmer von sozialen Teilsystemen mit selbstschöpferischen Eigendifferenzierungen. Sein psychisches System müsse sich bei seiner Selbstgestaltung in einer Fülle von kommunikativen Erwartungserwartungen, d.h. erzieherisch zugemuteten Anschlussmöglichkeiten orientieren – über Eintritt und Austritt also selber entscheiden. Vor seinen Gedanken tun sich, auf der Suche nach seiner identifizierenden Eigenverortung, immer reichere Differenzierungen auf. Die Eigendynamik des selbstbewussten Individualisierens sehe sich einer Fülle von sozialsystemisch entfalteten Sinnformen gegenüber. Da die soziale Systemdifferenzierung „für sehr unterschiedliche Unterbringungsmöglichkeiten individuell spezifizierter Ansprüche“ sorge,43 trage die beobachtete Weltvielfalt zugleich zur reich gegliederten Selbstvielfalt bei. Die Bahnen der wachsenden Selbstdistanz in den immer weiteren Außenbeobachtungen können immer wieder in die Innenwelt des Eigenbewusstseins zurückgebunden werden, um, mit einer unüberschaubaren Fremdkomplexität konfrontiert, sich in sich auszuruhen. Die Gesell41 Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, S. 274. Zur strukturellen „Kopplung“ und „Koevolution“ ders: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92ff und 776ff. Zu Luhmanns Personbegriff ders.: Soziale Systeme, S. 126f, 373ff und 428ff sowie ders.: „Die Form ‚Person‘“, Soziologische Aufklärung 6, S. 142ff. 42 So z.B. Luhmann: Soziale Systeme, S. 286ff. Inwieweit das Individuelle aus den kommunikativen Mechanismen, die nun in den Teilsystemen des sozialen Weltsystems walten, ausgelagert werden kann, ist freilich in der soziologischen Literatur sehr umstritten. 43 Luhmann: „Individuum, Individualität, Individualismus“, Gesellschaftsstruktur und Semantik 3, S. 248.

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schaft werfe das Individuum in einer Unmenge von unvereinbaren Differenzerfahrungen auf sich selbst zurück. Die sozial bereicherte Selbstbezüglichkeit sei aber alles andere als Selbstvergessenheit: es gebe „keinen gesellschaftlichen Gegenhalt für individuelle Identitätsbildung, keine ‚kollektive‘ Identität als Maß für ‚individuelle‘ Identität.“ Einheit der Mehrheit, Konsistenz der Selbste herzustellen werde zur höchsten Reflexionsaufgabe, die auch in den gängigen Identitätslehren festgeschrieben sei.44 Die Weltzeit von ausgefächerten Weltsystemen zeigt jedoch nach Luhmann die Forderung der restlosen Umstellung auf ein Systemdenken der radikalen Differenz an. Es gelte, die „alteuropäische“ Begrifflichkeit durch Beobachtungen zweiter Ordnung über die selbstreflektierende Systemwelt der Gesellschaft zu verabschieden. Die immer mitlaufende Selbstbeschreibung der Sozialwelt wird in einer ganzen Studienreihe aus systemsoziologischer Perspektive nachgezeichnet. Erst in diesem Rückblick werde der Entstehungsmoment der herrschenden „Kultursemantik“ gleichsam von außen sichtbar. Beobachtungen immer weiterer Ordnung ohne Hoffnung auf Bestände gewähren denn Einblicke ins Gemachte der Grenzziehungen. Es sei die Verschiedenheit selbst, die nach dem zunehmenden Verlust der Unmittelbarkeit – der Eindeutigkeit von Beobachtungen erster Ordnung – in die Mitte des Interesses rücke. Eben für diese bodenlose Bereicherung, die sich immer „Neues“ für das wankend gewordene „Alte“ wünsche, wurde nach Luhmann die genuine Kontingenzformel der ‚Kultur‘, von jedem Inhaltsbezug befreit, in Anspruch genommen. Sie hätte als umgreifender Vergleichshorizont „Ähnlichkeit trotz Differenz“ sichern sollen, auch wenn man in der prinzipiellen Endlosigkeit der Möglichkeiten nicht mehr zur Bestimmtheit habe vorstoßen können. Wie ein für sich formloses Gefäß hätte sie den ganzen Reichtum der Weltinhalte in dieser spezifischen Gebrochenheit aufnehmen müssen. „Kultur ist nach all dem ein Doppel, sie dupliziert alles, was ist. Daher formuliert sie ein Problem der ‚Identität‘, das sie für sich nicht lösen kann – und eben deshalb problematisiert.“45 In Bezug auf die vertraute Rede vom ‚Menschen‘ bleibe nur noch eine, spürbar resignierte, Frage übrig: unter welchen Bedingungen kam es zu unserer radikalen Selbstbezogenheit neuzeitlichen Ursprungs? Anders formuliert: wie vermochte der Begriff ‚Identität‘ stellenweise die Gesamtwelt in sich zu sammeln? Die ihr vorangehende Selbstbeschreibung der sich beobachtenden Gesellschaft orientierte sich ja durch und durch geschichtet, indem sie von einer einzig zugelassenen Spitzenperspektive herabblickte und festgelegte Positionen in einem 44 Luhmann: ebd., S. 245f, zur modernen Problemlage ebd., S. 225. 45 Luhmann: „Kultur als historischer Begriff“, Gesellschaftsstruktur und Semantik 4, S. 31ff, Zitat S. 38 und 41f.

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Weltganzen kommunizierte. Auch wenn die Gesellschaft immer schon als Kommunikation der Kommunikation vor sich ging, konnte sie sich in ihrer Selbstbeschreibung lange Zeit hindurch darüber irren, da die alte Ordnung auf die Möglichkeit angewiesen blieb, ‚Menschen‘ in ihrem hierarchisch gegliederten Inneren auf Gruppen festzulegen. Die Zugehörigkeit war durch eindeutig zugewiesene Mitgliedschaft erschöpfend hergerichtet. Die Sehnsucht nach dem Einen, die im Organischen, im Allgemeinen – oder eben im Identischen ihren Halt suchte, wird von Luhmann als Denkparadigma eines ontologischen Weltzeitalters ausgewiesen, das vermeintliche Weltbestände auf dem Schlüsselbegriff der alltragenden ‚Substantialität‘ errichtete. In einer funktionalen Auseinanderfaltung von Teilsystemen, die mehrfache Teilnahme einfordere, werde jedoch „Identität“ und „Selbstverwirklichung“ zum Problem.46 Der empirische Einzelne finde sich nun, aus der Geburtsordnung herausgefallen, in eine Vielheit von perspektivistischen Systemwelten eingespannt. Der einstige ‚Mensch‘ sei für eine lange Übergangszeit unvermeidlich darauf bedacht, für private „Projektionen“ Anerkennung zu finden. Im Begriff des zugrunde liegenden, aller Erfahrung vorausgehenden ‚Subjekts‘ rückt der prinzipielle Weltbeobachter zunehmend in die Mitte des beobachterischen Interesses zweiter Ordnung.47 Auf der Suche nach Möglichkeiten der „Entlastung“ für den Menschenverlust schlage eine durchgängige Selbsttäuschung philosophische Wurzeln. Die Gewissheitsgesinnung jeder objektivistischen Weltlehre konnte indessen nicht mit einem Schlage aufgegeben werden: die transzendentale Betrachtung zog sich auf ein selbstgebieterisches Allgemeinbewusstsein zurück.48 Diese Art der ‚Subjektivität‘ sei aber eine bloße „Erlösungsformel“49 für die Umstellung auf moderne Weltverhältnisse, um das einstige Geschöpf Gottes vor seiner erfahrungsmäßigen Bedeutungslosigkeit zu schützen. Diesem allgemeinen und zugleich individuellen Träger wurde jedoch eine allzu große Last aufgebürdet: als alles begründender Grund hätte er seine eigene Einzigartigkeit und das Weltganze gleichzeitig tragen sollen. Es sei dieser Zustand, den man in der Kantschen Verdoppelung der Ursächlichkeit in eine natürliche und eine freiheitliche philosophisch verdichtet finde. Die Belastung von persönlichen ‚Motiven‘ steigere sich nun nicht mehr im Zeichen der Besonderung von Gruppen, sondern bald in Richtung auf die Allgemeinheit einer Vernunft, die ihre eigenen Gesetze selber vorschreiben soll, bald in Richtung auf die Einmaligkeit von existenziellen Entscheidungszwängen, die einem Ein-

46 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 744ff und 627. 47 Vgl. Luhmann: „Identität – was oder wie?“, Soziologische Aufklärung 5, S. 14ff 48 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 349. 49 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1027.

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zelnen gelten.50 Eine neue Idee der Unabhängigkeit breite sich aus, im Sinne der Ungebundenheit durch jegliche Ordnung: es entstehe eine „Lebensform des hochindividualisierten Individuums“. Individuelle „Selbstverwirklichung wird für jeden ein Ziel, ein Traum, ein Anspruch“, ja sogar eine Pflicht, auch wenn sich Individualität oft im massenhaften „Copieren von Individualitätsmustern“ erschöpfe.51 Die hochgeschraubten Individualitätserwartungen gipfeln in der romantischen Figur des ‚Genies‘ und des ‚Helden‘.52 Das ‚Gewissen‘ nehme kondensierte Erwartungen sich selbst gegenüber in sich auf, um sich gleichsam auf Dauer zu stellen; die Semantik der schicksalshaften ‚Entscheidungen‘ wie überhaupt die der ‚Absichten‘ wird zum alltäglichen Erklärungsgenerator. Auch die ‚Nation‘ erweise sich als eine semantische Reaktion auf die funktionale Differenzierung weltgesellschaftlichen Zuschnitts mit der Funktion, Kräfte der Identifizierung territorial zu binden: eine zum Verfall verdammte Inklusionsformel. Der einstige Mensch sehe sich nach wie vor genötigt, sich in individuelle und kollektive Identitäten hineinzuretten.53 Die innerste Spannung, die dem Existenzialismus zu denken und zu leben gab, bekommt in diesen Ausführungen ihren Ort als Übergangserscheinung einer selbstschreibenden Begrifflichkeit, die der sozialen Selbstbeobachtung immer nachhinke. Soweit eine Geisteshaltung durch die eingestandene Theoriebesessenheit und die überflutende Gelehrsamkeit hindurchschimmert, scheint hier eine Ironie der Mannigfaltigkeit und eine Resignation der Differenz am Werk. Die moderne Situation, inmitten der Vermehrung gleichwertiger Mechanismen von mehreren Mittelpunkten her existieren zu müssen, liefere den Einzelnen einer unbeherrschbaren Kontingenz aus. Angesichts der Gefährdung, im Strudel von Fremdsystemen mit inkompatiblen Leitdifferenzen unterzugehen, wird es begrifflich – ohne ‚Sprünge‘ und ‚Vermittlungen‘ – auf die Eigenwelt des Einzelmenschen abgestellt: die einstige Schwere des Auf-sich-gestellt-Seins soll durch eine spezifische In-sich-Geschlossenheit gelindert werden. Die Einsicht in die Überlastung des Menschen führt so zu einem gleichsam menschenlosen „Humanismus“, der allerdings vielfach als Antihumanismus gescholten wird. Dass das kommunikative Weltsystem der Gesellschaft wohl nach wie vor von lebendigen Menschen bevölkert ist, deutet der Gedanke der ‚Entlastung‘, einer grundver50 S. Luhmann: „Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition“, Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, S. 31f. 51 Luhmann: „Individuum, Individualität, Individualismus“, S. 248; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1019. 52 S. Luhmann: Soziale Systeme, S. 361. 53 Vgl. Luhmann: „Individuum, Individualität, Individualismus“, S. 160 und ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1016ff; zum Begriff der „Nation“ ebd. S. 1045ff.

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schiedenen Denktradition entnommen, wie ein Fremdkörper an.54 Die Rationalisierung der Identität im Zeichen der radikalen Differenz scheint im Zerreißen des Menschen – trotz aller diagnostischen Fruchtbarkeit des Ansatzes – an seine Grenzen zu stoßen. Im Zeichen der Differenz fällt schließlich nicht nur Individuum und Gesellschaft, sondern beides in sich auseinander. „Die Reflexion gibt das Selbst nicht als Identität, sondern als Differenz; und sie gibt es nicht als Notwendiges, sondern als Kontingentes. Das sind gleichsam die logischen Kosten, auf die ein System sich einlassen muß, wenn es dazu ansetzt, sich selbst in sich zu repräsentieren.“ Die sozial adäquaten Persönlichkeitspathologien – die wirklichen Kosten – bestehen nach Neurose und Depression in den vielfachen Spaltungen der Schysophrenie.55

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Auf einem fließenden Boden von Kontingenzen dennoch das Undifferente – notgedrungen ‚Sein‘ genannt − differenzlos zu denken und auszusprechen: darin bestand das geistige Anliegen Martin Heideggers, dieses einstigen Seminaristen aus engen Sozialverhältnissen unter breitem, immer stärker althellenisch gewölbtem Geisteshimmel. Seine denkerischen Anstrengungen fallen in eine Zeit, die bereits Nietzsche als die des Nihilismus heraufkommen sah: ein Begriff, der die „Entwertung unserer höchsten Werte“ formelhaft verdichtete. Unter dem Eindruck kriegerischer äußerer und krisenhafter innerer Umstände galt es für viele, nach einer selbstbeschränkenden Erkundung unserer Erkenntnismöglichkeiten sich wieder „den Sachen selbst“ zuzuwenden, sollte dies auch nur noch – soweit durchaus auf dem Boden der subjektivistischen Philosophensicht – auf dem Umweg eines allgemeinmenschlichen Inneren gelingen.56 Die Zielsetzung einer ‚Phänomenologie‘, eine unmittelbare ‚Wesensschau‘ des sich innerlich Offenbarenden zu erringen, wird allerdings von Heidegger auf dem Verstehen eines verstehenden Wesens in seinen gebrechlichen Existenzbedingungen gegründet. Sinn sei der Seinsmodus alles Seienden.

54 Zur „Anthropologie“ der Luhmannschen Systemtheorie s. Alois Hahn: „Der Mensch in der deutschen Systemtheorie“. 55 Luhmann: „Individuum, Individualität, Individualismus“, S. 226. – Zur Entwicklungsgeschichte des Leidens Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst und Gilles Deleuze: Schysophrenie und Gesellschaft.

56 S. dazu das phänomenologische Werk Edmund Husserls, unter dem Motto der Wesensschau: „zu den Sachen selbst“.

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Heideggers Denkbewegungen richten sich auf Fragen, die gleichsam quer zu althergebrachten Differenzierungen gestellt werden, um ständig unterwegs die unausgesetzt geschehende Wahrheit, die sich dem richtig Fragenden doch zeigen müsse, zu erfragen. Die am weitesten verhallende philosophische Gegenstimme zu einer Soziologie von unpersönlichen Rollengefügen lässt mehrere Traditionen gleichzeitig anklingen: die der jüdisch-christlich geformten Einzigartigkeit der individuellen Existenz, die sich selbst in der Klemme der Zeit entscheidet; die eines allumfassenden Einheitskosmos, der seine letzte Ausprägung in den philosophischen Anfängen des Altgriechentums erhalten hat; die des authentischen, sich selbst gegenüber aufrichtigen Ich, die die uralte Idee des moralischen Ernstes dem wohlkalkulierten Eigennutz des kapitalistischen Räderwerks gegenüber ins Expressive wendet.57 Die Frage, ob dieser Dreiklang mit weiteren – theoretischen und praktischen, ja berüchtigt politischen − Unter- und Obertönen eine Harmonie ergibt, lässt bis heute Diskussionswellen aufkommen. Heideggers Denkwege, die sich nie als unbewegliche Lehren an einem Ziel ausgeben möchten, wollen sich nach einem genuinen Takt der Zeitlichkeit richten. Ausgegangen wird dabei durchgehend von der Frage nach dem ‚Sein‘, die über die mannigfachen Befragungen des ‚Seienden‘ ins Vergessen geraten sein soll: es sei höchste Zeit, die Differenz von Rationalität und Irrationalität, Subjektivität und Objektivität mit dieser ursprünglicheren Differenz zu überschreiben. Allzu lange habe sich das Denken mit der Suche nach festen Bezugsgrößen abgemüht, um dann der nach und nach errungenen Gewissheiten – Gott, Welt und Mensch − immer wieder verlustig zu gehen. Das Nächste und Vertrauteste, das Sein in seiner ursprünglichen Sinnhaftigkeit sei allerdings in ihrer Abstraktheit zugleich das Fernste, indem es sich nicht als Gegenstand in die Reihe der Gegenstände einfügen lasse. Sein, das immer schon Verstehen sei, umgreife, ohne etwas Oberstes zu sein, Verstehendes und Verstandenes gleichermaßen, beides in ihrer gegenseitigen Verwobenheit; es sei der als ‚Dasein‘ verstandene Mensch, in dem beides Zusammenfallen. Die Frage nach ihm als ein Akt des Verstehens sei somit selber ein Teil des Prozesses, der sich als Sein vollziehe. Das Fragen selbst gehöre in diesem Sinne bereits zur Antwort. Eine Identität der Differenz solle sich im verstehenden Selbstvollzug des Seins im Dasein einstellen – ohne dass das Sein des Seienden wie ein Dingliches ergriffen werden könnte. Daher fange man bei der denkerisch unhintergehbaren, uns am nächsten liegenden Differenz von beiden an: dem Menschen als dem Sein, dem es immer schon sinnhaft um sein Sein gehe. Dadurch rage er aus der Welt aller Seienden

57 Zum Letzteren s. Lionel Trilling: Sincerety and Authenticity, der diese Tradition der Selbsttreue bis ins 18. Jahrhundert zurückführt.

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heraus (ek-stase), ohne ein beliebiges Vorhandenes unter anderen Vorhandenen zu sein.58 Die ersten Bahnen führen so in durchaus bekannte Bereiche des Selbstseins, das Augenblick für Augenblick Klüfte vor dem Menschenfuß aufreiße. Dieses besondere Seiende, das in dem reichlich gedeihenden Sinn seines Seins innigst interessiert sei, solle zum Transzendenten des sinnhaften Seins, das in jedem Seienden walte, einen evidenten Zugang eröffnen.59 Hier treffen wir nun, als Beschreibung der ‚faktischen‘ Lebenszusammenhänge, auf eine Reihe existenzialistischer Denkfiguren, die das Dasein weder aus der Welt heraus, noch von innen her, vielmehr in seinem Vollzug – nicht mehr in ‚metaphysischer‘ Manier zu bestimmen, vielmehr zu beleuchten suchen.60 Es ist ein Sich-zu-sich-selbstVerhalten diesseits aller Selbstreflexivität, die sich selbst im Nachhinein zum Objekt mache und so erst verspätet zu sich komme. Der Mensch finde sich, nicht mehr als zugrunde liegendes Subjekt, vielmehr als raumzeitliches ‚Dasein‘, immer schon in einer Welt voller verweisender Sinnzusammenhänge vor, die jedoch für seine Offenheit nicht einfach ‚vorhanden‘, sondern in bezugsreicher Vertrautheit ‚zuhanden‘ liege. Als faktisches Leben lebt der Mensch sein Leben in seiner eigenen Lebenswelt, mit dieser innigst verwachsen.61 Aus dem Zustand dieser ‚Alltäglichkeit‘, der als ursprüngliche ‚Befindlichkeit‘ jedem bewussten Welt- und Selbstverhältnis vorausgehe, gelte es, sich nach den Bedingungen dieses Seins – in unserer Betroffenheit, von der leeren Formalität der ‚Kategorien‘ abgehoben ‚Existenzialen‘ genannt – umzusehen. Die Trennung von Welt und Mensch, Leib und Seele, die im idealistischen oder materialistischen Geist immer wieder erfolge, sei diesem irgendwie immer schon „gestimmten Sichbefinden“ gegenüber eine nachträgliche: man „habe“ die Welt immer schon gestimmt, auch wenn in den allzu alltäglichen Stimmungen der Ungestimmtheit. Die ursprüngliche Verständlichkeit und die ursprüngliche Befindlichkeit ergänze sich durch die ursprüngliche Sprachlichkeit des Menschen: „den Bedeutungen 58 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit [1926], S. 42ff und 329ff. 59 „Sein ist das transcendens schlechthin.“ Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 38. (Hervorhebung im Orig.) 60 S. dazu Heidegger: Sein und Zeit, S. 46, ders.: Was ist Metaphysik? [1929], S. 14. Vgl. auch später den „Brief über den ‚Humanismus‘ [1949]“, der sich gegen alle „falsch verstandenen“ Humanismen wendet, die in „Seinsvergessenheit“ stecken bleiben, indem sie den Menschen auf etwas geläufiges Seiendes reduzieren und ihn „in die Mitte des Seienden“ rücken (Wegmarken, GA 9, S. 236, 321). 61 Bei Merleau-Ponty wird in der ‚Phänomenologie‘ des Daseins ein größerer Akzent auf seine vorbewusste Leiblichkeit, bis zu seinem „Fleisch“ hinunter, gesetzt, s. etwa seine Phänomenologie der Wahrnehmung.

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wachsen Worte zu“. Leben und Reden seien gleichursprünglich. Sich auszusprechen heiße daher nicht ein Inneres nach außen zu tragen, da der Mensch als Dasein immer schon in der Welt, d.h. da draußen sei. Der ständige Umgang bedeute ja ein elementar praktisches Weltverhältnis, das als einen seiner Aspekte die Welt- und Selbstbesinnung habe.62 Aber allen anderen Dispositionen vorausgehend: Zwischen der Vergangenheit des ‚Geworfenseins‘ und der Zukunft des ‚Entwurfs‘ eingespannt, finde sich der Mensch als Einzelner grundsätzlich in dem Horizont der Zeit. Die eigensten Dispisitionen seien zwar undisponierbar, auch wenn die gelebte Zeitlichkeit nicht in einem bloßen Sich-in-die-Welt-Hineinleben aufgehe. Zeitlichkeit ist keine Endlosigkeit von punktuell dahinfließenden „Jetztzeiten“, vielmehr ein lebendiger Lebenszusammenhang, ein unausgesetztes Austreten aus der Inauthentizität der bloßen Innerzeitlichkeit. Das Bestreben, das Dasein nicht als etwas allgemein Vorhandenes darzustellen, blendet jedoch die Gegenwart als Lebensdimension eigenen Rechts gleichsam aus:63 der ‚Augenblick‘ schrumpft zum Berührungspunkt von ungeheuerer Intensität zusammen, der den Geworfenen auf einen Entwurf in ‚Entschlossenheit‘ hin öffnet. Die alleinige Stütze der lebendigen Gegenwärtigkeit lässt es nicht zu, in der Gegenwart aufzugehen. Die Dynamik, die zwischen Vergangenem und Zukünftigem oszilliert, kennt keine Dauer und Beständigkeit. Die Zwischenlage von Geworfenheit und Entschlossenheit ist auch eine Formel für die neuesten Erfahrungen der Beschleunigung. Im Angesicht des äußersten Augenblicks, in den das Dasein nach allen vergehenden Momenten seiner eigensten – ‚jemeinigen‘ − Lebenszeit hineinstirbt, erscheint das Menschenleben in seiner eigentümlich menschlichen Endlichkeit als ein Sein auf den Tod zu. Es ist eine Gerichtetheit des dauernden Abspringens auf dem offenen Horizont der Möglichkeiten, die eine lebendige ‚Eigentlichkeit‘ gewähre. Mit dem Vergangenen im Rücken und dem Tod vor Augen vollziehe sich die Existenz in einem unausgesetzten Vorwärtsdringen. In einer durchlaufenden Differenz der ‚Sorge‘, die als Besorgtheit zwischen nicht-mehr und nochnicht den ständigen Unterschied des Einzelnen von sich selbst bedeute, befinde er sich in der prinzipiell alltäglichen Gestimmtheit der ‚Angst‘, die ihn mit seinem bloßen ‚Daß-Sein‘ konfrontiere: ein Wink zum „Freisein für das eigenste Seinkönnen“. In der Gleichgültigkeit des Sich-Auskennens im eingespielten Lauf der umgebenden Dinge überfalle einen das Unheimliche des Entgleitens vor dem eigenen Selbstseinwerdenmüssen. Die Vorrangigkeit dieses Werdenkönnens vor dem Gewordensein bedeute die eigenste Transzendenz des Men-

62 Heidegger: Sein und Zeit, S. 135 und 161. 63 Vgl. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, S. 210.

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schen, die ihn ins Äußerste vereinzle.64 Die Selbstübernahme des Menschen auf den sinnhaften ‚Ruf des Gewissens‘ hin, das nichts zurufe, vielmehr zur Entscheidung aufrufe, bahne den Weg des eigentlichen Selbstseins an – ohne ein höheres Subjekt des Rufens und des Werfens, dem sich der Gerufene und Geworfene als ein äußerlich Begründeter verdanken könne: „Der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, aufgerufen zu seinem eigensten Seinkönnen.“ Die radikalisierte Bereitschaft zur Angst, diese Unhintergehbarkeit der eigenen Existenz, zeitige das schlechthinnige Freisein – nämlich „für den Tod.“65 Für Heidegger ruht jeder Entwurf auf der Nichtigkeit eines grundlosen Grundes, den der Einzelne aus seiner Geworfenheit heraus selbst zu legen habe. Das in sich schließende Gewissen verliert jeden Außenbezug, zum mitmenschlichen Diesseits wie auch zum göttlichen Jenseits. Eine Geworfenheit ohne höheren Werfer gleicht einem Wurf aus Zufall.66 Die verstehende Einsetzung von sich selbst in der aktuellen Situation, die im erlebten Augenblick wurzelt, bringt Selbstgestaltung in Gang. Der Persönlichkeitsgedanke wird hier wieder einmal auf eine eigentümliche Spitze getrieben. Das Schöpferische im jüdisch-christlichen Sinne, das aus dem Nichts ein Etwas hervorrufe, soll hier in menschlichen Bewegungen aufblitzen. Es begegnet hier ein Gemisch von Stolz und Not der unausgesetzten Selbstbehauptung – charakteristisch für eine intellektuelle Bürgerlichkeit der modern okzidentalen Stadtwelt. Die ‚Welt‘ des In-der-Welt-Seins, die ja zum prinzipiellen Ausgang dient, neigt jedoch in dieser Zuspitzung wie von selbst dazu, ihre Bedeutsamkeit in einem existenzialistischen Akosmismus einzubüßen. Die Auflösung des Gegenüberstehens zur Welt, die Aufhebung der üblichen Differenzen in einem Darinsein, das die Welt und das Ich von vornherein umschließe, scheint ihre Kraft im wiederholten ‚Vorlaufen‘ zum Tode zu verlieren. Das Topologische des ‚Da’ ist zwar eine räumliche, aber keine örtliche Bestimmung: es haftet ihm als „Geworfenem“ und „Überfallenem“ eine tiefe Beliebigkeit an. Die „Angewiesenheit auf Welt“ soll Faktizität begründen. Gegenwartsmangel geht aber mit Weltlosigkeit

64 Heidegger: Sein und Zeit, S. 191; zu diesem Begriff der Transzendenz ders.: „Vom Wesen des Grundes“, GA 9, z.B. S. 175; zur Grundbefindlichkeit der „Sorge“ Sein und Zeit, §41. 65 Heidegger: Sein und Zeit, S. 277 und 384. 66 Vgl. ebd., S. 284. Dies im Gegensatz zu Kierkegaards Position, s. oben, S. 71. Zum Raum der Möglichkeiten Sein und Zeit, S. 145, zum Gewissen ebd., S. 275.

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im Sinne der Heimatlosigkeit einher. Es ist die kosmische Einsamkeit des gnostischen Menschen – ohne einen Erretter aus fernen Sphären.67 Die bedrängende Anspannung der Zeit, dieser Dauerzustand des Menschen, führe ja auch zum fliehenden Ausweichen in die Bequemlichkeit von Objektivationen des Außens, wie sie auch immer ausgestaltet sein mögen. Obwohl jedem Dasein die eigene Zeit zustehe, die es „zeitigen“ lasse, ohne wie ein Ding einfach ruhen zu können, lasse die allzu menschliche Sicherheitsnot immer wieder den Mut erschlaffen, sich auf sich selbst zu stützen. Da es jedoch für das richtige Selbstverhältnis nicht auf Fremdbezüge ankomme, erlische Authentizität in der ‚Verfallenheit‘ an dingliche und menschliche Andere.68 Das Uneigentliche der Unmittelbarkeit, die den Einzelnen zum ‚Man‘, diesem Erben der ‚Menge‘ Kierkegaards verallgemeinere, komme einem Ende der Zeit außerhalb der Zeit gleich. Dasein löse sich im ‚Man‘, Selbstsein im Öffentlichsein, Rede im ‚Gerede‘ auf: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht“ – eben nach der Art des Durchschnitts der normierten Individualitätsmuster.69 Dinge in Bereitschaft für den menschlichen Entwurf erstarren für die hohle ‚Neugier‘ zur bloßen Dinghaftigkeit – eine existenzialistische Fassung der allbekannten Entfremdungsidee. Die vereinzelte Eigentlichkeit des Menschen entwerte jedoch, und da klaffe die tiefste Tiefe der Verfallenheit, jede Mitmenschlichkeit zur schieren Innerweltlichkeit. Auch wenn ‚Mitsein‘ für immer schon gemeinsame Situationen mit Gefährten stehe, könne es nie ins Eigentliche geläutert werden: mit den Anderen sei „jeder der Andere und Keiner er selbst.“ Indem es dem Öffentlichen an Niveau und Echtheit ermangelt, ist die Anlage selbst, nicht aber die dürftige Gegenwart antisoziologisch geartet. Von der immer wieder zu erlangenden Höhe des Selbstseins, die keine ‚verlorene Gemeinschaft‘ darstellt, führen keine Pfade zum Miteinander. Dem Dasein geht eine eigentliche Sozialdimension ab. Trotz Einbettung des Geworfenseins ins „Geschick“ und „Erbe“ einer „Volksgemeinschaft“ sei eine Beschränkung der Beziehungen aufs Nötigste ge67 Vgl. Hans Jonas: „Gnosis, Existenzialismus und Nihilismus“, S. 21f. Zur Weltangewiesenheit der Existenz die Ausführungen zum „Da“ in Heidegger: Sein und Zeit, S. 134 ff., Zitat S. 137. 68 Andere, wie z.B. Arnold Gehlen suchen Auswege der Entlastung, die das „exzentrische“ Wesen mit institutionellen Außenhalten kompensieren, es in „höheren Ordnungen“ verwurzeln sollen, siehe z.B. Urmensch und Spätkultur [1956]. 69 Zur Abneigung Heideggers gegenüber der Soziologie s. schon Karl Mannheim: „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“; ferner Ilja Srubar: „Heidegger und die Grundfragen der Sozialtheorie“.

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boten. Eigentlichkeit sei eine individuelle Leistung aus Eigenkraft. Ist Mitsein immer schon ein defizienter Modus des Daseins, könne sich die ekstatische Offenheit nur als Wiederholung in echter Erwiderung auf die überlieferte Herkunft aufschließen.70 So kann die aktionistische Politik der eigenen Gegenwart, die sich auf der Spitze der Zeit wähnt, für Heidegger als Aktualisierung der „fundamentalontologischen“ Potenziale erscheinen, mit einem „Führer“ als Anführer, von der Philosophie geführt, für die orientierungslose Masse in „dürftigen Zeiten“.71 Es ist das ‚Echte‘ gegenüber dem durch und durch Besonnenen, das Lebensmäßige gegenüber dem Gewussten, das Umgreifende gegenüber dem Teilhaften, das in dieser Position wie im Gegenschlag zu jedem Transzendentalismus, Psychologismus und Soziologismus angerufen wird. Es soll mit dem Pathos eines neuen Anfangs die Alltäglichkeit in den prinzipiellen Griff bekommen werden, wozu in der Denkfigur des ‚Augenblicks‘ höchst Außeralltägliches herangezogen wird. Der Krisenbegriff des authentischen Selbst wendet sich gegen alles Erstarrte und Entleerte. Sein und Zeit wird für die zeitgenössische Erwartung ein zentraler literarischer Ort des Eigentlichkeitsanspruchs, um die Hülse der bloßgelegten ‚Rollen‘ ins Unendliche durchzureißen.72 Trotz der theoretischen und praktischen Sprungfertigkeit des Publikums nach einem vollwertigen Sinn bleiben jedoch die neuen Visionen aus. Der Sinn des Seins bestehe in der Zeit – aber die Zeit stifte keinen Sinn. Der erste Schwung des Denkens schien Heidegger auf „Holzwege“ zu führen. Im Verhältnis von Dasein und Sein schimmerten immer offensichtlicher diejenigen Begründungsstrukturen des Zurückführens durch, die es zu überwinden galt: das ‚Dasein‘ droht die Zentralstellung des verabschiedeten ‚Subjekts‘ einzunehmen. Auch ‚Zuhandenheit‘ impliziert ja einen leichten Einschlag von Zweckmäßigkeit, die das bloße Gegenüber als belanglos herausstellt: der Existierende wird mehr und mehr zur Instanz erhoben. Da es auch in Sein und Zeit um das Sein gegangen war, das der Existenz vorausgehe, war es nur konsequent, nach anderen Wegen, die gleichsam von der Zeit zum Sein führen, zu „kehren“. Die Paradoxie des Nahen und doch so Fernen wurde schon zum Auftakt ausgesagt: „Sein ist jeweils das Sein eines Seienden.“ Es gelte, an das Sein in seiner Identität mit dem Seienden immer dichter heranzukommen, auch wenn diese dabei sich unvermeidlich in ihrer tiefsten Differenz zeige, indem jede Bestimmung neue Differenzen aufreiße. Die Nahbetrachtung der Seienden führe ja den Blick 70 Heidegger: Sein und Zeit, S. 126ff und 382ff. 71 Vgl. Heidegger: „Wozu Dichter? [1946]“, GA 4, S. 269ff. 72 Diese Semantik der überlebensgroßen Versprechen beanstandet Theodor W. Adorno als „Jargon der Eigentlichkeit“.

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immer weiter vom Sein weg; die des Seins blende das Seiende in seinem Sein zunehmend aus. Es wird immer intensiver auf das Wort Parmenides‘ hin zugedacht: „Das Selbe nämlich ist Denken sowohl als auch Sein.“73 Die Weiterverschiebung von Differenzen zum Undifferenten meint zu den ersten Anfängen zurückzufinden, um nach dem Aufrollen der schicksalshaft verfehlten Denkgeschichte einen neuen Anfang zu wagen. Systematik und Historik fallen im eigenen Denken wieder – wie schon bei Hegel – zusammen. In das Seinsgeschehen sich hineinstellend müsse Sein ‚ursprünglicher‘, d.h. am denkbar bestimmungslosesten gedacht werden, bis zu seiner Selbstenthüllung. Die Hegelsche Identifizierung behält damit ihre Richtigkeit: „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.“ Die Gedanken bewegen sich hier im urzeitlichen Vorfeld des Satzes der Identität. So oszillieren denn Heideggers Fragen zwischen Erwartung und Erfüllung, in seinen Visionen immer näher zum Sein in seiner bestimmungslosen Unausprechlichkeit.74 Nicht mehr nach dem Sinn, der Dasein mit Sein verbinde, vielmehr nach der geschehenden Wahrheit als ‚Unverborgenheit‘ (a-letheia) solle gefragt werden, um die Antwort sich selbst vollziehen zu lassen. Der ganze Gedankenreichtum der verstockten Metaphysik erweise sich dabei als Seinsvergessenheit oder – den Menschen entlastend – Seinsverlassenheit schlechthin, die die Bedingungen ihrer Überwindung selbst vorbereitet haben sollen.75 Es gelte, sich auf ein sich zeigendes Aufscheinen des Seins zu verlassen, dem sogar das Dasein als bestimmtes Seiendes im Wege stehe. Über das Subjekt hinauszukommen heiße hinter alle – seien es noch so dialektische – Zweiteilungen zurückzukommen. In der „Lichtung“ des Seins stehend sei der Mensch kein Herr, vielmehr der „Hirt des Seins“. Er sei „vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ‚geworfen‘, dass er, dergestalt ‚ek-sisierend‘, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine.“ Der technisch-verbergende Zugang zur Welt, der sie zum „Gestell“ verstelle, gehört in den Umkreis der geläufigen Entfremdungsdiagnosen. Der wissenschaftliche Weltbezug sei ein berechnender, 73 Heidegger: Sein und Zeit, S. 9, ders.: Identität und Differenz, S. 27 und ders.: Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 237. Hegel: Wissenschaft der Logik 2, Werke 5, S. 82. 74 Zu Hegel Heidegger: Was ist Metaphysik?, S. 17. 75 Zum Wahrheitsbegriff Heidegger: „Platons Lehre von der Wahrheit [1931/32]“, GA 9, S. 203ff. Zur aneignenden Überwindung der Metaphysik in der Richtung von der Zeit zum Sein, ‚Verwindung‘ genannt, s. ders.: „Zur Seinsfrage [1955]“, GA 9, bes. S. 410ff. Auch die Ausbruchsversuche des „Willens zur Macht“ sowie der „ewigen Widerkehr des Gleichen“ beharren ihrer Struktur nach im Metaphysischen. Zur Unvermeidlichkeit der Metaphysik: „Die Metaphysik gehört zur ‚Natur des Menschen‘“, s. ders.: Was ist Metaphysik?, S. 41. Zur „Seinsverlassenheit“ ebd., S 19.

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der auch Welt- und Lebenssinn erstellen und damit den Menschen zum Gestell seines eigenen Selbstverhältnisses werden lasse. Die unleugbare Wirksamkeit der seinsvergessenen Wissenschaftlichkeit bestehe in der systematischen Behandlung der ‚Vorhandenheit‘. Der soziogische Sinn der „Kehre“ besteht darin, Verhältnisse der Weltbeherrschung hinter sich zu lassen. Das Differenzlose als sich vollziehende Einheit der Differenz von Denken und Sein wird von nun an „Ereignis“ genannt: „Sein gehört mit dem Denken in eine Identität, deren Wesen aus jenem Zusammengehörenlassen stammt, das wir Ereignis nennen.“. Auf den Empfang der sich entbergenden Wahrheit geöffnet wird die Denkgeschichte zur Seinsgeschichte, um zu vernehmen, was sich dem Denkenden je zugesprochen habe. Und an dieser Stelle fällt ein Wort, das bei Späteren zur erheblichen Bedeutsamkeit gelangt: „Der Mensch ist in seinem Wesen das Gedächtnis des Seins, aber des Seins.“76 Die Durchkreuzung bezeichnet zunächst eine eigentliche Unsagbarkeit, während sie das in seiner Verfehlung Negierte immerhin gegenwärtig hält. Die festgeredeten Grenzen der Sprache müssen gesprengt werden, der Philosoph habe auf das begrifflich Unsagbare zu zeigen. Es geht immer intensiver um Worte, die vom Dichter, namentlich von Friedrich Hölderlin, als einem authentisch Denkenden, seiner geistigen Umnachtung nahe, verkündet werden. Überhaupt gelte es: Ein Weg über das Kunstgeschehen lasse Wahrheit nicht mehr als Richtigkeit, sondern als Unverborgenheit vorscheinen. Die ästhetischen Unterscheidungen von Form und Inhalt, die Kunst als eine Lebensordnung mit Eigengesetzlichkeiten um ‚das Schöne‘ herum entfalten lassen,77 werden hier widerrufen: indem das „Werk“ eine „Welt“ an der „Erde“ „aufstelle“, solle die Welt als bezugsträchtiges Ganzes und das Göttliche in ihr „aufleuchten“, ohne die Erdgebundenheit zu untergraben. „Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.“ Ein Erlösungsweg des untechnisch gearteten Künstlerischen solle zum Wahrheitsgeschehen führen. Die geschehende Kunst und der weltstiftende Künstler bedingen einander – auf ihre weltanschauliche Struktur besehen – wie der biblische Schöpfergott und seine Schöpfung. Die jeweilige Unverborgenheit als Sammlungsort von Sinnbezügen scheint dabei, trotz aller Verbergung in einem bestimmten Seienden, zu einer überzeitlichen Beschaffen76 Heidegger: „Brief über den ‚Humanismus‘“, GA 9, S. 330f; ders.: „Zur Seinsfrage“, GA 9, S. 411; ders.: Identität und Differenz, S. 27. Zur Technik ders.: „Die Frage nach der Technik [1953]“, GA 7, S. 5ff. – Eine theistische Version der Selbstverwirklichung findet sich in der phänomenologischen Idee der Selbsttranszendenz eines „Ergriffenwerdens“ bei Hans Joas: Braucht der Mensch Religion?, in den Spuren von Rudolph Ottos Erlebnis des „Heiligen“. 77 S. Max Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 554ff.

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heit zu führen: die im Werk erfahrene „Lichtung“ entberge denn das, was das Dargestellte „in Wahrheit ist“. Es geht um ein Sicheröffnen eines immerhin geschehenden Ganzen. Ein Hauch der Ideenschau nach metaphysischer Art des Hellenentums schwingt also in dieser „gereinigten“ „Gestalt“ als einem „Stoß“ in ein Höheres – um sich dann wieder in bewegliche Sinnbezüge einzuschalten. „Weilen“ und „Welten“ sind Bewegungsbegriffe des lebendigen Seins.78 Das Metaphorische der Poesie, diese wiederentdeckte Macht der Sprachlichkeit, eigne sich am besten dazu, über jede Differenz hinwegzudenken: die Sprache der immer schon beredten Welt spreche durch die Lyrik am eigentlichsten hindurch. „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.“ Ein um sich greifendes Etymologisieren meint das „Unverschüttete“ aus der vermeintlichen Tiefe der Sprache – wie gewagt auch immer – hervorzugraben. In der Herkunft der Worte sollen Bedeutungsquellen aufsprudeln. Statt argumentierender Erörterung stellt sich eine zunehmend mystische Gestimmtheit ein, deren esoterische Zuständlichkeit einem ‚Haben‘ am nächsten kommt.79 „Schwer verlässt, was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort“ – mit der Metapher des ‚Wohnens‘ wird der Mensch im vierfachen Geflecht des durchgestrichenen Seins, d.h. im unbeherrschbaren Kreuzungspunkt von „Erde“ und „Himmel“, von „Göttlichen“ und „Sterblichen“ positiv markiert. „Das Wohnen aber ist der Grundzug des Seins, demgemäß die Sterblichen sind.“80 Die unveröffentlichten Vorlesungen mit weiträumiger Anziehungskraft waren als verschallende Worte gemeint, dem entweichenden „Hier und Jetzt“ in einem Aura des Originellen anvertraut.81 Die offenbarende Diktion klingt mit den Wünschen eines sinnbedürftigen Zeitalters zusammen. Die Selbsterschließung 78 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerks“, GA 5, S. 9f, 19f, 21, 28, 31, 37, 53f, 59. – Diese Art des lebendigen Erlebens und Sicherlebens nehmen die unterschiedlichsten ‚Phänomenologien‘ des Erfahrens in ihre theoretische Obhut, um das sinnträchtige Lebensganze aus der Lebensgeschichte herauszuschälen. Dabei wird zwischen sich bildendem Sinn und nachträglicher Sinnbefestigung unterschieden, um das Unbeherrschbare der Schicksalsereignisse zu betonen und die Möglichkeit von „neuen Anfängen“ in Rechnung zu stellen, vgl. zum Überblick László Tengelyi: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte. 79 Zu diesem Verhältnis Weber: „Zwischenbetrachtung“, GARS I, S. 538. 80 Heidegger: „Brief über den ‚Humanismus‘“, GA 9, S. 313. Hölderlin: „Die Wanderung“, s. dazu: Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 22ff. Zum Begriff des Wohnens ders.: Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 139ff; zum „Geviert“ ebd., S. 143ff. 81 Zu diesem Begriff von Aura Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1935]“.

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des Seins mutet bereits wie eine Erlösungskategorie an: die Bescherung der reinen Gegenwart ist wie eine Epiphanie des Seins im „Ereignis“, das sich offenbarungsmäßig einstelle. Die Suche nach einem wahren Ursprung führt Heidegger – nicht nur metaphorisch – nach Griechenland, um in der mediterranen Landschaft des hellenischen Pantheons des ersehnt-gescheuten Erlebens teilhaftig zu werden. Das Fragen kreist hier, sei es noch so sehr Teil der Antwort, das Sein als Nichts „frömmig“ um. Die Errettung des Selbst durch die Haltung der Offenheit lässt schließlich eine Gottesnot am Horizont aufschimmern, um Stütze in der Abgründigkeit des Seins zu finden.82 Es ist der philosophisch in mehreren Schüben eingestürzte und neugebaute Begriff der ‚Tradition‘, mit ‚Bildung‘ eng verwandt, der in seinen distanziert sublimierten Fassungen wieder näher zu einer Position der immer schon gedeuteten Fremd- und Selbstverhältnisse führen wird. Indem nun die Sinnzusammenhänge als historische Überlieferungszusammenhänge deutenden Akten aufgebürdet werden, wird Kohärenz auf den selbstauslegenden Menschen in seinem Herkommen hin rationalisiert. „Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist“,83 wie Hans-Georg Gadamer, ein Schüler Heideggers, die unsprengbare Spiralbewegung des Auslegens einspannt. Die Kunstlehre der ‚Hermeneutik‘, besonders aber ihre Ausbreitung zur universalen Deutungskultur, hat dabei mit einer Annahme der Mehrsinnigkeit zu tun, die sich bis zum prämissenhaften Mangel an Selbstverständlichkeit zuspitzen kann, wie sie in Schleiermachers berühmtem Wort von der Ursprünglichkeit des Missverstehens ihren Fluchtpunkt findet. Die als Lebensform waltende Hermeneutik binde einen in den Horizont der Überlieferungen und ihrer Überlieferer ein, was ja die ‚Geworfenheit‘ immer reichlicher mit Inhalten auffülle. Im Dialogischen der Einbezogenheit zeige sich die immer schon zu Wort gebrachte Wahrheit. Es wird versucht, die Orientierungslosigkeit der Gegenwart statt zukunftsgerichteter Entschlossenheit mit „begriffener“, „erzählter“ oder eben „erinnerter“ Vergangenheit aufzuwiegen. Die singularisch entzauberte Geschichte wird zu Sinngeschichten pluralisiert. Identität soll wieder, wie gebrochen auch immer, aus zukunftsstiftenden Geschichten ihren endlichen Bestand erhalten – Ersatzlösungen 82 Zur „Frömmigkeit des Denkens“ Heidegger: Vorträge und Aufsätze, S. 36. Zum Errettenden das berühmte Interview: „Nur noch ein Gott kann uns retten“. – Zu einer ethischen „Epiphanie“ des Gesichts des Anderen Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 64. 83 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 11; zu seinem Traditionsbegriff, den er bis zur ursprünglichen „Zugehörigkeit“, zum „Einverständnis“ einer gegebenen Gemeinschaft zuspitzt, S. 285ff.

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für Kontinuität in skeptisch-bejahender Haltung. Als Kurzlebiger solle der Mensch, dieser „Sohn der Tradition“,84 mit der Ausgeliefertheit an die eigene Herkunft durch die Deutung des Unveränderlichen, Vergänglichen und Zufälligen zurechtkommen.85 Offensichtliche Motive des verzweifelten Trotzes wie des sorgenden Bewahrens treiben die Begriffsentwicklung der Identität in den noch so theoretisch angelegten Projekten der Hermeneutik voran. Die prinzipielle Grundlage dieser gleichsam „hermeneutischen Identität“ bleibt die trotz aller Entfremdung irgendwie immer schon verstandene Welt. Wir befinden uns im Herzen der Kulturalismus, einer Welthaltung, die ihre ganze Kraft aus der Idee einer sinnhaften Welt bezieht. Sich in der Unerschöpflichkeit des Geschehens mit einem ‚kulturellen Ich‘ und einem ‚kulturellen Wir‘ einzurichten, ist wie eine Wiedereinwohnung des als Eigenes übernommenen So-und-nicht-andersGewordenseins: statt vorgeprägter Rollen finde man sich nun in gedeutete Geschichten hinein. Im Zeichen organisierter Verhaltensmuster taucht der Anspruch einer nachträglichen Sprungfreiheit des erzählten Lebens wie ein Gegenstück zur vorweggenommenen Einheit des Lebensentwurfs auf. Am folgerichtigsten entfaltet wurde das Konzept einer „narrativen Identität“ von Paul Ricœur, einem phänomenologisch ausgebildeten, psychoanalytisch interessierten, existenzialistisch inspirierten, immer wieder auch theologisch arbeitenden Hermeneuten. Der „lange Weg“ der Selbsterkundung führt für ihn gleichsam in der Mitte zwischen Sinnfestungen und Zweifelsgruben durch „Werke“, Schriftwerke wie Handlungswerke, hindurch – die beiden Schulen der vertrauenden Gewissheit wie des zweifelnden Argwohns bereits absolviert, der menschlichen Endlichkeit im Angesicht, in einer ernüchterten Haltung des Versöhnens. Die Welterscheinungen wie unvollendete und immer wieder überschriebene Texte in einer unabschließbaren Exegese zu lesen ist ein Symbolismus, der die eigenen und fremden Handlungen mit in seinen Deutungskreis einbezieht. Diese philologische Geistesart, in mächtigen Auslegungstraditionen des hellenischen und jüdisch-christlichen Schrifttums herangewachsen, ist das Produkt einer Schriftkultur, die in sinnbedürftigen Zeiten aus der mannigfachen „Bücherwelt“ immer wieder ins einzige „Weltbuch“ hineinzublättern sucht.86 Deutungen dürfen sich jedoch nicht auf das absichtlich Ausgedrückte beschränken: im Span84 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 300. 85 S. Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen, zur Hermeneutik als einer Art Theodizee im Gefolge der verabschiedeten Geschichtsphilosophie bes. S. 117ff. Zur Hermeneutik als einer abendländischen „Lebensform“ Wolfgang Reinhards Studie in ders. (Hg.): Sakrale Texte, S. 68ff. 86 Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt.

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nungsraum von Teleologie und Archäologie, zwischen bewussten Ordnungen eines „Endes“ und unbewussten eines „Ursprungs“ entspinne sich ein Geflecht von Sinnbezügen. Das Unsprachliche gesellt sich für diese „Hermeneutik des Selbst“ zum Ausgesprochenen: die Seelentiefe drücke im Streben und Wünschen Sinn aus, ja selbst die kosmischen Elemente – wie Himmel und Erde – werden erst zur Sprache gebracht menschlich zugänglich. Dem Einzelnen liegen die Ordnungen der Sprache als Andere seines Selbst immer schon voraus. Sinn sei allerdings im persönlichen Handeln leibhaft verwurzelt; handelnd werden Inhalte in die Welt gesetzt, die in ihrem verborgenen Sinn auf Deutung immerzu angewiesen bleiben. Wie im Gegenzug zu „Sprechakten“, die in ihrem Aussprechen zugleich etwas vollziehen, werden nun Akte, aus welchen unbekannten „Untergründen“ der Person sie auch herrühren mögen, in einem semiotisierten Weltmodell als Zeichen genommen. Metaphorisch gesprochen: dem unausgesetzten Sprachwerden des Fleisches entspricht das unausgesetzte Fleischwerden der Sprache. Auf dem Umweg von denkmalhaft geronnenen Sinngebilden gelange man zu seinem kulturell belehrten Selbst, ohne dass die Spannungsbewegung zwischen beiden ihren Ruhepunkt finde würde.87 Was in einem Text der Auslegung bedürfe, sei ein „Weltvorschlag (proposed world)“, gleichsam der Entwurf einer Welt, „die ich bewohnen könnte, und in die ich meine eigensten Möglichkeiten projizieren könnte“. Die schöpferische Kraft der Imagination erweise sich in der laufenden Sinnbildung durch Metaphern: die Kluft zwischen Symbol und Sein, Wort und Wirklichkeit, Zeichen und Bezeichnetem wird mit immer neuen Sprachfiguren aufgefüllt. Die GemeinPlätze werden mit originellen Redensäußerungen, in originellen Weltentwürfen verankert, besetzt. Im Ornament des scheinbar bloß Rhetorischen komme Produktivität zum Tragen. In diesem kategorischen Neuordnen des Gegebenen bestehe die „Lebendigkeit“ der Metapher, dieser sprachlichen Einbruchsstelle des Unerwarteten. Der Konflikt zwischen Identität und Differenz, zwischen „ist“ und

87 Paul Ricœur: Hermeneutik und Strukturalismus, S. 19 und 28. – Ders.: „Der Text als Modell“, S. 266. Zum Weg durch Objektivationen vgl. als wichtigsten Vorläufer Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, III/3-4., S. 177ff. der seine Methode jedoch auf „nacherlebte“ Erlebnisse gründete. – Ricœur: Die Interpretation. Versuch über Freud [1965], S. 470ff und 127ff. – Ders.: Das Selbst als ein Anderer, S. 32. – Zum Standpunkt einer kognitivistischen Tradition s. exemplarisch nur Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 364: „wir zählen zu unserem identischen Selbst nur dasjenige“, „dessen wir uns bewußt sind.“

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„ist nicht“, tritt in ihr, jenseits einer schlichten Analogisierung, offen zutage. Der Dichter vermöge die Dinge „als aufblühende zu sehen.“88 Es ist dieses zeichenvermittelte Selbstverständnis, mit unserer weltverwobenen Lebenstextur in seiner Mitte, die Ricœur immer direkter zu Fragen des Selbst führen. Die Gegenwart der jeweiligen Handlungen sei dabei zwischen vergegenwärtigten ‚Erfahrungsräumen‘ und vorweggenommenen ‚Erwartungshorizonten‘,89 die sich laufend gegenseitig bedingen, eingespannt. Die urwüchsige Zeitlichkeit des Menschen rufe so, an der kosmischen Weltzeit innerlich kaum interessiert, wie von selbst nach Narrativität: erzähltes Leben biete sich für die menschliche Lebenszeit als ursprüngliche Organisationsform an. Die unwandelbare Selbigkeit eines Persönlichkeitskerns (idem), die das Identitätsdenken so oft in ihren ausschließlichen Bann gezogen hat, wird hier in Richtung auf eine wandelbare Selbstheit (ipse) aufgebrochen, die sich in erzählten, umerzählten und immer wieder neu erzählten Geschichten artikuliert.90 Der Mensch sei zwar mit seinen dauerhaften Charakterzügen, die ihn – im Körperlichen verankert – wiedererkennbar machen, Bewohner einer beständigen Ordnung, vermöchte sich jedoch durch gestaltende Tat, in die wandelnde Ordnung der Spontaneität hinübergreifend, auch Neues anzueignen, ja in sich selbst anzufachen. Die Persönlichkeit bereichere sich durch Identifikation mit „Werten, Normen, Idealen, Vorbildern, Helden“ um neue Habitualitäten, von eigenen Lebensgeschichten zusammengehalten. Der Fremde ebenso wie der eigene Leib seien die jeweiligen Anderen des Selbst, deren Andersheit in der Verinnerlichung „annulliert“ werde. Die Dialektik von Invention und Sedimentierung binde schließlich auch den Charakter, dieses „Was“ der personalen Identität, ins Geschehen ein. Echte Konstanz des Menschenselbst beruhe jedoch in der Beantwortung der offenen Frage, die das einzige in seinem Sein betroffene Wesen zur Entscheidung in der Zeit anruft: „Wer bin ich?“. Offensichtlich treffen hier Denkfiguren des spontanen ‚Selbstbewußtseins‘ (Kant), des geschichtlich-versöhnlichen ‚Geistes‘ (Hegel)

88 Ricœur: „Phenomenology and Hermeneutics”, S. 112. Vgl. auch ders.: Zeit und Erzählung 1, z.B. S. 11 und 112. Ders.: Die lebendige Metapher [1975], S. 188f, 250f und 289ff. 89 Zu den metahistorischen Begriffen Kosellecks z.B. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen [2000], S. 458ff. 90 Locke lenkte zwar die Reflexion in Richtung des Erinnerns, wollte aber dadurch gerade die Selbigkeit retten; für Hume, der sich einer Fülle von mehr oder weniger klaren Eindrücken gegenübersieht, soll die Einbildungskraft bei ihrer Verknüpfung zum Selbst – wieder im Sinne der Selbigkeit helfen.

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und des selbstbefragenden ‚Daseins‘ (Heidegger), vom vereinheitlichenden Bestreben des Intellekts in innerer Not angetrieben, aufeinander.91 Selbigkeit und Selbstheit werden nun in narrativen Modellen ineinander verschränkt, die das Disparate kohärent, das Kontingente nachvollziehbar machen sollen. „Das Selbstverständnis ist eine Interpretation; die Selbstinterpretation ihrerseits findet, nebst anderen Zeichen und Symbolen, in der Erzählung eine ausgezeichnete Vermittlung.“ Ob Gefühle, Fähigkeiten, Erfahrungen oder Überzeugungen – alle finden ihren beweglichen Einheitsrahmen in Lebensgeschichten. Indem die Erzählstrukturen des gelebten Lebens, die mit ihrer erhöhenden Wiedergabe das Handeln in ihrem Ablauf schon laut Aristoteles immer produktiv „nachahmen“ (mimesis), zutage gefördert werden, werde Identität gleichsam literarisch vermittelt. Die Lebensgeschichte sei mit ihrem grundsätzlichen Sinnüberschuss eine offene Welt der Deutungen, die nie mit einer Verschmelzung von einstigen und heutigen Horizonten drohe – oder eben vertröste. Der Plausibilitätskampf der Welt- und Selbstinterpretationen komme nie zum Stillstand. Der Prozess von Rede und Antwort, der sich einem Text – sei es der des eigenen Lebens – zuwende, ist eine nicht abzubrechende aneignende Distanznahme, was mich zum „Lehrling“ meiner eigenen Auslegungen mache. Der Leser oder besser Hörer der eigensten Lebenserzählung, auch wenn sie noch so stumm stattfinde, ist ein veränderter gegenüber dem noch Unbelesenen. Es bedarf einer „unvollkommenen Vermittlung“ der drei Zeitmodi, die Vernunft und Wirklichkeit nie totalitär ineinanderfallen lasse; der Mittelpunkt der Vermittlung sei ja der Entwurf des eigenen Tuns. Die unvermeidlichen Lücken der Erzählungen halten das Fragmentarische des Verstehens bewusst. Kein Erzählen inthronisiere das Subjekt wieder zum Herrn des Sinns.92 Es ist eine Identitätslehre, die den alltäglich-lebensweltlichen Massenerfahrungen der Beweglichkeit und der Kontinuität gleichzeitig Genüge zu leisten sucht. Die laufende Umgestaltung des eigenen Selbst bleibt ja nur für eine enge Minderheit erlebnishaft zugänglich. Die Antworten auf die Frage nach der Identität stecken keine prinzipiellen Eckpunkte einer moralisch konsequenten Lebensführung ab, führen kein Inventar von bleibenden Eigenschaften vor: in einem durchhistorisierten Zeitalter nehmen sie vielmehr die Gestalt von Lebensge91 Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer, S. 11ff und 149ff. 92 Ricœur: Das Selbst als ein Anderer [1990], S. 142. Zu Aristoteles ders.: Die lebendige Metapher, Kap. 1. Eine Kritik an Gadamers Idee der „Horizontverschmelzung“, s. Gadamer: Wahrheit und Methode 1, S. 311f. Zur Unabschließbarkeit und Alternativenvielfalt der Deutungsprozesse Ricœur: Zeit und Erzählung 3 [1985], S. 398. Zur Distanznahme ders.: „Phenomenology and Hermeneutics“, S. 113. Zur Auseinandersetzung mit Hegel: Zeit und Erzählung 3, S. 334; s. noch S. 418.

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schichten an, was die Möglichkeit von verschiedenen Versionen – sowohl der Erzählungen wie auch der Identitäten impliziert. Die Herausforderung, sich selbst immer erneut zu erzählen, entspringe der Tatsache, dass die handelnden Menschen „eine Geschichte haben, daß sie ihre eigene Geschichte sind“. Es sei „die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.“ Ereignisse werden in Kompositionen eingefügt, das Dissonante wird konsonant verfabelt, das Nacheinander zu einem bedeutungsvollen „Schlußpunkt“ mit literarischen Mitteln ursächlich hingeführt. Die formale Geschlossenheit der Erzählungen diene dazu, die Mannigfaltigkeit der Geschichten, dem genuinen Erzählcharakter des Lebens, zu Einheiten entfalten zu lassen.93 Geschichten seien jedoch immer schon geteilt; als Sprecher einer bestimmten Sprache finden wir uns in der Rolle der Erben vor. Die Vorgängigkeit der „gemeinsamen Kultur“ sei der Andere des Selbst, auch wenn die erlebnismäßige Zugehörigkeit in immer neuen verstehenden Anläufen hinterfragt werden müsse. Die „wohlgeformten Narrationen“ werden gemeinschaftlich bestätigt. Selbst der kosmopolites sei in seinem Befolgen einer Leitidee des Allgemeinmenschen zugleich in besonderen Traditionen verankert.94 Die „bezeugten“ und somit bedeutungsvollen Erinnerungen von Spuren, die zur Praxis veranlassen, ruhen auf dem Boden besonderer Gruppen, die besondere Vergangenheiten für sich gegenwärtig halten. Die Jemeinigkeiten des Gedächtnisses addieren sich dabei nicht zu einem kollektiven Erinnerungssubjekt: die Verbindungen bleiben bei einer „JeUns-Gemeinigkeit der Erinnerungen“ stehen.95 Der Begriff der Zeitlichkeit wird hier, wie schon die Terminologie verrät, im Bezirk der Beschaffenheitsfragen des Menschlichen gehalten: der Kohärenzgedanke scheint gewissermaßen auf 93 Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 141 und 182; ders.: Zeit und Erzählung 1 [1983], S. 108. Die literarischen Möglichkeiten werden bis zum Belieben der Gattungen mit je unterschiedlichem ideologischen Impetus radikalisiert (anarchistische Romanze, liberale Satire, konservative Komödie, radikale Tragödie) bei Hayden White: Metahistory. 94 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung 3, S. 320ff, S. 215 und 412. – Zur Wendung der „wohlgeformten Erzählung“ s. Kenneth J. Gergen: „Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein“, S. 118. Vgl. dazu Alisdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend, S. 288f: „Durch Geschichten“ lernen Kinder, „was ein Kind und was Eltern sind, wie die Rollenverteilung in dem Drama sein könnte, in das sie hineingeboren worden sind“. Mythologie „ist das Herz aller Dinge“. 95 Ricœur: „Gedächtnis – Vergessen – Geschichte“, S. 439. Vgl. schon Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 350: „Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben ans Wort der Väter.“

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eine Art ‚Phänomenologisierung‘ auch des Erinnerns angelegt zu sein und ein allgemeingültiges Modell seiner Bedeutung festlegen zu wollen. Wie kann es aber für Ricœur zum ursprünglichen Tun kommen, wenn ein jeder sein Leben in größeren Geschichten verwoben führe? Selbstheit gründe sich in der Fähigkeit des sprechenden, wollenden, handelnden Menschen, das gegebene Wort zu halten. Die Gegenseitigkeit des Versprechens, das bereits dem stummen Gegenübersein innewohnen könne, wahre Selbst-Ständigkeit über die dahinfließende Zeit hinweg. Verantwortung bestehe im antwortenden Halten des eigenen Wortes, auf das der Andere in seiner Andersheit zählen könne: Rechenschaft abzulegen stifte Wahrhaftigkeit. Das Selbst, das „Ich“ zu sich sage, sei durch den jeweiligen Anderen – die Ahnen, Gott oder eben eine „Leerstelle“ – immer schon dezentriert. Im Gewissen werde man ja aufgefordert, „gut zu leben, mit dem Anderen und für ihn, in gerechten Institutionen: Dies ist die erste Aufforderung“. Bezeugung bestehe in der Bestätigung seitens derjenigen, die Teilnehmer unserer Geschichten und somit in das eigene Leben einbezogen sind. Sie manifestiere sich offensichtlich im faktischen Zusammenfall von idem und ipse im Charakter. Die Antwort solle aber immer ethisch, d.h. initiativ geartet ein, was die Frage des „Wer bin ich?“ in die des „Was kann ich?“ überleite. Die Strebenatur des Menschen, die sich in der Urtatsache des „Ich kann“ äußere, befähige ihn, allem verstandesmäßigen Wissen vorausgehend, gestaltend in die vergangenheitsbestimmte Welt einzugreifen. Dem ursprünglichen Anfangenkönnen entspreche die haftbare Zuschreibungsfähigkeit im Nachhinein.96 Sich selbst in seiner Selbstheit treu zu bleiben heiße Selbstbezeugung als Einstehen für das selbst in die Welt Gesetzte. Auch wenn für den Einzelnen vieles undisponierbar dastehe, dürfe er nicht in leeren Rollen erstarren: „aufgrund der Austauschbarkeit der Rollen ist jeder Handelnde der Erleidende des Anderen. Und insofern er durch die Macht, die der Andere auf ihn ausübt, berührt ist, wird ihm die Verantwortung für eine Handlung aufgebürdet, die von Anfang an unter der Gegenseitigkeitsregel steht.“ Zwischen einem Übermaß an Gedächtnis, das sich auch in Taten, oft zwanghaft wiederholt, ausagiere, und einem Übermaß an Vergessen, oft fluchtmäßig erledigt, werde bedeutungssiebende Sinnarbeit betrieben. Der moralische Aspekt dieser Arbeit bestehe in einer unabgebrochenen Deutung von Vergangenheit und Zukunft aufeinander hin, von gegenwärtigen Gefährten umgeben, durch historische Traumen gebrochen. Die Aktivität des 96 Zur Idee des „fähigen“ Menschen Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 135ff sowie das Spätwerk: Wege der Anerkennung [2004], bes. S. 120ff. Ähnlich auch MacIntyre: a.a.O., S. 275ff: „ich kann die Frage, ‚Was soll ich tun?‘, nur beantworten, wenn ich die vorgängige Frage beantworten kann: ‚Als Teil welcher Geschichte oder welchen Geschichten sehe ich mich?‘“.

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Vergessens läuft dabei auf Vergebung hinaus, die eine Umordnung der Bedeutungen, keine Auschlöschung jedoch der Geschehehen bewirke. Es sei, über die religiöse Tradition der ausgleichenden Gerechtigkeit hinaus, eine kulturanthropologisch bezeugte Großzügigkeit, nach dem Paradigma der gegenseitigen Gabe, und insoweit gehe es in diesem Ausbruch aus dem ewigen Kreis der Vergeltungen um eine wirkliche Anthropodizee.97 Es liege im genuin kontingenten Charakter der Zeitlichkeit, dass die „Hermeneutik des Selbst“, mit Erinnern und Vergessen ringend, in dauernder Schwebe verharre. Der Sinn des „guten Lebens“, das einer aristotelisch geprägten Ethik in seiner Allgemeingültigkeit vorschwebt, wird multipliziert, indem wir Erben von „fundierenden Versprechen“ nach wechselnden Maßstäben sind – einer Reihe von Versprechen, „in die ganze Kulturen und bestimmte Epochen ihre Bestrebungen und Träume projiziert haben“. Das Paradigma aller Versprechen gebe jedoch, und an diesem Punkt erreichen wir eine soziologische Selbstverortung des „kulturellen Gedächtnisses“, die „Verheißung an Abraham“ ab.98 Das Wechselspiel einer Zwiesprache, deren Grundworte den biblischen Wortlaut wachrufen, verläuft im folgenden Anruf und folgender Entgegnung: „Wo bist du?“ – „Hier sieh mich [Me voici]!“. Das Modell der theologisierten Vertragsschließung wächst hier und nur hier zu einem Dialogischen aus, das die Teilnehmer des engagierten Gesprächs für das Ausgesprochene mit der ganzen Existenz einzustehen verlassen. Der biblisch geprägte Anteil unseres Selbstverständnisses wurzelt in unzähligemal nacherzählten Gründungsgeschichten, die, vom persönlichen Gott angesprochen, immer direkter auch den Einzelnen in die gemeinsame Geschichte einbinden.99 97 Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 426 und 421; zur „Selbst-Ständigkeit“ S. 202; zur Verantwortung S. 397. Zur Vergebung vgl. ders.: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, bes. S. 697ff. 98 Zur Fragilität der Identität Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 131; zum „Versprechen“ ders.: Wege der Anerkennung, S. 173 (Übersetzung modifiziert). Zur Histosirierung des erstrebenswerten „Guten“ s. ders.: Das Selbst als ein Anderer, S. 215 sowie früher schon McIntyre: a.a.O., S. 293: „Denn ich bin nie imstande, nur in meiner Eigenschaft als Individuum das Gute zu suchen oder die Tugenden auszuüben. Das liegt zum Teil daran, daß das Leben des guten Lebens sich im einzelnen von Mal zu Mal ändert.“ 99 Zitat Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 203, vgl. S. 34, mit Verweis auf Lévinas. S. dazu mit einem theologischem Akzent Magnus Schlette: Die Idee der Selbstverwirklichung, S. 383. Zu einer ins Mystische sublimierte Dialogik s. Martin Buber: „Ich und Du“, der Ich und Du „lebendigen Begegnungen“ beider entspringen lässt, deren Linien sich zum „ewigen Du“ Gottes verlängern lassen.

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Indem dann die Identitätstheorie des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ anhand Fallbeispiele antiker Hochkulturen – durch Jan Assmann – entwickelt wird, gewährt sie selbst Einblicke in die soziohistorischen Entstehungsbedingungen auch der Idee einer narrativen Identität. Der Möglichkeitsraum des gemeinsamen Handelns werde, und dies gelte als anthropologische Konstante des Erinnerns, in vergangenheitsbezogenen Sinnhorizonten abgesteckt, bis in unbewusste Tiefen hinab. Diese Art der Selbstbildung beziehe ihre Dynamik aus unhistorischen oder eben historischen Erinnerungen: Wandel werde mit inneren Anstrengungen und äußeren Errichtungen „eingefroren“ oder eben „heiß“ gehalten. Der vergegenwärtigenden Ritualisierung des Wiederkehrenden stehen Prinzipien der geregelten Veränderung, Instrumente der auslegenden Sinnpflege gegenüber. Die Geschlossenheit der kosmischen Ordnung und die Offenheit eines göttlich gelenkten Geschehens bedürfen unterschiedlicher Stützen für ihre Aufrechterhaltung: rituelle Kohärenz werde zunehmend durch textuelle ersetzt. Im Medium der Mündlichkeit finde man durch Riten und Rezitationen, in dem der Schriftlichkeit durch Schriftwerke als äußere Träger und Gestalter des Selbstverhältnisses zu sich selbst. Identität werde zunächst im korrekten Vollzug von Riten – zitierend und rezitierend – nach fester Ordnung begangen. Die altägyptische Lebensordnung werde dann im spätzeitlichen Tempel mit seiner Fülle von Inschriften und Strenge der Verhaltensvorschriften – zumindest für die priesterliche Elite – kanonisch versteinert und somit – unter Erfahrungen und Drohungen der Andersheit – rituell auf Invarianz gestellt. Schriftkulturelle Identitätsgestaltung im engen Sinne werde dagegen von der Möglichkeit der Kommentierung des kanonisch Festgeschriebenen in Gang gehalten. Als Antrieb zur Kreativität rufe die geschriebene Überlieferung Interpretatoren auf den Plan, um das Überkommene in Variation und Kritik zu erneuern: es sei der Geburtsmoment der Hermeneutik. In einem Zirkel des Implizierens scheinen sich sogar die weltgeschichtlich späte Idee der Transzendenz und die distanzierende Auslagerung von Textbeständen gegenseitig zu bedingen: das Heilige werde wie in einem innerweltlichen Jenseits von Schrifttum angesiedelt. Die vielfältig geschichtete – kosmische, zeitliche, soziale – Kompaktheit der Kultur sei damit aufgebrochen.100

100 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis [1992], zum Kanonbegriff S. 103ff, zur „kalten“ und „heißen“ Option der Erinnerung S. 66ff, zur Medienfrage ebd., S. 87ff sowie ders.: „Cultural Memory and the Myth of the Axial Age“, S. 378ff. Assmann arbeitet oft mit idealtypischen Gegenüberstellungen, die prinzipielle Tendenzen darstellen, an die dann die historische „Wirklichkeit“ jeweils zu messen sei. – Zur schriftkulturellen Organisation der Person s. auch Ivan Illich: Im Weinberg des Textes, S. 27ff, der die mittelalterliche Idee (12. Jhdt.) beschreibt, wie die Person im

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Im Gegensatz zur kosmisch-urzeitlichen Befestigung von Gemeinschaften und ikonischen Stillstellung von Selbstbildern, die das allumfassende Eigene schließlich mit dem Ganzen in eins setze, stelle die Kontinuität, die sich – von Texten getragen – auf Geschehen gründet, eine Errungenschaft von welthistorischer Tragweite dar. Die altägyptisch archivierten Königslisten dienen zur Veranschaulichung der Unermesslichkeit einer Dauer, die nicht der Erzählung wert sei; die biblisch redigierten Königsbücher dienen als Modell, Stützen der gemeinsamen Eigenart und Richtpunkte des richtigen Tuns nicht mehr aus einer vorzeitlichen Urgeschichte, vielmehr aus der datierbaren Vergangenheit zu beziehen. Das deuteronomische Gebot des Erinnerns („zakhor!“) stehe paradigmatisch für bedeutungsträchtige Mythen, die den Zusammenhalt an innerzeitlichen Geschichten, wie der des „Exodus“, orientieren. Unter politischer Verdüsterung und historischer Traumatisierung werden Ansprüche eines einstigen Bündnisses, in eine mächtige Erzählung eingebettet, wachgerufen, das mit einem göttlichen Partner geschlossen worden und inzwischen ins Vergessen geraten sei. Unter dem Druck von Herrschaftsinteressen werde eine symbolisch dargestellte Schuld- und Befreiungsgeschichte ausgehandelt und Zusammenhalt verschriftet: Strategien der Legitimation des Königshauses (Josia) fallen mit erweckerischen Argumenten einer minderheitlichen Theologietradition (Jahwe-allein-Bewegung) überein. Nach tiefgreifenden Brüchen des Schicksals, die als Folgen von Wortbrüchen gelesen werden, gelte es, sich dem Vergessen mit beispiellosen Erinnerungsfiguren einer Gegengeschichte entgegenzustemmen. Göttliches Vertragsrecht verwandle die innerweltliche Ereigniskette zur Heilsgeschichte: das Judentum erhebe sich zur Erinnerungsgemeinschaft schlechthin. Das aus der Gefangenschaft der ägyptischen Gegenwelt herausgeführte Volk soll – aller historischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz – mit Gott wandeln, seine Gesetze befolgen, um den Verheißungen für die Nachfahren gerecht zu werden. Das psychologisch erarbeitete Prinzip der biographischen Erzählung, wonach „wir sind, was wir erinnern“, wird hier auf die gruppenhaft bewohnte Vergangenheit ausgedehnt. Die immer neu entstehenden Risse an der Kohärenz unserer Zusammengehörigkeit werden mit rekonstruktiv verinnerlichten Gedächtnisgeschichten eingeebnet. Gemeinsame Identität speise sich – zumindest für die Erinnerungskultur der jüdisch-christlichen Welt – aus immer erneut erzählten „Gründungslegenden“.101

Weisheitslicht der spiegelartigen Pergamentseite, unter Fremd- und Gegenbildern, „auf der Pilgerreise durch die Seiten eines Buchs“, aufscheinen soll. 101 Zur Theologisierung der Geschichte Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 229ff, zum Deuteronomium S. 212ff. Die Analogie zur narrativen Psychologie findet sich

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Indem die – oft untergründigen, unbewussten, verdeckten – Gedächtnisspuren bis zu den ersten Grundunterscheidungen der eigenen Kultur zurückverfolgt werden, brechen in den hermeneutischen Kunstgriffen einige ihrer unseligen Konsequenzen ans Licht: für den Monotheismus der Buchreligionen bedeute die „falsche“ Religion das Ausgegrenzte schlechthin. Auf dem Boden dieser grundsätzlichen Ablehnung neigen Identitätsbegriffe – wie dann empirische Identitäten auch – gleichsam von selbst dazu, das Nicht-Identische gegenseitig zu radikalisieren. Der Akosmismus der Liebe könne an den Grenzen der eigenen Glaubensgenossen auf die undurchlässigsten Schranken stoßen. Die weltanschaulichen Wurzeln der immer schärfer geratenen Gegenbegriffe, mit denen wir uns selbst einzufangen suchen, scheinen bis in die Kosmogonie zu reichen. Eine unerschaffene Welt solle dann auch in ihren Identitäten und Differenzen von der Welt der ‚Schöpfung‘ abweichen. Der prinzipielle Tendenz der „Polytheismen“ zur Friedfertigkeit liege in der gegenseitigen Übersetzbarkeit der verschiedenen, einander nach „Ressorten“ entsprechenden, Götterwelten, die eine ganze ‚Ökumene‘ zu tragen fähig gewesen sei. Der monotheistische Durchbruch zur Ausschließlichkeit berge eine strukturelle Intoleranz in sich. Auch die entsprechende Gegengeschichte, die dem monotheistischen Einen ein kosmotheistisches entgegenstellt, lasse sich jedoch immer wieder – wie aus einem symbolischen Inventar hervorgeholt – nacherzählen.102 in ders.: Moses der Ägypter, S. 34. Assmann neigt stellenweise dazu, das Modell des Deuteronomiums als das der Erinnerungskultur schlechthin zu verallgemeinern. 102 S. Assmann: Moses der Ägypter, S. 17ff und ders.: Die Mosaische Unterscheidung. Das Buch enthält auch einen Großteil der Debatte um den „Preis des Monotheismus“. – Der indologische Blick findet hier etwa – aus seiner okzidentalen Perspektive – andere Unterscheidungen vor. Der Hinduismus kann seine Abgrenzungen – unter den Bedingungen eines Großreichs – innerhalb einer ewig-einen Weltordnung aufstellen, die prinzipiell kein Außerhalb kennt. Die Kastenordnung ist das soziale Gegenstück zum Organizismus der Teilgesetze des einzigen Weltgesetzes: die eigengesetzlichen Verpflichtungen der unterschiedlichen Gruppen sind in der Hierarchie der Karmanlehre miteinander verbunden, die die jeweiligen Wiedergeburten nach einer selbstverursachten Vergeltung organisiert. Die Behandlung des Fremden folgt dem weitgehend ‚toleranten‘ Prinzip, das die Monotheismen des Okzidents als Moses- oder eben Christus-Lehren in die Einheit der Mannigfaltigkeit einbeziehe. Ob die Möglichkeit dieses weiträumigen Einbeziehens dem Fremden mit seinen eigenen Dichotomien entgegenkommt, ist natürlich eine andere Frage. S. etwa Max Weber: „Hinduismus und Buddhismus“, GARS I, 115ff und 141ff sowie Wilhelm Halbfass: „Kulturelle Identität und interkulturelle Begegnung: Beobachtungen am Beispiel Indiens“.

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Nachdem das Erinnerungsprinzip die ganze Forschungslandschaft der Menschenwelt eroberte, wurde sein religionstheoretischer Aspekt unter dem Titel „Religion als eine Kette der Erinnerung“ ausgearbeitet.103 Soll dieser emphatische Begriff des religiösen Gedenkens über die alberne Trivialität hinausgehen, dass man die Riten, Lehren und Mythen seiner Religion mitnichten vergessen darf, so steht er offensichtlich in der Tradition einer Auffassung, die vom Kulturprotestantismus der Jahrhundertwende zuerst und sogleich am prinzipiellsten vertreten wurde. Im Programm eines als Kulturgeschichte verstandenen Christentums will sich der Absolutheitsanspruch seiner selbst historisch vergewissern. Die einstige Grundidee lässt sich auf die einfache Formel bringen: geht alles im Geschehen auf, so sollen wir zu dem werden, wessen wir uns aus den produktiven Kräften des Okzidents in seiner bewährten Erinnerungswürdigkeit gemeinsam erinnern.104 Identitätskultur im Zeichen der erzählten Kohärenz zu rationalisieren heißt, sie auf Erinnerungen eines unterstellten Zeitkontinuums zu gründen. Sich erinnern heißt hier nicht, einen „Sprung“ ins Überlieferte zu wagen. Zwischen Tatsache und Konstruktion vermittelnd soll das Gedächtnis, von sich verpflichtenden Sinngemeinschaften getragen, Zusammenhänge des gemeinsam Erfahrenen in immer „wiederlesenden“ Anläufen herstellen. Wird hier die Vielfalt der sich bekämpfenden Sinnwelten unvermeidlich auch politisch reflektiert, so wird es auf dialektische Denkfiguren zurückgegriffen. Die „Anerkennung“ der Anderen beruht auf einem Schluss, der für viele einen Fehlschluss darstellt: die gruppenhafte Verankerung der Identität verbürge für die Gültigkeit des gruppenhaft anerzogenen Guten. Eine Weltepoche, die sich mit Metaphern der „Fragmentiertheit“ und „Liquidität“ beschreibt und auf „große Erzählungen“ verzichtet, sucht, von den vielfachen Zwängen des wiederholten Umerzählens getrieben, in dem überhaupt Erzählbaren laufend rück- und vorzublicken. In den fraglichen Einheitsversuchen drohen aber die einst fundierenden Geschichten immer wieder damit, die Gegenwart durch heilvolle Gegengeschichten einer entschwundenen Vergangenheit selbsttäuschend aus den Angeln zu heben.105 Identität nährt sich offenbar gerne von Akten künstlich verschärfter Differenzen – eine Dialektik der 103 Danièle Hervieu-Léger: La Religion pour Mémoire. 104 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte [1902/12] und ders.: „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen“. Bald darauf tritt eine Theologie auf die Bühne, die das Selbst aus einer normativen Überlieferung wieder zur unhistorischen Leidenschaft des Zugehörens, vgl. etwa Karl Barths und Rudolf Bultmanns Schriften. 105 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 78ff und 222ff, mit Bezug auf Gerd Theißens Begriff der „kontrapräsentischen Erinnerung“.

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manipulierbaren Erinnerung, die dann durch die griechische Erbschaft der vernunftgeleiteten Streitkunst wieder auf eine charismatische Einheit des Denkens hin geschlichtet werden will. Als Gegenbewegung kommt somit die Leidenschaft des Unhistorischen wieder in Gang: die philosophische Liebe zum allgemein Einsehbaren trägt ja nach wie vor ihre Geistesfrüchte. Selbsthaltung steht hier Selbsthaltung gegenüber.

Schlussbetrachtung

Unter den Umständen eines vielfachen Selbstverlusts scheint der Mensch unserer Zeit in Einheitsbegriffen nach neuer Selbstgewissheit zu streben.1 Der Anspruch auf das ‚Ganze‘ konzentriert sich, was den Menschen selber angeht, in der Vorstellung der ‚Identität‘. Die einstigen Kernpunkte eines einheitlichen Lebens – diesseitiges Wohlergehen oder jenseitiges Heil – gehen zwar die unterschiedlichsten Gestaltwandlungen durch, als kohärenter „Sinn” dem Menschen auferlegt erfordern sie jedoch alle die höchsten Anstrengungen. Der Entscheidungsanteil der Handlungen ging einen erheblichen Zuwachs im Begrifflichen durch. Die Idee der personalen Identität benennt Virtuosen der Persönlichkeit – und ruft sie mit auf den Plan. Die immanente Logik der Selbstüberbietung kann dabei, paradox genug, aus jeder Festlegung zu einer selbstgewählten Vielheit von Identifizierungen fliehen. Die Idee der gemeinsamen Identität, dieser späte Nachkömmling des einstigen Gemeinwesens, verwandelt sich zu der der selbstbestätigten Zugehörigkeit – und hält Gruppen lebendigst am Leben. Die gesteigerte Einheit des Identischen bietet Erlösung vom Differenten, das sich sowohl im Anderen des Selbst, als auch im Fremden des Eigenen manifestieren kann. Wir haben die theoretischen ‚Rationalisierungen‘ der personalen und kollektiven Identität in den Bahnen ihrer Verabsolutierung, ihrer Konkretisierung, ihrer Soziologisierung und ihrer Kulturalisierung verfolgt. Das Identische erwies sich dabei als eine wirkmächtige Metapher, die – über eine bloße Rhetorik des Überzeugens hinaus − durch den Willen von Kohärenz und Kontinuität in ihrem Bann hält. Sowohl personale, wie auch kollektive ‚Identität‘ verbindet sich, oft bis zur Untrennlichkeit, mit anderen Begriffswelten, die das Einzel- wie das Gruppenleben bezeichnen: ‚Subjekt‘, ‚Person‘, ‚Persönlichkeit‘, ‚Individuum‘ und ‚Ich‘ einerseits, ‚Staat‘, ‚Gemeinschaft‘, ‚Gesellschaft‘ und ‚Nation‘ ande-

1

Für eine psychohistorische Darstellung dieser Prozesse mit soziologischer Kontextualisierung Roy Baumeister: Identity. Cultural Change and the Struggle for Self.

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rerseits. Ihr eigentümliches Gepräge scheint eben in diesem Metaphorischen zu bestehen: sie ist zur Leitmetapher unserer Selbstvergewisserung geworden. Jenseits einer handfesten Selbigkeit, die im Ausdruck selber nur noch von Logikern vernommen wird, liegt die Möglichkeit eines besonderen Übertragens, mit der Einheitlichkeit nicht nur die eigene Beschaffenheit, sondern zunehmend auch Uneinheitlichkeit zu bezeichnen. Das durch und durch wandelbar Erlebte des Einzelnen und des Gemeinsamen wird mit dem Bild der Beharrlichkeit, der mit sich „selben Entität“, anschaulich gemacht. „Absolut“ wird diese Metapher gerade durch ihre bleibende Figürlichkeit, der sie auch ihre Beweglichkeit zu verdanken hat. Die inhaltliche Aufladung des Identischen mit Gefühlen, Handlungen und Ordnungen ist somit auf eine treibende Urkraft allen Denkens, die der Vorstellungskraft angewiesen. In dieser fundamentalen Irrationalität der Anschaulichkeit liegt die Gefahr, sich im bilderreichen Mythischen zu verlieren, was sich an den verschiedenen Radikalisierungen der Identität historisch reichlich studieren lässt. Die Gegengefahr, von vielen heraufbeschworen, scheint in der restlosen Hingabe an ein vermeintlich abgeklärtes Totalreich der Begriffe zu bestehen.2 Die Stellen der unaufhebbaren Unbegrifflichkeit, die in ihrer gegebenen Tatsächlichkeit der umbildenden Gestaltung bedürfen, werden immer anders festgeschrieben – in jeweils unterschiedlichem Geist ins Begriffliche ‚rationalisiert‘, ohne dass die einzelnen Ausdeutungen einander auslöschen würden. Die gemeinsame Selbstauflösung im Göttlichen und der vereinzelte Selbstentwurf im Weltlichen stellen sich als Differenzbewältigungen von gleicher Folgerichtigkeit dar. Die Tragfähigkeit der einzelnen Varianten liegt, außer ihrer Spannweite, vor allem an dem prinzipiellen Verhältnis zwischen ‚Tatsachen‘ und ‚Gestaltungen‘. Diese Unterscheidung wurzelt aber, geht es ja schließlich um die Anlage des Menschen wie seine Stellung in der Welt, in einer „ersten Unterscheidung”: der zwischen ‚Endlichkeit‘ und ‚Unendlichkeit‘. Es ist diese Spannung, die als un2

Zu dieser Auffassung und der philosophischen Legitimität des Metaphorischen Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 7ff, ders.: Schiffbruch mit Zuschauer und ders.: Theorie der Unbegrifflichkeit, bes. S. 72ff.; Ralf Konersmann: Spiegel und Bild. Zur Metaphorik neuzeitlicher Subjektivität, S. 19ff und ders. (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Zur grundsätzlichen Figuralität des Denkens, besonders den Menschen betreffend, s. in Nietzsches Gefolge („Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, KSA 1, S. 873ff) neulich Paul de Man, der den Wahrheitsanspruch der Sprache – im Bewusstsein aller selbstuntergrabenden Wirkung der These – „dekonstruktiv“ anzweifelt: Allegories of Reading, S. 103ff. Zu den Gefahren des totalen Begriffsdenkens klassisch Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde.

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versiegbare Quelle zu immer neuen Lösungen, bald zum ‚Identischen‘, bald zum ‚Differenten‘ neigend, herausfordert: ein Riesengebiet auch für strategische Aufbereitung. Zwischen den Polen der Verschärfungen liegt die ganze Bandbreite von lebendigen Kompromissen, alles auf seine Gültigkeit hin mit den Mitteln der denkerischen Weltbewältigung letztlich unüberprüfbar. Die atemberaubenden Geisteshöhen des Identitätsdenkens, wie sie sich hier dargestellt finden, können einem, in Ermangelung eines göttlichen Gesichtspunkts, die Zunge verstummen, auch wenn wir Heutigen noch so „klug“ sind und alles wissen, „was geschehen ist“, und somit „kein Ende zu spotten“ haben.3 Die brennende Frage, wie viel Identität und in welcher Ausprägung der Mensch sie in seiner heutigen Daseinsgestalt verträgt – eine Frage von lebendiger Bedeutsamkeit für uns – liegt jedenfalls außerhalb der Reichweite der obigen Ausführungen. Ob eine Epoche der „äußeren Teleologie“ mit „natürlichen“ Grenzen und Zielen die Idee der Selbststiftung ins Dunkel treiben werden wird, um Befreiung von überlebensgroßen Identitätslasten zu bringen? Ob es überhaupt möglich ist, die Freimütigkeit der Selbstverwirklichung und die Vorgegebenheit der Selbsterhaltung nicht gegeneinander auszuspielen? Fragen um Fragen, unserer eigenen Mitte entsprungen.

3

S. Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“, KSA 4, S. 20. − Die Hervorbringung von künstlerischen und religiösen Vermittlungsangeboten kommt freilich inzwischen mitnichten zum Stillstand. Für das Judentum s. etwa Franz Rosenzweig, für das Christentum, außer den wortgetreuen Beteuerungen eines ‚Ursprungs‘, Karl Barth oder Romano Guardini, die bemüht sind, sich in den neuesten Erschütterungen des Glaubens zu orientieren.

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Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus Mai 2014, 368 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (2. Auflage) Mai 2014, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2835-7

Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I September 2014, 304 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2469-4

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Sozialtheorie Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis März 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9

Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Januar 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen

Karin Kaudelka, Gregor Isenbort (Hg.) Altern ist Zukunft! Leben und Arbeiten in einer alternden Gesellschaft

Januar 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4

Oktober 2014, 170 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2752-7

Philip Bedall Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus? Klimadiskurse im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie August 2014, 460 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2806-7

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Februar 2015, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur August 2015, ca. 440 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1

Hermann-Josef Große Kracht (Hg.) Der moderne Glaube an die Menschenwürde Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas Juli 2014, 270 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2519-6

Stephan Lorenz Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung Juni 2014, 144 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2776-3

Sophia Prinz Die Praxis des Sehens Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung August 2014, 394 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2326-0

Jan Steinhöfel Risikokontrolle in der Mikrofinanzierung Eine Analyse des wechselseitigen Bürgens Juni 2014, 246 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2713-8

Peter Streckeisen Soziologische Kapitaltheorie Marx, Bourdieu und der ökonomische Imperialismus Mai 2014, 328 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2624-7

Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung Mai 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0

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