Autorität und Recht im Denken Nietzsches [1 ed.] 9783428464098, 9783428064090


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German Pages 213 Year 1988

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Autorität und Recht im Denken Nietzsches [1 ed.]
 9783428464098, 9783428064090

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HENRY KERGER

Autorität und Recht im Denken Nietzsches

Schriften zur Rechtstheorie Heft 127

Autorität und Recht im Denken Nietzsches Von Henry Kerger

Ä PJ

/Vincit. _ / Veri tat L J

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kerger, Henry: Autorität und Recht im Denken Nietzsches / von Henry Kerger. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Schriften zur Rechtstheorie; H. 127) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06409-7 NE: GT

D6 Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06409-7

Vorwort Das Rechtsdenken Nietzsches ist — auch angesichts der erneut stärkeren Beachtung, welche sein Werk im übrigen gefunden hat — bisher weitgehend unbekannt geblieben. Da der Verfasser insoweit Neuland betreten mußte, wählte er zunächst den Weg, den Einfluß des deutschen Rechtsdenkens im 19. Jahrhundert auf Nietzsche zu untersuchen, d.h. vor allem den Einfluß Rudolph v. Iherings, des wohl bedeutendsten deutschen Rechtslehrers jener Epoche. U m etwaige Gemeinsamkeiten bei Nietzsche und Ihering aus ihren unterschiedlichen Ansätzen erkennbar werden zu lassen, steht am Anfang der Untersuchung die Fragestellung, inwieweit der Entstehungsgrund des Rechts in der Erscheinung des Vertrages oder in den diesem zugrundeliegenden Machtverhältnissen gesehen werden kann. Darüber hinaus war es die Aufgabe des Verfassers, eine Normentheorie im Denken Nietzsches zu rekonstruieren, welche notwendig von dem zentralen Gedanken des Willens als Wille zur Macht ihren Ausgang zu nehmen hatte. In dem Bemühen, den Nachweis vom philosophischen Denken aus zu führen, daß und inwiefern Nietzsche dem Willen Befehlscharakter zuerkennt, ist der Verfasser der Interpretation Martin Heideggers gefolgt, dessen herausragende Bedeutung für die Nietzsche-Forschung bis heute nach Auffassung des Verfassers nicht ernsthaft bezweifelt werden kann. Die Erarbeitung des philosophischen Gedankenguts bildet die Grundlage für die Interpretation der Äußerungen Nietzsches in Hinsicht auf rechtssoziologische Theorien der Gegenwart. Insbesondere die Untersuchungen zu der Frage, inwieweit Nietzsche das Zusammenspiel von Befehlen und Gehorchen als ein institutionalisiertes Verhalten ansieht, beziehen sich auf die Frage nach dem Wesen des Willens im Denken Nietzsches. Die Arbeit hat der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster im Sommersemester 1987 als Dissertation vorgelegen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz für eine Förderung, welche eine problemaufschließende Zielvorgabe unter Wahrung des notwendigen Freiraums selbständiger Forschungsarbeit gewährleistete. Weiterhin sei an dieser Stelle auch Herrn Prof. Dr. Volker Gerhardt Dank für erste Hinweise auf die Dringlichkeit einer derartigen Untersuchung ausgesprochen. Zur Erfüllung dieser Aufgabenstellung war es erforderlich, Nietzsches Äußerungen zum Recht, welche sich nahezu über sein gesamtes Werk scheinbar bruchstückhaft verstreut und oft in ganz anderem Kontext finden, unter

Vorwort

6

Maßgabe des hier gewählten Interpretationsansatzes zusammengetragen. Nietzsches Konzept einer nicht systemorientierten Darstellung in Aphorismen korreliert mit seinem übergreifenden, jedoch in äußerstem Maße stringenten und durchaus nicht unsystematischen Denken. Hierbei ist wesentlich, daß Nietzsche durchgehend einen Ansatz gewählt hat, welcher die Methode bzw. das System und eine an der Anschauung orientierte Wertung in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und ihrem Zusammenspiel zu erfassen sucht. Diese wechselseitige Bedingtheit von Methode und Wertung im Sinne einer Gesetzmäßigkeit zu vernachlässigen, hat Nietzsche einer zunehmend dialektisch und systemtheoretisch geprägten Auffassung über die Aufgabe der Wissenschaft wiederholt vorgeworfen. Aus diesen Gründen sah sich der Verfasser zu einer sorgfältigen und relativ umfangreichen Zitierung veranlaßt. Auf diese Weise wird erkennbar, daß spezifisch soziologische und rechtsphilosophische Gedanken sich bei Nietzsche im Zusammenhang mit scheinbar davon abweichenden Äußerungen finden, welche jedoch gerade für sein umfassendes Denken entscheidend sind. Die Notwendigkeit einer relativ zahlreichen Zitierung ergab sich zudem daraus, daß eine Anzahl sehr wichtiger Fundstellen auch in der Nietzsche-Literatur bisher kaum oder gar nicht verwertet worden ist. Schließlich ist es ein Anliegen des Verfassers, Nietzsches Verdienste um die deutsche Sprache und seine herausragende sprachgestaltende Kraft sichtbar werden zu lassen. Der von Nietzsche wiederholt geäußerten höchsten Bewunderung und Verehrung Goethes entsprach seine ausdrückliche Intention (Ecce homo), die deutsche Sprache nach Goethe noch einmal auf einen Höhepunkt zu führen. Mein inniger Dank gilt meiner Mutter für eine unschätzbar wertvolle Unterstützung während des gesamten Verlaufs der Anfertigung. Münster, im Juli 1987 Henry Kerger

Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches § 1 Vertrag versus Gewalt als Entstehungsgrund des Rechts

11

1. Vertrag als Ursprung des Rechtsverhältnisses

12

2. Versprechen als Begründung einer Schuld

15

3. Recht als Gläubiger-Schuldner-Verhältnis

20

a) als Verhältnis des Staates zum Einzelnen

20

b) als Verhältnis der Gemeinschaftsbildungen zum Ahnherrn und zu Gott

22

§ 2 Macht als Entstehungsgrund des Rechts

24

1. Entstehung des Rechts aus der „Gleichstellung" der Mächte

24

2. Entstehung des Rechts durch Aufrichtung von Gesetzen

32

§ 3 Entstehung der Gerechtigkeitsidee

34

1. Rache als Entstehungsgrund

34

2. Gerechtigkeit als Vergeltung und Austausch

37

Zweiter Abschnitt Sittlichkeit oder Autonomie des Individuums als Bestimmungsfaktoren der Normstruktur des Rechts § 4 Sittlichkeit als gesellschaftlicher Imperativ bei Ihering und Nietzsche

45

1. Verhältnis der Sittlichkeit zum Recht

45

2. „Sittlichkeit der Sitte" als soziale Autorität

50

§ 5 Sittlichkeit im Widerstreit mit dem „Privilegium der Verantwortlichkeit" als moralischer Instanz

55

1. Sittlichkeit als moralische Sanktion

55

2. Moral als Wille zur Macht

60

3. Autonomes Individuum als Subjekt der Verantwortlichkeit

63

8

Inhaltsverzeichnis

§ 6 Recht als „umgewandte Moral" bei Schopenhauer und Nietzsche

67

1. Verhältnis der Sittlichkeit zur Gesinnung

67

2. Leiden als Schuld

73

Dritter Abschnitt Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht § 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft

75

1. Entstehung des Staates aus der Gewalt

75

2. Obligation als Modell gesellschaftlicher Macht

77

3. Staat als Autorität der Person

84

§ 8 Utilitarismus als Grundlage der sittlich-sozialen Normstruktur des Rechts . .

88

1. Iherings Lehre vom sittlichen Zweck des Utilitarismus

88

2. Wollen und Zweck bei Ihering und Nietzsche

89

3. Utilitarismus als Rechtfertigung des Daseins

95

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus 1. Egoismus als sittliches Gebot 2. Ich-Begriff als soziale Institution

98 98 103

Vierter Abschnitt Theorie der Normen bei Nietzsche §10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

110

1. Wille als Befehl

111

2. Befehlen und Gehorchen als institutionalisiertes Verhalten

120

3. Wille zur Wahrheit als Wille zur Macht

130

a) Interpretation der Machtverhältnisse

130

b) Nietzsches Stellung zum Naturrecht

132

c) Nietzsches Stellung zum Vernunftrecht

134

d) Nietzsches Stellung zum Positivismus

136

e) Monade als Modell der Einheit

144

f) Perspektivismus als Handlungsorientierung 4. Regelcharakter der „Willens-Kausalität"

147 148

Inhaltsverzeichnis § 11 Wille zur Macht als Handlungstheorie

9 156

1. Wille zur Macht im Lichte der anthropologisch-funktionalen Institutionentheorie Schelskys

156

2. Rechtsrealismus bei Nietzsche

163

§ 12 Strafrecht als pars pro toto der Rechtsordnung

167

1. Absicht und Zweck als Grundlage strafrechtlicher Würdigung

167

2. Verbrechen und Strafe als Erscheinungen gesellschaftlicher Macht

171

Fünfter Abschnitt Stellung des Einzelnen zum Recht § 13 Rechte des Individuums auf den verschiedenen Stufen seiner Macht

177

1. Entstehung des Individuums aus der Gesellschaft

177

2. Person als Handlungseinheit bei Ihering, Nietzsche und Schelsky

180

3. Gleiche Rechte als soziale Erscheinung

182

§14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts

185

1. Erwartungssicherung und „Selbstregulierung"

185

2. Autorität als institutionalisiertes Machtpotential einer Person

190

§ 15 Recht als ästhetisches Phänomen

197

1. Recht und Moral als ästhetische Rangordnung des Leibes

197

2. Ästhetik des Leibes als Grundlage der Lebensbedingungen

202

Literaturveizeichnis

207

Abkürzungsverzeichnis ARS Aufl. Bd. ders. ebd. FW ggf· GM GT hrsg., Hrsg. i.S. JGB M MA m. E. NSt u.a. WM WS s.o. s.u. Za

Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie Auflage Band derselbe ebenda Die fröhliche Wissenschaft gegebenenfalls Zur Genealogie der Moral Geburt der Tragödie herausgegeben, Herausgeber im Sinne Jenseits von Gut und Böse Morgenröte Menschliches Allzumenschliches meines Erachtens Nietzsche-Studien und andere Der Wille zur Macht Der Wanderer und sein Schatten siehe oben siehe unten Also sprach Zarathustra

Erster Abschnitt

Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches § 1 Vertrag versus Gewalt als Entstehungsgrund des Rechts Aufgabe dieses ersten Abschnitts ist es, Nietzsches Vorstellungen von der Entstehung des Rechts unter Berücksichtigung möglicher Einflüsse aus der Rechtstheorie, wie sie in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts vor allem von Rudolf v. Ihering ausgingen, zu entwickeln. In den Jahren ab 1878 bis zum Jahr 1889, als Nietzsche in Turin zusammenbrach, entstand — abgesehen von den frühen Schriften „Geburt der Tragödie" und „Unzeitgemäße Betrachtungen" — Nietzsches gesamtes philosophisches Werk, wie es heute vorliegt. Die Schrift „Zur Genealogie der Moral", in deren zweiter Abhandlung sich Nietzsche ausdrücklich dem Entstehungsgrund des Rechts zuwendet, erschien 1887, zehn Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Schrift Iherings „Der Zweck im Recht". Daß Nietzsches Äußerungen zur Frage der Entstehung des Rechts die Kenntnis und Auseinandersetzung mit Iherings Schrift „Der Zweck im Recht" zugrunde lag, wird u. a. durch ein Zitat dieser Worte im Text der Schrift „Zur Genealogie der Moral" belegt1. Unter dem Titel „,Schuld', Schlechtes Gewissen' und Verwandtes" behandelt Nietzsche das Problem der Entstehung des Rechts im Rahmen seiner Moralkritik und unter Einbeziehung psychologischer, soziologischer und christlich-abendländischer, d.h. geschichtlicher Bestimmungsfaktoren. Da Ihering seine geschichtlich-positivistische Lehre aus dem intensiven Studium des römischen Rechts heraus entwickelt hat und Ihering selbst, auch in seiner Schrift „Der Zweck im Recht", hierauf verweist, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß Nietzsche auch diesen weitaus überwiegenden Teil im Schaffen Iherings nicht einfach unberücksichtigt gelassen hat. Ihering schreibt in der Vorrede zu seiner Schrift „Geist des römischen Rechts", daß er sich in dieser Schrift nicht auf die Darstellung des römischen Rechts beschränke, vielmehr eine „Durchbrechung der historischen Darstellung durch Einfügung allgemeiner Gesichtspunkte u.a.m." stattfinde und diese Schrift „halb historischer, halb rechtsphilosophischer A r t " ausgelegt sei 2 . Die häufigen Verweisungen Iherings auf seine Schrift „Geist des römischen Rechts" einerseits sowie die Anführung speziell römischer Rechtsinstitute wie der Obligation oder der Zwölftafel-Gesetzgebung durch Nietzsche in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral" 3 legen die Vermutung nahe, daß Nietzsche der 1 2 3

G M I I 12. Ihering, Geist des römischen Rechts, Vorrede zum ersten Buch, S. IV. G M II, 5, 6.

12

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

„Geist des römischen Rechts" nicht unbekannt war. Diese Vermutung wird indessen nicht nur durch Nietzsches Verwendung bestimmter termini des römischen Rechts gestützt, wie nun zu zeigen ist. 1. Vertrag als Ursprung des Rechtsverhältnisses Nietzsche erkennt in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner das erste und ursprüngliche Rechtsverhältnis, als die zur Zeit Roms wie heute bedeutendste Institution des Rechts, welche zunächst das Verhältnis „Person gegen Person" bestimmt 4 , dann jedoch auch das Verhältnis des Einzelnen zum Staat, sowie zu seinem Ahnherrn und zu Gott 5 . Den Begriff der Schuld im moralischen, strafrechtlichen und privatrechtlichen Sinne sieht Nietzsche „in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist, als es überhaupt ,Rechtssubjekte' gibt, und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist", begründet 6. Nietzsche erkennt in der Schuld ein vertragsbegründendes Element, das „seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis" hat, „in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person" 7 . Nietzsches Charakterisierung des Vertragsverhältnisses als dem ersten Verhältnis zwischen Rechtssubjekten, als dem Verhältnis von Person gegen Person stimmt mit Iherings Ausführungen über das Wesen des Vertrages im römischen Recht überein. Nur mit der persona als Rechtssubjekt, nicht jedoch mit dem homo, dem Sklaven, Schloß man Verträge 8. Der Machtkampf endet nur zwischen Rechtssubjekten mit einem Vertrage, denn Verträge werden — als den Frieden stiftend, abgeleitet von pacisci — nur mit einer Person geschlossen, deren Freiheit vom Gegner anerkannt wird. „ M i t dem Frieden kommt der Vertrag, mit dem Vertrag das Recht zur Welt, das Recht als Resultat des Kampfes ist die Erkenntnis des Mächtigen, daß es seinem eigenen Vorteil entspricht, den Schwachen neben sich bestehen zu lassen — die Selbstbeschränkung der Gewalt im eigenen Interesse" 9. Ihering nennt dies die Entstehung des Rechts aus der Macht des Stärkeren und stellt dieser Entstehungsart diejenige der „Machtvereinigung der Gleichen" gegenüber 10. Nach Ihering ist mit Begründung eines Vertragsverhältnisses „als Resultat des Kampfes" nicht das Recht etwa an die Stelle der Gewalt getreten, sondern das Recht steht im Dienst der Gewalt und ist zu einer Eigenschaft der Gewalt selbst geworden 11 . Recht ist 4

G M I I 8.

5

dazu unten unter § 1.3.b). G M I I 4. G M I I 8. Ihering, Der Zweck im Recht, Band I, S. 248. Ihering, ebd., S. 250. Ihering, ebd., S. 250 und 306. Ihering, ebd., S. 252.

6 7 8 9 10 11

§ 1 Vertrag versus Gewalt als Entstehungsgrund des Rechts

13

nach Ihering die „rechte" Gewalt. Das Recht als Selbstbeschränkung der Gewalt dient dazu, den Mächtigeren von seiner Macht den größten Nutzen ziehen zu lassen12. Der Mächtige stellt die Unkosten der Fortsetzung des Kampfes und der gänzlichen Unterwerfung bei sich in Rechnung und vergleicht sie mit dem Nutzen, den ihm ein vorzeitiger Friede mit dem Schwächeren gewährt und den er als Preis für den Frieden dem Schwächeren abverlangen kann. Diesen Gedanken, daß das Wesen des Vertrages darin liegt, den Wert des anderen zu messen, „Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen", greift Nietzsche auf 1 3 . Die Abschätzung des Gegners hinsichtlich seiner Macht und des Nutzens, den eine verträgliche Einigung verspricht, nimmt Nietzsche für die Wurzel des „Personen-Rechts", welche rechtliche Erscheinungen wie Schuld, Verpflichtung, Ausgleich hervorgebracht habe. Nietzsche erkennt hinter der Schuld in dem soeben gekennzeichneten umfassenden Sinne das allgemeine Prinzip „Jedes Ding hat seinen Preis; alles kann abgezahlt werden'" 1 4 . Das Rechtsverhältnis zwischen Personen als Ausfluß einer ersten Vorstellung von Gerechtigkeit als übergreifender Ordnung beruht nach Nietzsche auf dem Willen „unter ungefähr Gleichmächtigen, sich miteinander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu verständigen' — und, in bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen — 1 5 . Dieser „Ausgleich" liegt in der Begründung von Rechtsverhältnissen, in der Anerkennung fremder Rechte, d. h. vor allem zunächst in der Anerkennung des Gegners als Träger eigener Rechte. Dies gilt sowohl im Verhältnis ungefähr gleich Mächtiger, als auch im Verhältnis zu den Unterworfenen im eigenen Machtbereich, in dem diese untereinander zu einem „Ausgleich" gezwungen werden. Auch dieser Gedanke findet sich in Iherings Darstellung des römischen Rechts. Sowohl den Ausführungen Nietzsches als auch Iherings Darstellung römischer Institute wie des hospitiums und commerciums liegt der Gedanke als Ausgangspunkt zugrunde, daß jedes „Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen" 16 auf Begründung eines Vertragsverhältnisses, d.h. eines Verhältnisses, welches den anderen als Träger eigener Rechte anerkennt, gerichtet ist. Nach römischem Recht war der Fremde, der Nichtrömer, grundsätzlich rechtlos. Öffentliches Recht und Privatrecht bildeten eine Einheit, d.h.: ein Nichtrömer konnte keine Privatrechte haben 17 . Die Nichtzugehörigkeit zu einer Gens, einem der dreihundert Geschlechter Roms, bedeutete gänzliche Rechtlosigkeit. Nietzsche führt auch das Iheringsche Beispiel der ursprünglichen Bedeutung des deutschen Begriffs Elend = Ausland an 1 8 . Das Bedürfnis, die Einheit von öffentlichem Recht und Privatrecht zu durchbrechen, indem einem Nichtbürger 12

Ihering, ebd., S. 253.

13

G M I I 8. G M , ebd. G M , ebd. G M , ebd. Ihering, Geist des römischen Rechts, I. Buch, § 16, S. 226. G M I I 9; Ihering, ebd., S. 227.

14 15 16 17 18

14

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

Roms ein klagbares Recht eingeräumt wurde, entstand aus dem Handelsverkehr. Ihering geht davon aus, daß das Recht „als Resultat des Kampfes" mit dem Vertrage entstehe, daß dem bewaffneten Kampf der Handel folgt, welchem an der Aufrechterhaltung des Friedens liegt. Der Kaufmann, der Händler „vermittelte mit dem Austausch der materiellen Güter auch den der geistigen". Das Rechtsinstitut des hospitium gewährte im Interesse einer gewissen Rechtssicherheit im zwischenstaatlichen Handelsverkehr bereits eine gegenseitige Zusicherung des Rechtsschutzes in der Weise, daß der Bürger die Rechtsansprüche des nichtrömischen Handelspartners im eigenen Namen geltend machte und der Handelspartner seinem Schutz unterstellt war 1 9 . Im weiteren Verlauf wurde durch Abschluß von Staatsverträgen Fremden die Teilnahme am römischen Privatrecht ermöglicht, indem ihnen eigene Rechte unter Geltendmachung im eigenen Namen durch Verleihung des commercium zugestanden wurden 20 . Diese Erscheinung in der Entstehung eines selbständigen Privatrechts, daß durch Abschluß zwischenstaatlicher Verträge im Interesse des Handelsverkehrs für Nichtbürger Roms die Stellung als Rechtssubjekt begründet werden konnte, greift Nietzsche auf. „ K a u f und Verkauf, samt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgendwelcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfanglichen GemeinschaftsKomplexe (in deren Verhältnis zu ähnlichen Komplexen) übertragen" 21 . Ihering geht in seiner Darstellung des römischen Rechts von der Hypothese aus, daß die Begründung des eigenen Klagerechts des Clienten und die Annahme eines Rechtsverhältnisses zu seinem Patron, sowie die Erzwingung eines eigenen Klagerechts durch die Plebejer erst möglich war, nachdem das Institut des commerciums eine verselbständigte Rechtsstellung des Nichtbürgers im zwischenstaatlichen Handelsverkehr hervorgebracht hatte 22 . Ihering sieht im Völkerrecht den Beginn einer „Trennung des Privatrechts vom Staat". Es spricht aufgrund der bereits genannten Äußerung Nietzsches einiges dafür, daß Nietzsche hierin der Auffassung Iherings hinsichtlich der Entstehung des Privatrechts folgt. Auch die grundsätzliche Unterscheidung der derzeitigen Zweckmäßigkeit und der Entstehung eines Rechtsinstituts oder der Gerechtigkeit, wie sie Ihering vornimmt 2 3 , greift Nietzsche auf 2 4 . Nietzsche leitet daher anhand des soeben entwickelten Gedankenganges die Begründung von Rechtsverhältnissen wie auch das Wesen der Gerechtigkeit lediglich der Entstehung nach „auf dieser ersten Stufe" 25 aus dem Willen ungefähr Gleichmächtiger, sich „durch einen 19 20 21 22 23 24

Ihering, ebd., Ihering, ebd., G M I I 8. Ihering, ebd., Ihering, ebd., G M I I 4 und

S. 232. S. 233. S. 245. S. 235. 12.

§ 1 Vertrag versus Gewalt als Entstehungsgrund des Rechts

15

Ausgleich wieder zu verständigen'", ab. Nur insoweit ist für Nietzsche der „Charakter des Tausches" — d. h. das Vertragsverhältnis des Handels als Ursprung des Rechtsverhältnisses und der Anerkennung der Person als Rechtssubjekt — „der anfangliche Charakter der Gerechtigkeit" 26 . Damit hat Nietzsche jedoch m. E. noch nicht sein Urteil über das Wesen des Rechts oder der Gerechtigkeit in to to gesprochen 27. Hierauf ist an anderer Stelle noch näher einzugehen. Wenn Nietzsche „ohne Vertrag kein Recht" 2 8 entstehen lassen will, weil noch keine gegenseitige Wertabschätzung das Bedürfnis nach einer vertraglichen Einigung hat erwecken können, es bisher „weder Krieg noch Verträge" gegeben hat, so folgt Nietzsche damit der bereits erwähnten Auffassung Iherings über die Entstehung des Rechts: „ M i t dem Frieden kommt der Vertrag, mit dem Vertrag das Recht zur Welt, das Recht als Resultat des Kampfes" u.s.w. 29 . 2. Versprechen als Begründung einer Schuld Nietzsche hebt als besonderes Wesensmerkmal des Vertrages als Ursprung des Rechtsverhältnisses von Person gegen Person das Versprechen hervor. „Hier gerade wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum, dem, der verspricht, ein Gedächtnis zu machen; hier gerade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für Hartes, Grausames, Peinliches sein" 30 . Dieser und die folgenden Sätze beziehen sich eindeutig auf die Machtfülle, die die römische Obligation dem Gläubiger über den Schuldner gewährte 31 . Nietzsche betont, daß es galt, dem Versprechenden ein „Gedächtnis zu machen", damit er der bindenden Kraft des Versprechens erinnerlich bleibt. Gerade dies hat Ihering hervorgehoben, indem er als unerläßliche Garantie der Erfüllung des Versprechens, dieser „Anweisung auf die Zukunft", die „Einräumung der Zwangsbefugnis von Seiten des Schuldners" zugunsten des Gläubigers ansieht 32 . „Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflößen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet kraft eines Vertrages dem Gläubiger für den Fall, daß er nicht zahlt, etwas, das er sonst noch ,besitzt', über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein 25

G M I I 8. M A 92. 27 hierzu Gerhardt, Das „Prinzip des Gleichgewichts. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche", NSt, Bd. 12, S. l l l f . (115). 28 M A 446. 29 s. ο. unter Fn 9. 30 G M I I 5. 31 Ihering, Geist des römischen Rechtes, II. Buch, § 31, S. 153; ders., Der Zweck im Recht, I. Band, S. 263. 32 Ihering, Der Zweck im Recht, ebd. 26

16

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

Leben" 3 3 . Diese Garantie für die Berechenbarkeit des Wollens und Handelns des Schuldners in der Zukunft sieht Ihering als besonderes Wesensmerkmal des Versprechens an, dessen bindende Kraft „nichts von außen Herantretendes" ist. Ihering wendet sich gegen die naturrechtliche Auffassung mit dem Hinweis, daß das Versprechen und die darin begründete Obligation einen zweckgerichteten Willen voraussetzt, der sein Wollen nicht vergißt, nicht jedoch einen Willen, „der im nächsten Moment, nachdem er den Vertrag geschlossen, vergessen hat, daß der Erfolg seines Wollens nicht durch vorübergehendes, sondern dauerndes Wollen bedingt ist" 3 4 . Nietzsche sieht die Arbeit des Menschen an sich selber, welche er unter den Begriff „Sittlichkeit der Sitte" faßt 3 5 , gerade in dem Berechenbarmachen des Menschen, damit er „wirklich versprechen d a r f . Dieser Begriff wird für die Abgrenzung des Rechts von Sitte und Moral in der folgenden Darstellung in mehrfacher Hinsicht Bedeutung erlangen. Nietzsche erkennt dieses Versprechen-dürfen des Willens als eine sehr späte Frucht der menschlichen Entwicklung und stellt die Frage: „,Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeßlichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt?'" 3 6 . Diese Fragestellung, welche — wie noch zu zeigen ist — schließlich zu Nietzsches Deutung der Entstehung des Gewissens und des „schlechten Gewissens" hinführt, findet sich als Problemstellung im Ansatz auch bei Ihering. Das bestimmende Wesen des Versprechens sieht Ihering in der bindenden Kraft des Vertrages, welches „von diesem atomistischen oder psychologischen Gesichtspunkt aus, der nur die Möglichkeit der Willensbewegung im Individuum ins Auge faßt", unbegreiflich erscheint 37 . Nietzsche gibt auf die von ihm gestellte Frage, wie die Vergeßlichkeit im Menschen überwunden worden ist, zunächst eine plastische Antwort: „ ,Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis' " 3 8 . Nietzsche sieht im Schmerzzufügen vor allem ein Mittel, um die Vergeßlichkeit diesen „der Wildnis, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepaßten Halbtieren" zu entreißen und ein Versprechen-dürfen zu ermöglichen; die Überwindung des gedächtnislosen Wollens erforderte Blutopfer und Strafen unter feierlichem Ernst. Die grausame Härte älterer Strafen und Bräuche ist für Nietzsche ein Zeichen, wieviel Mühe es einst kostete, den Sieg über die Vergeßlichkeit im Menschen zu erringen. Nietzsche erwähnt — neben den alten deutschen Strafen, wie dem Steinigen und Rädern —, daß „der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter antun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden 33 34 35 36 37 38

G M , ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 265. Morgenröte, 9; G M I I 2. G M I I 3. Ihering, Der Zweck im Recht, ebd. G M , ebd.

§ 1 Vertrag versus Gewalt als Entstehungsgrund des Rechts

17

(konnte), als der Größe der Schuld angemessen schien" 39 . Dieser Satz Nietzsches bezieht sich unzweifelhaft auf die Befugnisse, welche die Obligation dem Gläubiger gegenüber dem Schuldner gewährte, nämlich den Verkauf als Sklaven und als ultima ratio bei Gläubigermehrheit das in partes secare, wie es Ihering beschrieben hat 4 0 . Nietzsche sieht es als einen Fortschritt „größer rechnender, römischerer Rechtsauffassung", daß der Gläubiger nicht mehr nach ins „Kleinste gehenden Abschätzungen" nur dieses oder jenes Glied abschneiden durfte, sondern es ihm in späterer Zeit überlassen war, wieviel er herunterschnitt. Hieran wird besonders deutlich, daß Nietzsches Gedanken zur Entstehung des Rechts aus dem Vertrage und dem Versprechen als bindender Kraft des Vertrages sowohl von bestimmten Erscheinungen des römischen Rechts ihren Ausgang nehmen, als auch von eigenständigen rechtsphilosophischen Erwägungen Iherings, wie sie mit seiner Darstellung des römischen Rechts untrennbar verbunden sind. Gleichzeitig wird erkennbar, wie Nietzsche von diesen auch für das heutige Recht grundlegenden Erscheinungen und der rechtsphilosophischen Lehre Iherings zu rein philosophischen, d.h. soziologischen und psychologischen — als Bestandteilen eines noch umfassend verstandenen philosophischen Denkens — Gedanken vordringt. So erkennt Nietzsche als Philologe in dem Schmerz, den die älteren Strafen und Blutopfer bis in die Neuzeit dem Menschen bereitet haben, nicht jedoch in der Vernunft, den Ursprung des Gewissens und in ihm „das stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewußtsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick" 41 . Erst dieses zum „Instinkt" gewordene Privilegium macht den Menschen aus, „der wirklich versprechen darf 4 . Nietzsche spricht hier von dem autonomen Individuum, während Ihering „die Idee der Autonomie" — in Hinsicht auf das Merkmal der Macht vergleichbar — aus der „höchsten Anspannung des Machtbegriffs" römischer Institute wie der patria potestas und der Obligation ableitet 42 . Die Machtfülle, die die Obligation dem Gläubiger verleiht, erwächst aus der bindenden Kraft des Versprechens, weil es sich um einen Schuldner handelt, welcher, um hierin mit Nietzsche zu reden, zu den „willenskürzeren und unzuverlässigeren Kreaturen" gehört und insoweit nicht versprechen durfte. Für Ihering ist die Machtfülle, welche z. B. die Obligation oder die patria potestas verlieh, ein Beweis dafür, wie sehr sich das römische Recht des Unterschiedes zwischen Normen des Rechts und der Sitte bewußt war. Ihering stellt besonders heraus, daß der Inhalt jedes Rechtsverhältnisses „Willensmacht, Herrschaft" sei, daß die Rechtsverhältnisse des älteren römischen Rechts sich als „reine Herrschaftsverhältnisse" darstellten und den „Gedanken der Macht" 39

G M I I 5. Ihering, Geist des römischen Rechts, I. Buch, § 31, S. 153. 41 G M I I 2. 42 Ihering, Geist des römischen Rechts, II. Buch, § 31, S. 147, sowie § 32 hinsichtlich der hausherrlichen Gewalt. 40

2 Kerger

18

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

hervorhoben 43 . Die Freiheit, welche die rechtlich unbegrenzte Machtfülle verlieh, wurde wirkungsvoll durch die sittlichen Normen und die über ihre Beachtung wachsende Censur davor bewahrt, in einen schädigenden Mißbrauch abzugleiten, ohne daß die „Flüssigkeit" dieser sittlichen Normen das geschriebene Recht verwässerte. Nietzsche stimmt der Charakterisierung der Rechtsverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse zu, wenn er von einem „Herren-Rechte" des Gläubigers gegenüber dem Schuldner spricht 44 . Weiterhin liegt für Nietzsche hierin, im Kampf gegen die Vergeßlichkeit und um die Erlangung der Herrschaft „über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Kreaturen", der Ursprung und die Macht der Asketik 4 5 als dem den Menschen beherrschenden Ideal, welchem Nietzsche die gesamte dritte Abhandlung der Schrift „Zur Genealogie der Moral" gewidmet hat. Für Nietzsche ist auch „das intellektuelle Gewissen" der letzten Idealisten der wissenschaftlichen Erkenntnis, die er auch die „Hektiker des Geistes" nennt 46 , nur als Ausfluß des asketischen Ideals denkbar: das asketische Ideal „unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rangdistanz in Hinsicht auf jede Macht" 4 7 . Nietzsche entwickelt als weiteres soziologisches Phänomen aus der Machtfülle, die das römische Institut der Obligation dem Gläubiger gegenüber dem Schuldner gewährte, die lange herrschende Vorstellung einer umfassenden „Äquivalenz" zwischen dem erlittenen Schaden des Gläubigers und einem dagegen gewährten Vorteil „an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz", welcher „dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung" im Sinne einer unbeschränkten Machtausübung an dem Schuldner erlaubt 4®. „Vermittels der ,Strafe' am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte teil: endlich kommt auch er einmal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein ,Unter-sich' verachten und mißhandeln zu dürfen" oder es durch staatliche Strafgewalt so behandelt zu sehen49. Nietzsche sieht „die Idee, daß jeder Schaden irgend worin sein Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers" 50 , in einem „Anweis" auf Grausamkeit 51 . Dieser Anweis auf Grausamkeit ist auch für Nietzsche der unmittelbare Ausfluß der bindenden Kraft des Versprechens als „Anweis auf die Zukunft", wie es Ihering charakterisiert hat. Das Recht der Obligation ist für Nietzsche ein anschauliches Beispiel der nunmehr unlösbar gewordenen „Ideen43 44 45 46 47 48 49 50 51

Ihering, ebd., § 31, S. 140, 141, sowie § 36, S. 295-297. G M I I 5. G M I I 3. G M I I I 24. G M I I I 23. G M I I 5. G M , ebd. G M I I 4. G M I I 5.

§ 1 Vertrag versus Gewalt als Entstehungsgrund des Rechts

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Verhäkelung,Schuld und Leid' " 5 2 . Nietzsche läßt hier nicht den, wie er schreibt, plumpen Begriff der Rache als Erklärung gelten, worin Ihering allerdings das Wesen und den Sinn der rechtlich unbeschränkten und nur noch durch die sittliche Censur begrenzten Machtbefugnis sieht, die die Obligation dem Gläubiger gegenüber dem Schuldner gewährt 53 . Nietzsche weist auf die dahinter stehende Frage, welche für ihn ein zentrales Problem des Rechts, insbesondere des Strafrechts, und die Nahtstelle zwischen dem rechtlichen, moralischen und christlichen Schuldbegriff bedeutet: „Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück: ,wie kann Leiden-machen eine Genugtuung sein?' ". Nietzsche deutet mit vorsichtigem Finger auf die immer wachsende Vergeistigung und Vergöttlichung' der Grausamkeit" in der Geschichte und im Wesen der „höheren Kultur" des Menschen 54 . Schließlich greift Nietzsche ein weiteres Merkmal der altrömischen Obligation auf, wie es Ihering dargestellt hat. Dem altrömischen Recht war die bindende Kraft des Versprechens einer Leistung ohne zuvor erhaltener Gegenleistung zunächst fremd, denn die Begriffe Schuldner, Gläubiger, Schuld beruhten auf der Vorstellung „des Habens von einem Anderen" 55 . Erst nach und nach wurde die bindende Kraft des Versprechens unabhängig von einer erhaltenen Gegenleistung anerkannt, welche daher nur noch fingiert wurde 56 . Die Vorleistung der res war die der bindenden Kraft des Versprechens zugrundeliegende Vorstellung. Nietzsche überträgt diese Vorstellung auf das Verhältnis des Staates, der Gesellschaft zum Einzelnen, welcher dem Gemeinwesen angehört. Die Vorleistung besteht in den Vorteilen des Gemeinwesens, in der Gewährleistung des Schutzes, des Friedens im Innern wie nach außen. I n Hinsicht auf diesen Schutz vor Schädigungen und Feindseligkeiten hat sich der Einzelne „der Gemeinde verpfändet und verpflichtet" 57 . Es sind die mit harten Strafen bewehrten Gebote dieses Verhältnisses, „ i n bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vorteilen der Sozietät zu leben" 58 . Wer die Gebote dieses auf der bindenden Kraft des Versprechens beruhenden Verhältnisses mißachtet, ist deshalb „ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vorteile und Vorschüsse" nicht zurückzahlt 59 .

52 53 54 55 56 57 58 59

2*

G M I I 6. Ihering, Geist des römischen Rechts, ebd. G M , ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 267, 268 und S. 285, 287. Ihering, ebd., S. 270, 271. G M I I 9. G M I I 3. G M I I 9.

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1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches 3. Recht als Gläubiger-Schuldner-Verhältnis a) als Verhältnis des Staates zum Einzelnen

Aus der zuletzt zitierten Äußerung Nietzsches läßt sich bereits entnehmen, daß Nietzsche das rechtliche Verhältnis, in welchem der Einzelne ursprünglich und auch gegenwärtig zum Staat und zur Gesellschaft steht, als vertragliches Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner ansieht: „so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern" 60 . Es wurde ebenfalls bereits erwähnt, daß Nietzsche die Befriedung des Gemeinwesens im Innern wie nach außen als Vorteil und Vorleistung des staatlichen Gemeinwesens ansieht. I m Gegenzug hat das Mitglied die Ordnung dieser Gemeinschaft als bindend anerkannt, sich „der Gemeinde verpfändet und verpflichtet". Auch diese Vorstellung des Rechtsverhältnisses zwischen der staatlichen Gemeinschaft und ihren Mitgliedern als einem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner findet in Iherings Darstellung des römischen Rechts ihre Grundlage. Ihering geht von dem Prinzip der Gentilverbindung in Familie und Staat aus und stellt fest, daß das Verhältnis „des Einzelnen sowie der Gens zum Gesamtstaat das der Coordination ist", und nicht auf dem Prinzip staatlicher Unterordnung beruhe 61 . Der römische Gesamtstaat verstand sich als eine Gens im umfassenden Sinne. Der Gentile stand unter dem Schutz und der Aufsicht seines Geschlechts; die Gens war nicht mehr als die Zusammenfassung der Gentilen. Dieses koordinationsrechtliche Verhältnis bestand auch im Gesamtstaat; dieser stand nicht über den Gentes, sondern bestand aus ihnen 62 . Die Gentilverfassung der Familie als politischer Korporation wie auch des Staates beruhte auf dem „Autonomierecht der Gens", wobei „auch hier die bindende Kraft ihrer Beschlüsse sich auf gegenseitige vertragsmäßige Verpflichtung der einzelnen Mitglieder" stützte 63 . Die staatliche Verfassung Roms bestand in einem gegenseitigen Vertragsverhältnis der freien Bürger. Hieraus erwuchs die Vorstellung, daß alle Beschränkungen der Freiheit durch die sittenpolizeiliche Gewalt der Gentilen sowie des Censors — welche Ihering aus derjenigen der Gens ableitet 64 — darauf beruhten, daß ausschließlich der Wille des Einzelnen eine Verpflichtung oder auch die eigene Bestrafung begründen konnte. Der Einzelne fügt sich dem Strafurteil, weil ihm anderenfalls die Ausschließung aus der Gens bzw. aus dem Staat droht. Gerade in dem Recht der Ausschließung aus Gemeinschaftsorganen wie dem Senat und schließlich aus dem Gemeinwesen als solchem liegt für Ihering eine Ausprägung des vertraglichen Verhältnisses des Einzelnen zur 60 61

G M I I 9.

Ihering, S. 209. 62 Ihering, 63 Ihering, 64 Ihering,

Geist des römischen Rechts, I. Buch, § 14, ebd., S. 195, 196, sowie § 15, ebd., S. 206. ebd., S. 195, 196 sowie § 15, S. 209. ebd., § 14, S. 192.

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Gesamtheit des Gemeinwesens auf das Basis der Koordination im Gegensatz zur Subordination 65 . Diesen gedanklichen Zusammenhang greift Nietzsche auf. Auch Nietzsche sieht die Friedloserklärung als Zeichen der Ausschließung aus der befriedeten Gemeinschaft darin begründet, daß ein „Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin teilgehabt hat", verstoßen hat 6 6 . Nietzsche betont die in der Ausschließung aus dem Gemeinwesen liegende und über die bloße Rechtlosigkeit des Schädigers hinausgehende Sanktion, welche das Wesen der Gemeinschaft besser erkennen läßt. Für Ihering ergibt sich das Vertragsverhältnis des Staates zum Privatrecht des Einzelnen aus der nachgesuchten Garantie des Rechtsschutzes durch den Staat; „der Schutz wie dieser Kaufpreis desselben stützt sich auf den freien Willen der Parteien" 67 . Deshalb besteht im altrömischen Recht die strenge Wahrung der Einheit von öffentlichem Recht und Privatrecht, da das Gesetz nur ein Vertrag unter den Bürgern Roms sein kann. Wer den Vertrag brach und aus dem Staat ausgeschlossen wurde, „der ließ sein Recht zurück" 6 8 . Das Verhältnis des römischen Staates gegenüber Fremden ist der Kriegsfuß als einem von vornherein gegebenen völkerrechtlichen Verhältnis. Der Rechtsbrecher, welcher aus der staatlichen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, hatte nicht mehr eine in ihrem Ausmaß durch das Recht begrenzte Strafe zu erwarten, sondern war ein „Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze" 69 . Indem Nietzsche hervorhebt, daß es sich bei diesem Zurückstoßen in den vogelfreien Zustand um ein Abbild „des normalen Verhaltens gegen den gehaßten, wehrlos gemachten, niedergeworfenen Feind" handelt, will er andeuten, daß hierauf das wahre Wesen jeder Gemeinschaft bis in die Gegenwart gerichtet ist, daß das Wesen jeder Gemeinschaft in seiner abgründigen Kehrseite darauf gerichtet ist, nicht nur den aus ihrer Mitte ausgeschlossenen Rechtsbrecher als Feind, sondern jeden Feind als Rechtlosen zu behandeln. Der Kriegszustand gegen den Fremden innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft macht das wahre Wesen der Gemeinschaft aus. Aufgrund seiner Fremdartigkeit, nicht wegen des Vertragsbruchs, welcher dagegen nicht in Betracht kommt 7 0 , wird der Fremde nach Möglichkeit rechtlos gestellt. „Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen miteinander seid, muß immer ein sechster sterben" 71 . Das Wesen jeder Gemeinschaft als „Gläubiger" erkennt Nietzsche auch daran, daß ein Gemeinwesen Rechtsbrecher und andere Feinde erst in dem 65 66 67 68 69 70 71

Ihering, ebd., § 15, S. 214; ders., Der Zweck im Recht, Band I, S. 555. G M I I 9. Ihering, ebd., § 15, S. 222, 223. Ihering, ebd., S. 230. G M I I 9. G M , ebd. ZA, Von der Nächstenliebe.

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1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

Maße nicht mehr als ausgestoßen und rechtlos behandelt, in dem seine Macht gewachsen ist: „Wächst die Macht und das Selbstbewußtsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefahrdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht. Der ,Gläubiger 4 ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist" 7 2 . Auch diese Erwägung findet sich zumindest andeutungsweise in einem Beispiel aus der Geschichte Roms, welches Ihering anführt. Zur Stützung seiner These, daß die Staatsgewalt und das Recht in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit stehen, verweist Ihering darauf, daß in Rom nach den Wirren der Bürgerkriege die römischen Caesaren die Staatsgewalt neu aufzurichten hatten: „Die Gräuel und Unmenschlichkeiten, in denen sie sich ergingen, waren nur die Orgien der ihre Heimkehr feiernden Staatsgewalt, der bluttriefende Beweis, daß sie wiederum zu Kräften gekommen sei und keine Macht auf Erden mehr zu fürchten habe — erst als der Beweis erbracht war, trat das Maß ein" 7 3 . Die Rechtlosigkeit findet ihren Grund darin, daß es sich um einen „Feind des Friedens" oder des Gesetzes handelt, der „gefahrlich für das Gemeinwesen" ist und dem deshalb der Krieg erklärt wird 7 4 . b) als Verhältnis der Gemeinschaftsbildungen zum Ahnherrn und zu Gott Nietzsche sieht schließlich in dem Verhältnis der „Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren" ebenfalls eine Ausprägung des Verhältnisses des Schuldners zu seinem Gläubiger. „Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft" erkenne die lebende Generation „gegen die früheste, Geschlecht-begründende eine juristische Verpflichtung an", und keineswegs eine bloß gefühlsmäßige Verbindlichkeit 75 . Diese Verpflichtung führt Nietzsche auf die Überzeugung zurück, daß „das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht — und daß man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit eine Schuld a n " 7 6 . Die Schulden, welche man den Vorfahren zurückzuzahlen hat, bestehen in Opfern, Festen und „vor allem Gehorsam" gegen Bräuche und Gesetze der Vorfahren. Nietzsche sieht die Vorstellung der Schuld gegenüber den Vorfahren des Geschlechts in der gerade gegenwärtigen Macht des Geschlechts begründet, deren Entstehung sie dem Ahnherrn, welcher in Bräuchen und auch geistiger oder Geister-Gestalt fortlebt, verdankt. „Die Furcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht, das Bewußtsein von Schulden gegen ihn nimmt dieser Art von Logik notwendig genau in dem Maße zu, in dem die Macht des Geschlechts selbst zunimmt, in dem das Geschlecht selbst immer siegreicher, unabhängiger, geehrter, gefürchteter 72 73 74 75 76

G M I I 10. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 310, 312. G M I I 13. G M I I 19. G M , ebd.

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dasteht" 77 . Es wurde bereits dargelegt, daß im altrömischen Recht die Macht der Gens über die Mitglieder des Geschlechts umfassend war 7 8 und Ihering die Bedeutung des römischen Familienprinzips besonders hervorgehoben hat 7 9 . Ihering führt aus, daß die Verbindung, welche die Gens begründet, „die ganze Existenz des Einzelnen" umfaßt." Der Glanz und der Ruhm der Gens kommt dem Einzelnen zu Gute, wie umgekehrt seine Taten auf sie Schatten oder Licht werfen" 80 . Die Teilhabe des Einzelnen an der Macht des Geschlechts, wie sie nach der römischen Gentilverbindung bestand, begründet nach Nietzsche die Vorstellung einer umso höheren Schuld, je mächtiger das Geschlecht gegenwärtig dasteht. Die Schuld erwächst aus der „Macht-Gegenwart" des Ahnherrn, welche er dem Geschlecht verleiht, bis schließlich von den mächtigsten Geschlechtern der Ahnherr „zuletzt notwendig in einen Gott transfiguriert" wird 8 1 . Nietzsche sieht den Ursprung der Götter in der Vorstellung einer Schuld, „aus der Furcht" erwachsen. Auch diese Vorstellung des Verhältnisses zur Gottheit als einem Verhältnis des Schuldners zum Gläubiger findet sich im römischen Recht und dessen Darstellung durch Ihering. Nach dem römischen Recht war die Begründung eines Vertragsverhältnisses mit einem Gott in Form einer Widmung oder Stiftung möglich. „Das Votum ist für ihn", den Römer, „nur eine Art des unbenannten Realcontractes mit der Gottheit, es ist kein reines Schenkungsversprechen, sondern Leistung um Gegenleistung, auch seine verbindliche Kraft stützt sich auf die ,res' " 8 2 . Eine bestehende Schuld aufgrund erhaltener Leistung war somit Grundlage auch dieses römischen Instituts. Nietzsche sieht in dieser zunächst „juristischen" Verpflichtung eine maßgebliche Quelle des „Schuldbewußtseins" auch im moralischen Sinne. Es besteht für Nietzsche eine Wechselwirkung zwischen dem ererbten „Bewußtsein, Schulden gegen eine Gottheit zu haben", und der Schaffung eines umfassenden, einheitlichen Gottesbegriffs. Die Ablösung der Gemeinwesen von der Aufteilung nach Geschlechtern und Bildung weitgespannter „Universal"-Staaten habe die Schaffung von „Universal-Gottheiten" mit sich gebracht. „Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht" 83 . Nietzsche schließt daher, daß im umgekehrten Fall mit dem Niedergang des Glaubens an einen einzigen Gott auch eine Abnahme des menschlichen Schuldbewußtseins einhergehen müsse: „Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zueinander" 84 . M i t dem Wegfall des Glaubens an eine Gottheit als Gläubiger 77 78 79 80 81 82 83

G M , ebd. s.o. unter 3.a). Ihering, Geist des römischen Rechts, I. Buch, § 14 und II. Buch, § 32. Ihering, ebd., § 14, S. 184, 185. G M , ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 285. G M I I 20.

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1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

setzt jedoch für Nietzsche die „eigentliche Moralisierung" des Schuldbegriffes erst ein, indem der Entstehungsgrund der Schuld in das „schlechte Gewissen" zurückgeschoben wird und nunmehr in der Person des Schuldners gesucht wird, „bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der,ewigen Strafe') konzipiert ist" 8 5 . M i t dieser Kritik an der christlichen Lehre wendet sich Nietzsche gegen alle nach seiner Auffassung lebensfeindlichen Lehren, insbesondere den Buddhismus, gegen „alle Art Chinesen tum", worin er die Ursachen eines über Europa heraufziehenden Nihilismus sieht. Nietzsche nennt es einen „Geniestreich des Christentums", daß ein Gott sich für die Schuld der Menschen opfern sollte, „Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist — der Gläubiger sich für einen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? — ), aus Liebe zu seinem Schuldner! .. . " 8 6 . Es erscheint immerhin bemerkenswert, daß Nietzsche seine Kritik am Christentum, welche sich vor allem als Kulturkritik darstellt, hier aus der römischen Vorstellung der Gottheit als „Gläubiger" herleitet. Nietzsche wendet sich dagegen, dem Menschen „die Aussicht auf eine endgültige Ablösung der Schuld vor dem irdischen und himmlischen Weltgericht" zu verschließen. Es sei an dieser Stelle bereits angedeutet, worin Nietzsche die Entstehung des „schlechten Gewissens" als Ausfluß einer unablösbaren moralischen Schuld des Menschen sieht, dieses „in sich selbst zurückgescheuchten Tiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den ,Staat' Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehe zu tun, nachdem der natürliche Ausweg dieses Wehe-tun-wollens verstopft war" 8 7 . Dieser Mensch legt seinem Gott die letzten Gegensätze zu seinem eigenen Tierwesen bei, „er deutet diese Tier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott". § 2 Macht als Entstehungsgrund des Rechts 1. Entstehung des Rechts aus der „Gleichstellung" der Mächte Geht man von einem soziologischen Begriff der Macht aus, verstanden als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht", wie dies in der institutionalistischen Rechtsauffassung geschieht1, so wird deutlich, daß sich Macht von dem Zwang, eine konkrete, genau bestimmte Handlung vorzunehmen, unterscheidet 2. Macht bedeutet die Fähigkeit zur Ausübung 84

G M , ebd. G M I I 21. 86 G M , ebd. 87 G M I I 22. 1 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, S. 28f.; Krawietz, Verhältnis von Staat und Macht, Pleyer-Festschrift, S. 2. 85

§

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physischer Gewalt. Der Begriff Macht ist daher nicht mit der bloßen Ausübung physischer Gewalt zu verwechseln. Es wurde bereits oben 3 ausgeführt, daß Nietzsche der grundlegenden These Iherings beitritt, daß der Vertrag das erste, ursprüngliche Rechtsverhältnis darstellt und sich aus dem Vertragsverhältnis die Anerkennung des Menschen als Rechtssubjekt entwickelt hat. Nietzsche folgt Ihering ebenso in dem Ansatz zu dieser These, daß ein Vertrag erst dann entstehen kann, wenn es zwischen zwei Mächten „zum Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen läßt. Ohne Vertrag kein Recht" 4 . Ihering sieht das Resultat des Kampfes in der „Erkenntnis des Mächtigen, daß es seinem eigenen Vorteil entspricht, den Schwachen neben sich bestehen zu lassen — die Selbstbeschränkung der Gewalt im eigenen Interesse" 5. Diese Entstehungsart des Vertrages und damit des Rechts, welche Ihering die Entstehung des Rechts aus der Macht des Stärkeren nennt, greift Nietzsche auf. Nietzsche leitet mögliche Rechte des Schwächeren daraus ab, daß der Schwächere dem Mächtigeren noch insoweit „Bedingungen" für eine vertragliche Einigung stellen könne, als der Schwächere dem Mächtigeren Vorteile, welche in den Eigenschaften des Schwächeren liegen und dem Mächtigeren einen Nutzen versprechen, entziehen kann, u.U. durch Selbstvernichtung. Nietzsche führt als Beispiel eine belagerte Stadt an, deren Rechte als Bedingungen für eine Übergabe allein noch darin liegen, „daß man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine große Einbuße machen kann" 6 . Rechte des Schwächeren folgen also allein aus dem Nutzen für den Mächtigeren und dessen Interesse an der Erhaltung dieser Vorteile; der Grad der Nützlichkeit bestimmt das Maß der Rechte. „Das Recht geht ursprünglich so weit, als einer dem anderen wertvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere" 7. Diese Herleitung der Rechte des Schwächeren aus dessen potentieller Nützlichkeit für den Mächtigeren stimmt mit den Ausführungen Iherings hierzu überein. Nach Ihering bestimmt ausschließlich das eigene Interesse den Mächtigen, von einer Fortsetzung des Kampfes gegen den Schwächeren, auch wenn dieser deutlich unterlegen ist, abzusehen und den Schwächeren „nicht durch unannehmbare Bedingungen zu einem Verzweiflungskampf zu reizen, der ihm selber Opfer auferlegt, die zu dem zu erzielenden Gewinne in keinem Verhältnis stehen" 8 . Die Rücksicht auf den eigenen Nutzen veranlaßt den 2 3 4 5 6 7 8

Krawietz, ebd. unter § 1.1. M A 446. Ihering, Der Zweck im Recht, Band I, S. 250. M A 93. M A , ebd. Ihering, ebd., S. 249.

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Mächtigeren zum Vertragsschluß mit dem Schwächeren, worin die Anerkennung von dessen Rechten liegt, sowie dessen Anerkennung als Rechtssubjekt. Nietzsche stellt hier — in der bereits im Jahre 1878 erschienenen Schrift „Menschliches, Allzumenschliches" — bereits jenen Gedanken heraus, welchen er in der neun Jahre später erschienenen Schrift „Zur Genealogie der Moral" weiter ausgeführt hat. Nietzsche geht davon aus, daß die mit dem Vertragsschluß sich ergebenden Rechte des Schwächeren so weit gehen, als er dem Mächtigeren nützlich, „unbesiegbar" u.s.w. „erscheint" 9 . Die vertragliche Einigung zur Beendigung eines ausgetragenen oder zu erwartenden Konflikts erfordert also auch nach dem Kampf, „Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen" 10 . Hierin liegt eine gegenseitige Bewertung der Handlungsmöglichkeiten 11 in Hinsicht auf das jeweilige Interesse des anderen. Die gegenseitige Berechnung und Bewertung der Macht bewirkt die für den Vertragsschluß erforderliche „Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können" 1 2 . Die Anerkennung von Rechten beruht somit auf einer gegenseitigen Abschätzung und Bewertung der Macht, welche jeweils annähernd übereinstimmen muß, damit jene „Gleichstellung" der Gegner in Form des Vertrages vorgenommen werden kann. Die gegenseitige Anerkennung von Rechten folgt aus der annähernd übereinstimmenden Feststellung der Relation der beiden Mächte zueinander. Der Vertrag fixiert die gegenseitigen Rechtspositionen und beendet damit einen von Fall zu Fall wechselnden Prozeß der gegenseitigen Feststellung der Machtverhältnisse. Die dynamische, auf Ausdehnung gerichtete Qualität der Macht 1 3 soll durch Vertragsschluß und Anerkennung von Rechten einer nunmehr damit in Einklang stehenden, d. h. rechtmäßigen Ausübung von Gewalt unterworfen werden. „Wo Recht herrscht, da wird ein Zustand und Grad von Macht aufrecht erhalten, eine Verminderung oder Vermehrung abgewehrt. Das Recht anderer ist die Konzession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen anderen" 14 . Wenn Nietzsche Rechte als „anerkannte und gewährleistete Machtgrade" kennzeichnet, so befindet er sich auch insoweit in Übereinstimmung mit Ihering, welcher dieses Verhältnis definiert: „wer das Verhältnis von Recht und Gewalt zutreffend wiedergeben will, der nenne sie beide Gewalt und unterscheide sie durch das Prädikat:; die rechte und die Unrechte" 15 . Das Recht ist nach Ihering die Regeln unterworfene Gewalt und nur „ein Accidenz der Gewalt selber" 16 . Ihering nennt die „rechte Gewalt" auch Macht 1 7 . 9 10 11 12 13 14 15 16 17

M A , ebd. G M I I 8. so zutreffend Gerhardt, Das „Prinzip des Gleichgewichts" ebd., S. 115. M A , ebd. Gerhardt, Das „Prinzip des Gleichgewichts", ebd., S. 116. Morgenröte, 112. Ihering, ebd., S. 253. Ihering, ebd., S. 252. Ihering, ebd., S. 253.

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Indem Nietzsche hier nicht den Begriff der Gewalt, sondern denjenigen der Macht wählt, weist er auf die dynamische Beschaffenheit der Macht hin und darauf, daß die übereinstimmende Feststellung der Machtverhältnisse, auf welcher der Konsens beruht, grundsätzlich fortbestehen muß, jedenfalls nicht grundlegend gestört werden darf, damit einmal anerkannte Rechte bestehen bleiben können. „Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf:; dagegen hören, wenn wir sehr viel mächtiger geworden sind, die Rechte anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zugestanden" 18 . Nietzsche setzt damit nicht etwa Macht und Recht gleich, sondern geht mit Ihering davon aus, daß Macht, Gewalt und Recht gleichen Ursprungs sind und zwischen ihnen keine Wesensverschiedenheit besteht 19 . Für Nietzsche bedarf es vielmehr immer der übereinstimmenden Feststellung und Anerkennung der Machtverhältnisse als einer „ A r t Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können" 2 0 . Entscheidend für den Entstehungsgrund des Rechts ist demnach, daß die gegenseitig anerkannten Machtgrade — als Relation der Mächte zueinander — festgeschrieben werden sollen, woran beide Seiten ein starkes Interesse haben. Das Recht ist diejenige Form der Macht, „die ihr die unausgesetzte Anspannung der Kraft erspart und den ruhigen Genuß verstattet", wie Ihering schreibt 21 . Diese Erwägung führt m.E. durchaus zu dem Gedanken Nietzsches, daß in der Anerkennung des anderen als Träger eigener Rechte die Gewährleistung seiner Macht in Relation zur eigenen Macht liegt, welche jedoch vom Recht allein nicht getragen werden kann. „Meine Rechte: das ist jener Teil meiner Macht, den mir die anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen" 2 2 . Das gegenseitige Interesse an der Machterhaltung des anderen sieht Nietzsche in der Erlangung von Rechtsfrieden und -Sicherheit, erwachsen aus der Einschätzung beider Seiten, daß ein Kampf derzeit unzweckmäßig ist, oder aus der Erwägung, daß man den anderen als Bündnispartner gegen einen Dritten benötigt. Der vom anderen erwartete Nutzen führt nach Nietzsche wie auch nach Ihering die Bereitschaft herbei, die gegenwärtige Machtrelation in Form des Rechts zu perpetuieren und insofern eine Art „Gleichstellung" herbeizuführen, „auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können" 2 3 . Nietzsche spricht von „Klugheit und Furcht und Vorsicht", welche die Vertragsschließenden veranlaßt, sich auf eine gegenseitige Gewährleistung der Machtgrade zunächst im ursprünglichen Sinne von Tausch und Vergeltung einzulassen. Diese Worte aus der im Jahre 1881 erschienenen Schrift „Morgenröte" finden sich bereits in der ein Jahr zuvor erschienenen Schrift „Der Wanderer und sein Schatten", wo 18

Morgenröte, ebd.

19

Ihering, ebd., S.251. M A , ebd. Ihering, ebd., S. 250. Morgenröte, 112. M A , ebd.

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1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

Nietzsche das Merkmal der „gleichwiegenden Macht" herausstellt 24 . Nietzsche spricht nur dort von einem „Prinzip des Gleichgewichts", während er die hierzu im Ansatz entwickelten Gedanken in den später erschienenen Schriften „Morgenröte" und „Zur Genealogie der Moral" weiter ausführt, ohne die „Gleichstellung" der Vertragsschließenden in dem soeben dargelegten Sinne noch weiterhin als ein „Prinzip des Gleichgewichts" zu fassen. Es ist daher nun zu prüfen, ob sich das „Gleichgewicht" auf die Anerkennung des anderen als Vertragspartner, d.h. als Rechtssubjekt bezieht, insofern eben eine „Gleichstellung" der Vertragsschließenden stattfindet, oder ob Nietzsche die These vertritt, daß Rechte nur unter ungefähr jeweils Gleichmächtigen entstehen können. Die Vertragspartner erkennen mit dem Vertragsschluß die Rechte des anderen an, weil sie den anderen jeweils in diesem Teil seiner Macht erhalten wollen. Die gegenseitige Gewährleistung der Macht des anderen beruht auf der Grundlage des gegenseitigen Nutzens, wie er nach der im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestehenden Machtrelation zu erwarten ist. Die Rechte des anderen als „unsere Pflichten" bestehen deshalb darin, daß der andere „uns für Vertrags- und vergeltungsfahig" nimmt" 2 5 . In der Pflichterfüllung als dem Ausfluß der Rechte des anderen liegt „jene Vorstellung von unserer Macht, auf welche hin uns alles erwiesen wurde, wir geben zurück, in dem Maße, als man uns gab". Die Rechte des anderen beziehen sich „nur auf das, was sie meinen, daß es in unserer Macht steht" 2 6 . Wird die Erwartung nicht erfüllt, so leugnet der andere unsere Rechte und sie fallen fort. Nietzsche beruft sich zum Beweis dafür, daß eine wesentliche Verschiebung der Machtverhältnisse ein Vergehen und Neuentstehen von Rechten bewirkt, auf das Völkerrecht. Dem Völkerrecht mißt Nietzsche bei der Analyse der Entstehung von Rechten erhebliche Bedeutung zu, wie bereits angedeutet wurde. Das Völkerrecht lehrt, daß der Mächtige auch den Schwächeren noch „Vertrags- und vergeltungsfähig" anerkennt, soweit er ihm Nutzen verspricht und die Macht des Schwächeren als hinreichend bewertet, um „Wiedervergeltung" zu üben, d.h. die erwarteten Handlungen vorzunehmen, worauf sich die Rechte des Mächtigeren beziehen. Erst, wenn die Macht des Schwächeren derart abnimmt, daß er die Fähigkeit, „Vertrags- und vergeltungsfahig" zu sein, verliert, „tritt Unterwerfung ein" und die Rechte des Schwächeren fallen fort 2 7 . Nietzsche stellt jedoch fest, daß nach der Unterwerfung derselbe Erfolg eintritt wie der, welcher bisher durch das Recht gewährleistet wurde. „Denn jetzt ist es die Klugheit des Überwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu schonen und nicht nutzlos zu vergeuden anrät: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war" 2 8 . Indem Nietzsche die Lage des Unterworfenen, der nicht mehr 24 25 26 27 28

WS 22; hierzu: Gerhardt, Das „Prinzip des Gleichgewichts", ebd., S. l l l f . Morgenröte, ebd. Morgenröte, ebd. WS 26. WS ebd.

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„Vertrags- und vergeltungsfähig" ist, nicht als ihrem Wesen nach verschieden von derjenigen des gleichgestellten Vertragspartners ansieht, weist er daraufhin, daß auch der Unterworfene nicht gänzlich rechtlos ist. Auch der Unterworfene hat gegen seinen Herrn noch Rechte, soweit er ihm „nützlich und wichtig ist" 2 9 . Diese Rechtsstellung des Unterworfenen gegenüber dem Mächtigeren ergibt sich also ebenfalls aus einer „ A r t Gleichstellung", ohne jedoch die gegenseitige Anerkennung als Rechtssubjekt zu begründen. Der Unterschied der „Machtund Rechtsgrade" ist für Nietzsche grundsätzlich quantitativer Art; „unus quisque tantum iuris habet quantum potentia valet" 3 0 . Die Entstehung der durch vertragliche Gleichstellung begründeten Rechte unter gegenseitiger Anerkennung als Rechtssubjekt erfordert die Fähigkeit der „Wiedervergeltung". Diese „Wiedervergeltung" besteht darin, jeweils die Vorstellung von der Macht des anderen zu bestätigen, indem „wir dem, was andere für uns taten, etwas entgegenstellen, das wir für sie tun, — denn jene haben damit in die Sphäre unserer Macht eingegriffen" 31 . Die Anerkennung als vertragsfahiges Rechtssubjekt setzt somit voraus, daß etwas außerhalb des Machtkreises des anderen, was sich einer Unterwerfung entzieht, „in unserer Macht steht, voraussetzend, daß es dasselbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht". U m eine vertragliche Gleichstellung auf dieser Grundlage herzustellen, ist es notwendig, „daß wir in bezug auf den Umkreis unserer Macht denselben Glauben haben, wie die anderen" 32 . Die übereinstimmende Feststellung der Relation, in denen eine Macht steht, bestimmt m. E. für Nietzsche ihre Gewichtigkeit. Ein „Gleichgewicht", welches zwei Mächte einander „Vertrags- und vergeltungsfahig" erscheinen läßt, ist daher auch dann möglich, wenn eine Macht erheblich schwächer als die andere ist, die andere Macht sich jedoch aufgrund ihres Umkreises an einer Unterwerfung gehindert sieht. Die Bewertung der Gleichgewichtigkeit zweier Mächte bezieht sich m. E. nach Nietzsches Äußerungen allein darauf, ob sich diese beiden Mächte einander „Vertrags- und vergeltungsfahig" erscheinen, was nicht nur von der isoliert betrachteten Beschaffenheit, dem Machtgrad der einzelnen Macht abhängig ist, sondern von den Relationen zu allen anderen Mächten. Deshalb können Gleichgewichte zwischen zwei Mächten jeweils nur für kurze Dauer bestehen33. Da die Machtgrade „zumeist aber sinken oder steigen", müßten nach der Billigkeit die Rechtsgrade sich ebenfalls nach permanenten und auch geringfügigen Veränderungen ausrichten, was einer auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden Begründung von Rechten, welche grundsätzlich auf Dauer angelegt sind, abträglich ist. Aus diesem Grunde erkennt Nietzsche die Intention der gegenseitigen Anerkennung von Rechten in der gegenseitigen Gewährleistung der Macht des anderen, welche den eigenen Nutzen garantiert, indem sich die Rechte des anderen auf die eigene Pflicht als 29 30 31 32 33

M A 93. M A , ebd. Morgenröte, 112. Morgenröte, ebd. Morgenröte, ebd.

30

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

die uns eigene Macht gegen den anderen erstrecken. Wenn daher die Macht des einen Vertrags-Partners, den man zunächst „für Vertrags- und vergeltungsfahig" genommen hat, wesentlich abnimmt, so hat die andere Seite ein Interesse daran, „ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen" kann 3 4 . Erst wenn dies nicht möglich erscheint, leugnet der Vertragsgegner „von da an unsere ,Rechte' ", da von nun an die Erfüllung unserer Pflicht als Beweis unserer Macht gegen den anderen, die sich einer Unterwerfung entzieht, nicht mehr möglich ist. Damit entfällt die Anerkennung als vertragsfähiges Rechtssubjekt auf der Grundlage einer Gleichstellung. Es verbleiben lediglich die gegenseitig nicht verbürgten und daher den ständigen Wandel der jeweiligen Machtgrade unterstehenden Rechte des unterworfenen Schwächeren gegen den Mächtigeren 35 . Da also die vertragliche Anerkennung von Rechten auf die Gewährleistung im Sinne einer unverrückbaren Festschreibung der Machtgrade des jeweils anderen gerichtet ist, stimmen die „Rechtsgrade" immer nur für eine kurze Zeit mit den „Machtgraden" der Vertragsgegner überein 36 . Aus der notwendig erwachsenden Divergenz zwischen den Macht- und Rechtsgraden der Vertragsschließenden folgt, daß „Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände" sind und auch nur sein dürfen, „als teilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist" 3 7 . Anerkannte Rechte als aufrecht erhaltene Machtgrade gehen somit „zunächst auf Herkommen zurück, das Herkommen auf ein einmaliges Abkommen 3 8 . Die vertragliche Anerkennung erstarkt nach langen Zeiträumen zu einem „heiligen unverrückbaren Zustand", auf welchen sich verständlicherweise die schwächer gewordene Seite vor allem beruft, um den nunmehr als „Gnadenerweisung" erscheinenden Zustand zu verewigen. Jedoch fallen auch vertraglich anerkannte Rechte bei wesentlicher Zunahme der eigenen Macht fort, da die Anerkennung der eigenen Rechte durch den anderen — welche in der Erfüllung von Pflichten des anderen bestehen, soweit diese eben bisher allein in seiner Macht stand — nicht mehr benötigt wird. Die Anderen werden versuchen, die eigene Macht „auf das frühere Maß herabzudrücken, sie werden eingreifen wollen und sich auf ihre ,Pflicht' dabei berufen — aber dies ist nur ein unnützes Wortemachen" 39 . Die bisherige Darstellung hat gezeigt, daß Nietzsche das Merkmal der „Gleichstellung" auf die Bewertung der Machtgrade zweier Mächte in Hinsicht auf die Eigenschaft, einander „Vertrags- und vergeltungsfahig" zu erscheinen, bezieht. Da für Nietzsche in dem Vertragsverhältnis der Ursprung des Rechtsverhältnisses, d.h. der gegenseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt liegt 4 0 , 34 35 36 37 38 39 40

Morgenröte, ebd. M A 93. WS 26. G M I I 11. WS 39. Morgenröte, ebd. G M I I 4; M A 446; s.o. unter § 1.1.

§

a t als Entstehungsgrund des Rechts

31

betrifft das Merkmal der „Gleichstellung" die Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt. Die „Gleichstellung" erfolgt also in Hinsicht auf die durch Vertragsschluß begründete Rechtsstellung und bildet nicht etwa als Merkmal zweier Machtquanten in ihrem Verhältnis zueinander die Voraussetzung dafür, einander „vertragsfahig" zu sein. Die „Gleichstellung" der Vertragsschließenden in Hinsicht auf die dadurch begründeten Rechte bedeutet nur insoweit eine „Gleichstellung" in Hinsicht auf die beiderseitigen Machtgrade, als die Macht jeweils an dem aus diesem Vertragsverhältnis begründeten Recht teilhat, d. h. soweit das Recht auf dem „Teil" der Macht beruht, „den mir die anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen" 4 1 . Hiervon ist streng die ganz andere Frage zu unterscheiden, inwieweit neben der klugen „Selbstbeschränkung" des Mächtigeren — um es in Iherings Worten zu sagen — durch „Machtvereinigung der Gleichen" Rechte auf der Grundlage der gänzlichen Gleichberechtigung entstehen können 42 . Diese Entstehungsart erwähnt Nietzsche in diesem Zusammenhang nur kurz, ohne sich ihr weiter zuzuwenden 43 . Insbesondere beziehen sich Nietzsches Äußerungen, daß die Gerechtigkeit ihren Ursprung „unter ungefähr Gleichmächtigen" nehme 44 , m. E. nicht auf die Entstehung von Rechten, wie dies hier dargelegt wurde. Nietzsches Äußerungen über den „Ursprung der Gerechtigkeit", welchen er unter „ungefähr Gleichmächtigen" ansiedelt und als dessen Basis er das „Prinzip des Gleichgewichts" ansieht, betreffen m. E. allein die Frage nach der Entstehung der Gerechtigkeit, nicht jedoch diejenige der Entstehung von Rechten. Zunächst ist daraufhinzuweisen, daß Nietzsche bereits in den Überschriften der hier zu untersuchenden Aphorismen deutlich zwischen der Entstehung der Gerechtigkeit und derjenigen von Rechten unterscheidet. Die Aphorismen, welche die Entstehung von Rechten zum Inhalt haben, tragen die Überschriften: „Vom Rechte des Schwächeren", „Rechtszustände als Mittel", sowie „Zur Naturgeschichte von Pflicht und Recht" 4 5 . Demgegenüber lauten die Überschriften bei den Aphorismen, in welchen Nietzsche das Merkmal der Gleichheit von Anfang an und ausschließlich auf die Macht bezieht: „Ursprung der Gerechtigkeit" und „Prinzip des Gleichgewichts" 46 . Entscheidend für die hier vertretene Zuordnung der genannten Aphorismen spricht jedoch m. E. die bereits im vorhergehenden Satz angeführte Erwägung, daß sich das Merkmal der Gleichheit innerhalb der Äußerungen Nietzsches zur Entstehung der Gerechtigkeit von Anfang an auf die Macht bezieht, während innerhalb der Aphorismen über die Entstehung von Rechten von der „Gleichstellung" 47 der 41 42 43 44 45 46 47

Morgenröte, ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 250 und 323. WS 26. G M I I 8; M A 92. M A 93; WS 26; Morgenröte 112. M A 92; WS 22. M A 93; WS 26.

32

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

Macht bzw. ihrer Aufrechterhaltung 48 in Hinsicht auf das Recht die Rede ist. Die Gleichstellung der Machtgrade erfolgt allein in Hinsicht auf die Begründung gegenseitiger Rechte. Erst nachdem auf diese Weise Rechte entstanden sind, entsteht das Bedürfnis nach Erhaltung der Gleichstellung dieser „Machtgrade" in Relation zu den „Rechtsgraden". Es ist daher m. E. nicht möglich, von einem durchgängigen Prinzip des Machtgleichgewichts in Nietzsches Äußerungen betreffend die Entstehung des Rechts zu sprechen 49. 2. Entstehung des Rechts durch Aufrichtung von Gesetzen Ausgehend davon, daß in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner der Ursprung des Rechtsverhältnisses liegt 5 0 , sowie davon, daß sich das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und zur Gesellschaft ebenfalls als ein solches Vertragsverhältnis darstellt 51 , sieht Nietzsche die Aufgabe des Gesetzes darin, „gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm" zu erheben und für alle Lebensbereiche „Ausgleiche" zu finden und zwangsweise durchzusetzen 52. So, wie Nietzsche die Vorstellung vom Verhältnis des Gemeinwesens zu seinen Mitgliedern als einem koordinationsrechtlichen Vertragsverhältnis aufgreift, stimmt er mit Ihering auch darin überein, daß von Gesetzesrecht nur dort gesprochen werden kann, wo dessen zwangsweise Verwirklichung sich auf die übergeordnete Macht des Gemeinwesens stützen kann. Nietzsche erkennt das entscheidende Merkmal des Gesetzesrechts als imperativistischer Erklärung darin, daß die oberste Gewalt „nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt" 53 . Für Nietzsche gibt es deshalb „erst von der Aufrichtung des Gesetzes an ,Recht' und ,Unrecht' (und nicht, wie Dühring will, von dem Akte der Verletzung an)" 5 4 . Soweit diese Äußerung Nietzsches den Widerstreit zwischen Rache und Gerechtigkeit betrifft, wird dies noch Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung sein. A n dieser Stelle ist von Belang, daß Nietzsche die Errichtung von Gesetzen der „obersten Gewalt" vorbehält. Nietzsche sieht den Beginn der „Organisation der socialen Zwangsgewalt" — wie Ihering es genannt hat 5 5 — darin, daß die „stärkere Macht" den Ausschreitungen der ihr unterstehenden Gruppen und Einzelnen untereinander ein Ende macht und an die Stelle der gegenseitigen Vergeltung „den Kampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung 48 49 50 51 52 53 54 55

Morgenröte 112. a.A. offenbar Gerhardt, Das „Prinzip des Gleichgewichts", ebd., S. 115 und 131. G M I I 4; s. o. unter § 1.1. G M I I 9; s.o. unter §1.3. G M I I 11. G M , ebd. G M , ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, ebd., S. 310.

§

a t als Entstehungsgrund des Rechts

33

setzt" 56 . Für Nietzsche gehört der Zwang, den die „oberste Gewalt" ausübt, indem sie bestimmte Rechtsfolgen der von ihr erlassenen Gesetze „aufnötigt, teils gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt", zum Wesen des Gesetzesrechts. Nietzsche geht daher m. E. ebenfalls wie Ihering davon aus, daß hinsichtlich der Geltung von Rechtsnormen die vom Staat ausgehende „oberste Gewalt" und das Recht in einem „Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit" stehen 57 . Wie Ihering erkennt Nietzsche in der Über Ordnung der von der Gesellschaft ausgehenden Staatsgewalt über den Einzelnen die unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung von Gesetzesrecht. Ihering postuliert „das Übergewicht der Macht der Staatsgewalt über jede andere Macht im Staatsgebiet", jedoch nicht, um den Einzelnen der Macht aller oder der Mehrheit zu unterwerfen, sondern um die Zwangsgewalt, welche in der Norm zum geltenden Recht wird, gerade von der Macht bestimmter Gruppen oder Einzelner innerhalb des Staates, auch wenn es sich um die zahlenmäßige Mehrheit handelt, unabhängig zu machen 58 . Auch Nietzsche erkennt in der Überordnung der Macht des Gemeinwesens als oberster Gewalt über alle anderen ihm unterstehenden Kräfte die notwendige Bedingung zur Schaffung von Rechtsnormen und einer darauf gestützten Ordnung. Nietzsche hebt hervor, daß sich die „oberste Gewalt mit der Aufrichtung des Gesetzes gegen die Übermacht" der Interessen und Vergeltungstriebe der ihr Unterstehenden durchzusetzen habe. Dies geschieht, indem „nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt" werden 59 . Allein dadurch wird das Recht als Gesetz von wechselhaften Machtrelationen unabhängig. Indem Nietzsche wie auch Ihering das Recht als eine Ausprägung der Gewalt selbst ansieht 60 , erkennt Nietzsche in „Rechtszuständen" nur Übergangslösungen, um immer größere Machteinheiten zu schaffen: „daß, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahmezustände sein dürfen, als teilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesamtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, größere Macht-Einheiten zu schaffen" 61 . Recht in Form von Gesetzen beruht somit nach Nietzsche in Übereinstimmung mit Ihering auf einer übergeordneten Macht als „oberster Gewalt".

56 57 58 59 60 61

G M , ebd. Ihering, ebd. Ihering, ebd., S. 313 bis 316. G M II, ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, ebd., S. 250. G M II, ebd.

3 Kerger

34

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches § 3 Entstehung der Gerechtigkeitsidee 1. Rache als Entstehungsgrund

Es wurde soeben bereits dargelegt, daß der Satz Nietzsches: „demgemäß gibt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an,Recht 1 und,Unrecht' (und nicht wie Dühring will, von dem Akte der Verletzung an)" 1 auch die Fragestellung betrifft, inwieweit Gerechtigkeit, Rache und Vergeltung nach den ursprünglichen Vorstellungen zur Entstehung des Rechts beigetragen haben und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Dem Verhältnis von Rache und Vergeltung zur Gerechtigkeit in ihrer Entstehung wendet sich Nietzsche sowohl in der frühen Schrift „Menschliches, Allzumenschliches", als auch später in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" zu. Während Nietzsche in der frühen Schrift feststellt: „so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch" 2 , wehrt er sich später heftig dagegen, „die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen — wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletztseins wäre" 3 . Hierbei ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß sich diese Äußerung Nietzsches ebenfalls auf den „Ursprung der Gerechtigkeit" und nicht auf die von ihm entwickelte Gerechtigkeitstheorie, welche noch Gegenstand dieser Darstellung sein wird, bezieht. Indem Nietzsche die Rache als Ausfluß der Verletzung eigener Rechte aus dem Wesen und der Entstehung der Gerechtigkeit ausscheidet, wendet Nietzsche sich gegen den von ihm in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" mehrfach namentlich genannten Volkswirtschaftler Eugen Dühring. Dührings Schaffen wird nicht nur von Nietzsche als ein unzureichend geordnetes und gedanklich durchdrungenes Konglomerat von Betrachtungen über den Wert von „Empfindungen" und die Empfindung von Werten angesehen, wobei Dühring „den praktischen Empfindungs- und Gefühlsbestandteil alles wertschätzenden Urteils" der Erkenntnistheorie im allgemeinen und gar der Vernunftkritik Kants entgegenzustellen trachtet 4 . Dühring liegt jedoch besonders daran, die „lebensfeindliche Lehre", wie sie der „teils buddhaistische, teils christliche Aberglaube" enthalte und welchen Schopenhauer in seiner philosophischen Lehre vertrete, als „demoralisierenden Pessimismus" zu entlarven 5 . Dühring war außerdem Antisemit 6 und fand Unterstützung bei den deutschen Sozialdemokraten, wurde jedoch von anderen Sozialisten wie Engels abgelehnt. Nietzsche nennt Dühring in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" ungewohnt häufig beim Namen 7 und greift ihn mit ebenso ungewohnter 1

G M I I 11. M A 92. 3 G M , ebd. 4 hierzu Venturelli, Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring, NSt., Bd. 15, S. 107 f. 5 Dühring, Werth des Lebens, 1. Kap., S. 2, 8 f. 6 Dühring, ebd., S. 7 und 27. 2

§ 3 Entstehung der Gerechtigkeitsidee

35

Heftigkeit an: „Dühring, das erste Moral-Großmaul, das es jetzt gibt, selbst noch unter seinesgleichen, den Antisemiten" 8 . Vor allem tritt Nietzsche dem „Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring" entgegen, welcher im Zeitpunkt des Erscheinens der „Genealogie der Moral" den Höhepunkt seiner Popularität erreicht hatte. Dühring untersucht im siebten Kapitel seiner Schrift „Werth des Lebens", welche Nietzsche ausdrücklich und auch ohne Nennung des Autors zitiert 9 , „die physischen und moralischen Übel" 1 0 . Die Gerechtigkeit sieht Dühring ihrem Wesen nach „in der Enthaltung von solchen Verletzungen, welche den Naturtrieb der Rache regemachen" 11 . Trotz der Möglichkeit, daß „Einsichtsmangel" oder Bosheit den Vergeltungstrieb fehlgreifen lasse, ist nach Dühring „die Racheempfindung die erste rohe Lehrmeisterin über das Gerechte". Dühring beruft sich zum Beweis auf die Erscheinung der Blutrache, ohne dies jedoch in irgendeinen historischen Kontext zu stellen 12 . Er sieht in der Rache den Entstehungsgrund und das Wesen des Strafrechts. „So kann die Strafjustiz sogar in der denkbar idealsten Gestaltung nur die öffentliche Organisation der Rache sein. Sie hat gleichsam ein Monopol dafür; aber dieses sollte sich nur darauf erstrecken, die Naturbrutalität der unmittelbaren Rache durch ... zu veredeln. Wenn also die Selbstrache in der geordneten Gesellschaft geächtet ist und sein muß, so ist es nur die veredelte Gestalt desselben Naturtriebes, welche die rohere, mit der Selbstverfolgung des Unrechts verbundene Form ausschließt. In der ersten Entwicklung ist es sogar ein bloßes Monopol der ausschließlichen Racheübung, um was es sich auf Seiten der Machthaber handelt" 1 3 . An dieser Stelle hat Dühring über mehrere Sätze einen Gedankengang verfolgt, welcher seine Grundlagen in der Geschichte des römischen Rechts findet 14 , jedoch von Dühring als ein allgemeines Racheprinzip vorgestellt wird, auf dem die Gerechtigkeit beruht. Die Gerechtigkeit beruht nach Dühring allein darauf, „Verletzungen vorzubeugen" und das „Rachegefühl" als „Triebempfindung des Ressentiment" nicht aufkommen zu lassen15. Nietzsche verwirft diese Negativbestimmung der Gerechtigkeit: „Gerechtsein ist immer ein positives Verhalten" 16 . In dem von Dühring in diesem Zusammenhang mehrfach angeführten Begriff „Ressentiment" erkennt Nietzsche einen deutlichen Hin7

G M I I I 26. G M I I I 14. 9 G M I I 11; M A 32. 10 Dühring, ebd., S. 198 f. 11 Dühring, ebd., S. 215. 12 als Ausfluß des Familienprinzips, vgl. Ihering, Geist des römischen Rechts, § 14, S. 185, 187, 211. 13 Dühring, ebd., S. 216. 14 Ihering, ebd.; sowie Der Zweck im Recht, Band I, S. 316. 15 Dühring, ebd., S. 217. 16 G M I I 11. 8

3*

36

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

weis auf die Beschaffenheit und Intention dieser Definition der Gerechtigkeit. Nietzsche weist auf die „reaktive Tendenz", welche bereits in der Wortbedeutung des Begriffs „Ressentiment" und erst recht in Verbindung mit dem Begriff der Rache liegt, um „mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesamt zu Ehren zu bringen". In der ersten Abhandlung seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral" knüpft Nietzsche seine Moralkritik im wesentlichen an die reaktive „Umwertung" der Werte. „Der Skiavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert; das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten" 1 7 . Auch dies könnte insoweit auf Dühring bezogen sein, als nach Dühring der ohnmächtige Vergeltungstrieb „sogar ein Jenseits in Anspruch nimmt". Nietzsche sieht in der Rache, vor allem der „geistigsten" Rache, den Ausfluß einer reaktiven, weil nicht auf die eigene Existenz bezogenen Wertungsmethode im Sinne einer Antiwertung. „Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks — diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich selber — gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren — ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion" 1 8 . Hierauf, nämlich auf die Umwertung der Begriffe „gut" und „schlecht" durch die Reaktion und ihre Sichtweise in die Begriffe „gut" und „böse", ist ein wesentlicher Teil der Moralkritik Nietzsches gerichtet. In der griechischen, römischen und auch keltischen Sprache sieht Nietzsche den „Grundbegriff,gut' voraus und spontan, nämlich von sich aus konzipiert und von da aus erst eine Vorstellung von ,schlecht'" 19 . Der Mensch des Ressentiment, der „geistigsten Rache" hat sich dagegen den bösen Feind geschaffen, „,den Bösen', und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen ,Guten' ausdenkt — sich selbst!" 20 . Nietzsches Kritik richtet sich nicht allein gegen das Christentum, wenn er den Bösen „aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses" entstanden sieht, als die „eigentliche Tat" der reaktiven Sklaven-Moral. Die Begriffe „schlecht" und „böse" sind nur scheinbar dem gleichen Begriff „gut" entgegengesetzt. „Aber es ist nicht derselbe Begriff,gut': vielmehr frage man sich doch, wer eigentlich ,böse' ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet: eben der ,Gute' der anderen Moral, der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehen durch das Giftauge des Ressentiment" 21 . Diese reaktive Umwertung erkennt Nietzsche ebenfalls in der Begründung der Gerechtigkeit als einem an der Rache orientierten Prinzip, welches aus dem Vergeltungstrieb der Rache erst zu einem selbständigen Institut werden kann und dessen Maxime lautet, „Verletzungen vorzubeugen" 22 . Nietzsche stellt demgegenüber fest, daß 17 18 19 20 21

G M I 10. G M , ebd. G M I 11. G M I 10. G M I 11.

§ 3 Entstehung der Gerechtigkeitsidee

37

Gerechtsein im Sinne von Gerechtigkeit üben nur ein aktives Verhalten sein kann, eine „mild blickende Objektivität des gerechten, richtenden Auges" 23 . Das Richten gehört somit für Nietzsche zur Übung der Gerechtigkeit; Gerechtsein bedeutet ein aktives, positives Verhalten. „Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für ihn durchaus nicht nötig, in der Art, wie es der reaktive Mensch tut, tun muß, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen"24. Nietzsche erkennt deshalb das Bedürfnis einer Befriedung durch eine rechtliche Ordnung, wie auch die Rechtsgeschichte erweise, eher bei dem Mächtigeren im Verhältnis zu den ihm untergeordneten Gruppen und Einzelnen. Der Mächtigere sucht dem Wüten der Vergeltung zwischen den ihm untergeordneten Kräften ein Ende zu machen, indem er „teils das Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache herauszieht", teils an Stelle der Rache die Verfolgung des Rechtsbrechers setzt. Indem Rechtsverletzungen nach Schaffung von Gesetzesrecht als Auflehnung gegen die Rechtsordnung und die Staatsgewalt gewertet werden, wird der gegenseitigen Vergeltung außerhalb dieser Ordnung das Recht entzogen und eine „unpersönliche Einschätzung der Tat" erreicht. Nietzsche erkennt daher in Gesetzesrecht insoweit eine Ausprägung der Gerechtigkeit, als durch Schaffung von Gesetzen, insbesondere Strafgesetzen „auf die Dauer das Umgekehrte von dem, was alle Rache will", erreicht wird 2 5 . Die Rache sieht Nietzsche hier als reaktive Tendenz an, welche der Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee im Sinne einer über die Person des Einzelnen hinausgreifenden Wertung entgegensteht. 2. Gerechtigkeit als Vergeltung und Austausch Diese Äußerungen Nietzsches stehen unzweifelhaft auf den ersten Blick in einem gewissen Gegensatz zu jener eingangs erwähnten Äußerung in einer früheren Schrift, wonach „ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit" gehört 26 . Die letztgenannte Aussage Nietzsches steht in jenem Aphorismus, in welchem Nietzsche den Ursprung der Gerechtigkeit „unter ungefähr gleich Mächtigen" erkennt. Die Gerechtigkeit erwächst nach Nietzsche wiederum aus der gegenseitigen Abschätzung zweier Mächte, daß ein gewaltsamer Konflikt für beide Seiten nicht erfolgversprechend und schädlich wäre, bis dann die Bereitschaft zu einer „Verständigung" entsteht: „der Charakter des Tausches ist der anfangliche Charakter der Gerechtigkeit" 27 . Es wurde bereits dargelegt 28 , 22 23 24 25 26 27

Dühring, ebd.; ders., Gesamtcursus der Philosophie, S. 476. G M I I 11. G M , ebd. G M , ebd. M A 92. M A , ebd.

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1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

daß Nietzsche Ihering insoweit folgt, als für Ihering die in der Bereitschaft zum Vertragsschluß sich äußernde „Mäßigung der Gewalt" auf der gegenseitigen Wahrung des eigenen Vorteils beruht 29 . Dies gilt nach Ihering zunächst für die Entstehung des Rechts „aus der Macht des Stärkeren", welcher Ihering als weiterer Entstehungsart „ die durch Machtvereinigung der Gleichen" gegenüberstellt. Ihering erfaßt mit dieser „Machtvereinigung unter Gleichen" das Schutz- und Trutzbündnis gegen eine einzelne übermächtige Gewalt. Den entscheidenden Unterschied in der Entstehungsart des Rechts charakterisiert Ihering sehr treffend. Bei der Entstehung des Rechts durch die „Selbstbeschränkung der Gewalt" des Mächtigeren, dadurch, daß der Mächtigere den Schwächeren als „Vertrags- und vergeltungsfahig", d.h. als Rechtssubjekt anerkennt, sieht Ihering die „Gewalt zum Recht" gelangen30. Dies bestätigt m.E. die hier vertretene Auffassung, wonach sich der Begriff „Gleichstellung" bei Nietzsche allein auf die Eigenschaft des anderen, „Vertrags- und vergeltungsfahig" 31 zu sein bezieht, d.h. auf die durch den Vertragsschluß begründete Rechtsstellung, nicht jedoch auf die Macht 3 2 . Die Entstehung des Rechts unter der Voraussetzung „der Gleichheit der Macht Aller" — wobei es sich nach Iherings Worten „richtiger" um einen Zustand „des noch mangelnden gesicherten Übergewichts der Macht des Einzelnen" handelt — gegenüber einem Übermächtigen sieht Ihering dagegen in Hinsicht auf das Recht als einen Prozeß an, welcher dem „Recht zur Gewalt" verhilft 33 . Das Recht gelangt im Falle der Gleichheit der Macht Aller zur Gewalt, indem sich die untereinander Gleichmächtigen zur „Sozietät" gegenüber dem mächtigeren Gegner vereinen 34 . Zur Kennzeichnung eben dieser Entstehungsart des Rechts verwendet Nietzsche den Begriff des Gleichgewichts: „Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten" 3 5 . Dieser Satz Nietzsches findet sich in dem mit den Worten „Prinzip des Gleichgewichts" überschriebenen Aphorismus und enthält den entscheidenden Gedanken, welcher dort durch weitere Sätze näher ausgeführt wird und welcher Nietzsche schließlich zu der These führt: „Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit" 36 . Hierdurch wird m. E. die hier vertretene Auffassung nun auch in ihrem zweiten Teil bestätigt, daß sich der Begriff „Gleichgewicht" bei Nietzsche von Anfang an und ausschließlich auf die Macht bezieht 37 , nicht 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

s.o. unter § 2.1. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 250. Ihering, ebd., S. 322. Morgenröte, 112. s.o. unter §2.1., S. 31. Ihering, ebd. Ihering, ebd., S. 323. WS 22. WS, ebd. s.o. unter §2.1., S. 32.

§ 3 Entstehung der Gerechtigkeitsidee

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jedoch auf das Recht, d.h. die Begründung eines Rechtsverhältnisses. Es geht hier eben nach der treffenden Unterscheidung Iherings nicht darum, wie die Gewalt zum Recht, sondern wie das Recht zur Gewalt gelangt. Die Begriffe „Gleichstellung" und „Gleichgewicht" bedeuten also in Nietzsches Äußerungen nicht etwa das Gleiche. Dies legt nun die Vermutung sehr nahe, daß Nietzsche auch hinsichtlich der Entstehung des Rechts die Begriffe „Recht" und „Gerechtigkeit" in deutlich zu unterscheidender Bedeutung verwandt hat 3 8 . Dies gilt jedenfalls der Tendenz nach, mögen auch einige Äußerungen Nietzsches in dieser Hinsicht mißverständlich sein. Wie der Begriff des „Gleichgewichts", so ist auch derjenige der „Gerechtigkeit" seiner Tendenz nach von Anfang an auf die Macht bezogen und betrifft die Frage, wie das „Recht zur Gewalt" gelangt. Nietzsche stimmt mit Ihering überein, daß das Recht unter der „Voraussetzung der Gleichheit der Macht Aller" 3 9 dadurch zum „Gleichgewicht" gegenüber einem Mächtigeren gelangt, daß sich die untereinander Gleichmächtigen zu einer Gemeinde vereinigen 40 . Hierin sieht Nietzsche den Ausdruck einer „Seeräuber-Moral", denn der Mächtige, welcher einer Gemeinde Schutz vor Räubern gegen Leistung regelmäßiger Abgaben gewähre, erlange seinen Vorteil lediglich auf etwas klügere Art, unterscheide sich jedoch ansonsten nicht von dem Räuber. Wesentlich für die Gemeinde sei die Erlangung des Machtgleichgewichts gegenüber dem Räuber. Dazu müsse sich die Gemeinde entweder einer dem Räuber gleichwiegenden anderen Macht unterwerfen, wodurch sie vor Übergriffen beider geschützt sei, oder, wenn sie sich keiner anderen Macht unterwerfen wolle, selbst zu einer „gleichwiegenden Macht" werden. Nietzsche betont, daß auch die Vereinigung der Schwächeren zu einer „gleichwiegenden Macht" auf die Vernichtung schwächerer Gegner gerichtet sei, so wie sie selbst zuvor von solcher Vernichtung bedroht war. Die Gerechtigkeit ist deshalb auf Vergeltung nach jenem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn" angelegt, um durch das jus talionis „das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse" wiederherzustellen 41. Aus diesem Satz geht wiederum hervor, daß der Begriff des „Gleichgewichts" in der Weise auf die Macht bezogen ist, daß die Gerechtigkeit dem Recht zu seinem Schutz einen bestimmten Machtgrad zuordnet, welcher eben zum Gleichgewicht verhilft, und dieser Machtgrad sozusagen dem Recht nachzufolgen hat. Die Gerechtigkeit fordert zur Wahrung des bestehenden Rechts das Erreichen und die Erhaltung des Machtgleichgewichts. Sie setzt „das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung erhalten 42 . Die Gerechtigkeit läßt das Recht zur Gewalt gelangen, indem es ihm den zur Erhaltung des Gleichgewichts erforderlichen Machtgrad zuerkennt und nur zur Erhaltung dieses Machtgleichgewichts die „Rache" in Form einer abgemessenen Vergeltung zu seiner Wiederherstellung duldet. I m 38 39 40 41 42

unklar insoweit Gerhardt, Das „Prinzip des Gleichgewichts", ebd., S. 116. Ihering, ebd., S. 323. WS, ebd. WS, ebd. WS, ebd.

40

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

Licht dieses Gedankenganges wird nun m. E. der Stellenwert und die Intention jener Aussage Nietzsches deutlicher, wonach die Rache „ i n den Bereich" der Gerechtigkeit gehört. „Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch" 43 . Dieser Satz bedeutet somit nicht, daß Rache und Vergeltung das Wesen der Gerechtigkeit bestimmen, wie es Dühring vermeint, sondern daß Gerechtigkeit im Interesse der Wahrung und Wiederherstellung der Machtverhältnisse Vergeltung fordert. Die Gerechtigkeit bestimmt das Maß der Vergeltung, „so daß, wenn jetzt der eine sich gegen den anderen vergeht, der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt" 4 4 . Die Vergeltung, welche die Gerechtigkeit fordert, ist also in ihrer Tendenz der Rache als reaktivem „Trieb" entgegengerichtet, indem sie „vermöge des jus talionis" das Machtgleichgewicht „wiederherstellt" und somit die Rache auf ein vorgegebenes Maß beschränkt,—was mit dem Wesen der Rache, wie sie Dühring versteht, unvereinbar ist, denn nach Dühring setzt der „Vergeltungstrieb" der Gerechtigkeit das Maß. Aus dem Charakter der Gerechtigkeit als demjenigen des Tausches und der Vergeltung im soeben dargelegten Sinne der Wiederherstellung der Machtverhältnisse ergibt sich nach Nietzsche als Merkmal der Gerechtigkeit die einsichtige „Selbsterhaltung". „Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunkt einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Überlegung: ,wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen? 4 " 45 . Dieser Satz belegt, daß Nietzsche nicht nur die Entstehung des Rechts aus der Macht des Stärkeren in der — wie Ihering* 5 es genannt hat — „Selbstbeschränkung der Gewalt im eigenen Interesse" erkennt, sondern ebenso das Prinzip der „gleichwiegenden Macht" 4 7 als Postulat der Gerechtigkeit, d.h. bezüglich der Frage, inwieweit das Recht zur Gewalt gelangen soll. Indem Nietzsche die Vergeltung zur Wiederherstellung der Machtverhältnisse auf das von Ihering als „der propulsive Zwang im Recht" gekennzeichnete Prinzip der Abwehr von Gewalt durch Gewalt als Selbsterhaltung 4 8 zurückführt, wendet er sich erneut dem Wesen der Rache zu. Die „SelbstErhaltung" ist für Nietzsche diejenige Art der Rache, welche aus Notwehr geschieht und bei deren Ausführung „man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt: wir handeln so, ohne wieder schaden zu wollen, sondern nur um noch mit Leib und Leben davonzukommen" 49 . Der auf Notwehr gerichteten Rache stellt Nietzsche eine zweite Art entgegen, welche auf 43

M A 92.

44

WS, ebd. M A , ebd. Ihering, ebd., S. 250. WS, ebd. Ihering, ebd., S. 255. WS 33.

45 46 47 48 49

§ 3 Entstehung der Gerechtigkeitsidee

41

„Ausgleichung" und Wiederherstellung gerichtet ist: „ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und Leidensfahigkeit des anderen ist ihre Voraussetzung: man will wehetun" 50 . Nietzsche versteht diese zweite Art der Rache indessen nicht lediglich im Sinne von Selbsthilfe, sondern als Akt der Wiederherstellung in Hinsicht auf den Ehrverlust. „Vielleicht verloren wir durch den Gegner Besitz, Rang, Freunde, Kinder — diese Verluste werden durch die Rache nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen Nebenverlust bei allen den erwähnten Verlusten". Durch den Racheakt, welcher nicht aus Notwehr geschieht, kann nach Nietzsche allein die Ehre wiederhergestellt werden, welche dadurch einen Schaden genommen hat, daß der Gegener uns nicht fürchtete. „Durch die Rache beweisen wir, daß wir auch ihn nicht fürchten: darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung" 51 . ¥

Auch wenn Nietzsche an dieser Stelle vordringlich auf die Wiederherstellung der Ehre abhebt — unter der Voraussetzung, daß die erlittene Rechtsverletzung als solche, beispielsweise durch Wiedererlangung des Besitzes vom Gegner, nicht mehr ausgeglichen werden kann —, so ist in diesem Zusammenhang allein von Interesse, daß Nietzsche insoweit zwischen einer „ersten A r t " der Rache, welche auf „Selbst-Erhaltung" gerichtet ist, und einer zweiten Art, welche die „Wiederherstellung" nach erlittener Schädigung erstrebt, unterscheidet. Diese Unterscheidung entspricht vollkommen derjenigen Iherings, wonach er die „doppelte Gestalt" der Gewalt beurteilt 52 . Nach Ihering nimmt der „Trieb der Selbsterhaltung", welcher beim Tier ein rein physischer Vorgang ist, „bei dem Menschen eine rechtliche d. h. durch die Politik der Gewalt unabweisbar postulierte Gestalt an; der Mensch wehrt sich nicht bloß, sondern er erkennt, daß er es darf und muß" 5 3 . Hinsichtlich des Entzuges von Besitz oder Eigentum unterscheidet Ihering zwei Arten der Gewalt: „die der Defensive in Bezug auf Aufrechterhaltung des faktischen Zustandes der Innehabung der Sache, und die der Offensive in Bezug auf die Wiedererlangung der faktisch abhanden gekommenen Sache" 54 . Während jede Rechtsordnung dem Berechtigten zur Verteidigung des bestehenden Besitzes die Anwendung von Gewalt gestatte, verweise sie ihn im anderen Fall auf den Rechtsweg und verbiete die Anwendung von Gewalt. Gerade aus diesem Grunde sieht Nietzsche die Strafe vor allem als Rache an, weil sie auf die „Wiederherstellung" der Ehre des Geschädigten wie auch der der Gesellschaft gerichtet sei 55 . Die auf Abschreckung vor weiteren Taten gerichtete Wirkung der Rache als Strafe, welche insoweit der „Selbst-Erhaltung" dient, sieht Nietzsche demgegenüber als gering an. Ihering verfolgt im Anschluß an das altrömische Recht den Begriff des „propulsiven Zwanges", wonach auch die 50 51 52 53 54 55

WS, ebd. WS, ebd. Ihering, ebd., S. 257. Ihering, ebd., S. 256. Ihering, ebd., S. 257. WS, ebd.

42

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

Gewalt gegen den, der dem anderen dessen Besitz bereits vollständig entzogen hat, „nicht unter den Gesichtspunkt der Wiedererlangung, sondern der Aufrechterhaltung" gebracht wird 5 6 , d.h. als Notwehr zur „Selbsterhaltung". Indem nach Nietzsche also die Gerechtigkeit das erreichte Machtgleichgewicht voraussetzt und dessen Erhaltung durch das Recht auf abgemessene Vergeltung zur Wiederherstellung des Gleichgewichts sichert 57 , gibt die Gerechtigkeit ein Recht zur Gewalt. Dadurch, daß Nietzsche die Gerechtigkeit „auf den Gesichtspunkt einer einsichtigen Selbsterhaltung" zurückführt, läßt er das Recht zur Gewalt in Gestalt der Vergeltung gelangen58. Nietzsche stimmt hierin mit Ihering überein, welcher ebenfalls den Begriff des „Gleichgewichts" in Hinsicht auf die Gerechtigkeit verwendet 59 . Ihering erkennt als praktisches Ziel der materiellen Gerechtigkeit „die innere ^Gleichheit d.h. das Gleichgewicht zwischen Verdienst und Lohn, zwischen Strafe und Schuld" 60 . Die Gleichheit in der Rechtsanwendung definiert Ihering als die „formale" Gerechtigkeit. Ihering stellt klar, daß die Gerechtigkeit Gleichheit in der Gesetzesanwendung fordert, sich jedoch nicht mit einem absoluten Gleichheitssatz verträgt, d.h. nicht etwa nach ihrer Intention auf Schaffung absoluter Gleichheit gerichtet ist, sondern auf Wahrung proportionaler Gleichheit in Anerkennung faktisch bestehender Ungleichheit 61 . Die „praktische Rechtfertigung der Gerechtigkeit" sieht Ihering in dem Erreichen des „sozialen und ethischen Gleichgewichts" 62 . In auffallender Übereinstimmung mit Nietzsches Gedanken des Gleichgewichts der Machtverhältnisse erkennt Ihering das soziale Gleichgewicht in der „Abgrenzung der Machtsphäre sowohl des Einzelnen wie der Gesellschaft" 63 . Der Frage, inwieweit der Begriff des Gleichgewichts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wirtschaftswissenschaft und der Physik zur Bedeutung gelangt ist, soll hier nicht weiter nachgegangen werden 64 . Nietzsches spätere Äußerungen zur Entstehung der Gerechtigkeit enthalten den Begriff des „Gleichgewichts", welcher in Bezug auf das Recht m.E. die Gefahr der Mißdeutung enthält, nicht mehr. Nietzsche greift diesen Gedanken noch einmal in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" auf. „Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich miteinander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu verständigen' — und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen" 65 . Es spricht jedoch vor allem der hervorgehobene Begriff „Aus56 57 58 59 60 61 62 63 64

Ihering, ebd., S. 258. WS 22. M A 92. Ihering, ebd., S. 353 f. Ihering, ebd., S. 354. Ihering, ebd., S. 356, 359. Ihering, ebd., S. 357. Ihering, ebd., S. 358. dazu eingehend: Gerhardt, Das „Prinzip des Gleichgewichts", ebd., S. 117-123.

§ 3 Entstehung der Gerechtigkeitsidee

43

gleich", welcher sich in den früheren Äußerungen Nietzsches zum Ursprung der Gerechtigkeit nicht findet, dafür, daß sich der soeben zitierte Satz auf das ebenfalls von Ihering angeführte Merkmal des „Äquivalents" bezieht 66 . Bestätigt wird diese Hypothese bereits dadurch, daß Nietzsche in diesem Aphorismus den Gedanken der Entstehung des Rechtsverhältnisses aus dem vertraglichen Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner weiter ausführt, welches vom „Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen" geprägt sei und die allgemeine Vorstellung geschaffen habe: „jedes Ding hat seinen Preis; alles kann abgezahlt werden' ". Ihering sieht den Begriff des Äquivalents als Merkmal des „ethischen Gleichgewichts" an. Das erwartete Handeln des Menschen setze ein richtiges Maß dessen voraus, „das seinem Egoismus dafür in Aussicht gestellt wird" 6 7 . Auch Nietzsche erkennt den Egoismus im Ursprung der Gerechtigkeit und betont, daß erst danach der Anschein habe entstehen können, „als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische" 68 . Nietzsche spricht weiterhin in jenem Aphorismus, in welchem er sich gegen die Annahme der Rache als Entstehungsgrund der Gerechtigkeit wendet, davon, daß überall, wo Gerechtigkeit geübt werde, die stärkere Macht dem Wüten des Ressentiment dadurch ein Ende zu bereiten versuche, daß sie eine auf Gesetzen beruhende Ordnung schaffe und „teils gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt" 69 . Daß der Begriff „Ausgleich" in dem zu untersuchenden Satz Nietzsches über die Entstehung der Gerechtigkeit unter ungefähr Gleichmächtigen im Sinne der hier vertretenen Auffassung zu verstehen ist, wird jedoch vollends deutlich, wenn man eine weitere Äußerung Nietzsches über die Gnade als „Selbstaufhebung der Gerechtigkeit" betrachtet. „Die Gerechtigkeit, welche damit anhob,alles ist abzahlbar, alles muß bezahlt werden', endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, — sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend" 70 . Auch hierin stimmt Nietzsche mit Ihering überein, welcher das „Begnadigungsrecht" formell als Eingriff in die Rechtsordnung, materiell jedoch „als die Selbstkorrektur der Gerechtigkeit" charakterisiert 71 . Es ist somit festzustellen, daß Nietzsche in seinen späteren Schriften die Entstehung der Gerechtigkeit unter ungefähr Gleichmächtigen weiterhin an das Merkmal der „Vergeltung" knüpft, nicht jedoch an das des „Gleichgewichts". Das Merkmal der Vergeltung versteht Nietzsche dort vielmehr als „Austausch" und „Ausgleich", wie er es bereits in den früheren Schriften angedeutet hat: „der Charakter des Tausches ist der anfangliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder 65 66 67 68 69 70 71

G M I I 8. G M , ebd.; Ihering, ebd., S. 360. Ihering, ebd., S. 358, 360. M A 92. G M I I 11. G M I I 10; in diesem Sinne auch: WS 34. Ihering, ebd., S. 420.

44

1. Abschn.: Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches

stellt den anderen zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr schätzt als der andere Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung" 72 . Dies kommt dem Charakter des Tausches nahe, wie ihn Ihering gekennzeichnet hat, nämlich als ein Vertrag, der „jedem Teil dasjenige zuführt, was für seine Zwecke eine relativ höhere Brauchbarkeit besitzt, als das, was er h a t " 7 3 . Nietzsche bezieht jedoch die Merkmale „Austausch" und „Vergeltung" auf die Macht in dem soeben dargelegten Sinne.

72 73

M A 92. Ihering, ebd., S. 76.

Zweiter Abschnitt

Sittlichkeit oder Autonomie des Individuums als Bestimmungsfaktoren der Normstruktur des Rechts § 4 Sittlichkeit als gesellschaftlicher Imperativ bei Ihering und Nietzsche 1. Verhältnis der Sittlichkeit zum Recht U m Nietzsches Äußerungen über das Verhältnis sittlicher und rechtlicher Normen in ihrem rechtstheoretischen Stellenwert zu würdigen, erscheint es an dieser Stelle gerechtfertigt, zunächst einige rechtstheoretische Gedanken Iherings in diesem Zusammenhang darzustellen, welche ansatzweise bereits oben angesprochen wurden. Die Bedeutung der Sittlichkeit in Hinsicht auf das Recht ist von Ihering zunächst als Merkmal des römischen Rechts, dann jedoch innerhalb seiner eigenen Lehre als einziger Gegenstand des zweiten Bandes seiner Schrift „Der Zweck im Recht" besonders herausgestellt worden 1 . Es wurde oben bereits angedeutet, daß Ihering in der Machtfülle, welche römische Institutionen wie die Obligation gewährten, ein Zeichen scharfer Trennung zwischen den Normen des Rechts und denjenigen der Sitte sah, wie auch andererseits in einer strengen Bindung an sittliche Normen die Voraussetzung hierfür 2 . Die „despotische Herrschaft der Sitte" im altrömischen Recht erkennt Ihering als Bedingung dafür, daß die Rechtsverhältnisse als „reine Herrschaftsverhältnisse" ausgestattet waren 3 . Die ausgeprägte Bindung an die Sitte innerhalb der Gens, welche in den Familiengerichten und über die Gens hinaus in der Censur ihren Ausdruck fand, ermöglicht es nach Ihering erst, „die sittliche Substanz im Zustande der Flüssigkeit" vom Recht zu unterscheiden 4. In der Trennung und Isolierung von jus und mores liegt für Ihering gerade der „Fortschritt des Rechts", weil nur so die den Unwägbarkeiten des Zeitgeistes unterworfene Sittlichkeit, der die „Festigkeit" fehle, vom Recht geschieden werden könne. Das Wesen der Sitte besteht demnach in der „Unbestimmtheit", welche die Sitte im einen Fall eher zu einem Gebot und damit zum Recht 1 2 3 4

Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, Kap. IX, S. 1-716. s.o. unter § 1.2., S. 11. Ihering, Geist des römischen Rechts, § 31, S. 141, 143. Ihering, ebd., § 25, S. 32.

46

2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

erstarken läßt, im anderen eher zu einer „freien Anforderung" und damit dem Bereich der „Moral" zugehörig werden läßt 5 . Ihering wendet sich gegen eine Vermengung von Sitte und Recht; er stellt die Sitte — auch in der Erscheinung des Gewohnheitsrechts — als einen Zustand der „Identität des Rechts und der Moral" dem Recht gegenüber. Diese Einheit im „Rechtsgefühl" der Sitte wird durch die Entwicklung des Rechts mit seiner Tendenz nach Verselbständigung, Sicherheit, Gleichmäßigkeit u.s.w. durchbrochen und aufgelöst 6. Dies geschieht durch Normierung in Form von Gesetzen als dem Übergang von der subjektiven Rechtsempfindung und Gewohnheit zur „objektiven Äußerlichkeit". Ihering sieht in der Sitte die Vorstufe des Rechts: „Die Sitte, in der es sich früher darstellte, war eine ihm nichts weniger als eigentümliche Form" 7 . Diese Wesensverwandtschaft zwischen Recht und Sitte als dessen Vorstufe ist für Nietzsche ein bestimmendes Merkmal der Sitte und läßt ihre Bedeutung in Hinsicht auf die Lebensbedingungen der Gemeinschaftsbildungen erkennen. Die folgende Äußerung Nietzsches enthält durchaus den Gedanken, daß gesetzlich normiertes Recht, welches Rechtsverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse ausgestaltet, der Sitte als einer das Recht stützenden und die Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit erzeugenden Ordnung bedarf: „die Gesetze verraten nicht das, was ein Volk ist, sondern das, was ihnen fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte" 8 . Nietzsche sieht indessen das Recht noch eher im Dienst der Sitte stehend, als daß es der Sitte gegenüber Selbständigkeit erlangt hätte, denn diejenigen, „welche durch die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen, — im allgemeinen heißen sie Verbrecher" 9 . Insbesondere das Strafrecht sieht Nietzsche nach seinem Ursprung und Wesen in den Dienst der Sittlichkeit gestellt: „die härtesten Strafen treffen das, was der Sitte des Nachbarvolkes gemäß ist" 1 0 . Nietzsche führt in diesem Zusammenhang die römische Sitte an, wonach Frauen das Weintrinken verboten war, um bei ihnen „das dionysische Wesen" nicht aufkommen zu lassen, „als eine ungeheuerliche Ausländerei, welche den Grund der römischen Empfindung umwarf; es war ihnen wie ein Verrat an Rom, wie die Einverleibung des Auslandes" 11 . Dies bezieht sich wiederum auf den römischen horror alieni, wie ihn Ihering beschrieben hat. Ihering und Nietzsche stimmen darin überein, daß Recht und Sittlichkeit „denselben Zweck" verfolgen, nämlich die „Verwirklichung der Lebensbedingungen der Gesellschaft", worauf im folgenden noch näher einzugehen ist 1 2 . Die 5 6 7 8

Ihering, ebd., S. 33. Ihering, ebd., S. 37. Ihering, ebd., S. 38. FW 43.

9

M 20.

10

FW, ebd. FW, ebd.

11

§ 4 Sittlichkeit als gesellschaftlicher Imperativ

47

Sittlichkeit ist für Nietzsche die Erziehungsmethode zur Erhaltung und Ermöglichung der Gemeinwesen13. Ihering betont ganz im Sinne der soeben zitierten Äußerungen Nietzsches, daß das Recht die gesellschaftliche Ordnung nicht allein herstellen kann, daß neben der Rechtsordnung die „sittliche Ordnung" zu stehen habe 14 . Die sittliche Ordnung als Postulat der Gesellschaft besteht demnach aus „gesellschaftlichen Normen", deren Charakter als Imperativ nach Ihering das Merkmal „des Zwanges" erfordert. Diesen Zwang sieht Ihering in der „psychologischen Zwangsgewalt der Gesellschaft", als einer „Macht", die von der häuslichen Erziehung bis zum sittlichen Urteil der öffentlichen Meinung reiche. Diese Ausführungen Iherings erinnern ein wenig an seine Darstellung der „Machtfülle" römischer Rechtsinstitute wie der patria potestas, welche zur Durchsetzung der sittlichen Gebote diente und durch deren Befolgung bedingt war 1 5 . Nietzsche greift gerade dieses Merkmal der Sitte als „psychologischer Zwangsgewalt" auf, um auch anhand dieses Merkmals das Wesen der staatlichen Gemeinschaft ihrem Ursprung nach zu erhellen, sowie das, was Nietzsche die „Verinnerlichung des Menschen" nennt. „Der Mensch, der sich, aus Mangel an äußeren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriß, verfolgte, annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Tier, das man ,zähmen4 will", wird nach Nietzsche in weitaus stärkerem Maße durch den Zwang sittlicher Gebote geprägt als durch Normen des Rechts 16 . Die Normen des Rechts, vor allem des Strafrechts, beziehen sich dagegen „auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte" 1 7 , dienen also der Durchsetzung der Sitte und bilden deren erweiterte „Zwangsgewalt" im Sinne Iherings. Den Grad des Zwanges, dem der Mensch durch sittliche Normen ausgesetzt ist, schätzt Nietzsche höher ein als denjenigen des „Rechtszwanges". Nur der von den sittlichen Normen ausgehende Zwang kann nach Nietzsche bewirken, „daß alle jene Instinkte des wilden, freien, schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten" 1 8 . Der Mensch wurde durch die Sitte nicht nur, wie es durch die von Normen des Rechts ausgehende Zwangsgewalt geschieht, von außen in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt, sondern er richtete die Sitte selbst gegen sich und begründete die „Verinnerlichung" dieser Zwangsanwendung: „dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine

12 13 14 15 16 17 18

Ihering, Der Zweck im Recht, Band II, S. 212, 213. M 9, 14. Ihering, ebd., S. 177. Ihering, Geist des römischen Rechts, II. Buch, § 31, S. 147; s.o. unter § 1.2., S. 11. G M I I 16. FW 43. G M , ebd.

4 8 2 . Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildnis schaffen mußte, — dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des schlechten Gewissens'" 19 . Hierin erkennt Nietzsche den entscheidenden Schritt „einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir sofort hinzu, daß andererseits mit der Tatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchvolles und Zukunftsvolles gegeben war" 2 0 . Nietzsche hebt in diesem Zusammenhang erneut hervor, daß der Mensch in der Grausamkeit gegen sich selbst den Beweis der Fortentwicklung aus seiner tierischen Vergangenheit sah und für Jahrhunderte als seine höchste Leistung begriff, welche er den Göttern darbrachte. „Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die Götter erquickt und festlich gestimmt" 21 . Nietzsche greift hierin die Vorstellung der Schuld gegen einen Gott wieder auf, wie er im römischen Rechtsinstitut des Votum seinen Ausdruck fand 2 2 . Der gegen die eigene Person gerichtete Zwang der Sitte begründet den Willen jenes „Tiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den ,Staat4 Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat 44 , sich selbst wehe zu tun, sich Leiden, Entbehrung und auch leiblicher Grausamkeit zu unterziehen, „nachdem der natürliche Ausweg dieses Wehe-tun-wollens verstopft w a r " 2 3 . Der von der Sitte ausgehende Zwang wird als Schuld gegen Gott gedeutet: „Er ergreift in ,Gott 4 die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen TierInstinkten zu finden vermag, er deutet diese Tier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den ,Herrn 4 , den ,Vater 4, den Urahn und Anfang der Welt) 4 4 2 4 . Die von der Sitte ausgehende Zwangsgewalt führt Nietzsche somit aus der gleichen Erwägung auf die Schuld gegenüber dem Ahnherrn als dem Begründer des Geschlechts zurück, welche das Recht im Verhältnis des Einzelnen zu seinem Ahnherrn als ein Verhältnis des Schuldners zu seinem Gläubiger erscheinen ließ. Die Zwangsgewalt der Sitte beruht also auf dem „Gehorsam gegen das Herkommen" 25 . Diese Zwangsgewalt ist somit ihrer Entstehung nach kein Mittel der Zucht oder etwa zur Erlangung eines individuellen Glückszustandes, sondern „eine Tugend, welche der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten

19 20 21 22 23 24 25

G M , ebd. G M , ebd. M 18; G M I I 7. s.o. unter § 1.3.b). G M I I 22. G M , ebd. M 9.

§ 4' Sittlichkeit als gesellschaftlicher Imperativ

49

Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft" 26 . Es ist an dieser Stelle anzumerken, daß die beiden zuletzt zitierten Äußerungen Nietzsches in der im Jahre 1881 erschienenen Schrift „Morgenröte" enthalten sind, d. h. zwei Jahre vor dem Erscheinen der ersten Auflage des zweiten Bandes der Schrift „Der Zweck im Recht" entstanden sind, worin Ihering zum weitaus überwiegenden Teil das Verhältnis von Recht und Sitte behandelt. Nietzsche hat sich also dem Verhältnis des von Recht und Sitte ausgehenden Zwanges ohne Kenntnis dieser Schrift Iherings zugewandt, in welcher Ihering zum ersten Mal von der „Psychologischen Zwangsgewalt der Gesellschaft" als Ausfluß des „Sittengesetzes" spricht und der Rechtsordnung die „sittliche Ordnung" gegenüberstellt 27. „Beide Arten des Zwanges" in ihrem Zusammenwirken hat Ihering in seinem zuvor erschienenen Werk „Geist des römischen Rechts" in vergleichbarer Art nicht dargestellt; die Ausführungen dort betreffen eher umgekehrt die Fragestellung, wie das Recht von der Sitte zu scheiden ist, wobei der Charakter des Rechtsverhältnisses als „Herrschaftsverhältnis" herausgestellt wird. Nietzsche führt die Zwangsgewalt der Sitte auf deren Imperativ-Charakter in dem dargelegten Sinne zurück und betont, daß der Gehorsam gegen die Sitte nicht darauf beruht, „weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt" 28 . Die von der Sitte ausgehende Zwangsgewalt, welche sich auf den „Gehorsam gegen das Herkommen" gründet, hält Nietzsche innerhalb der ursprünglichen Gemeinschaftsbildungen für so umfassend und ausweglos, daß sich jeder, der „das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen" anschickte, dies nur im „Zeichen völliger Unfreiwilligkeit", als einem göttlich gewollten „Wahnsinn" tun konnte, wobei sich Nietzsche auf einen Ausspruch Piatos beruft. Wer die Sitte überwinden wollte, mußte demnach den Anspruch an sich stellen und beglaubigen, daß er aufgrund göttlicher Eingebung unter höherem Zwang als dem der Sitte handelte: „ ,wenn ich nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste von allen. Der neue Geist, der in mir ist, woher ist er, wenn er, wenn er nicht von euch ist? Beweist es mir doch, daß ich euer bin; der Wahnsinn beweist es mir' " 2 9 . Da Nietzsche — wie auch Ihering — der Entstehungsgeschichte von Rechtsinstituten und der der Gesellschaft in Hinsicht auf deren Wesen und weitere Entwicklung besondere Bedeutung beimißt, bezieht sich auch diese Äußerung Nietzsches nicht allein auf die Entstehungsgeschichte des von sittlichen Normen ausgehenden Zwanges, sondern auf das Verhältnis des Einzelnen zur Sitte, wie dies im folgenden noch zu untersuchen ist.

26

M 18.

27

Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, S. 179. M 9. M 14.

28 29

4 Kerger

50

2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur 2. „Sittlichkeit der Sitte" als soziale Autorität

Es wurde soeben bereits angeführt, daß Nietzsche den Imperativcharakter des von der Sitte ausgehenden Zwanges hervorhebt, welche den Gehorsam ungeachtet ihrer Nützlichkeit fordert: „Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt" 30 . Die Autorität der Sitte beruht auf dem Gehorsam gegen das „Herkommen", auf der „Furcht vor einem höheren Intellekt, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen, unbestimmten Macht" der Götter. Sittliche Normen dienen daher zunächst nur insoweit dem Gedeihen und der Erhaltung eines Gemeinwesens, als ihre Befolgung „der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten Geruch macht", nicht jedoch, weil sie das Wohl der Gemeinde als solches im Auge haben oder gewährleisten können 31 . Die Autorität der Sitte gründet sich daher für Nietzsche allein auf die „Sittlichkeit", welche er folgendermaßen definiert: „Sittlichkeit ist nichts anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein-Herkommen befiehlt, gibt es keine Sittlichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit" 32 . Indem Nietzsche die Sittlichkeit ausschließlich auf den Gehorsam gegen das „Herkommen" als Autorität der Sitte zurückführt und betont, daß dieser Autorität nicht gehorcht wird, weil sie „das uns Nützliche" befiehlt, scheint Nietzsche hierin auf den ersten Blick in scharfem Gegensatz zu Iherings Lehre der Sittlichkeit zu stehen. Die Sittlichkeit besteht für Ihering gerade in dem „Begriff des gesellschaftlich Nützlichen oder des gesellschaftlichen Utilitarismus" 33 . U m die Bedeutung und die Ursache dieses scheinbaren Gegensatzes in Hinsicht auf den Begriff der Sittlichkeit zu erhellen, ist es erforderlich, die begriffliche wie auch inhaltliche Unterscheidung von Sitte und Sittlichkeit bei Nietzsche und Ihering, welcher dieser Fragestellung erhebliches Gewicht beigemessen hat, zu untersuchen. Ihering erkennt die Sitte zunächst als die vom Volk selbst „durch die Bedingungen des Gemeinlebens postulierte Ordnung", welche dem „Wohlergehen" der Gesellschaft dient 3 4 ; hierin stimmt er mit Nietzsche überein. Nietzsche sieht in der Sittlichkeit als dem unbedingten Gehorsam gegen die Sitte die Existenzbedingung der frühen Gemeinden und Gesellschaftsformen, erwachsen aus der Furcht gegenüber den Göttern. Die Sitte verlangte, daß man ihre „Vorschriften beobachtete, ohne sich als Individuum zu denken. Ursprünglich war also alles Sitte, und wer sich über sie erheben wollte, mußte Gesetzgeber und Medizinmann und eine Art Halbgott werden: das heißt, er mußte Sitten machen, — ein furchtbares, lebensgefährliches 30

M 9.

31

M 18.

32

M 9. Ihering, ebd., S. 211. Ihering, ebd., S. 23 und 277.

33 34

§ 4 Sittlichkeit als gesellschaftlicher Imperativ

51

Ding!" 3 5 . Der grundlegende Gedanke, wonach die Autorität der Sitte auf der Furcht gegenüber einer göttlichen Gewalt und Gesetzgebung beruht, und worauf Nietzsche immer wieder verweist, findet in der Unterscheidung zwischen fas und jus, zwischen göttlichem und menschlichem Recht seinen rechtgeschichtlichen Ursprung. Auf die Unterscheidung zwischen dem fas und dem jus, wie sie das römische Recht vorgenommen hat, stützt Ihering in weitgehendem Umfang seine Unterscheidung und begriffliche Analyse von Recht, Sitte und Sittlichkeit, sowie dem Verhältnis von Recht und Sitte und Moral als den „drei gesellschaftlichen Imperativen" 36 . In der Scheidung des fas von dem jus sieht Ihering den entscheidenden Schritt, wodurch im römischen Recht das Recht gegenüber Sitte und Moral zur Selbständigkeit gelangte 37 . Ihering weist darauf hin, daß mit dieser Scheidung in „zwei selbständige Systeme des Rechts" sich das Recht von Sitte und Moral endgültig gelöst habe, während zwischen Sitte und Moral eine solche Trennung nicht stattgefunden habe, was Ihering auf die beides umfassenden lateinischen Begriffe mos, mores zurückführt 38 . Die Scheidung der Sitte von der Moral bei Nietzsche und Ihering wird noch Gegenstand der weiteren Untersuchung sein. Hier geht es dagegen um die Trennung der Sittlichkeit von der Sitte. Diese Begriffe sind von Ihering und Nietzsche in ihrer zu unterscheidenden Bedeutung herausgestellt, wenn auch verschieden definiert worden. Ihering sieht in dem Gewohnheitsrecht diejenige Erscheinung, innerhalb derer sich die Sitte aus dem Zustand der „Flüssigkeit" heraus dem Recht angenähert und sich von der Sittlichkeit abgelöst hat 3 9 . In der Sittlichkeit sieht Ihering diejenigen Gebote der Sitte enthalten, welche eher eine „moralische Verpflichtung" als eine rechtliche Verbindlichkeit bedeuten 40 . Die Sittlichkeit umfaßt daher nach Ihering die Entscheidungen „des Charakters", also der Gesinnung, und wendet sich an das Gewissen als „die Verantwortlichkeit des Verstandes in sittlicher Beziehung" 41 . Die Sitte unterscheidet sich nach Ihering von der Sittlichkeit vor allem durch den äußeren Zwang und die damit gesicherte bloß „beschränkte" Verbindlichkeit im Gegensatz zu dem „absolut Bindenden" des vom Charakter ausgehenden Zwanges der Sittlichkeit 42 . Als Merkmale der Sitte erkennt Ihering „Form", „Äußeres", „Anstand", „Gewohnheit", als solche der Sittlichkeit „Inhalt", „Inneres", „Tugend", „Charakter" 4 3 . Die „bindende Kraft" der Sitte — in Abgrenzung zum bloßen 35

M 9. Ihering, 37 Ihering, 38 Ihering, 39 Ihering, § 25, S. 33. 40 Ihering, ebd., S. 34. 41 Ihering, 42 Ihering, 43 Ihering, 36

4*

ebd., S. 20-63, insbesondere S. 52 und 56. ebd., S. 52. ebd., S. 53. ebd., S. 54, 55, sowie bereits in: Geist des römischen Rechts, Zweites Buch, Der Zweck im Recht, ebd., S. 27 (38); ders., Geist des römischen Rechts, Der Zweck im Recht, ebd., S. 38, 40 und 66. Der Zweck im Recht, ebd., S. 61, 63. Der Zweck im Recht, ebd., S. 27 f.

52

2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

Brauch oder noch schwächeren Formen — im Gewohnheitsrecht liegt für Ihering in der geschichtlichen, d.h. „der gesellschaftlichen Erfahrung" der Völker 4 4 . Von den Begriffen, welche die aus der Geschichte entstandenen sittlichen Erscheinungen mit Tendenz zum Recht und als Vorstufe des Gewohnheitsrechts erfassen, nennt Ihering an erster Stelle das „Herkommen". Auf dem „Herkommen" beruht für Nietzsche, wie bereits erwähnt, die Autorität der Sitte. Nietzsches Äußerungen in der Schrift „Morgenröte" kann allerdings nicht die Kenntnis des erst zwei Jahre später, im Jahre 1883, erschienenen Zweiten Bandes der Schrift „Der Zweck im Recht" zugrunde liegen. Ihering hat seine Lehre zur Abgrenzung von Recht und Sitte jedoch bereits im zweiten Buch seiner zuvor erschienenen Schrift „Geist des römischen Rechts" entwickelt. Auch dort beruft sich Ihering zur Stützung seiner Theorie der Scheidung des Rechts von der Sitte auf den „Gegensatz zwischen jus und fas" und sieht darin den entscheidenden Schritt, daß die Sitte „wenn ich so sagen darf, in das fas entwich" und einer eigens dazu geschaffenen sittengerichtlichen Gewalt unterworfen wurde 45 . Erst von da an sieht Ihering die Sitte immer mehr, später auch in Gestalt der Censur, in einer „Gegensätzlichkeit" zum Recht sich entwickeln 46 . Die auf den ersten Blick scheinbar so weit voneinander entfernt liegenden Auffassungen von Nietzsche und Ihering zur Frage, worauf die Autorität der Sitte beruht, finden also in dem Entstehungsgrund der Sitte aus dem fas als göttlicher Gewalt und Gesetzgebung ihren gemeinsamen Ansatz. Nietzsche sieht in diesem Entstehungsgrund der Sitte jedoch ein unabtrennbares Merkmal und einen Hinweis auf das Wesen der Sitte selbst, insoweit die „höhere Autorität" der Sitte deshalb Gehorsam findet, „nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt" 47 . Nietzsche erkennt in dem Gehorsam gegen das Herkommen die Furcht vor der göttlichen Macht. „Es ist die Furcht vor einem höheren Intellekt, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen, unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem, — es ist Aberglaube in dieser Furcht" 4 8 . Die auf dieser Furcht beruhende Autorität verlangt deshalb nach Nietzsche einen Gehorsam, ohne an den Nutzen und „ohne an sich als Individuum zu denken". Indem Nietzsche die Sittlichkeit ausschließlich als Gehorsam gegen die Autorität der Sitte in dem dargelegten Sinne versteht und eine „Identität des Sittlichen mit dem gesellschaftlich Nützlichen" 49 verneint, wendet er sich gegen die Bestimmung der Sittlichkeit aus deren Nützlichkeit. „Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs getan: das heißt, man kann mit der Nützlichkeit 44 45 46 47 48 49

Ihering, Ihering, Ihering, M , ebd. M , ebd. Ihering,

ebd., S. 50, 54 und 60. Geist des römischen Rechts, ebd., § 26, S. 50f (51). ebd., S. 54.

Der Zweck im Recht, ebd., S. 160.

§ 4 Sittlichkeit als gesellschaftlicher Imperativ

53

niemals die Notwendigkeit der Existenz verständlich machen" 50 . Dieser Satz Nietzsches ist auch deshalb von Interesse, weil Ihering die Sittlichkeit als geschichtlich-gesellschaftliches Produkt durch die jeweilige Entwicklungsstufe der Gesellschaft bedingt ansieht und betont, daß es einen „absoluten Kanon des Sittlichen" nicht gibt 5 1 . Während Ihering jedoch aus der Erwägung der geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingtheit die Sittlichkeit in dem jeweils „gesellschaftlich Nützlichen" erkennt, dient Nietzsche gerade diese Bedingtheit der Nützlichkeit als Einwand gegen die These, aus der zeitbedingten gesellschaftlichen Nützlichkeit auf den Ursprung und damit auf das Wesen der Sittlichkeit zu schließen. Es geht Nietzsche dabei nicht um einen naturrechtlichen Ansatz, sondern allein darum, das Wesen der Sittlichkeit unabhängig von ihren zeitbedingten Ausprägungen zu erkennen; Nietzsche sieht ebensowenig wie Ihering Gott als letzten Grund oder Schöpfer des Sittlichen an 5 2 . Nietzsche prägt zuerst in der Schrift „Morgenröte" den „Begriff der Sittlichkeit der Sitte", den er in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" wieder aufgreift 53 . Das Wesen der Sittlichkeit der Sitte erkennt Nietzsche in dem, was Ihering die „psychologische Zwangsgewalt der Gesellschaft" als Korrelat der sittlichen Ordnung genannt hat: „der Mensch wurde mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht" 54 . Der Sittlichkeit werden somit von Nietzsche im Gegensatz zu Ihering nicht diejenigen Gebote der Sitte zugeordnet, welche sich an die moralische Gewissensentscheidung des Einzelnen wenden, sondern diejenigen Normen der Sitte, welche eine Tendenz zum Recht enthalten. Nietzsche zählt die Gebote der Sittlichkeit zu den durch äußere Einwirkung erzwingbaren Normen, welche sich nicht an die Gesinnung des Einzelnen richten. Der Gehorsam gegenüber der Sittlichkeit der Sitte wird „nicht ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vorteil: der einzelne soll sich opfern, — so heischt es die Sittlichkeit der Sitte" 5 5 . Als Merkmal der Sittlichkeit nennt Nietzsche ausdrücklich den Zwang, welcher die Furcht und „Achtung vor der Autorität der Sitte" sichert 56 . Die Sittlichkeit der Sitte ist daher der Entstehung des Individuums entgegengerichtet. „Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müßte" 5 7 . Der Einzelne als Individuum bedarf daher der Loslösung von der Sittlichkeit der Sitte 58 . Der von der Sittlichkeit ausgehende Zwang wird von 50 51 52 53 54 55 56 57 58

M 37. Ihering, ebd., S. 119. Ihering, ebd., S. 137. M 9; G M I I 2. G M I I 2. M 9. M 10. M 9. G M , ebd.

54

2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

Nietzsche als die umfassende und unentrinnbare Gewalt begriffen, die den Menschen geprägt hat. Nietzsche sieht das „Wenige von menschlicher Vernunft" und Freiheit nicht als Frucht dieses unausgesetzten Zwanges an, sondern als etwas gegen die Sittlichkeit errungenes. Die Sittlichkeit der Sitte hat den „Charakter der Menschheit festgestellt", wo Leiden, Grausamkeit, Rache und „die Verleugnung der Vernunft als Tugend" galten, Wohlbefinden und Wißbegier als Gefahr angesehen wurden, „der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbensschwangere in Geltung war" 5 9 . Welche Bedeutung Nietzsche der Entstehungsgeschichte der Sittlichkeit für die Erkenntnis ihres Wesens beimißt, wird auch aus der folgenden Äußerung, welche sich direkt an die vorangegangenen Worte anschließt, deutlich: „Ihr meint, es habe sich alles dies geändert, und die Menschheit müsse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!" In weiterem Unterschied zu Ihering sieht Nietzsche die Sittlichkeit ihrem Wesen nach nicht allein durch die geschichtliche Erfahrung der Völker bestimmt. Das „Gefühl für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiskutabilität der Sitte" 6 0 . In der Sittlichkeit erkennt Nietzsche daher die Tendenz, die Wahrnehmung und Umsetzung neuer Erfahrungen und damit die Entstehung neuer Sitten zu verhindern: „die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt" 6 1 . Neben der Ausrichtung an geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrungen erkennt Nietzsche in der „Angst vor dem Unverständlichen" einen Entstehungsgrund der Sitte. „Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommnis flüchtig abgelesen, wurden schnell unverständlich", weil sich ihre Absicht und ihr Sinn kaum erschlossen, weshalb schließlich das „Objekt eines solchen Grübelns" über Gebräuche Wert und Heiligkeit gewann 62 . Auch Ihering mißt der Entstehung der Sittlichkeit aus Brauch und Gewohnheit Bedeutung in Hinsicht auf das Recht zu, insoweit hier die Vorstufen zum Gewohnheitsrecht liegen 63 . Das Wesen der Sittlichkeit liegt für Nietzsche in der „Nähe der Sitte", ihrem „unausgesetzten Zwang, Sitten zu üben" und im Bewußtsein zu erhalten, nach dem großen Satz, „mit dem die Zivilisation beginnt: jede Sitte ist besser als keine Sitte" 6 4 . Zusammenfassend ist festzuhalten, daß Nietzsche im Unterschied zu Ihering die Autorität der Sitte auf dem Gehorsam gegenüber dem Herkommen beruhend erkennt und das Wesen der Sittlichkeit nur bedingt als der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen ansieht. 59 60 61 62 63 64

M 18. M 19; dagegen Ihering, ebd., S. 130. M , ebd. M 40. Ihering, ebd., S. 50, 55. M 16.

§ 5 „Privilegium der Verantwortlichkeit" als moralische Instanz

55

§ 5 Sittlichkeit im Widerstreit mit dem „Privilegium der Verantwortlichkeit 64 als moralischer Instanz 1. Sittlichkeit als moralische Sanktion Es ist nun zu untersuchen, wie sich die unterschiedliche Bedeutung der Sittlichkeit bei Nietzsche und Ihering auf die inhaltliche Bestimmung der Moral auswirkt. Während Nietzsche in dem „Begriff der Sittlichkeit der Sitte" gerade den Zwangscharakter der Sitte herausstellt und die Sittlichkeit „als Gehorsam gegen die Sitten" erkennt, worauf die Autorität der Sitte beruht 1 , spricht Ihering von der Autorität der Sittlichkeit, deren Unterschied gegenüber der Sitte Ihering gerade darin sieht, daß „das Moment des äußeren Zwanges als gleichgültig, als überwunden" erscheint 2. Ihering zählt die Sitte zu den „gesellschaftlichen Imperativen" unter Verwirklichung durch äußeren Zwang. Den Charakter der Sittlichkeit erkennt Ihering hingegen in der Freiheit ihrer „Verwirklichung durch die Gesinnung" 3 . Indem Ihering die Sittlichkeit der Entscheidung der Gesinnung unterwirft, ordnet er die Sittlichkeit der Moral zu. Ihering versteht daher die Moral als „das Sittliche im engeren Sinn" 4 . Es stellt sich nun die Frage, ob auch Nietzsche, welcher im Unterschied zu Ihering der Sittlichkeit normativen Zwangscharakter beimißt, die Sittlichkeit der Moral zuordnet. Eine solche Zuordnung könnte bei Nietzsche aus anderen Gründen geschehen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Zwar ordnet Nietzsche die Sittlichkeit der Moral zu, erkennt jedoch in der Sittlichkeit einen doppelten Zwangscharakter, nämlich sowohl im normativen als auch im moralischen Sinne. „ M a n hat alle Arten Imperative darauf verwendet, um die moralischen Werte als fest erscheinen zu lassen: sie sind am längsten kommandiert worden: — sie scheinen instinktiv, wie innere Kommandos. Es drücken sich Erhaltungsbedingungen der Sozietät darin aus, daß die moralischen Werte als undiskutierbar empfunden werden. Die Praxis: das will heißen die Nützlichkeit, untereinander sich über die obersten Werte zu verstehen, hat hier eine Art Sanktion erlangt" 5 . Indem Nietzsche „die moralischen Werte" als Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft erkennt und die Nützlichkeit als ein Kriterium der Moral begreift, scheint Nietzsche den auf die Verwirklichung der moralischen Werte bezogenen Imperativ nicht als solchen der Gesinnung anzusehen, vielmehr mit der Sitte als gesellschaftlichem Imperativ im Sinne Iherings gleichzusetzen. Es geht Nietzsche jedoch nicht um eine Gleichsetzung von Sitte und Moral, sondern um den Hinweis darauf, daß „die Anwendung der moralischen Unterscheidung nur als perspektivisch bedingt" gelten kann 6 . 1 2 3 4 5 6

M 9, 10. Ihering, ebd., S. 59 und 62. Ihering, ebd., S. 63. Ihering, ebd., S. 56. W M 271. W M 272.

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2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

Nietzsche erkennt in der perspektivischen Bedingtheit der Bewertung moralischer Handlungen einen Konflikt, bzw. den moralischen Konflikt überhaupt. Diesen Konflikt sieht Nietzsche daraus erwachsen, daß moralische Werte einerseits von der Gesellschaft als gesellschaftliche Imperative postuliert werden und ihnen ein entsprechender Zwangscharakter beigelegt wird, andererseits jedoch moralische Wertsetzungen unabhängig von ihrer sozialen Nützlichkeit Geltung beanspruchen und sich daher gleichzeitig an das Gewissen des Einzelnen, an die Gesinnung richten. „Wenn wir uns, aus dem Instinkte der Gemeinschaft heraus, Vorschriften machen und gewisse Handlungen verbieten, so verbieten wir, wie es Vernunft hat, nicht eine Art zu ,sein', nicht eine ,Gesinnung', sondern nur eine gewisse Richtung und Nutzanwendung dieses ,Seins', dieser ,Gesinnung'" 7 . Nietzsche erhebt aufgrund dieses Widerspruchs den Einwand gegen die Moral, soweit sie als Sittlichkeit mit Zwangscharakter erscheint, daß unmoralische Handlungen als unsittlich verboten werden, „während wir dieselben Handlungen, vorausgesetzt, daß sie sich auf Gegner des Gemeinwesens ... beziehen, nicht genug zu ehren wissen". Die Sittlichkeit als gesellschaftlicher Imperativ der Sitte kann nach Nietzsche nicht durch die Gesinnung verwirklicht werden, worauf nach Ihering gerade ihre außerhalb einer normativen Zwangsgewalt liegende „Allgemeingültigkeit" beruht 8 . Die Sittlichkeit kann nicht der Gesinnung unterworfen sein, denn „die ,Gesinnung' zu verurteilen,... hieße ... unser Dasein verurteilen und mit ihm seine oberste Voraussetzung — eine Gesinnung, ... die wir mit höchsten Ehren ehren" 9 . Nietzsche geht daher in seiner Moralkritik so weit, „alles Das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen" zu erklären 10 . Daß diese gegen die Moral vorgebrachte Kritik Nietzsches sich jedoch gegen die Sittlichkeit richtet, soweit sie unter moralischem Impetus auftritt, ergibt sich aus folgender Äußerung: „Wir verbieten durch unsere Dekrete, daß diese Gesinnung auf eine unzweckmäßige Weise ausbricht und sich Wege sucht, — wir sind klug, wenn wir uns solche Gesetze geben, wir sind damit auch sittlich" 1 1 . Hinter Nietzsches Kritik an der „Unmoralität" der Moral, welche er darin erkennt, daß moralische Ideale nur durch unmoralische Mittel errungen werden können 12 , steht der Vorwurf der Unmoralität der Sittlichkeit, des Mißbrauchs moralischer Gesinnung und Werte für die Belange der Sittlichkeit. Nietzsche sieht die moralische Gesinnung auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse reduziert. In dieser Verkürzung der Gesinnung erkennt Nietzsche „beinahe eine Definition der Sittlichkeit" 13 . 7

W M 281. Ihering, ebd., S. 63. 9 W M , ebd. 10 W M 272. 11 W M 281. 12 W M 306, 308. 13 W M 281. 8

§ 5 „Privilegium der Verantwortlichkeit" als moralische Instanz

57

Auch Nietzsches Kritik an der „Entnatürlichung" der Moral, „daß man glaubt, es gebe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind", bezieht sich aus dem genannten Grunde auf die Sittlichkeit 14 . Während Ihering jedoch gerade diese Erwägung zum Beweis seiner These anführt, daß „gut im gesellschaftlichen d. i. sittlichen Sinn" nur das sein könne, was „den Zwecken der Gesellschaft förderlich, schlecht oder böse dagegen, was ihnen ... hinderlich", sei 15 , bildet diese Erwägung für Nietzsche den Einwand dagegen, nach der gesellschaftlichen Nützlichkeit die sittlich-moralische Bewertung vorzunehmen. Die perspektivische Bedingtheit sittlich-moralischer Bewertung durch die jeweiligen Erhaltungsbedingungen verbieten es nach Nietzsche, einen einheitlichen Begriff der Nützlichkeit der Sittlichkeit zugrunde zu legen 16 . Nietzsche weist zunächst auf die Fragwürdigkeit des Begriffs der Nützlichkeit hin: „Die Utilitarier sind naiv... Und zuletzt müßten wir erst wissen, was nützlich ist: auch hier geht ihr Blick nur fünf Schritte weit" 1 7 . Tugenden und andere Vorschriften der Sittlichkeit sieht Nietzsche als gefährlich an, soweit darin nicht die „Bedingung gerade unseres Daseins und Wachstums" liegt, „gleichgültig ob andere mit uns unter gleicher oder verschiedener Bedingung wachsen. Dieser Satz von der Gefährlichkeit der unpersönlich verstandenen, objektiven Tugend gilt auch von der Bescheidenheit: „an ihr gehen viele der ausgesuchten Geister zugrunde" 18 . Aufgrund der perspektivischen Bedingtheit sittlicher Vorschriften verwirft Nietzsche eine „individualistische Moral", welche darauf gerichtet ist, das, was der Gesellschaft als „Herde" angemessen und nützlich ist, auf alle als gleichzunehmende Individuen anzuwenden 19 . Hierin ist Nietzsches Gedanke der Moral als Rangordnung enthalten, welchem an dieser Stelle noch nicht weiter nachzugehen ist 2 0 . Dies zeigt jedoch, daß Nietzsche nicht die moralische Bewertung des Daseins als solche verwirft. Nietzsches Kritik der „Unmoralität" der Moral richtet sich vielmehr gegen die Tendenz der Sittlichkeit, soweit sie mit moralischem Impetus auftritt, den Einzelnen als Person zurückzudrängen. „ Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Herde: das, was ihr am ersten frommt... das ist auch der oberste Maßstab für den Wert aller einzelnen. M i t der Moral wird der einzelne angeleitet, Funktion der Herde zu sein und nur als Funktion sich Wert zuzuschreiben" 21 . Die Erkenntnis, „daß die Sitte eine eminente praktisch ethische Bedeutung hat", veranlaßte Ihering, den zweiten Band seiner Schrift „Der Zweck im Recht" 14 15 16 17 18 19 20 21

W M 292. Ihering, ebd., S. 214. W M 271, 272. W M 291. W M 326. W M 287. s.w. unter § 15. FW 116.

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2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

ausschließlich dieser Frage zu widmen 22 . Ausgehend von der These, daß Recht und Sittlichkeit „denselben Zweck (Verwirklichung der Lebensbedingungen der Gesellschaft = Verwirklichung des gesellschaftlich Nützlichen)" verfolgt, nimmt Ihering wie auch Nietzsche die Scheidung der Sitte von der Moral anhand der Begriffe „gut" und „böse" vor 2 3 . Ihering unterscheidet im Gegensatz zu Nietzsche allerdings nicht zwischen den Begriffen „schlecht" und „böse", sondern setzt sie gleich 24 . Der Satz Iherings: „der Unterschied von gut und böse liegt nicht in den Dingen an sich, sondern ergibt sich erst aus der Beziehung der Dinge und Handlungen auf die Zwecke des Menschen" könnte beinahe zu der Vermutung verleiten, Nietzsche habe diesen Gedanken, welcher in schroffem Gegensatz zu der damals vorherrschenden Auffassung stand, von Ihering übernommen 25 . Die perspektivische Bedingtheit moralischer Wertschätzungen als Normen der Sittlichkeit erwähnt Nietzsche jedoch nicht erst in der Schrift „Der Wille zur Macht". Der Einwand perspektivischer Bedingtheit moralischer Wertungen innerhalb sittlicher Vorschriften findet sich bereits in der Schrift „Morgenröte", welche zwei Jahre vor der genannten Schrift Iherings erschien: „Ist nicht der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen: ,was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohl tuendes und Nutzbringendes)" 26 . Nietzsche betont dort gerade die Fragwürdigkeit, die „oft zufallige Relation eines anderen zu uns als sein Wesen und Wesentlichstes auszudichten" 27 . Nietzsches Kritik an der perspektivischen Bedingtheit der moralischen Begriffe gut und böse ist also unabhängig von nahezu gleichlautenden Äußerungen Iherings entstanden und diesen zeitlich vorgelagert. Ein weiterer Satz Iherings erinnert vielmehr umgekehrt an Nietzsches Kritik, die Wirkung einer Handlung auf uns als „Absicht" der Handlung und schließlich das „Haben solcher Absichten als dauernde Eigenschaft" zu nehmen 28 . Auffallend ähnlich erscheinen die folgenden Worte Iherings: „Indem wir die Dinge der Handlungen gut oder schlecht nennen, projezieren wir etwas, was in uns seinen Grund hat, in sie als Eigenschaft hinein, gleich als ob es etwas ihnen immanentes wäre" 2 9 . Diese relationsbedingte Abhängigkeit moralischer Wertungen gilt für Ihering daher in Einklang mit Nietzsche „für das sittlich Gute und Böse. Es gibt keine Handlung, die an sich böse wäre" 3 0 . Durch diese relationsbedingte Abhängigkeit sittlicher Normen als moralischer Wertungen „in der Sphäre des Subjektiven" hebt sich nach Ihering die Sittlichkeit und mit ihr die Moral als „das Sittliche im engeren 22 23 24 25

Ihering, Ihering, Ihering, Ihering,

ebd., ebd., ebd., ebd.,

S. 254 und Vorrede, S. IX. S.213f. S.216. S. 214.

26

M 102.

27

M , ebd. M , ebd. Ihering, ebd. Ihering, ebd., S.215.

28 29 30

§ 5 „Privilegium der Verantwortlichkeit" als moralische Instanz

59

Sinn" vom Recht ab 3 1 . In dem Verhältnis der Sittlichkeit als Moral zum Recht erkennt Ihering den Gegensatz zwischen der Verwirklichung sittlicher Normen durch die subjektive Entscheidung der Gesinnung und derjenigen aufgrund normativen Zwangscharakters. „Wer genau sprechen will, betont mit Moral und moralisch den Gegensatz zu Recht und rechtlich, d.h. er negiert damit das Moment des äußeren Zwanges, während er mit Sittlichkeit bloß davon abstrahiert" 32 . In dieser Formel faßt Ihering sehr präzise das Verhältnis von Sittlichkeit und Moral einerseits, sowie auch der von ihm so genannten drei gesellschaftlichen Imperative zueinander zusammen. Es wurde bereits erwähnt, daß Ihering im Einklang mit der Morallehre als Merkmale der Moral ihre „Verwirklichung durch die Gesinnung" und ihre „Allgemeingültigkeit" außerhalb normativen Zwanges begreift 33 . Demnach ordnet Ihering die Moral der Sittlichkeit zu und weist darauf hin, daß die Sittlichkeit als Moral genau von der Sitte zu unterscheiden, jedoch geschichtlich aus der Sitte entstanden sei 34 . Ihering nimmt die Unterscheidung innerhalb der Sittlichkeit nach ihrem normativen Zwangscharakter vor und beruft sich auf die Unterscheidung von der obligatio naturalis und der obligatio civilis des römischen Rechts. Die Zusammenfassung sowohl der Moral als auch des „Sittengesetzes" und des Rechts unter dem gemeinsamen Begriff der „Sittlichkeit" beruht bei Ihering jedoch vor allem auf der umfassenden Bedeutung der lateinischen Begriffe mos, mores 35 . Die Begriffe mos, mores umfaßten im römischen Recht sowohl Sitte und Moral, als auch das Gewohnheitsrecht. Aufgrund dieser einheitlichen Wortbedeutung, welche dem Recht entgegengestellt war, gelangt Ihering in seiner Darstellung des römischen Rechts zu dem Ergebnis, daß der Gegensatz zwischen dem Recht und der Sittlichkeit in diesem umfassenden Sinne allein in dem „inneren Moment" des Gegensatzes einer rechtlichen oder bloß moralischen Verpflichtung zu suchen ist. Daß Moral, Sitte und Gewohnheitsrecht in einem Begriff vom römischen Recht erfaßt wurden und die Sitte in ihrer normativen Tendenz sich nur durch den Grad an „Festigkeit" vom Recht unterschied, führt Ihering bereits hinsichtlich des römischen Rechts zu der Erwägung, die Sittlichkeit „als Zustand der Identität des Rechts und der Moral unter dem Namen der Sitte dem Recht gegenüber zu stellen" 36 . Während Ihering dort noch von der „Vorstufe" des Rechts spricht und damit auf die Unbestimmtheit und „Flüssigkeit" des Gewohnheitsrechts hinweist, geht Ihering später davon aus, daß die Sittlichkeit „oder das Sittengesetz" auch das Recht mit umfaßt 37 . Dies ist m. E. ein Zeichen dafür, daß Ihering das Merkmal des normativen Zwangscharakters nicht mehr als so 31 32 33 34 35 36 37

Ihering, ebd., S. 56, 59. Ihering, ebd., S. 59. s.o. S. 65. Ihering, ebd., S. 60, 63. Ihering, ebd., S. 53; ders., Geist des römischen Rechts, § 25, S. 32. Ihering, Geist des römischen Rechts, ebd., S. 33. Ihering, Der Zweck im Recht, ebd., S. 59.

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2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

entscheidend ansieht, daß sich daraus ein wesensmäßiger Gegensatz von Sittlichkeit und Recht ergeben könnte. Ihering erkennt daher schließlich in der Sittlichkeit „die höhere Einheit von Recht und Moral in der Sphäre des Subjektiven" 38 . Die Unterscheidung zwischen der Moral als Sittlichkeit und der Sitte folgt somit für Ihering in Übereinstimmung mit Nietzsche letztlich daraus, daß „gut und böse nur in dem Subjekt" enthalten ist 3 9 . Die „Autorität" der Sittlichkeit beruht daher nach Ihering auf der Moral, d. h. auf der „Verwirklichung durch die Gesinnung" 40 . 2. Moral als Wille zur Macht Nietzsches Kritik an der Sittlichkeit als Moral richtet sich, wie bereits dargelegt wurde, gegen ein Zurücktreten der Gesinnung zugunsten „des gesellschaftlich Nützlichen", welches nach Ihering den Begriff der Sittlichkeit ausmacht und mit ihm identisch ist. Nietzsche sieht zudem „die Herrschaft der Tugend" nur durch dieselben Mittel erreichbar, „mit denen man überhaupt eine Herrschaft erreicht, jedenfalls nicht durch die Tugend" 41 . Auch mit diesem Satz wendet sich Nietzsche erneut dagegen, moralischen Wertungen im Interesse der Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft als Imperativen der Sittlichkeit normativen Zwangscharakter zu verleihen und sie damit der Verwirklichung durch die Gesinnung des Einzelnen zu entziehen. Die Verantwortlichkeit des Einzelnen in der Verwirklichung durch die Gesinnung wird hierdurch verdrängt und als Sittlichkeit begriffen: „sie sind am längsten kommandiert worden: — sie scheinen instinktiv, wie innere Kommandos. Es drücken sich Erhaltungsbedingungen der Sozietät darin aus, daß die moralischen Werte als undiskutierbar empfunden wurden" 4 2 . Nietzsches Vorwurf der „Unmoralität" der Moral, welcher gegen die Moral als Bestandteil der Sittlichkeit gerichtet ist, zeigt nochmals die folgende Äußerung: „ M a n muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen ... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten" 43 . Darüber hinaus liegt für Nietzsche in der „Unmoralität der Tat" das Wesen der Moral als Sittlichkeit, nämlich als Weg zur Macht. „ I n der Geschichte der Moral drückt sich also ein Wille zur Macht aus, durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißratenen und An-sich-Leidenden, bald die Mittelmäßigen den Versuch machen, die ihnen günstigsten Werturteile durchzusetzen" 44 . Nietzsche sieht in der Moral der Sittlichkeit, wofür er den Begriff Tugend verwendet, die 38 39 40 41 42 43 44

Ihering, ebd. Ihering, ebd., S. 215. Ihering, ebd., S. 62, 63. W M 304. W M 271; s.o. unter 1., S. 55. W M 397. W M 400.

§ 5 „Privilegium der Verantwortlichkeit" als moralische Instanz

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Tendenz, Abweichungen von dem in einer Gesellschaft vorherrschenden Erscheinungsbild der Menschen sowohl nach unten wie auch nach oben abzuwehren 45 . In dieser Tendenz gegen die „Ausnahmen" und „Unabhängigen" erkennt Nietzsche die „Sitte als eigentliche ^Sittlichkeit' Die Unmoralität der Mittel liegt in dem Zwangscharakter der Sittlichkeit, weshalb sich Nietzsche die Tugend als ein „Zwangsmittel" darstellt, sobald sie die Macht erreicht hat; bis zur Erlangung der Macht bedarf sie der „Verleumdung, Verdächtigung, Unterminierung der entgegenstrebenden Tugenden, die schon in der Macht sind" 4 7 . Während Ihering den Zwangscharakter der Sittlichkeit darin gerechtfertigt sieht, daß die Sittlichkeit die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft darstellt und sichert, dient Nietzsche gerade diese Erwägung, daß die „Tugenden" an die jeweiligen Daseinsbedingungen geknüpft sind, als Einwand gegen die Sittlichkeit und deren Zwangscharakter. In den Geboten der gegenseitigen sozialen Verträglichkeit sieht Nietzsche vor allem „Eigennutz und Klugheit" als notwendige Daseinsbedingung gemeiner Naturen, welche auf die Erhaltung gerade dieser Bedingungen gerichtet ist und den Einzelnen als Person bekämpft 4 8 . Nietzsche hat bereits in seinen frühen Schriften auf den Konflikt hingewiesen, welcher sich als ein Konflikt innerhalb der Moral selbst darstellt, sobald moralische Wertungen als Gebote der Sittlichkeit auf die Erhaltung bestimmter Daseinsbedingungen gerichtet sind. Nietzsche führt als Beispiel das sittliche Gebot des Altruismus an und weist auf den Gegensatz zwischen dem Prinzip und dem Motiv „zu dieser Moral" hin: „Dächte der Nächste selber ,selbstlos', so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor allem seine Selbstlosigkeit ebendadurch bekunden, daß er dieselbe nicht gut nennte!" 49 . Nach Ihering gelangt der Egoismus erst dadurch zur Bedeutung einer sittlichen Norm, daß die „individuelle Selbsterhaltung durch seine gesellschaftliche bedingt" und darauf gerichtet ist, die „Selbsterhaltung auch in Bezug auf die Gesellschaft zu verwirklichen" 50 . Dem hält Nietzsche entgegen, daß sich das Gebot des Altruismus sofort in sein Gegenteil verkehrt, d. h. den eigenen Vorteil „auch auf Unkosten alles anderen" zu suchen, sobald der „Altruismus um des Nutzens willen" postuliert werde 51 . Für Nietzsche kann daher die Intention der Sittlichkeit unter moralischem Impetus nicht in der Erhaltung und Förderung bestimmter Daseinsbedingungen bestehen: „Erhaltung, wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin? 45 46 47 48 49 50 51

W M 285. W M 283. W M 310, 311. W M 319. FW 21. Ihering, ebd., S. 198, 199. FW, ebd.

6 2 2 . Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur und Wohin? in der Formel ausgelassen?"52. Gegen die auch von Ihering genannte Erwägung, wonach es Aufgabe der Moral sei, die dem Menschen „gefahrlichen" Handlungen zu verbieten 53 , prägt Nietzsche den Satz: „Die Tugenden sind so gefährlich als die Laster, insofern man sie von außen her als Autorität und Gesetz über sich herrschen läßt und sie nicht aus sich selbst erst erzeugt, wie es das Rechte ist, als persönlichste Notwehr und Notdurft, als Bedingung gerade unseres Daseins und Wachstums" ungeachtet des Gedeihens anderer unter diesen Bedingungen 54 . Indem Nietzsche das Erreichen und die Erhaltung bestimmter Lebensbedingungen und Zustände als Intention der Sittlichkeit verwirft, gelangt er zu der Fragestellung, ob moralische Wertungen in der Sittlichkeit nach Abtrennung von der Erhaltung bestimmter Existenzbedingungen wie „Glück", Wohlstand u.s.w. noch eine Verantwortlichkeitslehre zulassen. In der Sittlichkeit als Tugend erkennt Nietzsche den „Versuch, ein Faktum von Wollen und Gewollthaben als notwendiges Antezedens vor jedes hohe und starke Glücksgefühl zu setzen" 55 . Damit der Mensch seinen Glückszustand als in seiner Macht stehend ansehen kann, „muß ,Wille 4 sein vor diesem Zustand, — sonst gehört er ihm nicht an". Es kann nicht als zufällig angesehen werden, daß Nietzsche an dieser Stelle, innerhalb seiner Moralkritik, einen Gedanken andeutet, welcher für seine Lehre vom Willen zur Macht von hoher Bedeutung ist. Nietzsche wirft hiermit die Frage auf, ob ein „freier Wille" als Prinzip im Menschen denkbar ist, d. h.: ob der Wille als „Ursache" oder „Wirkung" und damit ein Subjekt als Träger der Verantwortlichkeit angenommen werden kann 5 6 . Aufgrund der moralischen Bewertung der Lebensbedingungen beruht nach Nietzsche die Moralität als Verantwortlichkeitslehre auf dieser Hypothese eines „freien" Willens, also darauf, daß „nur der Wille Ursache ist und daß man wissen muß, gewollt zu haben, um sich als Ursache glauben zu dürfen" 57 . Ohne die Annahme der Daseinsbedingungen als Gegenstand moralischer Bewertung bedürfte es der These eines freien Willens nicht. „Hier ist immer der Hintergedanke: wenn der Mensch nicht causa prima ist als Wille, so ist er unverantwortlich, — folglich gehört er gar nicht vor das moralische Forum, — die Tugend oder das Laster wären automatisch und machinal" 58 . Diese Äußerungen belegen, daß sich für Nietzsche innerhalb seiner Moralkritik die Frage nach dem Wesen des Willens stellt, welche im Denken Nietzsches von zentraler Bedeutung ist. Nietzsche erkennt die Moral als die Lehre der Verantwortlichkeit des Einzelnen und trennt sie dadurch scharf von der 52

M 106.

53

M 107; Ihering, ebd., S.261. W M 326. W M 288. W M 551; dazu s.u. unter § 10.3. W M 288. W M , ebd.

54 55 56 57 58

§ 5 „Privilegium der Verantwortlichkeit" als moralische Instanz

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Sittlichkeit, während Ihering, ausgehend vom römischen Recht, zwar die Moral der Sittlichkeit zuordnet, jedoch ebenfalls aus ihr die Verantwortlichkeit des Einzelnen ableitet. Nietzsche greift die Sittlichkeit unter dem Begriff der Moral an, soweit das Anstreben und die Erhaltung bestimmter Lebensbedingungen der Moral als Verantwortlichkeitslehre unterstellt werden soll. Auf dieser falschen Zuordnung der Erhaltung und Sicherung bestimmter Lebensbedingungen — als Intention der Sittlichkeit — zur Verantwortlichkeitslehre beruht nach Nietzsche „die Schauspielerei als Folge der Moral des,freien Willens'. — Es ist ein Schritt in der Entwicklung des Machtgefühls selbst, seine hohen Zustände (seine Vollkommenheit) selber auch verursacht zu haben, — folglich, Schloß man sofort, gewollt zu haben" 59 . Da Nietzsche die Moral ausschließlich als Lehre der Verantwortlichkeit des Einzelnen erkennt, stellt sich für ihn in der Frage nach dem Wesen der Moral die Frage nach dem Wesen des Willens. Nietzsche hebt in der Schrift „Morgenröte" den Zwangscharakter der Sittlichkeit hervor und spricht dort neben der Autorität der Sittlichkeit auch von der „Autorität der Moral" und deren Imperativ 60 . Dies spricht dafür, daß Nietzsche der Sittlichkeit nur insoweit und deshalb Autorität zuerkennt, als sich in ihr moralische Wertungen ausdrücken. Bestätigt wird diese Annahme durch die bereits zitierte Äußerung in dem zweiten Abschnitt des zweiten Buches der Schrift „Der Wille zur Macht", welcher die Überschrift trägt: „Kritik der Moral". Soweit Nietzsche dort „allen Arten Imperative" darauf verwandt sieht, die „moralischen Werte als fest erscheinen zu lassen", zeigt dies deutlich, daß Nietzsche die Autorität sittlicher und rechtlicher Normen auf der Autorität der Moral beruhend erkennt 61 ; der Sittlichkeit kommt Autorität zu, soweit sie die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft als moralischen Wert gebietet. Die moralischen Werte „sind am längsten kommandiert worden: — sie scheinen instinktiv, wie innere Kommandos. Es drücken sich Erhaltungsbedingungen der Sozietät darin aus" 6 2 . Indem Nietzsche den Befehlscharakter der moralischen Wertungen herausstellt, deutet er auf ein Merkmal hin, welchem er hinsichtlich des Wesens des Willens als Wille zur Macht erhebliche Bedeutung beimißt, wie in der weiteren Darstellung noch zu zeigen sein wird 6 3 . 3. Autonomes Individuum als Subjekt der Verantwortlichkeit Es wurde oben ausgeführt, daß Nietzsche den von der Sitte ausgehenden Zwangscharakter als „Sittlichkeit der Sitte" in der Entstehungsgeschichte der Gemeinwesen für umfassend und den Charakter der Menschheit bestimmend ansieht 64 . Die Autorität der Sittlichkeit beruht auf dem „Gehorsam gegen das 59 60 61 62 63 64

W M 289. M 107. W M 271. W M , ebd. s.u. unter § 10.1. und 2. s.o. unter §4.2.

64

2. Abschn.: Sittlichkeit /Autonomie als Faktoren der Normstruktur

Herkommen" als den Sitten, in deren Befolgung die Gemeinwesen die Voraussetzung ihres Fortbestehens sahen. Die Autorität des Herkommens gebietet den Gehorsam gegen die Vorschriften der Sittlichkeit ohne Rücksicht auf den Vorteil oder auch die Existenz des Einzelnen. Der Gehorsam wird nicht wegen der nützlichen Folgen für das Individuum gefordert, „sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vorteil: der einzelne soll sich opfern, — so heischt es die Sittlichkeit der Sitte" 6 5 . Die Sittlichkeit ist gegen die Erscheinung des Einzelnen als Individuum gerichtet; „der freie Mensch ist unsittlich". Nietzsche erkennt jedoch in der Sittlichkeit der Sitte über den normativen Zwangscharakter hinaus die „Verinnerlichung" dieses Zwanges als „die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts"66. Das Gebot des unbedingten Gehorsams gegen die Sittlichkeit, „ohne an sich als Individuum zu denken" fand „hierin ihren Sinn, ihre große Rechtfertigung, wieviel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch wurde mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht" 67 . Diese Äußerung Nietzsches bezieht sich wiederum auf die Frage, wie man dem, der ein Versprechen gegeben hat, ein „Gewissen" macht, wobei die Machtfülle, die die römische Obligation dem Gläubiger über den Schuldner verlieh, Nietzsche als herausragendes Beispiel dient 68 . Welche Bedeutung Nietzsche dem Institut der römischen Obligation in Hinsicht auf den Zwangscharakter der Sittlichkeit beimißt, erhellt der folgende Satz, welcher m. E. wie kein anderer das Wesen der „Sittlichkeit der Sitte" als Begriff zusammenfaßt: „Stellen wir uns dagegen ans Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Sozietät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zutage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveräne Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn ,autonom4 und ,sittlich4 schließt sich aus), kurz den Menschen des eignen, unabhängigen, langen Willens, der versprechen darf — 4 < 6 9 . Dieser Satz betrifft neben dem Gedanken der Freiheit des Willens bei Nietzsche die Frage, ob eine Verantwortlichkeit des Individuums unabhängig von dem Zwang normativer Sittlichkeit entstehen konnte oder auch nur denkbar ist. Gerade diese Erwägung dient Ihering als Einwand gegen die „individualistisch-teleologische Theorie 44, welche er zum Gegenstand einer eingehenden Auseinandersetzung macht 7 0 . Der Auffassung, daß sittliche Normen auf das Wohl des Individuums losgelöst von den Belangen der Gesellschaft ausgerichtet seien, hält Ihering entgegen, daß die Tugenden und das „Lustge65 66 67 68 69 70

M 9. G M I I 2, 16. G M I I 2. G M I I 5; dazu s.o. § 1.2. G M I I 2. Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, S. 133 f.

§ 5 „Privilegium der Verantwortlichkeit" als moralische Instanz

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fühl" des Individuums erst unter dem Zwang der Sittlichkeit entstanden sind. „Der Idee der individuellen Vollkommenheit hat noch kein Volk der Erde den realen Inhalt des Sittlichen entnommen, dieselbe hat geschichtlich in keiner Weise mitgeholfen beim Bau der sittlichen Welt, sondern sich erst eingestellt, nachdem derselbe fertig geworden war. Dann meldete sie sich, um das fertige Werk in Besitz zu nehmen" 71 . Es geht hier noch nicht um die Frage, inwieweit das Individuum seine Entstehung der Gesellschaft verdankt 72 , sondern darum, inwieweit der Begriff der Autonomie von Nietzsche und Ihering dem Begriff der Sittlichkeit entgegengesellt wird, um daraus die Verantwortlichkeit des Individuums zu begründen. Nietzsche erkennt die Autonomie des „übersittlichen" Individuums in der Überwindung des von der Sittlichkeit ausgehenden Zwanges durch Erringen des „langen" Willens, „der wirklich versprechen d a r f 4 7 3 . Dies bedeutet, daß Nietzsche das Individuum erst dadurch zur Autonomie befähigt sieht, daß es „mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht" worden ist, die Vergeßlichkeit des Willens überwunden worden ist. Der menschliche Wille wurde „frei", indem er durch den ausweglosen Zwang der Sittlichkeit der Sitte berechenbar gemacht wurde und sich selbst gehorchen lernte: „dieser Herr des freien Willens, dieser Souverän — wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich selbst gutsagen darf,... —, und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Kreaturen notwendig in die Hand gegeben ist?" 74 . Die Freiheit des Willens als Voraussetzung der Verantwortlichkeit 75 beruht somit nach Nietzsche auf der „Herrschaft über sich", sie ist das „,Überlegenheitsgefühl des Befehlenden' über den Gehorchenden" 76 . Das „autonome übersittliche Individuum" gelangt somit nach Nietzsche erst aufgrund dieser Herrschaft des Willens über sich selbst, die aus dem sittlichen Zwang entstanden ist, zu dem „Privilegium der Verantwortlichkeit" 77 . Auch Ihering geht davon aus, daß die Autonomie des Individuums aus der Sittlichkeit entstanden ist: „das völlige Einswerden des Individuums mit dem Sittengesetz, kurz die Autonomie desselben ist die letzte, höchste Form, in der dasselbe sich in ihm verwirklicht" 78 . Nach Ihering schließt sich jedoch „autonom" und „sittlich" gerade nicht aus, wie Nietzsche dies ausdrücklich feststellt. Soweit nach Ihering „das Individuum das Sittliche als 71

Ihering, ebd., S. 152.

72

dazu s.u. § 13. 1.

73

G M , ebd. G M , ebd. W M 288; s.o. unter 2. Nachlaß, 2. Teil, 328. G M , ebd. Ihering, ebd., S. 103.

74 75 76 77 78

5 Kerger

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2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

Gesetz seiner selber in sich tragen soll", gelangt er zu diesem Ergebnis aus der Erkenntnis, daß die sittlichen Normen „historisch nicht vom Individuum, sondern von der Gesellschaft aus gewonnen worden" sind. Da das Individuum sich in Abhängigkeit von der Gesellschaft befindet und „sein Gesetz von ihr erhält", kann sich nach Ihering die Autonomie des Individuums nur auf die Verwirklichung sittlicher Normen erstrecken, indem das Individuum diese Normen als „sein Gesetz" auf sich anwendet. Ihering betont, daß auch eine Befolgung der sittlichen Normen durch das Individuum als „sein Gesetz" nichts daran ändern könne, „daß dasselbe als Gebot und zwar als Gebot der Gesellschaft von außen her ihm aufgezwungen worden ist" 7 9 . Die Autonomie des Individuums besteht also nach Ihering nicht in der Überwindung der Sittlichkeit, sondern in ihrer vollkommenen Verwirklichung, welche den Zwangscharakter sittlicher Normen nicht aufhebt. Nietzsche erkennt jedoch die „Herkunft der Verantwortlichkeit" gerade darin, daß sich das Individuum von dem Zwang sittlicher Normen wieder lösen konnte. In dem „Privilegium der Verantwortlichkeit" liegt ein „Bewußtsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick" 80 ; dadurch wird ein von außen einwirkender Zwang der Sittlichkeit als Zuchtmittel überwunden, nachdem das Individuum „berechenbar" geworden ist, worauf die Sittlichkeit insgesamt ausgerichtet ist. Die Autonomie des Individuums schließt also nach Nietzsche dessen Sittlichkeit deshalb aus, weil es mehr „Macht über sich" gewonnen hat, als der Zwang sittlicher Normen dies zu erreichen vermag. Der „freie" Wille, der das Individuum endlich „berechenbar" vorfindet, welches ihm nun gehorcht und „wirklich versprechen d a r f , gibt dem Individuum dieses Mehr an Macht gegenüber dem Zwang der Sittlichkeit. Hier zeigt sich, welche Bedeutung das Wesen des Willens als Wille zur Macht auch hier hinsichtlich der Frage der Autonomie des Individuums gegenüber der Sittlichkeit erlangt. Weiterhin hat die Darstellung gezeigt, daß Nietzsche bestimmte Institute des römischen Rechts, wie z. B. die Obligation, aufgreift, sie über ihre juristische Bedeutung hinaus analysiert, um dann schließlich zur Frage des Verhältnisses des menschlichen Willens zu Normen der Sitte und des Rechts vorzustoßen. Bemerkenswert erscheint überdies, daß Ihering bereits in seiner Darstellung des römischen Rechts die im römischen Recht ausgeprägte Unterscheidung zwischen Recht und Sitte einerseits sowie dem Recht im objektiven und subjektiven Sinne als eine „Folge des Prinzips der Autonomie" ansah 81 . Den Grund für die strenge Trennung zwischen der Sittlichkeit als Moral und dem Recht, welche mit der Scheidung des fas von dem jus begann und sich in der sittlichen Censur neben dem Recht weiterentwickelte, sieht Ihering, wie bereits ausgeführt wurde, in der „Flüssigkeit" und Unbestimmtheit der Sitte, soweit sie mehr zur Moral als zum Recht tendiert. Die Institution der sittlichen Censur, in 79 80 81

Ihering, ebd. G M , ebd. Ihering, Geist des römischen Rechts, II. Buch, § 29, S. 101, 102.

§ 6 Recht als „umgewandte Moral" bei Schopenhauer und Nietzsche

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der sich für Ihering besonders diese Trennung offenbart, führt Ihering auf „das subjektive Prinzip" der sittlichen Kontrolle der Gens über die Gentilen zurück 82 . Dort sieht Ihering „die subjektive Rechtssphäre" als eine „Tat und Produktion des Individuums und darum lediglich seiner Autonomie anheim gestellt" an 8 3 . Auf diesem „subjektiven Prinzip" der Sittlichkeit als Ausfluß der Autonomie des Individuums beruht nach Ihering die Machtfülle, welche das römische Recht dem Individuum gewährte und gerade wegen der strengen sittlichen Kontrolle gewähren konnte. Die auf diesem „subjektiven Prinzip" der Sittlichkeit beruhende Autonomie des Individuums verbot einerseits staatliche und private Eingriffe in die Rechtssphäre des Einzelnen, gewährte andererseits jedoch die Möglichkeit der freien Ausgestaltung rechtlicher Verhältnisse als Machtverhältnisse. Ihering nennt als Beispiel, daß den Vertragsparteien zur Sicherung eines rechtlich bindenden Versprechens deshalb die Einführung „eines besonders strengen obligatorischen Bandes" erlaubt war 8 4 . Für Ihering offenbart sich also in der Freiheit und Machtfülle, welche die Abstraktion von sittlichen Geboten dem Individuum gewährte, dessen Autonomie. Hierin könnte m.E. der Grund zu finden sein, daß Ihering, ausgehend vom römichen Recht, die Autonomie des Individuums als „das völlige Einswerden des Individuums mit dem Sittengesetz" begreift 85 , da die Sittlichkeit als das von ihm so benannte „subjektive Prinzip" beim Individuum seinen Anfang nimmt und das Korrelat zur freien Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse als Machtverhältnisse bildet. Nietzsche stellt demgegenüber auf den von der Sittlichkeit ausgehenden Zwang ab und erkennt die Autonomie des Individuums allein in dem „Privilegium der Verantwortlichkeit", des freien Willens als „dieser Macht über sich". Die Autonomie des Individuums als die „Macht über sich" bedeutet Freiheit vom Zwang sittlicher Normen, „denn ,autonom' und ,sittlich' schließt sich aus" 8 6 . § 6 Recht als „umgewandte Moral 6 4 bei Schopenhauer und Nietzsche 1. Verhältnis der Sittlichkeit zur Gesinnung Es wurde soeben dargelegt, daß Nietzsche die Autonomie des Individuums in dem „Privilegium der Verantwortlichkeit" erkennt und deshalb die Autonomie der Sittlichkeit gegenüberstellt 1. Das „Bewußtsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick" ist nach Nietzsche zum „dominieren82

Ihering, ebd., § 26, S. 52 und 57, sowie § 14. Ihering, ebd., § 26, S. 57. 84 Ihering, ebd., § 29, S. 101. 85 Ihering, Der Zweck im Recht, ebd., S. 103. 86 G M , ebd. 1 G M I I 2. 83

5*

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2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

den Instinkt" geworden, welcher erst das „Gewissen" des Menschen ausmacht. Die Verantwortlichkeit des Einzelnen besteht nach Nietzsche in seinem „freien Willen" als der Gewißheit, daß sein Leib seinem Willen gehorcht, daß er einen „langen" Willen besitzt, der „wirklich versprechen d a r f . Das Gewissen in diesem Sinne als Ergebnis der Autonomie des Individuums und seiner Verantwortlichkeit bedeutet „also auch zu sich ja sagen dürfen". Es ist das Produkt eines langen Kampfes gegen die Vergeßlichkeit des Willens unter dem Satz: „,nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis 4 " 2 . Leiden und Schmerz, vor allem die Härte des älteren Strafrechts, stellen sich Nietzsche als die bevorzugten Mittel zur Sicherung des Gewollten vor der Vergeßlichkeit dar. Der Kampf um die Freiheit des Willens, an dessen Ende das Gewissen als Instanz der Verantwortlichkeit stand, fand jedoch, wie Nietzsche in Übereinstimmung mit Ihering feststellt, nicht des Individuums wegen statt. M i t Hilfe von Leiden und Schmerz „behält man endlich fünf, sechs ,ich will nicht' im Gedächtnisse, in bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vorteilen der Sozietät zu leben" 3 . Nietzsche wendet sich, wie bereits ausgeführt wurde, dagegen, die Erhaltung bestimmter Lebensbedingungen als Gebot der Sittlichkeit moralischen Wertungen zuzuordnen und dadurch zum Gegenstand der Lehre der Verantwortlichkeit des „freien Willens" zu machen. Das Gewissen als Instanz der Verantwortlichkeit sieht Nietzsche eher durch jene Vorschriften der Sittlichkeit und ihren Zwangscharakter geprägt, als durch die Gesinnung. „Das, was ehedem dazu bestimmte, gewisse Handlungen zu verwerfen, war nicht das Gewissen: sondern die Einsicht (oder das Vorurteil) hinsichtlich der Folgen" 4 . Nietzsches Worte an dieser Stelle lassen erkennen, daß er insoweit das Gewissen nicht als Ergebnis der Autonomie des Individuums ansieht: „Es spricht bloß nach: es schafft keine Werte" 5 . Dies spricht dafür, daß Nietzsche in Übereinstimmung mit Kant und Schopenhauer allein die Gesinnung als moralische Instanz der Sittlichkeit entgegenstellt. „Wenn wir uns, aus dem Instinkte der Gemeinschaft heraus, Vorschriften machen und gewisse Handlungen verbieten, so verbieten wir, wie es Vernunft hat, nicht eine Art zu ,sein', nicht eine ,Gesinnung', sondern nur eine gewisse Richtung und Nutzanwendung dieses ,Seins', dieser ,Gesinnung'" 6 . Nietzsche erkennt in dem Verhältnis der Sittlichkeit zur Gesinnung einen Gegensatz — vergleichbar mit dem Gegensatz zwischen Autonomie und Sittlichkeit —, wobei sich die Sittlichkeit an die Gesinnung des Einzelnen wendet, soweit sie sich auf moralische Wertungen beruft: „Wir verhüten durch unsere Dekrete, daß diese Gesinnung auf eine unzweckmäßige Weise ausbricht und sich Wege sucht, — wir sind klug, wenn wir uns solche Gesetze geben, wir 2 3 4 5 6

G M I I 3. G M , ebd. W M 294. W M , ebd. W M 281.

§ 6 Recht als „umgewandte Moral" bei Schopenhauer und Nietzsche

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sind damit auch sittlich". Nietzsche stimmt weiterhin der Lehre Kants und Schopenhauers zu, wonach die Gesinnung unveränderlich ist, wenn er feststellt: „mit jenen Handlungen ihre Quelle, das ,Herz', die ,Gesinnung' zu verurteilen, so hieße das unser Dasein verurteilen" 7 . Schopenhauer lehrt, daß „in der Moral der Wille, die Gesinnung, der Gegenstand der Betrachtung und das allein Reale ist" 8 . Indem Schopenhauer die Gesinnung dem Willen zurechnet, trennt er die Gesinnung von der Motivation. Während die Gesinnung dem Willen als dem unerkennbaren „Ding an sich" außerhalb der Erscheinungswelt angehört, beziehen sich die Motive auf die Handlungen innerhalb dieser Erscheinungswelt. Die Motive sind daher durch Erkenntnis und Erziehung zu beeinflussen, die Gesinnung entzieht sich dagegen einem solchen Einfluß. Erkenntnis und Erziehung können mit dem Motiv „nur die Richtung des Willens, nie ihn selbst ändern" 9 . Die Unabänderlichkeit der Gesinnung bedeutet daher hinsichtlich der moralischen Bewertung einer Handlung, daß es keinen Unterschied macht, ob sich in ihr eine vorhandene Gesinnungslosigkeit offen zeigt, oder durch entsprechende Beeinflussung des Motivs äußerlich als lobenswert erscheint. Es macht danach keinen Unterschied, ob einer „große Schenkungen an Hilflose macht, fest überredet, in einem künftigen Leben alles zehnfach wieder zu erhalten, oder ob er die selbe Summe auf Verbesserung eines Landgutes verwendet" 10 . Die moralische Bewertung einer Handlung hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit bestimmt sich somit danach, ob Recht und Gesetz freiwillig auch dort anerkannt und befolgt werden, „wo kein Staat oder sonstige Gewalt sie sichert". Rechtliche Ge- und Verbote können daher nur auf die Motive des Handelns Einfluß nehmen und dadurch der Handlung eine andere Richtung geben, sie haben jedoch keinerlei Einfluß auf den Willen: „Von außen ist, wie schon gesagt, dem Willen immer nur durch Motive beizukommen: diese aber ändern bloß die Art wie er sich äußert, nimmermehr ihn selbst. Velie non discitur" 11 . Dies bedeutet, daß das Recht und insbesondere das Strafrecht „ein möglichst vollständiges Register von Gegenmotiven" in Bezug auf alle rechtlich relevanten Handlungen bereit zu halten hat, um „jedem möglichen Motiv zur Ausübung eines Unrechts immer ein überwiegendes Motiv zur Unterlassung desselben" entgegenzustellen12. Aus dem Satz velie non discitur folgt, daß nach der moralischen Bewertung der Wille, unrechtmäßig zu handeln, „den allein die äußere Macht zurückhält", nicht anders zu beurteilen ist als der Erfolg einer aus dieser Gesinnung geschehenen Tat. „Hingegen den Staat kümmern Wille und Gesinnung, bloß als solche, ganz und gar nicht; sondern allein die Tat... wegen 7

W M , ebd. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Viertes Buch, § 62, S. 428. 9 Schopenhauer, ebd., § 66, S. 457. 10 Schopenhauer, ebd. S. 458. 11 Schopenhauer, ebd. 12 Schopenhauer, ebd., § 62, S. 429. 8

7 0 2 . Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur ihres Korrelats, des Leidens, von der anderen Seite: ihm ist also die Tat, die Begebenheit, das allein Reale: die Gesinnung, die Absicht wird bloß erforscht, sofern aus ihr die Bedeutung der Tat kenntlich wird" 1 3 . Da die Gesinnung durch die Erkenntnis oder Erziehung nicht verändert werden kann und nicht zu erwarten ist, daß aus moralischen Gründen rechtmäßig gehandelt wird, ist es unmöglich, eine Rechtsordnung zu schaffen und zu erhalten, welche aus Vorschriften besteht, die gebieten, Recht zu tun. Die Rechtsordnung ist daher nach Schopenhauer darauf angewiesen und angelegt, die „Kehrseite" der Moral zu benutzen „und alle die Grenzen, welche die Moral als unüberschreitbar, wenn man nicht Unrecht tun will, angibt, von der andern Seite zu betrachten, als die Grenzen, deren Überschrittenwerden vom Andern man nicht dulden darf, wenn man nicht Unrecht leiden will, und von denen man also Andere zurückzutreiben ein Recht h a t " 1 4 . Recht und Gesetz beziehen sich also auf diese Grenzen und können nur gebieten, kein Unrecht zu tun. Entgegengesetzt zur moralischen Bewertung, deren Gegenstand die Gesinnung ist, d.h. der Wille, Recht oder Unrecht zu tun, erkennt Schopenhauer das Recht als einen Anspruch gegen den anderen, kein Unrecht zu leiden. Aufgrund dieser umgekehrten Wertung von der „passiven Seite" aus stellt sich Schopenhauer die „Lehre von den Rechten" als „umgewandte Moral" dar, welche die Rechte lehrt, „welche man nicht verletzen d a r f ' 1 5 . Auch Schopenhauer erkennt also in der Moral die dem Recht und der Sitte entgegenstehende Wertung menschlichen Handelns. Wie Nietzsche sieht bereits Schopenhauer moralische Wertungen in den Vorschriften des Rechts und der Sitte enthalten, um die Moral „nun zu ihren, der Moral fremden Zwecken, von der Kehrseite anzuwenden" 16 . Nietzsche sieht in dieser Umkehr moralischer Wertungen in Normen des Rechts und der Sitte, damit die Gesinnung nicht auf eine „unzweckmäßige" Weise hervortritt, „beinahe eine Definition der Sittlichkeit" 17 . Für Nietzsche liegt jedoch in sittlichen und rechtlichen Vorschriften eine weitere Umkehrung moralischer Wertungen. Nietzsche sieht die „Unmoralität" der Mittel, das Schädigen durch unrechtmäßige Handlungen aller Art, auf dessen Abwehr Sitte und Recht gerichtet sind, durch sittliche Normen geradezu geboten, soweit es sich um Gegner oder Fremde handelt: „deshalb verbieten wir gewisse Handlungen in einer gewissen Rücksicht, nämlich auf uns, während wir dieselben Handlungen, vorausgesetzt, daß sie sich auf Gegner des Gemeinwesens ... beziehen, nicht genug zu ehren wissen" 18 . Dieses sittliche Gebot, die Gegner des Gemeinwesens zu schädigen, hat erst dadurch Autorität erlangt, daß sich die Sittlichkeit auf moralische Wertungen beruft. 13 14 15 16 17 18

Schopenhauer, Schopenhauer, Schopenhauer, Schopenhauer, W M 281. W M , ebd.

ebd. ebd. ebd. ebd., S.431.

§ 6 Recht als „umgewandte Moral" bei Schopenhauer und Nietzsche

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Ihering wendet sich gegen diese philosophische Lehre der Unveränderlichkeit der Gesinnung, sowie ihrer Unzugänglichkeit und Gegensätzlichkeit gegenüber der Sittlichkeit, und damit gegen Kant und Schopenhauer, deren Namen er in diesem Zusammenhang nennt 19 . Ihering bestreitet, daß die Gesinnung der ausschließliche Gegenstand und „das allein Reale" in der Moral sei. Er will „an Stelle der Individualethik die Sozialethik" setzen und stellt die These auf, daß es auch zur Verwirklichung einer sittlichen Handlung der Gesinnung bedarf, daß sich also auch sittliche Normen an die Gesinnung richten, daß eine „sittliche Gesinnung" überhaupt möglich ist 2 0 . Als Voraussetzung einer tatsächlich sittlichen Handlung sieht Ihering daher „beim Sittengesetz die individuelle Willensbestimmung zum Sittlichen, die sittliche Gesinnung" an 2 1 . Diese Kritik an der Lehre Kants und Schopenhauers von der Unveränderlichkeit des menschlichen Charakters und der ausschließlichen Zuordnung der Gesinnung zur Moral, daß eine sittliche Handlung ebenfalls eine „sittliche" Gesinnung voraussetze, enthält weiterhin die These, daß moralische Wertungen, welche die Gesinnung zum Gegenstand haben und ihr entnommen sind, aus der Sittlichkeit, der Befolgung des „Sittengesetzes", erwachsen sind. Nietzsche scheint dieser Kritik an der Herkunft moralischer Wertungen zuzustimmen, soweit er feststellt, daß das Gewissen eine Handlung verwirft, „weil dieselbe lange verworfen worden ist. Es spricht bloß nach: es schafft keine Werte" 2 2 . Den Einfluß der Sittlichkeit auf moralische Wertungen des Einzelnen sieht Nietzsche auch darin, daß „das was ehedem dazu bestimmte, gewisse Handlungen zu verwerfen", nicht das Gewissen war, „sondern die Einsicht... hinsichtlich ihrer Folgen". Nietzsche verwendet hier jedoch nur den Begriff „Gewissen", nicht „Gesinnung". Bereits diese unterschiedliche Verwendung der Begriffe „Gewissen" und „Gesinnung" deutet darauf hin, das sich Nietzsche die Frage der Autonomie des Individuums gegenüber dem Zwang der „Sittlichkeit der Sitte" unabhängig von der Frage nach der Enstehung und Genealogie moralischer Wertungen stellt und Nietzsche diese Fragestellungen streng getrennt wissen will. Nietzsche erkennt in dem Gewissen das „Privilegium der Verantwortlichkeit" als Zeichen der Autonomie des Individuums, dieser „Macht über sich", welche nun stärker ist als der eben daraufgerichtete Zwang sittlicher Normen 2 3 . Indem Nietzsche — ähnlich wie Ihering — davon ausgeht, daß die Autonomie des Individuums erst „mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte" erreicht worden ist und sich das „autonome" Individuum nur dadurch von der Sittlichkeit lösen konnte, daß es in höherem Maße „berechenbar" wurde, weist er darauf hin, daß das Individuum durch Erreichen seiner Autonomie zwar in ein gegensätzliches Verhältnis zur Sittlichkeit tritt, dies jedoch keinen Gegensatz der Autonomie 19 20 21 22 23

Ihering, der Zweck im Recht, II. Band, S. 161 f. (166). Ihering, ebd., S. 157. Ihering, ebd., S. 188. W M 294. G M II, 2; s.o. unter § 5.3.

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2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

und der Sittlichkeit ihrem Wesen nach bedeutet. Allein die Gesinnung erkennt Nietzsche ihrem Wesen nach der Sittlichkeit entgegengesetzt, wie bereits dargelegt wurde 24 . Das „Gewissen" ist unter dem Zwang sittlicher Normen entstanden und muß erst lernen, sittliche Wertungen durch diejenigen der Gesinnung zu ersetzen. Nietzsche unterscheidet also zwischen der Sittlichkeit und der Verantwortlichkeit des Individuums einerseits und der Gesinnung, d. h. der Moral, andererseits. Ihering hingegen sieht die Moral, „wo das rein Innerliche der Gesinnung in Frage kommt", durch den von ihm so benannten „Individualismus" geprägt und fordert deshalb, „an die Stelle der Individualethik die Sozialethik zu setzen" 25 . Ihering ordnet also die Autonomie des Individuums der Gesinnung zu; wie die Autonomie als „das wahre Moralprinzip" nach Ihering allein aus der Sittlichkeit entsteht, so beruht auch die Gesinnung auf sittlichen Wertungen 26 . Die Forderung nach einer „Sozialethik" und die Annahme einer „sittlichen" Gesinnung stützt Ihering auf jene Erwägung, daß die Autonomie des Individuums aus der Sittlichkeit entstanden ist: „Der Idee der individuellen Vollkommenheit hat noch kein Volk der Erde den realen Inhalt des Sittlichen entnommen, dieselbe hat geschichtlich in keiner Weise mitgeholfen beim Bau der sittlichen Welt, sondern sich erst eingestellt, nachdem derselbe fertig geworden war" 2 7 . Nicht nur die Autonomie, sondern auch die „Vollkommenheit" des Individuums in moralischer Hinsicht sieht Ihering der sittlichen und damit der geschichtlichen Entwicklung unterworfen. Der Lehre Kants und Schopenhauers von der Unveränderlichkeit der Gesinnung, d. h. des Willens, hält Ihering den „Grundzug des Ungeschichtlichen" vor 2 8 . Ihering zitiert die Worte Kants, wonach nicht „ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen" den Fortschritt in der Entwicklung des Menschengeschlechts erreichen wird, und sieht darin „das Eingeständnis, daß der kathegorische Imperativ der Pflicht, der nur auf den Teil, nicht auf das Ganze gerichtet ist, nicht im Stande ist, die gesellschaftliche Entwicklung des Sittlichen zu beschaffen" 29 . Soweit sich Ihering gegen die philosophische Lehre von der Unveränderlichkeit der Gesinnung wendet, ist dies jedoch weniger ein Einwand gegen die Methode als vielmehr dagegen, die Gesinnung nicht der Geschichte und damit der Entwicklung des „gesellschaftlich Nützlichen" unterworfen zu sehen. Ihering stellt dem „gesellschaftlich Nützlichen" das „individuelle Nützliche" entgegen, welches demnach in der Sittlichkeit als dem „gesellschaftlich Nützlichen" aufgeht und von ihm abhängt; darum ist nach Ihering allein die Gesellschaft das „Zwecksubjekt" des Sittlichen 30 . Auch die 24 25 26 27 28 29 30

W M 281. Ihering, ebd., Ihering, ebd., Ihering, ebd., Ihering, ebd., Ihering, ebd., Ihering, ebd.,

S. 157. S. 103. S. 152. S. 166. S. 164. S. 154.

§ 6 Recht als „umgewandte Moral" bei Schopenhauer und Nietzsche

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Gesinnung wertet Ihering daher nach dem Maß der gesellschaftlichen Nützlichkeit, da die Sittlichkeit nach Ihering das gesamte menschliche Dasein umfaßt. Dem „objektiv Sittlichen" entspricht daher subjektiv „die sittliche Gesinnung", über die das Sittengesetz herrscht und ausstrahlt 31 . Für Ihering ist somit das „Moralprinzip" der Gesinnung ein Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung, eine Folge der Autonomie des Individuums, wozu dieses als dem „Gesetz seiner selbst" erst gelangen muß, nicht jedoch daher seinen Ausgang nimmt 3 2 . Das Wesen der Gesinnung ergibt sich nach Ihering aus der Fragestellung nach der Autonomie des Individuums. 2. Leiden als Schuld Es wurde soeben dargelegt, daß Schopenhauer das Wesen des Rechts in der Umkehrung der moralischen Wertung erkennt, welche allein die Gesinnung, den Willen, zum Gegenstand hat und darauf gerichtet ist, Recht zu tun. Gegenstand des Rechts ist daher die Tat „wegen ihres Korrelats, des Leidens von der andern Seite" her 3 3 . Das Recht lehrt, welche Rechte des anderen man nicht verletzen darf und gibt den Anspruch, kein Unrecht dulden zu müssen. Das Recht kann daher zwar im Zustand seiner Vollkommenheit dieselbe Erscheinung hervorbringen, „als wenn vollkommene Gerechtigkeit der Gesinnung allgemein herrschte. Das innere Wesen und der Ursprung beider Erscheinungen wird aber der umgekehrte sein. Nämlich im letztern Fall wäre es dieser, daß Niemand Unrecht tun wollte; im erstem aber dieser, daß Niemand Unrecht leiden wollte und die gehörigen Mittel zu diesem Zweck vollkommen angewandt wären" 3 4 . Das Leiden als Gegenstand des Rechts, weil sich darin das Erdulden eines Unrechts ausdrückt, wird auch von Nietzsche als ein wichtiger Hinweis auf das Wesen von Recht und Sittlichkeit angesehen. Nietzsche führt auch hier wieder das Schuldverhältnis der römischen Obligation als Beispiel dafür an, daß die Vorstellung, das Leid sei das Korrelat der Schuld, einer der ältesten Grundsätze im Recht aller Völker ist. Der „Ideen-Verhäkelung ,Schuld und Leid'"stellt Nietzsche jedoch die Frage entgegen: „inwiefern kann Leiden eine Ausgleichung von,Schulden' sein?" 35 . Nietzsche sieht in dem Leiden des Schuldners, der seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte, eine Bewertung des Unrechts, insofern der Gläubiger für den Verlust, „hinzugerechnet die Unlust über den Nachteil, einen außerordentlichen Gegen-Genuß eintauschte" 36 . Die Zuordnung des Leidens zur Schuld sieht Nietzsche jedoch in der Lust des Gläubigers, den zahlungsunfähigen Schuldner leiden zu sehen, nicht erschöpft; sie hat dort 31 32 33 34 35 36

Ihering, ebd., S. 188. Ihering, ebd., S. 103. Schopenhauer, ebd., S. 431. Schopenhauer, ebd., S. 431. G M I I 6. G M , ebd.

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2. Abschn.: Sittlichkeit/Autonomie als Faktoren der Normstruktur

allenfalls ihren Anfang genommen. Der moralische Schuldbegriff ist nach Nietzsche „aus dem sehr materiellen Begriff,Schulden' " hervorgegangen 37. Die Vorstellung der Relation von Schuld und Leid auch im moralischen Sinne hat nach Nietzsche dazu geführt, im Leiden allgemein eine über die bloße Einbuße hinausgehende Bedeutung, eine göttliche oder sittliche Sanktion zu erkennen. Die Furcht vor den Göttern ließ die Gemeinwesen Straftaten und Katastrophen in ihrem Bereich als eigene Schuld begreifen: „sie empfindet die Schuld des einzelnen doch vor allem als ihre Schuld und trägt dessen Strafe als ihre Strafe", als Sanktion der Mißachtung der Sitten 38 . Das Leiden wird also von da an umgekehrt als Schuld interpretiert. Der Leidende wird „als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgend eines dämonischen Wesens, welches sich ihm infolge einer Schuld einverleibt hat" 3 9 . Demzufolge wird das Maß der Schuld nach dem eingetretenen Schaden bemessen und das Unglück als eine „adäquate Relation" zur Schuld angesetzt40. Die Auslegung alles Leidens unter der „Perspektive der Schuld" gab dem menschlichen Dasein lange Zeit seinen Sinn, bewahrte den Menschen davor, ein „Blatt im Winde" zu sein: „er konnte nunmehr etwas wollen — gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Mensch selbst war gerettet" 41 . Der Mensch war durch die Annahme des Kausalverhältnisses von Schuld und Leiden von der Vorstellung der Sinnlosigkeit seines Leidens und damit seines Daseins befreit. Diese Annahme festigte jedoch die Vorstellung, daß dem Leiden eine sittliche und soziale Bedeutung zukommt, so daß bis in die Gegenwart der Satz gilt: „Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens" 42 . Das Leiden sieht auch Nietzsche nunmehr nicht mehr als Indikator einer gleichwiegenden Schuld gewertet, sondern mit zunehmendem demokratischen Verständnis als gleichsam „adäquate Relation" zu einem Anspruch im rechtlichen oder auch sozialen Sinne. Nietzsche hebt die Zusammengehörigkeit der Forderung nach „,Gleichheit der Rechte' und ,Mitgefühl für alles Leidende'" hervor 43 . Darin sieht Nietzsche den Einfluß einer moralischen Wertung, welche das allgemeine Wohlbefinden zum Ziel hat und das Leiden als etwas nimmt, das es abzuschaffen gilt. Auch Nietzsche deutet auf die sittlich-soziale Bedeutung des Leidens in der Gegenwart hin und sieht darin eine Tendenz zur Begründung von rechtlichen Garantien und Ansprüchen.

37

as

G M I I 4. 9

M

39

M 202.

40

M 78. G M I I I 28. G M I I 7. JGB 44; W M 957.

41 42 43

Dritter Abschnitt

Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht § 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft 1. Entstehung des Staates aus der Gewalt Nietzsches Äußerungen über die Entstehung und das Wesen des Staates gehen von dem Merkmal aus, das Ihering „die psychologische Zwangsgewalt der Gesellschaft" genannt hat 1 , also von dem Merkmal der Zwangsgewalt sittlicher Normen. „Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte", sieht Nietzsche in der drückenden „Enge und Regelmäßigkeit der Sitte" 2 . Der von der staatlichen Gewalt ausgehende Zwang, wie er in den Normen des Rechts und der Sitte seinen Ausdruck findet, „verbietet gewisse Handlungen in einer bestimmten Richtung, namentlich insofern sie gegen die Gemeinde sich wenden: sie verbietet nicht die Gesinnung, aus der diese Handlungen fließen, — denn sie hat dieselben Handlungen in einer anderen Richtung nötig, nämlich gegen die Feinde der Gemeinschaft" 3 . Indem Nietzsche das Wesen staatlichen Zwanges in der Verwirklichung sittlicher Normen zur Sicherung der „Erhaltungsbedingungen einer Gemeinde" sieht, scheint Nietzsche den von staatlichen Institutionen ausgehenden Zwang mit dem von sittlichen Normen, also von der Gesellschaft, ausgehenden Zwang gleichzusetzen, worin eine Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft liegen könnte. Soweit Nietzsche staatlichen Zwang auf die Verwirklichung sittlicher Normen zurückführt, setzt er jedoch damit Staat und Gesellschaft nicht gleich, sondern bestimmt deren Verhältnis zueinander in eben der Art, wie es Ihering tut, wenn dieser feststellt, daß sich die Begriffe Gesellschaft und Staat „zum Teil" decken. „Aber auch nur zum Teil: soweit nämlich, als der Gesellschaftszweck zu seiner Realisierung der Vermittlung durch äußeren Zwang bedarf' 4 . Gerade in dem von sittlichen Normen ausgehenden Zwang erkennt auch Nietzsche die notwendige Vereinigung von Staat und Gesellschaft. Die „staatliche Organisation" verlangt nach Nietzsche, daß der Mensch „endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen" wird, „in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte" 5 . 1 2 3 4 5

Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, S. 179. G M I I 16. W M 204. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 96. G M , ebd.

76

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

Staatlicher Zwang innerhalb rechtlicher Normen erscheint als „realistische Formulierung gewisser Erhaltungsbedingungen" der Gesellschaft 6. Als Aufgabe der gesellschaftlichen Ordnung erkennt Ihering die „Organisation des sozialen Zwanges", welche aus dem Staat und dem Recht besteht7. Ihering unterscheidet innerhalb des sozialen Zwanges zwischen einem äußeren und einem inneren. Der soziale Zwang besteht nach außen in der Staatsgewalt: „Staat ist die Gesellschaft selber als Inhaberin der organisierten Zwangsgewalt" 8 . Das Recht bestimmt ergänzend dazu die Grundsätze betreffend die Ausübung der Zwangsgewalt. Ihering weist auf die Bedingtheit des Rechts durch den Staat hin, in deren Anerkennung er einen Fortschritt gegenüber älteren Naturrechtslehren erkennt, verwirft jedoch die Auffassung, „den historischen Staat aus dem Vertrage hervorgehen" zu lassen9. Darin, die Entstehung des Staates aus dem Vertrag abzuleiten, sieht Ihering „eine reine Construktion ohne Berücksichtigung der wirklichen Geschichte, eine Entwicklungsgeschichte, die sich nicht die Mühe nahm, die Entwicklung selber zu erforschen" 10 . Während Ihering dazu neigt, in Anlehnung an das römische Recht, „die staatliche Gemeinschaft als ein Vertragsverhältnis" und den Zustand der rechtlich verfaßten Gesellschaft als den der „Verträglichkeit" anzusehen11, erkennt er die Entstehung des Staates in der Gewalt 12 . Die Entstehung des Staates leitet Nietzsche aus dem Wesen der Staatsgewalt als der alle anderen Kräfte unterwerfenden Macht her, in deren Erlangung Ihering die oberste Aufgabe des Staates sieht. Der Staat entsteht nach Nietzsche dadurch, daß „die Einfügung einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende geführt wurde, — daß der älteste ,Staat4 demgemäß als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis solcher Rohstoff von Volk und Halbtier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war" 1 3 . Nietzsche sieht also den Staat aus der Gewalt entstanden und verwirft in Übereinstimmung mit Ihering die These, wonach am Anfang des Staates der Vertrag steht. „Dergestalt beginnt ja der, Staat4 auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgetan, welche ihn mit einem »Vertrage4 beginnen ließ. Wer befehlen kann, wer von Natur ,Herr 4 ist, wer gewalttätig in Werk und Gebärde auftritt — was hat der mit Verträgen zu schaffen!" 14 . Es stellt sich 6

W M , ebd. Ihering, ebd., S. 306. 8 Ihering, ebd., S. 240. 9 Ihering, ebd., S. 241. 10 Ihering, ebd., S. 242. 11 Ihering, Geist des römischen Rechts, § 15, S. 209. 12 Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 311. 13 G M I I 17. 14 G M , ebd. 7

§ 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft

77

jedoch angesichts dieser Übereinstimmung mit Ihering hinsichtlich der Entstehung und des Wesens des Staates die Frage, ob Nietzsche auch betreffend das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und deren unterschiedliche Aufgaben Iherings Lehre zustimmt. 2. Obligation als Modell gesellschaftlicher Macht Nietzsche sieht „das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigem Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern" 15 . Damit charakterisiert Nietzsche das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft sicherlich als ein Vertragsverhältnis, wie dies oben bereits dargelegt wurde 16 . Das bedeutet jedoch noch nicht, daß Nietzsche ebenso wie Ihering das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft als ein solches der „Coordination" ansieht. Im Rahmen seiner Darstellung des römischen Rechts stellt Ihering fest, „daß auch das Verhältnis des Einzelnen sowie der Gens zum Gesamtstaat das der Coordination ist" und Beschränkungen des Einzelnen „nicht auf der Idee staatlicher Unterordnung beruhen", sondern auf der Vorstellung, daß sich der Einzelne durch Abschluß eines Vertrages den Bedingungen der Gens und denen des Staates unterwirft 17 . Ihering legt diesen Gedanken über die Darstellung des römischen Rechts hinaus auch seiner Rechtslehre zugrunde. „Eine Gesellschaft in diesem juristischen Sinn" setzt nach Ihering einen „auf ihre Errichtung und Regelung gerichteten Vertrag, den Gesellschaftsvertrag voraus" 18 . Die Notwendigkeit und das konkludente Zustandekommen eines solchen Vertrages erweist sich für Ihering durch „das Faktische der Gesellschaft: die Cooperation zu gemeinsamen Zwecken" 19 . Die übernommene Vorstellung des Verhältnisses des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft als einem Verhältnis der „Coordination" dient Ihering m.E. zur Stützung seines Satzes, zu welchem er immer wieder zurückkehrt, wonach dieses Verhältnis durch „den Gedanken der Gesellschaft" geprägt wurde, „durch Andere zu leben" 20 . Daß Nietzsche das Wesen der Gesellschaft und das Verhältnis des Einzelnen zu ihr zumindest im Ansatz ebenso einschätzt, läßt sich nach dem bisher Festgestellten nicht einfach bejahen. Es ist vielmehr festzustellen, daß sich Nietzsches Äußerungen über das Wesen der Gesellschaft immer wieder auf die Macht beziehen; so spricht er ζ. B. vom „Machtbewußtsein der Gesellschaft" 21 . Da Nietzsche das Verhältnis der „Gemeinwesen" zum Einzelnen als dem „Grundverhältnis" des Gläubigers zu 15 16 17 18 19 20 21

G M I I 9. s.o. unter § 1.3.a). Ihering, Geist des römischen Rechts, § 14, S. 189, 190. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 94. Ihering, ebd. Ihering, ebd., S. 245. G M I I 10.

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3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

seinen Schuldnern charakterisiert, führt dies zu der Annahme, daß Nietzsche das Rechtsverhältnis der römischen Obligation, welchem er besondere Beachtung geschenkt hat und dessen zentrale Bedeutung in Hinsicht auf das Recht er immer wieder hervorgehoben hat, auch insoweit als das entscheidende Merkmal ansieht. Nietzsche erkennt in dem Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner das ursprüngliche „Personen-Verhältnis" und das Wesen aller personenrechtlichen Verhältnisse: „hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person" 22 . Die Möglichkeit der Ausgestaltung rechtsgeschäftlicher Verhältnisse als Machtverhältnisse, wie sie die römische Obligation gewährte, führte nach Nietzsche allgemein zu der Vorstellung und Gewohnheit, durch Begründung von Vertrags- und Rechtsverhältnissen insgesamt „Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen" 23 . Nietzsche sieht diese Vorstellung und Ausgestaltung der ersten personenrechtlichen Verhältnisse von dem Vertrag „erst auf die gröbsten und anfanglichsten Gemeinschafts-Komplexe (in deren Verhältnis zu ähnlichen Komplexen) übertragen". Damit deutet Nietzsche auf die Gestalt des Rechts hin, wie sie sich im Völkerrecht zeigt und welche auch Ihering mehrfach zur Bestimmung des Rechts angeführt hat. Dort erscheint nach Ihering wie im Verhältnis der Individuen zueinander die „Rechtsfrage" als „Machtfrage" 24 . Nietzsche erkennt daher m.E. in der vertraglichen Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses als Machtverhältnis, um Macht an Macht zu messen, das Verhältnis der Gesellschaft zum Einzelnen; nur insoweit stellt sich auch nach Nietzsche dieses Verhältnis als ein vertragliches dar. Dieses Verhältnis stellt sich jedoch nach Nietzsche nicht als ein solches der Gleichordnung oder Koordination dar, sondern wird allein durch die Machtverhältnisse bestimmt. Dem Einzelnen wird von der Gesellschaft und ihrer Ordnung Rechtssicherheit und Schutz gegen äußere Feinde und Schädigungen gewährt; er hat „sich gerade in Hinsicht auf diese Schädigungen und Feindseligkeiten der Gemeinde verpfändet und verpflichtet" 25 . Rechtssicherheit und Schutz kann die Gesellschaft nur aufgrund ihrer höheren Machtstellung gewährleisten, welche auf der Möglichkeit der Ausübung des Zwanges durch Normen der Sitte und des Rechts beruht. Den Einzelnen sieht Nietzsche daher vor allem durch den von der Sitte ausgehenden Zwang „in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen"26. Wer gegen die Normen der Gesellschaft verstößt, ist vor allem „ein Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Anteil gehabt hat" 2 7 . Die Macht des „Gemeinwesens" zeigt sich gegenüber dem Einzelnen als Schuldner, der die Gegenleistung für die „ihm erwiesenen Vorteile und Vorschüsse" nicht erbracht hat, in ihrer ursprünglichen 22 23 24 25 26 27

G M I I 8. G M , ebd. Ihering, ebd., S. 306. G M I I 9. G M I I 16. G M I I 9.

§ 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft

79

Gestalt. „Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens, gibt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war: es stößt ihn von sich — und nun darf sich jede Art Feindlichkeit an ihm auslassen"28. Abgesehen von dem Gedanken des römischen Rechts, wonach öffentliches Recht und Privatrecht ursprünglich eine Einheit bilden und der Ausgeschlossene demzufolge rechtlos ist 2 9 , betreffen diese Äußerungen Nietzsches die von Ihering eingehend untersuchte Frage, wie das Recht „das Übergewicht der Macht auf seine Seite bringen", d. h. gegenüber dem Einzelnen erlangen kann 3 0 . Dies wird nach Ihering durch ein Interesse an der „Gegenseitigkeit des Schutzes (Schutz- und Trutzbündnis)" erreicht, dadurch, daß die gesellschaftlichen Interessen die des Einzelnen überwiegen. Die „Sozietät" schafft nach Ihering „historisch den Übergang vom Individuum zum Staat", indem sie an die Stelle zweier gleichwertiger Einzelinteressen dem Einzelinteresse das „Gemeininteresse" gegenüberstellt, was etwas anderes bedeutet, als bloß eine Vereinigung der Mehrheit und deren Interessen gegen den Einzelnen 31 . Das höherwertige Interesse der Gesellschaft bildet als das übergeordnete Interesse des Einzelnen das Recht. Das Recht gelangt deshalb dadurch zur Macht, „ — und nunmehr erlaube man mir den Ausdruck Societät mit Gesellschaft zu vertauschen — daß die Gesellschaft mächtiger als der Einzelne" ist, das Übergewicht der Macht auf der Seite der Gesellschaft, „d.h. auf Seiten des Rechts" besteht 32 . Sehr wichtig hinsichtlich Nietzsches Auseinandersetzung mit den Schriften Iherings erscheint, das Iherings Ausführungen zur Frage, wie das Recht zur Macht gelangt, aus seiner Analyse der römischen Obligation beginnen, jenes Instituts also, dem Nietzsche für das Verhältnis der Gesellschaft zum Einzelnen entscheidende Bedeutung beimißt. Ihering erkennt in der Obligation, welche die Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses als Machtverhältnis ermöglicht und vorsieht, die „Vorstufe" des staatlichen Zwanges, nämlich den „individuellen" Zwang. In der Obligation tritt nach Ihering mehr als „die abstrakte Idee des Willens oder was dasselbe sagt: der formale Begriff des Versprechens" hervor 33 . A n dieser Äußerung Iherings wird noch einmal sehr deutlich, daß Nietzsche, soweit er den Begriff des „Versprechens" auf den Willen bezieht und vom „Gedächtnis des Willens" spricht 34 , von der römischen Obligation ausgeht, und in diesem Institut die besondere Ausprägung des Willens im Recht erkennt, wie auch Ihering dies beiläufig erwähnt. Über den Bereich des Rechts hinaus bedeutet für Nietzsche die Fähigkeit, versprechen zu dürfen, ein wesentliches 28 29 30 31 32 33 34

G M , ebd. dazu oben unter § 1.3.a). Ihering, ebd., S.291. Ihering, ebd., S. 292. Ihering, ebd., S. 294. Ihering, ebd., S. 287, 288. G M II, 1, 2, 3, 5.

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3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

Merkmal des Willens und seiner Äußerung: „Dieser Freigewordene, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens . . . " 3 5 . Nach Ihering verwirklicht sich in der Obligation neben der „Idee des Willens" das höherwertige Interesse der Gesellschaft an der Erhaltung des Einzelnen und die Sicherung der dazu erforderlichen Lebensbedingungen: „bedingt und bestimmt durch das, was als Lebensbedingung und Lebensziel empfunden wird, und zwar nicht von einem einzelnen,..., sondern von dem typischen Individuum dieser bestimmten Zeit d. i. von der ganzen Gesellschaft" 36 . In der Bedeutung der Obligation für die Sicherung der Lebensbedingungen über das Interesse des Einzelnen hinaus erkennt Ihering das entscheidende Merkmal des gesellschaftlichen Interesses, welches sich in der Obligation mit dem Merkmal des Zwanges verbindet und deshalb rechtliche Qualität bekommt, also zum Recht erstarkt. Die Sicherung der Lebensbedingungen, das Interesse der Gesellschaft „postuliert den Zwang, mit diesem Postulate ist aber das Recht postuliert als die Organisation des Zwanges" 37 . Aufgrund der Verbindung des gesellschaftlichen Interesses mit den vertraglich begründeten Machtbefugnissen des „individuellen Zwanges" stellt sich Ihering die Obligation als „Vorstufe" des gesellschaftlichen Zwanges und damit der Zwangsgewalt des Staates dar. Diese Merkmale sieht auch Nietzsche als entscheidend für das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis des „Gemeinwesens zu seinen Gliedern" an; der Einzelne hat sich in Hinsicht auf die Beeinträchtigungen, die dem Rechtlosen außerhalb der Gesellschaft drohen, „der Gemeinde verpfändet und verpflichtet" und damit die Gesellschaft bereichert, die nun an seiner Erhaltung ein Interesse hat 3 8 . Bricht der Einzelne den Vertrag mit der Gesellschaft, erweist er sich als „ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vorteile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift" 39 . Nietzsche sieht den Einzelnen dann der vollen Härte der Machtbefugnis ausgeliefert, welche der Einzelne dem Gläubiger vertraglich analog dem Verhältnis der Obligation eingeräumt hat. „Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann", indem sich nun „jede Art Feindseligkeit" an dem Vertragsbrüchigen auslassen darf 4 0 . Es bleibt indessen noch zu untersuchen, ob Nietzsche in der Weise zwischen Staat und Gesellschaft trennt, daß er die Zwangsgewalt, worauf die Macht der Gesellschaft beruht, allein vom Staat ausgehen sieht oder eher von der Gesellschaft, soweit sie nicht als Staat erscheint, d.h. von sittlichen Normen. Ihering begreift die Sozietät als den „Übergang vom Individuum zum Staat", weil die Interessen der Gesellschaft die höherwertigen Interessen des einzelnen, die Sicherung der Lebensbedingungen, enthalten. Die schutzwürdigen Interes35 36 37 38 39 40

G M I I 2. Ihering, ebd. Ihering, ebd., S. 288 und 306. G M I I 9. G M , ebd. G M , ebd.

§ 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft

81

sen der Gesellschaft „nennen wir Recht", wogegen die Einzelinteressen zurücktreten 41 . Da das Recht nach Ihering aus der Gewalt entsteht und lediglich eine andere Erscheinungsform der Gewalt ist 4 2 , bedarf es des Übergewichts der Macht auf der Seite der Gesellschaft, „d. h. auf Seiten des Rechts" 43 . Es geht also hier wiederum um die Frage, wie das Recht zur Macht gelangt. Die Gesellschaft, das Recht, erfordert die „Organisation der sozialen Zwangsgewalt" und daher den Staat, die Herstellung der Staatsgewalt; es „drängt das Recht zum Staat" 4 4 . Die Erhaltung der Lebensbedingungen als der „Daseinszweck des Individuums" ist ohne Gewalt und damit ohne das Recht nicht zu realisieren 45. Staat und Gesellschaft sieht Ihering durch die Ausübung sozialen Zwanges vereint: „Die Gesellschaft als Inhaberin der Zwangsgewalt ist der Staat" 4 6 . Durch das „Problem der Herstellung des sozialen Zwanges" sieht Ihering dagegen Staat und Gesellschaft geschieden, da die Macht des Staates an den Grenzen des Staatsgebiets ende, die Macht der Gesellschaft jedoch nicht. Das Bestehen und Gedeihen der Gesellschaft erfordert indessen die Unterwerfung jeder anderen Macht, „die des Einzelnen oder der Vielen", unter die Staatsgewalt; Ohnmacht der Staatsgewalt bedeutet Auflösung der Gesellschaft 47. Die Bedingtheit der Gesellschaft und des Rechts durch die Staatsgewalt ergibt sich für Ihering u. a. aus dem bereits oben zitierten Beispiel in der Geschichte Roms, wonach die römischen Caesaren die Staatsgewalt nach dem Verfall zur Zeit der Bürgerkriege unter äußerster Grausamkeit wieder aufrichteten, bis der Beweis erbracht war, daß die Staatsgewalt „wiederum zu Kräften gekommen sei und keine Macht auf Erden mehr zu fürchten habe — erst als der Beweis erbracht war, trat das Maß ein" 4 8 . In dieser Bedingtheit des Rechts durch den Staat, in der Notwendigkeit, der Gesellschaft, die sich durch ein Rechtsverhältnis zum Einzelnen konstituiert, das Übergewicht der Macht gegenüber allen anderen Kräften zu verschaffen, erkennt Nietzsche ebenfalls das Wesen der Gesellschaft. „ M i t erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maße wie früher für das Bestehen des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen" 4 9 . Nietzsche führt als Beispiel dafür, daß der Machtzuwachs der Gesellschaft den Fortschritt des Rechts bedingt, wiederum die Vorstellung des römischen Rechts von der Einheit des öffentlichen und des Privatrechts an, wonach der aus der Gens und dem 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Ihering, Ihering, Ihering, Ihering,

ebd., ebd., ebd., ebd.,

S. 292. S. 250, 253. S. 294. S. 310 und S. 79.

Ihering, ebd., S. 289. Ihering, ebd., S. 295. Ihering, ebd., S. 311. s.o. unter § 1.3.a), Fn. 73. G M I I 10.

6 Kerger

82

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

Staat ausgestoßene rechtlos wird: „der Übeltäter wird nicht mehr ,friedlos gelegt' und ausgestoßen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaßen zügellos an ihm auslassen"50. Dieser Hinweis scheint auf den ersten Blick völlig im Einklang mit der Auffassung Iherings zu stehen. Ihering sieht mit dem Erreichen des Übergewichts der Staatsgewalt über jede andere Macht den Bestand der Gesellschaft und des Rechts gesichert. Nur insoweit und bis dahin hat nach Ihering das Recht die Staatsgewalt nötig, von dort an hat die Staatsgewalt „das Recht nötig", kommt dem Recht die Aufgabe zu, die Staatsgewalt zu mäßigen 51 . Nietzsche sieht dagegen die Entwicklung des Rechts allein von dem Grad der Macht der Gesellschaft abhängig. Der Machtzuwachs der Gesellschaft, nicht das Recht allein, setzt nach Nietzsche der Staatsgewalt die Schranken und führt eine Mäßigung und Milderung gegenüber dem Einzelnen herbei. Die überwiegende Macht der Gesellschaft ist für Nietzsche nicht bloß die Voraussetzung dafür, daß das „Recht zur Gewalt" gelangt, sondern allein die Macht der Gesellschaft bestimmt auch weiterhin das Recht, nachdem die Staatsgewalt das Übergewicht der Macht erlangt hat und ungefährdet ist. „Wächst die Macht und das Selbstbewußtsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefahrdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht. Der ,Gläubiger' ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Maß seines Reichtums, wieviel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden" 52 . Wie Ihering ordnet also auch Nietzsche das Recht deshalb der Gesellschaft zu, weil es das Interesse der Gesellschaft an der Sicherung der Lebensbedingungen schützt. Das Recht dient dem Schutz gegen „Beeinträchtigung" des gesellschaftlichen Interesses; das gesellschaftliche Interesse umfaßt die Lebensbedingungen/des „typischen" Individuums, so wie es Ihering in Hinsicht auf seine Erscheinung in der römischen Obligation erkennt. „ M i t erstarkender Macht" der Gesellschaft sieht Nietzsche daher von nun an den Rechtsbrecher „gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten vorsichtig von Seiten des Ganzen verteidigt und in Schutz genommen" 53 . Die immer umfassender werdende Macht der Gesellschaft führt also nach Nietzsche dazu, den Rechtsbrecher nicht mehr wie einen Rechtlosen zu behandeln, sondern das gesellschaftliche Interesse an ihm zu bejahen und allein deshalb auch dem Rechtsbrecher Rechte einzuräumen. Der Machtzuwachs der Gesellschaft bedeutet einen Zuwachs an Rechtssicherheit, wodurch gerade der Rechtsbrecher vor der Rache des Verletzten geschützt wird, worauf auch Ihering hinweist 54 . Der Rechtsbrecher wird dadurch in Schutz genommen, daß „Äquivalente" von Schädigungen statuiert werden und „jedes Vergehn als in irgendeinem Sinne abzahlbar" genommen wird, wodurch 50 51 52 53 54

G M , ebd. Ihering, ebd., S. 310. G M I I 10. G M , ebd. Ihering, ebd., S. 543.

§ 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft

83

die Gläubigerstellung der Gesellschaft gegenüber dem nicht mehr rechtlosen Rechtsbrecher erhalten bleibt. Nietzsche hält daher bei einem Maximum gesellschaftlicher Macht eine Aufhebung des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen für denkbar, wenn die Lebensbedingungen in einem solchen Umfang gesichert sind, daß eine Gefährdung ihrer Grundlagen durch einen Rechtsbruch nicht mehr zu erwarten ist und die Anwendung von Zwang und strafrechtlicher Sanktion deshalb nicht mehr notwendig erscheint. „Es wäre ein Machtbewußtsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt, — ihren Schädiger straflos zu lassen. ,Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!' " 5 5 . Über die Notwendigkeit der Hestellung der Staatsgewalt als überwiegender Macht hinaus erkennt Nietzsche somit eine Bedingtheit des Rechts durch die gesellschaftliche Macht. Die gesicherte Macht des Gemeinwesens als „Gläubiger" schützt den Rechtsbrecher davor, rechtlos zu werden und ermöglicht die Mäßigung in der Anwendung von Zwangsgewalt. Nietzsche verwendet den Begriff „Gemeinwesen" oft dort, wo er auf die Gesellschaft als Staat in Form staatlicher Zwangsgewalt und strafrechtlicher Sanktion hinweist; demgegenüber spricht er vom „Machtbewußtsein der Gesellschaft". Es wurde im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, daß Nietzsche den von der Gesellschaft ausgehenden Zwang vor allem von sittlichen Normen, von der „Sittlichkeit der Sitte" ausgehen sieht. Die Macht der Gesellschaft reicht über die staatliche Zwangsgewalt hinaus und beruht nach Nietzsche zuallererst auf sittlichem Zwang, welcher den Einzelnen dem „Bann der Gesellschaft und des Friedens" unterwirft 56 . Nietzsche sieht durch den von sittlichen Normen ausgehenden Zwang die „Verinnerlichung des Menschen" erreicht, indem „alle jene Instinkte des wilden, freien, schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten". Der gesellschaftliche Zwang in Gestalt sittlicher Normen nötigte den Einzelnen, sittlichen Zwang gegen sich selbst anzuwenden: „dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Tier, das man ,zähmen' will, dieser Entbehrende ..., der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildnis schaffen mußte — dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des schlechten Gewissens' " 5 7 . Nietzsche deutet an dieser Stelle wiederum auf die umfassende Einheit von sittlichem und staatlichem Zwang hin, dem der Mensch in dem gerade gewaltsam errichteten Staat ausgesetzt war. Der erste Staat als ein durch Gewalt entstandenes Gebilde, „als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie" schaffte mit „Künstler-Gewaltsamkeit ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt" und machte es „latent" 5 8 . Erst damit sieht Nietzsche das 55 56 57 58

6*

G M , ebd. G M I I 16. G M , ebd. G M I I 17.

84

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

„schlechte Gewissen" im Menschen entstanden. Die Macht der Gesellschaft erkennt Nietzsche nicht allein in staatlicher Zwangsgewalt, sondern vor allem in sittlichem Zwang. Aus Nietzsches Äußerungen ist die Vorstellung erkennbar, daß das Recht in einem „Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit" zur Macht der Gesellschaft über ihre Erscheinung als staatliche Gewalt hinaus steht. 3. Staat als Autorität der Person Ausgehend von der Vorstellung des römischen Rechts, wonach der Staat zum Einzelnen in einem vertraglichen Verhältnis der „Coordination" steht, und öffentliches Recht und Privatrecht eine Einheit bilden, weist Ihering auf die Idee der Identität des Einzelnen und des Staates hin. „Der Staat verhält sich zu den Bürgern ebenso wie die Gens zu den Gentilen, d.h. er ist nichts von ihnen Verschiedenes, nichts außer und über ihnen, sondern der Staat sind sie selbst" 59 . Hierin erkennt Ihering das von ihm so benannte „Prinzip des subjektiven Willens", nach dem alle Rechte und Verpflichtungen allein durch den Willen des Einzelnen begründet werden und der Ausschluß aus der Gens, aus Ämtern und schließlich aus dem Staat das Sanktionsmittel sowohl der sittlichen Censur als auch des Staates darstellen 60 . Aus diesem „Prinzip des subjektiven Willens" und aus der Idee der Identität des Staates und der Gesamtheit aller Bürger wie auch jedes Einzelnen sieht Ihering die Auffassung von dem „Staat als Persönlichkeit", von der res publica als dem allen Gemeinsamen erwachsen 61. Grundlage hierfür ist wiederum die Vorstellung der Einheit von öffentlichem Recht, auch im Verhältnis zu anderen Staaten, und Privatrecht: „Subjekt ist für beide die natürliche Person, und der Unterschied liegt nur darin, daß die Privatrechte auf den Einzelnen eine ausschließliche Beziehung haben, während an dem öffentlichen Jeder participiert" 62 . Die Idee des römischen Rechts von der Identität des Einzelnen und des Staates greift Ihering innerhalb seiner rechtsphilosophischen Lehre auf, um auch hiermit seine Auffassung von der Bedingtheit des Rechts durch den Staat zu stützen. Hierzu führt Ihering wiederum das Beispiel des Zerfalls der Staatsgewalt in der Geschichte Roms an, welche das gleichgewichtete Interesse der Gesellschaft und des Einzelnen an seiner Erhaltung und der Sicherung seiner Lebensbedingungen und damit die Bedingtheit des gesellschaftlichen Interesses, d.h. des Rechts, durch die Staatsgewalt erweise 63. Ihering beruft sich zum Nachweis des von ihm so benannten „subjektiven Prinzips" im römischen Recht weiterhin darauf, daß der Wille des Staates der Wille aller Bürger war, das Gesetz ein Vertrag, „eine auf das ganze Volk angewandte Obligationsform" 64 . 59 60 61 62 63

Ihering, Ihering, Ihering, Ihering, Ihering,

Geist des römischen Rechts, I. Buch, § 15, S. 210. ebd., § 14, S. 191 f. (195, 197). ebd., § 15, S. 210. ebd. Der Zweck im Recht, I. Band, S. 546, 547.

§ 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft

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Nietzsches Äußerungen zur Erscheinung des Staates als Person, als Wille der Person scheinen auf den ersten Blick zu der Vorstellung von der Identität des Staates und des Einzelnen keinen Bezug aufzuweisen. „ A n der Spitze der Staaten soll der höhere Mensch stehen: alle anderen Formen sind Versuche, einen Ersatz seiner sich selber beweisenden Autorität zu geben" 65 . Die folgende Äußerung belegt jedoch bereits, daß Nietzsche die Verantwortlichkeit des Staates auf die Verantwortlichkeit des Menschen als Person, als Einzelnen, zurückführt und in ihm m. E. aus demselben Grunde wie Ihering einen Ausfluß des menschlichen Willens, d.h. seiner Autorität, erkennt, was schließlich der Vorstellung von der Identität des Staates mit dem Einzelnen entspricht. „Die verfaulten herrschenden Stände haben das Bild des Herrschenden verdorben. Der,Staat', als Gericht übend, ist eine Feigheit, weil der große Mensch fehlt, an dem gemessen werden kann. Zuletzt wird die Unsicherheit so groß, daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, in den Staub fallen" 66 . Daß auch Ihering das von ihm so benannte „Prinzip des subjektiven Willens" auf der Autorität der Persönlichkeit beruhend ansah, ergibt sich aus seiner Darstellung der Machtbefugnisse der höchsten Beamten, der Magistrate, Consuln, Tribunen, welcher die sittliche Autorität des Senats gegenüberstand 67. Ihering hebt hervor, daß die Möglichkeiten und Befugnisse der Magistrate und Consuln von der Autorität ihrer Person, ihrem Ansehen nach Verdienst, Geschlecht usw. abhing. „Jene römischen Gewaltverhältnisse aber, wie sie den entscheidenden Akzent auf die Persönlichkeit werfen, von dem freien Schwünge derselben alles hoffen und erwarten, sind eben darum in ihren Resultaten, ja in ihrem jeweiligen Machtgehalt wesentlich von der Person abhängig" 68 . Nietzsche fordert die Autorität des „großen Menschen", der Person als Grundlage der Macht des Staates, weil nur einzelne sich verantwortlich fühlen und das Maß der Verantwortlichkeit setzen können. „Grundsatz: nur einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um Dinge zu tun, zu denen der einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über das Wesen des Menschen, als das Individuum, welches zu schwach ist" 6 9 . Die Macht der Gesellschaft als Staat sieht Nietzsche also durch die Verantwortlichkeit bedingt, welche eine hinter dem Staat stehende Autorität erfordert. Der Staat als solcher kann durch Errichtung einer bestimmten Verfassung als Staatsform dieser Bedingtheit von Autorität und Verantwortlichkeit nicht gerecht werden, „aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für Das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid u. s. w . ) " 7 0 . Nietzsche fordert somit, 64

Ihering, Geist des römischen Rechts, ebd., § 15, S. 216.

65

Nachlaß, 2. Teil, 770. W M 750. Ihering, Geist des römischen Rechts, II. Buch, § 35, S. 260f. (281). Ihering, ebd., S. 286. W M 716. W M 718.

66 67 68 69 70

86

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

daß der Gehorsam des Einzelnen gegenüber dem Staat ein Gehorsam gegen die Autorität des Menschen als Person zu sein hat, um die Verantwortlichkeit herstellen zu können, zumal „der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist, als der Mensch als,Einheit' " 7 1 . Die Vorstellung der Bedingtheit der Verantwortlichkeit als Macht durch die Autorität der Person geht zurück auf das römische Recht. Der „Gedanke der Macht" als „sittlich berechtigter Ausdruck" der Persönlichkeit und seiner Lebensbedingungen zeigt sich nach Ihering im römischen Recht auch darin, daß der Mann das Amt machte und dem Amtsinhaber nur soviel Verantwortlichkeit und Kompetenz zugestanden wurde, wie der Autorität seiner Person entsprach. Die aus der Amtsinhaberschaft sich ergebenden Rechte „richten sich nach der Größe ihres Trägers; weit oder elastisch genug, um auch dem mächtigsten Charakter die nötige Ausdehnung zu verstatten, schrumpfen sie zusammen, wie das Kleid in der Sage, am Körper des Kleinen" 7 2 . Ihering erkennt auch hierin einen Ausfluß des Prinzips im römischen Recht, Rechtsverhältnisse als „Herrschaftsverhältnisse" zu begreifen und damit auf ihren juristischen Gehalt zu reduzieren, nämlich „Willensmacht, Herrschaft" 73 . Die Beschränkung der Macht hatte allein durch den Zwang sittlicher Normen zu erfolgen. Im gesamten römischen Recht sieht Ihering die „Idee der Persönlichkeit" verwirklicht: „Das ganze Recht war ein praktischer Hymnus auf den Wert und den Beruf der Persönlichkeit" 74 . Die „Idee der Persönlichkeit", der Autorität der Person, ergibt sich also nach Ihering ebenfalls aus der Charakterisierung der Rechtsverhältnisse als Machtverhältnisse, als „Willensmacht". Iherings Absicht ist es daher, über die Darstellung des römischen Rechts hinaus „einer Zeit wie der unsrigen, die in Wissenschaft und Leben das Recht und die Macht der Persönlichkeit nicht selten so gründlich mißachtet hat, einen Spiegel vorzuhalten, aus dem sie erkennen kann, wie sie ist, und was ihr fehlt" 7 5 . Nietzsche fordert durchaus in diesem Sinne, „aus sich eine ganze Person" erst zu machen, nachdem die Persönlichkeit dem Staat als Opfer dargeboten worden sei 76 . Es findet sich schließlich sowohl bei Nietzsche als auch bei Ihering der Gedanke, daß der „Trieb der Erhaltung" die Vorstellung der Gesellschaft als Einheit der Person voraussetzt, welche das gesellschaftliche Interesse an der Sicherung der Lebensbedingungen zum Recht werden läßt: „So handelt der Gewalttätige, der Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt" 7 7 . Dies entspricht genau dem Gedanken Iherings, welcher „die 71 72 73 74 75 76 77

W M 716. Ihering, ebd., Ihering, ebd., Ihering, ebd., Ihering, ebd., M A 95. M A 99.

§ 35, § 31, § 36, § 35,

S. 287. S. 140 und § 36, S. 293. S. 303. S. 291.

§ 7 Bedeutung des Staates für die Gesellschaft

87

Vorstellung der Persönlichkeit der Gesellschaft" als notwendig erachtet, „um das Gesetz der Selbsterhaltung auf die Gesellschaft zu übertragen" 78 . Nach Ihering ergibt sich aus dem Merkmal der „Selbsterhaltung" in Hinsicht auf die Geltung sittlicher Normen, was Ihering wiederholt in dem Satz zusammenfaßt: „die Gesellschaft ist Zwecksubjekt des Sittlichen" 79 . Die Sittlichkeit dient demnach allein dem gesellschaftlichen Interesse und berechtigt ausschließlich die Gesellschaft. In dem Merkmal der Existenzsicherung, der „Selbsterhaltung", erkennt Ihering wie auch Nietzsche das Zusammenfallen des Interesses der Gesellschaft und das des Einzelnen, woraus sich nach Ihering das höherwertige Interesse der Gesellschaft an der Erhaltung der Lebensbedingungen als „das Recht" gegenüber den Einzelinteressen ergibt. I m gleichen Sinne erkennt auch Nietzsche das Interesse an der eigenen Erhaltung als „das Recht" des Einzelnen wie auch des Staates: „Der einzelne kann im Zustand, welcher vor dem Staat liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln, um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicherzustellen . . . . Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt" 8 0 . Diese Sätze Nietzsches sind vor dem Erscheinen der Schrift „Der Zweck im Recht" entstanden. Die „Zurückführung des Sittlichen auf den Selbsterhaltungstrieb" ermöglicht für Ihering die Vorstellung der Gesellschaft als einem „zur Einheit der Persönlichkeit zusammengefaßten" Wesen 81 . Die Gleichstellung der Sittlichkeit mit dem gesellschaftlichen Nutzen läßt Ihering zu dem Satz gelangen: „ A n dieser Personification der Gesellschaft hängt nach meinem Dafürhalten die ganze Ethik" 8 2 . Nach Nietzsche bestehen dagegen, wie bereits an anderer Stelle dargelegt wurde, moralische Wertungen unabhängig von der Erhaltung bestimmter Daseinsbedingungen und unterscheiden sich dadurch von der Sittlichkeit: „weil der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist als der Mensch als,Einheit'. Die,Gesellschaft' hat die Tugend nie anders angesehen, als als Mittel der Stärke, der Macht, der Ordnung" 8 3 . Nietzsche erkennt daher auch den Staat lediglich als Mittel zur Sicherung der Lebensbedingungen, der sich die Rechte nimmt, wie es der Einzelne vor der Existenz des Staates getan hat, als Autorität der Sittlichkeit, soweit die Autorität der Person nicht vorhanden ist: „Die Feigheit und das schlechte Gewissen der meisten Fürsten hat den Staat erfunden und die Phrase vom bien public. Der rechte Mann hat es immer als Mittel in seiner Hand benutzt, zu irgend einem Zwecke" 84 .

78 79 80 81 82 83 84

Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, S. 193. Ihering, ebd., S. 191, 192. M A , ebd. Ihering, ebd., S. 191, 196. Ihering, ebd., S. 192. W M 716. Nachlaß, 2. Teil, 786.

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

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§ 8 Utilitarismus als Grundlage der sittlich-sozialen Normstruktur des Rechts 1. Iherings Lehre vom sittlichen Zweck des Utilitarismus Als Voraussetzungen für die Sicherung der Lebensbedingungen ergeben sich nach Ihering drei Merkmale, nämlich die Schaffung einer gesellschaftlichen Ordnung, welche die „gesellschaftliche Norm" erzeugt, sowie die Sicherung der Befolgung dieser Norm „als bloßer Imperativ", welche nur durch „gesellschaftlichen Zwang" möglich ist 1 . Allein die Voraussetzung des gesellschaftlichen Zwanges erfordert nach Ihering die Gliederung der gesellschaftlichen Ordnung in eine Rechtsordnung und eine „sittliche Ordnung", welche dem „Rechtsgesetz" das „Sittengesetz" zur Seite treten läßt 2 . Als Ausprägung sittlichen Zwanges erkennt Ihering die „psychologische Zwangsgewalt der Gesellschaft", welche über den staatlichen Zwang hinaus den Einzelnen in unbegrenztem Maße erreichen kann und so eine notwendige Ergänzung zur staatlichen Zwangsgewalt bildet. Die sittliche Ordnung und ihre Normen umfassen nach Ihering das gesamte menschliche Dasein, also auch in ökonomischer Hinsicht, woraus ihre gesellschaftliche Bedeutung als „Zucht- und Erziehungsgewalt der Gesellschaft" erwächst 3. Die sittlichen Normen haben den Bestand und das Gedeihen der Gesellschaft „zum Zweck", woraus folgt, daß sich die sittliche Ordnung auf alle menschlichen Äußerungen erstreckt, welche zur Erhaltung der Lebensbedingungen geeignet sind 4 . Die sittliche Ordnung gebietet daher die Selbsterhaltung und deckt sich insoweit mit dem „Naturgesetz" 5 . Die Selbsterhaltung wird jedoch erst durch das gesellschaftliche Interesse an der Erhaltung des Einzelnen zu einem sittlichen Gebot. Dieses höherwertige gesellschaftliche Interesse an der Erhaltung der Lebensbedingungen des Einzelnen läßt die Selbsterhaltung als sittliches Gebot dem Einzelinteresse gegenübertreten. Ihering ist deshalb an der „Personification" der Gesellschaft als „Zwecksubjekt" gelegen, „um das Gesetz der Selbsterhaltung" auf die Gesellschaft übertragen zu können 6 . Denselben „Trieb zur Selbsterhaltung", der beim Individuum als Egoismus erscheint, erkennt Ihering als sittliches Gebot und als Wesen der Sittlichkeit in Hinsicht auf die Gesellschaft. „Das Sittliche ist nichts als der Egoismus in höherer Form; der Egoismus der Gesellschaft" 7. Der Egoismus als Ausdruck der menschlichen Selbsterhaltung, die sich ihrer bewußt geworden ist, erlangt jedoch erst dadurch sittliche Qualität, daß die Selbsterhaltung des Einzelnen „durch seine gesell1 2 3 4 5 6 7

Ihering, Ihering, Ihering, Ihering, Ihering, Ihering, Ihering,

Der Zweck im Recht, II. Band, S. 174f. (175, 177). ebd., S. 179. ebd., S. 178 und 181. ebd., S. 183. ebd., S. 192. ebd., S. 193. ebd., S. 195.

§ 8 Utilitarismus als Grundlage der sittlichen Normstruktur

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schaftliche bedingt ist", d.h. durch die geschichtlich-gesellschaftliche Erfahrung 8 . In der Zurückführung sittlicher Normen auf den „Selbsterhaltungstrieb" sieht Ihering die Möglichkeit, darin ein Produkt geschichtlicher Erfahrung der Gesellschaft zu sehen. Der Gedanke der Selbsterhaltung in Hinsicht auf die Gesellschaft bildet für Ihering einen Anwendungsfall seiner geschichtlichgesellschaftlichen Theorie des Rechts. Sprachlich stellt Ihering den durchaus philosophischen Gehalt dieses Gedankens als „Behauptung des Daseins" heraus und verwendet damit den Begriff des Daseins in vergleichbarem Sinn wie Nietzsche, welcher vom Leben als dem „Einzelfall" des Daseins spricht. Ihering vollzieht den Schritt von dem sittlichen Gebot der Selbsterhaltung zum Utilitarismus, indem er das Dasein bedingt durch das „Wohlsein" und die „Lust" ansieht. „Vom Standpunkt des Subjekts aus ist das Wohlsein der letzte Zweck der Behauptung des Daseins, das bloße Dasein ist nur der leere Rahmen, bestimmt, das Wohlsein in sich aufzunehmen" 9 . Hieraus ergibt sich für Ihering „die sittliche Berechtigung des Strebens nach Wohlsein". Den Unterschied des Utilitarismus zu der eudämonistischen Lehre seit Aristoteles begreift Ihering darin, daß der Utilitarismus von der geschichtlichen Wirklichkeit des gesellschaftlichen Nutzens ausgehe, während dagegen die eudämonistische Lehre auf die Glückseligkeit des Einzelnen gerichtet sei 10 . Ihering fordert deshalb einen „gesellschaftlichen Eudämonismus" als Prinzip der sittlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Nur ein an den konkreten gesellschaftlichen Interessen orientierter Utilitarismus kann der sittlichen Ordnung gerecht werden und ihren „Zweck", nämlich das Bestehen und das „Wohl der Gesamtheit", erreichen. Das „Glück" ist deshalb im Gegensatz zur Glückseligkeit nach der eudämonistischen Ethik für Ihering „eine erwartete Folge, aber selbst eine erwartete Folge ist darum noch nicht Zweck" 1 1 . Den „Zweck" des individuellen Glückszustandes erkennt Ihering vielmehr in dem Nutzen für das gesellschaftliche Interesse, der Glückszustand des Individuums ist nur das „Mittel" hierzu 12 . Das „Wohlsein" des Individuums dient demnach als „Zweck des Sittlichen" dem gesellschaftlichen Interesse. Aus der Definition der Sittlichkeit als der Verwirklichung des „gesellschaftlich Nützlichen" folgt schließlich, daß, „insoweit nun das Dasein auch das Wohlsein in sich begreift", die Frage nach der Nützlichkeit sich auch auf dieses „Wohlsein" bezieht 13 . 2. Wollen und Zweck bei Ihering und Nietzsche Nietzsches Kritik am Utilitarismus wendet sich nicht allein gegen einen scheinbar vorgegebenen Begriff der Nützlichkeit in Hinsicht auf das Interesse 8

Ihering, ebd., S. 198. Ihering, ebd., S. 201. 10 Ihering, ebd., S. 207. 11 Ihering, ebd., S. 151.

9

12 13

Ihering, ebd., S. 148 und 207. Ihering, ebd., S. 209.

90

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

der Gesellschaft wie auch des Einzelnen, sondern vor allem gegen den Begriff des Zwecks als „Kausalitäts-Interpretation" nach dem Schema von Ursache und Wirkung. „Der Wert einer Handlung muß nach ihren Folgen bemessen werden — sagen die Utilitarier —: sie nach ihrer Herkunft zu messen, impliziert eine Unmöglichkeit, nämlich diese zu wissen" 14 . Nietzsche verwirft den methodischen Ansatz des Utilitarismus als einer „Folgen-Lehre", welche das Gewollte vom Willen trennt und den Wert einer Handlung nicht nach dem Willen mißt, sondern nach den der Willkür unterworfenen Folgen: „Was ,nützlich4 heißt, ist ganz und gar abhängig von der Absicht, dem Wozu?; die Absicht, das ,ZieP wieder ist ganz und gar abhängig vom Grad der Macht. Deshalb ist Utilitarismus keine Grundlage, sondern nur eine Folgen-Lehre und absolut zu keiner Verbindlichkeit für alle zu bringen" 15 . Diese Worte Nietzsches weisen insoweit auf seine Lehre vom Willen zur Macht als dem „Einen Willen", welcher nicht einer Kausalitätsgesetzmäßigkeit nach Ursache und Wirkung, Subjekt und Objekt unterliegt und deshalb erfordert, „daß man das Etwas-tun, das ,Ziel', die ,Absicht 4 , daß man den,Zweck' wieder in das Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert h a t " 1 6 . Ihering begründet sein „Zweckgesetz" mit dem Kausalitätsgesetz nach der Lehre vom zureichenden Grunde, wonach „keine Wirkung ohne Ursache" ist und geschehen kann. Das Iheringsche „Zweckgesetz" lautet: „kein Wollen, oder was dasselbe, keine Handlung ohne Zweck" 1 7 . Dem Satz vom zureichenden Grunde, wie ihn zuletzt Schopenhauer zum Gegenstand seiner philosophischen Lehre gemacht hat, will Ihering auch den menschlichen Willen unterwerfen 18 . Ihering unterwirft somit den menschlichen Willen dem Kausalitätsgesetz von Ursache und Wirkung, wobei er den „Zweck" als Ursache des Willens nimmt: „die Ursache (causa efficiens) bei dem Willen ist ... psycholigischer Art: der Zweck (causa finalis)" 19 . Das „Zweckgesetz'4 stellt sich Ihering dar als Form eines „psychologischen Causalitätsgesetzes". I m Einklang mit dem Satz vom zureichenden Grunde geht Ihering davon aus, daß der Wille außerhalb der Kausalität liegt, was bedeutet, daß er weder Ursache noch Wirkung sein kann 2 0 . Die „Verwirklichung des Willens, seine Erscheinung" sieht Ihering dagegen der Kausalität unterworfen, woran deutlich wird, daß Ihering sich auf den Boden der Lehre Schopenhauers stellt, wonach Wille und Erscheinungswelt sich eben dadurch unterscheiden 21. Schopenhauer lehrt, daß der Wille als das außerhalb aller Erscheinung liegende „Ding an sich" nicht dem Kausalitätsgesetz unter14

W M 291. W M 724. 16 W M 675. 17 Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 5. 18 Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde; Ihering, ebd., S. 3. 15

19 20 21

Ihering, ebd., S. 4. Ihering, ebd., S. 11. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweites Buch, §§ 24, 25.

§ 8 Utilitarismus als Grundlage der sittlichen Normstruktur

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liegt, welches bloß die „Relationen einer Vorstellung zur anderen" nach den a priori gegebenen Erkenntnisformen Raum und Zeit erfassen kann. Daß diese Erkenntnisformen a priori dem erkennenden Subjekt gegeben sind, erfordert es gerade, ein „Ding an sich" vor aller Erkenntnis als letzten Grund anzunehmen, welches sich der Vorstellung entzieht 22 . Der Wille als das außerhalb und vor der Erkenntnis gegebene Ding an sich kann sich daher nicht auf einen Gegenstand der Erscheinungswelt, eine Vorstellung beziehen. „ I n der Tat gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist" 2 3 . Ihering durchbricht jedoch die Lehre Schopenhauers, wonach der Wille nicht dem Gesetz der Kausalität unterliegt, indem er dem Willen den „Zweck" als ein Ziel, das der Erscheinungswelt angehört, vor Augen stellt und behauptet, daß „der Zweck die Vorstellung eines Zukünftigen ist, welches der Wille zu realisieren gedenkt" 24 . Daß Ihering doch auf den Willen selbst und nicht nur auf die „Verwirklichung des Willens, seiner Erscheinung" den Satz vom zureichenden Grunde anwenden will, zeigt sich darüber hinaus daran, daß er den Willen den Relationen der Vorstellungswelt unterwerfen will. Auf diese Relationen als „die a priori bestimmbaren" Gesetzmäßigkeiten nach Raum und Zeit erstreckt sich jedoch gerade der Satz vom zureichenden Grunde in der Formel, daß ohne Subjekt kein Objekt gedacht werden kann 2 5 . Der als „Zweckgesetz" vorgestellte Satz: „kein Wollen ohne Zweck" bedeutet nach Ihering, daß der Wille zwar nicht dem Gesetz der Kausalität, jedoch eben diesem Gesetz unterliegen soll: „der bewegende Grund für ihn ist nicht die Ursache, sondern der Zweck" 2 6 . Der Zweck besteht nach Ihering in der „Verwirklichung der Daseinsbedingungen", also innerhalb der Erscheinungswelt, weshalb er den „Zweck des Wollens" auf den Willen selbst gerichtet sieht 27 . Dies entspricht gewissermaßen im Ergebnis der Lehre Schopenhauers, nicht jedoch seinem Denken. Schopenhauer lehrt, daß die „Objektivation des Willens" in der Erscheinungswelt der menschliche Leib, d. h. auch sein Handeln ist, weshalb jedoch der Wille nicht der Vielheit, den Veränderungen nach Ursache und Wirkung unterworfen ist. „Der Wille aber ist nie Ursache: sein Verhältnis zur Erscheinung ist durchaus nicht nach dem Satz vom Grunde; sondern was an sich Wille ist, ist andererseits als Vorstellung da, d.h. ist Erscheinung: als solche befolgt es die Gesetze, welche die Form der Erscheinung ausmachen: da muß z.B. jede Bewegung, obwohl sie allemal Willenserscheinung ist, dennoch eine Ursache haben" 28 . Für Ihering unterliegt 22

Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, ebd., Anhang zum vierten Buch, S. 534, 535. 23 Schopenhauer, ebd., Zweites Buch, § 29, S. 217. 24 Ihering, ebd., S. 10. 25 Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, §16, S. 41. 26 Ihering, ebd., S. 11. 27 Ihering, ebd., S. 31, 32. 28 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweites Buch, §27, S. 189.

92

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

dagegen der Wille einer gesetzmäßigen Veränderung, nämlich „der Bedingtheit seiner selbst durch Erreichung des Zweckes" 29 . Ihering geht offenbar davon aus, daß sein „Zweckgesetz" dadurch mit der Lehre Schopenhauers in Einklang zu bringen ist, daß er den Begriff des Zweckes anstelle des Begriffs der Ursache verwendet. Nach der Lehre Schopenhauers kommt es jedoch insoweit nicht darauf an, ob der Wille hinsichtlich einer „Ursache" oder einer Zweck-Intention einer kausalen Gesetzmäßigkeit unterworfen wird, was sich beides aus den dargelegten Gründen gleichermaßen verbietet. Der Wille als Ding an sich vor den Erkenntnisformen Raum und Zeit liegt außerhalb der Erscheinungswelt und damit außerhalb des Satzes vom zureichenden Grunde. Der Wille kann nicht Ursache, Wirkung, oder auf die „Erreichung des Zweckes" gerichtet sein, denn der Wille unterliegt nicht der Veränderung, worauf allein sich das Gesetz der Kausalität bezieht; anderenfalls müßte der Wille zu wollen aufhören, sobald jene „Erreichung des Zweckes" einträte 30 . Allenfalls ein Motiv kann sich also auf einen „Zweck" beziehen. Ihering kommt indessen im Ergebnis Schopenhauers Lehre über den menschlichen Willen durchaus sehr nahe, soweit er den „Zweck" des Wollens als die „Verwirklichung der Daseinsbedingungen" definiert 31 . Da nach Schopenhauer der Leib die „Objektivität des Willens" in der Erscheinungswelt ist, bedeutet die Bejahung des Willens die Bejahung des Leibes 32 . Iherings Definition des Wollens als ein Zweck-Wollen erinnert nun sehr an den folgenden Satz Schopenhauers: „Das Grundthema aller mannigfaltigen Willensakte ist die Befriedigung der Bedürfnisse, welche vom Daseyn des Leibes in seiner Gesundheit unzertrennlich sind, schon in ihm ihren Ausdruck haben und sich zurückführen lassen auf Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung des Geschlechts" 33 . Ihering erweitert den Zweck des menschlichen „Wollens" schließlich auf die Daseinsbedingungen der Gesellschaft 34. Nietzsches Kritik am Zweck-Begriff richtet sich einerseits, wie bereits angesprochen wurde, gegen seine Ableitung aus dem Gesetz der Kausalität als bloßer „Folgen-Lehre", andererseits — was damit zusammenhängt — dagegen, daß unter dem scheinbar wertneutralen Zweck-Begriff bestimmte Wertungen eingeführt werden, daß eine am Utilitarismus orientierte Ökonomie nicht wertfrei ist. „,Wollen': ist gleich Zweck-Wollen.,Zweck' enthält eine Wertschätzung. Woher stammen die Wertschätzungen?" 35. Da Nietzsche das „Ding an sich" insgesamt verneint, jedoch — wie noch auszuführen sein wird 3 6 — den Willen deshalb nicht dem Gesetz der Kausalität unterwirft, kann Nietzsche ein 29

Ihering, ebd., S. 32. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, § 20, S. 49 f. (53). 31 Ihering, ebd., S. 32. 30

32 33 34 35 36

Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Viertes Buch, § 60, S. 408. Schopenhauer, ebd. Ihering, ebd., S. 33. W M 260. s.u. unter § 10.3. und 4.

§ 8 Utilitarismus als Grundlage der sittlichen Normstruktur

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Zweck-Wollen außerhalb der Kausalität annehmen. „Zwecke-, Ziele-, Absichten-haben, Wollen überhaupt, ist soviel wie Stärker-werden-wollen, Wachsenwollen — und dazu auch die Mittel wollen" 3 7 . Der „Zweck" des Wollens als Wertung ist selbst nur die Folge von „Perspektiven im Dienste dieses Einen Willens: das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht" 3 8 . Der Zweck ist somit nach Nietzsche nicht die Intention des Wollens, sondern das Wollen schlechthin, also der Wille selbst, der von dem Handeln nicht zu trennen ist. Auch die Erhaltung des Einzelnen oder der Gesellschaft kann daher nicht als „Zweck" des Wollens angesehen werden: „Erhaltung, Glücklichmachen usw., wenn das Zwecke sind: so sind doch auch unter Umständen die Gegenteile die höheren Zwecke z.B. bei einer pessimistischen Ansicht vom Leben und Leiden" 3 9 . Da der Wille als Wille zur Macht eine Wertung bzw. „Wertschätzung" ist, kann der „Zweck" dem Wollen nichts hinzufügen. „Alles Gerede von ,Nutzen' setzt schon voraus, daß das, was den Menschen nützlich ist, definiert sei: mit anderen Worten, nützlich wozu? — d.h. der Zweck des Menschen ist schon vorausgenommen" 40 . Daß nicht ein „Zweck" das Wollen bestimmt, sondern der Wille den Zweck vorausnimmt und bereits enthält, läßt Nietzsche weiterhin die Fragwürdigkeit und Unbrauchbarkeit des Zweck-Begriffs hinsichtlich einer Handlungsorientierung und -bewertung erkennen: „man muß einsehen, daß eine Handlung niemals verursacht wird durch einen Zweck; daß Zweck und Mittel Auslegungen sind, wobei gewisse Punkte eines Geschehens unterstrichen und herausgewählt werden, auf Unkosten anderer, und zwar der meisten" 41 . Vor allem jedoch betrifft diese Äußerung Nietzsches seine Lehre über das Wesen des Willens, welcher weder dem Gesetz der Kausalität noch dem Schema nach „Mittel" und „Zweck" einer Handlung unterliegt. Wollen bedeutet nach Nietzsche nicht begehren, sterben oder verlangen. „Es gibt kein ,Wollen', sondern nur ein Etwas-Wollen: man muß nicht das Ziel auslösen aus dem Zustand" 4 2 . Bezieht sich das Wollen somit nicht auf einen Zweck, sondern liegt der „Zweck" im Willen, so strebt der Wille nicht nach diesem Zweck, sondern befiehlt die Ausführung des als Zweck Gewollten. Aus dem Wesen des Willens als Wille zur Macht folgt daher, „daß ein ,Zweck' mit seinen ,Mitteln' eine unbeschreiblich unbestimmte Zeichnung ist, welche als Vorschrift, als ,Wille' zwar kommandieren kann, aber ein System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen voraussetzt, welche an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen" 43 . Dies bedeutet, daß der „Zweck" einer Handlung erst nachträglich, nachdem sie ausgeführt worden ist, auf seine „Vorgeschichte" hin interpretiert wird, daß eine Handlung nach einem „Zweck" ausgelegt und 37 38 39 40 41 42 43

W M 675. W M , ebd. Nachlaß, 2. Teil, 765. Nachlaß, ebd. W M 666. W M 668. W M 666.

94

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

bewertet wird, welcher nicht den Willen erfaßt 44 . Der „Zweck" einer Handlung wird daher erst nachträglich festgestellt, „um unserm einzig bekannten ,Zweck' die Rolle der ,Ursache einer Handlung' zumessen zu können" 4 5 . Dies betrifft den Ansatz Iherings, der annimmt, daß der „bewegende Grund" des Willens „nicht die Ursache, sondern der Zweck" ist 4 6 . Hinter Nietzsches Einwand gegen eine nachträgliche Interpretation des „Zweckes" als „Ursache" einer Handlung steht ein Gedanke, welcher das Wesen des Willens in Hinsicht auf das Gesetz der Kausalität betrifft: „Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt... Umgekehrt sind wir außerstande, von irgend einem Dinge vorauszusagen, was es ,wirkt' " 4 7 . Die Absichtlichkeit einer Handlung erkennt Nietzsche daher gerade nicht in dem „Zweck", nach welchem das Wollen nachträglich konstruiert und worauf es reduziert worden ist. „Also nicht um des Glückes wegen oder Nutzens wegen oder um Unlust abzuwehren handelt der Mensch: sondern eine gewisse Kraftmenge gibt sich aus, ergreift etwas, woran sie sich auslassen kann. Das, was man ,Ziel',,Zweck' nennt, ist in Wahrheit das Mittel" für diesen Vorgang 48 . Da der Zweck einer Handlung im Willen liegt und der Wille die Ausführung dieses Zweckes nur befehlen kann, geschieht „jedesmal, wenn etwas auf einen Zweck hin getan wird, etwas Grundverschiedenes und anderes" 49 . Die Nützlichkeit einer Handlung kann daher nicht anhand des nachträglich festgestellten „Zweckes" berechnet werden, denn die Nützlichkeit in Hinsicht auf diesen nachträglich festgestellten Zweck steht in keinem Verhältnis zu dem Zweck als Wille: „die übergroße Masse ist verschwendet; ein kaum in Rechnung kommender Teil hat,Zweck', hat ,Sinn' ". Die Nützlichkeit einer Handlung bestimmt sich vielmehr nach dem Willen, d. h.: nach einem „Grad der Macht", nicht jedoch nach der „Absicht", wie sie in Hinsicht auf den nachträglich konstruierten Zweck in das Bewußtsein tritt 5 0 . Der Utilitarismus stellt sich Nietzsche deshalb als eine bloße „Folgen-Lehre" dar, wonach „der Wert einer Handlung von Dem abhängen soll, was ihr im Bewußtsein vorausging". Der Zweck als Wille bestimmt sich jedoch nach dem Grad der Macht, nicht an der zum Bewußtsein gelangten Absicht, welche auf den nachträglich festgestellten „Zweck" hin ausgedeutet wird. Die Nützlichkeit kann daher nicht nach der zum Bewußtsein gelangten Absicht und ihren Folgen bewertet werden: „Aber weiß man die Folgen? Fünf Schritt weit vielleicht. Wer kann sagen, was eine Handlung anregt, aufregt, wider sich erregt? ... Die Utilitarier sind naiv ... Und zuletzt müßten wir erst wissen, was nützlich ist" 5 1 . 44 45 46 47 45 49 50 51

W M 667. W M 666. Ihering, ebd., S. 11. W M 551. Nachlaß, 2. Teil, 718. W M 666. W M 724; 291. W M 291.

§ 8 Utilitarismus als Grundlage der sittlichen Normstruktur

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Was nützlich ist, kann nur an dem Grad der Macht, an dem Zweck als Willen vor allem Bewußtsein und der Absicht einer Handlung gemessen werden. „Zuletzt: warum könnte nicht ,ein Zweck' eine Begleiterscheinung sein, in der Reihe von Veränderungen wirkender Kräfte, welche die zweckmäßige Handlung hervorrufen — ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientierung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, nicht als dessen Ursache? — Aber damit haben wir den Willen selbst kritisiert: ist es nicht eine Illusion, Das, was im Bewußtsein als Willensakt auftaucht, als Ursache zu nehmen" 52 . Wenn Nietzsche auch aus gänzlich anderem Grund dahin gelangt, daß der Wille, soweit er im Bewußtsein als Willensakt erscheint, nicht Ursache sein kann, so liegt darin im Ergebnis eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Schopenhauer, welche es jedoch m. E. noch nicht rechtfertigt, Nietzsche als Metaphysiker anzusehen. Das Wollen ist für Nietzsche gerade nicht von dem „Etwas-Wollen" zu trennen.

3. Utilitarismus als Rechtfertigung des Daseins M i t der „Leugnung aller Zwecke" aus der „Einsicht in die Unerkennbarkeit der Kausalitäten" stellt sich für Nietzsche die Frage nach der Rechtfertigung des Daseins als moralisches Problem 53 . Da der Wert einer Handlung und des Daseins bisher in die Absicht, in den „Zweck" gelegt worden ist, führt die Erkenntnis der „Absichts- und Zwecklosigkeit des Geschehens" zur Frage nach dem Sinn, welcher bisher darin gesucht worden ist 5 4 . Nietzsche geht es daher zunächst darum, „die Unschuld des Werdens zu gewinnen, dadurch, daß man die Zwecke ausschließt" 55 . Dies bedeutet, daß die Rechtfertigung des Daseins im moralischen Sinne unabhängig von der Orientierung nach Absicht, „Mittel" und „Zweck" einer Handlung zu erfolgen hat. Die Rechtfertigung des Daseins kann daher nach Nietzsche nicht der Absicht oder dem „Zweck" des menschlichen Handelns entnommen werden, denn „Mittel" und „Zweck" dieser Handlungen sind im Verhältnis zu dem tatsächlichen Geschehen nur Symptom, „vieldeutig und unfaßbar beinahe". Da „alles Erreichte dem Gewollten absolut inkongruent ist", kann sich nach Nietzsche die Rechtfertigung des Daseins nicht aus dem Leben, aus der Erhaltung von Lebensbedingungen ergeben. „Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, — das rechtfertigende Prinzip ist ein solches, aus dem sich das Leben erklärt. Das Leben ist nur Mittel zu etwas; es ist der Ausdruck von Wachstumsbedingungen der Macht" 5 6 . 52 53 54 55 56

W M 666. Nachlaß, 2. Teil, 687. W M 666. Nachlaß, 2. Teil, 688. W M 706.

96

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

Nach Ihering ist umgekehrt das Leben in Glück und Wohlstand durch das Dasein gerechtfertigt, „ist Wohlsein der letzte Zweck der Behauptung des Daseins" 57 . Für Ihering stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung des Daseins nicht, da „das Dasein auch das Wohlsein in sich begreift" 58 . Hierauf bezieht sich gerade Nietzsches Kritik am „Zweck"-Begriff, soweit in diesem Zusammenhang der Zweck nicht als Orientierung des Wollens, sondern als vorgegebene moralische Wertung in Rede steht: „d. h. der Zweck des Menschen ist schon vorausgenommen. Erhaltung, Glücklichmachen, u.s.w. ... Also ein Glaube ist schon vorausgesetzt" 59. Nietzsche wendet sich insbesondere dagegen, die „Lust" oder die Unlust des gesellschaftlichen Individuums zur Grundlage der moralischen Wertung des menschlichen Daseins zu machen, — worin m. E. zudem eine Umkehrung der eudämonistischen Ethik des Aristoteles liegt, wonach die Glückseligkeit allein durch die Tugend erreicht wird und nur insoweit das Streben nach Glückseligkeit eine Tugend ist. Die dem Utilitarismus stillschweigend zugrunde liegende Annahme, daß etwas deshalb nützlich und in einem sittlich-moralischen Sinne positiv zu bewerten sei, weil es „Lust" erregt und zum Wohlbefinden verhilft, stellt Nietzsche in Frage. „Daß Lust und Unlust ursprüngliche Formen der Wertschätzung sind, ist eine Hypothese: vielleicht sind sie erst Folgen einer Wertschätzung" 60 . Dieser Einwand richtet sich insbesondere auch gegen Ihering, welcher den Begriff der Nützlichkeit aus dem „Wohlsein" ableiten will: „Insoweit nun das Dasein auch das Wohlsein in sich begreift, wenden wir den Ausdruck nützen ... an" 6 1 . Ihering spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich aus, was Nietzsche dem Utilitarismus als einer „Folgen-Lehre" vorwirft: „Ob nun etwas in diesem Sinn nützlich sei, bestimmt sich nicht bloß nach den sofortigen, unmittelbaren, sondern zugleich nach den späteren, mittelbaren Folgen" 6 2 . Nietzsche sieht vielmehr in der „Lust" und der Bewertung als „nützlich" die späten Folgen sittlich-moralischer Wertungen „zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde" 63 . Die Wahrnehmung und Bewertung von Wohlbefinden und Lust ergibt sich daher erst als Produkt der tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Nützlichkeit in Hinsicht auf bestimmte Erhaltungsbedingungen: „eine Imperativische Abkürzung, deren Nützlichkeit unverkennbar ist: das ist Lust und Unlust. Ihr Ursprung ist in der Zentral-Sphäre des Intellekts; ihre Voraussetzung ist ein unendlich beschleunigtes Wahrnehmen, Ordnen, Subsumieren, Nachrechnen, Folgern: Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine »Ursachen4 4 4 6 4 . Die Nützlichkeit dient nach Nietzsche somit nicht dem „Zweck 44 des Wohlbefindens, wie es sich 57

Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, S. 201.

58

Ihering, ebd., S. 209. Nachlaß, 2. Teil, 765. Nachlaß, 2. Teil, 739. Ihering, ebd. Ihering, ebd. M A 96; Nachlaß, 2. Teil, 697. W M 669.

59 60 61 62 63 64

§ 8 Utilitarismus als Grundlage der sittlichen Normstruktur

97

nach dem Utilitarismus darstellt, wie ihn auch Ihering vertritt. Da sich in Lust, Wohlbefinden usw. „erst Resultate von Wertschätzungen" ausdrücken, können diese Wertschätzungen dort nicht entstanden sein, sondern „müssen schon in allen organischen Gebilden da sein" 65 . Hinter diesem Satz steht Nietzsches soeben ausgeführter Gedanke, wonach Nutzen und Glück nicht „Zweck" menschlichen Handelns sein können, sondern dem Zweck als Willen lediglich zur Orientierung dienen. Ein Grad der Macht, „eine gewisse Kraftmenge" ergreift vielmehr den „Zweck" als Mittel, „woran sie sich auslassen kann" 6 6 . Nutzen, Glück und Lust bestimmen sich somit allein nach diesem Kraftquantum des Willens, d.h. nach der Relation zu diesem Quantum, welches das „Etwas-Wollen", den Zweck als Willen ausmacht. Was nützlich ist und einen Glückszustand herbeiführt, ist demnach „vom Grade der Macht abhängig: Dasselbe, was in Hinsicht auf ein geringes Quantum Macht als Gefahr und Nötigung zu schnellster Abwehr erscheint, kann bei einem Bewußtsein größerer Machtfülle eine wollüstige Reizung, ein Lustgefühl als Folge haben" 67 . Jener Lust als möglicher Folge einer Handlung steht deshalb die „Lust als Auslösung" des Kraftquantums gegenüber 68. Während für Ihering das „Wohlsein" Ausdruck des vom Utilitarismus erstrebten Zustandes als „Zustand der befriedigten Lust" ist 6 9 , folgt aus Nietzsches Lehre des Willens als Wille zur Macht, daß die Lust nicht in der Befriedigung des Willens liegen kann. „Nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust ..., sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über Das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner und Widerstand noch nicht satt genug ist" 7 0 . Die Unterschiede der Machtgrade als Kraft-Quanten, welche aufgrund unterschiedlicher Relationen ein anderes Maß an Nutzen und Befriedigung bedingen, lassen es deshalb nicht zu, das Streben nach einem einheitlichen Glückszustand, „nach englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion", als Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung anzusetzen. Den „englischen Utilitariern" wie Bentham hält Nietzsche daher entgegen, „daß die ,allgemeine Wohlfahrt' kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie faßbarer Begriff... ist, — daß, was dem einen billig ist, durchaus noch nicht dem anderen billig sein kann" 7 1 . Die Rechtfertigung des Daseins der Welt ist für Nietzsche nur als „ästhetisches Phänomen" denkbar 72 . Das Dasein ist allein durch die schöpferische Kraft des Menschen gerechtfertigt. Der Wille als Wille zur Macht sucht nach 65 66 67 68 69 70 71 72

Nachlaß, 2. Teil, 737. Nachlaß, 2. Teil, 718. W M 669. Nachlaß, 2. Teil, 693. Ihering, ebd., S. 201. W M 696. JGB 228. GT, 5.

7 Kerger

98

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

Widerstand, um seine Kraft unbedenklich und unvorsichtig, „wider die Nützlichkeit" auszugeben73. „Glück ist nicht das Ziel: sondern Machtgefühl, — eine ungeheure Kraft im Menschen und in der Menschheit will sich ausgeben, will schaffen" 74 . Die Äußerungen Nietzsches zum Zweck-Begriff und zum Utilitarismus haben gezeigt, daß Nietzsche von seiner Lehre des Willens als Wille zur Macht aus unmittelbar zu soziologischen und rechtstheoretischen Fragen Stellung nimmt. In dieser Unmittelbarkeit und Nähe zu praktischen gesellschaftlichen Problemstellungen liegt ein wesentlicher Vorzug seiner philosophischen Lehre.

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus 1. Egoismus als sittliches Gebot Nietzsches Äußerungen zum Egoismus in seiner gesellschaftlichen Bedeutung stehen in engem Bezug zu seiner Kritik am Utilitarismus und am Zweck-Begriff. Auch Nietzsche bestreitet den Stellenwert des Egoismus innerhalb der sittlichen Ordnung nicht. Gerade darin jedoch, daß der Egoismus die Grundlage der sittlichen Ordnung bildet und die soziale Struktur der Gesellschaft bestimmt, erkennt Nietzsche die Gefahr, daß der Egoismus nicht mehr als Willensäußerung des Einzelnen in Betracht kommt, sondern durch einen langen geschichtlich-gesellschaftlichen Gewöhnungsprozeß es gelernt hat, die Bedürfnisse der Gesellschaft als die eigenen anzusehen. Auch insoweit sieht Nietzsche den „Zweck" des Handelns vorweggenommen. „Dieser nicht individuelle Egoismus ist das Ältere, Ursprünglichere; daher so viel Unterordnung, Pietät (wie bei den Chinesen), Gedankenlosigkeit über das eigene Wesen und Wohl, es liegt das Wohl der Gruppe uns mehr am Herzen" 1 . Der Egoismus als Willensäußerung des Einzelnen bestimmt sich nach Nietzsche nicht nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, sondern nach dem Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst. „ M i t Egoismus ist gar nichts gesagt. Wir wenden alle guten und schlechten, gewöhnten Triebe gegen uns: das Denken über uns, das Empfinden für und gegen uns, der Kampf in uns — nie behandeln wir uns als Individuum, sondern als Zwei- und Mehrheit; alle sozialen Übungen (Freundschaft, Rache, Neid) üben wir redlich an uns. Der naive Egoismus des Tieres ist durch unsere soziale Einübung ganz alteriert: wir können gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fühlen, wir sind immer unter einer Mehrheit" 2 . Aus derselben Erwägung, weshalb Ihering sich die Grundlage der sittlichen Ordnung als „Egoismus in höherer Form: der Egoismus der Gesellschaft" darstellt, erkennt Nietzsche im Egoismus eine Erscheinung der „sozialen Triebe", welche das Streben des Einzelnen umgewandelt hat, so daß es die Lebensbedingungen der Gesellschaft 73 74 1 2

Nachlaß, 2. Teil, 746. Nachlaß, 2. Teil, 745. Nachlaß, 2. Teil, 433. Nachlaß, 2. Teil, 360.

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus

99

als Bedingungen seiner eigenen Erhaltung begreift 3 . Nach Ihering liegt die sittliche Bedeutung des Egoismus in der Erkenntnis des Einzelnen, „daß seine individuelle Selbsterhaltung durch seine gesellschaftliche bedingt ist", welche erst das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung ist 4 . Durch die Anerkennung der Bedingtheit der eigenen Erhaltung aufgrund der Verwirklichung der Interessen der Gesellschaft und der Sicherung ihrer Lebensbedingungen wird der Egoismus zum sittlichen Gebot. Als sittliches Gebot ist der Egoismus nicht mehr der Ausdruck des ego als Einheit, sondern als Summe seiner sozialen Eigenschaften: „wir haben ,die Gesellschaft' in uns verlegt, verkleinert, und sich auf sich zurückziehen ist keine Flucht aus der Gesellschaft, sondern oft ein peinliches Forträumen und Ausdeuten unserer Vorgänge nach dem Schema der früheren Erlebnisse. Nicht nur Gott, sondern alle Wesen, die wir anerkennen, nehmen wir, selbst ohne Namen, in uns hinein" 5 . Der Egoismus als sittliches Gebot läßt das Verhältnis des einzelnen zu sich selbst, woran nach Nietzsche allein der Grad des Egoismus erkennbar ist, zu einem Verhältnis gegenüber einer Mehrheit werden. Hierdurch wird die „soziale Einübung" der eigenen Erhaltung als gesellschaftliches Interesse fortgesetzt; der Einzelne unterwirft sich dem Urteil der Gesellschaft über seinen Egoismus. „Was will also Egoismus sagen! Wir können innerhalb unser selber wieder egoistisch oder altruistisch, hartherzig, großmütig, gerecht" u. s. w. sein 6 . Das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst gestaltet sich zu einem „Kampf in uns", welcher das ego immer am stärksten dort, wo gerade das „Übergewicht" im Verhältnis zu seiner sozialen Verschiedenartigkeit liegt, erscheinen läßt. Alle als egoistisch begriffenen Handlungen sind daher „als soziale Triebe und Leidenschaften stärker als individuelle, auch jetzt noch" 7 . Da das Individuum seiner Erhaltung durch die der Gesellschaft bedingt ansieht, „haßt er mehr, plötzlicher, unschuldiger (Unschuld ist den ältest vererbten Gefühlen zu eigen) als Patriot als Individuum; man opfert schneller sich für die Familie als für sich: oder für eine Kirche, Partei" 8 . Daß der Einzelne seine Erhaltung auf der Erhaltung der Gesellschaft beruhend ansieht, führt nach Nietzsche schließlich dazu, daß der Einzelne sich „als Funktion des Ganzen" am höchsten gerechtfertigt sieht und sich selbst nach den sittlichen Normen der Gesellschaft bewertet. Das Urteil über sich selbst „ordnet sich der Schätzung anderer unter und begehrt von dort seine Sanktion". Auch hierin zeigt sich für Nietzsche die sittliche Bedeutung des Egoismus, welcher durch die sittliche Ordnung geprägt wird, indem der Einzelne sich selbst als eine „Mehrheit" behandelt und die von Ihering so genannte „psychologische Zwangsgewalt" insoweit ihre Vollendung erreicht. Nietzsche stellt daher die Frage, inwieweit überhaupt von einem „Egoismus" des Einzelnen angesichts 3 4 5 6 7 8

7*

Ihering, ebd., S. 195; Nachlaß, 2. Teil, 739. Ihering, ebd., S. 198. Nachlaß, ebd. Nachlaß, 2. Teil, 359. Nachlaß, ebd., 433. Nachlaß, ebd.

100

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

dieses Verhältnisses zu sich selbst gesprochen werden kann, welcher sich nicht auf die Verwirklichung sittlicher Normen bezieht. „Der Egoismus ist noch unendlich schwach! Man nennt so die Wirkungen der herdenbildenden Affekte, sehr ungenau. Einer ist habgierig und häuft Vermögen (Trieb der Familie, des Stammes) ... man spricht vom Egoismus des Eroberers, des Staatsmannes u.s.w. — sie denken nur an sich, aber an „sich", soweit das ego durch den herdenbildenden Affekt entwickelt ist (Egoismus der Mütter, der Lehrer)" 9 . Ihering erkennt die sittliche Bedeutung des Egoismus daran, daß die sittliche Ordnung auf die Erhaltung der Gesellschaft gerichtet sei, die Gesellschaft jedoch „nur in den Individuen" bestehe und deshalb auch diejenigen Handlungen sittlich seien, die der Einzelne ausschließlich „mit Rücksicht auf sich selber vornehme" 10 . Diese Feststellung eines auf sich selbst, auf das ego bezogenen Egoismus stellt Nietzsche in Frage und kritisiert somit die auf dem Egoismus beruhende sittliche Ordnung, indem er die vorausgesetzte Eigenständigkeit des ego nicht als gegeben ansieht. „Nichts ist seltener als die Feststellung des ego vor uns selber. Es herrscht das Vorurteil, man kenne das ego, es verfehle nicht, sich fortwährend zu regen: aber es wird fast gar keine Arbeit und Intelligenz darauf verwandt, — als ob wir für die Selbsterkenntis durch eine Intuition der Forschung überhoben wären!" 11 . Egoismus setzt jedoch nach Nietzsche die präzise Bestimmung des ego voraus und kann nicht darin bestehen, daß jeder „unwillkürlich das ego jedem ego" gleichsetzt12. Ein Egoismus, der zu seinem ego gefunden hat und sich dessen bewußt geworden ist, kann demnach nicht auf „gleiche Rechte" und Gleichbehandlung — „was doch der Gerechtigkeit des suum cuique sehr zuwiderläuft!" — gerichtet sein 13 . Die sittliche Bedeutung des Egoismus sieht Nietzsche gerade darin, daß sich das ego seiner selbst bewußt wird und sich nicht mit dem anderen gleichsetzt, damit Institutionen als übergeordnete Einheiten einen verbindenden Charakter erhalten. „Denn bisher ist es der Mangel an feinem, planmäßigem Egoismus gewesen, was die Menschen im ganzen auf einer so niedrigen Stufe erhält! Gleichheit gilt als verbindend und erstrebenswert!... In Wahrheit gehört überall ein starker Antagonismus hinein, in Ehe, Freundschaft, Staat, Staatenbund, Körperschaft, gelehrte Vereine, Religion, damit etwas Rechtes wachse. Das Widerstreben ist die Form der Kraft — im Frieden wie im Kriege; folglich müssen verschiedene Kräfte und nicht gleiche dasein, denn diese würden sich das Gleichgewicht halten!" 14 . Ein sich selbst bewußt gewordener Egoismus, der das ego nicht mit allen anderen gleichsetzt und nicht von vornherein eine gleiche Rechtsstellung erstrebt, ist daher nach Nietzsche erforderlich, damit die sich widerstrebenden Kräfte das Bedürfnis nach Schaffung von Institutionen entstehen lassen und die Grundlage 9

Nachlaß, ebd., 434. Ihering, ebd., S. 181. 11 Nachlaß, ebd. 12 W M 364. 13 Nachlaß, ebd., 432. 14 Nachlaß, ebd., 435. 10

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus

101

zu einem institutionalisierten Verhalten bilden. Dies bedeutet, daß für Nietzsche die gesellschaftliche Ordnung eher auf dem institutionalierten Streben ungleicher, sich widerstrebender Kräfte beruht als auf einer sittlichen Ordnung, welche den Antagonismus zwischen dem Egoismus und dieser Ordnung als dem Egoismus der Gesellschaft von vornherein ausschließen will. In der Beseitigung dieses Antagonismus erkennt jedoch Ihering gerade das Wesen der sittlichen Ordnung und die sittliche Bedeutung des Egoismus, indem beide auf den „Selbsterhaltungstrieb" zurückgeführt werden 15 . Die Beseitigung dieses Antagonismus bedingt jedoch nicht nur die Zurückführung des Egoismus auf das sittliche Gebot der Selbsterhaltung, sondern auch die Beschränkung des egoistischen Strebens darauf. Die Zurückführung des egoistischen Strebens auf die Selbsterhaltung bedeutet die Gleichsetzung des ego, welche Nietzsche verwirft. „Es spukt ein falscher Begriff von Eintracht und Frieden, als dem nützlichen Zustande" 16 . Hinter der Vorstellung Nietzsches, daß die gesellschaftliche Ordnung auf dem Antagonismus widerstrebender Kräfte beruht, steht der zentrale Gedanke, daß „alle Einheit nur als Organisation Einheit ist" 1 7 . Das Widerstreben der Kräfte als einem gegensätzlichen Verhältnis, welches die Grundlage von Institutionen als übergeordneten Einheiten ausmacht, erfordert nach Nietzsche, daß der Einzelne im Verhältnis zu sich selbst seinen Egoismus nicht auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse reduziert, sondern zu einem Antagonismus innerhalb einer institutionalisierten gesellschaftlichen Ordnung beiträgt. Nietzsche erkennt jedoch die sittliche Bedeutung des Egoismus nicht allein darin, daß die sittliche Ordnung auf der Erhaltung der Lebensbedingungen für das Individuum beruht, sondern sucht zu beweisen, „daß es gar nichts anderes geben könne als Egoismus, — daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird,... daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist u.s.w." 1 8 . Während Ihering die sittliche Ordnung lediglich auf den Egoismus des Individuums zurückführen will, jedoch davon abgesehen einen „Widerspruch zwischen dem Egoismus und seinem Gegenstück: dem Sittlichen" annimmt 1 9 , liegt für Nietzsche hierin gerade kein Widerspruch. Die Erhaltung der Gesellschaft und ihrer Lebensbedingungen ist nach Nietzsche „nur eine Folge des Gesetzes der ,Erhaltung des Individuums', kein ursprüngliches Gesetz" 20 . Die Erhaltung der Gesellschaft kann für Nietzsche daher nur auf derjenigen Ordnung beruhen, welche auch der Erhaltung des Individuums zugrunde liegt, und nicht dazu in einen Gegensatz treten. Die Erhaltungsbedingungen des Individuums erkennt Nietzsche ebenso 15 16 17 18 19 20

Ihering, ebd., S. 196. Nachlaß, ebd. W M 561. W M 362. Ihering, ebd., S. 194. Nachlaß, ebd., 186.

102

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

wie diejenigen der Gesellschaft in dem institutionalisierten Verhalten einer „Vielfalt" von Kräften. „Erhaltung des Individuums: d. h. voraussetzen, daß eine Vielfalt mit den mannigfaltigsten Tätigkeiten sich ,erhalten' will, nicht als sich-selber-gleich, sondern ,lebendig' — herrschend — gehorchend — sich ernährend — wachsend — " 2 1 . Der Egoismus kann daher nach Nietzsche keinen wesensmäßigen Gegensatz zur sittlichen Ordnung bilden; ein Konflikt zwischen dem Egoismus und der gesellschaftlichen Ordnung ist nur Ausdruck des notwendigen Antagonismus — abgesehen von dem Fall, daß der Egoismus nicht auf die Erhaltung des Individuums gerichtet ist. Nietzsche verwirft aus demselben Grunde wie Ihering die Annahme, daß menschliches Handeln außerhalb des Egoismus möglich sei, weil „mit dem Handeln für Andere zugleich ein Handeln für sich verbunden" ist 2 2 . Die „falsche Wertschätzung" scheinbar nicht egoistischer Handlungen" zielt in Wahrheit auf das Interesse: 1. derer, denen genützt, geholfen wird, der Herde" 2 3 . Durchaus im Einklang mit Nietzsche verneint Ihering die Möglichkeit eines Wollens „ohne alles und jedes Interesse", welche Kant seiner Sittenlehre zugrunde legte 24 . Alles menschliche Handeln ist notwendig auf sein Dasein bezogen und es kann daher kein Handeln „nur für den Anderen" geben 25 . Da die gesellschaftliche Ordnung für Nietzsche identisch ist mit derjenigen, wonach sich die Erhaltung des Individuums bestimmt, bedarf es einer daran orientierten Bewertung der Nützlichkeit. „Wer anderen nützt, warum soll der besser sein, als wenn er sich nützt? doch nur, wenn der Nutzen, den er anderen erweist, in einem absoluten Sinn höherer Nutzen ist als der, welchen er sich erweist ... Also ein Glaube ist schon vorausgesetzt — beim Lobe des Uneigennützigen: daß das ego nicht verdiene, dem ego anderer vorgezogen zu werden!" 26 . Diesem Grundsatz widerstreitet jedoch nach Nietzsche die höhere Bewertung der Uneigennützigkeit selbst: „es wird ja gerade angenommen, daß er eine seltenere Art sei. Weshalb soll nun der seltenere, höhere Mensch sich aus dem Auge verlieren? — Er soll's gar nicht, es ist eine Dummheit, aber er tut's: und die anderen haben ihren Vorteil davon und sind ihm dafür dankbar" 2 7 . Der Egoismus hat demnach bei jedem Einzelnen eine unterschiedliche Aufgabe zu erfüllen und stellt sich dem Individuum als eine besondere Aufgabe. Der Egoismus als sittlich-moralischer Imperativ gebietet daher nach Nietzsche, „alles strengstens um seiner selber willen zu tun" und nicht „gedankenfaul gegen den Egoismus" zu sein 28 . Nietzsche hält eine Ablösung des Egoismus von dem gesellschaftlichen Interesse, dem gleichgeordneten Egoismus eines jeden für erforderlich, um einen starken Antagonismus 21 22 23 24 25 26 27 28

Nachlaß, ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 53. W M ebd. Ihering, ebd., S. 55, 57. Ihering, ebd., S.54. Nachlaß, ebd., 765. Nachlaß, ebd. Nachlaß, ebd., 364 und 435.

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus

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innerhalb organisatorischer Einheiten zu erreichen. Ein am gesellschaftlichen Interesse ausgerichteter Egoismus, welcher sein ego dem des anderen gleichsetzt, ermöglicht erst eine „Vorstufe" des Individuums. Nietzsche faßt dies in einem nahezu sprichwörtlichen Satz zusammen: „Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste nimmt seine Gewohnheit wichtiger, als seinen Vorteil" 2 9 . 2. Ich-Begriff als soziale Institution Nietzsches Äußerungen zur Frage, inwieweit der Ich-Begriff eine Einheit als Individuum darstellt oder Ausdruck einer Einheit im Sinne einer sozialen Herrschaftsstruktur ist, stehen nicht nur im Kontext zum Egoismus als Bestandteil einer sittlichen Ordnung, wie von Ihering im Einklang mit dem Utilitarismus gelehrt wurde. Darüber hinaus betreffen diese Äußerungen Nietzsches den der heutigen institutionalistischen Auffassung innerhalb der Rechtstheorie zugrunde liegenden Gedanken, daß die „institutionelle Überformung des vom Einzelnen zu erlernenden Verhaltens", welche durch normative Orientierungen des Rechts geleistet wird, „nicht ohne eine mehr oder weniger organisierte Gruppenstützung auszukommen vermag" 30 . Diese institutionalistische Auffassung stützt sich auf den rechtssoziologischen Ansatz Schelskys, wonach das soziale Handeln des Einzelnen allein weder „vom Ganzen der Gesellschaft her", noch „vom Individuum her", worin eine Beschränkung auf „ich-subjektive" Bewußtseinshorizonte" liege, erfaßt werden könne 31 . Die Erkenntnis, daß das Ich-Bewußtsein nicht geeignet ist, das soziale Handeln des Einzelnen vollständig zu erfassen und zu steuern, führt nach diesem Ansatz der institutionalistischen Auffassung jedoch nicht dazu, den „Versuch einer vom Individuum ausgehenden, handlungstheoretischen Begründung" normorientierten Verhaltens zu vernachlässigen 32. Dies ist gerade der Ansatz, den Nietzsche gewählt hat, um das Verhältnis des Ich-Bewußtseins zu der „Vielheit" des Leibes und den in ihm bestehenden Herrschaftsverhältnissen zu erfassen. Auf den ersten Blick scheinbar entgegengesetzt zu der Forderung nach einer Abtrennung des Egoismus vom gesellschaftlichen Interesse und einer auf Erkennung des ego ausgerichteten Entwicklung des Individuums verneint Nietzsche die Einheit des Ich, welche nur eine Rechengröße bedeutet. „Das ,Ich' — welches mit der einheitlichen Verwaltung unseres Wesens nicht eins ist! — ist ja nur eine begriffliche Synthesis — also gibt es gar kein Handeln aus,Egoismus' " 3 3 . Das Ich erkennt Nietzsche als die Organisation jener Vielheit widerstreben29

W M 363. Krawietz, Rechtssystem als Institution? Über die Grundlagen von Helmut Schelskys sinnkritischer Institutionentheorie, in: Rechtstheorie, Beiheft 6 (1984), S. 209f. (219). 31 Krawietz, ebd., S. 224. 32 Krawietz, ebd., S. 226. 33 W M 371. 30

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3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

der Kräfte, welche den Organismus erst im Bewußtsein als Einheit erscheinen läßt. „Wenn ich etwas von einer Einheit in mir habe, so liegt sie gewiß nicht in dem bewußten Ich und dem Fühlen, Wollen, Denken, sondern wo anders: in der erhaltenden, aneignenden, ausscheidenden, überwachenden Klugheit meines ganzen Organismus, von dem mein bewußtes Ich nur ein Werkzeug ist. — Fühlen, Wollen, Denken zeigt überall nur Endphänomene, deren Ursachen mir gänzlich unbekannt sind" 3 4 . Das bewußte Ich, welches das Produkt einer organisierten Vielheit widerstrebender Kräfte ist, bedeutet nicht das Verhältnis des Individuums zu dem eigenen Leib. Die „wahre Welt der Ursachen" innerhalb der Einheit des Leibes bleibt dem Ich-Bewußtsein verborgen. „Der Intellekt und die Sinne sind ein vor allem vereinfachender Apparat. Unsere falsche, verkleinerte, logisierte Welt der Ursachen ist aber die Welt, in welcher wir leben können. Wir sind soweit ,erkennend', daß wir unsere Bedürfnisse befriedigen können. Das Studium des Leibes gibt einen Begriff von der unsäglichen Komplikation" 3 5 . Diese Worte Nietzsches stehen m. E. in Einklang mit der institutionalistischen Auffassung innerhalb der heutigen Rechtstheorie, welche davon ausgeht, daß eine „eindeutige Natur des Menschen nicht mehr angegeben werden kann, weil selbst die biologisch begründeten Bedürfnisse des Menschen in der Erfüllung variabel sind" 3 6 . Nach dieser Auffassung ergibt sich gerade aus der Erkenntnis, daß eine Verhaltenssteuerung durch Instinkt als auch durch das Ich-Bewußtsein nicht vollständig geleistet werden kann, die Notwendigkeit, eine Verhaltenssteuerung durch „institutionelle Überformung" anzunehmen 37 . Diese Verhaltenssteuerung richtet sich nach „normativen Orientierungen", wobei es um den Zusammenhang zwischen „bereits sozial etablierten Institutionen" und diesen ihnen zugrunde liegenden Orientierungen geht. Die Orientierung der „Vereinigung von lebenden Wesen" innerhalb des Leibes wie auch innerhalb der Gesellschaft an ihren Relationen zueinander ist für Nietzsche — m. E. in voller Übereinstimmung mit der derzeitigen institutionalistischen Auffassung — der Grund, eine Verhaltenssteuerung und Herrschaft aufgrund des Ich-Bewußtseins zu verwerfen, wie nun darzulegen ist 3 8 . Dem Ich-Begriff als Recheneinheit steht einerseits die Vielheit des Leibes, „eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen", gegenüber, andererseits ebenfalls die Vielheit der Individuen als Gesellschaft. Das Ich als Recheneinheit dient dazu, die Vielheit des Leibes als Einheit, hingegen das Individuum im Verhältnis zur Gesamtheit der Gesellschaft als selbständige Größe zu begreifen. Nietzsche erkennt jedoch den menschlichen Leib selbst als Herrrschaftsgebilde, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, in welchem die 34 35 36 37 38

Nachlaß, ebd., 195. Nachlaß, ebd. Krawietz, ebd., S. 222. Krawietz, ebd., S. 219 und 222. Nachlaß, 2. Teil, 337 und 343.

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus

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Vielheit lebender Wesen nicht anders zur Einheit finden kann als in der Gesellschaft 39. Auch innerhalb des Leibes ist jedes lebende Wesen „abhängig und untertänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd" 40 . Der Leib als ein „Ganzes" wird nach Nietzsche „ersichtlich nicht durch das Bewußtsein" gesteuert und als Einheit zusammen gehalten, sondern durch die Relation der lebenden Wesen zueinander. „ Z u diesem ,Wunder der Wunder' ist das Bewußtsein eben nur ein ,Werkzeug' und nicht mehr, — im gleichen Verstände, in dem der Magen ein Werkzeug dazu ist" 4 1 . Diese Aussage Nietzsches entspricht insoweit der institutionalistischen Auffassung und dem soziologischen Ansatz Schelskys, wonach das Individuum längst „seiner ,Bewußtheits'-Dominanz und -Kennzeichnung entkleidet" worden ist 4 2 . Nach der institutionalistischen Auffassung ist nun umgekehrt durchaus im Einklang mit Nietzsche ein universalistischer „Ansatz vom Ganzen der Gesellschaft her" zur Erfassung von sozialen Handlungs- und Herrschaftsstrukturen jedenfalls allein nicht mehr geeignet, weil das Individuum immer weiter „zur Kathegorie ,Der Mensch' generalisiert" wird 4 3 . Da die Vielheit des Leibes also „ersichtlich nicht durch das Bewußtsein" zur Einheit gelangt, andererseits jedoch die Vorstellung des Ich nur im Bewußtsein stattfindet, kann die Einheit des Ich nur als relative Größe angesehen werden. Wie das Ich-Bewußtsein ein Werkzeug des Leibes ist, ist der Intellekt ein Werkzeug der Affekte des Leibes: „und diese sind eine Vielheit, hinter der es nicht nötig ist eine Einheit anzusetzen: es genügt, sie als eine Regentschaft zu fassen" 44 . Der Intellekt, das Bewußtsein der Ich-Einheit, ist nicht in der Lage, „die Mannigfaltigkeit eines klugen Zusammenspiels" ζ. B. eines Verdauungsprozesses zu erfassen oder gar hervorzubringen. „Es ist das Zusammenspiel sehr vieler Intellekte! Überall, wo ich Leben finde, finde ich schon dies Zusammenspielen! Und auch ein Herrscher ist in den vielen Intellekten da. — Sobald wir aber uns die organischen Handlungen als mit Hilfe unseres Intellekts ausgeführt denken: werden sie uns ganz unverständlich. Vielmehr müssen wir den Intellekt selber als eine letzte Konsequenz jenes Organischen denken" 45 . Die Vorstellung der Ich-Einheit des Bewußtseins ist somit selbst nur eine Funktion innerhalb dieser „Vielheit und Unter- und Einordnung der Teile zu einem Ganzen", weshalb es jedoch falsch wäre, „aus einem Staate notwendig auf einen absoluten Monarchen zu schließen", nämlich auf die Einheit als Ich und als Subjekt 46 . 39

s. u. unter § 10.2. Nachlaß, ebd., 343. 41 Nachlaß, ebd. 42 Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. I, S. 37 f. (40, 41). 43 Schelsky, ebd., S. 41. 44 Nachlaß, ebd., 340. 45 Nachlaß, ebd., 338. 40

46

Nachlaß, ebd., 336.

106

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

Die Einheit des Ich ist nicht die herrschende Gewalt selbst, sondern deren Ausprägung und als solche veränderbar. Der „Relationscharakter alles Geschehens" entscheidet innerhalb der Vielheit des Leibes über das Ich 4 7 , welches mit der Veränderung der Relationen innerhalb und außerhalb des Leibes seine Lage, d. h. die Vorstellung von der Einheit ändern muß. „Das Ich ist nicht die Stellung eines Wesens zu mehreren (Triebe, Gedanken, u.s.w.), sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen wie ein Subjekt nach einer einflußreichen und bestimmenden Außenwelt hinsieht. Der Subjektpunkt springt herum" 4 8 . Nach Nietzsche dient also das Ich-Bewußtsein lediglich der Verhaltensorientierung, bestimmt diese Orientierung jedoch nicht. Diese Unterscheidung zwischen dem Ich-Bewußtsein und der Herrschaftsstruktur innerhalb des Leibes ergibt sich für Nietzsche aus dem Verhältnis des Ich zum eigenen Leib; das IchBewußtsein des Intellekts kann die Vorgänge innerhalb der „Vereinigung von lebenden Wesen" nicht steuern. Indem Nietzsche das Verhältnis des IchBewußtseins zum eigenen Leib der Vorstellung vom Menschen als einem „Ganzen" gegenüberstellt, wählt er einen Ansatz zur Analyse menschlicher Verhaltensorientierungen, welcher m. E. vollkommen dem soziologischen Ansatz Schelskys innerhalb des Institutionalismus entspricht. Schelsky verwirft die falsche und vordergründige Gegenüberstellung des „ ,ganzen Menschen' der Erfahrung" nach einem empirischen Ansatz zu den analytischen Abstraktionen des menschlichen Intellekts 49 . Es geht Schelsky vielmehr um „die Bestimmung dessen, was sich im Menschen zu seinen »sozialen Rollen' verhält oder was in ihm den von der Psychologie entdeckten Gesetzlichkeiten des Bewußtseins, Unterbewußtseins, Charakters u.s.w. gegenübersteht" 50. Das, was im Menschen dem von seinen „sozialen Rollen" geprägten Ich-Bewußtsein gegenübersteht, erkennt Nietzsche als die Herrschaftsstruktur innerhalb des Leibes, die nur im IchBewußtsein zur Einheit finden kann. Diese Herrschaftsstruktur verhält sich nach Nietzsche zu den „sozialen Rollen" wie ein Subjekt zur Außenwelt: sie ist „eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen wie ein Subjekt... hinsieht" 51 . Die Mehrheit innerhalb dieser Herrschaftsstruktur tritt den „sozialen Rollen" einerseits als Einheit des Ich entgegen, setzt sich jedoch dadurch zur Außenwelt in Relationen, indem sie das Ich selbst wie eine Mehrheit behandelt. Dadurch wird die Einheit des Ich-Bewußtseins in eine Mehrheit der „sozialen Rollen" aufgespalten, welche der „Mehrheit von personenartigen Kräften", d.h. der 47 48 49

Nachlaß, ebd., 337. Nachlaß, ebd., 359.

Schelsky, ebd., S. 42, 47; Krawietz, ebd., S. 225. Schelsky, Nachw. hierzu bei: Krawietz, Helmut Schelsky — ein Weg zur Soziologie des Rechts, S. X L I I . 51 Nachlaß, ebd. 50

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus

107

Herrschaftsstruktur des Leibes entgegentritt. „Unser Verhältnis zu uns selber! ... ; alle sozialen Übungen ... üben wir redlich an uns. Der naive Egoismus des Tieres ist durch unsere soziale Einübung ganz alteriert: wir können gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fühlen, wir sind immer unter einer Mehrheit. Wir haben uns zerspalten und spalten uns immer neu.... wir haben ,die Gesellschaft 4 in uns verlegt, verkleinert" 52 . Auf diese Weise wird die Einheit des Leibes zu allen anderen Wesen, zur „Gesellschaft" in Verhältnis gesetzt. Der „Relationscharakter alles Geschehens" läßt das Ich-Bewußtsein alle Kräfte innerhalb und außerhalb des Leibes, denen nach den jeweils bestehenden Relationen kein entscheidendes Gewicht zukommt, als andere Wesen begreifen. In der Vorstellung vom Ich liegen diejenigen Eigenschaften und Kräfte, die nach den gerade bestehenden Relationen Bedeutung erlangt haben und im Bewußtsein wahrgenommen werden, für den „Subjektpunkt" näher als andere Kräfte, deren Grad relationsbedingt von geringerer Quantität ist. „Das Nächste heißt uns ,ich', mehr als das Entferntere, und gewöhnt an die ungenaue Bezeichnung ,ich und alles andere' (tu), machen wir instinktiv das Überwiegende momentan zum ganzen ego und alle schwächeren Triebe stellen wir perspektivisch ferner und machen daraus ein ganzes ,Du' oder ,Es' " 5 3 . Dies entspricht m.E. durchaus wiederum dem Ansatz Schelskys, der die Entwicklung einer „Ich-Du-Theorie des sozialen Handelns" in der Soziologie „zu den noch nicht erfüllten Aufgaben des theoretischen Denkens" zählt. Die Übereinstimmung mit dem Denken Nietzsches besteht weiterhin darin, daß Schelsky diesen Ansatz in der Gewißheit wählt, daß alle „individualistischen" Theorien in ihrer Beschränkung „auf ichsubjektive Bewußtseinshorizonte" nicht in der Lage sind, das Verhältnis „dessen, was sich im Menschen zu seinen ,sozialen Rollen' verhält", hinreichend zu bestimmen 54 . Dies bedeutet, daß Schelsky einerseits „vom Individuum, von der handelnden Person her" ausgeht, jedoch die Vorstellung des Menschen als einem „Ganzen" im Verhältnis zur Gesellschaft verwirft. Hieraus folgt für Schelsky im Einklang mit Nietzsche, daß eine „ontologisch eindeutige Natur des Menschen" nicht mehr bestimmbar ist, sowie, daß das Verhalten des Menschen, welches durch den Instinkt nicht mehr steuerbar ist, einer Steuerung durch „Institutionen bedarf, innerhalb welcher das Recht dem Einzelnen durch normorientiertes Verhalten einen „Bereich des bewußten Zweckhandelns" eröffnet 55 . Schelsky gelangt zu dieser Theorie auf dem Wege eines „anthropologisch-funktionalen Ansatzes der Rechtssoziologie", welche das durch den „Rechtscharakter der Institution" gesteuerte Verhalten nicht nur als einen „Instinktersatz" nimmt, sondern das institutionell gesteuerte Verhalten „auf eine dauernde ,Bewußtseinsfront' der zweckbewuß52

Nachlaß, Nachlaß, 54 Schelsky, der Institution, 55 Schelsky, 53

ebd., 360. ebd., 359. Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie S. 9-26 (10); Krawietz, ebd., S. 226. Die Soziologen und das Recht, S. 122 f. (123).

108

3. Abschn.: Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Recht

ten, instinktfreien Handlung angewiesen" sieht 56 . Dies kommt m.E. dem Denken Nietzsches zumindest recht nahe. Nietzsche erkennt das Ich-Bewußtsein einerseits als Funktion der Herrschaftsstruktur des Leibes, andererseits jedoch ist das Ich „durch unsere soziale Einübung" in eine „Mehrheit" aufgespalten und der „Gesellschaft" als umfassender Institution unterworfen. Die Verhaltensorientierung bestimmt sich für Nietzsche nach einem den gesellschaftlichen Erscheinungen unterworfenen und zu einer Mehrheit aufgespaltenen Ich: „und gewöhnt an die ungenaue Bezeichnung ,ich und alles andere4 (tu), machen wir instinktiv das Überwiegende momentan zum ganzen ego und alle schwächeren Triebe stellen wir perspektivisch ferner und machen daraus ein ganzes ,Du' " 5 7 . Auch Nietzsche wählt insoweit also einen anthropologischen Ansatz, als er dem an den gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierten IchBewußtsein eine instinktartige Steuerungsaufgabe zuerkennt. Die Bedingtheit des ego durch die Relationen außerhalb des Leibes, welche die Relationen in ihm bestimmen, läßt das Ich in ein Verhältnis zu sich selbst als einer Mehrheit treten. „Wir behandeln uns als eine Mehrheit und tragen in diese,sozialen Beziehungen' alle die sozialen Gewohnheiten, die wir gegen Menschen, Tiere, Gegenden, Dinge haben" 58 . Der Egoismus bezieht sich daher „auf unsere eingeübten, angelernten Stellungen zu anderen", weshalb der Egoismus notwendig das „andere" Wesen außerhalb seiner selbst mit umfaßt. Wie alle anderen Triebe bringt der Egoismus den Einzelnen „von Anfang an in eine Stellung zu anderen Wesen" und entnimmt die Ziele seines Handelns diesen Relationen zum anderen Wesen, nicht jedoch dem ego. „Das was andere uns lehren, von uns wollen, uns fürchten und verfolgen heißen, ist das ursprüngliche Material unseres Geistes: fremde Urteile über die Dinge. Jene geben uns unser Bild von uns selbst, nach dem wir uns messen ... Unsere eigenen Triebe erscheinen uns unter der Interpretation der anderen" 59 . Da der Egoismus sich auf die Relationen zu anderen Wesen, nicht auf das ego bezieht, ist es nach Nietzsche erforderlich, das „Besitzenwollen" dieses an der Wertung anderer orientierten Egoismus „immer mehr vom Scheine des Besitzes, von erdichteten Besitztümern zu befreien, das Ichgefühl also vom Selbstbetruge zu reinigen" 60 . Im Egoismus erkennt Nietzsche daher einen Irrtum, welcher die „Verwandtschaften und Feindschaften der Dinge" in jedem Einzelnen als einem „Lebenssystem" übersieht und sich an einem falschen Gegensatz von Ich und Nicht-Ich orientiert 61 . Die relationsbedingte Abhängigkeit des Egoismus hält Nietzsche der Auffassung entgegen, daß ein Egoismus in Betracht komme, der als sittliches Gebot auf die bloße 56

Schelsky, ebd., Krawietz, Begründung des Rechts—anthropologisch betrachtet: zur Institutionentheorie von Weinberger und Schelsky, in: Theorie der Normen, S. 541 f. (553). 57 Nachlaß, ebd. 58 Nachlaß, ebd. 59 Nachlaß, ebd. 60 Nachlaß, ebd., 447. 61 Nachlaß, ebd., 446.

§ 9 Gesellschaftliche Bedeutung des Egoismus

109

Selbsterhaltung beschränkt sei. „Es gibt gar keinen Egoismus, der bei sich stehen bliebe und nicht übergriffe, — es gibt folglich jenen ,erlaubten', ,moralisch indifferenten' Egoismus gar nicht, von dem ihr redet" 62 . Die Entwicklung des ego liegt daher für Nietzsche in dem Erkennen der wesensverwandten „Lebenssysteme" in anderen, d. h. der gleichgerichteten Herrschaftsstrukturen, um über die entgegengerichteten Kräfte in sich selbst Herr werden zu können. Dies erfordert ein „Schärfer-fassen des Wahren im anderen und in mir". Auf diese Weise wird die Identität von Relationen außerhalb des Leibes mit der eigenen Herrschaftsstruktur erkannt und in die Orientierung einbezogen. Dazu ist es jedoch erforderlich, den „Irrtum des Ich" und eines dazu im Gegensatz stehenden Nicht-Ich aufzugeben. Der Egoismus ist somit nach Nietzsche das Ergebnis sozialer Wertungen, nicht eine vorgegebene Eigenschaft des ego.

62

W M 369.

Vierter

Abschnitt

Theorie der Normen bei Nietzsche § 10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt Geht man von dem derzeitigen Entwicklungsstand der modernen Rechtstheorie aus, so zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab, die „institutionelle Einwirkung auf das Handeln der Einzelperson" 1 zu erfassen und in Ansatz zu bringen. Diese institutionalistische Tendenz findet ihre Ausprägung einerseits auf der Grundlage eines hergebrachten Positivismus als „rechtspositivistischer Institutionalismus" 2 , welcher von der „Programmatik eines juristischen Positivismus" ausgeht3. Demgegenüber hat sich aus der Soziologie her eine institutionalistische Deutung der rechtlichen Regelbefolgung entwickelt, welche die Interdependenzen zwischen einzelnen Rechtsregeln bzw. der Rechtsordnung als Gesamtheit und dem Verhalten der einzelnen Normadressaten zum Gegenstand eingehender Untersuchungen macht 4 . Das Recht wird als „institutionelles Ordnungssystem" erkannt, welches sich in Gesetzgebung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung selbst „objektiviert" 5 . Die Untersuchung der Wirkungszusammenhänge zwischen Rechtsregeln und deren Befolgung führt nach Wittgenstein 6 dazu, „der Regel folgen" gleichzusetzen mit „einem Befehl folgen", denn man wird „dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise" 7 . Das Recht und seine Anwendung, bzw. Befolgung, wird als durch institutionalisierte Rechtsregeln gesteuert angesehen. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise einzelne Rechtsregeln und die Rechtsordnung die Handlungsweise des Einzelnen bestimmen können, inwieweit sie ein „regelgeleitetes menschliches Handeln" 8 zu gewährleisten imstande sind. Hierbei kommt der soeben erwähnten Analogie zwischen einem „der Regel folgen" und dem „einen Befehl befolgen" 9 entscheidende Bedeutung zu, weil der 1

Schelsky, Die Soziologen und das Recht, in: Rechtstheorie 9 (1978), S. 1-21, 3 f. Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht in staatlich organisierten Rechtssystemen, Pleyer-Festschrift, S. 224. 3 Krawietz, ebd. 4 Schelsky, ARS (1970), S. 39f. (51 f.); Krawietz, Pleyer-Festschrift, S. 225. 5 Schelsky, Die Soziologen und das Recht, ebd. 6 Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt 1984, Band 1, S. 344f. 7 Wittgenstein, ebd., S. 346, Rdnr. 206. 8 Krawietz, Ansätze zu einem neuen Institutionalismus in der modernen Rechtstheorie, JZ 85, 706 f. (707). 2

9

Wittgenstein ebd., S. 346, Rdnr. 206.

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

111

imperativistische Charakter von Rechtsregeln in besonderer Weise den Wirkungszusammenhang zwischen einer Rechtsnorm und dem Verhalten des Einzelnen zu verdeutlichen vermag. Dieser Wirkungszusammenhang zwischen der einzelnen Rechtsregel und der Rechtsordnung einerseits und dem Verhalten des Einzelnen andererseits erhellt, inwieweit alles Recht und seine Anwendung „als durch mehr oder weniger weitgehend institutionalisierte Regelsysteme gesteuert anzusehen"10 ist. Im Verhältnis zwischen Befehlendem und Gehorchendem, d.h. in den dadurch entstehenden Interdependenzen erweist sich, wieweit die „institutionelle Einwirkung auf das Handeln der Einzelperson" 11 reicht und inwieweit hierbei „Unsicherheitskoeffizienten" 12 verbleiben. Hier ist jedoch zunächst der Befehlscharakter von Normen im Denken Nietzsches zu untersuchen. Die spezifische Problematik der Verhaltenserwartung und Erwartungssicherung, sowie Nietzsches weitreichende und differenzierte Äußerungen dazu werden noch an anderer Stelle zu behandeln sein. 1. Wille als Befehl Nietzsche hat im Gegensatz zu Schopenhauer keine geschlossene Theorie des Willens vorgelegt und es ist daher bis heute umstritten, inwieweit Nietzsches Philosophie des Willens noch der Metaphysik im hergebrachten Sinne zuzuordnen ist 1 3 . Nietzsche hat in seinen späten Schriften immer wieder betont, daß der „Affekt des Kommandos" das Wesen des Willens ausmache14: „ ,Wollen' ist nicht,begehren', streben, verlangen: davon hebt es sich ab durch den Affekt des Kommandos. Es gibt kein ,Wollen', sondern nur ein Etwas-Wollen ... Daß etwas befohlen wird, gehört zum Wollen ... " 1 5 . Es liegt durchaus nicht so, daß Nietzsche den Befehlscharakter des Willens lediglich in den Fragmenten festgehalten hat, welche später als „Nachlaß" unter dem von Alfred Bäumler gewählten Titel „Die Unschuld des Werdens" erschienen sind 16 . Deshalb sei hier nur am Rande auf die Nachlaß-Problematik bei Nietzsche hingewiesen, welche darin besteht, daß diejenigen Fragmente, welche nach Nietzsches Tod als „Nachlaß" erschienen sind, keinen Nachlaß im herkömmlichen Sinne darstellen. Es handelt sich dabei vielmehr um vorbereitende Notizen zu den zur Veröffentlichung bestimmten Schriften, so daß die Frage gestellt werden könnte, inwieweit diese vorbereitenden Fragmente lediglich vorläufiges Gedankengut enthalten 17 . 10 11 12 13

Krawietz, JZ 85, 707. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, ebd. Krawietz ebd.

Dazu eingehend: Müller-Lauter, Nietzsche-Studien Bd. 10/11, S. 132 (140f.). JGB 19; W M 668. 15 W M 668. 16 z.B. Nachlaß, 2. Teil, 327: „ ,Wille 4 — ein Befehlen: ...". 14

112

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

In der im Jahre 1886 erschienenen Schrift „Jenseits von Gut und Böse" findet sich jedoch der Aphorismus 19, in welchem Nietzsche — wie noch auszuführen sein wird — alle Gedanken und Ansätze zusammenfaßt, welche zu dieser Problematik in den Nachlaß-Fragmenten aus dem Gedankenkreis des Willens zur Macht enthalten sind. Der Wille ist für Nietzsche (im Gegensatz zu Schopenhauer) keine Einheit, sondern eine „Zweiheit", eine Vielheit. Diese „Zweiheit" liegt in dem Willen als Befehlendem und Gehorchendem: „Ein Mensch, der will —, befiehlt einem etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, daß es gehorcht" 18 . Das, was äußerlich als die Einheit „Wille" erscheint, setzt ein „System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen" voraus, „welche an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen" 19 . Es besteht indes die Gewohnheit, sich mittels eines „synthetischen" Ich-Begriffs über die Zweiheit des Willens als Befehlender und Gehorchender hinwegzusetzen und dem Wollen „noch eine ganze Kette von irrtümlichen Schlüssen und folglich von falschen Wertschätzungen „anzuhängen" — dergestalt, daß der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen genüge zur Aktion 2 0 . Dieser Glaube rührt daher, daß „ i n den allermeisten Fällen" nur dort gewollt, d. h. befohlen wurde, wo „der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte" 2 1 . Die „Freiheit" des Willens liegt eben darin, „das Gelingen, die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst" zuzurechnen 22. Der Wollende nimmt den Machtzuwachs seiner „ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren ,Unterwillen 4 oder Unter-Seelen — unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen — zu seinem Lustgefühle hinzu" 2 3 . Der Wille ist nach Nietzsche darauf angewiesen, zu befehlen, will er das Gewollte zur ausgeführten Aktion werden lassen. Der Wille ist nach Nietzsche nicht mit der Leibesaktion identisch — wie Schopenhauer dies lehrt 2 4 , da es sich nach der Lehre Schopenhauers verbietet, zwischen dem Willen als „Ding an sich44 und dem Leib als „Objektivation" des Willens 25 in der Erscheinungswelt eine Kausalverbindung anzunehmen. 17 Zur Nachlaß-Problematik wird auf die in den Nietzsche-Studien, Bd. 7, S. 224f. abgedruckte Diskussion verwiesen, welche auch gerade die hier zu behandelnde Thematik betrifft. 18 JGB 19. 19 W M 666. 20 JGB 19; dieser Gedanke liegt den im Nachlaß, 2. Teil erschienenen Fragmenten 328, 329, 330, 331 zugrunde. 21 JGB 19; Nachlaß, 2. Teil, 328. 22 JGB ebd. 23 JGB ebd. 24 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zweites Buch, Erster Teilband, Kapitel 20, S.289. 25 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweites Buch, Die Objektivation des Willens, §§ 20, 21, S. 151-154.

§ 10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

113

Da der Wille nach Nietzsche dort Gehorsam erwarten können muß, wo er befiehlt, gibt es kein Wollen, „sondern nur ein Etwas-Wollen" 26 . Wollen, „wie es die Erkenntnistheoretiker" (gemeint ist sicher auch Schopenhauer) verstehen, „ist eine Fiktion" 2 7 . Es gibt „diesen Willen gar nicht" 2 8 , sondern nur den Willen zur Macht; es gibt genausowenig einen „Willen zum Leben", „denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht" 2 8 a . Es gibt kein Tun, sondern ein „Etwas-tun", welches als „Zweck" des Tuns in eben dieses Tun wieder hineinzunehmen ist 2 9 . „Alle,Zwecke 4 ,,Ziele',,Sinne 4 sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens, der allem Geschehen inhäriert: des Willens zur Macht" 3 0 . Der Wille zur Macht ist somit der Wille, das Wollen; es gibt keinen Willen außerdem 31 . Es wird im folgenden u.a. zu untersuchen sein, was die Identität 32 von Wille und Wille zur Macht für die Charakterisierung des Willens als „Affekt des Kommandos 44 , als Befehl, bedeutet. Das „Etwas-Wollen 44 , der Wille zur Macht, bezieht sich auf „die Wirkung des Befehls" 33 , wo Gehorsam und Erfolg der „dienstbaren Unterwillen 44 erwartet werden kann 3 4 , darauf, daß die Ausführenden „alle in einem ganz bestimmten Zustand sind, als der Befehl gegeben w i r d " 3 5 . Es ist das unbestreitbare Verdienst Martin Heideggers, sich als erster mit dem Willen als Willen zur Macht auseinandergesetzt zu haben, indem er von der soeben aufgezeigten Problematik ausgeht, wenn er schreibt: der Willensakt im Denken Nietzsches sei „jenes, wodurch das Wollen den setzenden Ausgriff hat auf den Wollenden und das Gewollte" 36 . In jüngster Zeit haben sich kritische Stimmen zu Wort gemeldet, welche sich dagegen wenden, Heidegger habe in seinen erschienenen Schriften über Nietzsche dessen Gedanken untrennbar mit eigenem Gedankengut vermengt, insbesondere mit seiner Seins-Ontologie; auch sei eine Einstufung Nietzsches als letzter Metaphysiker des Abendlandes in dieser Allgemeinheit zweifelhaft 37 . Diese Bedenken können jedoch nicht dazu 26

W M 668. W M ebd. 28 W M 692. 28a W M ebd. 29 W M 675. 30 W M ebd. 31 W M 1067. 32 W M 692. 33 JGB 19. 34 Nachlaß, 2. Teil, 329. 35 Nachlaß, 2. Teil, 331; Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, NSt, Bd. 7, 189f. (209f.); Gerhardt, Macht und Metaphysik, NSt, Bd. 10/11, 193f. (207). 36 Heidegger, Nietzsche I, S. 51. 37 Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, NSt, Bd. 3, S. l f . (13 f.); Gerhardt, Macht und Metaphysik, NSt Bd. 10/11, S. 193f. (200f.). 27

8 Kerger

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

114

führen, Heideggers Äußerungen zu der hier zu untersuchenden Problematik etwa unbeachtet zu lassen, zumal die Kritiker nicht bestreiten, daß Nietzsche insofern Metaphysiker ist, als er versucht, „das Werden zu denken" 38 , das Werden an die Stelle des Sein zu setzen — was weitreichende Konsequenzen etwa für den Wahrheitsbegriff hat. Indem Heidegger von der Identität 39 des Willens und des Willens zur Macht ausgeht, erkennt er in der Macht das Wesen des Willens selbst 40 . Macht kann also nicht etwa das Ziel des Willens sein 41 . Hierin stimmt Nietzsche übrigens wieder mit Schopenhauer überein 42 , welcher die „Abwesenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Wesen des Willens" gehörig ansah. Heidegger erkennt nun sehr treffend, daß das soeben beschriebene Wesen des Willens im Denken Nietzsches bedeutet, „daß hier das Gewollte und der Wollende mit in das Wollen hereingenommen werden" 43 . Die entscheidende Frage, wie „im Wollen zum Wollen das Gewollte und der Wollende" gehöre, beantwortet Heidegger: „Wollen ist Entschlossenheit zu sich, aber zu sich als zu dem, was das im Wollen als Gewolltes gesetzte w i l l " 4 4 . In diesem Satz hat Heidegger in gewisser Weise die gesamte hier abzuhandelnde Problematik zusammengefaßt. Der Wille als Befehl nimmt die (Beschaffenheit der) Gehorchenden und die Bedingungen der von den Gehorchenden auszuführenden Aktion in sein Wollen auf und stellt „sich selbst unter den Befehl" 45 , d.h., der Wille als Befehl hat sich verselbständigt, der Wollende selbst muß ihm nun gehorchen: „Durch diese Bereitschaft hat er sich selbst in den Befehlskreis gestellt als der erste, der maßgebend gehorcht" 46 . Erst diese Fähigkeit und Bereitschaft des Wollenden, sich selbst unter den Willen als Befehl zu stellen, macht die „über sich hinausgreifende Entschiedenheit des Wollens" aus. Erst, indem sich der Wollende selbst unter seinen Willen als Befehl stellt, kann der Wille als Wollender „über sich hinaus wollen, ist der Wille Mächtigkeit, die sich zur Macht ermächtigt" 47 . Indem der Wollende sich selbst als erster Gehorchender in den Befehlskreis seines Willens gestellt hat, bedeutet sein Über-sich-hinaus-Wollen nun eine Machtsteigerung: „das Machten der Macht ist Ermächtigung zu ,mehr' Macht" 4 8 . Der Wollende als erster Gehorchender des Befehls seines Willens führt eine „Überlegenheit", d. h. Machtsteige38

Gerhardt, ebd. S. 50. W M 692. 40 Heidegger, ebd., S. 53. 41 Heidegger, ebd., S. 52. 42 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erstes Buch, Erster Teilband, § 29, S. 217. 43 Heidegger, ebd., S. 50. 39

44 45 46 47 48

Heidegger, Heidegger, Heidegger, Heidegger, Heidegger,

ebd., S. 51. ebd. ebd., S. 52. ebd. ebd., S. 651.

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

115

rung dieses Befehls über den Wollenden, „über sich selbst" 49 , herbei. Da Wille und Macht als Wille zur Macht, als Wesen des „Einen Willens" zusammengehören, liegt in dieser Machtsteigerung des Willens die „Überhöhung seiner selbst" 50 . Dies gilt nicht nur für den Wollenden als erstem Gehorchenden, sondern ebenfalls für die „Unterwillen" als die dienstbaren Werkzeuge des Willens. Auch in den ausführenden Organen ist dieser Wille als Wille zur Macht vorhanden; dies wird noch näher auszuführen sein. Wille zur Macht in Befehlendem und Gehorchendem heißt also: „die Ermächtigung in die Überhöhung seiner selbst" 51 . Der Wille als Befehl kann nur im Wollenden als erstem Gehorchenden eine Machtsteigerung, eine „Ermächtigung zu ,mehr' Macht" erfahren, kann nur auf diese Weise zu einer übergeordneten Instanz werden. Auf diese Machtsteigerung ist jedoch der Wille angewiesen, denn der Wille strebt nicht nach Macht 5 2 , der Wille „west bereits und nur im Wesensbezirk der Macht" 5 3 , Macht und Wille sind im Denken Nietzsches identisch: „dies bedeutet aber nie die Gleichsetzung von Wille und Macht" 5 4 ! Der Wille muß vielmehr zu sich selbst, zur Macht, erst finden. Dies gelingt ihm nur, indem er „Herr wird über die je erreichte Machtstufe" 55 . „Macht ist nur dann und nur so lange Macht, als sie Machtsteigerung bleibt und sich das Mehr in der Macht befiehlt" 56 , d.h.: Wille ist nur dann und nur so lange Wille, als ... . Zum Wesen des Willens als Wille zur Macht gehört die „Ermächtigung" zur Übermächtigung seiner selbst, da nur so der Wille als Wollender, als erster Gehorchender, vom Willen, von der Willensentschlossenheit zur Aktion gelangen kann. Diese „Ermächtigung", d.h. die Überhöhung des Willens über den ausführenden Wollenden „entspringt der Macht selbst, sofern sie Befehl ist und als Befehl sich selbst zur Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe ermächtigt" 57 . Der ausführende Wollende wird als erster Gehorchender überwundene, „übermächtige", Machtstufe seines Willens als Befehl. — Die Frage, inwieweit das Wesen des „Einen Willens" Einheit und Vielheit bedeutet, ist an anderer Stelle zu behandeln 58 . — Da der Wille nur zu sich selbst, d.h. zur Macht, finden kann, indem er zur Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe, d. h. zur Machtsteige-

49

Heidegger, ebd. Heidegger, ebd. 51 Heidegger, ebd. 52 W M 668, 692. 53 Heidegger, Nietzsche II, S. 265. 54 Heidegger, ebd., S. 266. 55 Heidegger, ebd. 56 Heidegger, ebd., S. 266. 57 Heidegger, ebd. 58 dazu unter § 10.3.; Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, NSt Bd. 3, S. l f . (14f.). 50

8*

116

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

rung findet, bleibt in das Wesen der Macht „das Wesen des Willens als Befehlen gebunden" 59 . Ohne Machtsteigerung als Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe tritt als „Gegenwesen des Willens zur Macht" 6 0 die „Ohnmacht zur Macht" 6 1 ein. Der Wille kann somit nur im Wesen der Macht als Machtsteigerung selbst Wille sein 62 . Der Wille zur Macht in allem Lebendigen tut alles, „um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden" 63 . Die bloße (Lebens)Erhaltung bedeutet Stehenbleiben auf einer Machtstufe, d.h. Niedergang und Ohnmacht des Willens als Wille zur Macht, d.h. als „Macht zur Macht" 6 4 . Die Ermächtigung zur Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe als Wesen des Willens ist der „Befehl zu Mehr-Macht" 6 5 . Nur diese „Machtsteigerung", d. h. die Überhöhung des Willens über den ausführenden Wollenden bewahrt den Willen vor dem Nichtwollen 66 . Es ist Heidegger in jüngster Zeit vorgeworfen worden, eine „Simplifikation" des Denken Nietzsches betrieben zu haben 67 , indem Heidegger den Befehlscharakter des Willens aus dem Prinzip der Machtsteigerung hergeleitet habe und zu dem Ergebnis gelangt sei, daß der Vollzug des Befehls als ein Verfügen des Willens darin liege, daß der Wollende als erster in den Befehlskreis des Willens tritt. Ausgangspunkt der Kritik an Heidegger ist wiederum der bereits eingangs erwähnte Vorwurf, Heidegger wolle aus seiner Seinsbegrifflichkeit heraus ein „Bei-sich-bleiben des Befehlens" konstruieren 68 , um, wie es bei Heidegger an anderer Stelle heißt, den Willen zur Macht „als Beständigung der Überhöhung, d.h. des Werdens" begreifbar zu machen, nämlich als „Ermächtigung des Werdens zum Sein" 69 . Der Satz Heideggers „Wollen ist: sich unter den eigenen Befehl Stellen, die Entschlossenheit des Sichbefehlens, die in sich schon Ausführung ist.. . " 7 0 , sei Heideggers existentialer Analytik aus „Sein und Zeit" entnommen. Dieser Vorwurf, in welchem gleichzeitig der entscheidende Ansatz der Kritik liegt, geht fehl. Es handelt sich bei dem soeben zitierten Satz nicht um einen Gedanken Heideggers. Nietzsche schreibt: „Wir haben ein Gefühl von Kraft, Anspannung, Widerstand, ein Muskelgefühl, das schon der Beginn der 59

Heidegger, ebd., S. 266. Heidegger, ebd. 61 Antichrist, V I I I , S. 233. 62 Heidegger, ebd., S. 267. 63 W M 688. 64 Heidegger, ebd., S. 266. 65 Heidegger, ebd., S. 267. 66 Heidegger, ebd. 67 Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Übermensch, NSt Bd. 10/11, S. 132f. (142, 145). 68 Müller-Lauter, ebd. 69 Heidegger, Nietzsche II, S. 14 und S. 265. 70 Heidegger, Nietzsche I, S. 50. 60

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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Handlung ist, als Ursache mißverstanden, oder den Willen das und das zu tun, weil auf ihn die Aktion folgt, als Ursache verstanden" 71 . Das heißt: der Wille ist nicht „Ursache", nicht allein Anfang einer Aktion als Befehl zu dieser Handlung, sondern der Wille ist bereits Ausführung des Gewollten. Weiter heißt es bei Nietzsche: „Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt wurde, dem sie bereits inhäriert" 72 . Der Beginn der Ausführung einer Handlung als „Wirkung" liegt somit in dem Willen, dem Befehlen als „Ursache". Nietzsche faßt dies in folgenden Worten zusammen: „Es gibt weder Ursachen noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen ,Wirkungen' getrennt denke, so habe ich ihn negiert ... In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend. Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzu erfunden zum Geschehen . . . " 7 3 . Dieser Aphorismus gehört zu Nietzsches Kritik der „Kausalitäts-Interpretation", in welcher er eine Täuschung erblickt, denn „wir (sind) außerstande, von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es , w i r k t ' . . . . Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes ,Ding' und Ursubjekt . . . " 7 4 . Was als „Ursache" eines Geschehens erscheint, ist das Vermögen dazu, das heißt jedoch: bereits die „Wirkung", die Ausführung der Handlung selbst; „tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt ... " 7 5 . Nietzsche bestreitet insbesondere, daß aus einer notwendigen Reihenfolge von Zuständen deren Kausal-Verhältnis als Erklärbarkeit folge 76 . Die Ausführung des Befehls durch den Wollenden, der sich unter den eigenen Befehl stellt, „die Entschlossenheit des Sichbefehlens, die in sich schon Ausführung ist", ist ein Gedanke, welcher in Nietzsches Entwurf des Willens zur Macht mehr als nur andeutungsweise seinen Ausdruck findet. Das, was Heidegger „die Entschlossenheit des Sichbefehlens, die in sich schon Ausführung ist" nennt, steht auch nicht in Widerspruch zu den Worten Nietzsches aus der Schrift Jenseits von Gut und Böse, welche bereits eingangs zitiert wurden; auf diese angebliche Abweichung vom Denken Nietzsches, welches Heidegger nicht zur Kenntnis genommen habe, stützt sich indessen die K r i t i k 7 7 . Wenn dort 7 8 steht, daß „nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Notwendigkeit von 71 72 73 74 75 76 77 78

W M 551. W M ebd. W M ebd., 664; K G W V I I I 3, S. 14 (98). W M 551. W M ebd. W M ebd. Müller-Lauter, ebd., S. 145, 146. JGB 19.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Wirkung gäbe", so bedeutet dies zunächst, daß das Wollen nicht zur Aktion genügt. Daß der Wollende nur „mit gutem Glauben glauben" kann, Wollen genüge zur Aktion, liegt darin begründet, daß wir als Wollende uns über die Zweiheit, „insofern wir im gegebenen Fall zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind", vermöge des „synthetischen" Ich-Begriffs hinwegsetzen. Sich über die Zweiheit des Befehlenden und Gehorchenden hinwegzusetzen, ist dem Willen nur möglich, indem er die Ausführung des Wollens durch die „dienstbaren ,Unterwillen' " noch dem Willen selbst zurechnet 79 . Die Ausführung des Wollens geschieht nun dadurch, daß der Wille „zwar kommandieren kann, aber ein System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen voraussetzt, welche an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen" 80 . Der Befehl des Willens muß zergliedert werden „ i n die Unzahl kleiner Unterbefehle" 81 , um das Unbestimmte, das Allgemeine auszulegen, anzupassen an die „Not des Augenblicks, Maß der Kraft usw." 8 2 . Das Zergliedern des Willens in Unterbefehle geht jedoch von dem Willen als Wollenden selbst aus, denn der Wollende selbst ist es, welcher den Befehl als erster der Not des Augenblicks und dem Maß der Kraft seiner Werkzeuge anpassen muß; der Wille befiehlt ja nur dort, „wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte" 8 3 . Es wird Heidegger nun tatsächlich vorgeworfen, er habe diese „Zweiheit" und Vielheit des Willens im Denken Nietzsches unberücksichtigt gelassen84, aus seinem ontologischen Denken heraus in die Einfachheit des bei sich bleibenden Befehlens zurücknehmen wollen. Wenn Heidegger jedoch unterstellt wird, daß er dem Wollen als „Sich unter den eigenen Befehl Stellen" i.S. eines „Selbstbezugs" des Befehlenden als erstem Gehorchenden Vorrang vor dem Verhältnis des Willens zu seinen „Unterwillen" einräumen wollte oder gar die „Vielheit" und Kompliziertheit des Prozesses der Zergliederung damit relativieren wollte 8 5 , so liegt darin m.E. ein Fehlgriff. Es geht Heidegger, wie oben ausgeführt wurde, um das Wesen des Willens als Willen zur Macht, d. h., inwieweit die Macht das Wesen des Willens ausmacht. In dem Befehlcharakter des Willens erkennt Heidegger die Möglichkeit des Willens zum Wollen, d.h.: zum Beginn des Wollens mittels des Sichunter-den-eigenen-Befehl Stellens. Es geht Heidegger darum, wie der Wille zur Macht, d. h. zu sich selbst findet, indem er als Wollender und erster Gehorchender zur Ausführung des Willens gelangt. Heidegger untersucht den Beginn der Ausführung, nicht den ganzen Prozeß der Zergliederung des Willens. Heidegger geht es um die entscheidende Frage, wie der Wille zur Macht zum „Mehr-werden-wollen" 86 gelangen kann, da der Wille ja nicht zur Macht 79 80 81 82 83 84 85

JGB ebd. W M 666. Nachlaß, 2. Teil, 331. W M 665, letzter Satz. JGB ebd. Müller-Lauter, ebd., S. 146. Müller-Lauter, ebd., S. 145.

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strebt 87 , indem er sie etwa außerhalb des Willens sucht 88 . Das „Mehr von Macht" muß der Wille als Wollender in sich selbst suchen, eine Ausführung ohne Machtsteigerung des Willens ist jedoch nicht möglich. Der „Affekt des Kommandos" richtet sich also auf den Willen selbst. Der Vorwurf gegen Heidegger besteht nun im Kern darin, daß der Wille „einem etwas in sich" befiehlt 89 , nicht jedoch „sich selbst" befehle 90. Prima vista ist dieser Einwand bestechend. Er übersieht jedoch, daß der Wille nicht einfach dadurch zur Ausführung gelangen kann, daß er den Unterwillen in seinem Leib als „Gesellschaftsbau vieler Seelen" den ersten Befehl erteilt. Dies wäre in der Tat eine unverzeihliche Simplifikation dieses für Nietzsches gesamtes Werk zentralen Gedankens. Gerade deshalb, weil der Wille 9 1 nicht getrennt gedacht werden kann von seinen Werkzeugen, weil er selbst zu diesem Gesellschaftsbau gehört, kann er sich nicht auf das Befehlen beschränken. Der Wille gehört zum Gesellschaftsbau, insofern wir, d. h. der Leib, allein der „Willens-Kausalität" unterliegen 92 . Der Wille steht gerade nicht außerhalb dieses Gesellschaftsbaus, wie es Schopenhauer lehrt 9 3 : „Ich verstehe also unter Idee jede bestimmte und feste Stufe der Objektivation des Willens, sofern er Ding an sich und daher der Vielheit fremd ist" 9 4 . Daß der Wille nach Schopenhauer der Vielheit fremd ist, liegt darin begründet, daß der Wille als Ding an sich außerhalb der Erscheinungswelt liegt, der Leib lediglich seine Objektivation in dieser Erscheinungswelt ist, und die Vielheit daher nur innerhalb der Objektivation des Willens möglich ist. Indem Nietzsche also die Vielheit in den Willen hineinnimmt, wendet er sich von Schopenhauer ab 9 5 und bekennt sich zur Leiblichkeit des Willens, ohne deshalb jedoch, wie Schopenhauer, dem principium individuationis verhaftet zu sein. Der Wille zur Macht als „intelligibler Charakter" der Welt 9 6 gehört zum Gesellschaftsbau des Leibes, ohne diesen einzelnen Leib als seine Objektivation im Sinne einer Einheit ansehen zu müssen 97 . Der „Ich"Begriff und das Subjekt sind Täuschungen 98 .

86 87

W M 689, 688.

W M 668. 88 Heidegger, Nietzsche I, S. 52. 89 JGB ebd. 90 Müller-Lauter, ebd., S. 146. 91 W M 551 („der Muskel"). 92 JGB 36; dazu unten § 14.4. 93 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweites Buch. Die Objektivation des Willens, § 25. 94 Schopenhauer, ebd., § 25, S. 177. 95 W M 692. 96 JGB 36, W M 1067. 97 W M , 715: „... dieser herrschaftlichen Zentren (,Vielheiten4 jedenfalls; aber die ,Einheit4 ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden)". 98 W M 551.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Gerade, weil Nietzsche den Willen in die Vielheit des Gesellschaftsbaus, des Leibes, hineinnimmt, kann der Wille nicht einfach durch den Befehl an die Vielheit zum Wollen, zur Ausführung, gelangen. Der Wille selbst muß zum Wollenden werden, als erster, der sich in den Befehlskreis seines Willens stellt. Es hat sich also gezeigt, daß der Ansatz der K r i t i k " gegen Heideggers Deutung des Willens zur Macht sich letztlich gerade gegen die Kritik selbst gekehrt und diese widerlegt hat. Die Kritik räumt selbst ein, daß erst das Bemühen Heideggers, das Befehlen als Bei-sich-bleiben zu verstehen, zweifelhaft sei 1 0 0 . Diese Worte Heideggers dürfen indessen nicht isoliert betrachtet werden; sie gehören zu der Behandlung der Frage, wie der Wille zur „Entschlossenheit des Sichbefehlens" gelangen kann. Es bleibt festzustellen, daß Heideggers Aussagen zum Wesen des Willens zur Macht zutreffend sind. Auf den Streit, inwieweit Nietzsche als letzter Metaphysiker des Abendlandes anzusehen ist, indem Heidegger den Willen zur Macht „als die Beständigung des Werdens in die Anwesenheit" ansieht 101 , bedarf hier keiner Erörterung. Nachdem die Frage abgehandelt ist, wie der Wille zur Macht, d.h. zu sich selbst findet, indem er durch den „Affekt des Kommandos" zu einem „EtwasWollen" 1 0 2 gelangt, ist nun zu untersuchen, wie sich der Wille zur Macht in dem Gesellschaftsbau zergliedert und wie er in den ausführenden „Werkzeugen" erscheint.

2. Befehlen und Gehorchen als institutionalisiertes Verhalten Es geht hier also nicht um einen — schwer faßbaren — „Macht"-Begriff", auf welchen sich der Wille etwa bezieht, sondern um die Relationen des Willens zu seinen Werkzeugen als „Unterwillen" und um die Feststellung dieser Relationen 1 0 3 . Der Wille zur Macht ist im Befehlenden und im Gehorchendem als der „Eine W i l l e " 1 0 4 . Der Wille zur Macht ist auf die Wirkung von „Wille auf W i l l e " 1 0 5 , auf den Gegensatz zu anderen Machtwillen angewiesen, „um Wille zur Macht sein zu können" 1 0 6 . 99

Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Übermensch, NSt 10/11, S. 132f. (144-

148). 100 101 102 103

Müller-Lauter, ebd., S. 144. Heidegger, Nietzsche I, S. 656. W M 668.

so auch Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, NSt, Bd. 3, S. 1 60, 29; Gerhardt, ebd., S. 206. 104 W M 675; Nachlaß, 2. Teil, 240; Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, S. 3. 105 JGB 36. 106 so treffend Müller-Lauter, ebd., S. 20.

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Da „jede Kraft sich nur an Widerständen auslassen k a n n " 1 0 7 , ist der Wille zur Macht auf das Widerstreben der Gehorchenden angewiesen, um — über sie — Herr werden zu können. Nur so kann der Wille zu sich selbst, also zur Macht finden, indem er nach Widerstand sucht 108 und nur in der Überwindung des Widerstandes eine Machtsteigerung erfahren kann. Daß der Wille nur durch Überwindung des Widerstrebenden „Herr" werden kann, daß nur darin sein „Etwas-Wollen" begründet liegt, folgt daraus, daß der Wille nicht strebt 109 , daß „nicht die Befriedigung des Willens (ist) Ursache der Lust" ist 1 1 0 , „sondern, daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über Das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner und Widerstand noch nicht satt genug ist. — " m . Das „Etwas-Wollen" des Willens zur Macht ist auf den Wirkungszusammenhang zwischen dem Befehlendem — d. h. dem Imperativ der einzelnen Rechtsnorm, aber auch der Rechtsordnung „als integrierende Bestandteile der rechtlichen Lebensform einer Gesellschaft" 112 — und dem Verhalten der einzelnen Normadressaten gerichtet. Indem Nietzsche mit Bezug auf den geäußerten Rechtswillen auf den „Affekt des Kommandos" 1 1 3 abstellt, bezieht er eine kritische Position gegenüber der tradierten Rechtsmetaphysik, ohne jedoch den Willen, verstanden als Moment der Entscheidung des Einzelnen, damit aufzugeben. Ganz im Sinne der Kritik Iherings an den überkommenen natur / vernunftrechtlich geprägten Willenstheorien stellt auch Nietzsche auf die Wirkungen ab, die von den Imperativen des Rechts ausgehen. Im Ergebnis trifft sich somit seine Einsicht in die Struktur und Funktion rechtlicher Befehle (Kommandos) mit der Problemsicht, wie sie seit Ihering und Max Weber — und ihnen beiden folgend Helmut Schelsky — im deutschen Rechtsrealismus und Institutionalismus vertreten wird 1 1 4 . Diese Problemstellungen liegen insbesondere in dem soeben gekennzeichneten Wirkungszusammenhang als einer institutionalistischen Deutung „des Verhältnisses von Regel und Regelbefolgung" 115 , sowie in den zwischen „den staatlichen Entscheidungsstellen wirksam werdenden internen Interdependenzen sowie (den) zwischen diesen Entscheidungsstellen und ihrer jeweiligen Systemumwelt bestehenden externen Interdependenzen" 116 . Die 107

W M 694. W M 656, 702. 109 W M 668. 110 W M 696. 111 W M 696. 112 Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht in staatlich organisierten Rechtssystemen, S. 225. 113 W M 668. 114 Krawietz, Begründung des Rechts — anthropologisch betrachtet. Zur Institutionentheorie von Weinberger und Schelsky, in: Krawietz /Schelsky u.a., Theorie der Normen, Berlin 1984, S. 541-556. 115 Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, S. 225. 116 Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, S. 225. 108

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Fragestellung, ob Rechtsregeln als Bestandteile von Institutionen „Erwartungsstrukturen" darstellen 117 , ist ebenfalls hier zu behandeln. Hingegen ist der Ansatz, inwieweit wechselseitige Interdependenzen durch „einseitige Festlegungsabhängigkeiten" zu einer „Selbsthierarchisierung" rechtlicher Entscheidungen führen können 1 1 8 , an anderer Stelle zu untersuchen 119 . Ohne bereits an dieser Stelle die Autoritätsproblematik abbhandeln zu wollen, ist festzustellen, daß es unter vorrangiger Berücksichtigung der Äußerungen Nietzsches hier nicht nur um „Macht" im Sinne einer „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" 120 , geht. Nietzsches Äußerungen betreffen vielmehr die Chance, „für spezifische (oder für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden", was einer soziologischen Definition von „Herrschaft (Autorität)" entspricht 121 . Nietzsche sieht jedoch die Chance, für den Befehl Gehorsam zu finden, nicht unbedingt als eine Eigenschaft rechtmäßiger Gewalt im verbreiteten Sinne von „Autorität" 1 2 2 an. Die Chance, unter bestimmten Bedingungen Gehorsam zu finden, besteht vielmehr zuerst für „eine organisierende Gewalt ersten Ranges, z.B. Napoleon", sie „muß im Verhältnis zu der Art sein, welche organisiert werden soll" 1 2 3 . Nietzsche sieht in der Chance, Gehorsam zu finden, die Möglichkeit, überhaupt eine Einheit zu bilden, denn „alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht Eins i s t " 1 2 4 . Die sozusagen „rechtmäßige Ausübung von Gewalt" — rechtmäßig hier eher im Sinne einer Tüchtigkeit, nämlich ein Herrschafts-Gebilde errichten zu können — ist für Nietzsche weniger oder jedenfalls nicht ausschließlich Voraussetzung für die Chance, Gehorsam zu finden, als vielmehr auch dessen Folge. Erst, wenn die Einheit als Organisation entstanden ist, kann der Wille unter der Voraussetzung kommandieren, daß „ein System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen" vorhanden ist, welches „an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen" setzt 125 . Erst, nachdem die Einheit als Organisation entstanden ist, kann der Wille an die scheinbare Notwendigkeit der WillensWirkung glauben 126 , weil die „Unterwillen", die ausführenden Werkzeuge „alle 117

Krawietz, ebd., S. 228.

118

Krawietz, ebd., S. 234. 119 dazu unten § 14. 120 Krawietz, ebd., S. 218. 121 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hrsg. von J. Winckelmann, 1. Halbband, Tübingen 1976, S. 28 f. 122 123 124 125

Krawietz, ebd., S. 219 m.Hinw. Nachlaß, 2. Teil, 767. W M 561. W M 666.

§ 10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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in einem ganz bestimmten Zustand sind, als der Befehl gegeben wird — sie müssen ihn verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei, d. h. es muß immer von neuem bis ins kleinste hinein befohlen (und gehorcht) werden und dann erst, wenn der Befehl zergliedert ist in die Unzahl kleiner Unterbefehle, kann die Bewegung vor sich gehen, die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt, — also eine Umkehrung findet statt" 1 2 7 . Erst nach Entstehung einer Einheit als Organisation kann der Wille sich also über die Zweiheit der Befehlenden und Gehorchenden vermöge eines synthetischen Ich-Begriffs hinwegsetzen 128 , erst dann kann er als Wollender mit gutem Glauben glauben, „Wollen genüge zur Aktion", weil er gewollt hat, „wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte" 1 2 9 . Nachdem der Wille die Einheit „als Organisation" geschaffen hat, entstehen „Erhaltungstendenzen", welche den Wirkungszusammenhang zwischen Befehlenden und Gehorchenden modifizieren. Diese Erhaltungstendenzen „setzen eine Vergegenwärtigung des Ganzen voraus — seine Ziele, Gefahren und Forderungen (das niedrigere, gehorchende Wesen muß sich bis zu einem Grade auch die Aufgabe des höheren vorstellen können)" 1 3 0 . Diese „Sicherheit, daß gehorcht w i r d " 1 3 1 , entsteht also letztlich daraus, daß der Wille auf das Widerstreben anderer Willen angewiesen ist 1 3 2 , daß sich der Wille zur Macht „nur an Widerständen äußern" kann 1 3 3 , und nur in der Überwindung dieser Widerstände zur Einheit als Organisation finden kann 1 3 4 . Voraussetzung dafür, daß die organisierende Gewalt eine Einheit schaffen kann, ist jedoch, daß Befehlende und Gehorchende „verwandter A r t " sind, „sonst könnten sie nicht so einander dienen und gehorchen: die Dienenden müssen, in irgend einem Sinne, auch Gehorchende sein, und in feineren Fällen muß die Rolle zwischen ihnen vorübergehend wechseln und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen" 135 . Diese „verwandte A r t " zwischen Befehlenden und Gehorchenden ist also Voraussetzung für die Chance, Gehorsam zu finden. Diese „verwandte A r t " der Befehlenden und Gehorchenden bedeutet nicht ausschließlich, daß das Entscheidungsverhalten beider „auf eine gleiche Rationalitätsstufe des Verfahrens 136 gestellt wird, sondern vielmehr auch, daß eine 126

JGB 19. Nachlaß, 2. Teil, 331. 128 JGB 19. 129 JGB ebd. 130 Nachlaß, 2. Teil, 307. 131 Nachlaß, 2. Teil, 328. 132 JGB 36. 133 W M 656, 694. 134 ^ M 651; in diesem Sinne auch Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, NSt, Bd. 3, S. 20. 127

135 136

Nachlaß, 2. Teil, 734. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, Opladen 1980, S. 48 f.

124

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

gemeinsame „Rationalitätsstufe" i.S. einer latenten Zugehörigkeit zu einer bestimmten organisierenden Gewalt bereits vorhanden sein muß, um die Einheit als Herrschaftsgebilde 137 entstehen zu lassen. Erst die entstandene Einheit als Organisation führt dazu, „daß auch der Befehlende den Gehorchenden alles schaffen muß, was zu ihrer Erhaltung dient, somit selber durch deren Existenz bedingt i s t " 1 3 8 . Nietzsche beschreibt den Prozeß von der Gemeinsamkeit oder „Gleichheit" im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer organisierenden Gewalt — als Voraussetzung zur Entstehung eines Herrschaftsgebildes—zu einer gleichen „Rationalitätsstufe des Verfahrens" innerhalb des entstandenen Herrschaftsgebildes als Institution folgendermaßen: „Das Machtgefühl erst erobernd, dann beherrschend (organisierend) — es reguliert das Überwundene zu seiner Erhaltung und dazu erhält es das Überwundene selber. — Auch die Funktion ist aus Machtgefühl entstanden, im Kampf mit noch schwächeren Kräften. Die Funktion erhält sich in der Überwältigung und Herrschaft über noch niedrigere Funktionen — darin wird sie von der höheren Macht unterstützt!" 139 . Ohne bereits an dieser Stelle weiter auf die Autoritätsproblematik eingehen zu wollen, ist festzustellen, daß Nietzsche die Bedeutung der Autorität „als rechtlich regulierte Machtausübung" und als „institutionelles F a k t u m " 1 4 0 primär in dem Wirkungszusammenhang zwischen Befehlenden und Gehorchenden gesehen hat, aus welchem sich dann erst die Notwendigkeit der laufenden Regulierung von „Funktionen" ergibt. Den Begriff der Funktion gebraucht Nietzsche, ganz im Sinne der geschichtlich — gesellschaftlichen Betrachtungsweise Iherings, durchaus schon in einem institutionalistischen Sinne: nach Überwältigung der Widerstrebenden und Schaffung von Institutionen „verzichtet der Mächtigere auf weitere Eingriffe und fügt sich selber einer Ordnung: es gehört dies zur Selbstregulierung. In bezug auf die Pflichten der Funktionäre stimmt der Mächtige und die Funktion überein; es ist nichts ,Unegoistisches' daran" 1 4 1 . Dieser Verzicht des Mächtigeren auf weitere Eingriffe durch Schaffung von „Funktionen" im Sinne von Institutionen ist jedoch erst möglich, nachdem die Einheit als Organisation, d. h. als Herrschaftsgebilde 142 entstanden ist und der Wille sich über die Zweiheit der Befehlenden und Gehorchenden hinwegsetzen kann. Voraussetzung dafür, daß eine organisierende Gewalt diese Einheit der Befehlenden und Gehorchenden schaffen kann, ist, daß die überwundenen „Körper" — also Willen — der organisierenden Gewalt „verwandt genug sind: — so konspirieren sie dann zusammen zur M a c h t " 1 4 3 . Der Wille zur Macht ist allerdings darauf gerichtet, sich die überwältigte Macht 137 138 139 140 141 142 143

W M 561. Nachlaß, 2. Teil, 734. Nachlaß, 2. Teil, 418. Krawietz, ebd., S. 220. Nachlaß, 2. Teil, 417. W M 561. W M 636, letzter Satz.

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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einzuverleiben durch „An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt h a t " 1 4 4 . Gelingt jedoch diese vollständige Einverleibung im Wege der Assimilation nicht, „so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben)" 145 . Die Unmöglichkeit, sich alles Überwältigte einzuverleiben, läßt also den Willen zur Macht in die „Zweiheit" des Befehlenden und Gehorchenden, in zwei Willen, auseinandertreten. Hieran wird nun sehr deutlich, warum und auf welche Weise der Wille zur Macht als der „Eine Wille" gleichermaßen im Befehlenden und Gehorchenden vorhanden ist, daß der Befehl „nicht als Wort (wirkt), nicht als Laut, sondern als das, was sich verbirgt hinter dem Laut: und vermöge dieser Aktion wird etwas fortgeleitet" 146 . Dieses Fortleiten wäre ohne die Wesens- und Willens-,,Verwandtschaft" zwischen Befehlenden und Gehorchenden undenkbar. Das Fortgeleitete in der Aktion hinter dem Laut ist der Befehl selbst in der gesicherten Erwartung, daß die ausführenden Werkzeuge diesen Befehl in die Unzahl kleiner Unterbefehle zergliedern können und „an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen" 147 . Dies bedeutet also: die Gehorchenden übernehmen den Befehl als den eigenen Willen, denn auch die Gehorchenden müssen in richtigem Verständnis des Befehls weitere Befehle geben, müssen an die Stelle des einen Befehls eine Vielzahl anderer Befehle setzen, um den Befehl „an die Not des Augenblicks, Maß der Kraft u.s.w." 1 4 8 anzupassen und die Ausführung nicht daran scheitern zu lassen. Das Übernehmen des Befehls seitens der Gehorchenden als eigenes Wollen ist notwendige Bedingung sowohl für die Entstehung als auch die Erhaltung der Einheit als Organisation. Wie oben 1 4 9 bereits festgestellt wurde, kann sich der Wille zur Macht „nur an Widerständen äußern" 150 und nur in der Überwindung dieser Widerstände zur Einheit als Organisation gelangen 151 . Die Bildung der Einheit als Organisation ist also nur deshalb möglich, weil und soweit der Wille zur Macht in den Gehorchenden Widerstrebende (Willen) gefunden hat, d.h., weil der Wille zur Macht diese überwältigten Kräfte sich nicht im Sinne der eigenen Vermehrung einverleiben konnte, sondern in die „Zweiheit" der Befehlenden und Gehorchenden, „in zwei Willen" auseinander treten mußte, „ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben" 152 . Ohne das Widerstreben der Gehorchen144 145 146 147 14e 149 150 151 152

W M 656. W M 656. Nachlaß, 2. Teil, 327. W M 666. W M 665. s.o. S. 164. W M 656. W M 561. W M 656.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

den, d.h., soweit dem Willen zur Macht also die Einverleibung im Sinne einer Vermehrung gelingt, bleibt nur die Vielheit des Willens 1 5 3 , nicht jedoch die Einheit als Organisation. Der Wille zur Macht als organisierende Gewalt ist also auf das Widerstreben der Gehorchenden angewiesen als Bedingung für eine „absolute Feststellung der Machtverhältnisse" 154 . Zu dieser Feststellung bedarf es eines permanenten Kampfes, „um auch das Verhältnis des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen, und das Verhältnis des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben zu verstehen" 155 . Die fortwährende Feststellung der Machtverhältnisse erfordert einen Kampf „um des Kampfes willen"; Herrschen bedeutet demnach: „das Gegengewicht der schwächeren Kraft ertragen, — also eine Art Fortsetzung des Kampfes. Gehorchen ebenso ein Kampf: soviel Kraft eben zum Widerstreben bleibt". Daß überhaupt Gehorchende vorhanden sind, daß der Wille zur Macht sie nicht einverleiben konnte und in die Zweiheit auseinander mußte, bedeutet hinsichtlich der Feststellung der Machtverhältnisse gegenüber den Gehorchenden, daß deren „Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben" worden ist. „Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst" 156 . Dieses Widerstreben des Gehorchenden ist der „Reiz" 1 5 7 , welcher das „Etwas" des Wollenden als Befehlenden ausmacht, denn ohne dieses Widerstreben der Gehorchenden als „Reiz" gibt es insoweit kein Wollen 1 5 8 . Der Wille zur Macht im Herrschenden bedarf der („Gegen"-)Reize, die von den Gehorchenden ausgehen 159 . Das „Etwas" des Wollens ist auf die Feststellung der Machtverhältnisse gegenüber anderen Willen gerichtet. Der Wille als Befehlender bedarf der „Bewegung" im Sinne der Erscheinung einer Interdependenz, „die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden" im Sinne einer „Umkehrung" 1 6 0 ausgeht. So entstehen die Wirkungszusammenhänge zwischen dem Befehlendem — der Rechtsordnung oder der einzelnen Regel — und den Ausführenden. Voraussetzung dazu ist, „daß der gesamte Organismus denkt, daß alle organischen Gebilde teilhaben am Denken, Fühlen, Wollen" 1 6 1 . Dieser Reiz des Widerstehenden stärkt den Willen zur Macht 1 6 2 , es bedarf der Widerstände, um zu

153

JGB 19. Nachlaß, 2. Teil, 236. 155 Nachlaß, 2. Teil, 236. 156 W M 642; Nachlaß, 2. Teil, 240. 157 W M 671; dazu Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, NSt, Bd. 7, S. 189 f. 154

158 159 160 161 162

W M 671. Nachlaß, 2. Teil, 328; Müller-Lauter, ebd., S. 215. Nachlaß, 2. Teil, 331. Nachlaß, 2. Teil, 331. W M 694.

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„übergreifenden Einheiten" 163 zu gelangen. Hierin liegt der Gedanke der „Selbstregulation", auf den unten noch einzugehen sein wird. Es verhält sich jedoch nicht so, daß der Wille als Befehlender den Widerstand überwindet, dies ist eine Täuschung: „ M a n glaubt, daß er selber bewegt (während er nur ein Reiz ist, bei dessen Eintritt eine Bewegung beginnt)" 1 6 4 . Der Glaube, der Wille überwinde „den Widerstand", ist derjenige, der die Zweiheit von Befehlenden und Gehorchenden als Einheit nimmt, weil nur dort gewollt worden ist, wo der Gehorsam erwartet werden durfte 1 6 5 . Der Wille kann das Widerstreben der Gehorchenden nur durch die Einheit als Organisation überwinden als erster, der sich in den Befehlskreis seines Wollens stellt. Der Wollende wird wieder in das Wollen hineingenommen. „Der Befehlende verwechselt sich" jedoch „mit seinen gehorsamen Werkzeugen" 166 . Es bleibt somit zusammenfassend festzustellen, daß Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht der Gedanke einer dynamischen Normentheorie zu entnehmen ist. Der Befehl, also auch der Normbefehl, zergliedert sich auf dem Weg zu seiner Ausführung, der Regelbefolgung 167 , „in eine Unzahl kleiner Unterbefehle" 168 und Anweisungen. Nietzsches Ausführungen zu dem Verhältnis zwischen der Rechtsordnung als „Befehl" und dem Normadressaten als „Gehorchendem" kommen einer institutionalistischen Rechtsauffassung „des Verhältnisses von Regel und Regelbefolgung" sehr nahe. Dies wird deutlich, wenn man „eine institutionalistische Deutung der rechtlichen Regelbefolgung" berücksichtigt, welche in der heutigen Rechtstheorie von erheblicher Bedeutung ist. Erkennt man in einem „der Regel folgen" einen Prozeß, „eine Praxis", und setzt man dies „analog dem: einen Befehl befolgen", weil man „dazu abgerichtet (wird) und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise" 169 , so fallt auf, daß Nietzsche sich gerade auch dieser Problematik im Rahmen seiner Lehre vom Willen zur Macht zugewandt hat. Nietzsche geht davon aus, daß der Befehl, die Rechtsregel, eine „vage Abstraktion" ist, „ i n welcher unzählige Einzelfälle einbegriffen sind und also auch unzählige Wege zu diesen Einzelfallen" 170 . Für Nietzsche ist also der Befehl, die Regel eher ein Verhaltens-„Programm", welches die Ausführung nicht gleichsam ausweglos determiniert. Die Rechtsregel als Befehl setzt ein „System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen" voraus, „welche an die Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen" 171 . Dazu ist es notwendig, daß alle Ausführenden „ i n einem ganz 163

W M 693. Nachlaß, 2. Teil, 329. 165 JGB 19; Nachlaß, 2. Teil, 329. 166 JGB 19; Nachlaß, 2. Teil, 330. 167 Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, ebd., S. 230. 168 Nachlaß, 2. Teil, 331. 169 Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt am Main, 1984, Band 1, S. 344, Rdnr. 199. 170 Nachlaß, 2. Teil, 331. 171 W M 666. 164

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

bestimmten Zustand sind, als der Befehl gegeben wird — sie müssen ihn verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei" 1 7 2 . Nietzsches Lehre von der Zweiheit des Willens zur Macht im Befehlenden und ausführenden Gehorchenden, als auch seine Äußerungen zur Entstehung und Erhaltung von „Funktionen" lassen den Schluß zu, daß Nietzsche das Verhältnis der Willen zueinander, die „Willens-Kausalität" 173 , in der Tat als durch institutionalisierte Regeln — einschließlich Rechtsregeln — gesteuert ansieht 174 . Nietzsche sieht in der Feststellung der Machtverhältnisse ausdrücklich die Begründung von Rechten und Pflichten: „Rechte: der Mächtigere stellt die Funktionäre gegeneinander fest; und Pflichten: der Mächtige stellt die Funktionäre gegen sich fest" 1 7 5 . Auf die Feststellung der Machtverhältnisse ist alles „Wollen überhaupt" gerichtet, soweit es nämlich ein „Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen — und dazu auch die Mittel wollen" 1 7 6 ist. Der Affekt des Kommandos zwingt den Willen dazu, den anderen abzuschätzen und sich zu ihm in ein Verhältnis zu setzen. Die Feststellung dieses Verhältnisses ist bestimmend für alle menschlichen Handlungen, darauf beruht die Willens-Kausalität, wie noch zu zeigen sein w i r d 1 7 7 . Die Feststellung der Machtverhältnisse selbst folgt Gesetzmäßigkeiten aus dem Wesen des Willens, wie sie anhand der Äußerungen Nietzsches anschließend aufgezeigt werden. Aus der Feststellung der Machtverhältnisse und deren verselbständigter Bedeutung durch Schaffung von „Funktionen", d.h. Institutionen, einerseits, sowie durch die Gesetzmäßigkeiten der Machtfeststellung und den daraus entstehenden Interdependenzen andererseits, ergibt sich nach Nietzsches Äußerungen eine Lebensform und -Ordnung, welche im Sinne der heutigen institutionalistischen Rechtsauffassung in dem „Zusammenspiel der Rechtsregeln und ihrer Befolgung" 178 ihre Grundlage findet. Neben den „Funktionen" im Sinne von eigens errichteten Institutionen als Entscheidungsebenen, welche es dem Mächtigeren ermöglichen, „auf weitere Eingriffe" zu verzichten 179 , erkennt Nietzsche gerade den „Befehl" in der Rechtsordnung wie der einzelnen Norm erst insoweit als lebensgestaltend, „integrierend" 180 , an, als der Befehl mit den Ausführenden in einem bestimmten „Wirkungszusammenhang" steht. Nicht der Befehl für sich gewährleistet die integrierende Gestaltung der Lebensprozesse, sondern die gesicherte Erwartung, daß dort, wo gewollt wird, der Befehl Gehorchende findet 1 8 1 , daß die Ausführenden „alle in einem ganz bestimmten 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Nachlaß, 2. Teil, 331. JGB 36; dazu unten unter § 10.4. Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, ebd., S. 226. Nachlaß, 2. Teil, 417. W M 675. siehe unten unter § 10.4. Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, ebd., S. 227. Nachlaß, 2. Teil, 417. Krawietz, ebd.

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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Zustand sind, als der Befehl gegeben wird, — sie müssen ihn verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei" 1 8 2 . Nietzsches Denken liegt also bereits expressis verbis die Vorstellung zugrunde, daß die gestaltende und integrierende Kraft der Lebensprozesse erwartungsorientiert ist, „auf der Ebene der Erwartungsbildung zu suchen" ist 1 8 3 . Die Sicherheit, daß „der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte" 1 8 4 , daß die Regel befolgt wird, macht es nach der heutigen institutionalistischen Rechtsauffassung möglich, Rechtsregeln als ein System von Orientierungspunkten anzusehen, die den Aktionsbereich der am Rechtsleben Teilnehmenden strukturieren 185 . „Daß die Leistungen von Rechtsinstitutionen somit auf der Ebene der Erwartungsbildung zu suchen und zu finden sind", gehört somit nicht nur zu den Einsichten der deutschen Rechtstheorie" seit Ihering, Max Weber und Helmut Schelsky bis hin zu Niklas Luhmann" 1 8 6 , sondern auch zum Denken Nietzsches. Dieser Gedanke enthält vor allem die Absage an die Vorstellung, „alle fortlaufenden Regelbefolgungen schon als in der Regel enthalten anzusehen" 187 . Es gibt keine „Totalabhängigkeit der Jurisdiktion und der Exekutive von der Gesetzgebung, die sich „unter dem technologisch-exekutiven Begriff der ,Anwendung der Gesetze4 " erfassen ließe 188 . Die Rechtsanwendung wird durch den Rechtssatz nicht gleichsam ausweglos determiniert 189 . Die Ausführenden müssen „das Allgemeine auslegen, anpassen an die Not des Augenblicks, Maß der Kraft u.s.w.". Der Rechtscharakter von Institutionen liegt für Nietzsche daher, vergleichbar mit der Auffassung Schelskys, in der „Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Umweltsituationen", während die bloß institutionelle Funktion des Befehlens und Gehorchens in Herrschaftsgebilden eine „vorgegebene Steuerungs-Normativität" durchaus als ein „Instinktersatz des menschlichen Handelns" darstellt 190 . Ohne die Berücksichtigung der so entstehenden Erwartungsstrukturen ist eine Erfassung und Analyse der auftretenden Interdependenzen undenkbar. Nur unter Zugrundelegung solcher Erwartungsstrukturen können Nietzsches Äußerungen verstanden werden, daß der Befehl als Aktion wirke, vermöge derer „etwas fortgeleitet" werde 191 , sowie die Kennzeichnung der Interdependenz als einer Bewegung, „die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt" und 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191

JGB 19. Nachlaß, 2. Teil, 331. Krawietz, ebd. JGB 19. Krawietz, ebd., S. 228. Krawietz, ebd. s. Krawietz, ebd. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, ebd., S. 48 f. Krawietz, ebd., S. 229. Schelsky, ARS, S. 67. Nachlaß, 2. Teil, 327.

9 Kerger

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

eine „Umkehrung" darstellt 192 . Voraussetzung zur Schaffung von Erwartungsstrukturen ist jedoch eine verläßliche Feststellung der Machtverhältnisse. 3. Wille zur Wahrheit als Wille zur Macht a) Interpretation

der Machtverhältnisse

Die Feststellung der Machtverhältnisse erfolgt nach der Gesetzmäßigkeit des Willens zur Macht, wie sie sich aus seinem Wesen ergibt, nämlich dem „Mehrwerden, — Stärker-werden-wollen". Der Wille zur Macht „interpretiert" die Machtverschiedenheiten. „Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert" 193 . Dies gilt auch innerhalb einer organisatorischen Einheit. „ I n Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus)" 1 9 4 . Ist somit die Wahrheit ein Kriterium „in der Steigerung des Machtgefühls" 195 , so stellt sich notwendig die Frage nach dem Wesen der Wahrheit und der Möglichkeit ihres Erkennens. „Die fingierte Welt" der Interpretation ist nach Nietzsche von einem ebenso fingierten, jedoch als seiend genommenen „Ich"- und Subjekt-Begriff konstruiert, welchen wir nötig haben: „eine ordnende, vereinfachende, falschende, künstlich-trennende Macht ist in uns" 1 9 6 . Regeln und Kathegorien sind „ ,Wahrheiten' nur in dem Sinne, als sie lebensbedingend für uns sind" 1 9 7 . Die Feststellung der Wahrheit ist der Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen" 198 . Die Lebensbedingungen erfordern den Glauben an Regeln, d. h. an Gesetzmäßigkeiten. Aus der notwendigen Reihenfolge von Zuständen wird ein — zunächst naturwissenschaftliches — Kausal Verhältnis konstruiert 199 . In eine notwendige Reihenfolge wird also eine Gesetzmäßigkeit hineininterpretiert, „als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte" 200 . Daß außerhalb der Annahme einer Gesetzmäßigkeit die Freiheit bestünde, anders zu handeln, ist eine Täuschung, denn „gerade jenes Sound-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen" 201 . Soweit Nietzsche 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201

Nachlaß, 2. Teil, 331. W M 643. W M ebd. W M 534. W M 517. W M 515. W M 517. W M 551. W M 632. W M ebd.

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

131

hier vom „Wesen" spricht, bedeutet dies jedoch gerade nicht die Annahme einer Einheit im Sinne eines Subjekts oder „Ich"-Begriffs. „Wir haben ,Einheiten' nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten g i b t " 2 0 2 . Läßt man das Bedürfnis, Täter und Tun gesondert zu nehmen, außer Betracht, „so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ,Wirken' auf dieselben" 203 . Das Subjekt als Einheit wird in das Geschehen hineingedeutet, um zu einer Gesetzmäßigkeit zu gelangen 204 . Die Machtverhältnisse, die Relationen zwischen den „dynamischen Quanten" sind also in Wahrheit die „Wesen", die Einheiten. Auf die Feststellung dieser Relationen bezieht sich der Wille zur Wahrheit als Wille zur Macht 2 0 5 . Es gibt allerdings kein seiendes Wesen als Ding an sich, denn „die Relationen konstituieren erst Wesen" 206 . Um jedoch die Lebensbedingungen berechenbar zu machen, ist es nötig, künstliche Einheiten zu schaffen und das „Ich" als seiend zu nehmen, als sei es durch das Werden, d. h. durch die Entwicklung der Relationen zwischen den dynamischen Quanten innerhalb und außerhalb des „Ich", nicht berührt 2 0 7 . In der „Hineindichtung des Subjekts" 208 in das Geschehen liegt der „Wille zum Erkennbar-machen" 209 , um die Täuschung des Seienden zu schaffen. Die Fiktion des Subjekts als Einheit ermöglicht es, eine „immer wiederkehrende Art der Folge" in eine Formel zu kleiden, als scheinbare „Gesetzmäßigkeit" zu nehmen 210 , das Ineinander als ein Hintereinander von Ursache und Wirkung zu begreifen. „Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom ,Gesetz', die Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und s o " 2 1 1 . Nietzsche gebraucht hier den Begriff „Gesetz" sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im juristischen Sinne, wie noch auszuführen sein w i r d 2 1 2 und was für die Entwicklung von Nietzsches 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212

*

W M 635. W M ebd. W M 632. W M 375. W M 625. W M 517. W M 632. W M 517. W M 632. W M ebd. siehe unten unter § 10.4.

132

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Gedanken der „Willens-Kausalität" von entscheidender Bedeutung ist. Aus der notwendigen Reihenfolge eines Gesehens folgt nicht dessen Kausal-Verhältnis im Sinne von Ursache und Wirkung, wie dies oben bereits behandelt wurde 2 1 3 . Daß etwas regelmäßig und berechenbar geschieht, bedeutet nicht, daß eine Notwendigkeit im Sinne von Ursache und Wirkung darin liegt 2 1 4 . „Der Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist. Erst dadurch, daß wir Subjekte,,Täter' in die Dinge hineingedeutet haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf Subjekte ausgerichteten Zwange i s t " 2 1 5 . Nietzsche setzt an die Stelle der Kausalität von Ursache und Wirkung als einer subjektbezogenen Kausalität die „Willens-Kausalität" 216 als Kausalität der dynamischen Quanten. Diese Kausalität der dynamischen Quanten besteht wie das Wesen der Kraft-Quanten selbst allein in den Relationen, d.h. den Machtverhältnissen zu allen anderen Quanten 217 . Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß Nietzsche den Begriff „Regel", wie noch weiter zu untersuchen sein wird, in einem übergreifenden Sinne verwendet. Dem RegelBegriff kommt in der heutigen Rechtstheorie und insbesondere für die institutionalistische Rechtsauffassung eine hervorgehobene Bedeutung zu, welche das Verhältnis von Regel und Regelbefolgung zu einem zentralen Gegenstand ihrer Untersuchungen macht 2 1 8 . Nietzsche verwendet die Begriffe „Regel" und „Gesetz" durchaus in vergleichbarem Sinne, wie es die institutionalistische Auffassung tut, d.h.: Regel — Recht — und Gesetz werden von Nietzsche als künstlich und zum Zwecke der Berechenbarkeit geschaffene „Interpretationen" begriffen. Die heutige institutionalistische Rechtsauffassung sieht in Rechtsregeln ebenfalls etwas vom Menschen für Menschen geschaffenes, ein „Kunstprodukt". Nietzsche lehnt also unzweifelhaft jede naturrechtliche als auch, wie noch näher zu zeigen sein wird, vernunftrechtliche Rechtsauffassung ab. b) Nietzsches Stellung zum Naturrecht Nietzsche wendet sich insbesondere gegen „jene ,Gesetzmäßigkeit der Natur'", in der er eine „naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung" erblickt, „mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele stattsam entgegenkommt!,Überall Gleichheit vor dem Gesetz, — die Natur hat 213 214

W M 551.

Nietzsche wendet sich insbesondere gegen die Einseitigkeit und Borniertheit der „mechanistischen" Weltauslegung, etwa vergleichbar mit dem Glauben an die elektronische Deutung unserer Tage, ζ. B. dem Glauben an die Meßgenauigkeit; W M 658. 215 W M 552. 216 s. unten unter § 10.4; Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, NSt, Bd. 3, S. 36. 217 W M 635, 689. 218 Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, ebd., S. 225.

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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es darin nicht anders und nicht besser als wir': ein artiger Hintergedanke, in dem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. ,Ni dieu, ni maître' " 2 1 9 . Diese Zurechtmachung der Gesetzmäßigkeit der Natur einschließlich des Naturrechts ist für Nietzsche „Interpretation, nicht Text" 2 2 0 . In diesen Sätzen bestätigt sich zudem, daß Nietzsche Naturgesetze und juristische Normen gleichermaßen als Interpretationen ansieht und beiden Formen der Gesetzmäßigkeit ein und dieselbe Funktion und den gleichen Entstehungsgrund zugrunde legt. Dies wird im folgenden noch näher zu untersuchen sein. Nietzsche stellt der Interpretation der Naturgesetzmäßigkeit als einer gewissermaßen modernen, demokratischen bis atheistischen Form des Naturrechts die Gesetzmäßigkeit der Machtverhältnisse entgegen: „und es könnte jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen heraus zu lesen verstünde, — ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ,Willen zur Macht' dermaßen euch vor Augen stellte, daß fast jedes Wort und selbst das Wort »Tyrannei' schließlich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher — als zu menschlich — erschiene" 221 . Auch eine solche Naturgesetzmäßigkeit als Gesetzmäßigkeit der Machtverhältnisse — nicht: als Gesetzmäßigkeit oder Recht der Macht — ist „nur Interpretation" 222 . Jede Interpretation ist auf die Feststellung der Machtverhältnisse zwischen den dynamischen Quanten als Einheiten gerichtet. Eine Interpretation als Schaffung von Gesetzmäßigkeiten ist jeweils eine „Zurechtmachung" der wahren Welt, „bei der unsere Existenz ermöglicht w i r d " 2 2 3 ; sie dient der Berechenbarkeit der jeweiligen Lebensbedingungen. Diese Zurechtmachung der wahren Welt durch Gesetzmäßigkeiten und Regeln, welche die Berechenbarkeit der jeweiligen Lebensbedingungen ermöglichen, erfolgt ihrerseits nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, nämlich dem „Perspektivismus" 224 .

219

JGB 22. zur rechtstheoretischen Problematik: Krawietz, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts, Rechtstheorie, Beiheft 5, S. 255 f. (S. 259); JGB ebd.; hierzu auch Müller-Lauter, ebd., S. 41. 220

221

JGB ebd. JGB ebd. 223 W M 521. 224 W M 636; Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, NSt, Bd. 8, S. 125 f., (137 f.). 222

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche c) Nietzsches Stellung zum Vernunftrecht

Das Vorhandensein einer Gesetzmäßigkeit des Perspektivismus als Interpretationsmethode zeigt sich daran, daß der Mensch „nicht nur ein Individuum (ist) 2 2 5 , sondern das fortlebende Gesamt-Organische in Einer bestimmten Linie. Daß er besteht, damit ist bewiesen, daß eine Gattung von Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) auch bestanden hat, daß das System der Interpretation nicht gewechselt h a t " 2 2 6 . Der Gebrauch der Perspektive als Interpretationsmethode ist also nicht als eine Art Subjektivität in dem Sinne zu verstehen, daß der menschliche Intellekt einerseits zu einer perspektivischen Weltauslegung befähigt wäre, andererseits jedoch dazu, „dieses perspektivische Sehen als perspektivisches, die Erscheinung als Erscheinung zu begreifen"; der Intellekt kann die Lebensbedingungen nicht in der Weise berechnen, „daß er ein Glaube ist und zugleich ein Wissen um diesen Glauben als Glauben" 2 2 7 . Diese Interpretationsmethode besteht vielmehr in der „Regelung des methodischen Gebrauchs von Perspektiven" 228 , „vermöge dessen jedes Kraftzentrum — und nicht nur der Mensch — von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet" 229 . Diese „Perspektiven-setzende Kraft" erschafft sich das „ ,wahre Sein' "; Nietzsche bestreitet, daß sich das Subjekt-sein erst zu einer „wahren" im Sinne einer objektiv-erkennbaren Erscheinungswelt hinzuentwickelt habe 2 3 0 . Es gibt statt dessen nur „das Spezifische-Sein, das bestimmt Sound-so-Agieren und -Reagieren". Diese These wirft nun die grundsätzliche Frage auf, ob Erkenntnis und Annahme eines wahren Seins außerhalb der Perspektive möglich sind. Nietzsche stellt unmittelbar die dahinter stehende Frage, ob es noch eine „scheinbare Welt" neben der von der menschlichen Erkenntnis geschaffenen „wahren Welt" noch geben könne und verneint dies schließlich: „Die,wahre Welt', wie immer auch man sie bisher konzipiert hat, — sie war immer die scheinbare Welt noch einmal" 2 3 1 . Im Wesen der Wahrheit liegt für Nietzsche keine wertfreie Möglichkeit der Erkenntnis, sondern das Wesen der Wahrheit bedeutet gerade die Wertschätzung „ ,ich glaube, daß das und das so ist' " 2 3 2 . In den Wertschätzungen drücken sich bestimmte „Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen" aus, weil alle Erkenntnisorgane und -methoden nur zur Ermöglichung einer dauerhaften Existenz unter bestimmten Bedingungen entwickelt worden sind. Damit bestimmte Lebensbedingungen durch Errichtung von Gesetzmäßigkeiten berechenbar gemacht werden können, ist Voraussetzung, „daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt" 2 3 3 . Die 225

Erg. des Verf. W M 678. 227 Nachlaß, 2. Teil, ebd. 228 Kaulbach, ebd., S. 139. 229 W M 636. 230 W M ebd. 231 W M 566. 232 W M 507.

226

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Erkenntnis der menschlichen Vernunft und ihre Kategorien, „die Wertschätzung der Logik", beweist nur die Nützlichkeit der errichteten Gesetzmäßigkeiten, nicht deren Wahrheit" 2 3 4 . Nietzsche wehrt sich dagegen, von der Nützlichkeit auf das Sein der Wahrheit zu schließen: „Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!" 2 3 5 . Dieser Einwand erinnert sehr an Iherings Ausführungen zu dem antagonistischen Verhältnis zwischen Recht und Wahrheit sowie der Herkunft sogenannter „Rechtswahrheiten" 236 . In der Tat trifft dieser Satz die Wahrheitsproblematik innerhalb rechtlicher Normentheorien als auch juristischer Gesetzesanwendung. Ihering geht davon aus, daß die Normbestandteile Zwang und Norm „rein formale Elemente" sind, welche über den Inhalt des Rechts nichts aussagen. Der Inhalt des Rechts wird nach Ihering „lediglich durch den Zweck bestimmt" 2 3 7 . Der Zweck des Rechts ist jedoch „die Herstellung und Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft" 238 . Ihering sieht den Staat, dessen Staatsgewalt ausschließlich an in solchem Rechtsstaat erlassene Gesetze gebunden wäre, als nicht lebensfähig an 2 3 9 . „Ausschließliche Herrschaft des Gesetzes ist gleichbedeutend mit dem Verzicht der Gesellschaft auf den freien Gebrauch ihrer Hände" 2 4 0 . Eine so verfaßte Gesellschaft sieht Ihering deshalb als nicht lebensfähig an, weil die Rechtsanwendung in einem solchen Rechtsstaat einer „starren Notwendigkeit" ausgesetzt wäre, die sie gegenüber den im Gesetz nicht vorgesehenen Lebensbedingungen hilflos macht; „das Staatsgesetz wäre damit auf eine Linie gerückt mit dem Naturgesetz" 241 . Diese Einschätzung teilt Nietzsche, denn für ihn sind Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände, „als teilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus i s t " 2 4 2 . Ihering spricht sich ausdrücklich dafür aus, im entsprechenden Konfliktfall das Gesetz dem Wohl der Gesellschaft zu opfern; die Gesellschaft sei nicht für das Gesetz da, sondern umgekehrt 243 . Da Ihering die Herstellung und Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft als Inhalt und Zweck des Rechts ansieht, erkennt er, daß dieser Inhalt ein ewig wechselnder ist, „ohne Bestand, ohne Regel" 2 4 4 . Für 233

W M 507. W M ebd.

234 235

236

W

M

497

Ihering, Zweck im Recht, Bd. I, S. 426f. Ihering, ebd., S. 426 oben. 238 Ihering, ebd., S. 417. 239 Ihering, ebd., S. 414. 240 Ihering, ebd. 241 Ihering, ebd., S. 413; Ihering sieht in dem Naturgesetz selbst „die einzige, alles bewegende Kraft" in der Natur. 242 G M I I 11. 243 Ihering, ebd., S. 415. 244 Ihering, ebd., S. 427. 237

136

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Ihering ist daher das Recht nicht durch die menschliche Vernunft erkennbar: „alles hat dem Recht seinen Stempel aufgeprägt; welche Macht gerade den Griffel in der Hand hatte, hat mit ihm ihre Gesetze in die Tafeln des Rechts eingezeichnet". Ihering nennt dies ein trostloses Resultat, „trostlos in der That, wenn die Wahrheit das Ziel des Rechts bildete" 2 4 5 . Da Ihering die sozialen „Lebensbedingungen" der Gesellschaft als entscheidenden Bestimmungsfaktor des Rechts erkennt, kann es für ihn auch insoweit, d.h. hinsichtlich der Feststellung dieser Lebensbedingungen,keine Wahrheit geben, denn „die Wahrheit würde dem Recht stets um einige Schritte voraus sein, ein Schmetterling, den ein Knabe zu haschen sucht — kaum hat er sich gesetzt, und kaum schleicht letzterer heran, so entfliegt er ihm wieder" 2 4 6 . Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften gibt es im Recht eine „Autorität, die dem Irrtum die Macht der Wahrheit" verleiht, weil auch der, welcher Rechtssätze als Irrtum erkannt hat, sich ihnen unterwerfen muß 2 4 7 . Ihering stellt daher fest, daß die Wahrheit kein geeigneter Maßstab für das Recht sein kann, denn „Wahrheit ist das Ziel der Erkenntnis, aber nicht das des Handelns". Es kann „für den Willen" keinen absoluten Maßstab geben, „so daß nur der eine Willensinhalt der wahre, jeder andere ein falscher, wäre" 2 4 5 . Es bleibt somit festzuhalten, daß Ihering ein Dasein des Rechts, welches von der Vernunft als „Wahrheit" erkannt werden könnte, ablehnt. Nicht die Wahrheit, sondern der „Zweck" der Herstellung und Sicherung der Lebensbedingungen ist nach Ihering Ziel und Maßstab des Rechts. Hierin stimmt Nietzsche mit ihm vollständig überein. Eine „Wahrheit" ist auch für Nietzsche insoweit lediglich das Produkt erhaltender Mächte: „sie glauben die Wahrheit ist da, es darf nicht gesucht werden. ,Das Recht' z.B. soll da sein!!" 249 . Weiterhin ist festzuhalten, daß Ihering das Recht als eine Äußerung des Willens ansieht und dessen Gesetzmäßigkeiten unterstellt. Ihering setzt die „Richtigkeit" des zweckgerichteten Handelns, des Rechts, zum Willen in Bezug: „wir haben dabei nicht die Wahrheit als solche im Auge, als vielmehr das Subjekt, welches dieselbe sucht" 2 5 0 . d) Nietzsches Stellung zum Positivismus Nietzsches Kritik des Wahrheitsbegriffs und der Zuordnung der Wahrheit zum Sein geht indessen über die Ablehnung eines Vernunftsrechts, welches ein Dasein außerhalb der Relationen verschiedener Macht-Quanten haben könnte, weit hinaus. 245 246 247 248 249 250

Ihering, ebd., S. 427. Ihering, ebd., S. 428. Ihering, ebd. Ihering, ebd. Nachlaß, 2. Teil, 1067. Ihering, ebd., S. 429.

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137

Nietzsche bleibt nicht beim „Subjekt" stehen, begnügt sich nicht etwa mit der simplen Formel, alle Erkenntnis sei „subjektiv", die Fakten hingegen „objektiv". Das Subjekt selbst ist vielmehr etwas, was als künstliche Einheit aus dem Tun als „Täter" herausgezogen worden ist, um damit rechnen zu können, denn die „dynamischen Quanten" — d.h. also: Machtzentren aller Art —, „deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen anderen Quanten besteht" 251 , sind nach den Regeln einer Subjekt-Kausalität nicht berechenbar. Ein Quantum, dessen Wesen in der Relation als solcher besteht, durch die Relationen zu anderen Quanten erst „konstituiert" w i r d 2 5 2 , kann von Gesetzmäßigkeiten, welche Ursache und Wirkung voraussetzen, den Täter aus dem Tun herausnehmen, nicht erfaßt werden; es findet sich in dem Wesen als Relation kein „Gehorsam" gegenüber solchen Gesetzmäßigkeiten253. Zur Aufrechterhaltung solcher Gesetzmäßigkeiten ist es daher notwendig, das Subjekt als seiend vorauszusetzen, damit der Anschein entsteht, „daß alles Geschehen die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwange i s t " 2 5 4 ; es bedarf dazu einer vom Subjekt aus fingierten Welt 2 5 5 . M i t der Infragestellung der Einheit des Subjekts verwirft Nietzsche schließlich auch den Positivismus als Glauben an Tatsachen und deren an Subjekt und Objekt ausgerichteten Kausalitäts-Schema. „Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehenbleibt ,Es gibt nur Tatsachen4, würde ich sagen: nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum ,an sich4 feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ,Es ist alles subjektiv4 sagt ihr: aber schon Das ist Auslegung. Das,Subjekt 4 ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. — Ist es zuletzt nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon Das ist Dichtung, Hypothese" 256 . Auch das Subjekt findet der Mensch zuletzt nur deshalb in den Dingen wieder, weil er es „selbst in sie hineingesteckt hat 4 4 2 5 7 . M.E. knüpft Nietzsches Kritik am „Ich"- und Subjektsbegriff an die von Schopenhauer neu aufgegriffene Erkenntnis Kants an, wonach die menschliche Erkenntnis auf die Dinge der Erscheinungswelt beschränkt ist, das Wesen an sich der Dinge nicht erkennen kann, „denn gerade die Apriorität dieser Erkenntnisformen" — Raum und Zeit — beruhen „auf dem subjektiven Ursprung derselben 44258 . Die aus den menschlichen Erkenntnisformen Raum 251

W M 635, 625. 252 W M 625; dazu auch Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, ebd., S. 39. 253 254 255

W M 632. W M 552. W M 517.

256 W 257

M

4 8 1

W M 606. 258 Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, WWV I, Anhang zum vierten Buch, S. 525.

138

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

und Zeit entwickelten Kausalitäts-Gesetzmäßigkeiten entspringen allein der „Vorstellung des sie erkennenden Subjekts" 259 . Schopenhauers Kritik an Kant richtet sich dagegen, ein Ding an sich—d. h. „Das, was wir vor, also unabhängig von aller Erfahrung wissen" 260 — außerhalb des eigenen menschlichen Leibes als „Objektivation des Willens", als das, was „den Willen als das Ansich unserer eigenen Erscheinung kund giebt", anzunehmen 261 . Schopenhauer wirft Kant vor, insoweit von dessen eigener und „richtigen Erkenntnis, daß das Gesetz der Kausalität uns a priori bekannt, folglich eine Funktion unseres Intellekts, also subjektiven Ursprungs" ist, abgewichen zu sein 262 . Weil die Erkenntnisformen Raum und Zeit und alle darin begründeten Kausalitätsgesetze der Erfahrung des menschlichen Intellekts entspringen, kann nach Schopenhauer auch ein „Ding an sich" nur nach dem Kausalitätsgesetz der empirischen Anschauung erkannt werden. Da nun aber „die ganze empirische Anschauung durchweg auf subjektivem Grund und Boden, als ein bloßer Vorgang in uns" möglich ist, läßt sich in die menschliche Erkenntnis grundsätzlich „nichts von ihr gänzlich Verschiedenes, von ihr Unabhängiges" als Ding an sich „hineinbringen, oder als nothwendige Voraussetzung darthun" 2 6 3 . Als solches nicht gänzlich von der empirischen Anschauung Verschiedenes bleibt nur der eigene Wille als Ding an sich, welcher nach Schopenhauer ebenfalls letztlich unerkennbar, wiewohl „mittels Hinzuziehung des Selbstbewußtseins" deutlicher als alle anderen Dinge der Erscheinungswelt außerhalb unseres Leibes erkennbar ist. Alle Dinge außerhalb des eigenen Leibes betrachtet Schopenhauer als Objekte, weshalb er auch Kants fundamentale Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an sich „aus der einfachen, so nahe liegenden, unleugbaren Wahrheit ,Kein Objekt ohne Subjekt' " ableiten w i l l 2 6 4 . Indem Nietzsche nun das Subjekt als Einheit verneint, verneint er damit jegliches „Ding an sich" 2 6 5 , jede „Erkenntnis an sich". M.E. mußte Nietzsche das Subjekt verneinen, um diesen Schritt tun zu können 2 6 6 . „Es fällt endlich auch das ,Ding an sich': weil das im Grunde die Konzeption eines ,Subjekts an sich' ist. Aber wir begriffen, daß das Subjekt fingiert ist. Der Gegensatz ,Ding an sich' und »Erscheinung' ist unhaltbar; damit aber fallt auch der Begriff ,Erscheinung' dahin" 2 6 7 . M i t dem Subjekt fallt als Erscheinung auch das Objekt, die Tatsache dahin: „Geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, 259

Schopenhauer, ebd., S. 534. Schopenhauer, ebd., S. 524. 261 Schopenhauer, ebd., S. 536. 262 Schopenhauer, ebd., S. 535. 263 Schopenhauer, ebd., S. 536. 264 Schopenhauer, ebd., S. 533. 265 W M 517. 266 Der Verfasser hat zu dieser Frage im philosophischen Schrifttum, insbesondere in der Nietzsche-Literatur, nichts gefunden. 267 W M 552 b). 260

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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auf das gewirkt wird. Die Dauer, die Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhäriert weder Dem, was Subjekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind Komplexe des Geschehens, in Hinsicht auf andere Komplexe scheinbar dauerhaft" 268 . Die Tatsachen und „Objekte" existieren also in Wahrheit ihrem Wesen nach nur in den Relationen, den interpretierten Machtverhältnissen, zu anderen MachtQuanten, wie Nietzsche es bereits im Zusammenhang mit seiner Untersuchung möglicher Einheiten geäußert hat und oben gezeigt wurde. Nietzsche hat hierin m. E. den letzten Schritt in der Fortentwicklung des kantschen Gedankens durch Schopenhauer getan, wonach die Erkenntnisformen Raum und Zeit, sowie alle darauf beruhenden Kausalitäts-Gesetzmäßigkeiten als solche allein im menschlichen Intellekt vorhanden sind, „ganz unabhängig von den Objekten" 2 6 9 . Schopenhauer geht davon aus, daß diese Erkenntnisformen und die sich daraus ergebenden Kausalitäts-Gesetzmäßigkeiten gefunden werden können, „wenn man vom Subjekt, als wenn man vom Objekt ausgeht". Die vom Subjekt ausgehenden Erkenntnisformen können daher nach Schopenhauer „als die untheilbare Gränze zwischen Objekt und Subjekt" angesehen werden, „daher zwar alles Objekt in ihnen erscheinen muß, aber auch das Subjekt, unabhängig vom erscheinenden Objekt sie vollständig besitzt und übersieht" 270 . Damit die Objekte jedoch keine leeren Phantome sind, müssen sie nach Schopenhauer auf etwas zurückzuführen sein, „das nicht wieder wie sie selbst Objekt, Vorstellung, ein nur relativ, nämlich für ein Subjekt, Vorhandenes wäre", d.h. etwas, das außerhalb der Vorstellung Ding an sich ist. Schopenhauer nimmt den Willen aus der Vorstellungswelt heraus und sieht in ihm das Ding an sich, wie bereits ausgeführt wurde. M i t Kant geht Schopenhauer davon aus, daß Zeit, Raum und Kausalität allein der Erkenntnis, dem „Vorstellung seyn" angehören, nicht jedoch der Vorstellung selbst als Objekt; das Subjekt kann diese Erkenntnisformen „unabhängig von allem Objekt" entwickeln 271 . Da diese Erkenntnisformen der Vorstellung selbst angehören, nicht jedoch Eigenschaften der Objekte oder des Subjekts als Objekt sind, müssen sie „schon mit dem bloßen Gegensatz vom Subjekt und Objekt (nicht im Begriff, sondern in der That) gegeben seyn, folglich nur die nähere Bestimmung der Form der Erkenntnis überhaupt seyn, deren allgemeinste Bestimmung jener Gegensatz selbst ist". Die Vielheit der Erscheinungen und deren Nacheinander, die „nur unter Voraussetzung der Kausalität vorstellbare Materie", gehört nur diesen Erkenntnisformen selbst an. „Andererseits aber zeigen uns diese Erkenntnisse weiter nichts, als bloße Verhältnisse, Relationen einer Vorstellung zur andern" 2 7 2 . Von diesem Satz ausgehend liegt m. E. kein allzu weiter Schritt mehr bis zur These Nietzsches, daß die Relationen erst die Wesen der Dinge konstituieren, daß das Wesen der 268 269

W M 552 c). Schopenhauer, Die Objektivation des Willens, WWV I, Zweites Buch, § 24,

S. 165. 270 271 272

Schopenhauer, ebd. Schopenhauer, ebd., S. 166. Schopenhauer, ebd., S. 167.

140

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

dynamischen Quanten in den Machtverhältnissen zu allen anderen Quanten liegt 2 7 3 . M i t der Verneinung des Subjekts als Recheneinheit der Kausalität verwirft Nietzsche also den Tatsachenglauben des Positivismus: „gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen" 274 . Nietzsche zieht somit die letzte Konsequenz aus der Relationsbezogenheit der Erscheinungen, welche für die heutige institutionelle Rechtsauffassung innerhalb der Rechtstheorie von entscheidender Bedeutung ist, wie oben dies bereits erwähnt wurde. Auch in der philosophischen Literatur hat es Beachtung gefunden, daß Nietzsche sich gerade dadurch vom Positivismus abkehrt, daß er die Welt als „Beziehungszusammenhang" auslege und die naturwissenschaftlichen Kausalitätslehren nicht als Programm übernehme 275 , ohne jedoch den hier soeben entwickelten Gedankenweg nachzuzeichnen. Daß Nietzsche sich gerade aus der Erkenntnis heraus, daß die Relationen das Wesen der Erscheinungen ausmachen — oder auch: aus der Erkenntnis der Relationsgebundenheit aller Institutionen und Einzelnen heraus —, gegen den Positivismus wendet, erscheint insoweit bemerkenswert, als sich m.E. aus demselben Grunde die heutige westdeutsche institutionalistische Rechtsauffassung als „nachpositivistisch", wenn auch in der Tradition des Positivismus seit Ihering stehend, begreift. Der heutigen westdeutschen institutionellen Rechtsauffassung geht es u. a. darum, die spezifischen Rationalitätsdifferenzen zwischen der Rechtswissenschaft einerseits und der in einem institutionalisierten Prozeß entstehenden Rechtsanwendung und Gesetzgebung andererseits zu untersuchen. Diesem Ansatz liegt die Erkenntnis zugrunde, daß es einen einheitlichen „Rationalitätsstandard" nach dem Verständnis eines überkommenen Positivismus nicht gibt 2 7 6 . Aus der Verneinung des Subjekts als Recheneinheit von Kausalitäts-Gesetzmäßgikeiten folgt schließlich auch, daß physikalische Naturgesetze unter der Perspektive der Lebenserhaltung den Willen offenbaren, über die Natur Herr zu werden, indem sie auf eine einzige bestimmte Weise berechenbar gemacht wird. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Nietzsche aus der notwendigen Beschaffenheit naturgesetzlicher Kausalitätslehren die notwendige Beschaffenheit des menschlichen Intellekts habe herauslesen wollen. Die naturwissenschaftlichen Kausalitätslehren sind für Nietzsche vielmehr lediglich Ausprägung eines Triebes, welcher seine Perspektive hat, „welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte" 2 7 7 . 273

W M 635, 625. 274 W M 4 8 1 275

Kaulbach, Nietzsches Interpretation der Natur, NSt Bd. 10/11, S. 442 f. (S. 444). 276 Krawietz, Ansätze zu einem Neuen Institutionalismus in der modernen Rechtstheorie der Gegenwart, ebd., S. 710. 277 W M 481.

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141

Es bleibt somit festzuhalten, daß die Gesetzmäßigkeit des Perspektivismus als Interpretationsmethode der Machtverhältnisse die Verneinung und das Verlassen der Subjekt-Einheit als Rechengröße bedingt. Hierin liegt gleichzeitig die Verwerfung des Positivismus 278 , denn die Interpretation aus der Perspektive bezieht sich nicht auf Tatsachen. Es bedarf vielmehr immer der „Sinn-Setzung von etwas anderem aus gesehen", damit aus den Relationen „Tatbestände" herausgelesen werden können 2 7 9 . Der Perspektivismus als Interpretationsmethode „setzt eine Vielheit schon voraus". Die Ablehnung des Positivismus aus der Verneinung der Subjekt-Einheit führt schließlich zur Problemstellung, ob das „Ich" wie auch die Tatsache, d. h.: ob die Wahrheit als seiend angenommen werden kann 2 8 0 . Nietzsche führt den Gegensatz „ ,Die wahre und die scheinbare Welt' " auf Wertverhältnisse 281 zurück. Nietzsche zeigt die Scheinbarkeit dieses Gegensatzes auf: „Daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die,wahre' Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende i s t " 2 8 2 . Indem Nietzsche das Wesen der Wahrheit auf Wertschätzungen als Ausdruck bestimmter Lebensbedingungen zurückführt, legt er das Wesen der Wahrheit in die Relationen, in den Prozeß des Werdens der Machtverhältnisse. Nietzsche nimmt also den Begriff der Wahrheit aus dem Wesen des Sein in das des Werdens hinein. Der Wille zur Wahrheit in der Errichtung von Gesetzmäßigkeiten bedeutet ein „Fest"- und „Dauerhaft-machen" vereinfachender Berechnungsmethoden und eine Umdeutung der Lebensprozesse in das Seiende 283 . „,Wahrheit' ist somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein proccessus in infinitum, ein aktives Bestimmen, — nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den ,Willen zur Macht' " 2 8 4 . Da Nietzsche das Wesen der Wahrheit auf die Wertschätzungen als Ausdruck der Machtverhältnisse, der Relationen, zurückführt, liegt das Wesen und die Aufgabe der Wahrheit darin, die Voraussetzungen zur Ermöglichung des Lebens zu schaffen, indem sie einen Glauben „an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes" erlaubt, d.h.: „je mächtiger das Leben, umso breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein" 2 8 5 . Der zur Ermöglichung des Lebens seiend gemachten Welt als Wahrheit kommt somit die gleiche Aufgabe zu, welche Ihering als Zweck des Rechts erkannt hat, nämlich die Herstellung und Sicherung der 278 279 280 281 282 283 284 285

hierzu Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, ebd., S. 44. 556. 517. 507. ebd. 552 d). ebd. ebd.

WM WM WM WM WM WM WM

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Lebensbedingungen. In der als Ausdruck bestimmter Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen seiend gemachten Welt muß das „Ich", das Subjekt, als seiend fingiert werden 286 . Die seiend gemachte Welt als „perspektivische Illusion", das Seiend-Machen der Welt ist überhaupt erst dadurch möglich, daß „unser ,Ich' uns das einzige Sein ist, nach dem wir alles Sein machen und verstehen 287 . Das „Ich" muß als ein „ ,Ruhendes' neben Bewegtem" angesehen werden, da die Erkenntnis der Bewegung, des Werdens ohne den Glauben an das „Ich" als Sein nicht möglich wäre 2 8 8 . Die Vielfachheit des Leibes und „die fortwährenden Übergänge" erlauben indes nicht, ein „Individuum", ein seiendes Ich anzunehmen, denn „die ,ZahP der Wesen ist selber im Fluß". Der Wille zur Wahrheit ist der Wille, „Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen" 289 . Gehört das Vielerlei der Sensationen, die Vielfachheit des Leibes dem Werden als Lebensprozeß an, und muß der Charakter der werdenden Welt „als unformulierbar, als ,falsch', als ,sich widersprechend' " angesehen werden, so ist Erkenntnis nur möglich auf Grund des Glaubens an das „Ich" als Sein 290 . „Erkenntnis und Werden schließen sich aus" 2 9 1 . Nietzsche stellt die Einheit des Ich auch dadurch infrage, daß er darin nichts anderes als eine Quantität sieht. Die menschliche Erkenntnis bezieht sich allein auf die Quantität, „wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann"; die Erkenntnis ist jedoch nicht davor geschützt, bloße „Quantitäts-Differenzen" als etwas jeweils wesensverschiedenes, als Qualitäts-Differenz zu nehmen 292 . Es fragt sich nun, ob es eine „Seiendheit als Werden" im Denken Nietzsches gibt, wie Heidegger dies annimmt 2 9 3 . Nach Heidegger ergibt sich die Seiendheit als Werden im Denken Nietzsches aus einer „Ermächtigung des Werdens zum Sein", welches als „Beständigkeit des Werdens zur unbedingten Anwesenheit" nunmehr erscheint. Diese Deutung Heideggers geht von einem sicherlich bestehenden Zusammenhang von Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft und demjenigen des Willens zur Macht aus. Heidegger räumt jedoch selbst ein, daß Nietzsches Wiederkunftsgedanke ein zeitlich und „sachlich früher, d. h. vorgreifender" Gedanke ist, „ohne daß Nietzsche selbst jemals die Wesenseinheit mit dem Willen zur Macht eigens als solche zu durchdenken und metaphysisch in den Begriff zu heben vermochte" 294 . Ausgehend von einer Synthese dieser beiden entscheidenden Gedanken Nietzsches in dem Begriff des Werdens entnimmt Heidegger zunächst dem 286

W M 517.

287

W M 518. W M 520. W M 517. W M 518. W M 517. W M 565, 563. Heidegger, Nietzsche II, S. 19. Heidegger, ebd., S. 10.

288 289 290 291 292 293 294

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Wiederkunftsgedanken „die Beständigung des Werdenden zur Sicherung des Werdens des Werdenden in seiner Werdedauer" 295 . Die Beständigung des „Werdenden" in Analogie zum Seienden besteht für Heidegger in einem „in sich zurück- und zu sich vorauslaufenden" Kreisen. Das Werdende ist für Heidegger „nicht das fortgesetzt Andere", also kein fortschreitender Prozeß. Hier drängt sich nun allerdings die Frage einer Abweichung vom Denken Nietzsches 296 auf. Indem Heidegger das Werden aus dem fortgesetzten Lebensprozeß herausnimmt und als Werdendes in die „Beständigung" einer Wiederkehr führt, gelangt er zu dem Satz: „Was wird, ist das Gleiche selbst, will heißen: das Eine und Selbe (Identische)". Die Beständigung des Werdens des Werdenden liegt für Heidegger deshalb in der einen „Anwesenheit des Sichwiederholens des Identischen" 297 . Die These der Beständigung des Werdens des Werdenden in der Anwesenheit als Ausfluß des Wiederkunftsgedankens verbindet Heidegger mit dem Gedanken des Willens zur Macht nun in der Weise, daß er den Willen zur Macht „als Beständigung der Überhöhung, d.h. des Werdens" begreift 298 . Heidegger geht von einem Entwurf der Metaphysik im Denken Nietzsches aus, wonach die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht „als Grundbestimmungen des Seienden" zu begreifen sind. Insoweit erscheinen die bereits oben erwähnten Einwände gegen die Annahme eines „Sein" des Willens zur Macht aus metaphysischen Deutungsabsichten Heideggers heraus verständlich 2 9 9 . Nietzsche erklärt ausdrücklich: „Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt.. ." 3 0 °. Heidegger wendet seine sehr richtigen und weitreichenden Erkenntnisse über das Wesen des Willens als Wille zur Macht auf den Begriff des Werdens an: „Der Wille zur Macht ist das Sichüberhöhen in die Werdemöglichkeit eines sich einrichtenden Befehlens, welches Sichüberhöhen im innersten Kern Beständigung des Werdens als solchen bleibt und, weil allem bloßen Fortlaufen ins Endlose fremd und feind, sich diesem entgegenstellt" 301 . Es muß an dieser Stelle jedoch die Frage gestellt werden, ob das Wesen des Willens als Wille zur Macht eine Analogie zu einem „Wesen" des Werdens zuläßt. Dies erscheint in Berücksichtigung der soeben zitierten Äußerung Nietzsches zweifelhaft. Die in diesem Zusammenhang entstehenden Zweifel vermögen allerdings an der Richtigkeit der Ausführungen Heideggers über das Wesen des Willens als Willen zur Macht nichts zu ändern. Heideggers Deutung einer Synthese der Gedanken der ewigen Wiederkunft und 295

Heidegger, ebd., S. 11. hierzu auch Gerhardt, Macht und Metaphysik, NSt Bd. 10/11, S. 193f. (S. 202). 297 Heidegger, ebd. 298 Heidegger, ebd., S. 14. 299 Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, ebd., S. 31 u. 44; ders., Das Willenswesen und der Übermensch, ebd., S. 147. 300 W M 635. 301 Heidegger, ebd., S. 17. 296

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

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des Willens zur Macht als „Beständigung der Überhöhung, d. h. des Werdens", nachdem Heidegger zuvor die „Beständigung des Werdens des Werdenden in die eine Anwesenheit des Sichwiederholens des Identischen" gelegt hat, könnte die Äußerung Nietzsches zugrunde liegen, daß die Weltbewegung „keinen Zielzustand h a t " 3 0 2 . Ob daraus entnommen werden kann, das Werdende sei nicht das „fortgesetzt Andere" 3 0 3 , unterliegt deshalb Zweifeln, weil es Nietzsche insoweit lediglich darum geht, das Werden ohne die finale Absicht einer Sinndeutung des Weltgeschehens zu erklären: „das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwertbar: was auf eines hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen willen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden" 3 0 4 . Nietzsche leugnet die scheinbare Notwendigkeit des Weltgeschehens unter einem „Gesamtbewußtsein des Werdens", d.h. unter Gott, „um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen". Aus der Verneinung eines wollenden Wesens als übergreifende Gesamtgewalt folgt, daß die „Notwendigkeit" und der Sinn des Geschehens sich aus dem Werden selbst ergibt. Deshalb fordert Nietzsche: „man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen, — weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint" 305 . Zweifellos zutreffend ist m. E. in diesem Zusammenhang folgender Satz Heideggers, welcher sich auf den Gebrauch der Perspektive bezieht: „Wenn aber die Wahrheit als Richtigkeit und als Unverborgenheit in die ,Lebensgemäßheit' eingeebnet, wenn die Wahrheit so beseitigt ist, dann hat das Wesen der Wahrheit jede Herrschaft eingebüßt" 306 . e) Monade als Modell der Einheit Da Nietzsche das Wesen des Weltgeschehens als etwas Werdendes, dessen „Notwendigkeit" nicht durch eine übergreifende Gesamtgewalt gesteuert wird, ansieht, ergibt sich die Fragestellung, ob es in diesem Werden Einheiten gibt, d.h. „komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werden" 3 0 7 . Nietzsche erteilt hierauf zunächst eine rundheraus verneinende Antwort, welche er jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, näher spezifiziert: „Es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist „das Seiende" erst von uns hineingelegt (aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen)" 3 0 8 . In der philosophischen Literatur wird die Auffassung vertreten, daß Nietzsche die Einheit der Monade als Eins-heit seinem Denken zugrundelege, wie dies auch Leibnitz getan habe, nämlich als 302 303 3 W 305 306 307 308

W M 708. Heidegger, ebd., S. 11. W M ebd. W M ebd. Heidegger, ebd., S. 20. W M 715. W M ebd.

§10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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Einheit eines Organismus, eines Gemeinwesens, nicht jedoch als ein Zusammengesetztsein aus unteilbaren, atomaren letzten Einheiten 309 . Diese Hypothese ist sicherlich insoweit zutreffend, als es Einheiten für Nietzsche nur als Organisat i o n 3 1 0 mit relativer Dauer, als „Herrschaftsgebilde" in dem Sinne geben kann, wie dies oben bereits eingehend dargelegt worden ist 3 1 1 . Sehr zweifelhaft ist jedoch, ob Nietzsche den Gedanken der Monade in dem Sinne verfolgt oder übernommen hat, daß er die Monade als Ganzes, als Eins-heit begreift, welche sich „in jedem der Teile" vergegenwärtigt 312 . Nietzsche erklärt ausdrücklich, daß es „kein ,Ganzes4 " gibt, daß kein „ ,Prozeß des Ganzen' " unterstellt werden kann, „weil es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht —) gar nicht g i b t " 3 1 3 . Da es für Nietzsche kein Ganzes gibt, kann sich dieses notwendigerweise nicht in jedem der „Teile" vergegenwärtigen. Insoweit ist die Hypothese, daß Nietzsche einen solchen „monadologischen" Gedanken übernommen habe, m.E. unhaltbar, zumal Nietzsche diesen Gedanken als ein systembezogenes Prinzip gänzlich ablehnt. Ein Spannungsverhältnis zwischen der Einheit als Organisation und der Vielheit des Willens im Sinne eines Strebens, „über die Grenzen dieses organisierten Ganzen hinauszugehen, um es schließlich als Vergegenwärtigung des absoluten Ganzen" begreifen zu können 3 1 4 , gibt es m. E. im Denken Nietzsches nicht. Das Spannungsverhältnis besteht vielmehr innerhalb der Organisation, innerhalb des Leibes als Herrschaftsgebilde; „Der Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde" 3 1 5 . Das Mehr-Wollen des Willens als Wille zur Macht gehört dagegen zu seinem Wesen, ohne welches die Einheit als Herrschaftsgebilde der Ohnmacht, dem Untergang preisgegeben ist. Da sich der Wille zur Macht nur an Widerständen äußern kann, liegt sein Wesen in den Machtverhältnissen zu allen anderen Willen, — was nicht einfach mit dem „Spannungsverhältnis" innerhalb der Organisation gleichgesetzt werden kann —, nicht jedoch in der Hereinnahme des „Ganzen". Der Wille zur Macht, der auf gleiche Bestrebungen anderer Körper stößt, will sich nur mit denjenigen vereinigen, „welche ihm verwandt genug sind" 3 1 6 . Die Aneignung und Einverleibung als Mehr-werden-wollen setzt „ein Formen, An- und Umbilden" des Überwältigten voraus, andernfalls das Gebilde zerfällt und die Zweiheit als Folge des Willens zur Macht erscheint 317 . Der Wille zur Macht kann also nicht zu einem „Ganzen" in einem 309

Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, NSt Bd. 8, S. 127 f.

(129). 310

W M 711, 561.

311

s. oben unter § 10.2. Kaulbach, ebd., S. 130. W M 711.

312 313 314 315 316 317

Kaulbach, ebd. W M 966. W M 636. W M 656.

10 Kerger

146

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Spannungsverhältnis stehen, soweit dieses Ganze ohne Rücksicht auf seine gestaltende Kraft besteht, d.h. solange dieses Ganze dem Willen zur Macht nicht als Ganzes, als Organisation gegenübertritt, widerstrebt und der Wille zur Macht über dieses Ganze als Organisation Herr werden muß. Daß der Wille zur Macht in jedem Körper „danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen" 318 , erfordert gerade, daß der Körper „auf gleiche Bestrebungen anderer Körper" stößt, daß er den Widerstand aufsuchen muß. Zu einem „Ganzen" aller anderen Körper, welche keine Einheit als Organisation bilden, kann der Wille zur Macht nicht in ein „Spannungsverhältnis" treten. Der Wille zur Macht in jedem Körper ist nicht etwa darauf gerichtet, die Endlichkeit seiner Ausdehnung verneinen, „um das Ganze als Unbegrenztes" deuten zu können 3 1 9 . Die Gründe, aus welchen Nietzsche die Repräsentation eines Ganzen in seinen Teilen gerade ablehnt, stehen m. E. den Erwägungen sehr nahe, denen zufolge die institutionalistische Auffassung in der heutigen Rechtstheorie die Lehre vom Stufenbau des Rechts ablehnt 320 . Soweit Nietzsche sich den Gedanken der Monade zu eigen macht 3 2 1 , geschieht dies vielmehr allein zur Ermöglichung einer perspektivischen und dauerhaften Erkenntnis der jeweiligen Erhaltungsbedingungen 322 . Da die Einheit „ i n der Natur des Werdens gar nicht vorhanden" ist und die Sprache das Werden nicht auszudrücken vermag, bedarf es der Schaffung künstlicher Einheiten, als Gesellschaftsbaue vieler Seelen. Erst die Dauerhaftigkeit einer Erhaltungsperspektive ermöglicht es, im Menschen „nicht nur ein Individuum, sondern das fortlebende Gesamt-Organische in Einer bestimmten Linie" er erkennen 323 . Nur insoweit stellt sich die Frage, ob Nietzsche den Gebrauch der Perspektive als Eigentümlichkeit der Monade angesehen hat, ob in diesem Sinne die Perspektive die geschichtliche Gegenwart des Willens zur Macht darstellt 324 . Wenn man allerdings eine Synthese zwischen Nietzsches Gedanken des Willens zur Macht und demjenigen der Monade annehmen will, so ist es unbedingt geboten, von dem Wesen des Willens zur Macht auszugehen, welcher in jedem Lebendigen „alles tut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden" 3 2 5 . Das Wesen des Willens als Wille zum Mehr ermöglicht erst, aus der Perspektive der künstlich geschaffenen Einheiten, des Organismus als Herrschaftsgebilde und dessen Erhaltungsbedingungen heraus das „Ganze" zu betrachten, um festzustellen: „Wir sind mehr als das Individium: wir sind die ganze Kette noch mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette" 3 2 6 . Ein Ganzes gibt es für Nietzsche 318

W M 636. Kaulbach, ebd., S. 131. 320 Krawietz, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts, ebd., S. 264. 321 W M 715: „Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden". 319

322 323 324 325

W M ebd. W M 678. Kaulbach, ebd., S. 137. W M 688.

§ 10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

147

lediglich als Leib, welcher zur Erzeugung von einzelnen kraftvollen Individuen dient, die den „großen Prozeß fortsetzen" 327 . Die Individuation als das „beständige Zerfallen von eins in zwei" ist auf die Hervorbringung weniger Individuen gerichtet; „die übergroße Masse stirbt jedesmal ab (,der Leib')". f)

Perspektivismus

als Handlungsorientierung

Der Gebrauch der Perspektive ist das Instrument der relativen Einheiten des Leibes als Herrschaftsgebilde. Die Perspektive erschafft sich die „Scheinbarkeit" der Welt als „Realität" der jeweiligen Lebensbedingungen: „in einer Welt, wo es keinen Sinn gibt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden" 3 2 8 . Es bleibt deshalb keine „wahre" im Gegensatz zu einer scheinbaren Welt mehr übrig, wenn man die „Scheinbarkeit" der Perspektive aus der Erkenntnis, d.h. aus der Welt als Vorstellung heraustrennt. „Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet!" 329 . Diese Relativität als Feststellung der Relationen zwischen Macht-Quanten, deren Wesen selbst in den Relationen zu anderen Quanten besteht, macht das Wesen der „wahren" Welt als Vorstellung aus. Die Welt ist „essentiell RelationsW e l t " 3 3 0 . Wahr erscheint die Welt jedem Wesen insoweit, als es in ihr leben kann. „Jedes Kraftzentrum hat für den Rest seine Perspektive, d.h. seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art. Die,scheinbare Welt' reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum" 3 3 1 . Die „Realität" besteht daher nur „in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes einzelnen gegen das Ganze ...". Der Gebrauch der Perspektive nach der jeweiligen Lebensbedingung dient somit der Handlungsorientierung 332 innerhalb der Relations-Welt: „sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt — und diese Summierungen sind in jedem Fall gänzlich inkongruent" 3 3 3 . Der Mensch besteht somit aufgrund der Dauerhaftigkeit seiner Persektive als einer bestimmten „Gattung von Interpretation" 334 ; die geschichtliche Entwicklung des Menschen ist eine Abfolge verschiedener erfolgreicher Perspektiven als Interpretationsmethoden 335 . Vermöge des Per326 327 328 329 330 331 332 333 334 335

10*

W M 687. W M 679. W M 568. W M 567. W M 568. W M 567. Kaulbach, ebd., S. 139. W M 568. W M 678. Kaulbach, ebd., S. 140.

148

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

spektivismus als Interpretationsmethode konstruiert jede Macht von sich aus die ganze übrige Welt, indem sie sie an ihre Kraft mißt und gestaltet 336 . Diese Interpretationsmethode dient also letztlich der Überwindung relationsbedingter Erkenntisdifferenzen — von jedem „Punkt", d.h. „Kraftzentrum" aus gesehen. Gerade diese relationsbedingte Differenz der Erkenntnishorizonte macht die heutige institutionalistische Rechtsauffassung zum Gegenstand ihrer Untersuchungen, indem sie sich der „Rationalitätsdifferenz" zwischen der juridischinstitutionellen Rechtsanwendung und der Rechtswissenschaft zuwendet 337 . Die Untersuchung dieser Rationalitätsdifferenz erfordert es nach dieser institutionalistischen Rechtsauffassung, „die Chancen und Möglichkeiten einer neuen interpretativen Theorie des Rechts ins Auge" zu fassen 338 . Hierzu könnte Nietzsches Entwurf des Perspektivismus als Interpretationsmethode von hohem Nutzen sein. 4. Regelcharakter der „Willens-Kausalität" In den vorangehenden Ausführungen ist zunächst aufgezeigt worden, daß der Wille als Wille zur Macht „einem etwas in sich" befiehlt, d.h. sich als erster Gehorchender in den Befehlskreis seines Wollens stellt. Der Wille „west" bereits in der Macht; der Wille kann jedoch zur Macht nur gelangen, indem er sich das Mehr in der Macht befiehlt, indem er sich zur Machtsteigerung „ermächtigt" 3 3 9 . Der Wille zur Macht als Befehl zu Mehr-Macht erschafft einerseits aus der Zweiheit der Befehlenden und Gehorchenden den Leib als Herrschaftsgebilde; andererseits ergeben sich aus dem Wesen des Willens als Wille zu Mehr-Macht Gesetzmäßigkeiten zur Feststellung der Machtverhältnisse zu anderen Willen als Machtzentren. Diese Gesetzmäßigkeit im Verhältnis der Körper zueinander nennt Nietzsche die Perspektiven-setzende Kraft, „vermöge dessen jedes Kraftzentrum—und nicht nur der Mensch—von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet" 340 . Diese Interpretationsmethode betrifft die Feststellung der Machtverhältnisse zwischen den Willen als Kraftzentren, bzw. Macht-Quanten, um sich die Welt berechenbar zu machen; dies wurde soeben dargestellt. Es bleibt nun schließlich die Frage zu untersuchen, wie die Machtverhältnisse entstehen, wie „Wille auf Wille w i r k t " 3 4 1 . Nietzsches Antwort auf diese Frage nimmt ihren Ausgang von der Ablehnung eines nach Ursache und Wirkung, Täter und Tun getrennten Kausalitätsschemas, welches das „Ineinander" durchweg als ein „Hintereinander" interpretieren w i l l 3 4 2 . Die Hineindeutung 336

W M 636. Krawietz, Ansätze zu einem Neuen Institutionalismus in der modernen Rechtstheorie der Gegenwart, ebd., S. 711. 338 Krawietz, ebd. 339 Heidegger, Nietzsche II, S. 266. 340 W M 636. 341 JGB 36. 342 W M 631. 337

§ 10 Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt

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eines Täters als Subjekt in das Tun dient dazu, eine Regel als Berechnungsmethode von Verhaltensprozessen zu konstruieren und sich der Täuschung hinzugeben, als würde ein Subjekt unter dem Zwang dieser Regel sein Verhalten ausrichten. Nietzsche schreibt sehr treffend — auch im Sinne der heutigen Kritik an den Naturwissenschaften —, daß mit der Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit eines Verhaltensprozesses noch nicht dessen Notwendigkeit nachgewiesen ist. „Der Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen i s t " 3 4 3 . Die Hineindeutung des Subjekts in das Geschehen verfälscht die Kausalität zum Zwecke ihrer Berechenbarkeit in der Weise, daß man eine „Ursache", ein Subjekt unterstellt, welches als ein von seiner „Wirkung" getrenntes Etwas auf ein anderes Etwas wirkt. Es gilt indes: „Wenn ich den Muskel von seinen ,Wirkungen' getrennt denke, so habe ich ihn negiert" 344 . Es gibt kein einer Regel gehorchendes Subjekt, welches getrennt von seinem Verhalten auf ein willenloses Etwas eine „Wirkung" ausübt. Daß die Sprache vielleicht auf die Begriffe Ursache und Wirkung angewiesen ist, beweist hier nichts. Nietzsche fordert deshalb, den Täter wieder in das Tun hineinzunehmen, d. h. nicht ein Subjekt, eine Ursache, einen Täter zu fingieren, welche sich erst unter dem Zwang einer Gesetzmäßigkeit so verhielten. Auch die unabänderliche Aufeinanderfolge eines Verhaltensprozesses beweist nicht eine Kraft im Sinne eines Gesetzes, welches die „Ursache zur Wiederkehr" dieses Verhaltens ist. „Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom ,Gesetz', Freiheit hätte, anders zu handeln" 3 4 5 . U m möglichen Einwänden, daß Nietzsche hier allein oder auch nur vordringlich auf naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten abhebe, entgegenzutreten, sei zunächst darauf hingewiesen, daß Nietzsche hier nicht ohne Grund von „Gesetzgeber" spricht. Es wurde zudem bereits oben 3 4 6 erwähnt, daß Nietzsche das Naturrecht und die naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit einer gemeinsamen Betrachtung unterzieht und auf diese Weise zusammenhängende Entstehungs- und Interpretationsgründe aufzeigt. Nietzsche sieht die Wurzeln des Naturrechts in jener „,Gesetzmäßigkeit der Natur', von der ihr Physiker so stolz redet" 3 4 7 . Nietzsche erkennt in dem Postulat der Gleichheit vor dem Gesetz eine Umformung und Weiterentwicklung des juridischen Naturrecht unter demokratischen und atheistischen Einflüssen, welche mit der Fortentwicklung der Naturwissenschaften offenbar korreliert. Aus der geschichtlichen Korrelation zwischen Naturrecht und Naturgesetzmäßigkeit wird jedoch gerade der Interpretationscharakter beider Formen der Gesetzmäßigkeit deutlich, denn „es könnte jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpreta343 344 345 346 347

W M 552. W M 551. W M 632. unter 3. JGB 22.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

tionskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde, — ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ,Willen zur Macht 4 dermaßen euch vor Augen stellte, daß fast jedes Wort und selbst das Wort ,Tyrannei 4 schließlich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher — als zu menschlich — erschiene 4 ' 348 . Das Naturrecht wie auch die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten erkennt Nietzsche also als — sich gegenseitig bedingende — Interpretationsmethoden der „Willens-Kausalität", soweit die Welt Wille zur Macht ist „ — und nichts außerdem 44349 . Diese allem Geschehen innewohnende Willens-Kausalität als einzige Kausalität bestimmt das Verhältnis von Wille zu Wille, insofern Wille nur auf Wille wirken kann, nicht jedoch auf willenlose Materie: „genug, man muß die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo ,Wirkungen 4 anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt — und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin tätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist44 3 5 0 . Es zeigt sich an diesem sehr bedeutsamen Satz erneut, daß Nietzsche „die mechanistische Welt-Auslegung44, stellvertretend für alle naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, in der Weise seiner Kritik unterwirft, daß er diese naturwissenschaftliche „Welt-Auslegung" als die gelungenste und in ihrer beherrschenden Gestaltungskraft am weitesten entwickelte Interpretationsmethode der Feststellung von Machtverhältnissen in Form von „Gesetzen" ansieht. Weiterhin zeigt dieser Satz, daß die „mechanistische WeltAuslegung44 und mit ihr nicht nur alle naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, sondern auch alle anderen Gesetze des menschlichen Handelns, „alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht 44 zurückzuführen sind 3 5 1 . Die Gesetzmäßigkeiten der Natur sind Interpretationsmethoden des menschlichen Handelns, um die Natur beherrschen zu können. Die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten sind jedoch ebensowenig wie andere Verhaltensregeln in der Lage, die „wirkende Kraft" in ihren Gesetzen zu erkennen, „als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte 44352 . Daß Nietzsche hier im Rahmen seiner Kritik an der „mechanistischen", also naturwissenschaftlichen Weltinterpretation von Gehorsam gegen ein „Gesetz oder einen Gesetzgeber44 spricht, ist ein deutliches Indiz für die Deutung seiner Worte in dem soeben dargelegten Sinne 353 . Die Gesetzmäßigkeiten der Natur sind Verhaltensregeln für den Menschen, nicht für die Natur. Wie die naturwissenschaftlichen Gesetze der Berechenbarkeit und Beherrschung der Natur dienen, so kommt den juridischen Normen die Aufgabe zu, das menschliche Verhalten berechenbar und beherrschbar zu machen. 348 349 350 351 352 353

JGB ebd. JGB 36; W M 1067. JGB 36. JGB ebd. W M 632. dazu auch Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, ebd., S. 47.

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Naturwissenschaftliche wie auch juridische „Gesetze" sind Interpretationsmethoden zum Zwecke der Sicherung der Lebensbedingungen, was Ihering ja betreffend die juridischen Normen bereits festgestellt hatte. Es hat sich also gezeigt, daß im Denken Nietzsches eine Gesamtbetrachtung und -bewertung naturwissenschaftlicher wie juridischer Verhaltensregeln gerechtfertigt ist. Beide Interpretationsmethoden, welche miteinander in enger und naher Korrelation stehen, sind auf die perspektivische Erkenntnis einer einzigen Kausalität gerichtet, nämlich der Willens-Kausalität; denn „diese Welt ist der Wille zur Macht — und nichts außerdem!" 354 . Es handelt sich bei beiden Arten der Interpretationsmethoden deshalb nicht um „Gesetze" in dem Sinne, daß ein „regelmäßiges" Verhalten oder Geschehen aufgrund einer Achtung vor diesen Gesetzen erfolgt 355 . Es handelt sich bei beiden Arten der Verhaltensregeln „vielmehr um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht durchsetzen kann, — hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger eine Achtung vor,Gesetzen 4 " 3 5 6 . Da es „Mythologie" ist, zu glauben, daß ein Verhalten infolge des Gehorsams gegenüber einem Gesetz regelmäßig und gleich geschieht, muß die Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit menschlichen Verhaltens einen anderen Entstehungsgrund haben. Die Berechenbarkeit und Regelmäßigkeit des Verhaltens muß unabhängig von einem nachträglich konstruierten Gesetz gegeben sein, denn kein Wesen hat, „abgesehen vom ,Gesetz' ", die Freiheit, beliebig anders zu handeln 357 . Es ist besonders daraufhinzuweisen, daß Nietzsche in diesem Satz von „Wesen" und nicht von „Willen" spricht. Da die Berechenbarkeit aus der absoluten Feststellung der Machtverhältnisse folgt 3 5 8 , entsteht die Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit allen Verhaltens also aus den Relationen zwischen den Machtquanten; denn die Wesen bestehen — wie bereits ausgeführt — in dem Verhältnis dieser Quanten zueinander, die Relationen konstituieren erst die Wesen 359 . Die Berechenbarkeit aufgrund der absoluten Feststellung der Machtverhältnisse stammt somit aus den Wesen selbst, welche „nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so" verhalten, „sondern als so und so beschaffen" 360 . Das Verhalten nach einem Gesetz, einer „Regel" bedeutet also nur: „etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts" 361 . Da die der Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit 354 355 356 357 358 359 360 361

WM WM WM WM WM WM WM WM

1067. 629, 630. 630. 632. 630. 625, 635. 632. ebd.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

zugrundeliegende Kausalität somit außerhalb von Gesetzen und Regeln liegt, welche ein Subjekt, einen Täter bzw. eine Ursache getrennt vom Tun bzw. einer Wirkung fingieren müssen, entsteht die Berechenbarkeit aus dem Wesen aller Erscheinungen selbst, also aus dem Willen zur Macht. Es ist nun an dieser Stelle geboten, den Satz Nietzsches anzuführen, welcher m. E. in Hinsicht auf die hier gestellte Aufgabe der Entwicklung einer Normentheorie im Denken Nietzsches von zentraler Bedeutung ist: „Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit" 362 . Die Wesen „betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel" 3 6 3 , die Notwendigkeit als Berechenbarkeit des Verhaltens folgt nicht aus einem Gesetz, sondern aus dem Wesen selbst, d. h. aus seinem Willen zur Macht in Relation zu allen anderen Willen, also aus der absoluten Feststellung der Machtverhältnisse. Bezogen auf juridische Normen bedeutet dies, daß sie das menschliche Verhalten nur insoweit berechenbar machen und steuern können, als sie dem „Streben" des Willens — welches ein auf die Machtverhältnisse bezogenes „Etwas-Wollen" ist, da der Wille nicht strebt, nicht „ ,effektuiert' " w i r d 3 6 4 — unter Berücksichtigung des ständigen Wandels der Lebensverhältnisse gerecht zu werden vermögen. Juridische Normen sind also nur dann und insoweit in der Lage, menschliches Verhalten zu steuern, als sie die Quasi-„Gesetzmäßigkeit" des menschlichen Wollens unter den sich ständig wandelnden Lebensverhältnissen annähernd richtig berechnen, d.h. als die juridischen Normen die Relationen, die absolute Feststellung der Machtverhältnisse richtig berechnen. Die juridischen Normen sind gewissermaßen das „Naturgesetz" des menschlichen Willens, seines „Strebens" angesichts sich permanent verändernder Lebensverhältnisse und Machtstrukturen — wie auch die Gesetzgebung nur auf die Motivation, nicht den Willen, die Gesinnung, einwirken kann und daher nur auf die Motivation gerichtet ist 3 6 5 . Der Einzelne gehorcht jedoch dem juridischen Gesetz nur insoweit, als es der Feststellung der Machtverhältnisse in jedem Augenblick noch entspricht. Der Einzelne richtet sein Verhalten also an der Notwendigkeit aufgrund der absoluten Feststellung der Machtverhältnisse aus; der Einzelne gehorcht jedoch nicht dem Zwang des Gesetzes selbst, welches die Relationen richtig oder falsch berechnet hat. Der Wollende gehorcht nicht dem Gesetz als Verhaltensregel, sondern dem Affekt des Kommandos seines Willens, indem er zuerst in den Befehlskreis seines Willens tritt, d.h. zu seinem Willen in ein Verhältnis tritt. Die WillensKausalität nimmt also dort ihren Anfang, wo der Wollende sich zum ersten 362

W M 634; JGB 22. W M 634. 364 W M 668. 365 Schopenhauer, Bejahung und Verneinung des Willens, WWV I, Viertes Buch, § 62, S. 428. 363

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Ausführenden seines Willens macht, indem er seinen Willen über sein Wollen als überwundene Machtstufe stellt, sich zur Übermächtigung ermächtigt. Der Wollende tritt als erster Ausführender seines Willens mit allen anderen Willen in ein Verhältnis. Die Feststellung der Machtverhältnisse vollzieht sich dadurch, daß die gehorchenden und eingeschulten Werkzeuge innerhalb des Gesellschaftsbaues in Abschätzung der Kraft anderer Herrschaftsgebilde „an die Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen" müssen, um den Befehl des Willens ausführen zu können. Die Unbestimmtheit des Befehls in der Gewißheit, daß „der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte" 3 6 6 , setzt voraus, daß die Ausführenden den Befehl „verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei" 3 6 7 . Dadurch, daß der Befehl, je weiter er zur Ausführung und Anwendung gelangt, in eine wachsende Zahl von „Unterbefehlen" zergliedert werden muß, um den Befehl in Abschätzung anderer Kräfte ausführen zu können, werden die Relationen zu anderen Herrschaftsgebilden antizipiert und gleichsam bereits innerhalb der eigenen Organisationseinheit hergestellt. Die Feststellung der Machtverhältnisse zu anderen Willen als Machtzentren findet also bereits in jedem Körper als Herrschaftsgebilde selbst statt, sobald der Wille als Wollender mit der Ausführung des Gewollten beginnt. So entsteht die „Umkehrung" des Ausführungsvorganges „von dem letzten und kleinsten Gehorchenden" an. Die Antizipation bzw. Herstellung der Relationen zu anderen Machtzentren innerhalb der eigenen Organisationseinheit selbst erklärt und bestätigt den Satz, daß die Relationen erst selbständige Wesen konstituieren und entstehen lassen können. Nur durch diese Antizipation der Machtverhältnisse, welche den Verhältnissen zu anderen selbständigen Einheiten entsprechen, kann ein Wesen zur eigenen Selbständigkeit gelangen. Diese Antizipation bedeutet nichts anderes, als den Befehl des eigenen Willens in ein Verhältnis zu allen anderen Willen zu setzen, um ihn ausführen zu können. Jedes Machtquantum ist daher „durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet" 368 . Die Willens-Kausalität als Verhaltensnotwendigkeit eines jeden Machtquantums besteht darin, daß es seine Kraft „an einem Quantum Kraft-Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß i s t " 3 6 9 , insoweit jedes Wesen eben unbedingt durch die Relationen zu allen anderen Willen bestimmbar ist und notwendig in jedem Augenblick bestimmt wird. Indem jedes Herrschaftsgebilde als Organismus oder Gesellschaftsbau seine Einheit im Sinne einer Selbständigkeit nur dadurch erlangen kann, daß es die Ausführung seines Willens den Machtverhältnissen unterwirft, bedarf es des Widerstrebens der ausführenden Werkzeuge 370 , d. h. eines untergeordneten Grades an deren Selbständigkeit. Der Wille ist auf das Widerstreben seiner gehorchenden Werkzeuge angewiesen, welche in dem Grade und solange widerstreben, als der Wille zur Ausführung 366 367 368 369 370

JGB 19. Nachlaß, 2. Teil, 331. W M 634. W M 639. W M 642.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

des Gewollten nicht in Relation zu allen anderen Willen tritt, d.h.: soweit und solange der Befehl des Willens in seiner Ausführung nicht den bestehenden Machtverhältnissen zu anderen Willen entspricht. In dem Widerstreben der gehorchenden Werkzeuge liegt wiederum gleichzeitig eine „absolute Feststellung von Machtverhältnissen" innerhalb der Organisationseinheit selbst. Die Gehorchenden können bei der Ausführung des Gewollten nur in dem Umfang widerstreben, als der Wille in seinem Wollen nicht den Machtverhältnissen entspricht. Nur insoweit und zu diesem Zweck können die ausführenden Gehorchenden ihren Grad von Selbständigkeit durchsetzen 371 , als eben insoweit im Befehlen ein Zugestehen liegt, „daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst" 372 . Weiter kann die Selbständigkeit und die Kraft des Widerstrebens der Gehorchenden nicht reichen, denn auch in ihnen ist der Wille zur Macht dieses Körpers als Herrschaftsgebilde, welcher in die Zweiheit der Befehlenden und Gehorchenden auseinander getreten ist, „um nicht fahren zu lassen, was erobert ist", jedoch nicht einverleibt werden konnte 3 7 3 . Äußert sich somit die Willens-Kausalität innerhalb der Körper als Herrschaftsgebilde im Widerstreben der Ausführenden, soweit es den Machtverhältnissen innerhalb der Organisationseinheit in Relation zu allen anderen Machtquanten entspricht, so bleibt noch die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen der Wille als Befehl das Widerstreben der Ausführenden im höchstmöglichen Maß vermindern kann. Es wurde bereits oben 3 7 4 dargestellt, daß die an Ursache und Wirkung ausgerichteten Kausalitätsschemata als Gesetzmäßigkeiten ein bewirkendes Etwas als vor dem Tun und getrennt davon fingieren müssen, um „durch die Hineindenkung des Zwanges in den Folgenvorgang" ein Subjekt annehmen zu können, welches unter dem Zwang einer Regel sein Verhalten ausrichtet 375 . Der Befehl des Willens als das „Wissen" um das „Tun" und das Tun selbst „liegen kalt auseinander: als wie in zwei verschiedenen Reichen" 376 . Auch im Bewußtsein und unter Anwendung aller jemals möglichen naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten „würde ich um keinen Deut besser oder schlechter meinen Arm ausstrecken" als ohne Kenntnis der dort sich vollziehenden biochemischen und mechanischen Vorgänge 377 . Das „Ineinander" der subjektlosen Willens-Kausalität kann nur mit Hilfe der Fiktion eines vom Tun getrennten Täters als ein „Hintereinander" im Sinne einer berechnenden Gesetzmäßigkeit erfaßt werden. Es gibt keine ein von ihr getrenntes „Etwas" bewirkende Kraft, sondern nur diese Kraft selbst. „Andererseits: Napoleon führt den Plan eines Feldzuges durch — was heißt das? Hier ist alles gewußt, was zur Durchführung des Planes gehört, weil alles befohlen werden 371 372 373 374 375 376 377

W M 630. W M 642. W M 656. unter 3. W M 664, 551. W M 665. W M ebd.

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m u ß " 3 7 8 . Nur, soweit der Wille als Wollender selbst befiehlt, solange er selbst seinen Befehl in weitere Befehle zergliedert und damit selbst sein Wollen zu allen anderen Machtzentren in ein Verhältnis setzt, „weiß" er um die Ausführung seines Willens, kann er das Widerstreben der Gehorchenden ausschließen. Der Wille kann jedoch nur in der Organisation als Herrschaftsgebilde zur handlungsfähigen Einheit gelangen, um den Willen über das Gewollte stellen zu können, anstatt ihn sogleich als bloßes Wollen der zur Ausführung erforderlichen Anpassung an die Machtverhältnisse preiszugeben und zu relativieren. Es gilt deshalb: „auch hier sind Untergebene vorausgesetzt, welche das Allgemeine auslegen, anpassen an die Not des Augenblicks, Maß der Kraft u.s.w." 3 7 9 . Die Macht-Quanten richten also ihr Verhalten nicht nach einer Regel oder einem „Gesetz" aus. Es muß ihnen vielmehr ein Wille als wirkende Kraft zugesprochen werden. Der Wille zieht als Wille zur Macht seine letzte Konsequenz, indem er als Wille zu Mehr-Macht den Willen als Befehl über sich als Wollenden stellt, d.h.: sich der Kausalität seines Willens unterwirft und als Wollender das Gewollte den Machtverhältnissen anpaßt, indem er sich als erster in den Befehlskreis seines Willens stellt. Der Wollende gehorcht nicht Regeln und Gesetzen, welche dem Berechenbarmachen der Lebensbedingungen dienen, sondern allein dem Affekt des Kommandos seines Willens in Relation zu allen anderen Willen. Geht man mit Ihering davon aus, daß das Wesen des Rechts in seiner Verwirklichung liegt, die Voraussetzung dazu die Macht ist, „das Organ und der Träger der Macht aber der Wille" ist 3 8 0 , so wird die unmittelbare Bedeutung der philosophischen Frage, wie Wille auf Wille wirkt, für die Rechtstheorie erkennbar. Erst aufgrund der das Leben gestaltenden Macht des Willens werden, wie Ihering es ausführt, Rechtsgedanken zu Rechtssätzen. Ohne die lebensgestaltende Macht des Willens gäbe es „Gedanken, Ideen, Ansichten, wie alle anderen, aber keine Rechtssätze". Mag somit diese Charakterisierung der die einzelnen Rechtssätze erzeugenden Macht des Willens für die Aufgabe der Rechtstheorie, den Willen in seiner Bedeutung für die Rechtswirklichkeit zu erfassen, ausreichen, so reicht sie doch nicht weiter, „denn es fehlt ihr an einem Prinzip für den Inhalt des Willens" 3 8 1 . Es bedarf jedoch einer Entwicklung dieses Prinzips des Willens, wenn man mit der westdeutschen institutionalistischen Rechtsauffassung davon ausgeht, daß es „keine empirische Regelmäßigkeit" menschlichen Handelns gibt 3 8 2 . Die Frage, wie das Wesen des Willens beschaffen ist und der Wille zu anderen Erscheinungen des Willens in Relation tritt, sowie Nietzsches Antwort hierauf sind somit auch für die Rechtstheorie von erheblicher Bedeutung. 378 379 380 381 382

W M ebd. W M ebd. Ihering, Geist des römischen Rechts, Zweites Buch, § 60, S. 318, 319. Ihering, ebd. Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, ebd., S. 228.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

§ 11 Wille zur Macht als Handlungstheorie 1. Wille zur Macht im Lichte der anthropologisch-funktionalen Institutionentheorie Schelskys Aus den bisherigen Ausführungen zur Entwicklung einer Normentheorie Nietzsches, welche von dem grundlegenden Gedanken des Willens zur Macht auszugehen hat, wurde bereits erkennbar, daß Nietzsches Vorstellungen einer Normentheorie auffallend deutliche Übereinstimmungen mit der institutionalistischen Lehre innerhalb der heutigen Rechtstheorie aufweisen 1. Diese Übereinstimmungen beschränken sich indessen nicht allein auf die Frage nach dem Imperativcharakter des Rechts und nach dem Verhältnis von Regel und Regelbefolgung, also auf das Verhältnis zwischen Macht und Recht. Das Wesen des Willens als Wille zur Macht bedeutet nach den Worten Nietzsches im Einklang mit der institutionalistischen Lehre einerseits, daß der Wille als Befehl voraussetzt, daß „die Aktion erwartet werden durfte", d. h., daß der Normbefehl sich auf bestimmte „Erwartungsstrukturen" bezieht und von dort her Einschränkungen erfahrt 2 . Nietzsches Äußerungen ist also zu entnehmen, daß eine Handlungsorientierung aufgrund bestimmter Erwartungen stattfindet, die durch das Verhältnis des Willens zu den ausführenden Gehorchenden geschaffen werden, also durch ein institutionalisiertes und Wechselwirkungen unterworfenes Verhalten. Das allem Leben zugrundeliegende Prinzip des Willens zur Macht bedeutet andererseits jedoch, daß der vom Recht Betroffene und dem Normbefehl Gehorchende seine „Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben" hat und in dem Befehl gerade das Zugestehen liegt, „daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt" ist 3 . Das „Widerstreben" der Gehorchenden ist die Grundlage der davon ausgehenden Wechselwirkungen und Voraussetzung für die Entstehung der Einheit des Leibes, der Gesellschaft und aller Institutionen, welche nur als „Organisation" möglich ist. Es erscheint interessant, daß Schelsky ebenfalls von „den Widerstrebenden" spricht, um den autoritativen Charakter rechtlicher Handlungsentscheidungen der Person deutlich zu machen 4 . Dieser Gedanke entspricht zumindest in seiner Tendenz dem „anthropologisch-funktionalen" Ansatz Schelskys, wie er ihn im Anschluß an Malinowski entwickelt hat. Danach bilden sich um alle menschlichen Aktivitäten „Institutionen als organisierte Gruppenstützung dieses Verhaltens, und erst diese Institutionen schaffen die Ganzheit eines kulturellen Systems"5. Der 1

s. soeben unter § 10.2. JGB 19; Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht in staatlich organisierten Rechtssystemen, ebd., S. 228. 3 W M 642. 4 s.o. § 10.3.; Schelsky, Die Soziologen und das Recht, S. 88. 5 Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, ebd., S. 46. 2

§ 11 Wille zur Macht als Handlungstheorie

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Grundgedanke dieses anthropologisch-funktionalen Ansatzes liegt darin, daß „der Mensch" Ausgangspunkt der Analyse seines Handelns ist, nicht dagegen „das System". Der Mensch bleibt auch in Anerkennung seiner Zugehörigkeit zu dem jeweiligen sozialen System zu nicht systembezogenen Prozessen „der Willensbildung und damit zur Bestimmung von 'Endzielen' " seines Handelns fähig. Der Mensch selbst ist ebenso wie das soziale System eine „Einheit". Der Mensch bildet eine anthropologische Einheit, welche nicht nur durch ein „auf politische Institutionen und ihre Rollen bezogenes Verhalten" erfaßbar ist und es verbietet, „das Individuum eigentlich nur als Objekt der Integrationsmechanismen des sozialen Systems" zu begreifen 6. Die Grundlage seiner rechtssoziologischen Lehre sieht Schelsky jedoch nicht in einer einseitig vom Individuum ausgehenden Analyse, sondern in einer Synthese des anthropologisch-funktionalen und des systemfunktionalen Ansatzes, um zu „antagonistischen Problemund Kategoriensystemen" zu gelangen und die „Gegensätzlichkeit der Gesichtspunkte" zu erfassen 7. Hierin liegt für Schelsky zudem nicht lediglich eine analytische Methode. Der anthropologische Funktionsbegriff geht von den der Natur des Menschen entsprechenden biologischen Bedürfnissen aus, um eine „funktionale Zuordnung der Leistungen des sozialen Lebens auf die natürlichen Grundbedürfnisse" zu erreichen, wobei allerdings eine „eindeutige kausale Zurechnung bestimmter biologischer Bedürfnisse zu bestimmten sozialen Institutionen" unmöglich ist 8 . Bei der Aufstellung der biologischen Grundbedürfnisse des Menschen ist streng darauf zu achten, diese Grundbedürfnisse nicht bereits als „Funktionen" zu formulieren, d. h. nicht „die Bedürfnisse aus den Leistungen der Institutionen zu erschließen" 9. Eine Zurechnung der Leistungen bestimmter Institutionen zu bestimmten Bedürfnissen sieht Schelsky auch dadurch vereitelt, daß den Institutionen selbst für den Menschen diejenige Bedeutung zuerkannt wird, welche der Instinkt in der Tierwelt hat 1 0 . I m Anschluß an die Forschungsergebnisse von Konrad Lorenz geht Schelsky vielmehr davon aus, daß „auch beim Menschen eine von Außenreizen unabhängige endogene Rhythmik und Produktion von Antriebsenergien" besteht, welche durch die Institutionen nicht vernachlässigt oder verändert werden kann, deren Befriedigung sie vielmehr in angemessener Weise garantieren müssen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Diese von äußerer Einwirkung unabhängig vorhandenen Antriebsenergien bestehen demzufolge in dem „Antagonismus von intraspezifischer Angst und Aggression", worin Schelsky die „Grundlage... aller sozialen Ordnung" erkennt. Keine Institution, „keine Familie, kein Verein, ... kein Staat, ... nichts dergleichen könnte existieren und funktionieren ohne diesen Antagonismus" 11 . Hieran zeigt sich nun besonders deutlich, daß dieser 6

Schelsky, ebd., S. 47 und 54. Schelsky, ebd., S. 42. 8 Schelsky, ebd., S. 57. 9 Schelsky, ebd., S. 58. 10 Schelsky, ebd., S. 59. 11 Schelsky, ebd. 7

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Entwurf einer Handlungstheorie, nämlich sowohl vom Einzelnen als auch vom „Ganzen der Gesellschaft" des Systems ausgehend, gerade dem Denken Nietzsches entspricht und sich aus seiner Lehre vom Willen zur Macht ergibt. „ I n Wahrheit gehört überall ein starker Antagonismus hinein, in Ehe, Freundschaft, Staat, Staatenbund, Körperschaft ..., damit etwas Rechts wachse" 12 . Dieser Antagonismus innerhalb aller Institutionen ist nach Nietzsche erforderlich, weil „alle Einheit nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit (ist): nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist" 1 3 . Die Notwendigkeit des „Zusammenspiels" sich widerstrebender Kräfte zur Schaffung und Unterhaltung von Institutionen, worin er mit der neuen institutionalistischen Lehre vollends übereinstimmt, ergibt sich für Nietzsche unmittelbar aus dem Wesen des Willens zur Macht, welcher „sich nur an Widerständen äußern" kann und „die Widerstände aufsucht" 14 . Nur durch ein Widerstreben der Kräfte ist ein „Zusammenspiel" möglich, indem der Wille zur Macht als der „Eine Wille" sich in Befehlenden und Gehorchenden gegenübertritt und eine Organisation als „Herrschaftsgebilde" entstehen kann. Die „Zweiheit" von Wille und Aktion kann nur durch solches Zusammenspiel als Einheit begriffen werden 15 . Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht enthält somit zweifellos eine Handlungstheorie, welche in Übereinstimmung mit dem Institutionalismus in den Relationen von unterschiedlichen Kräften die Grundlage sowohl der Institutionen als auch des menschlichen Leibes zu erfassen sucht: „die Relationen konstituieren erst Wesen" 16 . Es fragt sich indessen, ob Nietzsches Lehre ein Handlungsbegriff zu entnehmen ist, welcher im Sinne Schelskys menschliche Handlungen auf eine biologisch-anthropologische Bedürfnisstruktur zurückführt. Die gegenwärtige institutionalistische Handlungstheorie geht davon aus, daß die Handlung ein „informationsgelenktes Verhalten" ist, deren Wesen in der „Intentionalität" liegt, d.h. der bewußten Zweckverfolgung 17 . Während jedoch Weinberger eine „formale" Handlungstheorie vertritt, wonach die Handlung des Einzelnen und gesellschaftliches Handeln „analog strukturiert" sind, geht es Schelsky darum, das Wesen der Handlung anthropologisch den „natürlichen Grundbedürfnissen" zu entnehmen 18 . Nach der formalen Handlungstheorie ist das Handeln von Tatsacheninformationen, aber auch von „stellungnehmenden" Informationen, welche normativ bestimmt werden, abhängig, weshalb Institutionen „nur im Zusammenhang mit den ihnen zugrunde liegenden normativen Regulationen funktionieren" 19 . Dagegen ist der anthropologisch-funktionale 12

Nachlaß, 2. Teil, 435. W M 561. 14 W M 656. 15 JGB 19; s.o. §10.1. und 4. 16 W M 625. 17 Weinberger, Soziologie und normative Institutionentheorie, in: Recht und Institution, S. 33 f. (36); Schelsky, ebd., S. 67. 18 Weinberger, ebd., S. 47; Schelsky, ebd., S. 57. 19 Weinberger, ebd., S. 38 und 41. 13

§ 11 Wille zur Macht als Handlungstheorie

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Ansatz Schelskys darauf gerichtet, den Zusammenhang zwischen menschlichem Instinkt und „sozialem Instinktersatz" durch Institutionen aufzudecken 20. Das Recht wird demnach von den Institutionen geschaffen, wobei jedoch die Funktion des Rechts innerhalb der Institution nicht einer unzulässigen Identifizierung von Recht und Institution entnommen werden kann. Die Grenzen des anthropologisch-funktionalen Ansatzes sieht Schelsky deshalb darin, daß zwar die Leistung einer Institution, nicht hingegen das Recht bestimmten biologischen Grundbedürfnissen zugeordnet werden kann 2 1 . Es ist nun zu prüfen, ob nach Nietzsche eine Zuordnung menschlichen Handelns auf bestimmte biologische Grundbedürfnisse möglich ist, und inwieweit ein auf Befriedigung von Bedürfnissen, Trieben u.s.w. gerichtetes bewußtes Zweckhandeln eine einem „Instinktersatz" nahekommende Handlungssteuerung gewährleisten kann. Dabei ist indessen in Rechnung zu stellen, daß Schelsky der Tendenz der Soziologie entgegentritt, menschliches Handeln einseitig als biologisch-fixiertes Verhalten und die daraus entnommenen steuernden Mechanismen als eher ausweglose „soziale Gesetzlichkeiten" zu begreifen 22. Hierin liegt m.E. wiederum eine wesentliche Übereinstimmung mit dem Denken Nietzsches. Das ins Bewußtsein gelangte Wollen erkennt Nietzsche als eine End-Erscheinung, also nicht als Ursache des Handelns. Die vor dem Wollen als bewußtem Zweckhandeln liegenden und durch das Wesen des Leibes bestimmten Antriebsenergien können nach Nietzsche nicht einem bestimmten Bedürfnis zugeordnet werden. „Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Wille ist nicht geboren aus einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein Gesamtzustand, eine ganze Oberfläche des ganzen Bewußtseins und resultiert aus der augenblicklichen Machtfeststellung aller der uns konstituierenden Triebe" 23 . Nietzsche spricht insoweit vom Willen als einer falschen „Verdinglichung", welche letztlich nur eine „vereinfachende Konzeption des Verstandes" bedeutet 24 . Indem Nietzsche das bewußte Wollen und Handeln nicht einem bestimmten Trieb oder Bedürfnis zuordnet, sondern „der augenblicklichen Machtfeststellung aller der uns konstituierenden Triebe", deutet er auch hier wiederum auf die Funktion des Bewußtseins als „Werkzeug" der die leiblichen Triebe vereinigenden Herrschaftsstruktur hin. Das im Bewußtsein erscheinende „Fühlen, Wollen, Denken zeigt überall nur Endphänomene, deren Ursachen mir gänzlich unbekannt sind" 2 5 . Der im Bewußtsein erscheinende „Zweck" einer Handlung ist deshalb, wie bereits ausgeführt wurde, lediglich ein „Symptom des eigentlichen Geschehens" und nicht die Ursache einer Handlung 26 . Die „wahre Welt" der 20 21 22 23 24 25 26

Schelsky, ebd., S. 61. Schelsky, ebd., S. 62. Schelsky, ebd., S. 63. Nachlaß, 2. Teil, 250. W M 671. Nachlaß, ebd., 195; dazu s.o. § 9.2. W M 666; Nachlaß, ebd., 250; dazu s.o. § 8.2.

160

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Handlungsursachen bestimmt sich jedoch nach der Herrschaftsstruktur innerhalb der Triebe des Leibes und ist „unsäglich komplizierter". Bewußtsein, Intellekt und Sinne sind ein „vereinfachender Apparat", welcher die Vorstellung der Einheit des Ich ermöglicht und nicht mit der Herrschaftsstruktur innerhalb der Triebe des Leibes verwechselt werden darP 7 . „Unsere falsche verkleinerte, logisierte Welt der Ursachen ist aber die Welt, in welcher wir leben können. Wir sind soweit 'erkennend 4, daß wir unsere Bedürfnisse befriedigen können44 2 8 . Diese im Bewußtsein erscheinenden „Bedürfnisse" sind jedoch nur Ergebnisse der „augenblicklichen Machtfeststellung aller der uns konstituierenden Triebe 44, welche die Zuordnung eines im Bewußtsein erscheinenden „Bedürfnisses 44 zu einem bestimmten Triebe gerade nicht zuläßt 29 . Hieran zeigt sich m.E. der überlegene Ansatz Nietzsches, zwischen dem Ich-Bewußtsein und der Herrschaftsstruktur innerhalb der leiblichen Triebe streng zu trennen, um so zwischen der Steuerbarkeit des Einzelnen durch die Gesellschaft aufgrund im Bewußtsein erscheinender Bedürfnisse und der sich einer solchen Steuerung entziehenden Herrschaftsstruktur der leiblichen Triebe unterscheiden zu können. Den menschlichen Leib erkennt Nietzsche als eine „ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen44, welche „ersichtlich nicht durch das Bewußtsein44 gesteuert wird 3 0 . Das Bewußtsein der Ich-Einheit vermag deshalb die Gesetzmäßigkeiten und „Bedürfnisse" innerhalb der unübersehbaren Vielzahl von Trieben und ihrer Herrschaftsstruktur nicht anzugeben. Bedürfnisbefriedigung kann nach Nietzsche aus diesem Grunde nicht das Ergebnis bewußten Zweckhandelns sein: „ — aber was weiß ich von dem, was Sättigung ist! In Wahrheit wird Sättigung erreicht, aber nicht gewollt, — ... so lange Hunger da ist, ist das Motiv: nicht die Absicht, 'um 4 , sondern ein Versuch bei jedem Bissen, ob er noch schmeckt" 31 . Das Bewußtsein und der in ihm liegende Zweck einer Handlung enthalten keine Aussage darüber, was Bedürfnisbefriedigung ist und wodurch sie erreicht wird. „Unsere Handlungen sind Versuche, ob dieser oder jener Trieb daran seine Freude habe, bis ins Verwickeiste hinein, spielende Äußerungen des Dranges nach Tätigkeit, welche wir durch die Theorie der Zwecke mißdeuten und falsch verstehen44 3 2 . Der Wille kann sich daher nach Nietzsche gar nicht auf die Befriedigung von Bedürfnissen beziehen: „Wir bewegen unsere Fangarme — und dieser oder jener Trieb findet in dem, was wir fangen, seine Beute und macht uns glauben, wir hätten beabsichtigt, ihn zu befriedigen 4433 . Diesen wichtigen Sätzen Nietzsches, worin m.E. die in seiner Lehre des Willens als Wille zur Macht enthaltene Handlungstheorie besonders prägnant zusammengefaßt ist, liegt wiederum jener Gedanke zugrunde, welcher 27 28 29 30 31 32 33

Nachlaß, Nachlaß, Nachlaß, Nachlaß, Nachlaß, Nachlaß, Nachlaß,

ebd., ebd. ebd., ebd., ebd., ebd. ebd.

195; s.o. § 9.2. 250. 343. 113.

§ 11 Wille zur Macht als Handlungstheorie

161

sowohl für das Wesen des Willens, als auch für den institutionalistischen Ansatz bei Nietzsche von Bedeutung ist: „daß ein 'Zweck' mit seinen 'Mitteln' eine unbeschreiblich unbestimmte Zeichnung ist, welche als Vorschrift, als 'Wille' zwar kommandieren kann, aber ein System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen voraussetzt, welche an die Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen" 34 . Die „Bewußtheit des Zweckhandelns" will Schelsky „zum anthropologischen Kennzeichen des Rechts" machen, weil er darin die Grundlage für instinktfreies Handeln in allen Lebensbereichen sieht 35 . Dies bedeutet nach Schelsky, daß das Recht in den Institutionen einen „Bereich des bewußten Zweckhandelns" schafft und die Institutionen selbst unabhängig von der von ihnen geleisteten Befriedigung der Instinktbedürfnisse zum Gegenstand und Ziel solchen Zweckhandelns werden läßt 3 6 . Nietzsche erkennt in dem Zweck einer Handlung „ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientierung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen" 37 . Dem kann entnommen werden, daß Nietzsche die Möglichkeit einer dauerhaften Handlungsorientierung durch bewußtes Zweckhandeln bejaht. Nach Schelsky erweist sich auf diesem Wege indessen das Bedürfnis, von welchem die anthropologisch-funktionale Analyse ihren Ausgang nimmt, letztlich selbst als das bewußte Zweckhandeln und wird damit zum „Endziel" des Handelns 38 . Dies ist jedoch von Nietzsches Handlungstheorie aus betrachtet aufgrund der unüberwindbaren Trennung zwischen dem Bewußtsein der IchEinheit und der Herrschaftsstruktur innerhalb der Triebe des Leibes, woraus sich allein die Bedürfnisse ergeben, unmöglich. Bewußtes Zweckhandeln kann nach Nietzsche niemals zum „Bedürfnis" werden, denn „das, was erreicht wird, und das, was dazu alles geschieht, ist von dem Bilde, welches vorher im Kopfe des Wollenden ist, total verschieden, — es führt keine Brücke hinüber" 3 9 . Das Bewußtsein kann demnach nicht selbst Bedürnisse schaffen, sowenig nach Nietzsche die Befriedigung von Bedürfnissen Gegenstand und „Ziel" des Wollens sein kann 4 0 . Die Verhaltenssteuerung durch das Bewußtsein ist nach Nietzsche allein auf das Verhältnis des „Ich" zu allen anderen Wesen und zur Gesellschaft beschränkt. „Das Bewußtsein erscheint erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will — als Bewußtsein zunächst dieses höheren Ganzen, des Außer-sich" 41 . Die Funktion des Bewußtseins liegt ausschließlich darin, den Leib als Einheit zu allen anderen Wesen in ein Verhältnis zu setzen und die Machtverhältnisse festzustellen. „Unsere Urteile über unser 'Ich' hinken nach, und werden nach Anleitung des Außer34 35 36 37 38 39 40 41

W M 666. Schelsky, ebd., Schelsky, ebd., W M , ebd. Schelsky, ebd. Nachlaß, ebd., Nachlaß, ebd. Nachlaß, ebd.,

11 Kerger

S. 66. S. 67.

113. 115.

162

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

uns, der über uns waltenden Macht vollzogen. Wir bedeuten uns selber das, als was wir im höheren Organismus gelten — allgemeines Gesetz" 42 . Das Bewußtsein kann hingegen nicht die Verhaltenssteuerung innerhalb des Leibes übernehmen, sondern ist die letzte Erscheinung und das „Werkzeug" der Herrschaftsstruktur des Leibes. „Das Bewußtsein entsteht in bezug auf das Wesen, dem wir Funktion sein können — es ist das Mittel, uns einzuverleiben. So lange es um Selbsterhaltung geht, ist Bewußtsein des Ich unnötig" 4 3 . Die Frage, ob das Bewußtsein des Individuums Grundlage seines Handelns in den Institutionen ist, oder ob es an den Zielen der Institutionen lediglich unbewußt „partizipiert", gehört zu den zentralen Problemstellungen einer soziologischen Theorie der Institution 44 . Nietzsche sieht im Bewußtsein nicht die Grundlage individuellen Handelns, sondern das Einfallstor gesellschaftlicher Wertungen und Interessen. Die Bedürfnisse und deren Befriedigung unterliegen daher nach Nietzsche keinesfalls der Verhaltenssteuerung durch das Bewußtsein. Eine Veränderung der Bedürfnislage ist vielmehr allein davon abhängig, in welchem Grad sich die „Machtlage inzwischen verschoben hat", denn die Bedürfnislage ist nach Nietzsche allein das Ergebnis „der augenblicklichen Machtfeststellung aller der uns konstituierenden Triebe". Ergibt sich somit aus der Handlungstheorie Nietzsches keine Möglichkeit, Bedürfnisse als „bewußtes Zweckhandeln" zu erfassen, so weist Nietzsche andererseits jedoch den „Organisationen", also den Institutionen eine Aufgabe der Verhaltenssteuerung durch das Bewußtsein zu, welche m. E. in bemerkenswerter Weise einem Gedanken Schelskys entspricht. Von dem Ansatz ausgehend, wie Recht und Institutionen „konstante anthropologisch begründete Bedürfnisse des Menschen erfüllen können", greift Schelsky ein Ergebnis der Verhaltensforschung von Konrad Lorenz auf, um eine einseitige Analyse der Bedürfnisse anhand der „Instinkte, d. h. des biologisch fixierten Verhaltens" zu vermeiden 45 . Die Erscheinung des sog. „Appetenzverhaltens", welches in der Tierwelt unter Beibehaltung eines gleichbleibenden Zieles auf die Herbeiführung von Situationen gerichtet ist, welche ein bestimmtes Instinktverhalten auslösen, ist nach Schelsky auf das menschliche Verhalten übertragbar 46 . Innerhalb des anthropologisch-funktionalen Ansatzes bedeutet Appetenzverhalten demnach, daß, sobald in Hinsicht auf ein Bedürfnis eine befriedigende Lösung gefunden worden ist, diese Lösung durch bewußtes und zweckgerichtetes Handeln auf Dauer stabilisiert wird und „normativen Selbstwert" erhält 47 . „Dieses von der bewußten Zweckhandlung einmal geleistete erfolgreiche Verhalten kann sich also aus der Bewußtheit und Aktualität in Gewohnheit und 42 43 44 45 46 47

Nachlaß, Nachlaß, Schelsky, Schelsky, Schelsky, Schelsky,

ebd. ebd. Die Soziologen und das Recht, S. 217, 218. ARS, S. 57 und 63. ebd., S. 63. ebd., S. 65.

§ 11 Wille zur Macht als Handlungstheorie

163

Institution entlasten" 48 . Diese Erwägung, daß bestimmte durch bewußtes Zweckhandeln erreichte Lösungen „institutionellen Halt gewinnen" und damit die „Bewußtheit" des Handelns entlasten, steht wiederum im Einklang mit dem Denken Nietzsches. In der Frage, wie Erfahrung möglich ist, sieht Nietzsche das „eigentliche Problem des Organischen" 49 . Die Erklärung, daß Erfahrung als Voraussetzung zur Erhaltung der Lebensbedingungen der einheitlichen Abstraktionsleistung des menschlichen Intellekts zuzuschreiben ist, verwirft Nietzsche. „ N u n gibt es aber die andere Form des Verständnisses: — es bleiben nur die Organisationen übrig, welche gegen eine große Menge von Einwirkungen sich zu erhalten und zu wehren wissen" 50 . Schelskys These, daß die „Leitideen", worin er den schöpferischen Anteil des Einzelnen an der Konstitution von Institutionen begreift, dem Einzelnen wegen des institutionellen Zusammenhanges seines Handelns nicht mehr bewußt zu sein brauchen, steht schließlich m.E. in Übereinstimmung mit dem Gedanken Nietzsches, wonach alles Verhalten des Einzelnen auf die eingeübten sozialen Verhaltensregeln zurückzuführen ist und das Ich-Bewußtsein den gesellschaftlichen Wertungen unterworfen ist 5 1 . 2. Rechtsrealismus bei Nietzsche Der „normative Rechtsrealismus", wie er heute als eigenständiger Ansatz innerhalb der Rechtstheorie seine Ausprägung gefunden hat, findet seinen Ursprung und seine ersten Grundlagen in der Lehre Iherings. Die entscheidende und bis heute andauernde Bedeutung der Lehre Iherings liegt zunächst in dem Übergang von einer Begriffsjurisprudenz zur deutschen Interessen- und Wertungsjurisprudenz. Der von Ihering immer wieder hervorgehobene Gedanke, daß das Wesen des Rechts in seiner „Verwirklichung" liegt, weist jedoch über Iherings positivistische Theorie hinaus auf den rechtsrealistischen Ansatz, wonach die „Verwirklichung des Rechts" den gesellschaftlichen Interessen und Wertungen unterworfen ist 5 2 . Der normative Rechtsrealismus geht von der Erwägung aus, daß das gesamte menschliche Verhalten in einem oft nicht mehr bewußt werdenden Ausmaß „von Regeln gesteuert und durch Regeln bestimmt" wird, wobei den Regeln des Rechts als Ausdruck gesellschaftlicher Wertungen ein besonderer Stellenwert zukommt 5 3 . Das Ziel des rechtsrealistischen Ansatzes besteht darin, den normativen Sinn des jeweils geltenden Rechts „als eine normative Struktur der Gesellschaft" und damit als eine das gesamte menschliche Verhalten bestimmende Struktur zu erfassen 54. Das Recht „in seiner 48

Schelsky, ebd. Nachlaß, ebd., 293. 50 Nachlaß, ebd. 51 Nachlaß, ebd., 359; Schelsky, ebd., S. 50; s.o. § 9.2. 52 Ihering, Geist des römischen Rechts, zweites Buch, § 60, S. 318,319; Krawietz, Recht als Regelsystem, Vorwort, S. X I I . 53 Krawietz, ebd., S. XI. 54 Krawietz, ebd., S. 179. 49

11'

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

sozialen Struktur und Funktion" wird auf diese Weise in Hinsicht auf die von ihm geschützten Interessen erfaßt, welche jedoch nicht naturalistisch als „vorgegeben" gelten können, sondern als im vorhinein bewertet und ausgewählt. Die Möglichkeit einer Steuerung menschlichen Verhaltens durch Regeln des Rechts wird auf diesem Wege „erstmals als Selektivität verstanden" 55 . Der entscheidende Gedanke, welcher diesem Ansatz zugrunde liegt und ihn von anderen Rechtslehren deutlich unterscheidet, besteht in der bereits von Ihering dargelegten Erkenntnis, daß es aufgrund der „gesellschaftlichen Bedingtheit und der sozialen Systemabhängigkeit" des Rechts nicht zulässig ist, „Rechtsregeln ausschließlich mit den rechtssprachlich vermittelten Rechtssätzen zu identifizieren" 56 . Das Recht bestimmt demnach das menschliche Verhalten als normative Struktur, „welche nicht bloß in den Rechtsvorschriften, sondern zugleich auch in den tatsächlichen Regelmäßigkeiten des sozialen Handelns zum Ausdruck gelangt" 57 . Auf diesem Wege werden die gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten für eine Verhaltenssteuerung durch Rechtsregeln sowie die durch Rechtsregeln vermittelten Prozesse der „Selbststeuerung rechtlicher Regelsysteme" zum Gegenstand der Untersuchung des Rechts 58 . Innerhalb der Darstellung des Gedankens vom Willen als Wille zur Macht wurde bereits ausgeführt, daß Nietzsche die „Gesetzmäßigkeit der Natur" in Gestalt sowohl naturwissenschaftlicher Gesetze als auch in Gestalt des Naturrechts als „Interpretation" erkennt, wonach ein Subjekt, eine Ursache, ein Täter fingiert werden, welche sich unter dem Zwang einer vorgegebenen Gesetzmäßigkeit auf eine bestimmte Weise verhalten 59 . „Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom 'Gesetz4, Freiheit hätte, anders zu handeln" 60 . Regel und Gesetz sind demnach lediglich Formeln „zu unserem Handgebrauch der Berechnung", ohne daß es deshalb gerechtfertigt ist, in allem Geschehen ein Subjekt zu fingieren, um zum Kausalitätsschema von Ursache und Wirkung zu gelangen. „Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges" 61 . Jedes Wesen ist nach Nietzsche vielmehr allein durch die Relationen zu allen anderen Wesen bestimmt. Jedes Wesen ist „durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet", so daß es nicht möglich ist, daneben ein Subjekt anzunehmen, welches außerhalb dieser „Willens-Kausalität" einer Regel gehorcht 62 . Das menschliche Verhalten wird also nach Nietzsche allein 55

Krawietz, ebd.

56

Krawietz, ebd., Vorwort, S. X I I I . Krawietz, ebd. Krawietz, ebd., S. 133 f. (140). s.o. § 10.3. a) und b). W M 632. W M 634. s.o. §10.4.

57 58 59 60 61 62

§ 11 Wille zur Macht als Handlungstheorie

165

von den Relationen zu allen anderen Wesen und zur Gesellschaft bestimmt, denn diese „Relationen konstituieren erst Wesen" 63 . Die Handlung kann daher nach Nietzsche nicht von dem Täter getrennt gedacht werden. Es verbietet sich demnach die Annahme, daß der Handelnde außerhalb seiner Bestimmung durch die Relationen einer Gesetzmäßigkeit gehorchen könnte, wobei er, „abgesehen vom 'Gesetz4 die Freiheit hätte, anders zu handeln44. Es gibt nach Nietzsche kein Handeln außerhalb der Konstitution jedes Wesens durch die Relationen, „wie als ob hier eine Regel befolgt werde" 64 . Durchaus im Einklang mit der institutionalistischen Lehre, wie sie auch dem normativen Rechtsrealismus zugrunde liegt, sieht Nietzsche somit in dem „Gesetz" eine Formel zur Verhaltensorientierung, welche jedoch das Verhalten des Einzelnen nicht von vornherein ausweglos determiniert, sondern vielmehr erst der Verwirklichung innerhalb der Machtverhältnisse, also der gesellschaftlichen Bedingungen und Interessen bedarf. Gesetz und Regel dienen zwar „zu unserem Handgebrauch der Berechnung 44 menschlichen Verhaltens, sie bestimmen jedoch nicht als „Notwendigkeit" dieses Verhalten 65 . Soweit Nietzsche feststellt, daß sich die Wesen „nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel44 verhalten, weist er auf die Abhängigkeit der Verwirklichung des Rechts von den gesellschaftlichen Bedingungen hin. Die Abhängigkeit der Verwirklichung des Rechts von den Machtverhältnissen insgesamt und den gesellschaftlichen Wertungen und Interessen faßt Nietzsche in dem Satz zusammen, welcher für die Entwicklung seiner Normentheorie m. E. von zentraler Bedeutung ist: „Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit 4466 . Aus diesem Satz ist erkennbar, daß Nietzsche die „Berechenbarkeit" des menschlichen Verhaltens nicht in den „rechtssprachlich vermittelten Rechtssätzen44 begründet sieht, sondern in den Machtrelationen. Der Handelnde gehorcht nicht bloß einer Rechtsvorschrift, sondern dem „Affekt des Kommandos 44 seines Willens, indem er als erster Ausführender in ein Verhältnis zu seinem Willen tritt. Auf diese Weise setzt der Handelnde sein Wollen in ein Verhältnis zu allen anderen Willen 6 7 . Dies bedeutet indes noch nicht, daß Nietzsche der Steuerungsmöglichkeit menschlichen Verhaltens durch Recht und Rechtsnormen, worauf die modernen Institutionentheorien abheben, keinerlei oder lediglich untergeordnete Bedeutung zumißt. Die Steuerbarkeit menschlichen Verhaltens durch Normen des Rechts erkennt Nietzsche gerade in der Begründung von Verhaltenserwartungen und Schaffung von Erwartungsstrukturen, welche die Machtrelationen der Wesen zueinander und ihre Handlungsmöglichkeiten weitgehend institutionali63

W M 625.

64

W M 632. W M 634. W M , ebd. s.o. §10.4.

65 66 67

166

4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

sieren und bestimmen 68 . Nietzsche sieht die Steuerungsmöglichkeiten menschlichen Verhaltens vergleichbar mit dem rechtsrealistischen Ansatz durchaus in der Begründung „einseitiger Festlegungsabhängigkeiten", welche eine Selbststrukturierung des gesamten Rechtssystems gewährleisten können; Nietzsche spricht insoweit von „Selbstregulierung" 69 . Erwartungsstrukturen als normatives Steuerungsinstrument sind jedoch nach Nietzsche — und hierin liegt ja die wohl bedeutendste Übereinstimmung mit Ihering, welcher allerdings noch nicht auf den Charakter von Rechtsregeln als Erwartungsstrukturen abhebt — den Bedingungen der Verwirklichung des Rechts unterworfen, d. h. den institutionalisierten Machtverhältnissen als Wechselspiel von Regel und Regelbefolgung. Nietzsche gelangt aus seiner Lehre des Willens als Wille zur Macht damit weiterhin gerade zu den Problemstellungen, welche sich der institutionalistischen Lehre und dem rechtsrealistischen Ansatz erschließen, nämlich der Fragestellung nach den Wechselwirkungen zwischen „Befehlen" und „Gehorchen". Diesen Wechselwirkungen in Gestalt der „in jedem Rechtssystem zwischen allen Entscheidungsstellen und ihrer jeweiligen Umwelt wirksam werdenden internen bzw. externen Interdependenzen" kommt entscheidende Bedeutung für den rechtsrealistischen Ansatz und wohl auch für den Gedanken von der „Selbststeuerung des Rechtssystems" zu 7 0 . Es wurde indessen bereits aufgezeigt, welchen Stellenwert diese Wechselwirkungen in Nietzsches Lehre des Willens als Wille zur Macht einnehmen 71 . Der Gedanke, die Möglichkeiten der Berechnung und Steuerung menschlichen Handelns aus den tatsächlichen Machtverhältnissen, nicht jedoch aus den Gesetzen als rechtssprachlich formulierten Rechtssätzen abzuleiten, steht m. E. gerade in Übereinstimmung mit dem rechtsrealistischen Ansatz, der die normative Bedeutung des Rechts in dem Verhältnis der Rechtsnormen zu der „einem permanenten Wandel unterliegenden Umwelt" zu erfassen sucht, so daß eine Selbststeuerung des Rechtssystems aufgrund der entstehenden internen und externen Interdependenzen „gleichsam im Kontakt mit sich selbst" angenommen werden kann 7 2 . Die normative Bedeutung von Rechtsvorschriften ergibt sich rechtsrealistisch betrachtet aus dem politischen und sozialen Kontext, weshalb es „keine strikte Trennung zwischen rein normativen und bloß faktischen Entscheidungsprämissen geben kann", also die Rechtsanwendung an der Erzeugung des Rechts teil hat. Insgesamt ist den Ausführungen Nietzsches zu entnehmen, daß er die normative Struktur des Rechts in Übereinstimmung mit dem bereits im Werk Iherings enthaltenen rechtsrealistischen Ansatz eher „in den tatsächlichen Regelmäßigkeiten des sozialen Handelns" als Ausdruck gesellschaftlicher Interessen und Wertungen erblickt 73 . 68 69 70 71 72 73

JGB 19; s.o. §10.2. s.u. §14.1. Krawietz, ebd., S. 111 und 140. s.o. unter § 10.2. Krawietz, ebd., S. 131 und 139. Krawietz, ebd., Vorwort, S. X I I I und S. 179.

§ 12 Strafrecht als pars pro toto der Rechtsordnung

167

§ 12 Strafrecht als pars pro toto der Rechtsordnung Nietzsche wendet sich insbesondere im zweiten Abschnitt der Schrift „Zur Genealogie der Moral" dem Wesen und Zweck der Strafe zu. Die Auseinandersetzung Nietzsches mit dem Wesen und der Bedeutung der Strafe bezieht sich vor allem auf zwei Fragestellungen. Seine Kritik richtet sich einerseits gegen die Verantwortlichkeit menschlichen Handelns aufgrund der „Theorie vom 'freien Willen"', d.h. gegen die Annahme, daß das menschliche Handeln durch ein Kausalitätsschema nach Absicht und Zweck zu erfassen sei sowie gegen eine an Absicht und Zweck orientierte Bewertung. Daneben betreffen Nietzsches Äußerungen zum Strafrecht die Frage, ob dem Wesen der Strafe als auch der Bestrafung im Einzelfall eher ein sittlich-moralisches Unwerturteil zugrunde liegt oder ob vielmehr ein jeweils erreichter Grad gesellschaftlicher Macht darin seinen Ausdruck findet. Jeder dieser beiden Ansätze zu einer Kritik am Strafrecht in seiner gesellschaftlichen Bedeutung betrifft die Frage nach der Herrschaft des Einzelnen und der der Gesellschaft in Hinsicht auf strafrechtlich sanktionierte Handlungen. Nietzsche mißt dem Strafrecht vordringlich eine Bedeutung für das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft zu, weshalb der Begriff der Herrschaft in dem bereits erwähnten soziologischen Sinne auch hier erheblich wird 1 . 1. Absicht und Zweck als Grundlage strafrechtlicher Würdigung Wie bereits oben dargelegt wurde 2 , ist nach Nietzsches Lehre des Willens als Wille zur Macht das menschliche Handeln zwar insoweit zweckorientiert, als das „Etwas-Wollen" zum Wollen selbst gehört: „Alle 'Zwecke' ... sind nur Ausdrucksweisen ... des Einen Willens, der allem Geschehen inhäriert: des Willens zur Macht 3 . Gerade weil jedoch der Zweck im Wollen enthalten ist und dieses Wollen als solches ausmacht, kann der Zweck nach Nietzsches Lehre nicht in der Weise zur Handlungsorientierung dienen, indem er ein „Ziel" des Wollens darstellt, welches vom Wollen getrennt gedacht werden kann. Der Zweck liegt im Wollen selbst, weshalb das Wollen nicht einer Kausalität nach dem Schema von „Ursache" und „Wirkung" unterliegen kann. Auch der Begriff der Absicht folgt diesem Kausalitätsschema. „Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht — alles inhäriert der Konzeption 'Ursache'" 4 . Nach diesem Kausalitätsschema ist die Absicht eine vom Handeln zu trennende „Ursache", wonach ein außerhalb des Tuns liegendes Subjekt, ein „Täter" anzunehmen ist. Die Trennung des Täters von der Handlung erkennt Nietzsche jedoch als bloße Interpretation, welche es erlaubt, das Tun als die „Wirkung" eines von einem 1 Engelhardt, Die Transformation des Willens zur Macht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 71 (1985), S. 499f. (501). 2 s.o. unter §8.2. 3 W M 675. 4 W M 551.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Täter ausgeübten Zwanges anzusehen5. Nietzsche fordert deshalb, „daß man den Täter wieder in das Tun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat; daß man ... die 'Absicht', daß man den 'Zweck4 wieder in das Tun zurücknimmt" 6 . Diese Forderung Nietzsches ergibt sich wiederum aus dem Befehlscharakter des Willens, dem „Affekt des Kommandos" im Verhältnis zum Leib als Herrschaftsgebilde. Der „Zweck" einer Handlung liegt im Willen selbst und wird von den Gehorchenden, den Ausführenden in die Handlung umgesetzt. Zu dieser Ausführung der Handlung bedarf es jedoch einer anderen Art von Zweck, nämlich als Handlungsorientierung innerhalb des Bewußtseins, welches ebenfalls zu dem System von gehorchenden „Werkzeugen" gehört 7 . Das, was als „Zweck" der Handlungsorientierung durch das Bewußtsein dient, ist daher nicht der Wille, die Absicht, sondern „ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientierung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, nicht als dessen Ursache" 8 . Was im Bewußtsein als Absicht und Zweck einer Handlung erscheint, erkennt Nietzsche als nachträglich konstruierte Orientierungspunkte und bloße „Symptome" der Handlung. Diese im Bewußtsein als Absicht und Zweck erscheinenden Orientierungspunkte sind indessen nur „End-Erscheinungen", welche über die Herkunft einer Handlung außerhalb des Bewußtseins, welches selbst nur ein gehorchendes „Werkzeug" ist, keine Angaben enthalten. Die Herkunft einer Handlung liegt demnach vor der bewußt gewordenen Absicht. „Alle Handlungen müssen erst mechanisch als möglich vorbereitet sein, bevor sie gewollt werden. Oder: der 'Zweck 4 tritt im Gehirn zumeist erst auf, wenn alles vorbereitet ist zu seiner Ausführung" 9 . Den im Bewußtsein erscheinenden Zweck einer Handlung erkennt Nietzsche daher lediglich als einen „Reiz 44 zur Ausführung, welcher im Bewußtsein erst wahrgenommen wird, nachdem innerhalb der Herrschaftsstruktur des Leibes die Voraussetzungen zur Ausführung dieser Handlung geschaffen worden sind. Ein „Kraft-Quantum 44 will sich ausgeben, wobei der im Bewußtsein erscheinende Zweck dazu benutzt wird, nicht jedoch als Ursache einer Handlung gelten kann. Die „Absicht 44 zur Begehung einer Handlung kann daher nicht als ihre Herkunft angesehen werden, wonach sich die Verantwortlichkeit des Täters bestimmt. Auch im Rahmen der moralischen Bewertung einer Handlung ist nach Nietzsche entscheidend, „daß die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, ... daß Moral, im bisherigen Sinne, also Absichten-Moral, ein Vorurteil gewesen ist, eine Voreiligkeit" 10 . Hierin liegt eine Kritik am Willen selbst, welche sich vor allem gegen die Annahme der „Freiheit des Willens44 wendet, welche auch nach der 5

W M 552. W M 675. 7 W M 666. 8 W M , ebd. 9 W M 671. 10 JGB 32. 6

§12 Strafrecht als pars pro toto der Rechtsordnung

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gegenwärtigen Strafrechtslehre weiterhin die Grundlage für die Verantwortlichkeit des Täters und den Schuldspruch bildet 1 1 . Die Verantwortung des Täters für seine Tat sowie seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft beruhen auf der Annahme, daß dem Täter seine Tat „als freier Mensch" zurechenbar ist und er allein deshalb in der Lage ist, sie als Unrecht zu erkennen und sich von ihr zu distanzieren, „weshalb er sie nun verantworten kann als eine rechtswidrige schuldhafte Handlung" 1 2 . Die Strafe sowohl in ihrer Bedeutung als Sanktion als auch als präventives Mittel setzt demnach die „Freiheit des Willens" voraus, welche Nietzsche als Fiktion des Bewußtseins verwirft: „Unfreiheit oder Freiheit des Willens? — Es gibt keinen 'Willen': das ist nur eine vereinfachende Konzeption des Verstandes, wie 'Materie"' 1 3 . Nietzsche lehnt eine moralische Verantwortlichkeit des Täters aufgrund der Freiheit des Willens i.S. einer „causa sui" als „Selbst-Widerspruch" ab 1 4 . Es kann nach Nietzsche im Menschen kein Prinzip des freien Willens als „causa prima" geben, „unter der falschen Voraussetzung, daß uns nichts zugehört, was wir nicht als gewollt im Bewußtsein haben" 15 . Nietzsche verwirft die Annahme, „daß der freie Wille Ursache sei von jeder Wirkung", damit dadurch das „Gefühl der Kausalität" entstehen kann 1 6 . Diese Äußerung betrifft m.E. wiederum das Verhältnis der Herrschaftsstruktur des Leibes zum Bewußtsein und dessen Vorstellung der IchEinheit, d.h. die Fragestellung Schelskys, „was sich im Menschen zu seinen 'sozialen Rollen' verhält oder was in ihm den ... Gesetzlichkeiten des Bewußtseins ... gegenübersteht" 17. Der These von der Freiheit des Willens und der darin enthaltenen Behauptung, daß der Wille selbst keiner Gesetzmäßigkeit, d.h. Notwendigkeit unterliege, hält Nietzsche ausdrücklich die Hypothese entgegen, „daß auch unser Wollen in jedem Fall ein Müssen sei" 1 8 . Die Notwendigkeit in der Entstehung der Willensakte steht deshalb für Nietzsche einerseits der Vorstellung entgegen, einen „freien" Willen die gesamte und letzte Verantwortlichkeit selbst tragen zu lassen „und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten" 19 . In der Erkenntnis und Anerkennung der Gesetzmäßigkeit des Willens, welche nicht einer Steuerung durch das Bewußtsein zugänglich ist, sieht Nietzsche letztlich die „Selbstüberwindung der Moral", welche die Herkunft einer Handlung der im Bewußtsein erscheinenden Absicht entnimmt. Nietzsche weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Bewertung der Verantwortlichkeit für eine Handlung und die Feststellung 11 Schild, Ende und Zukunft des Strafrechts, Werner Maihofer zum 65. Geburtstag, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 70 (1984), S. 71 f. 12 Schild, ebd., S. 73 und 108. 13 W M 671. 14 JGB 21. 15 W M 288. 16 W M 667. 17 Schelsky, ebd. 18 W M , ebd. 19 JGB 21.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

ihres Unwertes als Grundlage einer Bestrafung sich „abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat", nämlich zunächst allein nach den schädlichen Folgen einer Handlung 2 0 . In der Erwägung, daß der Verbrecher verantwortlich sei, „weil er hätte anders handeln können", sieht Nietzsche „eine überaus spät erreichte, ja raffinierte Form des menschlichen Urteilens" 21 . Er wendet sich jedoch strikt dagegen, die Verantwortlichkeit eines Verbrechers und den Unwert einer Handlung nach ihren schädigenden Folgen zu bemessen, um dergestalt zu einem „Utilitarismus der Moral" als soz. kriminologischer Folgenlehre zu gelangen22. In der These, daß „alles Schlechte unfreiwillig" geschehe, erkennt Nietzsche eine der Moralität der Gesinnung entgegenstehende Art der Bewertung, welche auf die Folgen der Tat abstellt, „und eigentlich urteilt: 'es ist dumm, schlecht zu handeln"' und umgekehrt „'gut' mit 'nützlich und angenehm'" gleichsetzt. Es gibt deshalb keine Freiheit des Willens im Sinne einer „absoluten Spontaneität des Menschen im Guten und im Bösen", die es erlauben würde, den Menschen durch bessere Erkenntnis davon abzuhalten, Unrecht zu tun und strafbare Handlungen zu begehen23. Die „Freiheit des Willens" besteht nach Nietzsche vielmehr in der Gewißheit, daß „nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte" 2 4 . Die Notwendigkeit des Gehorsams in der Ausführung des Gewollten läßt den Willen insoweit „frei" erscheinen, als sich der Wille mit den gehorchenden Ausführenden als Einheit begreift. Diese „Sicherheit, daß gehorcht wird", d.h. der Grad der Herrschaft des Willens über den Leib, kommt somit allein als Grundlage für die Verantwortlichkeit in Betracht. Nietzsche rechnet also die Notwendigkeit des Gehorsams innerhalb des Leibes als „Herrschaftsgebilde" dem Willen lediglich als Vorstellung des Bewußtseins zu, sieht jedoch den Willen selbst, d.h. die Entstehung des Wollens, ebenfalls einer Gesetzmäßigkeit und damit einer Notwendigkeit unterworfen und verneint insoweit eine „Freiheit" als Grundlage der Verantwortlichkeit ungeachtet der Bestimmung durch „Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft" 25 . Dies bedeutet indessen gerade nicht, daß Nietzsche die Neigung zur Begehung von Verbrechen und zu kriminogenem Verhalten etwa einfach auf Einflüsse aus dem gesellschaftlichen Umfeld zurückführt. Aufgrund der Gesetzmäßigkeit des Wollens ist vielmehr daran festzuhalten, „daß man, trotz allem, nur Das wird, was man ist (trotz allem: will sagen Erziehung, Unterricht, Milieu, Zufalle und Unfälle)" 2 6 . Die Ursache einer Handlung liegt daher nicht im Willen, in der bewußten Absicht. Die „Freiheit" des Willens besteht jedoch in dem Maß des Gehorsams des Leibes, so daß die 20 21 22 23 24 25 26

G M I I 4 und JGB 32. G M ; ebd. JGB 190; W M 291. G M I I 6; JGB, ebd. JGB 19. JGB 21. W M 334.

§ 12 Strafrecht als pars pro toto der Rechtsordnung

171

Verantwortlichkeit für die Begehung von Verbrechen begründet werden kann durch „die Schwäche des Willens, die Unsicherheit und selbst Mehrheit der 'Person', die Ohnmacht auf irgend einen Reiz hin die Reaktion auszusetzen und sich zu 'beherrschen', die Unfreiheit vor jeder Art Suggestion fremden Willens" 2 7 . Hierauf ist die Verantwortlichkeit i.S. einer „Freiheit" des Willens allerdings beschränkt und findet ihre Grenzen sowohl in der Gesetzmäßigkeit des Wollens als auch im äußeren Umfeld: „die Absicht ... ist ganz und gar abhängig vom Grad der Macht" 2 8 und nicht Ursache einer Handlung. Zum Zweck des Strafens ist jedoch die Verantwortlichkeit in der Absicht gesucht worden; „zu diesem Zweck mußte jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend gedacht werden" 29 . 2. Verbrechen und Strafe als Erscheinungen gesellschaftlicher Macht In der Fiktion eines ungeachtet der Gesetzmäßigkeit des Wollens, nämlich dem Grad der Macht zu folgen, für sich „freien" Willens erkennt Nietzsche die Suche nach „Verantwortlichkeiten" zum Zweck der Strafe 30 . Der „Strafbegriff' ist an diese Begründung der Verantwortlichkeit gebunden, an den „Schuldbegriff', das Bewußtsein der individuellen moralischen Schuld. Der strafrechtliche Schuldbegriff ist indessen nach Nietzsche nicht von dem Verhältnis der Gesellschaft zum Einzelnen, dem „Grundverhältnisse" des Gläubigers zu seinen Schuldnern, zu trennen 31 . Das Wesen und den Zweck der Strafe erkennt Nietzsche daher nicht in einem Schuldvorwurf i. S. einer individuellen Vorwerfbarkeit des Handelns. „Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine Tat verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, daß nur der Schuldige zu strafen sei: —vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden" 32 . Nicht ein Schuldbegriff im moralischen Sinne, sondern „die gesellschaftliche Nützlichkeit" bestimmt den Zweck der Strafe 33 . Der geschichtlich-positivistischen Theorie Iherings hält Nietzsche entgegen, daß der „Zweck" zwar der geschichtlichen Entwicklung unterworfen sei, daß sich aus der gegenwärtigen Nützlichkeit einer Institution aber nicht umgekehrt auf deren Entstehungsgeschichte schließen lasse. Die Entstehungsgeschichte der Strafe und deren schließliche Nützlichkeit sieht Nietzsche gänzlich auseinander liegen 34 . „Wenn man die Nützlichkeit... einer 27 28 29 30 31 32 33 34

W M , ebd. W M 724. W M 765. W M 765. G M I I 9; dazu s.o. unter § 7.2. G M I I 4. W M , ebd. G M I I 12.

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte ... noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in betreff seiner Entstehung begriffen" 35 . Zwecke und Nützlichkeiten sind nur „Anzeichen, daß ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat". Da Nietzsche jedoch gerade im Einklang mit Ihering die Strafe als Institution der Geschichte unterworfen sieht, erkennt er den Zweck der Strafe als „ganz und gar undefinierbar", denn „es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat" 3 6 . Außer dem seit frühester Entstehungsgeschichte relativ konstanten Ziel der Abschreckung nennt Nietzsche als weitere Strafzwecke etwa präventive Erwägungen: „Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens"; „Strafe als Isolierung..., um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten". Vor allem aber sieht Nietzsche in der Strafe die Kriegserklärung und Kriegsmaßregel gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ordnung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Voraussetzungen ... bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben der Krieg an die Hand gibt" 3 7 . Aus diesem Satz wird deutlich, daß Nietzsche das Wesen und den Zweck der Strafe vordringlich in dem Ausschluß aus der Gesellschaft bzw. einer dem nahekommenden Entziehung von Rechten sieht. Hierbei könnte die Vorstellung des römischen Rechts von der Sanktion des Ausschlusses aus der Gens und dem Staat als einer Gemeinschaft, welcher der Ausgeschlossene bisher aufgrund eines „koordinationsrechtlichen" Vertragsverhältnisses angehörte, nach der Darstellung durch Ihering Bedeutung erlangt haben; dies gilt ebenfalls betreffend den „Kriegsfuß" als dem Rechtsverhältnis der Römer zu allen Nichtrömern 3 8 . Wesen und Zweck der Strafe liegen für Nietzsche in der Sanktion aufgrund des Vertragsbruchs gegenüber der Gesellschaft. „Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vorteile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinen Gläubigern vergreift" 39 . Das Wesen der Strafe sieht Nietzsche nicht durch das Verhältnis der Tat zur „Schuld" i. S. einer individuellen Vorwerfbarkeit begründet, sondern durch die Machtrelation der Gesellschaft zu ihren Mitgliedern. Die Begründung der strafrechtlichen Schuld durch die Verantwortlichkeit des Täters, „'weil er hätte anders handeln können 4 , ist eine überaus spät erreichte, ja raffinierte Form" und kommt erst in Betracht, nachdem die Macht der Gesellschaft einen Grad erreicht hat, welcher es ihr erlaubt, von einem Ausschluß des Verbrechers abzusehen40. „ M i t erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehun35 36 37 38 39 40

G M , ebd. G M I I 13. G M , ebd. dazu s.o. unter § 1.3 a). G M I I 9. G M I I 4.

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173

gen des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maße wie früher für das Bestehen des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übeltäter wird nicht mehr 'friedlos gelegt' und ausgestoßen"41. Bis dahin jedoch wird der Verbrecher als Rechtloser behandelt; die Strafe ist „auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild ... des normalen Verhaltens gegen den gehaßten, wehrlos gemachten, niedergeworfenen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist" 4 2 . Der Verbrecher ist auf dieser Stufe gesellschaftlicher Macht vor allem ein „Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze", weshalb der Zweck der Strafe darin liegt, ihn den Feindseligkeiten und der Rechtlosigkeit auszusetzen, vor denen er als Mitglied der Gesellschaft geschützt war. Aufgrund gesteigerter Macht der Gesellschaft kann sie den Verbrecher gegenüber dem Rachebegehren der unmittelbar Geschädigten „vorsichtig von Seiten des Ganzen" in Schutz nehmen. Dies ist in dem Maße möglich, in welchem sich die Macht der Gesellschaft institutionell verselbständigt hat und ihre Grundlage nicht mehr allein von der Zustimmung aller Einzelnen aufgrund eines koordinationsrechtlichen Vertragsverhältnisses abhängig ist 4 3 . Nietzsche greift hier wiederum den Gedanken der Obligation als dem Modell gesellschaftlicher Macht auf 4 4 . Diese Vorstellung des Verhältnisses des Einzelnen zur Gesellschaft erkennt Nietzsche einerseits in der Bedeutung des strafrechtlichen Schuldbegriffs, andererseits in der Abhängigkeit der Art der Bestrafung und des Strafmaßes von dem Grad gesellschaftlicher Macht. Der schuldrechtliche Charakter der Strafe erweist sich für Nietzsche bei einem gesicherten Grad gesellschaftlicher Macht erneut darin, „jedes Vergehen als in irgendeinem Sinne abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maße, den Verbrecher und seine Tat voneinander zu isolieren" 45 . Der Verbrecher bleibt ein „Vertragsbrüchiger" 46 . Dies bedeutet jedoch, daß der Begriff der strafrechtlichen Schuld von dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft bestimmt wird, nicht von einem moralischen Schuldbegriff. Das „schlechte Gewissen" als Bewußtsein moralischer Schuld sieht Nietzsche abseits des moralischen Schuldbegriffs und der Vorstellung der Verantwortlichkeit aufgrund einer „freien" Willensentscheidung entstanden, nicht „weil man den Übelanstifter für seine Tat verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, daß nur der Schuldige zu strafen sei" 4 7 . Das Bewußtsein der Schuld i.S. einer individuellen Vorwerfbarkeit sieht Nietzsche untrennbar mit dem Wesen der Strafe verbunden, d.h. von dem Inhalt und der Intention der jeweiligen strafrechtlichen 41

G M I I 9. G M I I 9. 43 G M 10; Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, ebd., S. 74, 76. 44 s.o. unter §7.2. 45 G M , ebd. 46 W M 739. 47 W M 740. 42

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

Normen bestimmt. Das Verbrechen ist unabhängig von der Ausgestaltung der Gesellschaftsordnung und des Strafrechts ein „Aufstand wider die gesellschaftliche Ordnung" 4 8 . Der Verbrecher übernimmt bestimmte Bilder von Straftaten und begeht Taten, die als Symbol abweichenden Verhaltens von der Gesellschaft statuiert worden sind, d. h. für den Verbrecher als Aufständischen bereitgehalten werden. Den Verbrecher „überfällt das Böse, das jetzt böse ist: wehe will er tun, mit dem, was ihm wehe tut. Aber es gab andere Zeiten und ein anderes Böses und Gutes" 4 9 . Die Absicht des Täters zur Ausführung eines Verbrechens sieht Nietzsche durch das von der Gesellschaft entworfene Bild der Tat und des Tatunrechts geprägt. „Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes die Tat, ein Anderes das Bild der Tat. Das Rad des Grundes rollt nicht zwischen ihnen" 5 0 . Der in dem Verbrechen erscheinende „Aufstand" und Angriff gegen die gesellschaftliche Ordnung wird von der Gesellschaft nach dem von ihr entworfenen Bild der Tat „rekonstruiert" und bewertet 51 . „Gleichwüchsig war er seiner Tat, als er sie tat: aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie getan war. Immer sah er sich nun als Einer Tat Täter. Wahnsinn heiße ich dies: die Ausnahme verkehrte sich ihm zum Wesen" 52 . Der zur Gewalttat und zur Tötung entschlossene Verbrecher begreift seine Motive nicht und folgt dem vorgezeichneten Bild der Tat: „da raubte er, als er mordete". Aber auch dem äußersten Verbrechen, dem Mord als dem „Glück des Messers", liegt nach Nietzsche ein von der Gesellschaft entworfenes Bild der Tat zugrunde: „Seht diesen armen Leib! Was er litt und begehrte, das deutete sich diese arme Seele, — sie deutete es als mörderische Lust und Gier nach dem Glück des Messers" 53 . Aus diesen Worten Nietzsches läßt sich zweifellos entnehmen, daß er das Verbrechen, soweit es nicht ausschließlich pathologisch bedingt ist, auf das Verhältnis der Gesellschaft zum Einzelnen als einem Verhältnis sozialer Herrschaft zurückführt. Dem von der Gesellschaft normierten „Bild der Tat" kommt dabei besondere Bedeutung hinsichtlich der kriminologischen Ursachen zu 5 4 . Die Bestrafung des Verbrechers ist „Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaßregel" und allein das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis prägt insoweit den Schuldbegriff. Nietzsche wendet sich deshalb dagegen, die Strafe als Buße zu nehmen „oder als eine Abzahlung, wie als ob es ein Tauschverhältnis gebe zwischen Schuld und Strafe" 55 . Aufgrund des von der Gesellschaft vorgegebenen Katalogs an Straftaten sowie des Verhältnisses zum Ich-Bewußtsein als einer Gesellschaft mißversteht der Verbrecher sich selbst und seine Tat. Gerade weil dieses von der Gesellschaft konstruierte Bild der Tat nicht den Beweggrün48 49 50 51 52 53 54 55

W M 740. Za, Vom bleichen Verbrecher. Za, ebd. Engelhardt, ebd., S. 500. Za, ebd. Za, ebd. Engelhardt, ebd., S. 501. W M 740.

§12 Strafrecht als pars pro toto der Rechtsordnung

175

den des Täters entspricht, der strafrechtliche Schuldbegriff sich jedoch auf das vorgegebene Bild der Tat bezieht, ist es für den Verbrecher letztlich unmöglich, diesen Schuldbegriff auf seine Motivation und die von ihm begangene Tat anzuwenden56. Nietzsche spricht insoweit vom „Wahnsinn nach der Tat", welche eine Reflexion durch die Vernunft nicht zulasse57. Ob allerdings aus dem Wesen der Strafe als Ausfluß und Funktion gesellschaftlicher Macht nach den Äußerungen Nietzsches zu entnehmen ist, daß der Strafe lediglich eine auf Adaption und Herstellung von Konformität gerichtete Bedeutung zukommt, muß bezweifelt werden 58 . Nietzsche geht vielmehr davon aus, daß „ein starker Antagonismus" die Grundlage aller Institutionen wie auch der Gesellschaft bildet 5 9 . Noch stärkeren Bedenken begegnet die Hypothese, daß Nietzsche in einer Freuds Theorie vom „Verbrecher aus Schuldgefühl" vergleichbaren Weise annimmt, daß das Verbrechen in einem der Tat vorausgehenden Schuldgefühl, dem „schlechten Gewissen" seinen Ursprung findet 60. Das „schlechte Gewissen", Ergebnis der „Verinnerlichung des Menschen", bedeutet nach Nietzsches Äußerungen die selbständige Anwendung sittlicher Normen und Zwanges des „befriedeten" Menschen auf sich selbst 61 . Diese Rückwendung der Instinkte, das „Leiden des Menschen am Menschen", ist nach Nietzsche das Ergebnis des durch Strafen bewehrten sittlichen Zwanges. Nicht der Instinkt, sondern erst „die Auslegung ... brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld" 62 . Das Leiden ist Voraussetzung für diese Auslegung, nicht die Folge. Es ist daher m.E. äußerst zweifelhaft, ob Nietzsche eine „Präexistenz des Schuldgefühls" bejaht, wie Freud dies annimmt 6 3 . Daß der Verbrecher „sich selbst mißversteht" und seine Tat „verleumdet und verunehrt", ist nach Nietzsche allein auf einen Schuldbegriff zurückzuführen, welcher dem Interesse einer möglichst umfassenden gesellschaftlichen Macht unterworfen ist und nicht auf die außerhalb des vorgegebenen Tatbildes liegende Motivation des Täters abhebt. Darin sieht Nietzsche ein Hindernis für die Resozialisierung des Täters. Der nicht auf die tatsächliche Motivation des Täters abhebende Schuldbegriff und die in der heutigen Bestrafung zum Ausdruck kommende „Verachtung" durch die Gesellschaft führen nach Nietzsche dazu, daß die Strafe nicht mehr „reinigt", sondern „befleckt" 64 . Die Chance der Resozialisierung sieht Nietzsche in der Strafe selbst, soweit sie tatsächlich als 56

in diesem Sinne auch Engelhardt, ebd., S. 507. Za, ebd. 58 so aber Engelhardt, ebd. 59 Nachlaß, 2. Teil, 435. 60 Engelhardt, ebd., S. 502, 508. 61 G M I I 16; s.o. §4.1. 62 G M I I I 28. 63 Freud, Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, Ges. Werke, Bd. X, S. 364f. (391). 64 W M 742. 57

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4. Abschn.: Theorie der Normen bei Nietzsche

„Abzahlung" der Schuld vom Täter begriffen werden kann, so daß ihr Vollzug einer „Wiederherstellung" nahe kommt. „ M a n hat nicht nur seinen Frieden wieder mit der Gesellschaft gemacht, man ist vor sich selbst auch wieder achtungswürdig, — 'rein"' 6 5 . Die „sühnende Kraft der Strafe", welche eine derartige „Wiederherstellung" der Selbstachtung des Täters ermöglicht, sieht Nietzsche offenbar als Voraussetzung einer wirksamen Resozialisierung an. Ein nach dem „Bild der Tat" ausgerichteter Schuldbegriff vermag indessen eine so verstandene Resozialisierung nicht zu gewährleisten, weshalb Nietzsche den Täter durch die Strafe noch mehr als durch das Vergehen isoliert sieht 66 . Nietzsches Äußerungen über das Wesen der Strafe und ihren Ursprung in dem schuldrechtlichen Verhältnis der Obligation, wonach Art und Maß der Strafe von dem Grad gesellschaftlicher Macht abhängig sind, steht scheinbar der Einwand entgegen, daß heute eine „Gefahrdung des Gemeinwesens" durch die Begehung von Straftaten nahezu ausgeschlossen erscheint. Das Recht als Ausdruck gesellschaftlicher Macht hat sich in einem Maße erweitert und verfestigt, daß die Gesellschaft zu einer „Rechtsgesellschaft" geworden und „nur als Netz von Rechtsverhältnissen gedacht" werden kann 6 7 . Der Einzelne kann seine Lebensbedingungen nur noch als „Rechtsperson" erhalten, so daß es fraglich erscheint, ob das Verbrechen als Angriff auf die Rechtsordnung als solche angesehen werden kann. Die gewachsene Macht der Gesellschaft, auch in Form der Überwachungsmöglichkeiten, und die „selbstverständliche" Geltung des Rechts lassen es heute zu, den „Unrechtscharakter bloß als Definition" zu betrachten und die gesamte Rechtspflege lediglich als „Konfliktlösung oder Herrschaft" zu erfassen 68. Dies bedeutet hinsichtlich der Strafrechtspflege, daß es sich insoweit um eine „Kontrolle abweichenden Verhaltens" handelt, welche zunehmend durch erzieherische Maßnahmen oder, wie ζ. B. die Strafaussetzung, durch „Verwaltungshandeln" sichergestellt wird, was vor allem für Bagatelldelikte gilt. Der Strafzweck der Vergeltung tritt immer mehr zurück, die Strafnormen erscheinen als „general- und individualpräventive Maßnahmen", um eine möglichst umfassende Integration zu erreichen 69 . Gerade diese Erscheinungen stehen jedoch mit der These Nietzsches in Einklang, wonach nicht das Unrecht und die Tatschuld die konkrete Ausgestaltung der Strafnormen bestimmen, sondern der Grad gesellschaftlicher Macht. „Wächst die Macht und das Selbstbewußtsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht. ... Es wäre ein Machtbewußtsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt, — ihren Schädiger straflos zu lassen" 70 . 65 66 67 68 69 70

W M , ebd. W M , ebd. Schild, Ende und Zukunft des Strafrechts, ebd., S. 71 f. (100). Schild, ebd., S. 102. Schild, ebd., S. 108. G M I I 10.

Fünfter

Abschnitt

Stellung des Einzelnen zum Recht § 13 Rechte des Individuums auf den verschiedenen Stufen seiner Macht 1. Entstehung des Individuums aus der Gesellschaft Die Stellung des Einzelnen zum Recht bedeutet das Verhältnis des Einzelnen als Individuum zur Gesellschaft. Während jedoch von der Naturrechtslehre und der von Ihering als individualistischen Theorie gekennzeichneten Auffassung das Individuum als von der Gesellschaft isolierte Erscheinung betrachtet wurde und „diesem bloß gedachten Für-sich-sein des Individuums dann das wirkliche Leben in der Gemeinschaft" entgegengestellt wurde, zählt es auch zu den Verdiensten Iherings, darauf hingewiesen zu haben, daß das Individuum „aus seinem geschichtlichen Zusammenhang mit der Gesellschaft" nicht abzulösen ist 1 . Ihering gelangt zu dieser scheinbar selbstverständlichen These aus der Erwägung, daß weder Gott noch der Einzelne als Entstehungsgrund sittlicher Normen, als „Zwecksubjekt des Sittlichen" angesehen werden kann 2 . Es wurde bereits dargelegt, daß Nietzsche die sittliche „Autonomie" des Individuums, welche dieses schließlich zur Eigenverantwortlichkeit befähigt, in Übereinstimmung mit Ihering als Ergebnis des von den sittlich-gesellschaftlichen Normen ausgehenden Zwanges erkennt 3 . Hier geht es indessen um die Frage, ob das Individuum als solches durch die Gesellschaft bedingt ist, d.h. erst eine Erscheinung der Gesellschaft ist. Die Frage, inwieweit das Individuum lediglich als Erscheinung und Produkt der Gesellschaft begriffen werden kann, steht wiederum in engstem Kontext zu der von dem anthropologisch-funktionalen Ansatz Schelskys ausgehenden Untersuchung, inwieweit „die Herrschaftsmacht in den Dienst personfunktionaler Interessen gezogen werden kann" 4 . Das Individuum erkennt Nietzsche als das letzte Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung, welche damit begonnen hat, daß der Einzelne sich nicht als Individuum begriff, sondern Mitglied eines Gemeinwesens war, „welches seine organischen Eigenschaften hatte und den Einzelnen zu seinem Organe 1

Ihering, Der Zweck im Recht, I. Band, S. 64. Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, S. 137 und 143. 3 s.o. unter § 5.3; Hamacher, „Disgregation des Willens", Nietzsche über Individuum und Individualität, NSt, Bd. 15, S. 306 f. (309 und 315). 4 Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, ebd., S. 79. 2

12 Kerger

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

machte" 5 . Der Einzelne kann nach Nietzsche alle Affekte nur als soziale Affekte im Dienste seines Geschlechts und seiner Gesellschaft ausbilden. „Er verwandelt sich zum Organ im Dienste seiner Gesellschaft durchaus und macht von allen Eigenschaften nur den dadurch eingeschränkten Gebrauch: richtiger: er hat jene anderen Eigenschaften noch nicht und erwirbt sie erst als Organ des Gemeinwesens: als Organ bekommt er die ersten Regungen der sämtlichen Eigenschaften des Organischen" 6 . Als Individuum bedeutet der Einzelne somit ein „Teil" der Gesellschaft als einem Ganzen und lernt sich lediglich im Verhältnis zur Gesellschaft als eine Einheit zu begreifen. Die Einheit des Individuums als Inhaber von Rechten erkennt Nietzsche daher als einen Ausfluß der Interessen und Wertungen der Gesellschaft. „Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren 'Lebenssysteme4, derer jeder von uns eins ist; — man wirft beides in eins, während 'das Individuum 4 nur eine Summe von bewußten Empfindungen und Urteilen und Irrtümern ist..., eine 'Einheit 4 , die nicht Stand hält 4 4 7 . Dieser Gedanke, daß die Freiheit und die Rechte des Einzelnen, bezogen auf seine Eigenschaft als Individuum, den Interessen und Bewertungen der Gesellschaft verhaftet bleiben und die Einheit des Individuums in Hinsicht auf das tatsächlich bestehende Gegensatzverhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft ein „Irrtum 4 4 ist, findet sich deutlich in Schelskys rechtssoziologischer Analyse zur „Integrität und Autonomie der Person gegenüber Organisation 44 wieder, welche Schelsky zu den „Leitideen des Rechts44 zählt 8 . Schelsky sieht in dem „Umschlagen von personenbezogenen Rechten des Individuums in organisierte4 und damit kollektiv institutionalisierte Rechte und Interessen" eines der auffalligsten Merkmale unserer gegenwärtigen Sozialstruktur 9 . Die in immer weitgehenderem Maße festzustellende Verwirklichung der Rechte und der „Freiheit" der Person durch das in Gestalt von Verbänden usw. organisierte Recht macht nach Schelsky die Person zu einem Teil dieser Organisationen, weist ihm dabei eine bestimmte Rolle zu „und steuert damit durch objektive soziale Zwänge das — dann keineswegs mehr personintegre und -autonome — Verhalten des einzelnen" 10 . Dies kommt der Bestimmung des Individuums durch Nietzsche recht nahe, wonach das Individuum seine Eigenschaften, woran ja die Entwicklung seiner Rechte und seiner Freiheiten geknüpft ist, „erst als Organ des Gemeinwesens44 erwirbt 1 1 . Die Rechtsstellung des Einzelnen in der Rolle des Individuums sieht Nietzsche den gesellschaftlichen Interessen unterworfen, welche jedoch nicht aus dem Verhältnis der Einzelperson zur Gesellschaft entstanden ist. „Die Gesellschaft erzieht erst das Einzelwesen, formt es zum Halb- oder Ganz-Individuum vor, sie bildet sich nicht aus Einzelwesen, 5

Nachlaß, 2. Teil, 428. Nachlaß, ebd. 7 Nachlaß, ebd., 446. 8 Schelsky, ebd., S. 69. 9 Schelsky, ebd., S. 80. 10 Schelsky, ebd. 11 Nachlaß, ebd., 428. 6

§ 13 Rechte des Individuums auf den verschiedenen Machtstufen

179

nicht aus Verträgen solcher!" 12 . Damit gelangt Nietzsche implizit zu der weiteren Feststellung, daß die Entwicklung der Rechte des Einzelnen als Individuum nicht der wirklichen Antinomie zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft entspricht. Die Abhängigkeit des Individuums in seiner Existenz wie der Entwicklung seiner Rechte von den Interessen und Wertungen der Gesellschaft läßt das Individuum als „das höchste und unvollkommenste Wesen" erscheinen, das seine Lebensbedingungen denen der Gesellschaft entnimmt, welche ihrerseits bereits im Verhältnis zum Einzelnen den komplizierteren und „sehr unvollkommenen" Organismus bildet 1 3 . Das Individuum nimmt an den „Existenzbedingungen und Funktionen" der Gesellschaft Anteil und sieht die „dabei gemachten Erfahrungen und Urteile" als Grundlage seiner Lebensbedingungen an 1 4 . Diese Charakterisierung der Stellung des Einzelnen als Individuum zur Gesellschaft spiegelt sich m. E. deutlich in der rechtssoziologischen Analyse Schelskys wieder, wonach zwar einerseits der Bereich der subjektiven Rechte der Person ständig ausgeweitet und deren Schutz durch soziale Organisation verstärkt wird, andererseits aber „durch eben diese Organisation das Individuum in soziale Funktionen aufgelöst" wird und es deshalb des Schutzes „seiner Integrität und Autonomie gegenüber diesen sozialen Organisationen" bedarf 15 . Dieser Gedanke steht wiederum in engem Kontext mit den Äußerungen Nietzsches und auch Schelskys zu der Frage, inwieweit die Ich-Einheit den „sozialen Beziehungen" unterworfen ist und dadurch der Einzelne zu sich selbst in ein Verhältnis zu einer Mehrheit gesetzt wird 1 6 . Schelsky erkennt nun eine „neue Schutzbedürftigkeit der Person", welche „keineswegs primär gegen Herrschaft gerichtet" sei, „sondern gegen die hohe funktionale Durchorganisiertheit der Gesellschaft" 17 . Hierin liegt m.E. gerade der Gedanke Nietzsches, welcher das Individuum weder in seiner Entstehung noch in seiner weiteren Entwicklung der Tendenz nach in einem Konfliktverhältnis zur Gesellschaft erkennt, sondern vielmehr im Individuum das Ergebnis der Sozialisation des Einzelnen erblickt. „Also: der Staat unterdrückt ursprünglich nicht etwa die Individuen: diese existieren noch gar nicht!" 1 8 . Nietzsche deutet also bereits darauf hin, daß die Herrschaft der Gesellschaft über den Einzelnen als Individuum nicht in staatlichem Zwang liegt, sondern darin, daß die Gesellschaft sich das Einzelwesen dazu „erzieht", ihre sozialen Wertungen auf sich selbst anzuwenden, so daß dann, wenn das Individuum wieder aus dem Bann gesellschaftlicher Macht heraustritt, es „ i n sich die Nachwirkungen des gesellschaftlichen Organismus ausleiden" muß 1 9 . In 12 13 14 15 16 17 18 19

12*

Nachlaß, ebd. Nachlaß, ebd., 429. Nachlaß, ebd., 428. Schelsky, ebd. s.o. §9.2. Schelsky, ebd., S. 81. Nachlaß, ebd. Nachlaß, ebd.

180

5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

der Erscheinung des Individuums zeigt sich somit nicht das Gegensatzverhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, sondern das Individuum unterliegt der „Schätzung" durch die Gesellschaft „und begehrt von dort seine Sanktion" 20 . Der Gedanke Nietzsches, daß der Einzelne in seiner Erscheinung als Individuum seine Rechte und den dadurch geschützten Bereich der Freiheit der Person eher als „soziale Triebe" geltend macht und dabei den gesellschaftlichen Wertungen verhaftet bleibt, entspricht m. E. vollkommen der rechtssoziologischen Analyse Schelskys, woraus sich das „soziale Grundbedürfnis der Person" als Forderung nach „Integrität und Autonomie der Person gegenüber der sozialen Organisation" ergibt. 2. Person als Handlungseinheit bei Ihering, Nietzsche und Schelsky In seiner Auseinandersetzung mit dem Rechtsdenken Iherings, insbesondere mit dessen Spätwerk erkennt Schelsky in der sozialen Organisation der Verwirklichung von Rechten und anderen Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen die „Auflösung (Desintegration) der Person in soziale Rollen, ... in eine Vielfalt von Organisationen und Institutionen, die die 'Freiheit' des Individuums 'vertreten' und damit als kollektives Handeln steuern" 21 . Gerade auch der Gedanke, daß die Freiheit und die Rechte des Einzelnen durch die soziale Organisation der Individuen im Interesse der Gesellschaft lediglich „vertreten" werden, findet sich ausdrücklich bei Nietzsche: „Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als einzelner; er vertritt alle einzelnen gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit" 22 . Es bleibt außerdem festzustellen, daß Nietzsche und Schelsky insoweit in gleicher Weise begrifflich zwischen „Person" und „Individuum" trennen. Ausgehend von dieser begrifflichen Unterscheidung, welcher m. E. eine durchgehende inhaltliche Übereinstimmung zwischen Nietzsche und Schelsky entspricht, fordert Schelsky, nicht auf die „Organisationsfunktion" des Rechts abzuheben, sondern das Rechtssystem daraufhin abzufragen, „was es tatsächlich, und nicht nur formal, für die Integrität und Autonomie der Person leistet" 23 . Darin sieht Schelsky den entscheidenden Gesichtspunkt und die Aufgabe einer person-funktionalen rechtssoziologischen Analyse. Schelsky verlangt dazu eine soziologische Theorie, die eine Begrifflichkeit erarbeitet, „die die 'Integrität und Autonomie der Person' gegenüber der 'organisierten' Gesellschaft und ihren universalistischen Systemansprüchen erst einmal theoretisch begreift" 24 . Das Ziel einer solchen Begrifflichkeit besteht 20 21 22 23 24

Nachlaß, ebd., 433. Schelsky, ebd. W M 784. Schelsky, ebd. Schelsky, ebd., S. 83.

§13 Rechte des Individuums auf den verschiedenen Machtstufen

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nach Schelsky darin, „die moralische und psychische Ganzheit und Kontinuität einer Handlungseinheit 'Person4 zu stabilisieren". Hieran wird nun wieder der Bezug zur Handlungstheorie Schelskys deutlich, welche von den anthropologisch begründeten Bedürfnissen ausgeht und den „Charakter der Handlungseinheit" als „grundlegend für den Begriff der Person" annimmt 2 5 . Es wurden oben bereits die Schnittpunkte mit einer sich aus Nietzsches Lehre des Willens als Wille zur Macht ergebenden Handlungstheorie aufgezeigt 26. Von erheblicher Bedeutung in Hinsicht auf die Gemeinsamkeiten dieser Handlungstheorien erscheint es, daß Nietzsche sowohl den menschlichen Leib als Grundlage seiner Handlungstheorie erkennt, als auch den Begriff der Person im gleichen Sinne wie Schelsky verwendet. Aus dem folgenden Satz Schelskys geht m. E. in unangreifbarer Weise hervor, daß die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen Nietzsche und Schelsky darin besteht, daß der Handlungscharakter des Menschen als Person nicht durch ein Bewußtseinssystem geprägt wird, sondern durch die den Willen konstituierende Bedürfnis- und Triebstruktur des menschlichen Leibes. „Der Handlungscharakter, den wir damit der Person zuschreiben, verbietet es, sie als bloßes Bewußtseins- und Selbstbewußtseinssystem aufzufassen; die Existenz der Person muß in gleicher Weise in ihren Willensäußerungen im Außenverhältnis, also in Ausdruck und Kommunikation, ... in Interaktion gesehen werden, d.h., die Person in ihrer Autonomie und Integrität ist nur als sozial handelndes Wesen real" 2 7 . Diese m. E. außerordentlich wichtige Gemeinsamkeit zwischen Schelsky und Nietzsche besteht also darin, daß Nietzsche ebenso wie Schelsky eine Verhaltenssteuerung durch das Bewußtsein verwirft und diese vielmehr in der Bedürfnis- und Triebstruktur des Leibes erkennt. Der Leib wird nach Nietzsche nicht durch das Bewußtsein gesteuert, sondern durch die Herrschaftsstruktur der Triebe innerhalb einer ungeheuren „Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und untertänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd, ... und dies geschieht ersichtlich nicht durch das Bewußtsein!" 28 . Der Wille ist nach Nietzsche „ein Gesamtzustand, eine ganze Oberfläche des ganzen Bewußtseins und resultiert aus der augenblicklichen Machtfeststellung aller der uns konstituierenden Triebe" 29 . Ebenso wie Nietzsche erkennt Schelsky, daß die Verhaltenssteuerung und der Handlungscharakter der Person in dem liegt, „was sich im Menschen zu seinen 'sozialen Rollen 4 verhält oder was in ihm den ... Gesetzlichkeiten des Bewußtseins... entgegensteht". Der Handlungscharakter der Person erweist sich somit nach Schelsky dadurch, daß menschliches Handeln nicht lediglich von den „sozialen Rollen 44 des Bewußtseins bestimmt wird, sondern alle biologischen, psychischen, sozialen Einwirkungen der Gesellschaft „von dieser Handlungseinheit zur personalen Identität, Kontinuität und als Grundlage ihrer Handlun25 26 27 28 29

Schelsky, ebd., S. 57 und 84. s.o. unter §11.1. Schelsky, ebd., S. 83. Nachlaß, ebd., 343; dazu s.o. § 9.2. und § 11.1. Nachlaß, ebd., 250.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

gen" integriert werden 30 . Erst auf diese Weise erscheint es möglich, die Person als „Handlungseinheit" zu erfassen und in ihrer moralischen und psychischen Ganzheit zu stabilisieren, während anderenfalls die Gefahr besteht, daß der Begriff der Person „weitgehend bereits in sozial gesteuerte Verhaltensweisen aufgelöst" wird 3 1 . Hieran zeigt sich erneut die Übereinstimmung mit dem Denken Nietzsches. Der Einzelne kann, nachdem er Teil einer Gesellschaft geworden ist, welche zunächst seine Struktur angenommen hatte, erst „als Organ des Gemeinwesens" wieder zur Einheit finden 32 . Nietzsche stellt daher fest, daß in der Entstehung und Erscheinung des Individuums noch keine „Handlungseinheit" der Person und keine „moralische und psychologische Ganzheit" im Sinne Schelskys gesehen werden kann. Gerade auf dieses Verhältnis des Einzelnen als „Handlungseinheit" und „moralische Ganzheit" zur Gesellschaft, aber auch zu den sozial gesteuerten Verhaltensweisen im Einzelnen selbst, weist Nietzsche hin: „überall wo das Individuum auftritt, tritt die Sittenverderbnis auf, das heißt der individuelle Maßstab von Lust und Unlust wird zum ersten Male gehandhabt, und da zeigt sich, wie innerhalb des Einzelnen die Triebe noch gar nicht gelernt haben sich anzupassen, die Einheit ist noch nicht d a " 3 3 . Nietzsche sieht also auch insoweit durchaus im Einklang mit Schelsky den Einzelnen nicht einfach als vorgegebene Handlungseinheit an, sondern sieht diese Handlungseinheit sowohl durch die soziale Aufspaltung des Bewußtseins als auch durch sittlich-gesellschaftlichen Zwang beeinträchtigt oder gar latent gemacht. Dies entspricht weitgehend dem Ansatz Schelskys, wonach der Charakter der Handlungseinheit „eine doppelseitige Gefährdung der Autonomie und Integrität der Person" in eben diesem Sinne erkennbar werden läßt, nämlich einerseits durch die Einarbeitung der Person als „bloßes Funktionsteil", andererseits durch eine Verkürzung auf bloße „Selbstbewußtseinsimmanenz"34. Autonomie, Würde und freie Selbstbestimmung des Einzelnen setzen nach Schelsky das Recht „einer personenhaften Existenz, des Seins der Person" als einen „Absolutheitsanspruch" voraus, der sich systemfunktional nicht weiter reduzieren läßt 3 5 . 3. Gleiche Rechte als soziale Erscheinung Von der begrifflichen Trennung zwischen Person und Individuum aus, wie sie bei Schelsky ebenfalls zumindest in Hinsicht auf den Begriff der Person anzutreffen ist, untersucht Nietzsche die sich daraus ergebenden Unterschiede der Rechte, und zwar durchaus im Sinne Schelskys, daß die Person „ihr Wesen als 'Recht', nämlich als Handlungsanspruch" gegenüber allen anderen Einzel30 31 32 33 34 35

Schelsky, Schelsky, Nachlaß, Nachlaß, Schelsky, Schelsky,

ebd. ebd., S. 82. ebd., 428. ebd., 430. ebd., S. 84. Die Soziologen und das Recht, S. 92.

§13 Rechte des Individuums auf den verschiedenen Machtstufen

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nen und der Gesellschaft vertritt 3 6 . Nietzsche sieht aus diesem Grunde in der Forderung des Einzelnen nach der „Gleichheit der Rechte" gerade den wesensspezifischen Ausdruck seiner Stellung als Individuum, auch wenn der Anspruch des Einzelnen auf Verwirklichung seines „Individualismus" und diese Forderung nach einer gleichen Rechtsstellung aller Einzelnen „scheinbar entgegengesetzt" sind 37 . Der Einzelne setzt sich als Individuum „instinktiv gleich an mit jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit" 38 . In dem „Individual-Prinzip" erkennt Nietzsche, soweit es sich mit der Forderung nach Rechtsgleichheit verbindet, eine bestimmte und noch bescheidene Stufe des Willens zur Macht. Die Forderungen nach Freiheit, Rechtsgleichheit und Gerechtigkeit erkennt Nietzsche als Metamorphosen des Willens zur Macht, welcher jedoch notwendig auf die Erlangung von Vorrechten gerichtet ist. Hieran wird deutlich, daß Nietzsche Recht durchaus als Handlungsanspruch im rechtssoziologischen Sinne versteht. „Erste Stufe: sie machen sich frei, — sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich untereinander an, sie setzen sich durch. Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, 'Gerechtigkeit 4. Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte (— sie ziehen die Vertreter der Macht zu sich hinüber). Vierte Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie haben sie" 3 9 . Die Forderung nach Freiheit erscheint demnach lediglich als eine Zwischenerscheinung, ein erster Schritt zur Lockerung der Übermacht des Herrschenden. „ M a n will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man 'Gerechtigkeit 4, d.h. gleiche Macht" 4 0 . In der Forderung nach Rechtsgleichheit sieht Nietzsche ein Symptom dafür, daß die Einzelnen sich selbst als Individuen begreifen, welche eine untereinander gleiche Machtstellung erreicht haben und verhindern wollen, daß ein Mitbewerber an Macht zunimmt 4 1 . Aufgrund der tatsächlich vorhandenen und entstehenden Machtungleichheiten beginnt jedoch darauf die Organisation Einzelner zu Gruppen, welche nach Vorrechten streben. Diese Stufenbildung gilt nach Nietzsche indessen allein für die Entwicklung des Individuums, welches sich „nicht als Person in Gegensatz44 zur Gesellschaft setzt. Die Forderung nach Rechtsgleichheit, welche aus dem untereinander gleichen Machtgrad der Individuen und ihren Gruppen gegenüber der Gesellschaft erwächst, sieht Nietzsche in einem gegensätzlichen Verhältnis zur Erscheinung des Einzelnen als Person. „Der Stände- und Klassenkampf, der auf 'Gleichheit der Rechte4 abzielt, — ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampflos 36 37 38 39 40 41

Schelsky, ARS, S. 83. W M 783. W M 784. W M 215. W M 784. W M 86.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

gegen die Solitär-Person" 42 . Die Forderung nach Rechtsgleichheit paßt auf den Einzelnen als „Solitär-Person" nicht und kann ihn seinerseits nicht schützen, weil er der Machtrelation der Individuen untereinander und zur Gesellschaft nicht unterliegt. Die Person ist dagegen ein „relativ isoliertes Faktum", was dazu führt, daß der Einzelne den gesellschaftlichen Antagonismus in sich selbst erfahrt und sich selbst zu einer Gesellschaft entwickelt 43 . Der „freieste Mensch" hat demnach „die größte Ordnung im notwendigen Kampfe seiner Kräfte, die verhältnismäßig größte Unabhängigkeit seiner einzelnen Kräfte, den verhältnismäßig größten Kampf in sich" 4 4 . Das Individuum, welches als das „höchste und unvollkommenste Wesen" aus der Gesellschaft entsteht, kann sich nach Nietzsche nur dadurch zu einem autonomen Wesen entwickeln, daß es den der Annahme des Individuums zugrundeliegenden Irrtum, nämlich den vermeintlichen Gegensatz des Ich zu allem Nicht-Ich, verliert und erkennt, daß der Einzelne nicht bloß das Individuum als Teil der Gesellschaft ist, sondern daß „jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht bloß 'vererbt', sondern er selbst — ) " 4 5 . Der Täuschung des Individuums als dem Teil einer Gesamtheit, welcher nur in Hinsicht auf das gesellschaftliche Interesse als Einheit gewertet wird, stehen „die wahren 'Lebenssysteme4, derer jeder von uns eins ist", gegenüber. Der autonom gewordene Einzelne kann schließlich „allein leben, nach eigenen Gesetzen — er ist kein Gesetzgeber und will nicht herrschen"; sein Machtstreben wendet sich „nach innen 4446 . Dies widerspricht den an dem Verhältnis der Individuen zur Gesellschaft orientierten Wertungen. Die Darstellung dieser Äußerungen Nietzsches über die Stellung des Einzelnen zur Gesellschaft hat gezeigt, daß Nietzsche die Idee der Rechtsgleichheit von der Idee des Einzelnen als „Solitär-Person" unterscheidet. Hierin liegt m. E. eine weitere bedeutende Übereinstimmung mit Schelskys Entwurf einer auf die Integrität und Autonomie der Person bezogenen „Leitidee des Rechts44. Schelsky stellt fest, daß „diese auf die Autonomie der Person bezogene Rechtsidee strukturell eine selbständige rechtliche Leitidee gegenüber ... der durch den 'übermächtigen Dritten 4 garantierten Gleichheit im Recht" darstellt 47 . Diese Übereinstimmung zwischen Nietzsche und Schelsky liegt also darin, daß auch Schelsky die Rechtsidee der „Gleichheit im Recht44 als Ausdruck einer systemfunktionalen Analyse des Rechts begreift, welche von der „Identifikation der Herrschenden mit dem bestehenden sozialen System44 ausgeht 48 . Die personale Leitidee des Rechts erkennt Schelsky demgegenüber im Anschluß an Max Weber darin, daß die Auflösung von Macht in Recht durch Begründung 42 43 44 45 46 47 48

W M 887. W M 886; Nachlaß, ebd., 433. Nachlaß, ebd. W M 785; Nachlaß, ebd., 446; dazu Hamacher, ebd., S. 315. Nachlaß, ebd., 429. Schelsky, ebd., S. 84. Schelsky, ebd., S. 77.

§ 14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts

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subjektiver Rechte als „eine auf die einzelnen Individuen verteilte Macht" erfolgt. „Subjektives Recht ist aber zugleich neutralisierte Macht, insofern es nicht zu Herrschaft kumulierbar und an die Person gebunden ist: damit kann es nicht zur Herrschaft einer Gruppe oder Institution gesteigert und maximiert werden" 49 . Das Merkmal der Machtneutralisierung ergibt sich nach der personalen Leitidee des Rechts somit aus dem Wesen des an die Person gebundenen Rechts selbst, ohne daß es dazu des Postulats einer „Gleichheit im Recht" im Sinne einer systembezogenen Begrenzung des Rechts bedarf. In dem Postulat einer „Gleichheit bei Verschiedenheit" als Leitidee des Rechts liegt umgekehrt das Zugeständnis, daß das Recht nicht an die Person gebunden ist und deshalb zur Herrschaft einer Gruppe oder Institution maximiert werden kann. Nach der personalen Leitidee des Rechts wird dagegen das Recht als gesicherter Handlungsspielraum durch die Personenbezogenheit sowohl begrenzt als auch gegen eine Beschränkung durch Gruppen und Institutionen geschützt. Dieses Merkmal der Neutralisierung von Macht hat Nietzsche m. E. hervorgehoben, indem er feststellt, daß der Einzelne, soweit er sich aus der systembezogenen Stellung als Individuum gelöst hat, „kein Gesetzgeber" ist und nicht herrschen will 5 0 . Auch hieran wird deutlich, daß Schelskys Entwurf einer personalen Leitidee des Rechts, welche die Person als das Endziel rechtssoziologischer Analyse betrachtet, dem Denken Nietzsches sehr nahe steht. § 14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts 1. Erwartungssicherung und Selbstregulierung Ausgehend von einem soziologischen Begriff der Macht als einer „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht" und einem ebenfalls soziologischen Begriff der Autorität als einer Chance, für Befehle „bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden" 1, wurde bereits oben 2 entwickelt, daß im Denken Nietzsches die Chance, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, auf dem Willen zur Macht als dem Einen Willen in den Befehlenden und Gehorchenden beruht, wobei der Wille zur Ausführung des Gewollten auf das Widerstreben der Gehorchenden angewiesen ist. Weiterhin wurde oben bereits dargelegt, daß für Nietzsche im Einklang mit der heutigen institutionalistischen Rechtsauffassung die Chance, für Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden, auf der Sicherheit beruht, daß dort, wo befohlen wird, „der Gehorsam, also die Aktion 49 50

Schelsky, ebd., S. 79. Nachlaß, ebd., 429.

1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie, 5. Aufl., 1. Halbband, S. 28f. und S. 122-176. 2 unter § 10.2.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

erwartet werden durfte" 3 . Liegt somit nach der westdeutschen institutionalistischen Rechtsauffassung die Funktion von Institutionen und Rechtsregeln darin, — auch hierin in Übereinstimmung mit Nietzsche4 — „keine empirische Regelmäßigkeit zum Ausdruck zu bringen", sondern das menschliche Handeln „an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen" zu orientieren 5 , so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der soeben erwähnte soziologische Autoritätsbegriff sowohl für die Entwicklung einer Normentheorie Nietzsches als auch für die institutionalistische Rechtsauffassung von entscheidender Bedeutung ist. Aus Nietzsches Äußerungen geht, wie bereits dargelegt, hervor, daß Regeln menschlichen Handelns sich allein aus dem institutionalisierten Verhalten der Befehlenden und Gehorchenden ergeben, welches durch die Machtverhältnisse der Wesen zueinander innerhalb und außerhalb der Einheiten bestimmt wird. Gibt es also für Nietzsche in auffallender Übereinstimmung mit der heutigen institutionalistischen Rechtsauffassung „keine empirische Regelmäßigkeit" menschlichen Handelns, keine Befolgung von Gesetzen, welche „alle nachfolgenden Anwendungsakte gleichsam ausweglos" determinieren 6, so besteht — für Nietzsche wie auch für die institutionalistische Rechtsauffassung — die alleinige Möglichkeit der Steuerung und Berechnung menschlichen Verhaltens in der Schaffung und Sicherung von „Erwartungsstrukturen" 7 , anknüpfend an den hier genannten Autoritätsbegriff. Sind Rechtsregeln einem institutionellen Prozeß der Anwendung unterworfen, bilden sie Erwartungsstrukturen im Sinne eines „Verhaltensprogramms". Die Ausführung des Gesetzes als Verhaltensprogramm setzt voraus, daß die rechtsanwendenden Stellen „ i n einem ganz bestimmten Zustand sind, als der Befehl gegeben wird, — sie müssen ihn verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei" 8 . Normbefehl und Ausführung bedürfen nach Schelsky einer gleichen „Rationalitätsstufe des Verfahrens" 9 . Es wurde oben bereits dargelegt, daß Nietzsche „Verwandtschaft" zwischen Entscheidendem und Ausführenden für erforderlich erachtet, als Zeichen des Einen Willens in Befehlenden und Gehorchenden, damit sich schließlich der Befehlende mit den gehorsamen Werkzeugen verwechseln kann 1 0 , so wie das Gesetz — teilweise auch in der Rechtstheorie — mit dessen Ausführung verwechselt werden mag: „Gehorsam muß dasein und Möglichkeit zu gehorchen!". Nach der institutionalistischen Rechtsauffassung stehen juridische Entscheidungen in einem arbeitsteiligen Erzeugungszusammenhang untereinander, wobei „selbst die letztendlich zu treffende Einzelentscheidung eines Falles sich 3

JGB 19. s.o. unter § 10.4. 5 Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht, ebd., S. 228. 6 Krawietz, ebd., S. 229. 7 Krawietz, ebd. 8 Nachlaß, 2. Teil, 331. 9 Schelsky, Die Soziologen und das Recht, ebd., S. 48. 10 Nachlaß, 2. Teil, 330.

4

§ 14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts

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stets auch auf andere systemeigene Operationen bezieht, die — wie die Glieder einer Kette — miteinander verbunden sind" 1 1 . Dieser Erzeugungszusammenhang dient auch dazu, eine „juridische Rationalität" zwischen dem Normbefehl, den entscheidenden Instanzen und den Ausführenden zu schaffen. Vor allem jedoch dient diese Kettenbildung dazu, „mehr Macht verfügbar zu machen, als der Machthaber allein ausüben kann" 1 2 . Die institutionalistische Rechtsauffassung erkennt in dieser Kettenbildung die Möglichkeit, die Beschränkung der höheren Strukturebenen durch die unteren Ebenen der Ausführung zu erfassen 13 . U m diese Beschränkungen zentraler Steuerung, „die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt" 1 4 erfassen zu können, geht die institutionalistische Rechtsauffassung von der Vorstellung einer „Selbsthierarchisierung des Rechtssystems" aus, welche eine Erwartungssicherung und Entscheidungsvereinfachung durch „Etablierung einer Mehrebenenstruktur" gewährleistet 15. Der von dem heutigen Institutionalismus verwandte Begriff der „Selbsthierarchisierung" erinnert nicht nur äußerlich an den von Nietzsche gewählten Begriff der „Selbstregulierung". Nietzsche bedient sich dieses Begriffs zur Verdeutlichung der Erscheinung hierarchisch geschichteter Kompetenzen, innerhalb welcher Interdependenzen nur im Sinne einer einseitigen Festlegungsabhängigkeit auftreten können: „der Mächtigere stellt die Funktionäre gegen sich fest. Jeder hat etwas zu leisten, und um dies regelmäßig zu erlangen, verzichtet der Mächtigere auf weitere Eingriffe und fügt sich selber einer Ordnung: es gehört dies zur Selbstregulierung" 16. Nietzsche geht also durchaus im Sinne der heutigen institutionalistischen Rechtsauffassung davon aus, daß ein Verzicht des Mächtigeren auf weitere Eingriffe nur aufgrund der Chance einer Potentialisierung der Macht im Wege einer „Kettenbildung" innerhalb einer Mehrebenenstruktur geschieht, um auf diese Weise mehr Macht verfügbar zu machen. Der Mächtigere verzichtet nur deshalb auf weitere Eingriffe, weil er erwarten kann, daß die Ausführenden eine von ihm errichtete Ordnung und deren Regeln befolgen, indem er die Ordnung an die Stelle seines Befehls stellt. Indem der Mächtigere jedoch dies tut, stellt er die von ihm errichtete Ordnung als eine nunmehr in seinem Machtbereich für alle verbindliche Institution über sich selbst und muß sich ihr unterwerfen. Diese von Nietzsche als „Selbstregulierung" gekennzeichnete Erscheinung ermöglicht eine Entscheidungsvereinfachung, wobei innerhalb dieser Ordnung, d. h. im Verhältnis zu den Ausführenden, auftretende Interdependenzen „ i m Sinne einer einseitigen Festlegungabhängigkeit limitiert" werden müssen 17 . 11 12 13 14 15 16 17

Krawietz, ebd., S. 229, 230. Krawietz, ebd., S. 230. Krawietz, ebd., S. 234. Nachlaß, 2. Teil, 331. Krawietz, ebd. Nachlaß, 2. Teil, 417. Krawietz, ebd.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

Nietzsche faßt die unter der Voraussetzung der Unterwerfung des Mächtigeren unter die von ihm errichtete Ordnung gegebene Chance der Machtpotentialisierung durch eine „Kettenbildung" und eine „Durchgriffsmöglichkeit durch die Kette" 1 8 in folgende Worte: „ I n bezug auf die Pflichten der Funktionen stimmt der Mächtige und die Funktion überein; es ist nichts 'Unegoistisches4 daran" 1 9 . Nur durch diese Übereinstimmung in Hinsicht auf die „Pflichten" der errichteten Ordnung ist eine Potentialisierung der Macht durch eine „Kettenbildung" innerhalb einer Mehrebenenstruktur erreichbar. Es bedarf jedoch einer „Selbsthierarchisierung des Rechtssystems", um zu einer „einseitigen Festlegungsabhängigkeit" der innerhalb einer Mehrebenenstruktur auftretenden Interdependenzen zu gelangen. Die Notwendigkeit der Schaffung einer „einseitigen Festlegungsabhängigkeit (nur von oben nach unten) 1 9 a wurde ebenfalls bereits von Nietzsche erkannt: „Die Funktion erhält sich in der Überwältigung und Herrschaft über noch niedrigere Funktionen — darin wird sie von der höheren Macht unterstützt!" 20 . Die institutionalistische Rechtsauffassung sieht in der „Selbsthierarchisierung des Rechtssystems" die Voraussetzung, trotz der wechselseitigen Wirkungszusammenhänge zwischen Regel und Regelbefolgung eine „einseitige Festlegungsabhängigkeit" dieser Interdependenzen zu erreichen, d. h. die Beschränkungen der höheren Entscheidungsebenen durch die unteren Ebenen der Ausführung zu begrenzen. Nietzsche charakterisiert diese Interdependenzen und insbesondere die Beschränkung, welche die Verwirklichung des Normbefehls durch die Ausführung auf unteren Ebenen der Ausführung als „Umkehrung" 2 1 erfährt, folgendermaßen: „Alle diese lebendigen Wesen müssen verwandter Art sein, sonst könnten sie nicht so einander dienen und gehorchen: die Dienenden müssen, in irgend einem Sinne, auch Gehorchende sein, und in feineren Fällen muß die Rolle zwischen ihnen vorübergehend wechseln, und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen" 22 . Daß Befehlende und Ausführende „einander" dienen und gehorchen müssen, zeigt, daß Nietzsche ähnlich wie die heutige institutionalistische Rechtsauffassung davon ausgeht, daß Entscheidungen innerhalb einer Organisationseinheit in einem „arbeitsteiligen Erzeugungszusammenhang" entstehen, daß sich jede Entscheidung „auch auf andere systemeigene Operationen bezieht" 23 Nietzsches Äußerungen hierzu stehen wiederum im Zusammenhang mit seiner Lehre, daß die Einheit nur als Organisation möglich ist, daß es keine Einheit des Subjekts, des Ich, des Individuums gibt. Was in dem vorbereitenden Fragment lautet: „Der Begriff 18

Krawietz, ebd., S. 230. Nachlaß, 2. Teil, 417. 19a Krawietz, ebd., S. 234. 20 Nachlaß, 2. Teil, 418. 21 Nachlaß, 2. Teil, 331. 22 Nachlaß, 2. Teil, 734. 23 Krawietz, ebd., S. 229, 230. 19

§14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts

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'Individuum' ist falsch. Diese Wesen sind isoliert gar nicht vorhanden: das zentrale Schwergewicht ist etwas Wandelbares" 24 , mündet schließlich in den Satz, daß die Relationen erst die Wesen konstituieren 25 . Es erscheint angebracht, den Entstehungszusammenhang der hier zitierten Äußerungen Nietzsches mit diesem zentralen Gedanken nicht unberücksichtigt zu lassen, um den Stellenwert dieser Äußerungen in ihrem Kontext erkennen zu können. Indem Nietzsche den Leib als Herrschaftsgebilde und als Organisation begreift, kommt seine Vorstellung des Ablaufs von Entscheidungsprozessen unter dem Einfluß wechselseitiger Interdependenzen derjenigen der institutionalistischen Rechtsauffassung sehr nahe, welche diese wechselseitigen Interdependenzen im Wege der Selbsthierarchisierung „durch einseitige, auf Befehl und Gehorsam basierende" Festlegungsabhängigkeiten ersetzt ansieht 26 . In diesen Zusammenhang gehört daher auch die folgende Äußerung Nietzsches: „Die prachtvolle Zusammenbindung des vielfachsten Lebens, die Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Tätigkeiten, der tausendfältige Gehorsam, welcher kein blinder, noch weniger ein mechanischer, sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam ist — " 2 7 . Gerade aufgrund des Widerstrebens der Gehorchenden bleibt das, was die institutionalistische Rechtsauffassung als „einseitige Festlegungsabhängigkeit" kennzeichnet, erhalten, wie oben 28 bereits ausgeführt wurde. Die Steuerung eines Rechtssystems durch „Selbstregulierung" im Sinne einer „Selbsthierarchisierung" ermöglicht es dem Mächtigeren, bzw. den oberen Entscheidungsebenen, durch eine „Kettenbildung" auf weitere einzelne Eingriffe zu verzichten und „mehr Macht verfügbar zu machen, als ein Machthaber allein ausüben kann" 2 9 . Diese Potentialisierung der Macht bewirkt gleichzeitig Entscheidungsvereinfachungen innerhalb einer Mehrebenenstruktur. Daß Nietzsche auch diesen Aspekt gesehen hat, wird besonders deutlich, wenn man den Begriff „Funktion" in dem folgenden Zitat in dem Sinne versteht, wie ihn Nietzsche an einer anderen, oben bereits erwähnten Stelle 30 , verwandt hat: „Die größere Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder — wenn Das Vollkommenheit ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozeß, vermöge deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend" 31 . Die scharfe Abscheidung und das 24 25 26 27 28 29 30 31

Nachlaß, 2. Teil, 734. W M 625; dazu oben unter § 10.3. Krawietz, ebd., S. 235. Nachlaß, 2. Teil, 343. s.o. unter §10.2. Krawietz, ebd., S. 230. Nachlaß, 2. Teil, 417. W M 644.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

selbständige Nebeneinander der Funktionen in den Worten Nietzsches bezeichnet m. E. die Mehrebenen-Organisation als „arbeitsteilig differenzierte hierarchisch geschichtete" im Sinne der institutionalistischen Rechtsauffassung 32. Nietzsche erkennt in einer allzu einseitigen Arbeitsteilung auch die Gefahr einer perspektivischen Verselbständigung: „ — so wie die Arbeitsteilung von Organismen zugleich eine Verkümmerung und Schwächung der Teile, endlich den Tod für das Ganze mit sich bringt" 3 3 Die Potentialisierung der Macht durch vereinfachende und arbeitsteilige Entscheidungsprozesse auf verschiedenen Ebenen erfordert schließlich eine Abtretung von Macht an einzelne Autoritäten; der Mächtigere verzichtet auf weitere Eingriffe „und fügt sich selber einer Ordnung: es gehört dies zur Selbstregulierung" 34. Auf diese Weise wird Macht vom Recht abhängig. Autorität als Chance, für Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden, beruht somit auf dem Unterlassen des potentiellen Gebrauchs der Durchsetzung mittels physischer Gewalt 35 . Autorität beruht vielmehr — in den Worten Nietzsches gesprochen — auf der gesicherten Erwartung, daß „die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte" 3 6 . 2. Autorität als institutionalisiertes Machtpotential einer Person Es wurde soeben dargestellt, daß Nietzsche die „verwandte A r t " der Befehlenden und Ausführenden als unerläßlich ansieht, damit sie „einander dienen und gehorchen" können 37 , d.h., damit eine Potentialisierung der Macht in einem arbeitsteiligen Entscheidungsprozeß innerhalb hierarchisch gegliederter Kompetenzen erreicht wird. Nietzsche sieht in dieser „verwandten A r t " ein äußeres Zeichen des Willens zur Macht als dem „Einen Willen" in Befehlenden und Gehorchenden und die Voraussetzung dafür, daß durch den Befehl, der nicht als Wort wirkt, „sondern als das, was sich verbirgt hinter dem Laut", als Aktion, etwas „fortgeleitet" wird 3 8 . Diese Verwandtschaft der Befehlenden und Gehorchenden im Sinne einer Erwartungsstruktur, daß die Wirkung des Befehls, die Aktion erwartet werden durfte 39 , ist für Nietzsche in der Organisationseinheit des Leibes die Voraussetzung einer Autorität der Person. Auch Autorität der Person als rechtlich regulierte Machtausübung ist für Nietzsche nur als institutionelles Faktum, welches auf dem Verhältnis von Regel und 32 33 34 35 36 37 38 39

Krawietz, ebd., S. 235. W M 678. Nachlaß, 2. Teil, 417. Krawietz, ebd. s.o. unter § 10.2. Nachlaß, 2. Teil, 734. Nachlaß, 2. Teil, 327. JGB 19.

§14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts

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Regelbefolgung beruht 40 , denkbar: „Eine organisierende Gewalt ersten Ranges, z.B. Napoleon, muß im Verhältnis zu der Art sein, welche organisiert werden soll" 4 1 . Diese „verwandte A r t " der Befehlenden und Gehorchenden als einigende Macht über entgegengesetzte, sich widerstrebende Kräfte, bildet nach Nietzsche einen Gradmesser für eine erweiterte Verfügbarkeit von Macht. Nach der institutionalistischen Rechtsauffassung wird Autorität vom Recht abhängig, indem sie durch eine „Kettenbildung" die Möglichkeiten einer Machtausübung erweitert und dazu Macht an ausführende Organe überantwortet 42 . A u f diese Weise wird sichergestellt, daß Macht nur noch rechtmäßig, d.h. unter Befolgung der zur Machterweiterung geschaffenen Ordnung ausgeübt wird. Macht wird als Autorität institutionalisiert. Nietzsche hat, wie bereits dargelegt wurde, ebenfalls den Verzicht des Mächtigeren auf weitere Eingriffe und die Unterordnung des Mächtigeren unter das von ihm errichtete Regelsystem als Preis einer auf Arbeitsteilung beruhenden hierarchisierten Machtausübung erkannt. Nietzsche sieht jedoch gerade in einer solchen arbeitsteiligen und hierarchisch gegliederten Organisation des Rechtssystems „eine Verkümmerung und Schwächung der Teile, endlich den Tod für das Ganze" 43 , d.h. die Gefahr einer Verkümmerung der Macht aufgrund eines Verfalls der Autorität. Statt einer auf hierarchisierter Arbeitsteilung beruhender und daran gebundener Machtausübung erkennt Nietzsche in der einigenden Kraft, in einem Machtgebäude über möglichst vielfältig sich widerstrebenden und scheinbar unvereinbar gegensätzlichen Kräften die Gebundenheit, die Institutionalisierung der Macht im Sinne von Autorität. Diese einigende Kraft zur Schaffung eines „großen Machtgebäudes" darf nicht etwa mit Integration verwechselt werden, denn die Gegensätze und sich widerstrebenden Tendenzen sollen durchaus nicht gemildert oder beseitigt werden. Im Gegenteil folgt „aus dem Vorhandensein der Gegensätze, und aus deren Gefühle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung" 44 , also entsteht aus dem relativ unbehinderten Spiel der sich widerstrebenden Kräfte die Institutionalisierung der Macht. Die Macht wird zur äußersten, alle Gegensätze in sich aufnehmenden Erweiterung gezwungen und in dieser Notwendigkeit zur Errichtung einer mit der Zahl und Kraft der Gegensätze wachsenden Synthese erkennt Nietzsche die Gebundenheit der Macht an die ihr unterworfenen Kräfte im Sinne von Autorität. „Der Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. — Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt" 4 5 . Die 40 41 42 43 44

Krawietz, ebd., S. 220 und 225. Nachlaß, 2. Teil, 767. Krawietz, ebd., S. 234. W M 678. W M 967.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

Institutionalisierung der Macht durch Bildung einer übergreifenden Synthese gegensätzlicher, widerstrebender Kräfte findet also nicht aufgrund der auch von Nietzsche für erforderlich gehaltenen arbeitsteilig und hierarchisch gegliederten Organisation eines Rechtssystems statt. In dieser unausweichlichen Arbeitsteilung und der mit ihr einhergehenden Überantwortung von Macht sieht Nietzsche vielmehr die Gefahr einer Verkümmerung der Macht der ausführenden Organe wie schließlich der Organisation 46 . Es handelt sich bei der Institutionalisierung der Macht durch Bildung einer übergreifenden Synthese nicht um eine auf Integration gerichtete Kraft: „Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßi 4 7 . Neben einer auch im Denken Nietzsches feststellbaren institutionalistischen Deutung des Verhältnisses von Regel und Regelbefolgung liegt für Nietzsche die Institutionalisierung der Macht als Autorität in der Errichtung einer übergreifenden Synthese in Form einer Rangordnung. Wie eine solche Rangordnung beschaffen ist, wird noch Gegenstand einer weiteren Untersuchung sein 48 . Dennoch soll bereits an dieser Stelle durch Einführung des folgenden Zitats Nietzsches Modell einer übergreifenden und übermächtigenden Rangordnung als Autorität angedeutet werden, um zu zeigen, warum für Nietzsche die Autorität an die Person des Menschen gebunden ist. „'Schönheit 4 ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: — daß keine Gewalt mehr not tut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht — das ergötzt den Machtwillen des Künstlers" 49 . Ohne auf das Wesen der Rangordnung im Denken Nietzsches hier bereits näher einzugehen, ist festzuhalten, daß Autorität als höchste Potenz der Macht die Synthese über „Entgegengesetztes", d.h. über möglichst starke und weit auseinanderliegende, sich widerstrebende Kräfte bedeutet. Weiterhin ist aus dieser und der folgenden Äußerung Nietzsches zu entnehmen, daß Autorität an die Person des Menschen gebunden ist: „ A n der Spitze der Staaten soll der höhere Mensch stehen: alle anderen Formen sind Versuche, einen Ersatz seiner sich selber beweisenden Autorität zu geben (das alte Gesetz bekommt erst seine Heiligkeit, wenn es an gesetzgeberischen Kräften fehlt.)" 5 0 . Die Autorität der Person als übermächtigende Synthese ist für Nietzsche die Voraussetzung für die Verantwortlichkeit menschlichen Handelns, welche er nicht einer Arbeitsteilung — im Sinne einer Gewaltenteilung — zugänglich ansieht. „Grundsatz: nur einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten 45 46 47 48 49 50

W M 966. W M 678. W M 966. s.u. unter § 15. W M 803. Nachlaß, 2. Teil, 770.

§ 14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts

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sind erfunden, um Dinge zu tun, zu denen der einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über das Wesen des Menschen, als das Individuum, ..."; weiter: „Das Studium der Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist, als der Mensch als 'Einheit'. Die 'Gesellschaft' hat die Tugend nie anders angesehen, als als Mittel der Stärke, der Macht, der Ordnung" 5 1 . Der Mensch als Gemeinwesen befolgt daher nicht die Gebote der Tugend als Ausfluß moralischer Eigenverantwortlichkeit, sondern er fürchtet allein die Strafe 52 . Deshalb nennt Nietzsche den Staat auch „die organisierte Unmoralität" 5 3 . Die Bindung der Macht an die Verantwortlichkeit des Einzelnen, des Ausführenden, und damit die Abhängigkeit der Macht von ihrer „rechtmäßigen" Ausübung sieht Nietzsche durch eine Arbeitsteilung hinsichtlich der Verantwortlichkeit gefährdet, welche insoweit die übermächtigende Synthese bildet. „Ihr habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten, oder auch nur zu peitschen, oder auch nur zu —, aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für Das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid usw.)" 5 4 ; weiter: „Das wird erreicht durch Arbeitsteilung (so daß niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat): der Gesetzgeber — und Der, der das Gesetz ausführt; der Disziplin-Lehrer — und Die, welche in der Disziplin hart und streng geworden sind". Nietzsche sieht in dieser Arbeitsteilung, also in der Gewaltenteilung, letztlich eine Gefahr für die von der Autorität getragene Verantwortlichkeit 55 , welche dermaßen aufgeteilt die Macht nur noch von verschiedenen Staatsgewalten abhängig werden läßt. Nietzsche wendet sich dagegen, daß die Macht derjenigen, die ein Gesetz ausführen, nicht mehr vom Gesetzgeber als einheitlicher Autorität einer Person abhängig ist, der Gesetzgeber nicht als oberste Exekutivbehörde die Anwendung der von ihm errichteten Gesetze überwacht. Das Gesetz und seine Ausführung verselbständigen sich gegenüber der Autorität und Person des Gesetzgebers, sobald „es an gesetzgeberischen Kräften fehlt" 5 6 . Nietzsche fordert deshalb, die Verantwortlichkeit als Zeichen der Autorität in einem auf die Person des Menschen als Einzelwesen zugeschnittenen Organ ungeteilt zu lassen. Der Mensch ist eine Vielheit belebter Wesen, welche nur „in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen" können 57 . Nur in der Bejahung seiner Verantwortlichkeit als Einzelwesen bekennt sich der Mensch zur Verantwortlichkeit des Gemeinwesens. „Die Feigheit und das schlechte Gewissen der meisten Fürsten hat den Staat erfunden und die Phrase vom bien public. Der rechte Mann hat es immer als Mittel in seiner Hand benutzt, zu 51 52 53 54 55 56 57

W M 716. W M , ebd. W M 717. W M 718. Nachlaß, 2. Teil, 770. Nachlaß, 2. Teil, 770. Nachlaß, 2. Teil, 733.

13 Kerger

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

irgend einem Zwecke" 58 . Die Institutionalisierung potentieller Macht als Autorität ist für Nietzsche somit nur in der Bejahung der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt als Einzelwesen, als einheitliche Gewalt, sichergestellt. Nietzsche gelangt hierin zu einem anderen Ergebnis als die institutionalistische Rechtsauffassung, welche gerade in arbeitsteiligen und hierarchisch geschichteten Untergliederungen unter „Verkettung mit Hilfe der Regeln des Rechts" die Bedingung für die Institutionalisierung potentieller Macht als Autorität sieht 59 . Es soll an dieser Stelle schließlich noch der Frage nachgegangen werden, welche Merkmale der von Weber entwickelten „drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" im soziologischen Sinne als der „Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden" 60, Nietzsches Äußerungen zu entnehmen sind. Weber unterscheidet als Herrschaftsformen die „legat Herrschaft kraft Satzung", die „traditionelle Herrschaft, kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten" sowie die „charismatische Herrschaft, kraft affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben". Als besonderes Merkmal der legalen Herrschaft führt Weber an, daß auch der Befehlende selbst einer Regel gehorcht, indem er einen Befehl erläßt 61 . Es wurde oben dargelegt, daß bereits Nietzsche dieses Merkmal als Ausprägung eines hierarchisch strukturierten Rechtssystems angesehen hat 6 2 . Damit wird gleichzeitig deutlich, daß Nietzsches Vorstellung eines hierarchisch geschichteten Rechtssystems nicht unter der von Weber als „charismatische Herrschaft" gekennzeichneten Herrschaftsform erfaßt werden kann, deren wesentliche Merkmale Weber darin sieht, daß ihr „jede Orientierung an Regeln" und „der rationale Begriff 'Kompetenz' fehle" 63 . Weber gebraucht nur im Zusammenhang seiner Ausführungen zu diesem „Herrschaftstyp" den Begriff „Autorität" 6 4 . Während er das Wesen der „legalen Herrschaft" darin erblickt, daß „nicht der Person" gehorcht wird, „sondern der gesetzten Regel, die dafür maßgebend ist, wem und inwieweit ihr zu gehorchen ist" 6 5 , begreift er als maßgebende Eigenschaft der von ihm als „charismatische Herrschaft" charakterisierten Herrschaftsform, daß „ganz ausschließlich dem Führer rein persönlich um seiner persönlichen, unwerktäglichen Qualitäten willen" gehorcht wird 6 6 . Weber räumt indessen selbst ein, daß keine Herrschaft „nur bürokratisch", d. h. durch Beamte mit einer sachlich abgegrenzten Zuständigkeitssphäre als „Kompetenz" geführt werden könne 67 . A n der Spitze aller politischen Verbände sieht 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Nachlaß, 2. Teil, 786. Krawietz, ebd., S. 235. Weber, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik. S. 151 f. Weber, ebd., S. 152. Nachlaß, 2. Teil, 417; s.o. unter § 14.1. Weber, ebd., S. 159. Weber, ebd., S. 163. Weber, ebd., S. 152. Weber, ebd., S. 159. Weber, ebd., S. 153 und 155.

§14 Erwartungssicherung als Voraussetzung einer Autorität des Rechts

195

Weber vielmehr „entweder 'Monarchen' (erbcharismatische Herrscher) oder vom Volke gewählte 'Präsidenten 4 (also plebiszitär-charismatische Herren)". Nietzsche lehrt, daß der Gehorsam der Ausführenden — ungeachtet der Notwendigkeit von Erwartungsstrukturen — an die Person, d. h. den Willen des Befehlenden gebunden ist, nicht jedoch an Regeln, welche dem Berechenbarmachen der Lebensbedingungen und insoweit gerade der Sicherung einer Erwartungsstruktur menschlichen Handelns dienen 68 . Die Erwartungsstruktur als solche ergibt sich nach Nietzsche nicht aus diesen Regeln als Gesetzmäßigkeiten. Eine gesicherte Erwartungsstruktur, welche eine „Selbstregulierung" aufgrund der wechselseitigen Interdependenzen ermöglicht, beruht nach Nietzsche im Einklang mit der Institutionentheorie Schelskys auf dem gegenseitigen Widerstreben antagonistischer Kräfte und damit auf dem Handlungscharakter der Person 69 . Nietzsche fordert deshalb: „ A n der Spitze der Staaten soll der höhere Mensch stehen: alle anderen Formen sind Versuche, einen Ersatz seiner sich selber beweisenden Autorität zu geben" 70 . Jede Rechtsordnung ist auf „einen großen Menschen" angewiesen, „einen Steuermann, vor dem sich die Gesetze selber auswischen" 71 . Hieraus läßt sich entnehmen, daß Nietzsche Erwartungsstrukturen eher in der durch ihren Handlungscharakter gewährleisteten Autorität der Person gesichert sieht, als in der „Berufsarbeit kraft sachlicher Amtspflicht", welche „streng formalistisch nach rationalen Regeln und — wo diese versagen—nach 'sachlichen' Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten" entscheidet. Weber läßt offen, wonach sich diese „sachlichen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte" bestimmen. Daß Nietzsche auf den nachgeordneten Ebenen der Rechtsanwendung die eigenverantwortliche Tätigkeit durchaus als auf sachlicher „Kompetenz" beruhend ansieht, welche den Gehorchenden insoweit erst ein „Widerstreben" ermöglicht, ist oben ausgeführt worden. Die Frage, inwieweit die Sicherung von Erwartungsstrukturen eher durch die Bindung der Macht als Autorität des Willens oder durch streng formalistische Regelbefolgung aufgrund nicht personengebundener Kompetenz gewährleistet wird, führt zu einem weiteren Problem. Stellt man nämlich auf die unterschiedliche Art und Intention des Zwanges ab, wodurch die Befolgung des Normbefehls gesichert werden soll, so werden die Unterschiede in der Anlage der Herrschaftsstrukturen sehr deutlich. Das vorherrschende Merkmal der als „traditionelle Herrschaft" benannten Herrschaftsform erkennt Weber in einem „Nebeneinander der streng traditionsgebundenen und der freien Sphäre des Handelns" 72 . Die strenge Bindung an „materiale Prinzipien" wie etwa ethischer Billigkeit oder utilitaristischer Zweckmäßigkeit läßt nach Weber durchaus die Freiheit, „nach juristisch unformalen und irrationalen Billigkeits- und Gerechtigkeitsgesichtspunkten des Einzelfalls" zu entscheiden. Dieses Nebeneinander strenger Bin68 69 70 71 72

13*

s.o. unter § 10.2. und 4. s.o. §11.1. Nachlaß, 2. Teil, 770. Nachlaß, 2. Teil, 537. Weber, ebd., S. 157.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

dung und einer mit dieser Bindung korrelierenden Handlungsfreiheit im Sinne eines Beurteilungsspielraums außerhalb des Zwanges formaler Regelbefolgung ist nach Weber nicht das Merkmal der „legalen Herrschaft". Eine gänzlich autoritätslose, d.h. die Autorität des Menschen als Person verneinende Staatsform erfordert jedoch nicht nur eine „streng formalistische nach rationalen Regeln" ausgerichtete Entscheidungsfindung, sondern eine erheblich höhere Anzahl weitgreifender Regeln, deren Zwangscharakter seiner Intention nach auf eine Verminderung oder den Ausschluß eigenverantwortlicher und wertbezogener, scheinbar irrationaler Ermessensentscheidungen gerichtet ist. Dies räumt Weber mit Hinweis auf die Herrschaftsstrukturen „in einer sozialistischen Gemeinschaft" ausdrücklich ein 7 3 . Diese Notwendigkeit hat bereits Nietzsche erkannt, indem er angesichts der nicht durch Autorität gebundenen Strukturen der sozialistischen Herrschaftsform feststellt: „Sollte es dazu kommen, daß diese einmal Gesetze geben, so kann man darauf rechnen, daß sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disziplin üben werden: — sie kennen sich! Und sie werden diese Gesetze aushalten, im Bewußtsein, daß sie selber dieselben gegeben haben" 74 . Die Bindung des Machtpotentials durch und als Autorität der Person beruht für Nietzsche nicht auf „materialen Prinzipien" im Gegensatz zur formalen Norm, sondern auf der schöpferischen Notwendigkeit, eine Synthese über die gegensätzliche Vielheit der Menschen und über die Vielheit des Leibes bilden zu müssen; auf dieser Synthese gegensätzlicher Triebe beruht die Herrschaft des Menschen 75 . Die Einheit des Leibes wie auch aller Institutionen erfordert eine durch Autorität, d.h. durch eine Synthese gegensätzlicher, widerstrebender Kräfte geschaffene Erwartungsstruktur. Die Autorität des Willens aufgrund dieser Synthese schließt von ihrer Anlage her einen Grad an „Unbestimmtheit", d. h. Abstraktion des Befehls ein und damit ein höheres Maß der Selbständigkeit der Ausführenden, als dies bei formaler Regelbefolgung gegeben ist. A u f diese Weise werden erweiterte Handlungsmöglichkeiten auf allen Ebenen des Prozesses der Rechtsanwendung geschaffen. Hierauf beziehen sich gerade Nietzsches Worte: „Das alte Gesetz bekommt erst seine Heiligkeit, wenn es an gesetzgeberischen Kräften fehlt", nachdem er zuvor festgestellt hat, das der „höhere Mensch" an der Spitze des Staates zu stehen habe 76 . Das Gesetz gewinnt somit dadurch an Bedeutung, daß es im übrigen an wertenden Entscheidungen oder an einer gesicherten Wertsetzung überhaupt mangelt. Wertentscheidungen erfordern eine Abwägung in Form einer Synthese unter Wahrung einer Rangordnung „ i n dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht" 7 7 . Dies ist für Nietzsche der entscheidende Grund, 73 74 75 76 77

Weber, ebd., S. 152; ders., Rechtssoziologie, S. 171. Morgenröte, 184. W M 966; Nachlaß, 2. Teil, 734. Nachlaß, 2. Teil, 770. W M 966.

§15 Recht als ästhetisches Phänomen

197

weshalb solche Wert- und Interessenabwägungen als Entscheidungen dem Gesetzgeber als einem „großen Menschen" vorbehalten bleiben müssen, nicht jedoch durch scheinbar rein „sachliche", utilitaristische Erfordernisse verdeckt werden dürfen. Nietzsche wendet sich gerade diesen Wertentscheidungen als dem „Unbestimmten" des Befehls zu, an dessen Stelle die Ausführenden aufgrund ihrer durch Autorität gesicherten Orientierung „feste Größen" setzen können und dies auch tun. Gerade auf dem hierzu erforderlichen Grad der Selbständigkeit der Gehorchenden beruht für Nietzsche deren „Eigenmacht" gegenüber dem Befehlenden 78. Das „Eigenrecht der Verwaltenden" wird von Weber wiederum als Merkmal der „legalen Herrschaft" angesehen79. Zusammenfassend ist festzustellen, daß Nietzsches Gedanke der Autorität als dem institutionalisierten Machtpotential einer Person dem von Weber als „legale Herrschaft" charakterisierten „Typ der legitimen Herrschaft" am nächsten steht, Nietzsche jedoch als Grundlage der Steuerung menschlichen Verhaltens nicht den Gehorsam gegenüber einer Regel, sondern allein den Gehorsam gegenüber dem Willen als Befehl erkennt. Inwieweit die Begriffe Macht und Herrschaft bei Weber von Nietzsches Lehre beeinflußt worden sind, ist Gegenstand einer gerade beginnenden Diskussion 80 . Immerhin ist festzustellen, daß Webers Thesen über das Verhältnis des Befehlenden zum widerstrebenden Gehorchenden und deren gegenseitige Abhängigkeit mit Nietzsches Lehre übereinstimmen.

§ 15 Recht als ästhetisches Phänomen 1. Recht und Moral als ästhetische Rangordnung des Leibes Aus der vorangegangenen Darstellung wurde erkennbar, daß Nietzsche den menschlichen Leib als ein „Herrschaftsgebilde" begreift, welches nicht anders als die Gesellschaft und alle Institutionen nur als „Organisation" zur Einheit gelangen kann. Es wurde weiterhin aufgezeigt, daß Nietzsche sich innerhalb seiner Lehre des Willens als Wille zur Macht der Problematik der Autorität, ihrer Erwartungsstrukturen sowie der Wechselwirkungen von „Befehlen" und „Gehorchen" in besonderem Maße zugewandt hat, welche in Gestalt der Frage nach dem Verhältnis von Regel und Regelbefolgung sowohl für die Institutionentheorie, wie sie von Schelsky ausgehend von Weber und Luhman vertreten wird, als auch für den Rechtsrealismus von entscheidender Bedeutung ist. Der Leib wird nach Nietzsche nicht durch das Bewußtsein gesteuert, sondern durch den Willen als dem Ergebnis der „augenblicklichen Machtfeststellung aller der uns konstituierenden Triebe" 1 . Die Herrschaftsstruktur des Leibes unter dem Willen, dem „Affekt des Kommandos", erkennt Nietzsche als eine Rangord78

W M 642. Weber, ebd., S. 155. 80 Baier, Friedrich Nietzsche und Max Weber in Amerika, NSt, Bd. 16, S. 430 f. (433). 1 Nachlaß, 2. Teil, 250 und 343. 79

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

nung, wie sie sich aus dem Verhältnis des Willens zu dem „Gesellschaftsbau" des Leibes ergibt. „Daß der Mensch eine Vielheit von Kräften ist, welche in einer Rangordnung stehen: so, daß es Befehlende gibt, aber daß auch der Befehlende den Gehorchenden alles schaffen muß, was zu ihrer Erhaltung dient, somit selber durch deren Existenz bedingt ist" 2 . Diese Rangordnung unterliegt jedoch den Wechselwirkungen zwischen „Befehlen" und „Gehorchen", so daß es keine einseitige Abhängigkeit des Befehlenden von den Ausführenden geben kann. „Die Rangordnung hat sich festgestellt durch den Sieg des Stärkeren und die Unentbehrlichkeit des Schwächeren für den Stärkeren und des Stärkeren für den Schwächeren" 3. Die „Selbstregulierung" des Leibes, worin m.E. der Gedanke der „Selbststeuerung" nach der gegenwärtigen institutionalistischen als auch der rechtsrealistischen Auffassung enthalten ist, läßt vielmehr das „Gehorchen" ebenso als „Selbsterhaltungsfunktion" erscheinen, wie für das stärkere Wesen das „Befehlen". Die Hypothese der Rangordnung als Herrschaftsstruktur des Leibes beruht somit auf der Erkenntnis, daß der Leib weder einer Steuerung durch das Bewußtsein noch durch ein System zugänglich ist, „es fehlt ganz der Maschinencharakter in allem Organischen (Selbstregulierung)" 4. Da die Steuerung des Leibes, aller Gemeinwesen und Organisationen durch eine Herrschaftsstruktur in Gestalt einer Rangordnung erfolgt, kann das Bewußtsein und die Vorstellung der „Subjekt-Einheit" nach Nietzsche lediglich als eine Funktion dieser Herrschaftsstruktur angesehen werden. Dies bedeutet, daß Erkenntnis und Moral nach den Bedürfnissen dieser Ich-Einheit ausgelegt sind, d.h. nach einer „zurechtgemachten und vereinfachten Welt", welche den essentiellen Relationscharakter allen Geschehens und der Konstituierung aller Wesen aus den Relationen in gewissem Umfang außer Betracht läßt, um bestimmte Existenzbedingungen als seiend und wahr begreifen zu können 5 . Die Herrschaftsstruktur des Leibes lehrt indessen „die richtige Vorstellung von der Art unserer Subjekt-Einheit... von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung als Ermöglichung zugleich der einzelnen und des Ganzen" 6 . Aus diesen Worten Nietzsches wird noch einmal erkennbar, daß sich Nietzsche gerade den Problemstellungen zugewandt hat, welche für die Institutionentheorien und den Rechtsrealismus von erheblicher Bedeutung sind, nämlich den Untersuchungen über den „arbeitsteiligen Erzeugungszusammenhang" des Rechts sowie die Möglichkeiten der Selbsthierarchisierung „selbstreferenzieller" Rechtssysteme durch die Gebundenheit jeder Einzelentscheidung an „andere systemeigene Operationen" 7 . Dieser Satz zeigt jedoch vor allem, daß Nietzsche Erkenntnis 2 3 4 5 6

Nachlaß, ebd., 734. Nachlaß, ebd., 736. Nachlaß, ebd., 737. s.o. §10.3. sowie §5.2. W M 492.

7 Schelsky, Die juridische Rationalität, S. 7; Krawietz, Recht als Regelsystem, ebd., S. 139, 140.

§15 Recht als ästhetisches Phänomen

199

und Moral als Ergebnis der Herrschaftsstruktur des Leibes in Relation zu seiner Umwelt erkennt. Demnach ist „in allem moralischen Urteilen eine stümperhafte Art Zeichensprache zu sehen, vermöge deren sich gewisse physiologische Tatsachen des Leibes mitteilen möchten: an solche, welche dafür Ohren haben" 8 . Aus dem Wesen der Moral als Ausdruck der physiologischen Beschaffenheit des Leibes und seiner jeweiligen Erhaltungsbedingungen leitet Nietzsche zunächst die Forderung ab, daß moralische Wertungen nicht den Bedingungen der Ich-Einheit des Bewußtseins und der „falschen" Einheit des Individuums zu entnehmen sind, sondern dem Leib als Vereinigung einer Vielzahl lebender Wesen. Der Begriff „Individuum" erweist sich für Nietzsche insoweit als „falsch", als dadurch eine isolierte Einheit fingiert wird, welche das Zusammenspiel der einzelnen Wesen und Triebe innerhalb des Leibes als „Lebenssystem" nicht erfassen kann 9 . Das Zusammenspiel innerhalb dieser Vielheit des Leibes wie auch der Institutionen beruht vielmehr darauf, daß die Einzelnen nach Vereinigung mit gleichgerichteten Kräften in anderen Wesen streben und sich nicht als isolierte Einheiten verhalten. Innerhalb des Leibes und der Institutionen müssen die Einzelwesen „verwandter Art sein, sonst könnten sie nicht so einander dienen und gehorchen: ... und in feineren Fällen muß die Rolle zwischen ihnen vorübergehend wechseln, und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen" 10 . Weil die Einheit des Individuums in Hinsicht auf das Zusammenspiel einer zur „Selbstregulierung" fähigen Vereinigung nicht aufrecht zu halten ist, kann auch die Moral im Dienste der Erhaltung der Lebensbedingungen für das Zusammenspiel innerhalb der Organisationseinheiten nur „auf Rangordnung gerichtet (sein): nicht auf eine individualistische M o r a l " 1 1 . Dies bedeutet, daß die Moral wie auch das Recht der Tendenz nach nicht auf eine Gleichstellung aller gerichtet sein darf, sondern der „Rangordnung zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral" Rechnung zu tragen hat 1 2 . Da sich in moralischen Wertungen die Erhaltungsbedingungen des Leibes — als Grundmodell aller „Lebenssysteme" — in seiner konkreten Gestalt äußern, erkennt Nietzsche alle moralischen Wertungen als Produkt ästhetischer Gestaltwahrnehmungen des Leibes. Ästhetische Wahrnehmungen wie schön, ekelerregend usw. bekommen als lebensbejahende, nützliche oder hemmende, widrige Bedingungen zunehmend die Bedeutung allgemeiner Wertschätzung und „Wahrheit", bis sie in moralische Wertungen umgesetzt werden 13 . Deswegen fordert Nietzsche, anstelle einer vereinheitlichten moralischen Wertung die „absolute Wahrheit" darin zu leugnen und die Vielfalt der ästhetischen 8

Nachlaß, ebd., 728. Nachlaß, ebd., 734, 446. 10 Nachlaß, ebd., 734. 11 W M 287. 12 JGB 228. 13 Nachlaß, ebd., 404.

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200

5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

Wertschätzungen wiederherzustellen. „Dies ist die Aufgabe: eine Fülle ästhetischer, gleichberechtigter Wertschätzungen zu kreieren: jede für ein Individuum die letzte Tatsache und das Maß der Dinge. Reduktion der Moral auf Ästhetik!!!" 14 In diesem Gedanken der Reduktion der Moral auf Ästhetik, welche es dem Einzelnen erlaubt, seine jeweiligen ästhetischen Wertschätzungen als Ausdruck der Existenzbedingungen seines Leibes zu begreifen, erscheint m.E. wiederum die personale Leitidee des Rechts im Denken Nietzsches. Wie bereits dargelegt wurde, sieht Nietzsche in moralischen Wertungen vor allem ein Abbild der „Erhaltungsbedingungen der Sozietät", welche insoweit „eine Art Sanktion erlangt" haben 15 . Als Abbild der Lebensbedingungen der Gesellschaft sieht Nietzsche die „Todfeindschaft der Herde gegen die Rangordnung" 16 . Soweit sittlich-moralische Wertungen eher den Interessen der Gesellschaft als der Eigenverantwortlichkeit der Gesinnung unterworfen sind, sind sie nach Nietzsche notwendig gegen die Einzelperson gerichtet. „Gegen die starken Einzelnen (les souverains)" ist die Moral der Herde „feindselig, unbillig, maßlos, unbescheiden, frech ... falsch, unbarmherzig, versteckt, neidisch, rachsüchtig" 17 . Die Reduktion der Moral auf die Ästhetik des Leibes ist also darauf gerichtet, den Einzelnen von dem sanktionsbewehrten Zwang moralischer Wertungen zu befreien, welche den eigenen Lebensbedingungen nicht gerecht werden, sondern auf einheitliche Existenzbedingungen des Einzelnen im Interesse der Gesellschaft abheben. Dieser Ansatz, nämlich „eine Fülle ästhetischer, gleichberechtigter Wertschätzungen zu kreieren", hat unzweifelhaft die Integrität und Autonomie der Einzelperson zum Ziel und steht gerade einer Gleichheit in der Moral ebenso wie einer Gleichheit im Recht entgegen, was insoweit der personalen Leitidee des Rechts nach Schelsky, d. h., der Vorstellung vom Handlungscharakter der Person und den daraus sich gegenüber der Gesellschaft ergebenden Ansprüchen, entspricht. Es bedarf indessen einer Erklärung des Begriffs „Rangordnung" bei Nietzsche. Wie bereits dargelegt wurde, geht Nietzsche hierbei zunächst von der Herrschaftsstruktur des Leibes als einer Rangordnung zwischen befehlenden und gehorchenden Wesen aus, welche nur aufgrund ihrer Eigenschaft innerhalb dieser Herrschaftsstruktur eigenständige Bedeutung erlangen, also durch die Relationen bestimmt werden. Diese Bedeutung folgt jedoch gerade nicht aus der „sozialen Funktion" des Einzelnen, wie sie ihm durch ein System zugeteilt ist. „ A m Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche ... einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen" 18 Es verbietet sich daher nach Nietzsche eine „individuelle Moral", weil sich die selbständige Bedeutung 14 15 16 17 18

s. Fn. 13; Abel, Logik und Ästhetik, NSt, Bd. 16, S. 112f. (136). W M 271; s.o. §5.2. W M 284. W M , ebd. Nachlaß, ebd., 733.

§ 15 Recht als ästhetisches Phänomen

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des Einzelwesens und seine Existenzbedingungen erst aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher und entgegengesetzter Kräfte im Sinne einer Rangordnung — welche also keine statische ist — ergeben. Die Forderung Nietzsches nach einer Moral als Rangordnung unterschiedlicher und gegensätzlicher Wertungen, welche sich von einer auf Gleichstellung gerichteten individuellen Moral abhebt, folgt aus dem Gedanken vom „Gegensatz-Charakter des Daseins", welcher für Nietzsches Lehre insgesamt von erheblicher Bedeutung ist 1 9 . Dies bedeutet in Hinsicht auf die Moral, daß den moralischen Werten, Tugenden und Leistungen jeweils ein Gegensatz im Menschen korreliert, „daß der Mensch besser und böser werden muß", um sich weiterzuentwickeln. Dem Gegensatz-Charakter des Daseins widerspricht eine moralische Wertung, welche „nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht" und „den typischen Charakter eines Dinges, ... einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er (sie) nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die anderen abschaffen möchte" 2 0 . Der Gedanke vom Gegensatz-Charakter des Daseins bedeutet in Hinsicht auf die Einheit des Leibes wie aller anderen menschlichen Gemeinwesen, daß „überall ein starker Antagonismus" erforderlich ist, um aus der Vielheit eine Einheit werden zu lassen, daß die Kraft der Einheit aus dem „Widerstreben" der Einzelwesen folgt 2 1 . Aus dem Grad dieses Antagonismus ergibt sich das Maß für die „Fülle ästhetischer, gleichberechtigter Wertschätzungen" des Leibes und deren Unterschiedlichkeit. „Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung für die Größe des Menschen" 22 Das Maß der Gegensätzlichkeit der Triebe innerhalb des Leibes bestimmt die ästhetischen Wertschätzungen und den Begriff der Schönheit. „'Schönheit' ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: — daß keine Gewalt mehr not tut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht ..." 2 3 . Ästhetische Wahrnehmungen und Wertungen sowie der Begriff „Schönheit" enthalten somit Aussagen über den Grad der Macht, „weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind". Damit erlangen ästhetische Wertungen eine dynamische, schöpferische Qualität, welche sich von einer eher materialistischen Vorstellung und von einem bloß dekorativen Bedeutungsinhalt des Schönheitsbegriffs deutlich abhebt. Ästhetische Wahrnehmungen dienen auf diese Weise der Feststellung der Machtverhältnisse, denn „wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden Instinkte (z.B. Shakespeare), aber gebändigt" 24 . Der Moral kommt 19 20 21 22 23

W M 881. W M , ebd. Nachlaß, ebd., 435. W M , ebd. W M 803.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

nun dabei die Aufgabe zu, die Schaffung und Erhaltung einer Synthese innerhalb der „Fülle gegensätzlicher Triebe" des Leibes wie aller Institutionen durch eine dieser Synthese entsprechende Wertung zu sichern. „Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht" 2 5 . Soweit Nietzsche also fordert, daß moralische Wertungen der Herrschaftsstruktur des Leibes i. S. einer „Rangordnung" zu folgen haben, entspricht dies der Reduktion der Moral auf die Ästhetik des Leibes, um zu einer „Fülle ästhetischer, gleichberechtigter Wertschätzungen" zu gelangen26. In diesem Gedanken der Reduktion der Moral auf ästhetische Wahrnehmungen und Wertungen, worin sich die Triebstruktur des Leibes in Gestalt einer „Rangordnung" abbildet, liegt m. E. wiederum eine Übereinstimmung mit dem anthropologisch-funktionalen Ansatz Schelskys. Es wurde oben bereits ausgeführt, daß Schelsky ebenso wie Nietzsche den Antagonismus menschlichen Verhaltens als notwendige Grundlage aller Institutionen ansieht 27 . Eine darüber hinausgehende und bemerkenswerte Übereinkunft besteht darin, daß Schelsky im Anschluß an die Ergebnisse der gegenwärtigen Verhaltensforschung ebenso wie Nietzsche die Gegensätzlichkeit innerhalb der Triebstruktur des Leibes als Grundlage „aller sozialen Rangordnung" erkennt 28 . Der Begriff „Rangordnung" bei Nietzsche ist m. E. durchaus im Sinne von Schelskys anthropologischfunktionalem Ansatz auf den Charakter der Einzelperson als „Handlungseinheit" bezogen, da Nietzsche ebenso wie Schelsky dabei von dem Antagonismus der endogenen Antriebsenergien des Leibes ausgeht. 2. Ästhetik des Leibes als Grundlage der Lebensbedingungen In der ästhetischen Wahrnehmung und Bewertung des Leibes finden nach Nietzsche jeweils „die Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch" in demselben Sinne ihren Ausdruck, wie in moralisch-sittlichen Wertungen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft 29. Ästhetischen Wahrnehmungen weist Nietzsche damit keine geringere Bedeutung zu als den durch die Vernunft erlangten Erkenntnissen, denn „das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kathegorien,... also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren 'Wahrheit"' 3 0 . Dieser Ansatz, die ästhetische Wahrnehmung der Gestalt und 24

W M 966. W M , ebd. 26 Nachlaß, ebd., 404. 27 s.o. §11.1. 28 Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, ebd., S. 59. 29 W M 804. 30 W M 507. 25

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„Schönheit" des Leibes neben den Vernunfterkenntnissen als eigenständige und gleichberechtigte kognitive Leistung anzusetzen, entspricht einem Ergebnis der Verhaltensforschung von Konrad Lorenz, welches er in der Formel der „Inkompatibilität des logischen Denkens und der Gestaltwahrnehmung" zusammengefaßt hat 3 1 . Demnach hat sich die gesamte Organisation des menschlichen Denkens im Verlauf der Stammesgeschichte in zwei physiologisch voneinander verschiedenen Erkenntnisweisen entwickelt, welche jedoch in einer „a-logischen Weise miteinander identisch" sind: „Es sind das die abstrahierenden Leistungen, die von der Gestaltwahrnehmung einerseits und der logischrationalen Schlußfolgerung andererseits vollbracht werden" 32 . Die Fähigkeit und Aufgabe der Gestaltwahrnehmung besteht im wesentlichen darin, „Beziehungen aufzufinden, die zwischen Sinnesdaten oder auch zwischen höheren Einheiten der Wahrnehmung bestehen", d. h. zwischen bereits isoliert vorhandenen Wahrnehmungen und Gedankenschritten 33 . Die Gestaltwahrnehmung ermöglicht durch „Zusammenschau" die Erfassung höherer Einheiten im Sinne von Schönheit und Harmonie, indem sich aus dem bloßen Informationsmaterial „die Gestalt ... vom Hintergrund des vorher nur Chaotisch-Akzidentellen" ablöst und neue Erkenntnisse zuläßt, welche nicht analytisch aus dem bisher vorhandenen Material zu entnehmen waren 34 . Da die Gestaltwahrnehmung „der Selbstbeobachtung nicht zugänglich ist", steht sie im Gegensatz zur analytischen Erkenntnismethode; „sie ist die Speerspitze, die der menschliche Geist ins Unbekannte vorstößt" und enthält Werturteile 35 . Die Gestalt des Leibes gibt nach Nietzsche durch ihre ästhetische Wahrnehmung Auskunft über die Erhaltungsbedingungen und den Grad der Macht, „weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes"36. Weil in der ästhetischen Wahrnehmung des Leibes die „Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch" ihren Ausdruck finden, erkennt Nietzsche in moralischen Werturteilen „eine stümperhafte Art Zeichensprache, ... vermöge deren sich gewisse physiologische Tatsachen des Leibes mitteilen möchten" 37 . Der Leib erscheint Nietzsche als etwas im Vergleich zu allen anderen Organisationseinheiten „Komplizierteres, Vollkommeneres, Moralischeres", und bildet selbst den Maßstab aller ästhetischen Wahrnehmung und die höchste Leistung der Schönheit: „unsere Kunstwerke sind Schatten an der Wand gegen diese nicht nur scheinende, sondern lebendige Schönheit!" 38 . 31 32 33 34 35 36 37 38

Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S. 93. Lorenz, ebd., S. 96. Lorenz, ebd., S. 133. Lorenz, ebd., S. 93, 97, 134. Lorenz, ebd., S. 134 und 136. W M 803. W M 804; Nachlaß, ebd., 728. Nachlaß, ebd., 730.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

Daß Nietzsche die ästhetische Wahrnehmung des Leibes durchaus als „Gestaltwahrnehmung" nach Lorenz begreift, wird bereits aus folgendem Satz erkennbar. „Alles Peinliche, Quälende, Überheftige hat der Mensch diesem innerlichen Leibe zugeschrieben: um so höher hob er das Sehen, Hören, die Gestalt, das Denken" 3 9 . Dem Bild der Gestalt steht die Wahrnehmung alles dessen entgegen, was unvollkommen, bruchstückhaft und „formlos" am Menschen ist, also seiner inneren Gedärme und seiner Exkremente. Die Wahrnehmung der Einheit des Leibes bedarf der Wahrnehmung als Gestalt, „wo sein Wesen nach außen tritt", denn: „Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft" 40 . Bemerkenswert erscheint nun, daß Nietzsche die Aufgabe der Gestaltwahrnehmung darin sieht, in Hinsicht auf ein „höheres Prinzip (das höhere Prinzip kann eine Gemeinde sein)" zu neuen Einheiten auf einer höheren Stufe zu gelangen, denn „wo Lebendiges zusammenkommt, entsteht das Einwirken aufeinander und ein Zusammentreten mit dem Versuche, ob da ein Organismus sich bilden kann" 4 1 . Dieses Auffinden höherer Einheiten ist gerade die Leistung, welche Lorenz der Gestaltwahrnehmung zuschreibt. Gestaltwahrnehmung ist daher nach Lorenz Aktivität, ein schöpferischer A k t 4 2 . Nietzsche erkennt das Wesen der schöpferischen Leistung in dem „Einverleiben seines eigenen Bildes in fremden Stoff' 4 3 . Nietzsche mißt somit der Gestaltwahrnehmung beim „Schaffen und Zeugen" auch hinsichtlich der Bildung höherer Einheiten entscheidende Bedeutung zu. Diese Bestimmung der schöpferischen Leistung als „Einverleiben seines eigenen Bildes" im anderen steht wiederum in engem Zusammenhang mit Nietzsches Forderung, das „vermeintliche Individuum", sowie den Irrtum der Einheit des Ich-Bewußtseins aufzugeben und statt dessen durch „Schärfer-fassen des Wahren im anderen und in mir" die übergeordneten Entwicklungstendenzen zu erkennen 44 . In ästhetischen Wahrnehmungen der „Schönheit" erkennt Nietzsche durchaus im Einklang mit den Forschungsergebnissen von Lorenz Wertungen entsprechend biologisch-selektiver Zweckmäßigkeit: „Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kathegorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Lebensteigernden" 45 . Nietzsche sieht eben deshalb in den moralischen Urteilen, welche sich in „sehr verschiedene Werturteile" aufgespalten haben, keine schöpferische Kraft mehr, weil die „Grundlage" dafür, nämlich Existenzbedingung zu sein, fehlt 46 . Diese zunehmend „nihilistischen" moralischen Wertungen müssen in dem Maße unverbindlich werden, als sie mit den schöpferischen 39 40 41 42 43 44 45 46

Nachlaß, ebd., 407. Nachlaß, ebd. Nachlaß, ebd., 740. Lorenz, ebd., S. 128 Nachlaß, ebd., 746. Nachlaß, ebd., 447. W M 804. W M 260.

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Kräften einer lebensbejahenden ästhetischen Wahrnehmung und Wertung im Widerspruch stehen 47 . Gestaltwahrnehmung des Leibes begreift Nietzsche indessen nicht allein als eine erbbiologisch vorgegebene Größe, sondern sieht sie den Handlungen im sozialen Umfeld unterworfen. „Dies ist die erste Folge jeder Handlung: sie baut an uns fort, — natürlich auch leiblich" 4 8 . Die Abhängigkeit der leiblichen Gestalt vom eigenen Handeln innerhalb der sozialen Beziehungen ergibt sich für Nietzsche aus der Selbsteinschätzung und der moralischen Bewertung des eigenen Handelns. „Die Falschheit gegen uns, der Mangel an Vertrauen gegen uns, die Furcht vor uns, die Verachtung von uns — alle die Affekte... verändern fortwährend auch den Leib" 4 9 . Die falsche Bewertung der Relationen, „die absichtlich fehlerhafte Taxation ..., das Falschsehen" ist die Folge einer Meinung „über uns in bezug auf diese Handlungen", welche ästhetisch wahrnehmbar wird und als ästhetische Wahrnehmung moralische Bedeutung erlangt. „Der Gemeinheit entspricht ein vollkommenes leibliches Substrat, und wahrlich nicht bloß in Gesichtszügen"50. Die falsche Bewertung des eigenen Handelns und der Relationen zu anderen „muß sich natürlich zuletzt wieder in Handlungen zeigen" und findet auch insoweit ihren leiblichen Ausdruck. Handlungsgewohnheiten werden als Ergebnis der Bewertung früheren Handelns „schließlich wie ein festes Gehäuse um uns: sie nehmen ohne weiteres die Kraft in Anspruch, es würde anderen Absichten schwer werden, sich durchzusetzen". Der Gestaltwahrnehmung kommt nach Nietzsche vor allem eine entscheidende Aufgabe dabei zu, die „Unschuld des Werdens" zurückzugewinnen, um eine „ästhetische Rechtfertigung des Daseins" zu ermöglichen 51 . Durch die Gestaltwahrnehmung wird der Gegensatz-Charakter des Daseins und die damit vorgegebene Struktur im Sinne einer Rangordnung innerhalb übergeordneter Einheiten erkennbar. „Die meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt 52 . Diese Beobachtung einer „stückweisen" Evolution des Menschen entspricht den heutigen genetischen Forschungsergebnissen 53 . Weiterhin zeigt sich hier wieder der mit der gegenwärtigen Verhaltensforschung übereinstimmende und von Schelsky aufgegriffene Ansatz, den Antagonismus der endogenen Antriebsenergieen des Leibes als Voraussetzung 47 48 49 50 51 52 53

W M 852; Abel, ebd., S. 116 und 142. Nachlaß, ebd., 741. Nachlaß, ebd. Nachlaß, ebd., 742. Nachlaß, ebd., 687; GT 5. W M 881. Lorenz, ebd., S. 35f.

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5. Abschn.: Stellung des Einzelnen zum Recht

des menschlichen Handelns wie auch als Grundlage aller Institutionen zu erfassen. Nietzsches Versuch einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins folgt aus der „Einsicht in die Unerkennbarkeit der Kausalitäten" und in die Zwecklosigkeit des Weltgeschehens. Daß die menschliche Evolution und das Weltgeschehen nicht zweckgerichtet seien, sieht Lorenz als ein wesentliches Ergebnis seiner Forschung an 5 4 . Aus der Erkenntnis, daß „alles Erreichte dem Gewollten absolut inkongruent ist", und ein Endzweck des Weltgeschehens nicht angegeben werden kann, verbietet es sich für Nietzsche, den Wert eines Menschen nach seiner Nützlichkeit zu messen: „das bedeutet ebensoviel und ebensowenig, als ein Kunstwerk abschätzen je nach den Wirkungen, die es t u t " 5 5 . Es ist daher nicht möglich, den Wert eines Menschen und das menschliche Dasein insgesamt nach seiner Nützlichkeit und seinen Wirkungen zu bemessen. Jedoch: „Die 'moralische Wertschätzung 4, so weit sie eine soziale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen" 5 6 . Nietzsche setzt also die ästhetische Rechtfertigung des Daseins, welche sich aus der Herrschaftsstruktur des Leibes ergibt, einer an der sozialen Funktion des Menschen orientierten Bewertung entgegen. Der enge Kontext ästhetischer und moralischer Wertungen ergibt sich allerdings dann, wenn die jeweiligen Lebensbedingungen zum Gegenstand ästhetischer Wertungen gemacht werden, wie Nietzsche dies tut. Es erscheint daher nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr naheliegend, daß Nietzsches Gedanke der Reduktion der Moral auf die Ästhetik in der Verbindung der ästhetischen und der moralischen Wertung in den griechischen Begriffen gut, άγαΟόν, und schön, καλόν, worauf Ihering hingewiesen hat 5 7 , seine Wurzel findet. Der Ästhetik des Leibes kommt nach der Lehre Nietzsches somit die Aufgabe zu, Wahrnehmung und Erfahrung als schöpferische Gestaltung zu erkennen. Es gibt demnach keine a priori vorhandene absolute Wahrheit oder reine Erfahrung vor aller Erkenntnis. Die Wahrheit hat als Existenzbedingung vielmehr Interpretationscharakter. Die Wahrnehmung der Gestalt des Leibes gibt Auskunft über seine Physiologie, d. h. das Zusammenspiel der gegensätzlichen Triebe als Organisation und damit über seine Existenzbedingungen. Ästhetischen Wahrnehmungen kommt dadurch eine kognitive Bedeutung zu, daß sie auf das Auffinden neuer Organisationsmöglichkeiten gerichtet ist 5 8 . Hierdurch erkennt Nietzsche der Ästhetik m.E. gerade diejenige Bedeutung zu, welche Lorenz der Gestaltwahrnehmung als einer gegenüber der Logik eigenständigen kognitiven Leistung zuschreibt 59 . Die Ästhetik des Leibes ist daher Ausdruck des auf Steigerung des Lebens gerichteten Willens als Wille zur Macht, der Bejahung und Rechtfertigung des Daseins. 54 55 56 57 58 59

Lorenz, ebd., S. 87; hierzu auch Abel, ebd., S. 132. W M 878; Nachlaß, ebd., 688. W M , ebd. Ihering, Der Zweck im Recht, II. Band, S. 52. Abel, ebd., S. 115, 123 und 127. Lorenz, ebd., S. 133.

Literaturverzeichnis Nietzsche, Friedrich Wilhelm Die Darstellung der einzelnen Werke erfolgt in der Reihenfolge ihrer Entstehung, mit Ausnahme des als „Nachlaß" veröffentlichten Materials. Es wurde hierbei die von Alfred Bäumler herausgegebene Kröner-Ausgabe zugrunde gelegt. — Geburt der Tragödie, 8. Auflage, Stuttgart 1976. — Menschliches Allzumenschliches, 8. Auflage, Stuttgart 1978. — Der Wanderer und sein Schatten, 8. Auflage, Stuttgart 1978. — Morgenröte, 6. Auflage, Stuttgart 1976. — Die fröhliche Wissenschaft, 7. Auflage, Stuttgart 1986. — Also sprach Zarathustra, 17. Auflage, Stuttgart 1975. — Jenseits von Gut und Böse, 10. Auflage, Stuttgart 1976. — Zur Genealogie der Moral, 10. Auflage, Stuttgart 1976. — Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964. — Nachlaß, Zweiter Band, 2. Auflage, Stuttgart 1978. Abel, Günter: Logik und Ästhetik, NSt, Bd. 16, Berlin/New York 1987, S. 112f. Baier, Horst: Friedrich Nietzsche und Max Weber in Amerika, NSt, Bd. 16, Berlin/New York 1987, S. 430f. Dühring, Eugen: Werth des Lebens, 4. Auflage, Leipzig 1877. — Gesamtcursus der Philosophie, Leipzig 1875. Engelhardt, Knut: Die Transformation des Willens zur Macht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 71, Stuttgart 1985, S. 499 f. Freud, Sigmund: Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, Gesammelte Werke, Bd. X, London/Bradfort 1949, S. 364f. Gerhardt, Volker: Macht und Metaphysik, Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretation, NSt, Bd. 10/11, Berlin/New York 1981/1982, S. 193f. — Das „Prinzip des Gleichgewichts", Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche, NSt, Bd. 12, Berlin/New York 1983, S. l l l f . Hamacher, Werner: „Disgregation des Willens", Nietzsche über Individuum und Individualität, NSt, Bd. 15, Berlin/New York 1986, S. 306f. Heidegger, Martin: Nietzsche, Erster Band, 4. Auflage, Pfullingen 1961. — Nietzsche, Zweiter Band, 4. Auflage, Pfullingen 1961.

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14 Kerger

Ludwig: Schriften, Werkausgabe in acht Bänden, Band I, Frankfurt 1984.

Sachregister (Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seiten) Affekt des Kommandos: s. Imperativ Anerkennung: §2.1. (26): §11.1. (156): §13.3. (184) Antagonismus: §9.1. (101): §10,4.: §11.1. (157,158): §12.2. (176): §13.3. (183): §15.1.

fas: §4.2. (51); §5.3. (67)

eudämonistische Ethik: §8.1. (89): §8.3. (95) Egoismus: §3.2.: §5.2. (61): §8.1. (88): §9.1. Erwartung: §10.1. (111): §10.2. (122): §10.4. (153); §11.2.; §14.1. (185) — Erwartungssicherung: §10.1. (111): §10.2. (125,128) — Erwartungsstruktur: §10.4. (153): §11.1. (156): §11.2. (165): §14.1. (186): §15.1. (197)

Handlung, Handlungstheorie : § 11.1. (156 f.) ; §11.2. (163f.); §13.2. (181); §14.2. (190f., 197); §15.1. (201) - Handlungsorientierung: §8.2. (92); §9.2. (104); §11.1. (157, 160); §10.2. - Handlungscharakter der Person: §13.2. (181); §13.3. (182); §15.1. (200); §15.2. (205) - Handlungseinheit: §11.1. (159); §13.2. (180f.); §15.1. (202)

Gens (Familienprinzip): §1.3. (19): §1.3.b) (22): §4.1.: §5.3. (67): §7.3. (84); §12.2. (174) (201) Gehorsam: §4.1.: §4.2. (49,50): §5.3. (63): Äquivalenz: §1.2. (18): §3.2. (43) §7.3. (85): §11.2. (164): §14.1. (185,188) Arbeitsteilung: §14.1. (189): §14.2. (193): Gerechtigkeit: §1.1.; §2.1. (31): §3.1.: §3.2.; §15.1. (278) §13.3. (182) Aristoteles: §8.1. (89): §8.3. (96) Gesellschaft: §8.1. (89); §8.2. (92); §9.1. Asketik: §1.2. (18) (98, 100); §10.3. c) (135); §11.1. (160); Ästhetik: §14.2. (192): §15.1. (197f.): §15.2. §12.1.; §13.1. (177); §13.3. (183); §14.2. (202 f.) (193) — ästhetisches Phänomen: §8.3. (97) - gesellschaftliche Norm: §4.1.; §8.1. (88) Atheismus: § 1.3. b) (23) Gesinnung: §4.2. (51); §5.1. (55, 58); §5.2. Austausch: §3.1.: §3.2. (40) (59); §6.1. (68); §6.2. (72); §15.1. (199) Autonomie: § 5.3. (63,66): § 6.1. (71) : § 13.3. Gestaltwahrnehmung: §15.2. (202 f.) (184) Gewalt: §1.1.; §2.1.; §14.1. (190); §14.2. — autonomes Individuum: §5.3. (63, 64): (193); §15.1. (201) §13.1. (177 f.) - Gewaltenteilung: §14.2 (193) — Autonomie der Person: §13.3. (184): Gewissen: §1.2. (15); §1.3.b) (24); §4.2. (52); §6.1. (67); §7.2. (83); §12.2. (176); §15.1. (200) §14.2. (193) Autorität: §4.2. (50, 53): §5.1. (55): §5.2. Gewohnheitsrecht: §4.1.; §4.2. (51); §5.1. (62): §7.3. (85): §10.2. (122): §10.3. c) (59) (136); §14.1. (185f.); §14.2. (190f.) Gleichgewicht, Prinzip des Gleichgewichts: Bewußtsein, Selbstbewußtsein: § 1.3. b) (23): §2.1. (29); §3.2. (38) §9.2. (104): §10.3.a), d); §11.1. (161): Gleichheit: §3.2. (42); §9.1. (100); §13.3. §12.2. (174): §13.2. (180f.): §15.1. (197): (182); s. auch Rechtsgleichheit §15.2. (204) Gleichordnung, Koordination: §1.3.;§2.2.; Befehl: s. Imperativ §7.2. (78); §7.3. (84) Gleichstellung: §2.1.; §3.2.; §6.2. (74); §15.1. (198) commercium: §1.1.

Sachregister — Zweckhandeln: §9.2. (107); §11.1. (161) Heidegger: §10.1. (113 f.); §10.3.d) (142f.) Herkommen: §2.1. (30);§4.1.;§4.2. (49,50, 51); §5.3. (63) Herrschaft, legale: §14.2. (194) hospitium: §1.1. Ich-Begriff: §9.2. (103 f.); §10.3. d) (143); §12.1.; §13.3. (184); §15.1. (198) Imperativ: §10.1 (110); §10.2. (128); §10.4. (153); §14.1. (189); §5.2. — Imperativcharakter der Norm: §4.1. (49); §8.1. (88); §11.1. (156); §14.1. (186, 187) — Imperativcharakter der sittlichen Norm: §4.1. (49); §4.2.; §5.1. (55f.); §5.2. (59, 63); §9.1. (102) — Affekt des Kommandos: §10.1.(111,118); §10.4. (155); §11.2. (165); §12.1.; §15.1. (197) Individuum: §5.3. (65); §6.1. (72); §7.3. (85); §8.3. (96); §9.1. (99); § 10.3. d) (142); § 10.3. e) (146); §11.1 (156); §13.1. (177f.); §13.3. (183); §14.1 (188); §15.1. (198); §15.2. (204) Information: §11.1. (158); §15.2. (202) — informationsgelenktes Verhalten: s.o. Instinkt: §11.1. (161) Institution, Institutionalismus: §9.1. (100); §9.2. (105); §10.2.; §11.1. (156f.); §14.L (186); §15.2. (206) Interdependenz: §10.1. (110); §10.2. (122, 128); § 11.1. (156); § 11.2. (166); § 14.1. (187); §15.1. (197) Kant: §6.1. Kausalität: §10.1. (117); §10.3.a) (130); § 10.3. d) (136f.); §10.4. (148f.); §11.2. (164) Kommando: s. Imperativ Kriegsfuß: §1.3. (16); §12.2 (174) Leibniz: §10.3. e) (143 f.) Lohn: §3.2. (42) Macht, Machtpotentialisierung: §1.3. (21); §3.2. (38); §7.3. (85); §10.1 (114f.); §10.2. (126); § 10.4. (151); § 12.1.; § 13.3. (182,185); §14.1. (187); §14.2. (190 f.) Monade, monadologischer Gedanke: § 10.3. e) Moral: §1.2.; §3.1.; §4.1.; §5.1. (55)f.); §5.2.; §6.1. (68); §15.1. (198); §15.2. (204) Naturrecht: § 1.2. (12); § 10.3. b) (133);§ 10.4. (150); §11.2. (164); §13.1. (177)

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Normativität: §10.2. (129); §10.4 (155); §11.1. (156 f , 162); §11.2. (163 f , 166); §14.2. (191) Notwehr: §3.2. (40) Nutzen, Nützlichkeit: s. Utilitarismus Obligation: §1.1.; §1.2.; §4.1.; §12.2. (174) Öffentliches Recht: §1.1.; §1.3. (21); §7.2.; §7.3. patria potestas: §1.2. Perspektivismus: §5.1. (56); §8.2. (92); § 9.2. (107) ; § 10.3. c) (133) ; § 10.3. d) (139) ; §10.3. e) (146); § 10.3. f) (147) Person: §7.3. (85); § 13.1. (178);§ 13.2. (179); §13.3. (183); §14.2. (191) Positivismus: §10.3. d) -Rechtspositivismus: §10.1. (110); §10.4. (148 f., 155) Privatrecht: §1.1.; §7.2. — römisches Privatrecht: §1.1. (13) Rangordnung: §5.1.(57);§14.2.(192);§15.1. (198, 201); §15.2. (205) Reaktion: §3.1. Rechtsgleichheit: §9.1. (100); §13.3. (182); §15.1. (200) Rechtsrealismus : § 10.2 (121) ; § 10.4. (152 f.) ; §11.2. (163); §14.2. (191); §15.1. (197) Rechtssicherheit: §1.2. (18); §1.3. (21); §7.2. (78) Regel, Regelbefolgung: §10.1. (110f.); § 10.2. (121,127,130); § 10.3. a) (130); § 10.4. (148 f., 155); §11.2. (163); §14.1. (185); §14.2. (190); §15.1. (197) — Regelsystem: §14.2. (191) Relation: §2.1. (29); §6.2. (73); §8.2. (91); §9.2. (104); §10.2. (120); §10.3.a) (131); §10.3.0 (147); §10.4. (151, 153); §14.1. (189); §15.1. (198) — Feststellung der Machtverhältnisse: §2.1.; §10.4. (153); §11.1. (159); §13.2. (181); §15.1. (201) Ressentiment: §3.1. Sanktion: §1.2.; §3.2.; §4.1.; §5.1.; §6.2. (74); §12.2. (174); §15.1. (200) Schelsky: §9.2.; §10.1. (110, 111); §10.2. (121); §11.1. (156f.); §13.1. (178); §13.3. (184); §15.1. (202) Schopenhauer: §6.1. (69f.); §8.2. (90, 91); §10.1. (112)); § 10.3. d) (137f.) Schuld: §1.1.; §1.2.; §4.1. (48); §6.2. (74); §1.4. (23) -moralischer Schuldbegriff: §12.2. (173, 175)

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Sach

- christlicher Schuldbegriff: §1.3.b) (23) Schuldverhältnis: §7.2. (78): §12.2. (173) Selbsterhaltung: §3.2. Selbsthierarchisierung: §10.2. (122); §11.2. (164,166); §14.1. (185 f., 187); §15.1. (198) Selbstregulierung: §14.1. (187); §15.1. (198) Sitte: §1.2.; §5.1.; §7.2.; §7.3. (87) - Sittlichkeit: §4.1.; §5.1.; §5.2.; §5.3.;

Vernunftrecht: §10.3. c) (133 f., 134) Versprechen: §1.1.; §1.2.; §5.3. (65); §6.1. (67); §7.2. (79) Vertrag, Vertragsverhältnis: §1.1.; §2.1.; §3.2.; §7.2.; §12.2. (173,174) Völkerrecht: §1.1.; §2.1.; §7.2.

Wille - atomistischer Wille: §1.2. (16) - freier Wille: §5.2. (62,63); §5.3. (65,67); - sittliche Censur: §5.3. (66,67); §7.3. (84) §6.1. (67); §12.1. (173) - sittliche Norm: §4.1. (47); §5.1. (58, 59); - Imperativcharakter des Willens: §10.1. §5.2. (61); §7.2. (83) (114); §10.4. (148) - sittlicher Zwang: §4.1.; §5.2.; §8.1. (88) - Metaphysik des Willens: §10.1. (Ulf.); Sozietät: §1.2. (19); §3.2. (38); §5.1. (55); §10.4. (148) §5.2.; §5.3. (64); §6.1. (67); §7.2. (78); - Objektivation des Willens: §8.2. (91); §15.1. (199); §10.1. (119); § 10.3. d) (138) Staat, Staatsgewalt: §7.2.; §7.3. - subjektiver Wille; Prinzip des subjektiStrafe, Strafrecht: §1.2. (18,19); §3.2. (41); ven Willens: §7.3. (84) §4.1. (47); §6.1. (70); §12.1.; §12.2. (171 f.) - Willens-Kausalität: §10.1. (119); §10.2. Subjekt, Zwecksubjekt: §5.1. (58); §5.2. (62); § 7.3. (84); § 8.1. (88); § 8.2. (90); § 9.2. (128); §10.3. (132); § 10.4. (148 f.) (101); §10.3. a) (130); §10.3. c) (133, 135); - Wille zur Macht: §5.1. (58); §5.2.; §8.2. (93); §8.3. (97); §10.1. (111, 120); §10.2. § 10.3. d) (137,141); § 10.4. (148,151); § 11.2. (126); § 10.3. a) (131); §10.3.b) (133); (164); §13.1. (177f); §15.1. (198) § 10.3. d) (141); §10.3.e) (146f.); §10.4. - Rechtssubjekt: §1.1.; §2.1.; §12.2. (176) (150f.); §11.1. (158); §11.2. (164); §12.1.; - subjektives Recht: §13.3. (184) §13.2. (181); §13.3. (183); §15.1. (197) Subjekt-Objekt: §10.3.d) (137); §11.1. (156) - Wollen und Zweck: §8.2. (89 f.)

§6.1.; §6.2.

Utilitarismus: §2.1. (25,26); §5.2. (61); §6.1. Zwang, Zwangsgewalt: §1.2. (15); §2.2. (92); § 8.1. (88); § 8.2. (92); § 8.3. (95); § 9.1. (32); §4.1. (49); §4.2.; §5.1. (59) (102); §12.2 (173); §15.2. (205) - Zwangsbefugnis: §5.3. (64); §7.1 (76): §7.2. (80); §12.2. (176); s. auch sittlicher Zwang Vergeltung: §3.1.; §3.2.; s. auch Sanktion