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German Pages 245 [246] Year 2020
Dirk Setton Autonomie und Willkür
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände 42
Dirk Setton
Autonomie und Willkür Kant und die Zweideutigkeit der Freiheit
Diese Publikation geht hervor aus dem DFG-geförderten Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
ISBN 978-3-11-066880-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066938-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066953-4 ISSN 1617-3325 Library of Congress Control Number: 2020943764 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Das vorliegende Buch basiert auf meiner Habilitationsschrift, die ich 2018 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt eingereicht habe. Für die Veröffentlichung wurde der Text überarbeitet. Christoph Menke, Marcus Willaschek, Martin Seel, Rainer Forst und Birgit Recki danke ich ganz herzlich für ihre Gutachten, die nicht nur mit ihren kritischen Bemerkungen, sondern auch mit ihren konzisen Beschreibungen meines Vorgehens und ihren aufschlussreichen Rekonstruktionen meiner Argumentation Perspektiven auf mein Buch eröffnet haben, die für mich bei der Überarbeitung sehr wertvoll waren. Mein Dank gilt außerdem dem Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt für die großzügige Förderung meines Projektvorhabens und für die freundliche Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Danken möchte ich ebenso den Kolleg*innen vom Exzellenzcluster und vom Institut für Philosophie der Goethe-Universität sowie den Teilnehmer*innen des Kolloquiums von Christoph Menke und des Frankfurter Kant-Arbeitskreises. Die zahlreichen Diskussionen in diesen Kontexten haben eine maßgebliche Rolle bei der Ausarbeitung dieses Buches gespielt. Während der Arbeit an meinem Projekt war das Umfeld des Lehrstuhls für Praktische Philosophie am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ für mich enorm wichtig: Thomas Khurana, Christoph Menke, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi und Juliane Rebentisch danke ich deshalb von ganzem Herzen für die Zeit, die wir gemeinsam in Frankfurt verbracht haben. Ihr Einfluss auf dieses Buch kann gar nicht überschätzt werden. Zu guter Letzt möchte ich mich bei all jenen bedanken, die während des Schreibens auf unterschiedliche Weise für mich da waren: Katharina Hoppe, Thomas Meyer und Esther Neuhann danke ich für ihre sorgfältigen und hilfreichen Korrekturlektüren. Jonas Heller und Jan Müller danke ich dafür, dass sie große Teile des Manuskriptes gelesen haben und dass sie mit ihrem außerordentlichen philosophischen Verständnis immer für mich ansprechbar waren. Ganz besonders möchte ich mich bei Sonja Kleinod bedanken: Für die Auseinandersetzungen, die wir hatten, auch wenn sie nicht leicht waren – und dass sie da war, trotz meines Eigensinns und meiner Arbeitsweise, bedeutet mir sehr viel.
https://doi.org/10.1515/9783110669381-001
Inhalt Danksagung
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Einleitung: Autonomie und Eigensinn
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Teil : Prinzip und Kraft . . .
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Geltung und Verwirklichung: Kants transzendentaler Begriff von Vorstellungsvermögen 23 Der transzendentale Begriff von Vermögen 26 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen 37 Die transzendentale Herleitung der Vorstellungsvermögen im Umriss 48 Spontaneität und Rezeptivität: Die in sich reflektierte Einheit der Vorstellungsvermögen 53 53 Die empirische Artikulation der subjektiven Grundvermögen Die intellektuelle Artikulation der subjektiven Grundvermögen 65 76 Die Einheit der beiden Artikulationen: Vermögen und Kraft Spontane Rezeptivität: Einbildungskraft und Verstand in Kants Theorie der Erfahrung 92 94 Das Rätsel der Rezeptivität Zwei Formen der Spontaneität 98 Die Einbildungskraft als spontane Rezeptivität 103
Teil : Wille und Willkür . . . .
Gesetz und Begehren: Zwei Formen der Einheit von Wille und 113 Willkür Die moralische Autonomie und der „dezisionistische Rest“ 114 Wille und Willkür in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten 121 Diesseits und jenseits des Lustprinzips: Die Selbstentzweiung der 130 Spontaneität Die Triebfeder des reinen Willens: Rezeptiv reflektierte Selbstaffektion 138
VIII
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Inhalt
Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein: Kant mit Sartre 152 154 Das Gesetz als Form der Person Das präreflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Negativität 157 Das reflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Autonomie 163 Die präreflexive Distanz zu sich selbst: Der Blick der Anderen 167 176 Die Aufforderung zur Autonomie Die Schematisierung des Blicks und die Transformation der 182 Rezeptivität Die fundamentale Wahl der Autonomie: Kant mit Antigone 192 196 Antigones Wille und die Zweideutigkeit der Autonomie Antigones Schema und die Empfänglichkeit für das Gesetz 207 Antigones Willkür und der Akt der Subjektivierung des 214 Gesetzes 224
Bibliographie Siglenverzeichnis Sachregister Personenregister
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Einleitung: Autonomie und Eigensinn Die gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat, ist die der Willkür. (Hegel 1970b, § 15, S. 66)
1. Die erste historisch dokumentierte Verwendung des Wortes „autonom“, sofern die Datierung auf ca. 441 v.Chr. richtig ist, befindet sich in Sophokles’ Antigone. ¹ Kurz bevor die Protagonistin der Tragödie lebendig begraben wird – als Strafe dafür, ihren Bruder Polyneikes bestattet zu haben, und zwar gegen das strikte Verbot von Kreon, der zugleich der Herrscher von Theben und ihr Onkel ist –, trifft sie auf den Chor der Älteren, der ihr mit den folgenden Worten „Trost“ zu spenden versucht: Aber berühmt und mit viel Lob gehst du in diese Totengruft, weder von verderblichen Krankheiten geschlagen noch mit dem Lohn des Schwertes, sondern dir selbst Gesetz [αὐτόνομος], gehst du als einzige denn von den Sterblichen zum Hades. (Sophokles 1981, V. 817– 822)²
Diese Zuschreibung von Autonomie ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. In den meisten altgriechischen Texten wird das Wort „autonom“ ausschließlich gebraucht, um Gemeinwesen zu charakterisieren, die nach ihren eigenen Gesetzen und Gebräuchen leben und nicht der Autorität fremder Staaten oder Regime unterworfen sind.³ Vor diesem Hintergrund erscheint die Vorstellung, dass eine individuelle Person ihrem eigenen Gesetz folgt, nicht nur befremdend, sondern auch ambivalent. In der gerade zitierten Passage scheint den Chor zwar der Umstand zu beeindrucken, dass Antigone als einzige unter den „Sterblichen“ aus freiem Willen, ihrem eigenen Gesetz folgend, den Tod in Kauf nimmt. Diese Auszeichnung hat jedoch eine Kehrseite, denn der Chor suggeriert dabei zugleich, dass Antigone die fatalen Konsequenzen ihres Handelns aufgrund der Tatsache erleidet, dass sie nur ihrem eigenen Gesetz antwortet. Haben wir es also mit einer Würdigung oder einem Tadel zu tun? Diese eigenartige Ambivalenz wird durch eine zweite Zuschreibung unterstrichen, die einige Zeilen später im vierten Epeisodion der Tragödie nachzulesen ist. Nachdem Antigone über ihr familiäres Schicksal klagt und an die Reihe der Mitglieder ihrer Familie er-
Vgl. Gibbons und Segals Kommentar in Sophokles 2003, S. 148; siehe auch McNeill 2011, S. 412. Pointierter übersetzen Gibbons und Segal diese Stelle ins Englische: „Not struck down by diseases that waste one away, not having earned the deadly wages of the sword, but answering only to the law of yourself, you are the only mortal who will go down alive into Hades“ (Sophokles 2003, V. 819 – 822). Vgl. Fox 2005, S. 22 f. https://doi.org/10.1515/9783110669381-002
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innert, die durch Vatermord, Brudermord und Selbstmord umgekommen sind, reagiert der Chor mit dem folgenden Kommentar: Die Toten ehren bedeutet frommes Tun, Staatsgewalt, wem Staatsgewalt auch immer gehört, darf keinesfalls übertreten werden. Dich hat dein eigensinniges Aufbegehren zerstört [αὐτόγνωτος ὤλεσ ὀϱγά]. (Sophokles 1981, V. 871– 875)
Die Worte autognōtos orga zu übersetzen, die hier als „eigensinniges Aufbegehren“ gefasst werden, ist eine Herausforderung. Hölderlin deutet sie als „das zornige Selbsterkennen“,⁴ Jebb als „self-willed temper“⁵ und Schadewaldt als „eigenwilliges Streben“.⁶ Womit wir es hier zu tun haben, scheint eine bemerkenswerte Mischung aus Selbsterkenntnis, Passion und Eigenwilligkeit zu sein: In den Augen des Chores präsentiert sich Antigones Charakter im Zeichen eines leidenschaftlichen Selbstbewusstseins, das von einem besonderen Eigensinn geprägt ist. Wir sollten ihren Eigensinn jedoch nicht als bloße Sturheit oder Uneinsichtigkeit deuten, als Ausdruck ihrer individuellen Willkür, mit der sie hartnäckig an einer irrigen Überzeugung festhält. Auch wenn die Verlautbarung des Chores an dieser Stelle offensichtlich diese Konnotation des Willkürlichen und Verbohrten besitzt, so geht doch die Aussagekraft seiner Worte – wie in vielen griechischen Tragödien und insbesondere im Rahmen des Kommos, des Klagelieds der Protagonistin – tiefer als ihre oberflächlich erkennbare Intention.⁷ Das Bemerkenswerte an Antigones Eigensinn liegt darin, dass er intern mit ihrer Autonomie verbunden ist, denn er gilt nichts anderem als einer moralischen Verpflichtung und ist darin zugleich Ausdruck einer Selbsterkenntnis: Ihren toten Bruder zu bestatten, ganz gleich was dieser getan hat, gebietet ein ungeschriebenes Gesetz; und es ist ihre Pflicht, als seiner Schwester, diesem Gesetz zu folgen.⁸ Diese Akzentuierung der Pflicht und des Gesetzes, dem sie folgt, nimmt ihrem Handeln allerdings nicht den Charakter des Eigensinns, im Gegenteil. Antigone präsentiert ihre Handlung, den Bruder zu bestatten, zwar nirgendwo in der Tragödie als ihre individuelle Wahl – als eine überlegte Entscheidung unter Abwägung der Gründe, die dafür oder dagegen sprechen. Es steht stattdessen von Anfang an fest: Sie soll und wird ihren Bruder bestatten. Aber auch wenn ihre Handlung nicht das Resultat einer Abwägung ist, so zeigt sich dennoch an dem außerordentlichen Nachdruck, den Antigone auf ihre alleinige Verantwortung für ihre Tat legt,⁹ dass sie nicht „bloß“ aus vernünftiger Einsicht in die universale Geltung eines Gesetzes handelt (und entsprechend nicht nachvollziehen kann, weshalb alle anderen diese Einsicht nicht teilen
Hölderlin 1952, S. 241, V. 906. Sophokles 1888, S. 161. Sophokles 1974, S. 42. Vgl. dazu McNeill 2011, S. 430. Siehe Sophokles 1981, V. 451– 457, sowie 905 – 913. Vgl. Sophokles 1981, V. 536 – 539.
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können). Die Emphase, mit der sie die Verpflichtung und das Gesetz, aus dem diese erwächst, für sich reklamiert, macht vielmehr deutlich, dass sie dieses Gesetz auf eine Art und Weise zu ihrem eigenen Gesetz gemacht hat, die man als Ausdruck ihrer eigenen Wahl verstehen sollte, – als Ausdruck, wenn man so will, eines Aktes der „Wahl des eigenen intelligiblen Charakters“, der jeder spezifischen Handlungsentscheidung vorausgeht.¹⁰ Die eigenartige Verschränkung oder Überlagerung der Autonomie mit einem Moment von Eigensinn und „Willkür“, wie sie exemplarisch an der sophokleischen Antigone lesbar wird, soll der vorliegenden Arbeit als Leitmotiv für den Versuch dienen, eine neue Perspektive auf Kants Theorie der Freiheit zu entwickeln. Der Grundgedanke lautet, dass wir in seiner Theorie eine Spannung zwischen zwei formal unterschiedenen, aber wesentlich aufeinander bezogenen Aspekten beobachten können: eine Spannung zwischen der Freiheit der Autonomie auf der einen Seite, in der die Freiheit des Wollens und die rationale Einsicht in die Verbindlichkeit von normativen Prinzipien zusammenfallen, und der Freiheit der Unbestimmtheit oder der Negativität auf der anderen Seite, die unter dem Namen der „Willkürfreiheit“ den Akzent auf eine Freiheit von normativen und faktischen Notwendigkeiten legt. In Kants Schriften können wir eine Entwicklung ausmachen, die auf eine Spannung dieser Art hindeutet. Die Entwicklung, die ich im Auge habe, lässt sich entweder als explikative Ergänzung oder als signifikante Veränderung verstehen: Der Erklärungsansatz der Autonomie und die Deduktion des moralischen Gesetzes aus der Grundlegung wird mit den Konzeptionen eines „Faktums der Vernunft“ und einer „moralischen Triebfeder“ aus der zweiten Kritik auf ein neues Fundament gestellt; und dieses neue Fundament wird ein weiteres Mal umgearbeitet, wenn Kant in der Religionsschrift seine handlungstheoretischen Überlegungen zur „absoluten Spontaneität der Willkür“ vorstellt (Religion 6:24). Diese Veränderungen haben damit zu tun, dass Kant sich immer stärker der Frage widmet, wie die Wirklichkeit und Wirksamkeit des „Gesetzes der Freiheit“ in einem endlichen Willen zu verstehen ist. Die Ideen einer „moralischen Triebfeder“ und eines „Faktums der Vernunft“ bezeugen dies genauso wie der Versuch in der Religionsschrift, jene Wirksamkeit und Wirklichkeit des Gesetzes an einen „ersten Actus der [Willkür‐]Freiheit“ (Religion 6:21 f.) – an eine Art „ursprüngliche Wahl“ (Sartre 1994, S. 800) – zurückzubinden.¹¹ Vor allem dieser letzte Gedanke scheint mit Blick auf die Vorstellung der Autonomie aus der Grundlegung fremd, wenn nicht gar widersprüchlich zu sein. Aber wahrscheinlich wird eine „kantianische“ Deutung jener Vorstellungen die Überzeugung zurückweisen wollen,
Das hat David McNeill betont: „Nevertheless, she does represent herself as having made a choice, a choice to be dead that defines her in opposition to her sister’s choice to live. This choice to bear the burden of responsibility to her own is a choice of herself as defined by her obligation to her own. This is, moreover, a choice she apparently conceives as prior to any conscious decision to tend her brother’s corpse“ (McNeill 2011, S. 435). Zur Kompatibilität von Kants Argumentation im ersten Hauptstück der Religionsschrift mit Sartres Theorie der Freiheit als einer „fundamentalen Wahl“ vgl. Baldwin 1979 – 1980.
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dass wir es hier überhaupt mit signifikanten Verschiebungen oder internen Komplizierungen seiner Theorie zu haben: Der Gedanke eines ersten Aktes der Willkürfreiheit aus der Religionsschrift, so könnte man meinen, beschreibt bloß eine Art praktische Haltung zum moralischen Prinzip, das das Subjekt immer schon als sein eigenes anerkannt hat. Diese Arbeit ist dem Versuch gewidmet, eine Interpretation von Kants Autonomiegedanken zu erarbeiten, die derartige „kantianische Widerstände“ zu überwinden hilft. Um zu erläutern, wie das Gesetz der Freiheit das höchste Prinzip eines endlichen Willens sein kann, sollten wir, so der Vorschlag, auf dem Begriff der „absoluten Spontaneität der Willkür“ und seiner systematischen Relevanz im Rahmen einer Konzeption der Autonomie insistieren. 2. In den zeitgenössischen Debatten der praktischen Philosophie werden die Begriffe der Autonomie und der Willkür als sich wechselseitig ausschließende Konzeptionen der Freiheit aufgefasst.¹² Für aktuelle Theorien der Autonomie ist daher charakteristisch, dass sie ihre Leitvokabel im Rahmen einer Zurückweisung der negativen Freiheit der Wahl einführen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass der Gedanke der Willkür zunächst eine ganz normale Intuition über unsere Freiheit artikuliert, der sich vielleicht niemand so ganz entziehen kann. Nach Hegel handelt es sich sogar um die „gewöhnlichste Vorstellung“, die man von der Freiheit hat.¹³ Charles Taylor vermutet, dass ihr Charme vor allem in ihrer Einfachheit liegt: „Sie macht es uns möglich, zu sagen, daß Freiheit darin liegt, zu tun, was man will“ (Taylor 1992a, S. 124). Kant bestimmt sie pointiert als das „Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen“ (MS 6:212). Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass diese Formulierungen, ihrer Schlichtheit zum Trotz, drei Aspekte akzentuieren, durch die der Begriff der Willkürfreiheit seine vordergründige Einfachheit verliert. Zunächst evozieren obige Formulierungen die Vorstellung des Ungehinderten, der unbeschränkten Verwirklichung dessen, was einem „beliebt“. Dem entspricht jene minimalistische Auffassung einer rein negativ bestimmten Freiheit, die nach Hobbes darin besteht, „daß [der Mensch] bei der Verfolgung dessen, was er will, nach dem er verlangt und wozu er neigt, auf kein Hindernis stößt“ (Hobbes 1984, S. 163). Die kantische Formulierung hebt jedoch einen zweiten Aspekt hervor, der in der hobbesschen Fassung nicht vorkommt: Die Willkür ist das Vermögen, zu tun oder zu lassen, und dies impliziert, dass sie sich auf Handlungen als Möglichkeiten bezieht, die sie wählen („küren“) kann. Der Inhalt, auf den sich die Willkür als Freiheit der Wahl bezieht, ist daher zunächst nicht ihr aktueller, sondern ihr nur möglicher. Derart beschreibt der Name der Willkür das reflexive Verhältnis eines Willens zu den Be Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Juliane Rebentischs Versuch, gegen Hegels Kritik der romantischen Ironie im Sinne einer „von aller Sittlichkeit entfremdeten Willkürfreiheit“ den Gedanken zu verteidigen, dass zu einer recht verstandenen Selbstbestimmung ein Aspekt von Ironie und mithin Willkür dazugehört (vgl. Rebentisch 2012, Kap. III, S. 150 – 216). Siehe das Eingangsmotto zu dieser Einleitung.
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dürfnissen, Neigungen, Trieben oder Handlungsimpulsen, die dieser „unmittelbar“ in sich vorfindet. Neben der Abwesenheit externer Hindernisse bei der Verwirklichung gewählter Handlungen ist ein Wille, der über Willkürfreiheit verfügt, auch sich selbst gegenüber frei: Er „steht über dem Inhalt, den unterschiedenen Trieben“, er ist „nicht an diesen oder jenen Inhalt gebunden“ (Hegel 1970b, § 14, S. 65). Die eigentümliche Radikalität dieser Ungebundenheit offenbart aber erst der dritte Aspekt, der sich in der Wendung „nach Belieben“ verbirgt. Diese Wendung besagt, dass die Willkür an keinen bestimmten Inhalt gebunden ist und mithin von aller Bestimmtheit, von jeder Festlegung frei ist oder sich befreien kann. Zwar ist es so, dass sie auf Triebe, Wünsche oder Handlungsimpulse insofern angewiesen bleibt, als ihre Wahl allein durch dieselben einen Gehalt bekommt; sie scheint jedoch in ihrer Wahl selbst – ob sie etwas Bestimmtes tut oder lässt, ob sie dieser oder jener Bestimmung den Vorzug gibt – keinerlei Leitung oder Orientierung zu unterstehen. Eine Wahl „nach Belieben“ verfährt ohne allgemeine Hinsicht, ohne Regel und ohne Prinzip. Die Pointe einer freien Willkür liegt demzufolge darin, dass sie nicht nur von externen, sondern auch von internen Bestimmungen frei ist. Grundlos, unbestimmt, zufällig, radikal subjektiv, durchgängig partikular und unerklärbar: das sind die Merkmale einer Freiheit ohne Gesetz, von der sich allgemein nur noch sagen lässt, dass sie bloß dem „Gesetz“ der Beliebigkeit, der „Regel“ der Regellosigkeit untersteht. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass die Willkür dem philosophischen Blick seit jeher verdächtig erschien. Für Kant ist eine Freiheit ohne Gesetz schlicht ein „Unding“ (GMS 4:446), während sie Hegel als Ausdruck eines „gänzlichen Mangel[s] an Bildung des Gedankens“ erscheint (Hegel 1970b, § 15, S. 66). Die philosophische Diagnose lautet demnach, dass der Begriff der Willkür kein verständlicher Begriff der Freiheit ist. Die entsprechende Argumentation, die mittlerweile als Standard gilt, lässt sich exemplarisch an Harry Frankfurts und Charles Taylors Aufsätzen zum Begriff personaler Autonomie nachvollziehen.¹⁴ Sie umfasst drei Teile. Frankfurt und Taylor betonen in einem ersten Schritt die Einsicht, dass eine sinnvolle Konzeption der Freiheit der Reflexivität des menschlichen Willens Rechnung tragen muss. Als selbstbewusste Wesen folgen wir nicht einfach bestimmten Handlungsmotiven, Wünschen oder Trieben, sondern wir verhalten uns auch zu ihnen. Frankfurt expliziert diesen Gedanken durch sein Modell hierarchisch geordneter Ebenen oder Stufen des Willens. Wünsche erster Ordnung beziehen sich auf die Realisierung von Handlungen, während der Gegenstand von Wünschen zweiter Ordnung im Haben oder Nichthaben bestimmter Wünsche erster Ordnung besteht. Letztere beschreiben daher die reflexive Beziehung des Willens zu sich selbst: voluntative Einstellungen, die sich nicht direkt auf den Vollzug von Handlungen richten, sondern auf solche voluntativen Einstellungen, die zu Handlungen führen.¹⁵ Hierar-
Die folgende Rekonstruktion geht auf Überlegungen zurück, die ich gemeinsam mit Juliane Rebentisch in „Freiheit ohne Gesetz“ (Rebentisch/Setton 2011, S. 10 – 17) ausgeführt habe. Vgl. Frankfurt 2001a, S. 66 f., sowie Taylor 1992b, S. 9 f.
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chisch ist dieses Stufenmodell insofern, als es die Freiheit des Willens entschieden auf der zweiten Ebene situiert. Ein Subjekt, das tun kann, was es will, das in der Verwirklichung seiner Wünsche (erster Stufe) durch keine externen Hindernisse blockiert wird, ist in seinem Handeln zwar frei; damit ist aber noch nicht gesagt, dass sein Wille Freiheit genießt: dass er frei ist, den Willen zu haben, den er haben will.¹⁶ Der erste Schritt des Arguments besteht somit darin, die Identifikation der Willensfreiheit mit dem reflexiven Standpunkt über die Zurückweisung einer minimalen Version der Willkürfreiheit einzuführen. Gezeigt wird, dass die negative Freiheit im Sinne der Abwesenheit externer Beschränkungen gar nicht die Ebene erreicht, auf der ein freier Wille zu Hause ist. Die Strategie, die Frankfurt und Taylor im zweiten Schritt des Arguments verfolgen, wendet sich nun gegen die „anspruchsvollere“ Fassung der freien Willkür, nämlich diejenige, die nicht nur die Freiheit von äußerlichen Hindernissen einbezieht, sondern zudem die reflexive Distanz zu „Wünschen erster Stufe“ und die Unbestimmtheit der Wahl. Dabei ist es vor allem der letzte Aspekt, an dem sich das Schicksal der Willkür entscheiden soll: Die Fixierung auf die (negative) Freiheit von jeglicher internen Bestimmung lässt die Willkür in Unfreiheit umschlagen. Taylor deutet diese Unbestimmtheit zunächst so, dass der Gedanke eines Vermögens, „nach Belieben zu tun oder zu lassen“, die reflexive Wahl von Wünschen erster Ordnung als unproblematisch unterstellt. Was dabei allerdings übersehen wird, so Taylor, ist ein geläufiges praktisches Phänomen: Es gibt „innerliche Hindernisse“, welche die Freiheit des Willens untergraben können (Taylor 1992a, S. 124). Irrationale Befürchtungen, der Wunsch nach Bequemlichkeit, Süchte, obsessives Verlangen oder das Befangensein in einer Selbsttäuschung werden gewöhnlich als praktische Einstellungen betrachtet, die der Verwirklichung unserer Freiheit im Weg stehen.¹⁷ Worauf diese Phänomene uns hinweisen, entspricht für Taylor demjenigen entscheidenden Aspekt der Willensfreiheit, den der Begriff der Willkür in seiner Überakzentuierung negativer Freiheit ausblendet, nämlich die Tatsache, dass die Selbstbeziehung eines freien Willens die Fähigkeit einschließen muss, normative Unterscheidungen zwischen Wünschen erster Stufe vornehmen zu können.¹⁸ Eine irrationale Furcht oder ein süchtiges Begehren scheinen Beispiele für Willenseinstellungen zu sein, von denen manche*r sich wünschen mag, dass er oder sie sie nicht hätte oder dass sie wenigstens nicht handlungswirksam werden. Und wenn eine solche Einstellung dennoch, wie im Fall von Willensschwäche, das Verhalten bestimmt, dann wird die Realisierung der Freiheit, den Willen zu haben, den man haben will, durch ein internes Hindernis unterminiert. Sofern die „Fähigkeit zur reflektierenden Selbstbewertung“ (Frankfurt 2001a, S. 67) ein konstitutives Merkmal einer freien Person beschreibt, müssen wir Frankfurt
Vgl. Frankfurt 2001a, S. 77. Vgl. Taylor 1992a, S. 124, 132. Vgl. Taylor 1992a, S. 127– 131.
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zufolge ihren Willen so verstehen, dass er notwendig die Form von „Volitionen zweiter Stufe“ besitzt – von Wünschen, die sich auf die Handlungseffektivität von Wünschen erster Stufe beziehen:¹⁹ „Jemand macht also dann von seiner Willensfreiheit Gebrauch, wenn er sicherstellt, dass sein [handlungswirksamer] Wille und seine Volitionen zweiter Stufe übereinstimmen“ (Frankfurt 2001a, S. 77). Ein Wesen, dessen Freiheit die Gestalt der Willkür hat, scheint allerdings zu einer derartigen Sorge nicht in der Lage zu sein. Frankfurt hat für diesen Fall die Figur des „wanton“ geprägt, dessen Misere darin besteht, dass er keine evaluativen Unterscheidungen zwischen seinen Wünschen machen kann, weil er über keine „Volitionen zweiter Stufe“ verfügt.²⁰ Insofern seine reflexive Wahl unbestimmt, grundlos und zufällig erfolgt, liegt die Auffassung nahe, dass es ihm gleichgültig sein muss, welcher seiner Wünsche seinen Willen effektiv bestimmt. Dieser Mangel an evaluativem Interesse führt nun allerdings dazu, dass seiner Wahl nur eine Orientierung übrigbleibt: die jeweilige Stärke seiner Wünsche erster Stufe. In der Konsequenz verliert der „wanton“ aber seine negative Distanz zu Trieben und Bedürfnissen – und mithin seine Freiheit. Die Unbestimmtheit, welche die Offenheit seiner Wahlmöglichkeiten garantieren sollte, scheint daher den Abstand seiner Willkür zu „Wünschen erster Stufe“ wieder aufzuheben, so dass er zum bloßen Spielball der Triebschicksale seiner Handlungsimpulse wird. Die Wahrheit der Willkürfreiheit, sofern die Figur des „wanton“ sie zum Ausdruck bringt, ist daher die Unfreiheit. Das strategische Ziel des zweiten Schritts des Arguments besteht somit darin, über den Nachweis der Inkonsistenz des Gedankens der Willkürfreiheit das Niveau zu erreichen, auf dem die Idee der Autonomie die einzig verbleibende Alternative darstellt. Hier setzt der dritte Schritt an: Dort, wo die „gewöhnlichste“ Vorstellung der Freiheit von einer unproblematischen Wahl (des eigenen Willens) ausgeht, muss eine Konzeption der personalen Autonomie darauf insistieren, dass sich hier ein entscheidendes praktisches Problem manifestiert: das Problem des „reflexiven Erfolgs“ (Korsgaard 1996, S. 93).Wie kann es der Freiheit der Selbstreflexion gelingen, die Frage zu entscheiden, mit welchen „Wünschen erster Stufe“ es sich zu identifizieren gilt und von welchen Abstand zu nehmen ist? Sobald es darum geht, zwischen Wünschen erster Ordnung normativ zu differenzieren, müssen wir für den Willen auf der zweiten Ebene voraussetzen, dass er über eine hinreichend allgemeine Bestimmung verfügt, die ihn zu derartigen Wertunterscheidungen befähigt. Und damit diese Bestimmung eine Quelle solcher Unterscheidungen darstellen kann, ist erforderlich, dass sie von der Ordnung der Wünsche auf der ersten Ebene unabhängig ist, – denn ansonsten wäre der Wille in seiner reflexiven Distanz nicht in der Lage, Volitionen auf eine freie Weise auszuprägen.²¹
Vgl. Frankfurt 2001a, S. 71. Vgl. Frankfurt 2001a, S. 72– 75. Vgl. Frankfurt 2001a, S. 74.
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An der Frage, wie man den Gedanken einer solchen inneren Bestimmung des freien Willens verstehen soll, scheiden sich freilich die Geister. Frankfurt tendiert dazu, sie an eine spezifische Art der motivationalen Selbsterfahrung zu binden. Eine Bestimmung, die für den Willen zweiter Ordnung den Charakter einer hinreichenden Allgemeinheit haben soll, muss „entschlossen“ (Frankfurt 2001a, S. 78) und „mit ganzem Herzen“ (Frankfurt 2001b, S. 136) gewollt werden, respektive ihm in der Gestalt einer „volitionalen Nötigung“ begegnen, die er als „selbst auferlegt“ und zugleich unwillkürlich erfährt (Frankfurt 2001c, S. 105, 108). Gegen Frankfurts Auffassung wurde allerdings eingewendet, dass sie die normative Autorität „entschlossener“ Identifikationen oder „volitionaler Nötigungen“ nicht erklären kann.²² Vor diesem Hintergrund erscheinen Theorien attraktiver, die den reflektierenden Willen als praktische Vernunft begreifen. Christine Korsgaard hat in diesem Sinne dafür argumentiert, dass eine autonome Person über einen Grund verfügen muss, um einen bestimmten Wunsch zu ihrem Willen machen zu können, und dass eine bestimmte Lesart von Kants erster Formel des kategorischen Imperativs erklären kann, inwiefern der Besitz eines solchen Grundes den reflexiven Erfolg ermöglicht.²³ Die Pointe der Formel besteht nach ihrer Auffassung in der Einsicht, dass das Wollen gesetzesartigen Charakter annehmen muss: Was immer der Wille als seinen Willen will, es muss auf einer allgemeinen Konzeption seines eigenen Selbst basieren, die alle seine Handlungen vereinheitlicht und als Ausdruck seiner praktischen Identität verständlich macht. Das Bewusstsein von der eigenen Identität, in der der Wille sich selbst Gesetz ist, versetzt eine Person somit in die Lage, gerechtfertigte Urteile über den normativen Status ihrer „Wünsche erster Stufe“ zu fällen. Nur unter der Bedingung, so Korsgaard, dass der Wille in sich selbst eine hinreichend allgemeine Bestimmung dieser Art hat oder findet, lässt sich verhindern, dass die Aufgabe des reflexiven Erfolgs scheitert und sich die Selbstbestimmung einer Person in einem infiniten Regress verliert. Andere Ansätze, die eher an Hegel als an Kant anschließen, sehen in Korsgaards Auffassung das Problem, dass sie nicht in der Lage ist, verständlich zu machen, wie der reflektierende Wille überhaupt zu einer Konzeption des Guten, zu einem Bewusstsein von seiner praktischen Identität gelangen kann. Die einseitige Akzentuierung der Autorität der praktischen Reflexion scheint diese Identität allein aus formalen Rationalitätskriterien deduzieren zu wollen, worin allerdings ein Missverständnis über die Verfasstheit der praktischen Urteilsfähigkeit liegt.²⁴ Robert Pippin hat aus diesem Grund vorgeschlagen, das Modell der autonomen Reflexion des Subjekts durch ein historisches und entwicklungslogisches Modell zu ersetzen: Ein autonomer Wille hat seine Wirklichkeit in der sozialen Welt geteilter Praktiken, die den eigentlichen Ort beschreiben, an dem es ein Bewusstsein des Guten geben kann und somit auch die Freiheit der Autonomie verwirklicht wird.²⁵ Und insofern der Gedanke
Zu diesem Einwand vgl. Betzler 2001. Vgl. Korsgaard 1996, S. 97– 102, 108 f. Vgl. Menke 2011, S. 157. Vgl. Pippin 2008, S. 65 – 118, 147– 179.
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einer normativen Praxis den Gedanken eines „inneren Gesetzes“ erläutert (wenn nicht gar ersetzt), muss der Begriff der Autonomie – und mit ihm die Lösung des Problems des reflexiven Erfolgs – an die Teilnahme an sozialen Praktiken gebunden werden.²⁶ Ein weitgehender Konsens, der den Widerstreit dieser Positionen überspannt, scheint allerdings in der Vorstellung zu liegen, dass personale Autonomie dadurch ermöglicht wird, dass sich der Wille nach Maßgabe eines Bewusstseins seiner praktischen Identität im Sinne einer Konzeption des Guten selbst bestimmt. Diese Identität ist durch eine Festigkeit und Allgemeinheit gekennzeichnet, die sie zumindest zum funktionalen Äquivalent oder Analogon eines praktischen Gesetzes macht. In diesem weiten Sinne macht die Freiheit der Autonomie also stets einen „Nomos“ geltend, von dem das freie Selbst weiß, das er seinem Willen innerlich ist. Dabei sollte allerdings beachtet werden, dass die Rede von einem „inneren Gesetz“ des Willens nicht unmittelbar als Platzhalter für das kantische Moralgesetz zu verstehen ist. Sie teilt mit diesem in erster Linie den Zug, die „Fähigkeit zur reflexiven Selbstbewertung“ durch eine formale Eigenschaft auszuzeichnen. Ob es sich um die Form eines personalen Charakters oder einer sozial erworbenen praktischen Identität, um die Form einer Entschiedenheit „von ganzem Herzen“ oder von „starken Wertungen“, um eine intersubjektiv geteilte Ordnung der Rechtfertigung oder eine vernünftige Einsicht in „das Gute“ handelt: In allen Fällen wird die Autonomie in einer prinzipiellen Bestimmung verankert, die sich im Willen einer hinreichenden Festigkeit, Beharrlichkeit und Verlässlichkeit erfreut und in der er seine Wahrheit, sein Wesen, seine Authentizität erkennen kann.Wenn der Gedanke der Autonomie den freien Willen an die Pflicht der Rechtfertigung oder die Notwendigkeit einer gesetzesartigen Bestimmtheit bindet, begreift er seine Freiheit so, dass ihre Entfaltung vernünftig nachvollziehbar, allgemein verständlich und erklärbar wird. 3. Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht darin, gegen diese Standardkonzeption der personalen Autonomie die Auffassung zu verteidigen, die ich zu Anfang an der sophokleischen Antigone skizziert habe: Die Begriffe der Autonomie und Willkür sollten wir nicht als alternative Freiheitskonzeptionen verstehen, sondern stattdessen davon ausgehen, dass sie unselbstständige Aspekte in der Einheit eines zugleich freien und endlichen Willens markieren. Frankfurts und Taylors Argumentation beruht auf dem Gedanken, dass die Autonomie die Antithese von Willkür darstellt. Und sie kulminiert in der Vorstellung, dass zwischen dem Willen und dem Gesetz der Autonomie – den evaluativen „Volitionen zweiter Stufe“, den Prinzipien der „starken Wertung“, den normativen Standards geteilter sozialer Praktiken oder dem kategorischen Imperativ – kein Unterschied besteht. Das Gesetz ist Wille, der Wille ist (sich selbst) Gesetz. Gegen dieses Resultat den Begriff einer Willkürfreiheit in Stellung zu bringen, und zwar als ein der Autonomie internes Moment, legt den Akzent stattdessen darauf, dass die Einheit eines endlichen und freien Willens mit dem norma-
Vgl. dazu den Überblick in Khurana 2011.
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tiven Prinzip seiner Autonomie zugleich ein Bewusstsein der Differenz zwischen beiden enthalten muss. Der Gedanke des Eigensinns oder der Willkür betont in diesem Sinne, dass das Verhältnis zwischen dem Willen und seinem Gesetz selbst als ein Verhältnis der Freiheit gedacht werden muss. Das wird bereits an dem Umstand ersichtlich, dass die Annahme dieser Differenz wesentlich ist, um zu begreifen, dass für einen endlichen Willen das Bewusstsein von normativen Prinzipien als seinen eigenen Prinzipien eine Errungenschaft (und keine Gegebenheit) darstellt – und zwar eine, die selbst „unter der Idee der Freiheit“ stehen muss.²⁷ Die vorliegende Arbeit basiert auf der Intuition, dass der entscheidende Hinweis auf ein angemessenes Verständnis der Freiheit des Willens an derjenigen Stelle zu finden ist, an der der Begriff der Autonomie seiner größten Schwierigkeit begegnet. Das sogenannte Paradox der Autonomie besteht darin, dass diese in die Paradoxie der Willkürfreiheit in dem Maße zurückfällt, wie es nicht gelingt, eine Konzeption vom Grund der Normativität zugleich als Wirklichkeit der Freiheit eines endlichen Willens auszuzeichnen. Darin könnte eine abstrakte Kennzeichnung derjenigen Problematik liegen, die in den gegenwärtigen Diagnosen einer „Tyrannei der Wahlfreiheit“ thematisch ist.²⁸ Sie enthält aber zugleich auch eine Einsicht: Die tatsächliche Möglichkeit eines „Rückfalls“ in die Unbestimmtheit der Wahlfreiheit weist uns darauf hin, dass die Willkür einen strukturellen Aspekt der Autonomie darstellt. Sie beschreibt weder eine alternative Freiheitskonzeption noch einen „faktischen“ oder heteronomen Grund der Autonomie. Es handelt sich vielmehr darum, die Differenz zwischen einem endlichen Willen und seinen normativen Prinzipien in Termini einer immanenten Spannung zwischen der Freiheit der Autonomie und der Freiheit der Willkür begreifbar zu machen. Vor diesem Hintergrund läuft der Anspruch der Willkürvermeidung, der in den Begriff der Autonomie eingeschrieben ist, nicht auf den
Vgl. GMS 4:448. Ich hatte bereits erwähnt, dass das in der Moderne faktisch vorherrschende Selbstverständnis von Subjekten weniger durch die Idee der Autonomie, sondern eher durch die Vorstellung der Wahl- oder Willkürfreiheit bestimmt wird. Während Kant und Hegel noch davon ausgingen, dass dieses gewöhnliche Selbstverständnis einem Zustand der fehlenden Bildung oder Unmündigkeit geschuldet ist, legen die zeitgenössischen sozialpsychologischen und sozialökonomischen Diagnosen einer „Tyrannei der Wahl“ (Salecl 2010) nahe, dass die Entgrenzung der Willkürfreiheit in unserem Selbstbewusstsein als freie Subjekte einen Halt besitzt. Das Problem besteht nicht nur darin, dass der enorme Anstieg von Konsummöglichkeiten oder der schiere Überfluss von Handlungsoptionen den subjektiven Willen und seine Fähigkeit der normativen Beurteilung überfordern, dabei die inhärente Irrationalität einer entfesselten Wahlfreiheit offenbaren und somit zu neuen Formen sozialer Pathologie und Unfreiheit führen (vgl. Ehrenberg 2004). Es geht vielmehr darum, dass die zeitgenössische Konjunktur der Ideen einer kreativen Selbstverwirklichung oder einer individuellen Wahl der eigenen Identität darauf hindeuten, dass die pränormative Freiheit der Unbestimmtheit einen Verpflichtungscharakter bekommen hat (siehe dazu Menke/Rebentisch 2010, S. 7) und somit auf der Ebene normativer Ordnungen selbst zur Geltung gebracht wird. Die vorliegende Studie geht von der Annahme aus, dass diese scheinbar widersprüchliche Konstellation aus einem normativen und einem faktischen Freiheitsverständnis keinen Zufall darstellt, sondern dass darin ein Grundzug eines angemessenen Begriffs der Freiheit – wenn auch in vereinseitigter Weise – zum Vorschein kommt.
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schlichten Ausschluss von Willkürfreiheit hinaus. Eher geht es darum, die Form zu denken, in der ihre Einbindung in die Autonomie des Willens einen normativen Sinn besitzt. Im Folgenden gehe ich davon aus, dass die begriffliche und argumentative Komplexität von Kants Theorie des freien Willens ein angemessenes Medium darstellt, um die Spannung zwischen Autonomie und Willkür als immanente Struktur eines endlichen Willens aufzuzeigen. In meinen Untersuchungen zu kantischen Begriffen und Argumenten beanspruche ich daher in erster Linie keine exegetische Angemessenheit: Meine Ambition liegt nicht darin, eine bessere oder plausiblere Kant-Auslegung als andere Interpret*innen vorzulegen. Ich will vielmehr versuchen, den kantischen Text im Hinblick auf ein spezifisches Problem produktiv zu lesen – nämlich im Hinblick auf die Frage nach der Einheit und Differenz von Autonomie und Willkür. Dieses Unternehmen erhebt zwar den Anspruch einer gewissen exegetischen Angemessenheit: Ich will sagen, dass man Kant so, wie ich ihn rekonstruiere, durchaus lesen kann. Ich bin mir aber darüber bewusst, dass man ihn so nicht lesen muss. Die Sorte von Angemessenheit, die mir am Herzen liegt, ist vielmehr eine sachliche und systematische: Ich möchte demonstrieren, dass eine kritische Durch- und Umarbeitung von Kants Theorie der Autonomie eine fruchtbare und systematisch aufschlussreiche Perspektive auf die Verfasstheit eines zugleich endlichen und freien Willens bietet. Die Auffassung, dass Kants praktische Philosophie das geeignete Medium für eine produktive Perspektive auf die interne Spannung von vernünftiger Selbstbestimmung und eigensinniger Entschiedenheit darstellt, hat ihren Rückhalt im Text selbst: Sie basiert nicht zuletzt auf der Tatsache, dass der Begriff der Willkür bei Kant – als dem vielleicht einflussreichsten Theoretiker der Autonomie – von Anfang an terminologische Relevanz besitzt. Er charakterisiert die „Willkür“ als denjenigen Aspekt des menschlichen Willens, in dem seine Handlungsfähigkeit verankert ist, nämlich das Vermögen, „Triebfedern“ in Handlungsgründe („Maximen“) „aufzunehmen“ (Religion 6:24).²⁹ Von der Grundlegung über die zweite Kritik bis hin zur Metaphysik der Sitten argumentiert Kant stets so, dass die so verstandene Willkür aber nur in dem Maße Freiheit genießt, wie sie durch reine praktische Vernunft bestimmbar ist, d. h. ihre Wahrheit in der Autonomie eines vernünftigen Willens hat.³⁰ In der Religionsschrift expliziert er jedoch eine Bedingung für diese Bestimmbarkeit der Willkür durch die Vernunft, die von der Willkür selbst her gedacht werden muss und derart ein Moment von Freiheit diesseits der Autonomie akzentuiert. Diese Einsicht entwickelt Kant in seinem Versuch, die Wirklichkeit des Bösen verständlich zu machen, d. h. den „wirklichen Widerstreit der menschlichen Willkür gegen das Gesetz“ (Religion 6:35), den er entschieden als einen der Freiheit internen Widerstreit denkt. Er gründet ihm zufolge in einem selbstverschuldeten „Hang“ der Willkür (Religion 6:29), sich in der
Siehe auch MS 6:213. Vgl. KpV 5:29 f., GMS 4:446 f. sowie MS 6:213 f.
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Wahl von Maximen des Handelns nicht an deren Gesetzestauglichkeit, sondern vielmehr an „pathologischen“ Triebfedern zu orientieren. Kant entwickelt dabei die interessante Idee, dass die eigentliche Freiheit der Willkür – ihre „absolute Spontaneität“ (Religion 6:24) – in erster Linie nicht darin liegt, bestimmte Handlungsweisen oder Maximen des eigenen Handelns zu wählen. Sie liegt vielmehr in der Wahl eines „erste[n] subjektive[n] Grund[es] der Annehmung der Maximen“, d. h. in der Wahl einer „Gesinnung“ (Religion 6:25), auf der alles konkrete Handeln nach Gründen basiert. In dieser Wahl drückt sich zugleich das Verhältnis des subjektiven Willens zum Gesetz seiner Autonomie aus.³¹ Denn die Willkür ist für Kant nicht die Freiheit der Indifferenz, sich für oder gegen das Gesetz zu entscheiden.³² Sie hat sich vielmehr immer schon zum Gesetz ihrer Autonomie verhalten; sie hat sich dieses Gesetz auf diese oder jene Weise immer schon zu eigen gemacht – und zwar in einem „unerforschlichen“ ersten Akt der Annahme eines obersten subjektiven Prinzips der Wahl von Maximen (Religion 6:21). Auf diese Weise erscheint die Freiheit der Willkür so, dass sie die Wirklichkeit des Bösen und des Guten (der Autonomie) mitbedingt. Auch wenn diese Beschreibung den Verdacht erregt, den Begriff der Autonomie paradox werden zu lassen,³³ so zeugt sie dennoch davon, dass im kantischen Text das „Unding“ der Willkürfreiheit (GMS 4:446) dazu tendiert, auf dem Terrain der Autonomie, wie alles Verdrängte, wiederzukehren. Kant geht es in der Religionsschrift jedoch nicht darum, die Szene einer souveränen Einsetzung des eigenen Gesetzes durch die subjektive Willkür zu beschreiben oder gar eine Freiheit der Indifferenz wiedereinzuführen. Sein Anliegen lese ich eher im Sinne der Einsicht, dass der Begriff der personalen Verantwortung für das eigene Handeln, der einen notwendigen Aspekt der Autonomie beschreibt, einen Bezug des endlichen Subjekts auf das Gesetz seiner Freiheit erforderlich macht, der selbst „unter der Idee der Freiheit“ stehen muss. Um die menschliche Freiheit zu denken, ist der Begriff der Autonomie unverzichtbar: Das haben Frankfurts und Taylors Argumente erfolgreich demonstriert (die natürlich im Kern die Argumentation der modernen Tradition der praktischen Philosophie resümieren, die von Rousseau, Kant und Hegel ausgeht). Um aber die menschliche Freiheit als Autonomie zu denken, bedarf es erstens einer starken (d. h. universalistischen) Konzeption von der Quelle der Normativität, die dem autonomen Willen die Form eines begründeten und gerechtfertigten Wollens geben kann. Kant versteht diese Quelle der Normativität so, dass sie in nichts anderem als der Form der universalen Geltung besteht: Ein autonomer Wille ist ein solcher, der sein Wollen der
Siehe Religion 6:36. Vgl. Religion 6:24. Kants Beschreibung erregt diesen Verdacht insofern, als der Gedanke, dass ein freier Wille das Gesetz seiner Freiheit auf freie Weise (also ohne Gesetz) eingesetzt haben soll, die Autonomie in Willkür umschlagen lässt. Um dieses Paradox zu vermeiden, wurde vorgeschlagen, die Problematik einer „freien Einsetzung“ des Gesetzes als Scheinproblematik zurückzuweisen und stattdessen lieber durch die Frage nach der (sozialen) Aneignung oder nach dem Erwerb einer Praxis (und einer dieser entsprechenden Identität) zu ersetzen. Vgl. dazu die Debatten im Band Khurana/Menke 2011.
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Bedingung der universalen Gültigkeit unterstellt. Um diese Form des autonomen Wollens aber als Form der Freiheit verständlich zu machen, bedarf es zweitens einer Theorie, der es gelingt, die normative Form des Gesetzes im Rahmen einer Konzeption von der Wirklichkeit eines endlichen Willens – d. h. eines Willens, der konstitutiv auf die Hinnahme von „Wünschen erster Stufe“ angewiesenen ist und bleibt – zur Geltung zu bringen. Mein Anliegen lässt sich so beschreiben, dass es mir zunächst nur darauf ankommt, das eigentümliche Problem besser zu verstehen, dass in diesem zweiten Schritt auftaucht: Inwiefern ist es möglich, die objektive Vorstellung des moralischen Gesetzes, in seiner Universalität und absoluten Notwendigkeit, so zu denken, dass sie zugleich das Gesetz eines endlichen und freien Subjekts beschreibt? Wie kann ein endliches Subjekt, dessen Wille wesentlich auf Rezeptivität (d. h. auf materielle Handlungsimpulse) angewiesen ist, im apriorischen Gesetz der reinen praktischen Vernunft, das von allem Inhalt des Wollens abstrahiert, die Wirklichkeit seiner Freiheit erkennen? Obwohl Kant bekanntermaßen behauptet, dass das praktische Gesetz ein „Faktum“ der Vernunft ist (KpV 5:31), beschreibt es damit noch kein notwendiges Faktum über die Art und Weise, wie ein endliches Subjekt sich selbst im Handeln bestimmt. Darin liegt der Grund, weshalb Kant das moralische Gesetz im Sinne eines „synthetischen Satzes“ interpretiert, das den Willen eines endlichen Vernunftwesens a priori mit einer Bestimmung zusammenbringt (nämlich: seinem Wollen die Form des Gesetzes zu geben), die in seinem Begriff noch nicht enthalten ist (GMS 4:447). Die Frage nach der Einheit von Gesetz und endlicher Subjektivität entspricht daher der Frage nach einer Errungenschaft, die einem endlichen Willen aus Freiheit gelingen können muss. Diese Frage lässt sich auch so formulieren, dass sie sich auf einen eigentümlichen „quasi-transzendentalen“ Akt bezieht: den Akt, das universale Gesetz zum Gesetz des eigenen, besonderen, subjektiven Willens zu machen. Um diesen Akt angemessen zu verstehen, so meine These, bedarf es eines Aspekts von Willkür – eines Moments eigensinniger Entschiedenheit. Diese These sollte nicht so gedeutet werden, dass sie den Anspruch erhebt, das Problem oder die „Paradoxie der Autonomie“ lösen zu können. Es kommt mir eher darauf an, dass sie uns ein Verständnis dafür eröffnet, dass die menschliche Autonomie eine strukturelle Problematik beinhaltet, die in ihren philosophischen Lösungen insistiert. 4. Die Frage, die hier an Kants Theorie der Autonomie gestellt werden soll, bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der moralischen und objektiven Dimension unseres Willens einerseits und der nichtmoralischen und subjektiven Dimension andererseits – und damit zugleich auf das Verhältnis zwischen dem normativen und dem nichtnormativen Aspekt der menschlichen Freiheit: Wie kann das „moralische Gesetz“ zugleich das Gesetz eines endlichen Subjekts sein? Und kann ein endlicher Wille, der auf rezeptiv konstituierte Handlungsantriebe angewiesen bleibt, nicht allein zur Autonomie der praktischen Vernunft fähig sein, sondern in dieser zugleich sein Wesen und seine Wirklichkeit erkennen? Formuliert man die Fragen so, dann mag es den Anschein haben, als handele es sich im Kern um eine Theorie der moralischen Motivation, die die passenden Ant-
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worten liefern kann. Es wird gemeinhin angenommen, dass Kant die Frage nach der moralischen Motivation (wie können endliche Wesen, die auf Triebfedern angewiesen sind, allein aufgrund des moralischen Gesetzes handeln? wie kann die Form der universalen Geltung einer Maxime zugleich ein Motiv sein, das ein endliches Wesen zum Handeln bewegt?) mit seiner Konzeption der „Achtung“ als moralischer Triebfeder zu beantworten versucht hat. Es ist aber wichtig zu betonen, dass die hier vorliegende Untersuchung den Akzent zunächst einmal darauf legt, das grundsätzliche Problem besser zu verstehen, das hinter der Frage nach der moralischen Motivation steht: Welche Konzeption des menschlichen Willens setzen wir eigentlich voraus, wenn wir moralische Motivation als erklärungsbedürftig ansehen? Worin besteht genau die Schwierigkeit, einen zugleich endlichen und freien Willen zu denken, der sich von der Vorstellung der bloßen Form der universalen Geltung zum Handeln „bewegen“ lässt? Wir sollten, mit anderen Worten, nicht einfach von der Selbstverständlichkeit ausgehen, dass ein endlicher Wille, der nicht allein ein „intelligibles“, sondern auch ein „sinnliches“ Dasein hat, dem Gedanken einer reinen Vernunft, die „für sich selbst praktisch“ ist (MS 6:214) und mithin unmittelbar den menschlichen Willen und sein Handeln bestimmen soll, einigen Widerstand entgegensetzt. Stattdessen lohnt es sich, so der Vorschlag, noch einmal grundlegend darüber nachzudenken, wie sich überhaupt jener Konflikt zwischen einer unbedingt „gebietenden“ Vernunft und „pathologischen“ Handlungsimpulsen – und damit auch der Konflikt zwischen moralischen und nichtmoralischen Orientierungen des Willens – philosophisch einführen lässt. Die Frage, die im Zentrum dieses Buches steht, lautet daher, wie die Artikulation von Endlichkeit und Vernünftigkeit, Negativität und Normativität, Rezeptivität und Spontaneität in der Freiheit des Willens zu verstehen ist. Die Problematik hat somit eine freiheitstheoretische Stoßrichtung – und keine moralpsychologische. Die Schwierigkeit, die der Zusammenhang von moralischen Urteilen und handlungseffektiven Motivationen aufwirft, betrifft dementsprechend nur einen Teilaspekt dieser Problematik, und zwar jenen, der sich erst dann aufdrängt, wenn es gelungen ist, den grundlegenden Widerstreit zwischen Endlichkeit und Moralität philosophisch einzuführen. Dass es sich nur um einen Teilaspekt handelt, lässt sich überdies auch daran erkennen, dass die Frage nach der Möglichkeit moralischer Motivation nicht hinreichend beantwortet werden kann, wenn nicht zudem die Frage nach der Möglichkeit einer zugleich freien und unmoralischen Motivation geklärt wird. Je mehr wir davon ausgehen, dass die Verbindung von moralischen und motivierenden Gründen „internalistisch“ zu verstehen ist – dass also das „aufrichtige“ Fällen eines moralischen Urteils notwendig mit „motivationaler Kraft“ einhergeht –, umso rätselhafter wird umgekehrt die „freie Fähigkeit“, sich gegen moralische Überlegungen zu wenden und sich für unmoralische oder „böse“ Handlungen zu entscheiden. Diese beiden Fragen werde ich daher in dieser Untersuchung so betrachten, dass sie der fundamentalen Problematik nachgeordnet sind, wie die Einheit und Differenz von Autonomie und Willkür in der menschlichen Freiheit zu denken ist. Die hier versammelten Studien basieren auf der Überzeugung, dass eine Antwort auf die Frage nach der Einheit und der Differenz von vernünftiger Selbstbestimmung
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und Willkür in Kants enorm kompliziertem Begriff des menschlichen Begehrungsvermögens zu finden ist. Die von mir vorgeschlagene Perspektive auf Kants Theorie der Freiheit lässt sich demnach nicht erschließen, wenn wir allein im Rahmen einer epistemologischen oder intentionalitätstheoretischen Rekonstruktion verbleiben und uns darauf beschränken, Fragen der Geltung und der logischen Struktur gegenstandsbezogener Repräsentationen aufzuklären. Zugleich scheint es mir unzureichend, die Lösung für die Problematik der Einheit von Autonomie und Endlichkeit in einem moralpsychologischen oder moralanthropologischen Supplement zur normativen Theorie zu suchen. Sofern es darum geht, den internen Zusammenhang zwischen Kants Konzeption eines „Gesetzes der Freiheit“ mit seiner Konzeption der Wirklichkeit eines endlichen Willens aufzuzeigen, bedarf es vielmehr einer begrifflichen Grundlage, die in der Lage ist, Überlegungen zur Normativität mit Überlegungen zur Wirklichkeit eines endlichen Subjekts zu verbinden. In Kants kritischer Philosophie finden wir ein Vokabular, das meines Erachtens darauf zielt, exakt diese Verbindung zwischen epistemologischen und ontologischen Reflexionen zu erhellen: das Vokabular der Vorstellungsvermögen des Subjekts. ³⁴ Die Begriffe der praktischen Vernunft, des Willens, der Willkür, der Begierden und Neigungen sind wie die Begriffe des Verstandes, der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft und der Urteilskraft allesamt Vermögensbegriffe. Die Pointe dieser Begriffe erschließt sich, wenn wir sie im Kontext derjenigen „Seelenvermögen oder Fähigkeiten“ situieren, die „sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen“ (KU 5:177) und denen Kants drei Kritiken gewidmet sind: dem Erkenntnisvermögen, dem Begehrungsvermögen und
Man könnte mein Vorhaben auch so beschreiben, dass es mir darum geht, einen Gedanken, den man vielleicht eher mit Hegel verbinden würde, auf der Ebene der kantischen Philosophie zur Geltung zu bringen: dass wir einen Begriff – einen normativen Begriff zumal – nicht verstanden haben, wenn wir nicht seine Wirklichkeit oder seine Form der Verwirklichung begreifen können. Was mich im Folgenden interessiert, ist aber weniger die hegelsche Fassung dieses Gedankens, sondern die kantische, nämlich: dass normative Begriffe oder Prinzipien ihre Wirklichkeit darin haben, dass sie menschliche Vermögen sind (und derart im Sinne von realisierbaren Begriffen oder Prinzipien existieren). Die kantische Vermögenstheorie verstehe ich demzufolge so, dass sie diejenige ontologische Grundlage liefert, die Kants moralische Epistemologie der Autonomie bedarf, um nicht in einer Art „normativistischen Abstraktion“ zu enden. Das Interesse, das ich in diesem Buch verfolge, sollte deshalb nicht so gelesen werden, dass ich den kantischen Text in die Nähe der hegelschen Philosophie rücken möchte. Letztere spielt im vorliegenden Projekt eine ganz ähnliche Rolle wie die aristotelische Metaphysik oder Sartres phänomenologische Ontologie: Ich verwende hochselektiv einige Einsichten und Überlegungen der genannten Autoren, um begriffliche Ressourcen und argumentative Potentiale des kantischen Textes auf eine Weise freilegen zu können, die mit Kants Selbstverständnis sicherlich nicht immer im Einklang steht. Die sich vielleicht aufdrängende Vermutung, dass es stattdessen fruchtbarer sei, sich gleich der hegelschen Philosophie zuzuwenden, um die Frage nach der Einheit und Differenz von Autonomie und Willkür zu adressieren, ergibt für das vorliegende Vorhaben daher wenig Sinn. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Unterscheidung von Spontaneität und Rezeptivität, die von systematischer Bedeutung für die hier zu entwickelnde Argumentation ist, bei Hegel eine eher untergeordnete Rolle spielt.
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dem Vermögen zu Gefühlen der Lust und Unlust.³⁵ Diese Vermögen beschreiben einerseits die Art und Weise, in der Kant von endlicher Subjektivität spricht: Subjekte sind „Träger“ von Vermögen, sofern sie spezifische Akte des Vorstellens vollziehen (wie etwa Vorstellungen der Erkenntnis, des Begehrens und der Lust oder Unlust), die durch diese Vermögen erklärt werden können. Sie beschreiben aber auch andererseits die Art und Weise, in der Geltungsprinzipien eine Wirklichkeit im Subjekt besitzen: Sie sind dasjenige, was endliche Subjekte dazu befähigt, aus Erfahrung Erkenntnisse zu erlangen, „allgemein mitteilbare“ (ästhetische) Gefühle zu artikulieren und auf autonome Weise zu handeln. Das bedeutet also, dass bei Kant die Begriffe des kategorischen Imperativs, der transzendentalen Einheit der Apperzeption, der reinen Kategorien des Verstandes oder des Prinzips der natürlichen Zweckmäßigkeit allesamt eine vermögenstheoretische Dimension besitzen. Wenn wir klären wollen, inwiefern das Gesetz der Autonomie mit der Wirklichkeit der Freiheit eines endlichen Subjekts zusammenhängt, müssen wir somit klären, wie das Verhältnis zwischen Gesetz und Begehrungsvermögen zu verstehen ist. Das erfordert aber wiederum ein genaues Verständnis dessen, was es heißen kann, im Kontext von Kants Transzendentalphilosophie überhaupt von subjektiven Vermögen zu sprechen. Was haben wir uns unter einem Vermögen im kantischen Sinne vorzustellen? Was bedeutet es, den Willen oder die Willkür als ein Vermögen anzusprechen? Wie wissen wir von unseren Vermögen? Und was soll es heißen, dass das moralische Gesetz oder die Einheit der Apperzeption ein Vermögen ist? Die besondere Schwierigkeit, der wir hier begegnen, liegt in dem Umstand, dass Kant diese Fragen niemals explizit gestellt (geschweige denn beantwortet) hat. Um aber das Problem der Einheit und Differenz von Gesetz und endlicher Subjektivität adressieren zu können, sind wir auf eine Beantwortung dieser Fragen angewiesen. Daher werde ich dieses Buch mit einem Ausflug in Kants theoretische Philosophie beginnen. Ich werde versuchen, einen Vorschlag zu formulieren, wie wir Kants vermögenstheoretischen Ansatz systematisch rekonstruieren können. Weil diese Dimension seiner Transzendentalphilosophie besonders viel Kritik hervorgerufen hat, besteht die Ambition dieses Ausflugs darin, einen transzendentalen Begriff von Vorstellungsvermögen zu entwickeln, der Kants Gebrauch des Vermögensvokabulars gegen seine Kritiker*innen verteidigen kann. Sofern Kant aber die methodischen Grundlagen dieses Gebrauchs nirgendwo ausgeführt hat, wird dieser Abschnitt einen größeren Raum in dieser Arbeit einnehmen müssen. Ich werde deshalb nicht direkt mit einer Deutung des Verhältnisses zwischen dem Gesetz der Autonomie und der Wirklichkeit der Freiheit eines endlichen Willens einsteigen, sondern mich zunächst der Frage widmen, wie sich ein Begriff des menschlichen „Begehrungsvermögens“ einführen lässt, auf dessen Basis sowohl die Differenz als auch die Einheit von normativen Prinzipien und endlichem Subjekt verständlich wird. Erst danach werde ich
Natürlich ist die zweite Kritik nicht dem Begehrungsvermögen als solchem gewidmet; es geht aber um eine Kritik der praktischen Vernunft im Sinne des „oberen Begehrungsvermögens“.
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mich Kants praktischer Philosophie und der Frage zuwenden, inwiefern diese vermögenstheoretische Betrachtung es erlaubt, die Einheit und Differenz von Autonomie und Willkür angemessen zu fassen. 5. Die vorliegende Untersuchung versammelt Studien, die einzelne Schritte des gerade umrissenen Programms systematisch ausführen, ohne dabei den Anspruch einer vollständigen Durchführung zu erheben. Sie gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil gilt dem Versuch, die vermögenstheoretischen Grundlagen von Kants kritischer Philosophie näher zu erläutern. Der Grundgedanke, für den ich in den ersten beiden Kapiteln argumentieren werde, lautet, dass die besondere Leistung von Kants Vermögensbegriff darin besteht, Geltungsprinzipien zugleich als Realisierungsprinzipien auszuweisen. Sofern die Aufgabe darin besteht, Vorstellungsvermögen als „Sitz“ von apriorischen Geltungsprinzipien zu verstehen, die endliche Subjekte dazu befähigt, durch Bezug auf sinnliche Erfahrungen Erkenntnisse zu gewinnen oder moralische Handlungen in der „sinnlichen Welt“ zu realisieren, müssen wir annehmen, dass unsere Vorstellungsvermögen zwei Dimensionen besitzen: eine empirische und eine intelligible Dimension. Um diese beiden Dimensionen, die Kant auch mit Bezug auf die Unterscheidung von „Spontaneität“ und „Rezeptivität“ anspricht, als zwei Aspekte eines Vermögens begreifen zu können, geht Kant davon aus, dass ihre Einheit in der intelligiblen Dimension selbst, d. h. in der jeweiligen Spontaneität liegt. Das besagt genauer, dass für Kant die interne Differenzierung eines Vorstellungsvermögens (in ein intelligibles und ein empirisches Vermögen) im intelligiblen Teil reflektiert sein muss, und zwar im Sinne einer internen Differenzierung der Spontaneität. Für den Fall des Erkenntnisvermögens bedeutet dies, das wir neben der Spontaneität des Verstandes auch eine Spontaneität der Einbildungskraft einführen müssen. Mit Blick auf das Begehrungsvermögen unterscheidet Kant dementsprechend zwischen dem Willen im Sinne der „absoluten Spontaneität“ der praktischen Vernunft und der „absoluten Spontaneität der Willkür“. Um diese Dopplung der Spontaneität genauer zu fassen, scheint mir Kants Unterscheidung zwischen Vermögen und Kraft, die er in seinen vorkritischen Metaphysikvorlesungen entwickelt hat, besonders geeignet: Die Begriffe der Einbildungskraft und der Willkür beschreiben „Kräfte“ in dem Sinne, dass allein auf ihrer Basis denkbar wird, normative Prinzipien der Erkenntnis und der Moral im Sinnlichen zu realisieren (resp. mit Blick auf das Sinnliche zu aktualisieren). Das dritte Kapitel entwickelt eine Argumentationsskizze, die diese Einsicht im Hinblick auf die Rolle der Einbildungskraft in Kants Theorie der Erfahrung nachzeichnet. In Kants Betrachtungen zur Willkür und zur Einbildungskraft wird aber auch deutlich, dass die Art und Weise, in der normative Prinzipien zugleich „Kräfte“ sind, sich von der Art und Weise unterscheidet, in der diese Prinzipien in der Vernunft und im Verstand zur Anwendung kommen. In dieser Unterscheidung können wir das Spannungspotential ermessen, das innerhalb der theoretischen Spontaneität der Erkenntnis und innerhalb der praktischen Spontaneität des Willens insistiert. Dieses Spannungspotential in Hinsicht auf die Einheit und die Differenz von Wille und
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Willkür zu untersuchen, beschreibt die Aufgabe des zweiten Teils dieser Arbeit, das – wie der erste Teil – drei Kapitel umfasst. Das vierte Kapitel widmet sich einer Lektüre der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, in der Kant das Verhältnis von Gesetz und Begehrungsvermögen erörtert und die Unterscheidung zwischen Wille und Willkür einführt. Das Anliegen, das ich dabei verfolgen werde, besteht in erster Linie darin, die inhärente Komplexität und Problematik herauszuarbeiten, die in dieser Unterscheidung liegt. Ich möchte einerseits zeigen, dass Kants Unterscheidung von Wille und Willkür tatsächlich darauf hinausläuft, zwischen zwei Formen zu unterscheiden, in denen Wille und Willkür eine Einheit bilden. Andererseits versuche ich zu demonstrieren, dass das Verhältnis zwischen diesen beiden Formen der Einheit einer „Selbstentzweiung“ der Spontaneität des Begehrens gleichkommt. Die Möglichkeit einer Überwindung dieser Selbstentzweiung – und mithin die Möglichkeit der subjektiven Wirklichkeit der Autonomie – lässt sich in dem Maße denken, so mein Vorschlag, wie wir die besondere Schwierigkeit näher betrachten, die mit der Struktur des Begehrungsvermögens vorliegt: Es ist durch eine empirische Relation der Kausalität definiert, die zugleich eine Angewiesenheit auf rezeptive Triebfedern beinhaltet. Die Schwierigkeit besteht auf der einen Seite darin, die freie Willkür als eine Realisierung des reinen Willens der praktischen Vernunft zu verstehen, wenn sie in ihrer Realisierung zugleich von Triebfedern der Rezeptivität existenziell bedingt bleibt. Die andere Seite der Schwierigkeit besteht darin, die reine Vernunft und ihr Gesetz selbst als eine „für sich selbst praktische“ Form des Begehrens zu verstehen, wenn sie nicht auf die empirischen Bedingungen bezogen ist, die die Realisierung des Begehrungsvermögens konstitutiv bestimmen. Die Kontur einer Lösung für das Problem der Selbstentzweiung lässt sich gewinnen, so mein Argument im Anschluss, wenn wir die Art und Weise, in der die Willkür intern auf den Willen und der reine Wille intern auf die Willkür bezogen ist, im Licht jener Schwierigkeiten neu beschreiben: Einerseits müssen wir verstehen, wie der reine Wille in der Lage ist, die praktische Rezeptivität der Willkür zu transformieren; und andererseits bedarf es einer Erläuterung, wie die Willkür auf dieser Grundlage ihre eigene Spontaneität derart erweitern kann, dass sie zu einer Realisierung des reinen Willens fähig wird. Um diese beiden Momente einer Überwindung der Selbstentzweiung des Begehrungsvermögens zu entwickeln, werde ich im fünften Kapitel zunächst den vermögenstheoretischen Rahmen der bisherigen Argumentation um eine zugleich phänomenologische und ontologische Theorie des Selbstbewusstseins ergänzen und das Verhältnis von Wille und Willkür im Sinne von zwei Formen des praktischen Selbstbewusstseins deuten. Kant charakterisiert den Willen so, dass er sich reflexiv auf die Willkür bezieht. Das bedeutet, dass wir es einerseits mit dem Selbstbewusstsein der praktischen Vernunft zu tun haben, das als Reflexion des Selbstbewusstseins der Willkür anderseits bestimmt ist. Mein Vorschlag lautet, dass eine Neudeutung von Aspekten aus Kants Theorie der Autonomie innerhalb des Rahmens von Sartres Phänomenologie des Selbstbewusstseins dazu in der Lage ist, dieses Verhältnis der Reflexion genauer zu fassen, nämlich als Verhältnis zwischen einem reflexiven und
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einem „präreflexiven“ Selbstbewusstsein. Ich werde im Verlauf dieses Kapitels für vier Thesen argumentieren: Erstens können wir die Freiheit der Negativität, auf der die Willkür basiert, dadurch einführen, dass wir sie mit Sartre in der ontologischen Struktur des präreflexiven Selbstbewusstseins verankern. Das reflexive Selbstbewusstsein des reinen Willens lässt sich dann zweitens so begreifen, dass es eine transzendentale Funktion besitzt: Es ist die Bedingung der Möglichkeit, dass das Subjekt sich auf seine eigene Freiheit der Negativität so beziehen kann, dass sie zum Gegenstand einer objektiven Bestimmung wird – es erkennt sich als „Person“. Wenn aber die objektive Bestimmbarkeit der eigenen Freiheit allein durch das Gesetz der praktischen Vernunft denkbar wird, dann können wir drittens mit Sartre zeigen, dass dieser reflexive Bezug auf die Objektivität der eigenen Person ein Selbstverhältnis der Willkür voraussetzt, in dem sich das endliche Subjekt unmittelbar als Objekt des „Blicks“ von anderen weiß. Dies ermöglicht uns dann viertens eine andere Perspektive auf die Überwindung der Selbstentzweiung des menschlichen Begehrungsvermögens: Um einsehen zu können, wie die reflexive Aktualisierung der Vorstellung des Gesetzes mit einer präreflexiven Aktualisierung im Selbstbewusstsein der Willkür zusammenfallen kann, müssen wir neben Sartres Konzeption des „Für-Andere-seins“, durch das sich das Subjekt im „Blick“ der anderen gegenständlich wird, noch ein zweites neues Theorem in Kants Theorie der Freiheit einführen – nämlich den Gedanken einer transzendentalen praktischen Einbildungskraft im Sinne eines Schematismus des Gesetzes der Freiheit. Auf diese Weise sind wir in der Lage, besser zu verstehen, wie die Empfänglichkeit der Willkür für objektive Bestimmungen des reinen Willens gedacht werden kann: Die genuine Leistung der reinen praktischen Einbildungskraft besteht darin, die Perspektive des reinen Willens unmittelbar im präreflexiven Bewusstsein von der eigenen objektiven Bestimmbarkeit zur Geltung zu bringen, das im Bewusstsein des „Angeblicktwerdens“ liegt. Im sechsten Kapitel wird es darum gehen, jenen zweiten Aspekt einzuführen, der für eine Überwindung der Selbstentzweiung des Begehrens kennzeichnend ist: Die Transformation der praktischen Rezeptivität durch das Gesetz (im Sinne einer „Schematisierung“ des Blicks der Anderen) hat eine befähigende Wirkung auf das endliche Subjekt, sofern diesem dadurch die Möglichkeit eines neuen praktischen Selbstbewusstseins – einer transformierten Gestalt seiner Spontaneität – erschlossen wird: Es entdeckt in sich die Fähigkeit zu dem Akt, das Gesetz der Vernunft in das Gesetz seines eigenen endlichen und besonderen Willens zu verwandeln. Dieser Gedanke wird im letzten Kapitel dieser Studie auf eine explorative und exemplarische Weise entwickelt, und zwar im Rahmen einer Lektüre der sophokleischen Antigone, mit der ich diese Einleitung begonnen hatte. Indem ich die bisher entwickelte Rekonstruktion von Kants Konzeption eines freien Begehrungsvermögen in eine kritische Konstellation mit der antiken Tragödie bringe, möchte ich demonstrieren, dass uns die Antigone einen aufschlussreichen Einblick in die Struktur der menschlichen Autonomie und in das Verhältnis von Wille und Willkür vermitteln kann: Sie macht uns dieses Verhältnis im Sinne einer konstitutiv zweideutigen Struktur einsichtig. Ich werde untersuchen, wie die Spannung von Wille und Willkür in der Tragödie ver-
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handelt und auf welche Weise die Entzweiung des menschlichen Begehrungsvermögens dabei exponiert wird. Die Antigone lässt sich in diesem Zusammenhang als eine bestimmte Figur der Überwindung dieser Entzweiung interpretieren: Sie steht für ein autonomes Begehren, das die beiden entgegengesetzten Formen der Einheit von Wille und Willkür integriert, die im vierten Kapitel thematisch waren. Die These lautet dabei, dass die Figur der Antigone diese Integration und mit ihr die Form des autonomen Begehrens als eine inhärent zweideutige verkörpert.
Teil 1: Prinzip und Kraft
1 Geltung und Verwirklichung: Kants transzendentaler Begriff von Vorstellungsvermögen Das Problem, das im Zentrum dieser Arbeit steht, bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen den normativen und nicht-normativen – den „objektiven“ und „subjektiven“ – Aspekten eines freien Willens. Der Grundgedanke von Kants Konzeption der Autonomie lautet, dass die Quelle des Guten (das „moralische Gesetz“) zugleich als die Quelle der Freiheit des Willens aufzufassen sei. Die Überzeugung, die darin zum Ausdruck kommt, besagt genauer, dass der Grund der praktischen Normativität gleichzeitig den Grund der Wirklichkeit der Freiheit eines endlichen Willens beschreibt. In der Vorrede zur zweiten Kritik macht Kant deutlich, dass es nicht bloß darum geht, das Prinzip der reinen praktischen Vernunft einzuführen und zu rechtfertigen, sondern vor allem um den Nachweis, „daß es reine praktische Vernunft gebe“ (KpV 5:3). Sofern es eine reine Vernunft gibt, die „wirklich praktisch ist“ (d. h. die das Handeln von menschlichen Subjekten effektiv bestimmen kann), steht damit „auch die transzendentale Freiheit nunmehr fest“ (KpV 5:3). Kant verbindet demnach die geltungstheoretische Einsicht, dass das moralische Gesetz die Gelingensbedingung des Wollens und Handelns darstellt, mit der ontologischen oder metaphysischen These, dass diese Bedingung auch die Bedingung der Wirklichkeit eines freien Willens ausmacht (insofern sie diese „positiv“ bestimmt). Diese Verbindung hat man noch nicht nachgewiesen, wenn man die universale Geltung des praktischen Prinzips begründet hat. Dazu bedarf es vielmehr einer Theorie, die den Grund der Normativität im Rahmen einer Konzeption der Wirklichkeit eines Willens zur Geltung bringen kann, und zwar als einen solchen Grund, der diese Wirklichkeit als eine Wirklichkeit der Freiheit verständlich macht. Verfügt Kants kritische Philosophie über eine solche Konzeption der Wirklichkeit des Willens? Natürlich. Sie drückt sich in dem Vermögensvokabular aus, das in seinen kritischen Schriften allgegenwärtig ist. Dass das praktische Gesetz für die Wirklichkeit der Freiheit konstitutiv ist, besagt für Kant, dass es ein „praktisches Vermögen“ ist (KpV 5:3). Der Vermögensbegriff indiziert demnach, dass die reine praktische Vernunft, die durch ein apriorisches Prinzip definiert ist, die Wirklichkeit eines Willens insofern bestimmt, als sie die subjektive Wirklichkeit eines Vermögens hat. Um zu zeigen, inwiefern ein reines Prinzip der Vernunft ein praktisches Vermögen sein kann (d. h. ein solches, welches in Handlungen verwirklicht wird), ist somit eine genaue Bestimmung des Verhältnisses und der Einheit von praktischem Gesetz und subjektivem Handlungsvermögen erforderlich. Eben diese Relation ist Gegenstand des ersten Abschnitts der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, das von „dem Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen“ handelt (MS 6:211) und die Unterscheidung zwischen Wille und Willkür einführt. Obgleich Kant hier also ankündigt, die „Sittengesetze“, die sich aus der Anwendung des moralischen Gesetzes https://doi.org/10.1515/9783110669381-003
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ergeben, in Relation zu den menschlichen „Gemütsvermögen“ zu untersuchen, steht in diesem Abschnitt tatsächlich das Handlungsvermögen im Vordergrund, das Kant als „Begehrungsvermögen“ bezeichnet: das „Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (MS 6:211). Das bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Gemütsvermögen hier keine Rolle spielen. Im Gegenteil ist es so, dass wir das Verhältnis von Gesetz und Begehren nur in dem Maße verstehen, wie wir die anderen Gemütsvermögen miteinbeziehen. In der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft behauptet Kant, dass „alle Seelenvermögen“ auf „drei zurückgeführt werden können, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, und das Begehrungsvermögen“ (KU 5:177). Um die Einheit von Gesetz und Begehren, von reiner praktischer Vernunft und subjektivem Handlungsvermögen zu bestimmen, bedarf es somit zugleich einer Bestimmung des Verhältnisses von Erkenntnis, Gefühl und Begehren. Obgleich das Vermögensvokabular im Rahmen der Transzendentalphilosophie ubiquitär ist, hat sich Kant über dessen methodischen Status weitgehend ausgeschwiegen. Es hat den Anschein, als würde Kant davon ausgehen, dass die Vermögensbegriffe, die er im Kontext seiner kritischen Schriften verwendet, unproblematisch seien.³⁶ Das zeigt sich bereits daran, dass er in die Einleitung in die Metaphysik der Sitten unmittelbar mit der Definition des Begehrungsvermögens einsteigt, ohne sie eigens zu rechtfertigen oder auch nur zu erläutern. Für ein angemessenes Verständnis des Verhältnisses zwischen dem praktischen Prinzip und dem subjektiven Begehrungsvermögen ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, sich die konzeptionellen Voraussetzungen dieser Definition zu vergegenwärtigen. Darin besteht die Aufgabe des ersten Teils dieser Arbeit. Es geht im Kern um den Versuch, nur einen einzigen Satz genauer zu verstehen – nämlich den ersten Satz, in dem Kant das Begehrungsvermögen definiert und mit dem die Metaphysik der Sitten beginnt. Da ein solches Verständnis kaum zu erreichen ist, ohne den Status von Kants Vermögensbegriff zu klären, werde ich zunächst versuchen, meine Deutung des vermögenstheoretischen Ansatzes zu skizzieren, der für Kants kritische Philosophie charakteristisch ist. Der erste Teil verfolgt somit das Ziel, einen Vorschlag zu präsentieren, wie sich ein transzendentalphilosophischer Begriff des Vermögens systematisch einführen ließe. Dies entspricht, wenn man so will, einer Übung in Kant-Scholastik – einer solchen jedoch, die einem Teil seiner Theorie gewidmet ist, den er so nie geschrieben hat. Bei dem Versuch einer systematischen Rekonstruktion der vermögenstheoretischen Grundlagen von Kants Transzendentalphilosophie wird es daher zugleich darum gehen, den
Dass dem nicht so ist, lässt sich an der Kritik ablesen, der Kants Gebrauch von Vermögensbegriffen von Hegel und Nietzsche bis zu Strawson und Rorty ausgesetzt war. Der Einwand lautet stets, dass diese Begriffe nichts zur Begründung von metaphysischen, logischen oder epistemologischen Thesen beitragen können. Ich werde im Abschnitt 1.1. auf diese Kritik eingehen.
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Interpretationsansatz darzustellen, den ich beim Zugriff auf Kants Texte verfolgen will.³⁷ Kants Formulierung des Begehrungsvermögens enthält bereits einen wichtigen Hinweis, wie dieser Begriff philosophisch eingeführt werden kann. Indem er das Begehrungsvermögen „als Vermögen“ definiert, „durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“, bindet er es sehr eng an den Begriff der Vorstellung. Dieser Zug ist für das methodische Verfahren des ersten Abschnitts der Einleitung in die Metaphysik der Sitten von entscheidender Bedeutung: Kant geht so vor, dass er auf der Basis von besonderen Arten von Vorstellung besondere Formen des Begehrens einführt und voneinander unterscheidet. Indem er also sukzessive zu immer spezifischeren und anspruchsvolleren Begriffen der Vorstellung voranschreitet, gelangt er sukzessive zu immer spezifischeren und anspruchsvolleren Begriffen des Begehrens.³⁸ Dieses methodische Prinzip, auf der Basis von Vorstellungsbegriffen verschiedene Begriffe des Vermögens einzuführen, charakterisiert nicht bloß Kants Vorgehen im Fall des Begehrungsvermögens, sondern seine Bestimmung aller fundamentalen Vermögen des „menschlichen Gemüts“. Dies ergibt sich bereits daraus, dass Kant das Gemüt als „Inbegriff aller Vorstellungen“ begreift,³⁹ d. h. er verwendet diesen Terminus, um das vorstellende Subjekt als denjenigen „Ort“ anzusprechen, der alle Vorstellungen umfasst⁴⁰ resp. allen Vorstellungen zugrunde liegt.⁴¹ Akte des Gemüts sind infolgedessen Akte des Vorstellens. Entsprechend wird die Weise, in der das Gemüt seine Akte „enthält“ oder „umfasst“, durch den Begriff von Vorstel Ich werde mich dabei allerdings weniger an den Vermögensbegriffen orientieren, die sich bei Kants unmittelbaren historischen Vorgängern finden lassen (Leibniz, Baumgarten, Wolff, Crusius etc.). Ich werde vielmehr versuchen, Kants transzendentalphilosophische Verwendung des Vermögensbegriffs vor dem Hintergrund der philosophiehistorisch wirkungsmächtigsten und vielleicht auch überzeugendsten Konzeption von Vermögen zu erläutern, nämlich Aristoteles’ Diskussion der Unterscheidung von dynamis und energeia aus dem neunten Buch der Metaphysik. Zur Rekonstruktion von Kants Vermögensbegriff vor dem Hintergrund der deutschen Schulphilosophie des 17. und 18. Jh. vgl. Heßbrüggen-Walter 2004. Vgl. Engstrom 2010a, S. 39. So Kant in seinem Manuskript zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, das sich in der Universitätsbibliothek Rostock befindet. Vgl. dazu Brandt 1999, S. 96 f. Im „Manuskript H“ heißt es auf S. 399: „Das Gemüth (animus) des Menschen, als Inbegriff aller Vorstellungen, die in demselben Platz haben hat einen Umfang (sphaera) der die drei Grundstücke Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen befaßt deren jedes in zwey Abtheilungen dem Felde der Sinnlichkeit und der lntellectualität zerfällt.“ Im Grimmschen Wörterbuch wird die im späten 18. Jh. gängige Verwendung des Wortes „inbegriff“ so beschrieben: „das was innerhalb seiner etwas anderes begriffen, umschlossen hält, summa, complexio, comprehensio“ (Grimm/Grimm 1877, Sp. 2103 f.). So Khurana 2017, S 214. Dadurch, dass das Gemüt bei Kant als dasjenige gekennzeichnet wird, das alle Vorstellungen umfasst, werden letztere nicht weiter charakterisiert; vielmehr ist es so, dass das Gemüt durch den Vorstellungsbegriff bestimmt wird – als der Ort, an dem Vorstellungen statthaben. Diese Unbestimmtheit des Gemütsbegriffs ermöglicht es Kant, wie Franz Knappik im Kant-Lexikon schreibt, „den Bereich des Subjektiven und Mentalen zu bezeichnen, ohne sich auf spezifische psychologische oder metaphysische Annahmen festlegen zu müssen“ (Knappik 2015, S. 749).
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lungsvermögen qualifiziert. In dem Maße nun, wie Vermögen durch die Form ihrer Aktualisierung zu charakterisieren sind, müssen die Vermögen des Gemüts folglich durch die Formen der Vorstellung definiert werden, in denen sie sich verwirklichen. Aus diesem Grund lässt sich das Verfahren, das Kant bei der Bestimmung von Vermögensbegriffen leitet, zunächst so beschreiben, dass er anhand der grundlegenden Merkmale von Vorstellungen grundlegende „Gemütsvermögen“ definiert. Bevor ich mich einer Rekonstruktion der Argumentation in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten widme, werde ich also zunächst einen längeren Ausflug in Kants theoretische Philosophie unternehmen, um die Frage zu beantworten, wie dieses Verfahren, das der Gewinnung von Vermögensbegriffen zugrunde liegt, eigentlich zu verstehen und zu rechtfertigen ist. Ich will einen Vorschlag entwickeln, welche Überlegungen der systematischen Architektur der Vermögensbegriffe, die für Kants kritische Philosophie prägend sind, zugrunde liegen. Zwei Fragen werden dabei im Zentrum stehen: Welchen methodischen Status besitzen Kants Vermögensdefinitionen? Und wie können wir eine erste Idee davon gewinnen, wie Kant diese Definitionen im Einzelnen gewinnt?
1.1 Der transzendentale Begriff von Vermögen In der Literatur zu Kant ist es eine verbreitete Ansicht, dass sein extensiver Gebrauch von Vermögensbegriffen eine unglückliche Reminiszenz an das philosophiehistorische Umfeld seiner Zeit darstellt. Dieser Gebrauch sei, so die Auffassung, dem historischen Umstand geschuldet, dass Kant seine Theorie zunächst noch im Rahmen der nachleibnizschen deutschen Schulphilosophie sowie von Lockes Empirismus entwickelt hat; der Vermögensbegriff mit seinen psychologischen und metaphysischen Anmutungen sei der vielleicht offensichtlichste konzeptuelle Rückstand, der davon in seinem kritischen Werk übriggeblieben sei. Die Versuche, Kant deshalb strikt in einem epistemologischen Vokabular oder in den Termini einer logischen Semantik – d. h. aus einer rein geltungstheoretischen oder repräsentationstheoretischen Perspektive – zu rekonstruieren und dabei zum sogenannten vermögenspsychologischen Vokabular Abstand zu halten,⁴² ignorieren allerdings nicht nur die historische Tiefe, d. h. die lange philosophische Tradition, die sich auch in der deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts fortsetzt und die, was den Vermögensbegriff betrifft, bis zur aristotelischen Metaphysik zurückreicht. Sie ignorieren zugleich die eigentümliche Pointe, die sich in dieser Tradition bis hin zu Kant mit dem Vermögensbegriff verbindet. Der grundlegende Zug dieser Tradition bezüglich des Vermögensbegriffs besteht meiner Ansicht nach darin, die Grundkonzepte der Erkenntnistheorie (z. B. Begriff, Urteil, Schulbildend in dieser Hinsicht war natürlich Strawsons Rekonstruktion der ersten Kritik. Vgl. insbesondere Strawson 1966, S. 15 – 24, wo der methodische Vorsatz gerechtfertigt wird, die „two faces of the Critique“ voneinander zu trennen, d. h. Kants triftige analytische Argumentationen von der Phantasie einer transzendentalen Psychologie der Vermögen zu reinigen.
1.1 Der transzendentale Begriff von Vermögen
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Idee, Wahrnehmung, Kategorie etc.) oder der Moralphilosophie (Pflicht, das Gute, praktische Erkenntnis, der kategorische Imperativ etc.) über die Art und Weise ihres subjektiven Wirklichseins zu charakterisieren. Genau diese Funktion – die logische und normative Spezifikation von Vorstellungen mit dem Verständnis ihrer subjektiven Realität zu verbinden – erfüllt auch der Begriff des Vermögens im Rahmen von Kants transzendentalen Analysen: Vorstellungen sind jeweils Aktualisierungen eines subjektiven Vermögens. Es gibt sie nur als Korrelate von Vollzügen, deren logische Form und normatives Prinzip in den Vermögen liegt, die sie realisieren. Ideelle, begriffliche oder sinnliche Vorstellungen, die Kombination von Vorstellungen in Urteilen und die Kombination von Urteilen in Schlussfolgerungen sind für die transzendentale Analyse daher nicht nur mit Blick auf ihre logisch-semantischen Merkmale sowie ihre normativen Funktionen und Bedingungen von Belang; sie sind es auch hinsichtlich der Weise ihrer Existenz – und das bedeutet im besten aristotelischen Sinne, dass sie Korrelate von Tätigkeiten darstellen, die im Licht der Unterscheidung von Vermögen und Verwirklichung gedacht werden müssen. Was aber soll das heißen? Wäre eine transzendentale Analyse ohne Rückgriff auf Vermögensbegriffe etwa unvollständig? Wenn es richtig ist, dass Kant seine Vermögensbegriffe durch Rekurs auf die logischen Merkmale von Vorstellungen gewinnt, liegt dann nicht eher die Vermutung nahe, dass das eigentliche argumentative Gewicht von eben dieser logischen Analyse von Vorstellungen getragen wird – und weniger von der Untersuchung von Vorstellungsvermögen, wie immer wir diese genauer zu verstehen haben? Und birgt der Gebrauch des Vermögensvokabulars nicht vielmehr die Gefahr, die eigentlich transzendentalphilosophische Argumentation zu überlasten und in ein metaphysisches, psychologisches oder anthropologisches Register zu wechseln? Sofern Vermögensbegriffe eine Wirklichkeit menschlicher Subjekte beschreiben sollen, scheinen sie weniger die Geltungsbedingungen verständlich machen zu können, die wahre Erkenntnis, moralisches Handeln und ästhetische Erfahrung möglich machen; sie sind eher dazu angetan, die Entstehungsbedingungen zu benennen, durch die Erfahrungserkenntnisse, moralische Handlungen oder die Gefühle des Schönen und Erhabenen zustande kommen. Dieser Auffassung zufolge liefern Vermögensbegriffe allgemeine Beschreibungen von geistigen oder psychischen Operationen, die die Hervorbringung von Erfahrungen, Handlungen und Gefühlen auf kausale Weise erklären sollen: „a mechanistic account of the operations of our mind“ (Rorty 1979, S. 140). In dem Maße aber, wie sich der Vermögensbegriff auf kausale Erklärungen richtet, hat es den Anschein, dass er überhaupt keinen Beitrag für das epistemologische Vorhaben leisten kann, – nämlich die normativen Bedingungen objektiver Erkenntnis resp. die logisch-semantische Form der Gültigkeit von Erfahrungsurteilen zu klären. Das Idiom der Vermögenspsychologie deutet zudem auf eine Psychologisierung oder Naturalisierung⁴³ dessen hin, was die transzendentale Kritik an Geltungsbedingungen herausstellt. Wenn wir die Kategorien des Verstandes so
Vgl. Kitcher 1990, S. 18 – 21, sowie Allison 1996, S. 65 f.
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verstehen, dass sie eine Funktion unserer kognitiven mentalen Fähigkeiten darstellen – und mithin eine allgemeine Beschreibung der mentalen repräsentationalen Zustände enthalten, die in ihrem gemeinsamen Funktionieren das Zustandekommen von Erfahrungserkenntnissen erklären soll –, dann unterstellen wir eine Art von mentaler Realität, die „transzendental“ (und mithin weder empirisch noch metaphysisch) in dem Sinne ist, dass sie allein durch eine transzendentale Untersuchung von Geltungsprinzipien erklärt werden könnte. Diese Prinzipien würden dann so verstanden, dass sie sich auf die psychische Realität kognitiver Fähigkeiten beziehen, also allgemeine Aussagen über die mentale Ausstattung von erkenntnisfähigen Wesen begründen. Nach einer solchen Interpretation suggerierte das Idiom der Vermögenspsychologie, dass die eigentliche Referenz der transzendentalen Beschreibung von Geltungsbedingungen die natürliche und psychologische Beschaffenheit erkenntnisbegabter Wesen sei. Vor dem Hintergrund solcher Deutungen kann es scheinen, als belaste der Vermögensbegriff die transzendentale Argumentation mit einer „ontologischen“ Hypothek, die mit ihren eigenen Mitteln gar nicht einzulösen ist. Denn die transzendentale Beschreibung einer „mentalen“ Realität steht letztlich vor dem Problem, ihre Behauptungen entweder empirisch oder metaphysisch ausweisen zu müssen. Sowohl der metaphysische wie der empirische Zugriff würde jedoch das Niveau verfehlen, auf dem transzendentale Einsichten situiert sind und Geltung besitzen. Man würde die Fehler begehen, die Kant selbst wiederholt kritisiert – nämlich transzendentale Bestimmungen entweder mit metaphysischen oder mit empirischen zu verwechseln.⁴⁴ Man verfehlte, in anderen Worten, die kritische Differenz von Kants transzendentalem Idealismus, nämlich die Differenz zwischen (empirischen) Erscheinungen und (metaphysischen) Dingen an sich; und man missverstünde die Perspektive einer transzendentalen Analyse, die weder auf der Ebene von psychologischen Erscheinungen noch auf der Ebene metaphysischer Realitäten „der Seele“ operiert, sondern gerade einen Schritt zurücktritt und vielmehr die Geltungsbedingungen bestimmt, auf deren Basis Aussagen über metaphysische oder empirische Gegenstände überhaupt erst triftig sein können. Verstünde man also die Wirklichkeit von Vermögen als eine psychologische oder anthropologische, dann verlören transzendentale Aussagen ihre notwendige und universale Geltung – sie wären bloße Verallgemeinerungen empirischer Erkenntnisse; verstünde man umgekehrt die Wirklichkeit von Vermögen als eine metaphysische – als reale Eigenschaften eines Dinges an sich – dann würde schleierhaft, wie wir von ihrer Realität überhaupt wissen können (dafür scheint ein intellektueller Anschauungsbezug notwendig zu sein, über den wir allerdings mit Blick auf Dinge an sich grundsätzlich nicht verfügen). Die nun folgende Argumentation dient deshalb dem Nachweis, dass eine solche Deutung die Pointe von Kants Vermögensvokabular verfehlt. Den Schlüssel für ein angemessenes Verständnis derjenigen Vermögensbegriffe, die für das kritische Projekt
Vgl. etwa KrV A 341– 347 sowie A 260 – 262.
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von zentraler Bedeutung sind, liefert eine Passage, die sich – wie so oft bei Kant, wenn es um zentrale methodische Fragen bezüglich des Vermögensbegriffs geht – in einer Fußnote befindet.⁴⁵ Im dritten Abschnitt der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft fügt Kant an der Stelle, an der er die drei Grundvermögen des Gemüts (Erkenntnis, Begehren und Gefühl) einführt, folgende Anmerkung hinzu: Es ist von Nutzen: zu Begriffen, welche man als empirische Prinzipien braucht, wenn man Ursache hat zu vermuten, daß sie mit dem reinen Erkenntnisvermögen a priori in Verwandtschaft stehen, dieser Beziehung wegen eine transzendentale Definition zu versuchen: nämlich durch reine Kategorien, sofern diese allein schon den Unterschied des vorliegenden Begriffs von anderen hinreichend angeben. Man folgt hierin dem Beispiel des Mathematikers, der die empirischen Data seiner Aufgabe unbestimmt läßt und nur ihr Verhältnis in der reinen Synthesis derselben unter die Begriffe der reinen Arithmetik bringt und sich dadurch die Auflösung derselben verallgemeinert. (KU 5:177 Fn)
Kant behauptet demnach implizit, dass die Vermögensbestimmungen, die im kritischen Teil seiner Philosophie zur Anwendung kommen, einen transzendentalen Status besitzen: Sie sind „durch reine Kategorien“ definiert, wobei in diesen Definitionen, dem Beispiel des „Mathematikers“ folgend, von allen „empirischen Data“ abstrahiert wird. In einer ersten Annäherung können wir dies so deuten, dass der kritische Begriff von Vermögen mit Blick auf die konstitutiven Aspekte des Gegenstandsbezugs von Vorstellungen gebildet wird. Wir beziehen uns also dadurch, dass wir die Begriffe des Verstandes oder der Sinnlichkeit resp. des Erkenntnisvermögens oder des Begehrungsvermögens als transzendental auffassen, a priori auf den Gegenstandsbezug von Akten der Vorstellung, und zwar derart, dass dieser Gegenstandsbezug dabei in einer seiner jeweils konstitutiven Dimensionen (in den „Bedingungen seiner Möglichkeit“) thematisch wird. In der zitierten Passage aus der Kritik der Urteilskraft motiviert Kant den Versuch einer solchen „transzendentalen Definition“ von Vermögensbegriffen durch die „Vermutung“, dass „a priori“ eine „Verwandtschaft“ zwischen „dem reinen Erkenntnisvermögen“ und solchen Begriffen besteht, die uns – wahrscheinlich zunächst oder zumeist – als „empirische Prinzipien“ bekannt sind. Wie soll man diese Behauptung deuten? Kant geht zunächst davon aus, dass menschliche Subjekte ihre eigene Vorstellungstätigkeit erfahren und sogar beobachten können: Als Phänomene des „inneren Sinns“ haben sie den Status von „Erscheinungen“ – in denen sich „der Mensch“, so Kant, als ein Naturwesen bewusst ist und denen er mithin einen „empirischen Charakter“ zuschreibt. Versteht er sich als „eine der Naturursachen“ in der sinnlichen Welt, dann begreift er sich als Träger von „Kräften und Vermögen, die [er] in seinen Wirkungen äußert“ (KrV A 546). Die drei „Seelenvermögen“, auf die sich Kant in jener Passage aus der dritten Kritik bezieht – Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen, Gefühlsvermögen – haben in diesem Sinne den Status von „empirischen Prinzipien“, weil wir uns auf der Basis von solchen Prinzipien als „Ursache“ von Vorstellungs Vgl. etwa auch KpV 5:9 Fn.
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operationen verstehen können, zu denen wir einen empirischen Zugang haben. Haltungen des Wünschens oder Begehrens, die uns bei gewissen Vorstellungen (wie etwa bei der Tätigkeit der Phantasie) bewusst werden können, Akte der praktischen Überlegung oder des Wählens, die im Vollzug von Handlungen kulminieren, Akte der Vorstellung von Gegenständen, die Lust oder Unlust evozieren, oder Akte des Wahrnehmens und Denkens, durch die wir Gegenstände erkennen: Wir erklären uns diese Akte dadurch, dass wir sie als Äußerungen unserer Vermögen des Erkennens, Wollens und Fühlens verstehen. Letztere haben dabei den Status von empirischen Verallgemeinerungen: Dadurch, dass wir die verschiedenen Akte des Vorstellens in Hinsicht auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede analysieren, können wir sie klassifizierend unter verschiedene allgemeine Vermögensbegriffe bringen.⁴⁶ Kant unterscheidet von diesem empirischen Selbstbezug allerdings noch eine andere Art, in der menschliche Subjekte Wissen von ihren Vermögen haben: Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, anderenteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft. (KrV, A 546 f.)
Aufgrund „bloßer Apperzeption“, also allein auf der Basis des Selbstbewusstseins, das einem bestimmten Bereich unserer Vorstellungstätigkeit zugrunde liegt und dessen Einheit konstituiert, wissen wir demnach von den Vermögen der Vernunft und des Verstandes. Diese Vermögen schreiben wir uns nicht zu, weil wir ihre „Wirkungen“ in uns erfahren, sofern sie in unserem „inneren Sinn“ gegenständlich werden. Sie liegen vielmehr im „bloßen“ Bewusstsein, mit dem wir uns durch Vorstellungen auf Gegenstände beziehen. Sie enthalten demzufolge nicht mehr als ein „Bewußtsein der Regel seines Tuns und Lassens“ (Kant 1977, S. 427, Anm.).⁴⁷ Dadurch also, dass wir uns im Vorstellen auf selbstbewusste Weise von Regeln, Gesetzen oder Prinzipien leiten lassen, erkennen wir in uns „gewisse Vermögen“, die Kant (aufgrund des Umstands, dass sie sich nicht in unserem empirischen Selbstbezug zeigen) als „reine Erkenntnisvermögen“ bezeichnet. Kehren wir zurück zur Fußnote aus der Einleitung in die dritte Kritik: Kant behauptet, dass wir Grund zu der Annahme hätten, dass „a priori“ eine „Verwandtschaft“ zwischen „dem reinen Erkenntnisvermögen“ und jenen Vermögensbegriffen bestünde, die wir im Rahmen einer empirischen Psychologie oder Anthropologie verwenden. „[D]ieser Beziehung wegen“, so Kant weiter, erscheint eine „transzen Mit Blick auf den empirischen Gebrauch des Erkenntnisvermögens (im Gegensatz zum transzendentalen) vgl. KrV A 66 f. Die Stelle stammt aus der Rostocker Anthropologiehandschrift (Manuskript H), die ich nach dem Anmerkungsapparat in der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Ausgabe der Anthropologie im Rahmen der Werkausgabe zitiere.
1.1 Der transzendentale Begriff von Vermögen
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dentale Definition“ der Vermögensbegriffe sinnvoll. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht definiert Kant „Verwandtschaft“ als eine „Vereinigung aus der Abstammung des Mannigfaltigen von einem Grunde“ (Anthropologie 7:176). Die These, dass die empirischen Vermögen „mit dem reinen Erkenntnisvermögen a priori in Verwandtschaft stehen“, kann vor diesem Hintergrund auf zwei Weisen gelesen werden. Einerseits ist es möglich, die Rede von „dem reinen Erkenntnisvermögen“ so zu deuten, dass sie sich auf den reinen Verstand im engeren Sinne bezieht – im Sinne des „reinen“ Bewusstseins der Regeln, auf denen unsere Erfahrungserkenntnis a priori beruht. Die „Verwandtschaft“ bestünde dann darin, dass die empirischen Prinzipien des Erkennens, Begehrens und Fühlens auf den reinen Verstand als ihren gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Für diese Lesart spräche Kants Vorschlag, die zunächst als empirische Prinzipien bekannten Vermögen „durch reine Kategorien“, d. h. durch die Begriffe des reinen Verstandes, zu bestimmen. Es scheint jedoch nicht ohne Weiteres klar, wieso man gerade den reinen Verstand als denjenigen „Grund“ ansehen sollte, der die „Mannigfaltigkeit“ der empirischen Vermögensprinzipien im Sinne ihrer gemeinsamen Herkunft „a priori“ vereinigt – und zwar jenseits ihrer „transzendentalen Definition“ „durch reine Kategorien“, die durch diese Annahme allererst motiviert werden soll. Man könnte vielleicht argumentieren, dass die empirischen Vermögen insofern vom Verstand „abstammen“, als sie selbst unter Verstandesbegriffe fallen und diese – wie alle empirischen Begriffe – eine kategoriale Struktur aufweisen. Daraus ergibt sich jedoch kein anspruchsvoller Sinn von „Verwandtschaft“, der die Gegenstände dieser Begriffe, nämlich die Vermögen selbst, ihrer Herkunft nach auf den reinen Verstand beziehen würde. Der unmittelbare Kontext der Fußnote in der Kritik der Urteilskraft deutet auf eine andere Lesart hin, die vor allem die Bedeutung der Rede von „dem reinen Erkenntnisvermögen“ betrifft. Im dritten Abschnitt der Einleitung beschreibt Kant die Gesamtheit seines kritischen Projekts als eine „Kritik des reinen Erkenntnisvermögens“ (KU 5:176). Die Wendung von „dem reinen Erkenntnisvermögen“ lässt sich daher als Oberbegriff für all diejenigen „reinen“ Erkenntnisvermögen interpretieren, um die es in den drei Kritiken sowie in der fraglichen Passage in der Kritik der Urteilskraft explizit geht: die reine praktische Vernunft, die reine reflektierende Urteilskraft und der reine theoretische Verstand.⁴⁸ Auf dieser Basis wird es einfacher, eine „Ursache“ für die Vermutung einer „Verwandtschaft“ anzuführen: Die reinen Kategorien des Verstandes beziehen sich notwendig auf die Weise, wie uns Gegenstände in der Anschauung gegeben werden, weshalb sie auch aller Erfahrung zugrunde liegen müssen; das Gesetz der praktischen Vernunft bezieht sich notwendig auf die Weise, wie wir Handlungen in der empirischen Welt hervorbringen, weshalb es auch die Basis für unser Handlungs‐ oder Begehrungsvermögen bildet;⁴⁹ und das transzendentale Prinzip der natürlichen Zweckmäßigkeit, das Kant der reflektierenden Urteilskraft zuschreibt,
Alle drei Vermögen gehören, wie Kant schreibt, zur „Familie der Erkenntnisvermögen“ (KU 5:177). Dies führt Kant im direkten Anschluss an die Fußnote aus, vgl. KU 5:178.
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bezieht sich notwendig auf die Weise, in der wir Lust und Unlust anlässlich der Vorstellung besonderer Gegenstände empfinden.⁵⁰ In diesen Beschreibungen muss demnach die „Ursache“ liegen, die eine Verwandtschaft durch gemeinsame Abstammung zwischen den reinen Prinzipien unserer Erkenntnisvermögen und den Begriffen des Begehrungs-, Erkenntnis‐ und Gefühlsvermögens (welche wir zu Zwecken der empirischen Erklärung verwenden) verständlich macht: Schließlich beziehen sich jene Prinzipien bereits a priori auf die Aktualisierungen dieser Vermögen. Dennoch handelt es sich bei einer solchen „transzendentalen Affinität“⁵¹ nicht um eine Tatsache, sondern eher, wie Kant sich vorsichtig ausdrückt, um eine „Vermutung“ (KU 5:177 Fn). Denn wir verfügen über keine gegenständliche Erkenntnis hinsichtlich der Wirklichkeit eines gemeinsamen Grundes, mit Bezug auf den wir sagen dürften, die reinen Prinzipien seien mit den empirischen Erscheinungen unserer Vorstellungstätigkeit, die wir durch Vermögensbegriffe erklären, „vereinigt“. Sie bietet uns aber ein Motiv, diesen Grund auf transzendentale Weise zu rekonstruieren: Eine transzendentale Rekonstruktion von subjektiven Grundvermögen könnte verständlich machen, inwiefern die reinen Prinzipien (wie etwa das praktische Gesetz der reinen Vernunft) zusammen mit den zunächst nur auf empirische Weise bestimmten Vermögensbegriffen (wie etwa die beobachtbare Verknüpfung zwischen unserem Begehren und Gefühlen der Lust und Unlust) eine gemeinsame Grundlage haben, resp. inwiefern die reinen Prinzipien in den Zusammenhang eines Vermögens gehören. Wie können wir dies genauer verstehen? Inwiefern löst diese Interpretation der Argumentation die Probleme und Vorurteile auf, die sich aus dem Gebrauch des Vermögensvokabulars im Rahmen der transzendentalen Kritik ergeben können – die Vorurteile einer Psychologisierung und Naturalisierung des Transzendentalen einerseits, die mit der Realitätsunterstellung zusammenhängen, die der Gebrauch des Vermögensbegriffs mit sich bringt, und das Problem seiner methodischen Relevanz andererseits? Versuchen wir zunächst zu klären, inwiefern der Vermögensbegriff geeignet ist, jenen Grund der Einheit darzustellen. Eine solche Klärung können wir erreichen, wenn wir uns die begriffliche Pointe vergegenwärtigen, die der Vermögensbegriff im Allgemeinen besitzt. In einer ersten Annäherung und im Ausgang von Aristoteles können wir das philosophische Verständnis des Begriffs des Vermögens auf eine eher abstrakte und formale Weise folgendermaßen kennzeichnen: Die modalen Termini der dynamis (Möglichsein,Vermögen) und der energeia (Wirklichsein,Verwirklichung, Tätigkeit, aktuelles Funktionieren) sind logische Operatoren, die die Art modifizieren, in der ein Bewegungs- oder Tätigkeitsprädikat auf ein logisches Subjekt zutrifft.⁵² Eine Tätigkeit (z. B. Ballspielen) oder eine materielle Veränderung (z. B. chemische Dissoziation) können wir also einem Gegenstand (einem Kind oder einer Salzverbindung)
Siehe KU 5: 186 – 188. Vgl. KrV A 114. Vgl. dazu Jansen 2002, S. 24– 34.
1.1 Der transzendentale Begriff von Vermögen
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entweder „dem Vermögen nach“ oder „der Wirklichkeit nach“ zuschreiben. Im letzteren Fall beziehen wir uns auf einen aktuellen Vorgang (das Ballspielen eines Kindes, die elektrolytische Dissoziation eines Salzes in Wasser), während wir im ersteren Fall den Gegenstand so charakterisieren, dass er einen solchen Vorgang „der Möglichkeit nach“ enthält. Auf dieser Basis sind wir in der Lage, gewisse Eigenschaften dadurch, dass wir sie durch die Modalität der dynamis denken, einem Gegenstand im Sinne eines Vermögens oder einer Fähigkeit zu attribuieren. Aristoteles hat die Unterscheidung von dynamis und energeia im 9. Buch der Metaphysik eingeführt, um die Möglichkeit von Bewegung und Veränderung überhaupt erklären zu können: Denn nur dem Maße, wie wir zwischen potentiellen und aktuellen Wirklichkeiten unterscheiden, sind wir in der Lage zu verstehen, dass es im Wirklichen überhaupt Veränderung geben kann.⁵³ Der begriffliche Vorteil, den diese Differenzierung in Vermögen und Verwirklichung bietet, ist zunächst ein doppelter: Einerseits ist es möglich, mit dem Begriff des Vermögens auf eine Vielzahl von Vorgängen (und zwar Instanzen von Ballspielen oder Vorgängen der elektrolytischen Dissoziation) zu rekurrieren, ohne sie als aktuelle Prozesse ansprechen zu müssen. Das Vermögen markiert somit die Einheit der so angesprochenen Vorgänge, indem sie als Aktualisierungen eines Vermögens spezifiziert und erklärt werden können. Anderseits – und darin unterscheidet sich der Vermögensbegriff von der Allgemeinheit begrifflicher Vereinheitlichungen – kennzeichnet der Vermögensbegriff diese Einheitsbestimmungen in der Art ihrer Existenz: ⁵⁴ Ein Allgemeines (eine Form der Tätigkeit, eine Form der Bewegung oder eine Form des Erleidens von Veränderungen) wird dadurch, dass wir es als Vermögen ansprechen, in der Weise seines Wirklichseins beschrieben: als eine allgemeine Möglichkeit, die dadurch existiert, dass sie einem existierenden Ding oder Subjekt derart zukommt, dass es diese Möglichkeit (unter gewissen Umständen) realisieren,Wirklichkeit werden lassen kann. Wir können also eine bestimmte Tätigkeit oder einen Prozess auch dann zuschreiben, wenn sie oder er nicht aktuell stattfindet: Die Tätigkeit oder der Prozess existieren nicht nur als aktuell vollzogene oder geschehende, sondern auch als realisierbare Möglichkeiten. Als solche aber besitzen sie ein Dasein eigener Art, das im strengen Sinne weder rein als substantielles noch rein als akzidentielles verstanden werden darf (auch wenn wir Vermögen freilich als wesentliche oder akzidentielle Eigenschaften einer Entität beschreiben können). Denn einerseits bleibt die genuine Art ihres Wirklichseins von der Existenz der Gegenstände abhängig, denen wir sie zuschreiben: Vermögen existieren, insofern es einen Gegenstand gibt, der sie besitzt oder über sie verfügt. Andererseits aber macht dies aus ihnen keine akzidentielle Realität im strikten Sinne, eben weil sie, wenn man so will, das Bestehen respektive die Existenzweise von akzidentiellen Eigenschaften (Zuständen, Tätigkeiten, Merkmalen, Prozessen) jenseits ihrer akzidentiellen Aktualität beschreiben. Aus diesem
Vgl. Aristoteles 1991, IX 3. 1047a. Siehe Aristoteles 1991, IX 3. 1047a.
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Grund ist ihre Wirklichkeit sowohl von der Wirklichkeit von Substanzen als auch von der Wirklichkeit von Akzidenzen verschieden.⁵⁵ Allerdings wäre es auch nicht ganz korrekt, Vermögen deshalb als substantielle Eigenschaften einzustufen.⁵⁶ Denn die Zuschreibung von Vermögen artikuliert zuallererst den Nexus zwischen einer Substanz und ihren Akzidenzien. Vermögen bringen die spezifische Bezogenheit eines existierenden Gegenstands auf die besondere Tätigkeit oder den besonderen Prozess zum Ausdruck, die sie im Allgemeinen ausüben oder an sich erleiden (können):⁵⁷ Das Kind steht zur Tätigkeit des Ballspielens in der Relation des Vermögens – und zwar ganz gleich, ob es diese Tätigkeit aktuell vollzieht oder nicht. Wenn wir uns nun der Frage nach der Pointe eines transzendentalen Vermögensbegriffs zuwenden, so können wir im Hinblick auf die gerade gegebene Beschreibung bereits erahnen, worin seine Attraktivität für eine transzendentale Analyse bestehen könnte. Der Umstand, dass Vermögen die Wirklichkeit von Tätigkeiten, Prozessen oder Zuständen in ihrer Einheit und Allgemeinheit ansprechen, ohne dabei selbst den Status einer empirischen Aktualität in Anspruch nehmen zu müssen, eröffnet zunächst die logische Möglichkeit, bestimmte Vermögen (wie etwa Vorstellungsvermögen) als „Sitz“ von apriorischen Prinzipien ins Auge zu fassen. Und der Umstand, dass wir sowohl einen empirischen als auch einen apriorischen Zugang zu unseren Vorstellungsvermögen besitzen, eröffnet zudem die logische Möglichkeit, dieselben als Grund der Einheit von reinen Prinzipien und ihrer empirischen Realisierung zu betrachten. Ein derart verstandener Begriff von Vorstellungsvermögen könnte also genau diese Einheit verständlich machen. Verfolgen wir diesen Gedanken im Ausgang von unseren „reinen Erkenntnisvermögen“. Reine Prinzipien liegen im Selbstbewusstsein, mit dem wir gewisse Akte des Vorstellens vollziehen. Als solche beschreiben sie in einem eminenten Sinne Vermögen, weil sie die allgemeine Form (die apriorische Einheit) einer Vorstellungstätigkeit konstituieren: Sie sind exakt dasjenige, was uns zu wahrer Erkenntnis, gutem Handeln oder ästhetischem Wohlgefallen allererst befähigt, und zwar dadurch, dass
Aristoteles hat die Seinsweise von Vermögen nicht positiv bestimmt; sein Argument für die These, dass die dynamis eine genuine Art des Seins beschreibe, verfährt vielmehr negativ: als Nachweis, dass die Auffassung der sog. Megariker, die behaupten, dass dynamis auf energeia (das Möglichsein auf Wirklichkeit) reduzierbar sei, nicht haltbar ist.Vgl. Aristoteles 1991, IX 3. 1047a, sowie dazu Setton 2012, S. 20 – 28. Ein solches Verständnis als substantielle (dispositionale) Eigenschaften ist freilich nicht ausgeschlossen, aber auch nicht notwendig. Es bedarf eines weiteren Kriteriums, um zu entscheiden, ob es sich um eine ‚wesentliche‘ oder ‚akzidentielle‘ ‚Disposition‘ handelt. Entscheidend ist vielmehr zunächst, dass die grundsätzliche Pointe des Vermögensbegriffs nicht davon abhängt, ob Vermögen substantiell oder akzidentiell sind. Darüber hinaus besitzt die Charakterisierung von Vermögen als Eigenschaften einen begrifflichen Nachteil: Sie tendiert dazu, die eigentliche Pointe von Vermögensbegriffen zu verpassen, sofern letztere die Relation selbst beschreiben, die zwischen einer Substanz und ihren Eigenschaften besteht. Dies ist ein Punkt, den Kant selbst in seinen vorkritischen Metaphysik-Vorlesungen macht, vgl. etwa Metaphysik Herder 28:24, sowie Metaphysik v. Schön 28:511.
1.1 Der transzendentale Begriff von Vermögen
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sie die Möglichkeit von Gegenständen der Erfahrung überhaupt, die Möglichkeit eines guten Willens oder die Möglichkeit ästhetischer Erfahrung etablieren. Um die Verwirklichung dieser reinen Vermögen zu denken, müssen wir aber unterstellen, dass wir zugleich über eine Relation zu Gegenständen der sinnlichen Anschauung, zu Handlungen in der sinnlichen Welt oder zu unseren Lust- und Unlustgefühlen verfügen – d. h. über eine Fähigkeit, durch Vorstellungen einen empirischen Zugang zu wirklichen Gegenständen in der Welt zu haben, über eine Fähigkeit, durch Vorstellungen Handlungen in der sinnlichen Welt hervorzubringen, und über eine Fähigkeit, durch Vorstellungen Gefühle zu verursachen. Darin liegt also das Motiv, jeweils einen Grund der Einheit zwischen einem reinen Prinzip und seiner Realisierung im Sinnlichen anzunehmen. Nur in dem Maße, wie die reinen Prinzipien mit unserem empirischen Selbst- und Weltbezug einen Zusammenhang bilden, können wir davon ausgehen, dass die „Vernunftinteressen“, die die Prinzipien der Erkenntnis und Moral artikulieren, befriedigt werden können. Diese reinen Prinzipien formulieren schließlich konstitutive Gelingensbedingungen, und das bedeutet, dass sie nicht bloß Kriterien bereitstellen, die wir äußerlich an Erkenntnisse, Handlungen oder Urteile herantragen können, um zu prüfen, ob sie gerechtfertigt sind oder nicht. Sie artikulieren vielmehr genau diejenigen Bestimmungen, die Erkenntnisse, Handlungen oder ästhetische Erfahrungen zu dem machen, was sie sind, – die also ihre Wirklichkeit als Erkenntnis, Handlung oder Gefühl ausmachen. Eine normative Untersuchung des Erkennens und Handelns wäre daher unvollständig, ließe sie jenen Grund der Einheit unberücksichtigt, der Geltungsprinzipien zugleich als Realisierungsprinzipien ausweisen kann. Dementsprechend wäre es verfehlt, die Vermögensvokabel im Rahmen einer transzendentalen Kritik als methodisch irrelevant abzuwerten. Weil eine Analyse der Gelingensbedingungen praktischer und theoretischer Erkenntnisse einen Begriff von der Einheit der Geltungsprinzipien mit den Bedingungen ihrer sinnlichen Realisierung benötigt, bedarf die transzendentalphilosophische Untersuchung auch einer vermögenstheoretischen Dimension. Der Einwand, dass Vermögensbegriffe bestenfalls das Entstehen von Erfahrungen, Handlungen oder ästhetischen Gefühlen verständlich machen können, geht demnach an Kants transzendentalem Begriff von Vorstellungsvermögen vorbei. Sein Punkt aus der Fußnote der dritten Kritik lautet, dass Vermögensbestimmungen die Einheit von Geltungsprinzipien und Entstehungsbedingungen verständlich machen: Geltungsprinzipien verharren nicht im bloß Möglichen, sondern beschreiben zugleich Prinzipien der Verwirklichung; sie sind nicht bloß Gedankendinge oder logische Formen unseres Denkens, sondern die wirklichen Formen unserer Erfahrung, unserer Gefühle, unseres Wollens und Handelns. Die Pointe eines transzendentalen Begriffs vom Vorstellungsvermögen besteht deshalb darin, die Gelingensbedingungen des Wissens, Handelns und Urteilens in der Art ihres subjektiven Wirklichseins zu kennzeichnen – um deren Einheit mit dem empirischen und endlichen Subjekt aufzeigen zu können. Eine Transzendentalphilosophie in Rücksicht auf subjektive Wirklichkeit reflektiert demnach auf Geltungsbedingungen auch mit Blick auf die Weise, wie diese Bedin-
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1 Geltung und Verwirklichung
gungen selbst „Subjekt sind“, d. h. wie sie die Wirklichkeit endlicher Subjekte des Erkennens, Handelns und Urteilens bestimmen. Der Wirklichkeitsbegriff, der im Falle dieser Vermögenzuschreibungen im Spiel ist, stellt uns dabei keineswegs vor das konzeptuelle Problem, eine obskure intelligible Entität voraussetzen zu müssen. Bei transzendentalen Vermögensbegriffen handelt es sich vielmehr um die Kennzeichnung einer besonderen Art von Realität, die wir annehmen können, ohne auf metaphysische oder empirische Festlegungen angewiesen zu sein. Im aristotelischen Verständnis beschreiben Vermögen eine Wirklichkeit, die konstitutiv bezogen ist sowohl auf die Wirklichkeit ihrer „Träger“ als auch auf die Wirklichkeit der Prozesse oder Vollzüge, die erstere realisieren. Obgleich Vermögen eine Art der Wirklichkeit markieren, die von derjenigen ihrer Träger und Aktualisierungen unterschieden ist, bleiben sie dennoch von letzteren in zweifacher Weise abhängig:⁵⁸ Der Träger ist der Seinsgrund und die Aktualisierung der Erkenntnisgrund von Vermögen. Um zu der Annahme der Existenz von Vorstellungsvermögen berechtigt zu sein, müssen infolgedessen zwei Bedingungen erfüllt sein: die Wirklichkeit eines Subjekts einerseits, das als Träger eines Vermögens gelten kann, und die Wirklichkeit von Akten des Vorstellens anderseits, die wir einem Subjekt zuschreiben und auf deren Grundlage wir jene Vermögen allererst erkennen können. Zu beiden Wirklichkeiten haben wir nach Kant sowohl einen empirischen, als auch einen apriorischen Zugang. Die Wirklichkeit eines Subjekts, das seinen Vorstellungen zugrunde liegt, hat den Status einer Gewissheit, insofern sie im selbstbewussten Vollzug wie in der „Selbstwahrnehmung“ eigener Vorstellungen bereits impliziert ist. Dass diese Gewissheit von der Existenz eines vorstellenden Subjekts keinen substantiellen Gehalt hat (und auch keine metaphysischen Zuschreibungen rechtfertigt), sondern nicht mehr als den Gedanken eines unbestimmten Daseins enthält,⁵⁹ akzentuiert Kant dadurch, dass er das vorstellende Subjekt als „Gemüt“ anspricht, – d. h. zunächst weder als Seele noch als Geist oder Person verstanden wissen will. Alles, was das kritische Projekt an apriorischer Bestimmtheit benötigt, liegt dagegen in den Verhältnissen dieses Subjekts zu seinen Gegenständen, die durch Vorstellungen vermittelt sind, und das heißt in dessen Vorstellungsvermögen. Allerdings können Vermögen niemals direkt Gegenstand einer Erkenntnis werden, sondern sind allein durch ihre Aktualisierungen erschließbar:⁶⁰ Wenn wir wissen, dass ein Subjekt Vorstellungen einer bestimmten Art vollzieht, können wir davon ausgehen, dass es über eine entsprechende Fähigkeit verfügt, die sich in diesen Vorstellungen äußert.⁶¹ Da wir nun, so Kant, über einen zweifachen Zugang zu unseren Vorstellungen verfügen, besitzen wir somit auch einen zweifachen Begriff von Vorstellungsvermögen: Indem wir von der „inneren“ Wahrnehmung von Vorstellungen auf Vorstellungsvermögen schließen, die sich in jenen äußern, erscheinen sie uns einerseits als eine Art von empirischer
Vgl. Aristoteles 1991, IX 8. 1049b-1050a, sowie dazu Setton 2012, S. 28 – 34. Vgl. KrV B 419 f. Siehe Aristoteles 1995, II 4. 415a. Vgl. Land 2015, S 555.
1.2 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen
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Kausalität (und wir uns darin als „Naturursachen“); da wir aber von unseren Vorstellungen auch auf apriorische Weise wissen – nämlich auf der Basis des Selbstbewusstseins, das uns in der Reflexion als Bewusstsein von reinen Prinzipien verständlich wird, die gewissen Vorstellungen a priori zugrunde liegen – kennen wir Vorstellungsvermögen andererseits als „intelligible Gegenstände“. Folglich ist die Annahme der Existenz von Vorstellungsvermögen auch dann gerechtfertigt, wenn wir keine direkte Erkenntnis ihrer Wirklichkeit vorzuweisen haben. Die eigentümliche Leistung einer „transzendentalen Definition“ von Vorstellungsvermögen, für die Kant in jener Fußnote aus der dritten Kritik (KU 5:177) argumentiert, besteht nun darin, die zwei heterogenen Formen des Wissens von uns selbst in ihrem Zusammenhang denkbar werden zu lassen. Die Weise, in der unsere Aktivität des Vorstellens erfahrbar und beobachtbar ist, wird mit der Weise, wie wir a priori von Prinzipien des Vorstellens wissen, in die intern differenzierte Einheit eines Vermögens gestellt. Kurz: Unser Wissen von unserer eigenen Aktivität des Vorstellens hat seinen Grund in eben dem Vermögen, dessen Realisierung die so gewusste Aktivität ist; und das ist genau dann nicht zirkulär, wenn solches Wissen selbst intern mit dem Vorstellungsvermögen verknüpft ist.Weil reine Prinzipien einerseits bereits intern auf ihre empirische Realisierung bezogen sind und der Grund ihrer Einheit andererseits nicht aus dem empirischen Begriff von Vorstellungen gewonnen werden kann, lässt sich der Gedanke eines solchen Grundes allein durch eine „transzendentale Definition“ artikulieren: Auf der Basis reiner Kategorien können wir a priori die Möglichkeit dieses Grundes denken. Für eine Rechtfertigung der metaphysischen Behauptung, dass menschliche Wesen über so und so bestimmte Vermögen auch wirklich verfügen, reicht die transzendentale Konstruktion der Vorstellungsvermögen – als Bedingungen der Möglichkeit der Einheit von reinen und empirischen Prinzipien – nicht aus. (Dazu müssten wir auf eine empirische Erkenntnis verweisen können.) Deshalb spricht Kant auch von einer „Vermutung“ und keiner Tatsache. Die transzendentale Konstruktion ist jedoch hinreichend, um einen kritischen Gebrauch des Vermögensvokabulars zu rechtfertigen – denn der Gedanke eines Vorstellungsvermögens (im Sinne des Grundes der Einheit eines apriorischen Prinzips mit seiner empirischen Realisierung) ist bereits in dem Gedanken eines apriorischen Prinzips enthalten.
1.2 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen Die Vermögensbegriffe, die Kant im Rahmen der drei Kritiken in der Hauptsache verwendet, gehören demnach in den Bereich einer „transzendentalen Logik“: Sie sind „durch reine Kategorien“, unter Absehung von allen „sinnlichen Data“ definiert (KU 5:177 Fn) und tragen dazu bei, normative Prinzipien als konstitutive Prinzipien des Erkennens, Begehrens und Urteilens auszuweisen. Das ist die These dieser Interpretation.Wie ist sie näher zu verstehen? Was sollen wir uns unter einer Definition „durch reine Kategorien“ vorstellen? Wie werden Kategorien angewendet, um grundlegende
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Vorstellungsvermögen transzendental zu „definieren“? Inwiefern ist eine solche Verwendung von Kategorien gerechtfertigt? Und welche Kategorien sind in diesem Fall relevant? Wir sollten uns zunächst daran erinnern, dass die Merkmale von Vermögen, die ich bisher genannt hatte, bereits kategoriale Bestimmungen im kantischen Sinn enthalten: Vermögensbegriffe haben einen strikt relationalen Charakter, denn sie bezeichnen die Art, in der eine Entität auf gewisse Eigenschaften (eine Tätigkeit, eine Bewegung, einen Zustand etc.) unter dem Aspekt ihrer allgemeinen Möglichkeit bezogen ist. Dabei werden diese Eigenschaften zugleich so gedacht, dass sie entweder von der Entität (als ihre Tätigkeit) hervorgebracht oder (im Sinne einer Änderung ihres Zustands) erlitten werden. Mit Blick auf Kants „Tafel der Kategorien“ bedeutet dies, dass Vermögen durch die Relationskategorien der „Inhärenz“ und „Kausalität“ sowie durch die Modalitätskategorie der „Möglichkeit“ (KrV A 80) bestimmt sind: Sie beschreiben ein Verhältnis von „Substanz und Akzidenz“, d. h. ein Verhältnis der „Inhärenz“, des Innewohnens von Akzidenzen in einer Substanz, das zudem als ein Verhältnis der Verursachung oder des Bewirktseins gedacht wird. Verstehen wir diese beiden Verhältnisbestimmungen gemäß der Modalität der allgemeinen Möglichkeit, dann ergibt sich daraus der grundlegende Sinn von „Vermögen“. Wenn wir nun danach fragen, was es heißen könnte, eine „transzendentale Definition“ von Vorstellungsvermögen „durch reine Kategorien“ zu formulieren, dann scheint eine solche „Definition“ eine Anwendung der reinen Begriffe der Inhärenz, Kausalität und Möglichkeit auf den Begriff einer Vorstellung überhaupt zu sein. Lässt sich die Wahl dieser Kategorien näher plausibilisieren? Die Beantwortung dieser Frage vollzieht sich in zwei Schritten: In der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet Kant den Begriff des Vermögens (zumindest implizit) als einen reinen und zugleich von Kategorien abgeleiteten Begriff – als „Prädikabilie“; anhand einer kurzen Rekonstruktion von Kants Vorstellung von „Prädikabilien“ werden wir erstens die Bestätigung finden, dass es vor allem die bereits genannten Kategorien der Kausalität, Inhärenz und Möglichkeit sind, welche den Begriff von Vermögen wesentlich bestimmen. Kants Hinweis, dass diese Kategorien allesamt zu der Gruppe der „dynamischen“ Kategorien gehören, wird uns zweitens den Grund dafür liefern, weshalb sie für eine Bestimmung des Vermögensbegriffs einschlägig sind: Vermögensbegriffe leiten sich von den „dynamischen“ Kategorien ab, weil letztere mögliche Gegenstände a priori hinsichtlich ihrer „Existenz“ (KrV B 110) spezifizieren, d. h. mit Blick auf ihr Entstehen, Bestehen und Sich-Verändern. Zunächst zum ersten Punkt: Im Anschluss an die Exposition der „Tafel der Kategorien“ in der Kritik der reinen Vernunft bemerkt Kant nahezu beiläufig, dass sich aus den Kategorien noch weitere reine Begriffe gewinnen lassen, die er als „Prädikabilien des reinen Verstandes“ bezeichnet (KrV A 82): „Die Kategorien mit den modis der reinen Sinnlichkeit oder auch untereinander verbunden, geben eine große Menge abgeleiteter Begriffe a priori“ (KrV A 82), die wir wahrscheinlich nicht als Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständen der Erfahrung deuten sollten – diese Rolle gebührt allein den Kategorien als den „wahren Stammbegriffe[n] des reinen Ver-
1.2 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen
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standes“ (KrV A 81) –, die uns aber dennoch mit einer Fülle von Differenzierungs‐ und Spezifizierungsmöglichkeiten hinsichtlich der Gegenstände ausstatten, die wir auf der Basis der Kategorien erkennen und denken können. Prädikabilien ergeben sich Kant zufolge auf dreifache Weise: erstens durch eine Zergliederung einzelner Kategorien in ihre verschiedenen Aspekte; zweitens durch eine Verbindung von Kategorien (oder ihrer einzelnen Aspekte) „untereinander“ (ein Verfahren, das, wie wir sehen werden, die Prädikabilie des Vermögens kennzeichnet); und drittens durch eine Kombination von Kategorien mit den „modis der reinen Sinnlichkeit“, also entweder mit den Begriffen, die den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit korrespondieren, oder mit den reinen Schemata der Zeit (im Sinne von „transzendentalen Zeitbestimmungen“, KrV A 138). Der Begriff des Vermögens scheint nun bei Kant den Status einer solchen Prädikabilie zu besitzen: Er leitet sich von den „Stammbegriffen“ des Verstandes ab und ist durch eine bestimmte Kombination von Kategorien charakterisiert. Bei der Aufzählung derjenigen „reinen, aber abgeleiteten Begriffe“, die der Kategorie der Kausalität „untergeordnet“ sind, nennt Kant neben „Handlung“ und „Leiden“ auch den Begriff der „Kraft“ (KrV A 108). Wenn wir diesen Terminus so deuten können, dass er Kausalverhältnisse unter dem Aspekt der Wirkungskraft von Ursachen – d. h. eine Ursache in Hinsicht auf ihr Wirksamkeitspotential, ihre Kraft zur Verursachung einer Wirkung – beschreibt, dann liegt es nahe, den Kraftbegriff hier als Oberbegriff für eine semantische Familie zu verstehen, die u. a. auch die Begriffe der Fähigkeit und des Vermögens beinhaltet.⁶² Wenn man zusätzlich das Vokabular genauer betrachtet, das Kant in seinen vorkritischen Metaphysik-Vorlesungen bei der Diskussion des Vermögensbegriffs verwendet, dann ließe sich dafür argumentieren, dass zur apriorischen Bestimmung der „Prädikabilie“ des Vermögens neben der Kategorie der Kausalität auch das Kategorienpaar der „Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens)“ (KrV A 80) sowie die Modalkategorien der Möglichkeit und Wirklichkeit (des „Daseins“, KrV A 80) hinzugenommen werden müssten: Der Respectus einer Substanz zu den accidentibus in so fern sie den Grund davon enthält ist die caußalitaet, und so fern sie allgemeinen Grund von einer gewißen Art der Accidenzien enthält, ist Kraft. […] [D]ie Substanzen sind also selbst nicht respectus, sondern es kommt ihnen nur zu. (Metaphysik Volckmann, 28:431) Kraft drukt ein Verheltnis des Grundes zur Folge aus. […] [D]ies eben heißt die Kraft als Verhältnis einer Substanz als Grund zu gewißen Accidenzen. […] [A]llein die Kraft ist nicht selbst der Grund, enthelt ihn auch nicht einmahl, sondern ein bloßes Verhältnis, welches der Grund zu gewißen Folgen hat. (Metaphysik v. Schön 28:511) Kraft [heißt] […] der nexus eines Realgrundes mit der Realfolge. (Metaphysik Herder 28:24) Eine Substanz hat Vermögen, in so fern sie den Grund von der Möglichkeit eines Accidens in sich hält. (Metaphysik Herder 28:27)
Vgl. zu dieser Deutung auch Heßbrüggen-Walter 2004, S. 152.
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Kraft enthält den Grund der Wirklichkeit einer Handlung, Vermögen den Grund der Möglichkeit einer Handlung. (Metaphysik Mrongovius 29:824)⁶³
Die zentralen Begriffe, die Kant an diesen Stellen ins Feld führt, um die Termini der Kraft und des Vermögens zu bestimmen, sind also die Kategorien der Relation („caußalitaet“, „Realgrund“, „Realfolge“, „Substanz“, „Accidenzien“) und der Modalität („Möglichkeit“, „Wirklichkeit“). Demzufolge müssen wir Vermögen und Kräfte als relationale Begriffe deuten, weil sie in erster Linie „kausale“ Verhältnisse von Grund und Folge beschreiben, die zwischen Entitäten (Substanzen) und ihren Eigenschaften (Akzidenzen) bestehen – oder auch zwischen verschiedenen Entitäten und ihren jeweiligen Eigenschaften. Diese kausalen Relationen werden dabei entweder mit Blick auf ihre Realisierung (Kraft als „Grund der Wirklichkeit“) oder mit Blick auf ihre Allgemeinheit und Potentialität (Vermögen als „Grund der Möglichkeit“ oder als „das innre Princip der Möglichkeit einer Handlung“, Metaphysik v. Schön 28:515) gedacht. Die Unterscheidung von Kraft und Vermögen, die Kant in seinen Metaphysik-Vorlesungen einführt, werde ich zunächst nicht weiter kommentieren. Für den Kontext dieser Studie wird sie allerdings von systematischer Relevanz sein – denn sie ermöglicht uns eine aufschlussreiche Perspektive auf die Unterscheidung von Wille und Willkür aus der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, die weitreichende Folgen für die Interpretation von Kants Freiheitsverständnis hat. An dieser Stelle geht es nur um die Einsicht, dass nichts dagegen spricht, Kants implizite Charakterisierung des Vermögensbegriffs in der ersten Kritik – nämlich im Sinne einer „Prädikabilie“ – so zu deuten, dass sie in einer sachlichen Kontinuität zu der Art und Weise steht, in der er diesen Begriff in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Baumgarten und Wolff (nämlich in den Metaphysik-Vorlesungen) explizit ausformuliert: Der Begriff des Vermögens hat den Status eines aus „reinen Kategorien“ abgeleiteten Begriffs; und die Kategorien, aus denen sich dieser Begriff herleitet, sind die der Kausalität, Inhärenz, Möglichkeit und Wirklichkeit. Dass diese Kategorien der Relation und Modalität einschlägig für die grundsätzliche Anlage des Vermögensbegriffs sind – und weniger die Kategorien der Qualität und Quantität –, ergibt sich zudem aus Kants Unterscheidung von mathematischen und dynamischen Kategorien: „In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder mathematisch oder dynamisch: denn sie geht teils bloß auf die Anschauung, teil auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt“ (KrV A 160 f.). Kant verbindet diese Unterscheidung zwischen zwei Arten der Anwendung von Kategorien mit einer Unterteilung der Kategorien selbst: Die vier Klassen von reinen Verstandesbegriffen (Qualität, Quantität, Relation, Modalität) lassen sich „in zwei Abteilungen zerfällen […], deren erstere auf Gegen Mit Blick auf die zitierten Passagen aus der Metaphysik Herder und Metaphysik v. Schön liegt es nahe, diese Stelle so zu lesen: ‚Eine Substanz hat Kraft, insofern sie den Grund der Wirklichkeit einer Handlung enthält‘; und ‚eine Substanz hat Vermögen, insofern sie den Grund der Möglichkeit einer Handlung enthält‘.
1.2 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen
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stände der Anschauung (der reinen sowohl als empirischen), die zweite aber auf die Existenz der Gegenstände (entweder in Beziehung aufeinander oder auf den Verstand) gerichtet sind“ (KrV B 110). Der Grund für diese Unterteilung liegt in der ersten „Abteilung“: Die Kategorien der Quantität und Qualität werden charakteristischerweise auf eine „mathematische“ Weise angewandt, insofern ihre „Synthesis“ auf die innere Zusammensetzung, die Dekomposition und quantitative Zusammenfassung von Gegenständen in Raum und Zeit (d. h. mit Blick auf ihre raumzeitlichen Merkmale) zielt. Daher beschreibt Kant die „mathematischen“ Kategorien auch so, dass sie in ihrer Anwendung auf die „Anschauung“, d. h. auf deren reine Formen von Raum und Zeit fokussiert sind.⁶⁴ Demgegenüber sind die Kategorien der Relation und der Modalität dadurch gekennzeichnet, dass sie auf eine „dynamische“ Weise verwendet werden, insofern ihre „Synthesis“ mögliche Gegenstände der Erkenntnis hinsichtlich der Bestimmtheit ihrer „Existenz“ erschließt. Bei den „dynamischen“ Kategorien geht es also nicht um die raumzeitliche Zusammensetzung von Erscheinungen, um ihre Quantifizierbarkeit hinsichtlich ihrer raumzeitlichen Extension (sowie ihrer „intensiven“ Größe als Empfindungsqualitäten, KrV A 166), sondern vielmehr um eine apriorische Spezifikation derjenigen Verhältnisformen, durch die Gegenstände in ihrem „Dasein“ erkennbar werden (KrV B 201 Fn): in ihrem Bestehen (etwa als Akzidenz einer Substanz), in ihrer Entstehung (als Wirkung einer Ursache) oder in ihrer Veränderbarkeit (als Möglichkeit einer Wirklichkeit). Wenn wir nun den Gedanken eines Vermögens im Sinne einer „Prädikabilie“, d. h. als einen von Kategorien abgeleiteten reinen Verstandesbegriff, deuten sollen, dann leistet er offensichtlich einen Beitrag für die „dynamische“ Erschließung von Gegenständen – und weniger für die „mathematische“ Erschließung ihrer extensiven und intensiven Größe. Der Begriff des Vermögens spielt infolgedessen eine wichtige Rolle für die Erkenntnis der „Existenz“ von Gegenständen, insofern er Aspekte ihrer Wirklichkeit – in ihrem Bestehen, ihrer Entstehung und Veränderung – als Verwirklichung von allgemeinen Bestimmungen (Prinzipien oder Regeln) verständlich machen kann, die selbst den Status einer genuinen Form der Wirklichkeit (nämlich im Sinne einer realisierbaren Möglichkeit, die einer „Substanz“ inhäriert) besitzen und mithin nicht auf die erfahrbare Realität von Gegenständen reduzibel sind.
Kants Gebrauch der Begriffe „mathematisch“ und „dynamisch“ ist eher metaphorisch und sollte nicht suggerieren, dass der entsprechende Gebrauch der Kategorien zur Mathematik oder zur Dynamik (im Sinne einer Lehre von der Erklärung der Bewegung von Materie durch Kräfte, vgl. MAN 4:496 – 499) gehört. Um die beiden Grundmodi der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Erfahrung zu beschreiben, entlehnt Kant den Disziplinen der Mathematik und der Dynamik allein ihre abstrakte Zielsetzung: die Erkenntnis der raumzeitlichen Größe von Gegenständen einerseits und die Erkenntnis ihrer kausalen Existenz – „bloß das Dasein und ihr Verhältnis untereinander in Ansehung dieses Daseins (KrV A 220) – anderseits.Vgl. auch KrV A 221, wo Kant deutlich macht, dass die Benennung der kategorialen Synthesis als „mathematische“ oder „dynamische“ eher den Sinn hat, zu akzentuieren, unter welchen Bedingungen Mathematik und Dynamik „berechtigt“ sind, Erkenntnisse über Erscheinungen zu formulieren. Zur Interpretation von Kants Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Kategorien vgl. Bojanowski 2006, S. 121– 127.
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Wenn wir uns nun Kants Begriff von Vorstellungsvermögen zuwenden, so liegt es also nahe, ihre „transzendentale Definition“ so zu deuten, dass sie aus einer Anwendung der für die Prädikabilie des Vermögens einschlägigen Kategorien auf den Begriff einer Vorstellung überhaupt resultieren.Wie können wir diese Anwendung von Kategorien nun näher charakterisieren? – In der Fußnote aus der Einleitung der Kritik der Urteilskraft vergleicht Kant das Verfahren, durch das Vorstellungsvermögen auf transzendentale Weise bestimmt werden, mit dem „Beispiel des Mathematikers, der die empirischen Data seiner Aufgabe unbestimmt lässt und nur ihr Verhältnis in der reinen Synthesis derselben unter die Begriffe der reinen Arithmetik bringt und sich dadurch die Auflösung derselben verallgemeinert“ (KU 5:177 Fn). Kant scheint also vorzuschlagen, dass wir von all dem abstrahieren, was wir durch sinnliche Anschauung, also durch Selbstwahrnehmung, von unseren Vorstellungen wissen. Wenn wir derart die empirische Erscheinung unserer Vorstellungen „unbestimmt“ lassen, dann betrachten wir dieselben als bloße Verhältnisse „in der reinen Synthesis“, die durch die Begriffe des reinen Verstandes (statt „der reinen Arithmetik“) bestimmt ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine solche Betrachtung allein auf die Artikulation derjenigen reinen Formen hinausläuft, in denen Vorstellungen für uns Gegenstände der Selbsterfahrung überhaupt sein können. Denn wenn wir uns daran erinnern, dass wir Kant zufolge auch über ein apriorisches Wissen von unseren Vorstellungen verfügen, und zwar durch das Bewusstsein reiner Prinzipien, dürfen wir unsere Vorstellungen nicht bloß als mögliche Gegenstände unserer empirischen Selbsterfahrung betrachten. Wir müssen sie vielmehr derart deuten, dass sie für uns auch intelligible Gegenstände sind: Gestalten unseres reinen Selbstbezugs. Sollte es jedoch der Fall sein, dass uns die „Definition“ von Vorstellungsvermögen „durch reine Kategorien“ nur eine Einsicht in die reinen Formen vermittelt, in denen Vorstellungen zu Gegenständen unserer Selbsterfahrung werden können, dann hat es nicht den Anschein, dass wir dadurch viel gewonnen haben. Schließlich würden wir auf diese Weise nur zu einem psychologischen Verständnis von Vorstellungen gelangen, die in naturkausalen Zusammenhängen stehen; und das Verständnis von Vorstellungsvermögen, das daraus resultierte, wäre auf ein Verständnis des Subjekts im Sinne einer „Naturursache“ seiner Vorstellungen beschränkt. Eine „transzendentale Definition“ von Vorstellungsvermögen, die diese im Sinne eines Grundes der Einheit von reinen Prinzipien und ihrer sinnlichen Realisierung denkbar werden lässt, können wir auf diesem Weg nicht erreichen. Denn dafür müsste die kategoriale Bestimmung so gedacht werden, dass sie auf unsere Vorstellungen nicht bloß im Sinne von empirischen Erscheinungen, sondern auch im Sinne einer intelligiblen Tätigkeit bezogen ist. Wenn man auf den Abschnitt „Vom Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena“ in der ersten Kritik blickt, gewinnt man zunächst nicht den Eindruck, dass eine solche Anwendung der Kategorien in Kants Augen zulässig wäre. Denn dort macht er deutlich, „daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren“ (KrV A 246). Zwar fügt Kant hinzu, dass die reinen Kategorien des Verstandes „von aller Bedingung der sinnlichen Anschauung […] abstrahieren“ (KrV A 247) und
1.2 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen
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folglich für das Denken einen weiteren Bereich von Gegenstandsbegriffen eröffnen: „Daher erstrecken sich die Kategorien sofern weiter, als die sinnliche Anschauung, weil sie Objekte überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben werden mögen“ (KrV A 254). Auf diese Weise erschließen sie allerdings für die Erkenntnis keine „größere Sphäre von Gegenständen“, weil ein objektiver Gegenstandsbezug sinnliche Erfahrung erfordert (KrV A 254). Infolgedessen behauptet Kant, dass die Kategorien, an sich betrachtet, „bloß transzendentale Bedeutung“, aber keine transzendentale Verwendung haben (KrV A 248): Aufgrund der Tatsache, dass sie von den raumzeitlichen Bedingungen der Sinnlichkeit abstrahieren, besitzen Kategorien zwar einen transzendentalen Status; jedoch berechtigt uns dies nicht dazu, sie auch in Urteilen auf transzendentale Weise zu gebrauchen (um etwa Aussagen über Gegenstände jenseits der Erfahrung zu machen). Kant hält im Gegenteil daran fest, dass die Kategorien, ihrer transzendentalen Bedeutung zum Trotz, allein eine empirische Anwendung gestatten:⁶⁵ Sie haben „nur in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeutung“ (KrV B 308).⁶⁶ Wenn wir diese Behauptung auf die Prädikabilie des Vermögens beziehen, dann lautet sie, dass eine sinnvolle Anwendung der Kategorien der Inhärenz, Kausalität und Möglichkeit auf den Begriff der Vorstellung nur in Verbindung mit den „modis der reinen Sinnlichkeit“ (KrV A 82) geschehen darf. Die Weise, in der Vorstellungen einem Subjekt angehören und dabei in kausalen Verhältnissen stehen, müssten wir somit zugleich als zeitliche Relationen denken – als durch „transzendentale Zeitbestimmungen“ (KrV A 138) schematisierte Verhältnisse der kausalen „Folge“ sowie als Beziehung zwischen dem Beharrlichen und seinen wechselnden Zuständen (KrV A 176). In dem Maße aber, wie die Existenz von Vorstellungen durch objektive Verhältnisse in der Zeit qualifiziert werden muss, können wir sie nur derart denken, dass sie durch Naturgesetze bestimmt ist. „Wo diese Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze Gebrauch, ja selbst alle Bedeutung der Kategorien völlig auf“ (KrV B 308). Wir sollten uns jedoch daran erinnern, dass dies nicht Kants letztes Wort zur Sache ist. Denn in der Auflösung der dritten Antinomie nennt er eine Ausnahme zu dieser Regel – eine Ausnahme wohlgemerkt, ohne die Kants Rede von Spontaneität und „reinen Erkenntnisvermögen“ jede Grundlage entbehren würde. Ich hatte die Stelle bereits zitiert: „Allein der Mensch […] erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann“ (KrV A 546). Das „bloße“ Selbstbewusstsein, das die Einheit von Vorstellungen a priori konstituiert, ist demnach eine Quelle der „Selbsterkenntnis“, insofern es ein Bewusstsein von „inneren Bestimmungen“ (reinen Prinzipien als Vermögen) und „Handlungen“ (Realisierungen dieser Vermögen) ent Vgl. KrV B 307– 309. Kant hält demnach die Unterscheidung zwischen einer „bloß transzendentalen Bedeutung“ und einem „transzendentalen Gebrauch“ der Kategorien nicht überall aufrecht. Denn die Rede von „Bedeutung“ scheint in dieser Passage den sinnvollen Gebrauch in Urteilen miteinzubeziehen.
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hält, die nicht in der Selbstanschauung gegenständlich werden, weil sie strikte Korrelate der Tätigkeit des Denkens sind. Diese Einsicht liefert den Grund, eine andere, erweiterte Anwendung von Kategorien anzunehmen, die jene Selbsterkenntnis in ihrer formalen Bestimmtheit erschließt. Wie können wir eine derart modifizierte Anwendung der Kategorien genauer bestimmen? Und inwiefern können wir sie auch rechtfertigen? Erkenntnis kulminiert in Urteilen des Verstandes. Die Kategorien in Kants Sinne beschreiben die Minimalbedingungen, die etwas erfüllen muss, um ein Gegenstand von Erkenntnisurteilen sein zu können. Kategorien ergeben sich dementsprechend dadurch, dass die grundlegenden logischen Funktionen des Urteilens auf „Gegenstände überhaupt“ angewandt werden, also derart, dass diese Gegenstände mit Blick auf jene Urteilsfunktionen „als bestimmt“ oder bestimmbar angesehen werden können (KrV B 128). Jeder Urteilsvollzug, der einer Erkenntnis entspricht, setzt daher eine Anwendung der Kategorien voraus (oder schließt sie ein). In der transzendentalen Deduktion der ersten Kritik deutet Kant die Anwendung der Kategorien im Urteilen so, dass sie die Mannigfaltigkeit von möglichen Gegenständen a priori unter die Einheit des Bewusstseins (der „Apperzeption“) bringt.⁶⁷ Das resultiert in einer Bestimmtheit, die sie als Gegenstände der Erkenntnis qualifiziert: Die Kategorien definieren die Bedingungen, die Gegenstandsvorstellungen erfüllen müssen, damit sie in der Einheit eines Bewusstseins stehen, d. h. bestehen bleiben können. Zwar lautet Kants These, dass die Kategorien auf rechtmäßige Weise nur auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar sind (weil Gegenstände allein durch Anschauungen gegeben werden). Da aber das Selbstbewusstsein eine transzendentale Bestimmungsleistung beinhaltet, welche die Möglichkeit von anschaulichen Vorstellungen, in denen Gegenstände der Erkenntnis allererst gegeben werden, bedingt, ist sich das Subjekt implizit einer solcher Bestimmungsleistung bewusst, von der nicht angenommen werden kann, dass sie in der Selbsterfahrung anschaulich wird – weil sie im „bloßen“ Selbstbewusstsein der Tätigkeit des Vorstellens liegt und mithin nicht den Status eines Gegenstandes der „inneren“ Wahrnehmung haben kann. Eine erweiterte Anwendung der Kategorien, die eine Formulierung von Vorstellungsvermögen ergibt, muss sich somit auf dieses Selbstbewusstsein berufen. Die „transzendentale Definition“ von Vorstellungsvermögen expliziert das, was wir durch „bloßes“ Selbstbewusstsein a priori von unseren Vorstellungen insofern schon wissen, als wir diese Vorstellungsakte selbst vollziehen. Im Folgenden soll diese Anwendung genauer erläutert werden. Vermögen beschreiben die allgemeine Art, wie eine „Substanz“ auf bestimmte „Akzidenzen“ bezogen ist. Zugleich wird dabei diese Art der Bezogenheit im Modus der Möglichkeit gedacht, d. h. als eine Möglichkeit zu „Akzidenzen“, über die eine „Substanz“ verfügt (oder als die Möglichkeit einer „Substanz“, über bestimmte „Akzidenzen“ zu verfügen). Insofern wir also Vorstellungsvermögen „durch reine Kategorien“ rekonstruieren wollen, thematisieren wir das Verhältnis von Vorstellung und Gegenstand nicht in
Siehe KrV B 141 f.
1.2 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen
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Hinsicht auf die Art der Gegebenheit von Gegenständen in der Anschauung, sondern in Hinsicht auf das Subjekt, das sich durch seine Vorstellungen auf Gegenstände bezieht. Die Kategorien definieren die Bedingungen, unter denen es für ein Subjekt zuallererst denkbar wird, sich auf einen Gegenstand objektiv zu beziehen; und wenn der Gegenstand, der nun im Zentrum steht, unsere eigene Relation zu gegenstandsbezogenen Vorstellungen ist, dann interessiert uns hier eine reflexive Anwendung der Kategorien: Unser Gegenstand ist die Art, in der wir uns (als Subjekte) auf unsere gegenstandsbezogenen Vorstellungen beziehen. Nicht die Art, in der uns Gegenstände in der Anschauung gegeben werden, sondern die Weise, in der wir auf die Vorstellung von Gegenständen überhaupt bezogen sind, definiert also den Bereich, den wir in seiner grundsätzlichen Bestimmtheit erschließen wollen. Die reflexive Anwendung der Kategorien referiert auf das Selbstbewusstsein, das gegenstandsbezogenen Vorstellungen einer besonderen Art Einheit gibt. Wir erschließen derart unsere subjektive Bezogenheit auf Vorstellungen als eine Bezogenheit qua Vorstellungsvermögen. Sofern diese Vermögen den Nexus zwischen einem Subjekt und seinen Vorstellungen bilden, beschreiben sie folglich Formen der Vorstellung, die für dieses Subjekt charakteristisch sind. Um die grundlegenden Vorstellungsvermögen „des Gemüts“ zu bestimmen, müssen wir – im ersten Schritt – den Begriff der Vorstellung als einen abstrakten Oberbegriff verwenden, ohne dabei zu spezifizieren, um welche Arten von Vorstellungen es sich handelt. Erst auf dieser Basis können wir die Anwendung der Kategorien so begreifen, dass sie die Verhältnisse bestimmen, in denen Vorstellungen im Allgemeinen stehen können. Die triviale Tatsache, dass Vorstellungen selbst einen relationalen Charakter besitzen, also jeweils eine Bezugnahme auf Gegenstände zum Ausdruck bringen, sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen.Wir haben es demnach mit einem Komplex aus zwei Relationen zu tun: einerseits mit dem Verhältnis von Vorstellung und Objekt, das wir andererseits als Moment des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und seinen Vorstellungen verstehen.Wir können daher vermuten, dass die reflexive Anwendung der Kategorien (in der „transzendentalen Definition“ von Vorstellungsvermögen) deren „eigentliche“ Anwendung in der Erfahrung auf implizite Weise enthält. In der Bestimmung des Erkenntnisvermögens würde so zugleich diejenige Anwendung von Kategorien auf eine abstrakte Weise vorgezeichnet, die Kant in der ersten Kritik ausformuliert hat, nämlich die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf Gegenstände der Erfahrung. Indem also solche Definitionen die allgemeinen Formen der Verhältnisse zwischen dem Subjekt und seinen gegenstandsbezogenen Vorstellungen artikulieren, markieren sie auch den logischen Ort, an dem transzendentale Bestimmungen des Gegenstandsbezugs situiert sind – nämlich in den Vermögen der Erkenntnis, des Begehrens und Gefühls.⁶⁸ Diese Beschreibung ist mit Blick auf das Vermögen des Gefühls nicht ganz richtig. Denn dieses Vermögen ist nicht durch eine spezifische Form des Gegenstandsbezugs von Vorstellungen definiert, sondern vielmehr als ein Verhältnis der Vorstellungen zum Zustand des Subjekts charakterisiert. Dennoch haben wir es auch hier mit einer transzendentalen Bestimmung des Gegenstandsbezugs zu
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Noch einmal: Die Kategorien des Verstandes, welche in der Anwendung auf Anschauung die Gegenständlichkeit der Erfahrung ermöglichen, spezifizieren a priori den Gegenstandsbezug von Vorstellungen. Die „dynamischen“ Kategorien, welche die Vorstellungsvermögen in der Anwendung auf Vorstellungen im Allgemeinen definieren, beschreiben a priori den Bezug des Subjekts auf gegenstandsbezogene Vorstellungen. In der philosophischen Rekonstruktion dieser Anwendungen beziehen wir uns in beiden Fällen auf das Selbstbewusstsein im Sinne der synthetischen Einheit der Apperzeption, die Kant als den „höchste[n] Punkt“ bezeichnet, „an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß“ (KrV B134). Dieses Selbstbewusstsein ist Einheit des Bewusstseins in der Vorstellung von Gegenständen. Das schließt zweierlei ein: erstens ein Bewusstsein von der Form der Gegenstände des Erkennens und zweitens ein Bewusstsein von der Form der Tätigkeit des Vorstellens, die auf die Erkenntnis von Gegenständen gerichtet ist. Die beiden „Arten“ des Bewusstseins sind dabei tatsächlich zwei Aspekte ein und desselben Selbstbewusstseins. Wenn wir unsere fundamentalen Vorstellungsvermögen a priori „definieren“, explizieren wir somit, was unserem Selbstbewusstsein bereits implizit ist: dass wir im Urteilen und Anschauen vorstellend tätig sind (also Handlungen, Akte vollziehen), dass diese Tätigkeit eine selbstbewusste (also unsere eigene) ist und dass wir durch unser Vorstellen diejenigen Gegenstände objektiv erkennen, die uns (in der Anschauung) als gegeben bewusst sind. Diese Beschreibung macht offensichtlich Gebrauch von den Kategorien – nämlich vom Begriff der Kausalität, d. h. der Prädikabilie der „Handlung“, vom Begriff der Inhärenz, d. h. der Zugehörigkeit (oder existenziellen Abhängigkeit) von Vorstellungen zu mir als ihrem Subjekt, und von einer bestimmten Konstellation dieser Kategorien, die die Tätigkeit des Vorstellens als Vollzug des Erkenntnisvermögens bestimmt. Die Anwendung der Prädikabilie des Vermögens auf den Begriff einer Vorstellung überhaupt hat somit den Status einer Rekonstruktion der impliziten Selbstkonzeption des Subjekts im Erkennen (und, wie wir hinzufügen können, im Begehren und Fühlen). Auf diese Weise „verdoppeln“ wir allerdings nicht die Anwendung der Kategorien – wir wenden sie nicht einfach auf ihre Anwendung (im Erkennen) an. Kategorien sind schließlich keine freischwebenden Bestimmungen, keine bloßen „Gehalte“, die irgendwie auf schon Gegebenes (wie von außen) appliziert werden. Kategorien beschreiben selbst Aspekte von Tätigkeiten, d. h. Regeln des Verfahrens im gegenstandsbezogenen Vorstellen, auf deren Basis anschauliche oder begriffliche „Gehalte“ allererst vorliegen können. Wenn wir das Erkennen selbst reflexiv erkennen wollen, dann thematisieren wir somit die kategoriale Struktur unserer Tätigkeit des Vorstellens auf eine andere Weise – nämlich mit Bezug auf die Art, in der diese kategoriale Struktur von uns gewusst, d. h. in unserem Selbstbewusstsein enthalten ist. Es geht hier also nicht um „zwei“ Akte der Anwendung von Kategorien – einerseits auf Ge-
tun, die, als bloße Bedingung der Erkennbarkeit von Erfahrung, in die apriorische Bestimmung des Gefühls der Lust und Unlust durch reflektierende ästhetische Urteile eingeht.
1.2 Die „Prädikabilie“ des Vermögens und ihre Anwendung auf Vorstellungen
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genstände der Erfahrung, andererseits auf die Vorstellungen, mit denen wir uns auf Gegenstände beziehen. Dieser Eindruck entsteht allein durch das Verfahren der philosophischen Rekonstruktion von Vorstellungsvermögen, das eben durch eine Anwendung der „dynamischen“ Kategorien der Relation und Modalität auf den allgemeinen Begriff der Vorstellung jene Selbstkonzeption zu „definieren“ versucht. Ihr Status entspricht jedoch nicht der Rekonstruktion eines gesonderten Aktes der Anwendung einiger Kategorien. Wir beziehen uns dabei vielmehr auf dieselbe „Anwendung“ von Kategorien – diejenige, die bereits in der Tätigkeit des Vorstellens liegt und die auf Gegenstände der Erfahrung gerichtet ist –, welche wir nun ausgehend von der Seite unseres apriorischen Selbstbewusstseins thematisieren. Und aus diesem Blickwinkel können wir sehen, dass die kategoriale Struktur der Erkenntnis gewissermaßen weiter reicht als die Konstitution der Gegenständlichkeit von Erfahrungen: Es handelt sich um eine in sich reflexive Anwendung von Kategorien, die nicht nur den anschaulichen Gegenstandsbezug, sondern auch die Weise umfasst, in der das Subjekt auf dieses Verhältnis von Vorstellungen und Erfahrungsgegenständen bezogen ist. Die transzendentale Formulierung von Vorstellungsvermögen ergänzt die Anwendung von Kategorien auf Gegenstände der Erfahrung derart um die Dimension unseres apriorischen Wissens von dieser Anwendung. Und dies schließt somit das Selbstbewusstsein von unserem Erkenntnisvermögen als solchem ein, das freilich die Quelle darstellt, die Kants Transzendentalphilosophie für sich in Anspruch nehmen muss. Diese Beschreibung ist offensichtlich an Kants Erläuterung der „Tafel der Kategorien der Freiheit“ in der zweiten Kritik orientiert (KpV 5:65). Dort geht es um die systematische Darstellung der reinen Begriffe des Guten, die Kant als eine modifizierte Anwendung der Kategorien des Verstandes einführt. Die Begriffe des Guten beziehen sich zwar auf Gegenstände der Erfahrung, wie sie durch die Verstandeskategorien konstituiert sind (sie „setzen diese“, wie Kant schreibt, „als gegeben voraus“, KpV 5:65), aber nicht als Objekte der Verstandeserkenntnis, sondern als Objekte des Willens oder Begehrungsvermögens, d. h. als Handlungen (in der sinnlichen Welt). Als solche, so Kant, verstehen wir die Kategorien des Guten dann, wenn wir sie „insgesamt als Modi einer einzelnen Kategorie“ auffassen, „nämlich der Kausalität, sofern der Bestimmungsgrund derselben in der Vernunftvorstellung eines Gesetzes derselben besteht“ (KpV 5:65). Kants Gedanke lautet demnach, dass die Anwendung der Kategorien so zu begreifen ist, dass sie bereits in einer bestimmten Hinsicht erfolgt, die selbst durch eine spezifische Kategorie festgelegt wird – nämlich, wie im Fall der Kategorien des Guten, in Hinsicht auf Handlungen, die als Wirkungen einer Kausalität aus Freiheit gedacht werden. Vor diesem Hintergrund könnten wir nun die Rückfrage stellen, ob es sich beim Fall der Anwendung der Kategorien der Erfahrung nicht genauso verhält: Müssen wir diese Anwendung nicht auch so denken, dass sie in einer bestimmten Hinsicht erfolgt und dass diese Hinsicht selbst schon kategorial gekennzeichnet ist? Die grundsätzliche Orientierung der Anwendung der Kategorien der Erfahrung diskutiert Kant anhand der Begriffe der „Spontaneität“ (des Verstandes) und der
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„Rezeptivität“ (der Sinnlichkeit),⁶⁹ die selbst den Status von Vermögensbegriffen besitzen. Dass es in der Erkenntnis darum geht, Gegenstände, die in der Anschauung gegeben werden, mittels der Spontaneität des Verstandes zu denken, besagt in erster Linie, dass wir es mit einer bestimmten Konstellation von Verhältnissen zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und deren Gegenständen zu tun haben, die, wie wir sehen werden, allesamt als Verhältnisse der Kausalität (in jeweils unterschiedlichem Sinne) charakterisiert sind.Wenn die Anwendung der Kategorien der Erfahrung darauf hinausläuft, „das Mannigfaltige der (sinnlichen) Anschauung unter ein Bewußtsein a priori zu bringen“, und wenn die Anwendung der Kategorien des Guten darauf hinausläuft, „das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft […] zu unterwerfen“ (KpV 5:65), dann enthalten beide Anwendungen von vornherein ein Verständnis ihrer eigentümlichen Hinsicht, die jeweils durch die Begriffe der „sinnlichen Anschauung“ und der „Begehrungen“ (resp. „Handlungen“) spezifiziert sind. Fragt man aber danach, wie diese Begriffe wiederum selbst spezifiziert sind, dann ist man auf Vorstellungsverhältnisse verwiesen, die jeweils als besondere Konstellationen von Inhärenz, Kausalität und Möglichkeit gedacht werden müssen. Man ist, mit anderen Worten, gerade auf solche Konzepte verwiesen, die Kant als „transzendentale Definitionen“ von Vorstellungsvermögen bezeichnet.
1.3 Die transzendentale Herleitung der Vorstellungsvermögen im Umriss Ich habe vorgeschlagen, dass wir Kants Gedanken einer „transzendentalen Definition“ von Vorstellungsvermögen im Sinne einer Anwendung der für die Prädikabilie des Vermögens einschlägigen Kategorien auf den Begriff einer Vorstellung überhaupt interpretieren. Diese Anwendung der „dynamischen“ Kategorien der Relation und Modalität entspricht einer Beschreibung der allgemein möglichen Beziehungen zwischen dem Subjekt und seinen gegenstandsbezogenen Vorstellungen. Die dabei resultierenden Begriffe von Vorstellungsvermögen besitzen den Status einer Rekonstruktion der impliziten Selbstkonzeption des Subjekts im erfahrungsbezogenen Erkennen, handlungsbezogenen Begehren und gefühlsbezogenen Urteilen. Wenn wir uns nun der Formulierung der Vorstellungsvermögen im Einzelnen zuwenden, so wird die Anwendung der Kategorien dabei zunächst den Status einer Charakterisierung derjenigen verschiedenen relationalen Strukturen haben, die in der komplexen Einheit von Subjekt, Vorstellung und Gegenstand logisch möglich sind. Sofern wir uns aber dabei auf Formen des Selbstbewusstseins beziehen, die jeweils ein Bewusstsein reiner Prinzipien einschließen – nämlich der Kategorien des Verstandes, des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft (sowie der darin liegenden „Kategorien der Freiheit“)
Vgl. etwa KrV A 76 – 79.
1.3 Die transzendentale Herleitung der Vorstellungsvermögen im Umriss
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und des transzendentalen Prinzips der reflektierenden Urteilskraft –, handelt es sich dabei jedoch nicht mehr um bloß logisch mögliche, sondern vielmehr um a priori bestimmte Verhältnisse. Dadurch erhalten die transzendentalen Vermögensdefinitionen den Charakter von realen Möglichkeiten, insofern die reinen Prinzipien als Spezifikationen jener Verhältnisse gedeutet werden können, die durch die Vorstellungsvermögen in ihrer logischen Kontur artikuliert werden.Weil die Vermögensbegriffe die Existenz von Vorstellungen (und zwar innerhalb ihrer Relationen zum Subjekt und zu Gegenständen) a priori kennzeichnen, erschließen sie somit zugleich die reinen Prinzipien in der Weise ihres subjektiven Wirklichseins (nämlich: als Vermögen). Und sie tun dies in dem Maße, wie sie diese dabei a priori auf ihre empirische Realisierung beziehen.⁷⁰ Die transzendentalen Vermögensbegriffe sind dazu in der Lage, weil sie auf zwei Quellen der Selbsterkenntnis zurückgehen: auf die empirische Selbstanschauung von Vorstellungen einerseits sowie auf das unmittelbare Selbstbewusstsein von reinen Prinzipien des Vorstellens andererseits. Die „transzendentale Definition“ eines Vorstellungsvermögens müssen wir dementsprechend auf zwei Weisen denken:⁷¹ Sie artikuliert seine Form so, dass es sowohl als empirisches als auch als intelligibles Vermögen verständlich wird. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die „transzendentale Definition“ von Vorstellungsvermögen im Ausgang vom apriorischen Selbstbezug und mit Blick auf den empirischen Selbstbezug geschieht – und zwar derart, dass Vermögen als „Grund der Einheit“ von reinen Prinzipien und ihrer sinnlichen Realisierung begreifbar werden. Die Frage, die uns nun beschäftigen wird, muss also lauten, wie wir uns diese empirisch-intellektuelle Doppelartikulation vorzustellen haben. Wie kann eine transzendentale Vermögensbestimmung beide Quellen unseres Wissens von unseren Vorstellungen berücksichtigen? Und inwiefern kann es diesen Bestimmungen auch gelingen, das empirische und das intelligible Verständnis der Vorstellungsvermögen zu integrieren, d. h. einen (zumindest provisorischen) Begriff ihrer Einheit zu formulieren? Um der anschließenden Argumentation besser folgen zu können, werde ich eine kurze Beschreibung der Kontur der transzendentalen Herleitung von Vorstellungsvermögen voranschicken. Im Zuge dieser Skizze soll auch deutlich werden, inwiefern es notwendig ist, nicht nur von einem subjektiven Vorstellungsvermögen zu reden, sondern das Vermögen zur Vorstellung als in sich vielgestaltig zu begreifen und mithin von subjektiven Vorstellungsvermögen im Plural zu sprechen. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Verschiedenheit der Vorstellungsvermögen aus der Verschiedenheit der dynamischen Verhältnisse (der Inhärenz, kausalen Dependenz und Modalität) ergibt, mit denen wir innerhalb des relationalen Komplexes von Subjekt-Vorstellung-Gegenstand grundsätzlich rechnen können. Dieser Komplex ist freilich keine Die These lautet demnach: Nur in dem Maße, wie wir reine (normative) Prinzipien als Vermögen denken, können wir verstehen, dass sie überhaupt realisierbar sind. Dann und nur dann verstehen wir sie so, dass sie notwendig auf ihre Realisierungen bezogen sind – als Begehren, Handlung, empirische Erkenntnis oder ästhetisches Urteil, das Gefühle der Lust oder Unlust a priori bestimmt. Vgl. dazu KrV A 538.
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bloße Aneinanderreihung von Instanzen, sondern hat einen präzisen Sinn: In Frage steht die Weise, in der ein Subjekt durch seine Vorstellungen auf Gegenstände bezogen sein kann. Innerhalb dieser relationalen Struktur gibt es eine Invariante: Mit Blick auf das „Dasein“ von Vorstellungen kann die Relation der Inhärenz zwischen dem Subjekt und seinen Vorstellungen nicht umgekehrt werden (denn das Subjekt lässt sich nicht als Akzidens seiner Vorstellungen begreifen). Und weil man nicht davon ausgehen kann, dass die Kategorien der Modalität dazu angetan sind, eine Varianz in den Begriff von Vorstellungsvermögen einzuführen, bleibt allein die Option übrig, ihre Verschiedenartigkeit auf die unterschiedlichen Möglichkeiten zurückzuführen, in denen von Kausalität innerhalb des relationalen Komplexes von Subjekt-Vorstellung-Gegenstand gesprochen werden kann. Insofern die Inhärenzrelation den Anwendungsspielraum der Kausalität einschränkt – das „Dasein“ von Subjekten kann weder als „Wirkung“ ihrer Vorstellungen noch als „Wirkung“ ihrer Gegenstände begriffen werden –, bietet sich somit zunächst an, verschiedenartige Kausalverhältnisse innerhalb der Relation von Vorstellung und Gegenstand zu unterscheiden. Daraus ergeben sich die Vermögen des Begehrens und des Erkennens: Ein Subjekt kann durch seine Vorstellungen so auf einen Gegenstand bezogen sein, dass die Vorstellung in der Position der „Wirkung“ und der Gegenstand in der Position der „Ursache“ steht. Genauso können wir den Fall in Betracht ziehen, dass sich die Vorstellung in der Position der „Ursache“ und der Gegenstand in der Position der „Wirkung“ befindet.⁷² Nun können wir allerdings noch eine dritte Möglichkeit der Anwendung von Kausalität annehmen: jene, die sich auf das Verhältnis von Vorstellung und Subjekt bezieht. Denn sobald wir das Subjekt nicht mehr als „Substanz“, sondern in seinem „akzidentellen“ Zustand ansprechen, sind wir in der Lage, es in der Position der „Wirkung“ zu denken (ohne dabei der Inhärenzrelation zu widersprechen). Infolgedessen lassen sich Vorstellungen als ursächlich für Wirkungen im Subjekt betrachten. Wir werden noch genauer sehen, in welchem Sinne diese Überlegungen zutreffend sind. Für den Moment reicht die Einsicht, dass es ein Effekt der Rolle ist, die „Kausalität“ in der „transzendentalen Definition“ von Vorstellungsvermögen spielt, dass Vorstellungsvermögen von vornherein in der Pluralität der drei „Grundvermögen des Gemüts“ zu denken sind. Die Grundidee von Kants Formulierung dieser „Grundvermögen“ können wir dann annäherungsweise so beschreiben: Betrachten wir das „Dasein“ von Vorstellungen überhaupt, wie es der Möglichkeit nach durch ein Verhältnis der Inhärenz und Verhältnisse der kausalen Dependenz bestimmt ist, dann können wir es grundsätzlich in zweifacher Weise auf Gegenstände und auf einfache Weise auf ihr Subjekt beziehen. Daraus folgt, dass die Anwendung der dynamischen Kategorien auf den Begriff der Vorstellung im Allgemeinen in drei verschiedenen Hinsichten erfolgen kann: erstens in Hinsicht auf die Möglichkeit der Erfahrung – das Die Pole der Kausalrelation setze ich provisorisch in Anführungszeichen, weil noch nicht klar ist, in welchem Sinne wir innerhalb einer Rekonstruktion der fundamentalen Vorstellungsvermögen die Anwendung der Kausalkategorie zu deuten haben – also was es überhaupt heißen soll, dass das „Dasein“ einer Vorstellung als „Ursache“ oder „Wirkung“ bestimmt sein kann.
1.3 Die transzendentale Herleitung der Vorstellungsvermögen im Umriss
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ist der Fall des Erkenntnisvermögens, in der die Vorstellung als „Wirkung“ auf den Gegenstand als „Ursache“ bezogen wird; zweitens in Hinsicht auf die Möglichkeit der Handlung – das ist der Fall des Begehrungsvermögens, in der das Subjekt durch seine Vorstellung als „Ursache“ und der Gegenstand als „Wirkung“ verstanden ist; und drittens in Hinsicht auf die Möglichkeit des Gefühls – das ist der Fall, in der die Vorstellung als „Ursache“ und der Zustand des Subjekts in der Position der „Wirkung“ erscheint. Ich werde im Folgenden so vorgehen, dass ich die „transzendentalen Definitionen“ dieser drei „Grundvermögen des Gemüts“ der Reihe nach als spezifische Anwendungen der „dynamischen“ Kategorien einführe. Dabei werden zwei wichtige Unterscheidungen zu bedenken sein, die jeweils zwei verschiedene Aspekte von Vorstellungsvermögen hervorheben: die Unterscheidung zwischen einer schematisierten und einer nicht-schematisierten Anwendung der Relationskategorien einerseits sowie die Unterscheidung zwischen Vermögen und Kraft andererseits, die Kant in seinen Metaphysikvorlesungen diskutiert und die sich vornehmlich auf die Anwendung der Modalitätskategorien bezieht. Weil die Vermögensbestimmungen zwei Quellen besitzen – das apriorische Selbstbewusstsein und die empirische Selbstwahrnehmung –, müssen wir zunächst mit zwei unterschiedlichen Arten der Anwendung der Kategorien der Kausalität und der Inhärenz rechnen. Sofern diese in Hinsicht auf die empirische Anschauung von Vorstellungen verwendet werden, beziehen sie sich notwendig auf die „modis der reinen Sinnlichkeit“ (KU 5:177 Fn), – und das bedeutet für den Fall der Vorstellungsvermögen, dass wir sie als zeitlich „schematisierte“ Kategorien verstehen müssen. Sofern wir die Kategorien jedoch in Hinsicht auf unser reines Selbstbewusstsein anwenden, dürfen wir die Relationen zwischen Subjekt, Vorstellung und Gegenstand weder als „objektive“ Verhältnisse in der Zeit noch als Verhältnisse der Kausalität in einem strikten (nämlich: erfahrungsbezogenen) Sinne betrachten. Ich werde dafür argumentieren, dass wir in diesem Fall die kategoriale Form von Vorstellungsverhältnissen im Sinne von Relationen der existenziellen Abhängigkeit deuten sollten. In der nun folgenden Rekonstruktion, der sich das nächste Kapitel widmet, muss daher die Reihe der Vorstellungsvermögen zwei Mal durchlaufen werden, um zunächst ihre empirische und sodann ihre intelligible Formulierung entwickeln zu können. Da beide Formulierungen aber jeweils Aspekte eines Vermögens betreffen, bedarf es zusätzlich eines Verständnisses der Einheit der beiden Anwendungsweisen der Kategorien. Das ist die Aufgabe eines dritten Durchgangs durch die Serie der Vermögen, in denen die reinen Begriffe der Modalität im Fokus stehen werden – und zwar deshalb, weil sie es sind, die den Zusammenhang zwischen der intelligiblen und der empirischen Seite von Vorstellungsvermögen deutlich machen. Man könnte meinen, dass es zweckdienlicher wäre, zunächst die empirische und die intelligible Formulierung jeweils für sich auf die Kategorien der Möglichkeit und Wirklichkeit zu beziehen. Wir würden dann indes entweder bloß in der empirischen oder einfach in der intellektuellen Perspektive auf unsere Vermögen und ihre Verwirklichungen verharren – und so die besondere Pointe von Kants transzendentalem Vermögensbegriff
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verpassen. Wir sollten die Weise, in der die Kategorien der Modalität auf die empirische und die intelligible Seite der Vorstellungsvermögen bezogen sind, daher anders deuten. Kant selbst schreibt mit Blick auf die Anwendung der Modalitätskategorien im Rahmen der Erfahrungserkenntnis, dass sie „zu dem Begriffe eines Dinges, […] von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu[fügen], worin er entspringt und seinen Sitz hat“ (KrV A 234). Übertragen auf den Fall der „transzendentalen Definition“ der Vorstellungsvermögen können wir also sagen, dass die Modalitätskategorien der relationalen Bestimmung der „Seinsweise“ von Vorstellungen nichts hinzufügen, sondern diese Bestimmung lediglich mit der „Erkenntniskraft“ verbinden, aus der sie „entspringt“. Mit anderen Worten: Die Modalitätskategorien vergegenwärtigen, mit Bezug auf welche Erkenntnisquelle wir die jeweiligen Bestimmungen des Vorstellungsverhältnisses formulieren – nämlich entweder hinsichtlich des apriorischen Selbstbewusstseins oder hinsichtlich der empirischen Selbstwahrnehmung. Die Konsequenz dieses Verfahrens tritt deutlich hervor im Licht der Unterscheidung zwischen Vermögen und Kraft, die aus Kants Metaphysikvorlesungen stammt. Sobald wir die Anwendung der Modalitätskategorien anhand dieser Unterscheidung interpretieren, verstehen wir die Einheit der intelligiblen und der empirischen Artikulationen als Einheit von Vermögen und Realisierung. Denn als Vermögen denke ich den subjektiven Bezug auf die Vorstellung von Gegenständen in dem Maße, wie ich ihn im Modus der Möglichkeit verstehe; und ich verstehe ihn im Modus der Möglichkeit in dem Maße, wie ich diesen als einen intelligiblen Bezug begreife, der im reinen Selbstbewusstsein liegt und durch ein reines Prinzip bestimmt ist. Als Kraft hingegen denke ich den subjektiven Bezug auf Vorstellungen dann, wenn ich ihn auf die Modalität der Wirklichkeit beziehe und entsprechend als Form der Realisierung erfasse; und ich denke ihn im Modus der Verwirklichung in dem Maße, wie ich ihn mit der Selbstanschauung und folglich mit seiner empirischen Beschreibung verknüpfe. Den vollen transzendentalen Begriff von Vorstellungsvermögen erreichen wir aber erst dann, wenn wir ihn im Modus der Notwendigkeit denken, d. h. so, dass wir das Vermögen zugleich als Kraft, die intellektuelle Artikulation und ihr reines Prinzip zugleich als „Grund der Wirklichkeit“ der empirischen Artikulation verstehen können.
2 Spontaneität und Rezeptivität: Die in sich reflektierte Einheit der Vorstellungsvermögen Die Aufgabe dieses Kapitels besteht darin, das gerade umrissene Programm einer transzendentalen Rekonstruktion der kantischen Vorstellungsvermögen durchzuführen: Wie sind die drei kategorialen Verhältnisse zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und Gegenständen a priori bestimmt? Wie lassen sich ihre empirischen und intellektuellen Artikulationen verstehen? Und wie können wir zuletzt die Einheit der beiden Artikulationen jener kategorialen Verhältnisse einführen? Im Zuge der Beantwortung dieser Fragen sollten wir jedoch nicht vergessen, worin der eigentliche Zweck der Überlegungen in diesem Kapitel liegt: Es geht darum, ein angemessenes Verständnis des Begehrungsvermögens zu entwickeln – und zwar eines, das uns erlaubt, die kantische Unterscheidung zwischen Wille und Willkür besser einzuordnen.
2.1 Die empirische Artikulation der subjektiven Grundvermögen Betrachten wir zunächst die Vorstellungsvermögen unter ihrem empirischen Aspekt, d. h. in ihrer apriorischen Bestimmtheit durch dynamische Kategorien in Verbindung mit deren Schemata der Zeit. Thematisch wird somit die reine Form, die Vorstellungen als Gegenstände der „inneren“ Erfahrung insofern charakterisiert, als sie Gegenstände einer psychologischen oder anthropologischen Erkenntnis darstellen. Was in dieser Hinsicht von Vorstellungen gesagt werden kann, unterscheidet sich mutatis mutandis nicht entscheidend von dem, was von allen empirischen Objekten hinsichtlich ihrer Bestimmtheit durch relationale Kategorien gilt. Ich werde deshalb im Folgenden – in eher kursorischer Manier – auf Kants Ausführungen im Abschnitt über die „Analogien der Erfahrung“ zurückgreifen, in denen die Grundsätze des empirischen Gebrauchs der relationalen Kategorien formuliert und begründet werden.⁷³ Dabei werde ich so verfahren, dass ich Kants Argumentation bezüglich der drei Analogien diejenigen Punkte entnehme, die für die Einführung der „transzendentalen Definitionen“ der empirischen Vorstellungsvermögen instruktiv sind. Die drei Analogien, die Kant in diesem Abschnitt formuliert, haben den Status von apriorischen Prinzipien, weil sie allein auf die Zeitlichkeit der Erfahrung (als der reinen Form des Sinnlichen überhaupt) bezogen sind. Ihre Notwendigkeit ergibt sich Kant zufolge aus dem Problem, dass die zeitliche Ordnung der Wahrnehmung von empirischen Phänomenen nicht mit deren objektiver Ordnung in der Zeit identisch ist.
Ein präzises Verständnis von Kants Argumentation in den „Analogien der Erfahrung“ ist in diesem Kontext nicht von Belang. Ich orientiere mich im Folgenden grob an der Rekonstruktion in Watkins 2004, S. 185 – 229. https://doi.org/10.1515/9783110669381-004
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2 Spontaneität und Rezeptivität
Um aber das temporale Dasein von Erscheinungen objektiv erkennen zu können, benötigt die Erfahrung apriorische Prinzipien, die es erlauben, durch Bezug auf subjektive Wahrnehmungen objektive Zeitverhältnisse zu erschließen. Eine Analogie der Erfahrung formuliert in diesem Sinne einen Grundsatz, auf dessen Basis „aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung“ gewonnen werden kann (KrV A 180). Und sie ermöglicht die objektive Einheit der Erfahrung, indem sie „alle empirischen Zeitbestimmungen“ a priori „unter Regeln der allgemeinen Zeitbestimmung“ stellt (KrV A 178 f.). Derartige Grundsätze bestehen folglich im Kern darin, je eine Analogie – eine qualitative Gleichheit des Verhältnisses – zwischen einer kategorialen und einer empirischen Zeitrelation zu definieren.⁷⁴ Die erste Analogie formuliert die grundlegende Bedingung, auf deren Basis zeitliche Verhältnisse innerhalb der Erscheinung überhaupt erst bestimmbar werden.⁷⁵ Sofern die Form der Zeit das „Substrat“ darstellt, mit Bezug auf welches temporale Bestimmungen allererst gedacht werden können, diese Form als solche aber in der Erfahrung nicht als empirischer Bezugsrahmen verfügbar ist (weil sie nicht gegenständlich vorliegt), bedarf es eines objektiven Analogons, das für die Erkenntnis jeweils „die Zeit überhaupt“ darstellt und so zeitliche Bestimmungen möglich macht (KrV B 225). Dieses Analogon wird durch die Kategorie der Substanz und ihr Schema der Beharrlichkeit konstituiert: Spezifische zeitliche Bestimmungen lassen sich grundsätzlich als „akzidentelle“ Bestimmungen einer andauernden Existenz spezifizieren. Die Relation zwischen einer „beharrlichen“ Substanz und wechselnden „Akzidenzen“ definiert derart das allgemeine Verhältnis, in Analogie zu dem alle empirischen Zeitverhältnisse gedacht werden müssen. Beziehen wir diese Überlegungen auf die Erfahrung der eigenen Vorstellungen durch den „inneren Sinn“, dann folgt daraus, dass ich letztere in dem Maße als zeitlich bestimmte Erscheinungen denken kann, wie ich sie als „Akzidenzen“ begreife und auf eine ihnen zugrundeliegende „Substanz“ beziehe (die im Fall meiner eigenen Vorstellungen ich selbst bin). Als „innere Zustände“ beschreiben Vorstellungen ein mannigfaltiges „Dasein“ in der Zeit, das mir in der Sukzession meiner Selbstwahrnehmung gegeben ist. Um aber diese Vorstellungszustände in ihrem temporalen Charakter überhaupt erfassen zu können, muss ich sie auf eine in der Zeit „beharrende“ Existenz beziehen, an welcher der Wechsel von Zuständen geschieht.⁷⁶ Veränderung ist stets Veränderung von etwas, und das bedeutet nach Kant, dass sie „nur an Substanzen wahrgenommen werden“ kann (KrV A 188). In diesem Sinne schreibt Kant, dass die „innere Erfahrung“ als eine „psychologische“ bezeichnet werden kann, wo man „eine Seele (als besondere unkörperliche Substanz) […] in sich wahrzunehmen glaubt […] und das Gemüt, welches als bloßes Vermögen zu empfinden und zu Vgl. KrV A 179 f. Diese analogische Gleichheit ist eine asymmetrische: Empirische Zeitrelationen sollen analog zu kategorialen Zeitrelationen bestimmt werden; die Zeitfolge der Wahrnehmung, an sich betrachtet, ergibt noch keine empirische Zeitrelation. Siehe KrV A 187. Vgl. KrV B 224– 226.
2.1 Die empirische Artikulation der subjektiven Grundvermögen
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denken vorgestellt ist, als besondere im Menschen wohnende Substanz angesehen wird“ (Anthropologie 7:161).Wenn ich mir in meiner „Beharrlichkeit“ auch selbst nicht erscheine, also als Substanz keinen „beharrlichen“ Gegenstand meiner „inneren“ Wahrnehmung bilde,⁷⁷ so liegt meine Substanzialität dennoch als interne Voraussetzung in der Zeitfolge meiner Vorstellungen inbegriffen, eben weil sie Bestimmungen meiner Existenz darstellen (die in ihrem Wechsel das Beharrende ist). Infolgedessen denke ich mein eigenes Dasein, wie es in der Wahrnehmung meiner Vorstellungen enthalten ist, als eine zwar „unkörperliche“, aber dennoch empirische Substanz: als eine zeitliche „Größe“, als eine im Wechsel meiner akzidentiellen Zustände andauernde Erscheinung (KrV A 183). Indem wir unsere Vorstellungen auf der Basis des reinen Begriffs der Inhärenz als eine zeitliche Folge von akzidentellen Veränderungen beschreiben, charakterisieren wir sie aber auch zugleich auf kausale Weise. Denn wir nehmen notwendig an, dass „alle Veränderungen […] nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“ geschehen (KrV B 232). Diese Konsequenz folgt aus dem Grundsatz der zweiten Analogie der Erfahrung. Er charakterisiert die apriorische Bedingung, unter welcher Erscheinungen objektiv in ein Verhältnis der zeitlichen Aufeinanderfolge gebracht werden können: „Wenn wir erfahren, daß etwas geschieht, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, worauf es nach einer Regel folgt“ (KrV A 195). Diese Voraussetzung entspricht dem Gedanken des Schemas der Kausalität, dessen empirische Funktion somit darin besteht, eine Relation in der Zeit als eine reale Beziehung zwischen einem Grund und seiner Folge zu artikulieren. Damit also eine „Begebenheit“ als objektiv bestimmt angenommen werden kann, muss „in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei[n], unter welcher die Begebenheit jederzeit (d.i. notwendigerweise) folgt“ (KrV A 200). Kant lässt es an dieser Stelle offen, welcher Art diese „Bedingung“ ist, die „Begebenheiten“ als Ursache bestimmt. Er behauptet also auch nicht, dass ein vorangehender Zustand oder ein vorheriges Ereignis die notwendige Bedingung einer nachfolgenden Begebenheit darstellt. Die Behauptung ist vielmehr, dass eine jede Begebenheit auf „irgend etwas“ Vorangehendes verweist, welches die notwendige Bedingung für das Stattfinden des Nachfolgenden enthält. An die eigentliche Beweisführung der zweiten Analogie schließt Kant jedoch einige Erläuterungen an, die zumindest suggerieren, dass er in erster Linie Substanzen in der Rolle von Ursachen sieht.⁷⁸ Denn insofern jeder Zustand im Sinne einer akzidentiellen Bestimmung auf eine empirische Substanz bezogen werden muss, deren
Vgl. KrV A 204 f. Eric Watkins versucht in Kant and the Metaphysics of Causality zu zeigen, dass das Kausalitätsverständnis, das für Kant in der ersten Kritik leitend ist, tatsächlich dem Modell einer kausalen Aktivität von Substanzen (im Hinblick auf Akzidenzen als Wirkungen) entspricht. Dieses Modell von Kausalität, das Kants Argumentation in den „Analogien der Erfahrung“ zugrunde liegt, kann und sollte als eine Alternative zum humeschen Verständnis einer Kausalität von Ereignissen nach Naturgesetzen gelesen werden (vgl. Watkins 2004, S. 230 – 243).
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2 Spontaneität und Rezeptivität
Existenz in ihren verschiedenen Zuständen vorausgesetzt ist, liegt der Gedanke nahe, dass das, was vorausgehen muss, damit die Veränderung eines Zustands notwendigerweise folgt, als Verursachung durch eine Substanz zu beschreiben ist. Kant zufolge gibt es in diesem Sinne einen engen begrifflichen Zusammenhang zwischen Inhärenz und Kausalverhältnissen: „Weil nun alle Wirkung in dem besteht, was da geschieht, mithin im Wandelbaren, […] so ist das letzte Subjekt desselben das Beharrliche, als das Substratum alles Wechselnden, d.i. die Substanz“ (KrV A 205). Das „Wandelbare“, die Sukzession von akzidentiellen Zuständen, besitzt also Bestimmtheit durch eine empirische Substanz, die die Veränderung der Zustände als „Realgrund“⁷⁹ verursacht. Wenn demnach die Relation von Substanz und Akzidenz auch als eine Relation von Ursache und Wirkung zu verstehen ist, dann haben wir es folglich nicht mit einer Art der Kausalität zu tun, die zwischen einem verursachenden und einem erwirkten Ereignis besteht.⁸⁰ Eine Substanz, die in der Zeitfolge „beharrt“ und als solche in der Rolle einer Ursache gedacht wird, bewirkt eine Veränderung somit nicht wie ein distinktes Ereignis, das aufgrund eines kausalen Bewegungsgesetzes ein anderes distinktes Ereignis hervorruft. Sie verursacht die Veränderungswirkung vielmehr im Sinne einer „aktiven“ Hervorbringung, d. h. im Sinne einer „Handlung“: „Handlung bedeutet schon das Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung“ (KrV A 205) – und ist in diesem Sinne Kants Name für diejenige kausale Wirksamkeit, die „nur Substanzen beygemeßen werden“ kann (Metaphysik Volckmann 28:433).⁸¹ Sofern aber mit dem Gedanken einer Substanz als Ursache der Gedanke verbunden ist, dass sie den Charakter eines Subjekts besitzt, verstehen wir die Substanz als realen Grund der Wirkung und in diesem Sinne als Träger einer kausalen Kraft, die im Handeln ausgeübt wird: Denn eine Substanz, die einen „allgemeinen Grund von einer gewißen Art der Accidenzien enthält, ist [oder besser: hat] Kraft“ (Metaphysik Volckmann 28:431). Thematisieren wir demnach die kausale Relation einer Substanz in Hinsicht auf ihre Wirkungen, d. h. als eine geschehende (oder geschehene) Wirkung, dann sprechen wir, so Kant, von einer „Handlung“ (schließlich bedeutet „Handlung […] das Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung“, Hervorhebung von mir). Sobald wir aber eine kausale Relation in Hinsicht auf eine Substanz als Ursache betrachten, sprechen wir von einer „Kraft“, weil wir damit den „respectus der Substanz zu den accidentibus“ zum Ausdruck bringen, „in so fern sie den Grund der inhaerenzen So Kants Terminologie in den vorkritischen Metaphysikvorlesungen,vgl. Metaphysik Herder 28:24 f. Dies ist eine der Pointen von Eric Watkins‘ Lektüre der „Analogien der Erfahrung“ (vgl. Watkins 2004, S. 230 – 232). Man könnte freilich argumentieren, dass Kants eigentliche Beweisführung in der zweiten „Analogie“ mehrere Modelle von Kausalität (also auch das Modell einer Ereigniskausalität) zulässt (vgl. etwa Hennig 2011). Im Hinblick auf die kausale Bestimmtheit von Vorstellungen scheint jedoch das Kausalverständnis, das Substanzen als Ursachen von akzidentiellen Wirkungen vorsieht, einschlägig zu sein, weshalb auch in den folgenden Überlegungen dieses Verständnis leitend sein wird. Die Auffassung von Kausalität, die Kant in den „Analogien der Erfahrung“ vertritt, weist starke Parallelen zu seinen vorkritischen Überlegungen zur Kausalität von Substanzen auf. Darauf hat insbesondere Watkins (2004, S. 12) nachdrücklich hingewiesen.
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enthält“ (Metaphysik Volckmann 28:431, Hervorhebung von mir). Kant erläutert den begrifflichen Zusammenhang zwischen Kausalität und Substanz in diesem Sinne folgendermaßen: „Kausalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft und dadurch auf den Begriff der Substanz“ (KrV A 204). Diese Ordnung der Begriffe entspricht der Reihenfolge, in der die Kategorien der Kausalität und der Inhärenz – neben den Prädikabilien der Handlung und Kraft – die empirische Auffassung der zeitlichen Existenz von Erscheinungen a priori bestimmen (sofern wir sie als akzidentelle Bestimmungen einer Substanz verstehen).⁸² Die Erkenntnis beginnt mit der Wahrnehmung einer zeitlichen Folge von Veränderungen, die wir in dem Maße objektiv bestimmen können, wie wir den Wechsel von Zuständen als Wirkung einer Handlung und diese als Ausübung einer kausalen Kraft verstehen, welche wir wiederum einer Substanz als Grund der Veränderung zuschreiben. Mit dieser Beschreibung sind wir nun dort angelangt, wo eine „transzendentale Definition“ empirischer Vorstellungsvermögen ansetzen kann. Wenn wir nach der kategorialen Struktur des subjektiven Verhältnisses zu Vorstellungen fragen, dann geht es um eine apriorische Bestimmung der Kräfte, auf deren Basis gewisse Entitäten ihre „inneren Zustände“ – sofern sie diese erfahren und als Vorstellungen klassifizieren können – kausal hervorbringen. Folgen wir Kants Argumentation bezüglich der Grundsätze des empirischen Gebrauchs der Kategorien, dann ergibt sich die Notwendigkeit einer kausalen Erklärung von Vorstellungen aus dem Erfordernis, ihr „Dasein“ in der Zeit objektiv zu bestimmen. Um also die eigenen Vorstellungen in ihrer empirischen Bestimmtheit zu erkennen, rekurrieren wir auf die bestimmende Kraft, durch die wir als Substanzen den Wechsel des Zustands unserer Vorstellungen kausal hervorbringen. Die Frage, die sich angesichts der kategorialen Struktur von „Vorstellungskräften“ stellt, lautet nun freilich, wie sich diese bestimmende Kraft selbst bestimmen lässt. Können wir die Weise, in der ein kausal bestimmender Grund – die Substanz als Ursache – die Folge der ihr „inhaerierenden“ Zustände hervorbringt, a priori unter eine allgemeine Beschreibung bringen? Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten hat es nicht den Anschein, dass wir dazu in der Lage sind. Die kausale Aktivität der Substanz müsste selbst als ein „Dasein“ betrachtet werden, das in der Zeit bestimmbar ist, und das ist nach Kant nur möglich, wenn wir sie als eine „Begebenheit“ ansprechen, die wiederum als zeitliche
Wir sollten allerdings beachten, dass damit kein anspruchsvoller (etwa: intentional gehaltvoller) Begriff einer „Handlung“ oder eines „Subjekts der Kausalität“ verbunden ist. Ganz gleich, ob es sich um „innere“ oder „äußere“ Wirkungen, um die kausale Bestimmung des eigenen Zustands oder des Zustands anderer Entitäten handelt: „Handlung“ besagt im vorliegenden Kontext nicht mehr als die Verursachung einer Veränderung. Ein menschliches Subjekt bringt seine Vorstellungen in dieser Perspektive nicht grundlegend anders hervor als eine „bleierne Kugel“, die auf einem „ausgestopften Kissen“ liegt und in demselben „ein Grübchen“ hinterlässt (KrV A 203). Kants Punkt lautet eher, dass eine Substanz (Kugel oder menschliches Subjekt) deshalb mit Bezug auf eine Wirkung (Grübchen im Kissen oder Veränderung des Zustands von Vorstellungen) als „Subjekt der Kausalität“ angesprochen werden kann, weil sie der Veränderung als Invariante zugrunde liegt.
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Folge einer kausalen Aktivität gilt. Substanzen sind schließlich nur durch ihre Akzidenzen und in ihren Akzidenzen empirisch erkennbar. Eine aktive Substanz darf jedoch nicht mit ihrem akzidentellen Zustand verwechselt werden: „The causality of the cause is not and cannot be a determinate state, but rather must be a continuously efficacious activity“ (Watkins 2004, S. 257). Und daraus folgt, dass die „Kausalität der Ursache“, die kausale Kraft zur Hervorbringung von Vorstellungen, empirisch nicht erkannt werden kann, – weil sie selbst in ihrem zeitlichen Dasein nicht bestimmbar, d. h. kausal nicht erklärbar ist. Die Situation ist jedoch noch verzwickter, weil es sich beim Gedanken der kausalen Kraft einer Substanz, die den Wechsel innerer Zustände hervorbringt, nicht bloß um eine Grenze der empirischen Erkenntnis handelt, sondern zudem, wie es scheint, um einen inkonsistenten Gedanken. Denn eine Substanz, die ihre kausale Kraft im Sinne einer andauernden Aktivität entfaltet, weil sie im zeitlichen Wechsel ihrer Zustände unverändert „beharrt“, können wir ohne Weiteres kaum als Erklärung je verschiedener Veränderungen ins Feld führen.⁸³ Betrachten wir eine Substanz als kausalen „Realgrund“, dann müssen wir davon ausgehen, dass sie sich nicht ändert, sonst wäre sie keine in der Zeit andauernde Größe. Wenn der Realgrund aber unverändert bleibt, dann lassen sich aus ihm auch keine Veränderungen ableiten (sofern keine weiteren Bestimmungen eingeführt werden – die dann jedoch keine Bestimmungen der Substanz als Ursache sein dürften). Aus diesem Grund sind wir gar nicht in der Lage, eine empirische Substanz so zu verstehen, dass sie den Wechsel ihrer eigenen Vorstellungszustände kausal hervorbringt. Und folglich lässt sich auch der Eindruck kaum vermeiden, dass eine „transzendentale Definition“ empirischer Vorstellungskräfte ein sinnloses Unterfangen wäre. Dass dieser Eindruck täuscht, lässt sich mit Bezug auf Kants Argumentation in der dritten Analogie der Erfahrung begründen. Während er in der zweiten Analogie die apriorische Bedingung untersucht, aufgrund der die Zeitfolge von Erscheinungen empirisch bestimmbar ist, geht es in der dritten Analogie um die apriorische Bedingung, aufgrund der die gleichzeitige Existenz von empirischen Phänomenen erkannt werden kann. Da unsere subjektive Erfahrung stets sukzessiv verläuft, sind wir nicht in der Lage, allein auf der Basis der subjektiven Folge unserer Wahrnehmung zu entscheiden, ob sich Erscheinungen objektiv in Verhältnissen der Sukzession oder der Simultaneität befinden. Daher benötigt die empirische Erkenntnis ein apriorisches Prinzip, das ein Wissen von der Gleichzeitigkeit von Erscheinungen ermöglicht. Sofern das zeitliche Dasein empirischer Phänomene kausal zu bestimmen ist, nämlich als notwendige Folge einer vorangegangenen Ursache, muss die Gleichzeitigkeit von mehreren empirischen Entitäten ebenfalls in Termini von kausalen Relationen erschlossen werden. Wenn man jedoch davon ausgehen würde, so Kant, dass Sub-
Dies entspricht Kants eigener Argumentation in seiner vorkritischen Schrift über die „Ersten Prinzipien metaphysischer Erkenntnis“ (Nova dilucidatio 1:410 f.). Ich folge hier Eric Watkins’ Rekonstruktion von Kants Argument in dieser Passage (vgl. Watkins 2004, S. 113 – 117).
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stanzen „völlig isoliert“ voneinander existierten und in keiner kausalen Interaktion stünden (KrV A 212), gäbe es keine Möglichkeit, ihr zeitliches Verhältnis festzustellen. Eine Substanz, die von ihrer Umgebung kausal abgeschirmt wäre und deren Zustände keine Spur eines äußerlichen Einflusses in sich trügen, müssten wir so denken, dass sie allein durch ihre eigene kausale Aktivität die zeitliche Stellung ihrer Zustände objektiv bestimmen kann. Da wir jedoch gesehen haben, dass eine solche Substanz (im Sinne eines unveränderten Grundes) nicht als fähig gedacht werden kann, derart auf sich einzuwirken, dass sie ihre Zustände ändert, können wir auch nicht annehmen, dass eine Erkenntnis des zeitlichen Daseins von kausal isolierten Substanzen möglich wäre. Um also zeitliche Verhältnisse zwischen Substanzen festzustellen, müssen wir davon ausgehen, so Kant, dass dieselben nicht in kausaler Isolation existieren, sondern vielmehr in einer „durchgängigen Gemeinschaft der Wechselwirkung untereinander stehen“ (KrV A 213). Darin besteht der Grundsatz der dritten Analogie: Allein dadurch, dass ich die zeitliche Bestimmung eines Zustands der Substanz A auf die Kausalität einer Substanz B zurückführe und diese Erfahrung zusätzlich mit der Erkenntnis verbinde, dass das zeitliche Dasein von B durch den kausalen Einfluss von A bestimmt wird, kann ich meine Erfahrung dieser Gegenstände in ein und derselben Zeit situieren.⁸⁴ Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Substanzen mit allen anderen Substanzen kausal interagieren müssen; es besagt nur, dass wir alle empirischen Entitäten so zu betrachten haben, dass sie in kausaler Interaktion mit ihrer Umgebung stehen, so dass eine „durchgängige“ Bestimmung ihrer zeitlichen Existenz möglich ist. Kants Argument für die dritte Analogie, das im Detail nicht leicht zu rekonstruieren ist, enthält eine wichtige Implikation für das Vorhaben einer „transzendentalen Definition“ empirischer Vorstellungskräfte.⁸⁵ Substanzen sind allein in ihren Zustän-
Vgl. KrV A 212 f. Kants Rede von der Koexistenz verschiedener Substanzen sollten wir nicht als strikte oder „punktuelle“ Simultaneität deuten.Was er vor Augen hat, betrifft eher das Problem, wie wir erkennen können, dass mehrere Substanzen zur gleichen Zeit existieren, – was auch eine Zeitspanne oder Dauer beinhalten kann. Auf ähnliche Weise dürfen wir uns die kausale Artikulation einer zeitlichen Folgebeziehung nicht als strikte Sukzession vorstellen. „Die Zeit zwischen der Kausalität der Ursache, und deren unmittelbaren Wirkung, kann verschwindend (sie also zugleich) sein, aber das Verhältnis der einen zur anderen bleibt doch immer, der Zeit nach, bestimmbar“ (KrV A 203), nämlich im Sinne einer irreversiblen Beziehung der kausalen Folge. Wir sollten nicht vergessen, dass es in der dritten Analogie der Erfahrung um die Erkenntnis von Substanzen geht, „sofern sie im Raum als zugleich wahrgenommen werden können“ (KrV B 256). Diese Bedingung schließt natürlich die „innere“ Wahrnehmung der eigenen Vorstellungszustände aus (die allein in der Zeit, nicht im Raum situiert ist), weshalb die dritte Kategorie der Relation, die „Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden)“ (KrV A 80), auch nicht auf den Begriff von Vorstellungen angewendet werden kann (und mithin keine Relevanz für die „Definition“ von Vorstellungskräften hat). Kants Überlegungen im Kontext der dritten Analogie besitzen aber dennoch eine wichtige Implikation für ein Verständnis von Vorstellungsvermögen: Sie machen deutlich, dass ein Subjekt seine eigenen Vorstellungszustände nur in Abhängigkeit zum kausalen Einfluss von anderen Substanzen hervorbringen kann. Diese Einsicht stammt zwar aus dem Kontext des Arguments der dritten Analogie, in der Kant die Notwendigkeit der Annahme einer kausalen Interaktion
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den objektiv erkennbar. Was ein Subjekt durch seinen „inneren Sinn“ von sich weiß, reduziert sich dementsprechend auf das, was es durch die Wahrnehmung der eigenen Vorstellungen von sich erkennen kann. Wäre diese „innere“ Erfahrung auf ein kausal geschlossenes System bezogen, d. h. wären Vorstellungen ausschließlich durch Rekurs auf das Subjekt als Substanzursache zu erklären, dann gäbe es schlicht keine Möglichkeit, die eigenen Zustände empirisch zu erkennen (weil sie gar nicht erklärt werden könnten). Wir müssen deshalb unsere Zustände so verstehen, dass ihre Veränderung durch die Kausalität anderer Substanzen verursacht wird. Aus dieser Auffassung folgt jedoch nicht, dass wir den Gedanken eines Subjekts, das als Substanz seinen Vorstellungen ursächlich zugrunde liegt, aufzugeben hätten.⁸⁶ Wir sind vielmehr dazu angehalten, die Weise, in der die aktive Kraft eines empirischen Subjekts, das seine Vorstellungen als Realgrund verursacht, sich entfaltet, von Anfang an so zu verstehen, dass sie von den Wirkungen der Kausalität anderer Substanzen abhängig ist. Indem wir derart die inneren Zustände einerseits auf die kausale Kraft des Subjekts und andererseits auf die kausale Kraft anderer Substanzen beziehen, führen wir so eine Unterscheidung in diese Zustände ein, – nämlich diejenige zwischen passiven und aktiv erzeugten Zuständen. Aus der Perspektive der „inneren Erfahrung“ steht die aktive Kraft eines empirischen Subjekts daher in einem engen Zusammenhang mit der passiven Fähigkeit desselben Subjekts, Veränderungen in den eigenen Zuständen zu erleiden. Auf diese Weise können wir auch verstehen, inwiefern diese Zustände überhaupt den Charakter von Vorstellungen haben können: Sie beziehen sich auf einen Gegenstand dadurch, dass sie sich auf die Veränderungen beziehen, die andere Substanzen in den inneren Zuständen verursachen. Und damit löst sich auch das Problem auf, demzufolge eine Substanz auf ihre eigenen Zustände nicht so einwirken kann, dass sie diese verändert. Denn wir nehmen an, dass Veränderungen in den inneren Zuständen durch die Kausalität anderer Substanzen hervorgebracht werden, was zugleich zu Veränderungen im gegenständlichen Inhalt derjenigen Vorstellungszustände führt, die als Wirkungen der kausalen Aktivität des Subjekts gelten können.Wir müssen demnach zwei Aspekte an Vorstellungen distinkt halten: Insofern wir diese mittels der Kategorie der Inhärenz denken, die zugleich eine kausale Relation artikuliert, sind Vorstellungen Wirkungen der kausalen Kraft des Subjekts. Das erklärt jedoch nur ein Moment ihres „Daseins“. Denn hinsichtlich ihres Gegenstandsbezugs begreifen wir Vorstellungen als Wirkungen der Kausalität ihrer Gegenstände. In der „innerlich“ erfahrbaren Existenz der eigenen Vorstellungen überkreu-
zwischen Substanzen rechtfertigt. Dieser Gedanke lässt sich aber problemlos auf den Fall von Vorstellungskräften übertragen, weil Kants Argumentation allein auf die kausale Bestimmbarkeit zeitlicher Relationen abhebt. Die Unmöglichkeit, empirische Substanzen in kausaler Isolation zu denken, hat somit Konsequenzen für die Auffassung von der Weise, in der ein Subjekt kausal auf seine eigenen Vorstellungen bezogen ist. Die Begründung dafür ist in einer rein psychologischen oder anthropologischen Perspektive auf Vorstellungen nicht einzusehen. Sie lässt sich allein in einer Perspektive gewinnen, die auf das Selbstbewusstsein im Vollzug von Vorstellungen rekurriert. Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 2.3.
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zen sich somit die Wirkungen der aktiven Kraft des Subjekts mit den Einwirkungen auf dessen „Empfänglichkeit“. Auf diese Weise gewinnen wir also eine kategoriale Bestimmung unserer empirischen Erkenntniskraft: „In Anbetracht des Zustandes der Vorstellungen ist mein Gemüt entweder handelnd und zeigt Vermögen (facultas), oder es ist leidend und besteht in Empfänglichkeit (receptivitas). Ein Erkenntnis enthält beides verbunden in sich“ (Anthropologie 7:140). Als Erkenntnis wird also hier eine Vorstellung verstanden, die einem „empirischen Ich“ als Wirkung seiner Handlung in dem Maße inhäriert, wie ihr Bezug auf einen Gegenstand dabei zugleich als Wirkung dieses Gegenstands gedacht wird. Sofern wir dabei solche Vorstellungen als eine „Art der Accidenzien“ ansprechen, deren „allgemeiner Grund“ in der „Substanz“ enthalten ist, der sie inhärieren (Metaphysik Volckmann 28:431), beschreiben wir sie als Aktualisierung einer Kraft. Das Subjekt im Sinne einer Substanz („Seele“), d. h. als Sitz eines „allgemeinen Grundes“ der „Accidenzien“, bleibt jedoch aller empirischen Selbsterkenntnis entzogen. Das bedeutet aber nicht, dass seine kausale Kraft ebenfalls jeder empirischen Bestimmung verschlossen bleibt. Eine Kraft ist nicht mit der Substanz identisch, der sie angehört.⁸⁷ Sie artikuliert vielmehr den Nexus zwischen einer Substanz als (unverändertem) Realgrund zu ihrer realen Folge. Wir können sie daher in zwei Hinsichten betrachten. Während sie zwar hinsichtlich der Substanzursache (als „bestimmende“ Kraft) empirisch nicht bestimmbar ist, lässt sie sich hinsichtlich ihrer Wirkungen empirisch bestimmen, in denen sich die Substanz als handelnde „offenbart“ (KrV A 204), – nämlich in dem Maße, wie sie dabei von „Affektionen“, von passiv erlittenen Änderungen des inneren Zustands als abhängig gedacht wird. „Vorstellungen, in Ansehung deren sich das Gemüt leidend verhält […], gehören zum sinnlichen […] Erkenntnisvermögen“ (Anthropologie 7:140). Durch Vorstellungen also, die als Handlungen eines Subjekts gelten, wird das „Gemüt“ in der Position eines „Leidenden“ situiert, weil der Gegenstandsbezug dieser Vorstellungen passiv konstituiert wird. Die „transzendentale Definition“ der empirischen Erkenntniskraft entspricht demnach der apriorischen Charakterisierung eines eminent sinnlichen Erkenntnisvermögens, weil dessen empirische Bestimmtheit allein mit Blick auf diejenige „Rezeptivität“ des Ich gewonnen werden kann, durch die die Aktivität des Vorstellens einen Inhalt bekommt. Wenn wir im Auge behalten, dass Vorstellungen grundsätzlich solche inneren Zustände beschreiben, bei denen das Verhältnis der Inhärenz (in einer Substanz) unmittelbar ein Verhältnis der Kausalität beschreibt – derart, dass das Subjekt als Ursache der ihm inhärierenden Vorstellungen gilt –, können wir die „transzendentale Definition“ der sinnlichen Erkenntniskraft auf folgende Formel bringen: Sie ist das Vermögen, Gegenstände durch die Einwirkung externer Substanzen auf das Subjekt vorzustellen. Vorstellungen, die sich auf diese Weise auf Gegenstände beziehen, nennt Kant „sinnliche Anschauungen“, während er denjenigen Aspekt von
Das betont Kant mehrmals in seinen Metaphysik-Vorlesungen, vgl. etwa Metaphysik Herder 28:25, Metaphysik Volckmann 28:431.
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sinnlichen Anschauungen, die durch eine kausale Affektion von externen Entitäten entstanden sind, als „Empfindungen“ bezeichnet: „Die Wirkung eines Gegenstands auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch“ (KrV A 20). Durch seine anschaulichen Vorstellungen wird ein Subjekt demnach in ein spezifisches kausales Verhältnis zu Gegenständen versetzt: Es befindet sich hinsichtlich seines Zustands in der Position der Wirkung (und der Gegenstand in der Position der Ursache). Wir sollten an dieser Stelle noch eine zweite Implikation von Kants Argumentation im Rahmen der dritten Analogie der Erfahrung berücksichtigen, die für das transzendentale Verständnis von empirischen Vorstellungskräften instruktiv ist. Aus der Unmöglichkeit für die Erfahrungserkenntnis, empirische Entitäten kausal isoliert zu betrachten, folgt für die „innere“ Erfahrung, dass Vorstellungen nicht allein in einer kausalen Relation zu der Substanz, der sie inhärieren, sondern ebenfalls in kausalen Relationen zu anderen Substanzen stehen. Auch wenn die Kategorie einer „Gemeinschaft der Wechselwirkung“ für die „innere Erfahrung“ nicht konstitutiv ist – die kausale Reziprozität zwischen körperlichen Substanzen kann als solche in der Selbstanschauung keine Rolle spielen –, so enthält der Gedanke der Notwendigkeit kausaler Interaktion dennoch den wichtigen Hinweis, dass die inneren Vorstellungszustände eines Subjekts nur in dem Maße als Wirkung anderer Substanzen in Betracht kommen, wie ein Subjekt umgekehrt auch als Quelle der Veränderung des Zustands anderer Substanzen angesehen werden kann. Das „Dasein“ von Vorstellungen muss sich somit nicht allein durch die (passive) „Empfänglichkeit“ des Subjekts für die Kausalität externer Gegenstände erklären lassen, sondern zudem in Hinsicht auf die (aktive) Kausalität des Subjekts, Veränderungen in externen Gegenständen hervorzubringen. Vorstellungen, die auf die Veränderung von Gegenständen gerichtet sind, gehören für Kant zum Begehrungsvermögen: dem Vermögen, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (KpV 5:9 Fn). Im Gegensatz zur Erkenntniskraft situieren demnach Vorstellungen, die eine Aktualisierung des Begehrens darstellen, ihr Subjekt in der Position der Ursache und den Gegenstand in der Position der Wirkung. Die Frage lautet nun, inwiefern dieser Begriff von Kausalität der kategorialen Charakterisierung einer empirischen Vorstellungskraft entsprechen kann. Denn dazu ist erforderlich, dass diese Vorstellungskraft auch auf der Basis jener Charakterisierung empirisch bestimmt werden kann. „Begierde (appetitio)“, schreibt Kant in der Anthropologie, „ist die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjekts durch die Vorstellung von etwas Künftigen, als einer Wirkung desselben“ (Anthropologie 7:251). Da wir eine solche „Selbstbestimmung“ nicht einfach auf ein in der Zeit „beharrendes“ Ich (im Sinne eines unveränderten Realgrundes) zurückführen können – schließlich kann dieses Ich die Hervorbringung von je unterschiedlichen Veränderungen in anderen Entitäten nicht erklären –, lässt sich die Kraft des Begehrens nur durch Rekurs auf eine Art von „Rezeptivität“ denken, aufgrund der ein Subjekt zur kausalen Hervorbringung einer Veränderung in seinen Gegenständen bestimmt wird. Sofern diese Art von
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Empfänglichkeit jedoch einer „Selbstbestimmung der Kraft des Subjekts“ gleichkommen soll, ist es nicht möglich, sie auf die „Affektion“ durch externe Gegenstände zu beziehen. Sie muss sich vielmehr von der Rezeptivität unterscheiden, die für die Erkenntnis charakteristisch ist. Genauso muss die Rolle, die die Kausalität anderer empirischer Entitäten bei der Bestimmung der Erkenntnis spielte, im Fall des Begehrens von einer dritten Art der Kausalität übernommen werden – einer Kausalität, die weder mit der Wirksamkeit von Gegenständen (hinsichtlich der Zustände des Subjekts) noch mit der Wirksamkeit des Subjekts (hinsichtlich der Zustände von Gegenständen) identisch ist. Kant situiert die Kraft der „Begierde“ in der „Vorstellung von etwas Künftigen, als einer Wirkung desselben“.Was also bestimmt die Vorstellung von einer künftigen Wirkung dazu, kausal hervorbracht zu werden?⁸⁸ Für die empirische Perspektive der „inneren Erfahrung“ kann dies allein auf der Basis der Rezeptivität des Gefühls geschehen: dadurch, dass die Vorstellung der „künftigen“ Wirklichkeit eines Objekts derart auf den inneren Zustand des Subjekts wirkt, dass es zur Hervorbringung des Gegenstands der Vorstellung bewegt wird. Die dritte Art der Kausalität, die für Vorstellungen im Allgemeinen charakteristisch ist, entspricht demnach der subjektiven Kausalität einer Selbstaffektion: Es handelt sich um eine „Beziehung der Vorstellungen […] auf das Gefühl der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objekte [der Vorstellungen] bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt“ (KU 5:203 f.). Indem sich ein Subjekt also einen Gegenstand vorstellt – resp. eine mögliche Wirkung seiner eigenen Kausalität vor Augen führt –, hat dies einen Effekt auf seinen inneren Zustand: Das Subjekt „fühlt sich selbst“. Dieses Selbstgefühl verdient in dem Maße den Namen eines besonderen Vorstellungsvermögens, wie es eine spezifische Art von Vorstellung enthält, in der die Selbstaffektion qualifiziert wird, nämlich „Lust“ und „Unlust“: Erstere bestimmt Kant als „die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung […] mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekts (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung es hervorzubringen)“ (KpV 5:9 Fn). Lust beschreibt somit, wie Kant in der dritten Kritik deutlich macht, ein Gefühl, „was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden“ (KU 5:204). Bei einer solchen Vorstellung liegt somit der Akzent auf der antizipierten Wirklichkeit eines Gegenstandes im Sinne eines (möglichen) Resultats der Kausalität des eigenen Handelns. Diese Vorstellung ist es demnach, die eine kausale Wirkung auf die Vorstellung des inneren Zustands des Subjekts in Gefühlen der Lust und Unlust hat: „Das Gefühl, welches das Subjekt antreibt, in dem Zustande, darin es ist, zu bleiben, ist angenehm; das aber, was antreibt, ihn zu verlassen, unangenehm“ (Anthropologie 7:254). Die Gefühle des Angenehmen und Unangenehmen, also Lust und Unlust, besitzen freilich nicht den Status von Das „physische Vermögen“ des Subjekts zu einer solchen Hervorbringung kann die Bestimmung der Begierde nicht erklären; es „gehört […] zum Mechanism der Natur“ und betrifft allein die Möglichkeit der Ausführung, nicht aber die der Bestimmung der Begierde selbst (Metaphysik Mrongovius 29:894).
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Urteilen. Sie artikulieren vielmehr das unmittelbare sinnliche Bewusstsein des inneren Zustands, also keine Vorstellung von einem Gefühl, sondern ein vorstellendes Gefühl, das zugleich eine Tendenz zum Ausdruck bringt, eine „Emotion“ oder „Selbstbewegung“: Die Selbstaffektion durch Vorstellungen wird als angenehm oder unangenehm vorgestellt und darin als ein Bestreben empfunden, in dem Zustand zu bleiben oder ihn zu verlassen.⁸⁹ Je nachdem also, ob die Affektion des Subjekts durch die Vorstellung einer „künftigen Wirkung“ ein angenehmes oder ein unangenehmes Gefühl verursacht, wird die kausale Kraft des Begehrens zur Hervorbringung dieser Wirkung veranlasst oder davon abgehalten. Die Details dieser Erläuterungen gehören freilich nicht zur kategorialen Spezifizierung der Vorstellungskräfte des Subjekts. Sie führen vielmehr aus, wie anthropologische oder psychologische Beschreibungen auf der Basis dieser kategorialen Spezifikationen möglich werden. Für unseren Kontext ist entscheidend, dass die empirischen Vorstellungskräfte der Erkenntnis und des Begehrens als Artikulationen einer aktiven Kraft und einer sinnlichen Rezeptivität bestimmt sind. Die aktive Kraft des Subjekts wird dabei so gedacht, dass sie Vorstellungen von Gegenständen allein in Abhängigkeit von einer passiv empfangenen Wirkung hervorbringt. Während im Fall der Erkenntnis das „Dasein“ von Vorstellungen auf die kausalen Veränderungen bezogen wird, die deren Gegenstände in den inneren Zuständen des Subjekts hervorrufen, müssen wir im Fall der „objektiven“ Kausalität des Begehrens (hinsichtlich der hervorzubringenden Wirklichkeit von Gegenständen) das „Dasein“ von Vorstellungen auf die Veränderungen beziehen, die diese Vorstellungen gemäß der „subjektiven“ Kausalität des Gefühls verursachen. Tab. 1: Die kausalen Definitionen der empirischen Vorstellungskräfte Gegenstand
Vorstellung
als Ursache Subjekt
Begehren
als Ursache als Wirkung
als Wirkung
vorgestellte Existenz des Gegenstands als Ursache
Erkenntnis
Gefühl
Im Gegensatz zur Erkenntnis haben wir es im Fall des Begehrens demnach mit einer Artikulation von zwei Vorstellungsvermögen zu tun: Vorstellungen beziehen sich begehrend auf einen Gegenstand dadurch, dass sie sich auf die Veränderungen beziehen, die die Vorstellung von diesem Gegenstand (als einer „künftigen Wirkung“) im Selbstgefühl des Subjekts erzeugen. Vorstellungen beziehen sich hingegen erkennend auf einen Gegenstand, indem sie sich auf die Veränderungen beziehen, die Substanzen qua „Affektion“ in den inneren Zuständen hervorrufen. Ihre „transzendentale
Wir haben es somit mit einer eigentümlichen Art der Vorstellung zu tun, die weder anschauend noch urteilend, weder darstellend noch begreifend ist.
2.2 Die intellektuelle Artikulation der subjektiven Grundvermögen
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Definition“ besteht darin, dass sie sich durch die Empfindung dieser Veränderungen auf einen Gegenstand beziehen. Die Empfindung selbst stellt kategorial keine eigenständige Form von Vorstellung dar, – sie hat den Status einer „bloßen Modifikation unserer Sinnlichkeit“ (KrV A 129) und bildet in diesem Sinne einen unselbstständigen Aspekt von Vorstellungen der Erkenntnis. In der empirischen Perspektive auf die Erkenntnis markiert die Empfindung jedoch das definierende Element: Die kausale Relation, die im Zentrum der Erkenntnis steht, ist das Verhältnis zwischen dem Gegenstand als Ursache und dem Subjekt (resp. seinem Zustand) als Wirkung. Das Gefühl besitzt hingegen eine kategorial eigenständige Form der Vorstellung, weil es durch ein Kausalverhältnis definiert ist, das sich sowohl von dem Kausalverhältnis der Erkenntnis wie vom dem des Begehrens unterscheidet: Während im Begehren das „Dasein“ von Vorstellungen so gedacht wird, dass das Subjekt in der Position der Ursache und der Gegenstand in der Position der Wirkung sind, entspricht das Gefühl einem unmittelbaren sinnlichen Bewusstsein von den Effekten, die gegenstandsbezogene Vorstellungen im Subjekt hervorrufen. Das Subjekt befindet sich hier somit zugleich in der Rolle einer Ursache (in Hinsicht auf seine Vorstellung) und in der Rolle einer Wirkung (in Hinsicht auf die Rezeptivität seines inneren Zustands).
2.2 Die intellektuelle Artikulation der subjektiven Grundvermögen Wenn wir uns nun der kategorialen Definition der Vorstellungsverhältnisse aus der Perspektive des „reinen“ Selbstbewusstseins zuwenden, dann sollten wir diesen Perspektivenwechsel nicht so verstehen, dass wir das Thema wechseln und uns auf andere Vermögen beziehen. Es geht uns vielmehr um die gleichen Vorstellungsvermögen, die im Kontext der „transzendentalen Definitionen“ der empirischen Vorstellungskräfte eingeführt wurden, und mithin um dieselben kategorialen Verhältnisse. Wir betrachten sie aber nun aus dem Blickwinkel des reinen Selbstbewusstseins, d. h. aus der Perspektive dessen, was wir von unseren Vorstellungen a priori dadurch wissen, dass wir sie vollziehen. Vorstellungen erscheinen somit nicht als Gegenstände unserer „inneren“ Erfahrung; wir beziehen uns auf Vorstellungen vielmehr im Sinne von Handlungen, die wir selbst vollziehen. Auf diese Weise erscheinen jene kategorial spezifizierten Verhältnisse in einem anderen Licht. Wir betrachten sie unter einem Aspekt, der im Rahmen ihrer empirischen Artikulation notwendig unbestimmt bleiben musste: dem Aspekt des handelnden Subjekts, das „als Ursache“ der Hervorbringung von Vorstellungen zugrunde liegt. Die Vorstellungskräfte der Erkenntnis und des Begehrens konnten wir als empirische nur in dem Maße denken, wie wir sie auf die Kausalität externer Gegenstände oder auf die subjektive Kausalität des Gefühls bezogen, in denen das Subjekt nicht als handelndes („als Ursache“) in Betracht kam. Vorstellungen hatten zwar kategorial den Status von Wirkungen, die aus der Aktivität des Subjekts resultieren; ihre empirische Bestimmtheit ließ sich jedoch allein durch Rekurs auf seine Rezeptivität einsehen. Wenn wir das Vorstellungsverhältnis aber nun
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als einen intellektuellen Bezug und mithin als einen Bezug des Selbstbewusstseins thematisieren, verstehen wir es hingegen so, dass es seinen Grund oder seine Quelle der Bestimmtheit im Subjekt hat. Das ähnelt Kants Beschreibung empirischer Substanzen in den „Analogien der Erfahrung“, in der Zeitverhältnisse als Relationen zwischen akzidentellen Erscheinungen und Substanzen betrachtet werden, die als Realgrund im Wechsel der Akzidenzien unverändert „beharren“. Als Korrelat des Selbstbewusstseins, das im Vollzug von Vorstellungen liegt, lässt sich der subjektive Grund zwar als ein solcher ansprechen, der Vorstellungen „unverändert“ zugrunde liegt; weil er jedoch keinen Gegenstand der „inneren“ Erfahrung darstellt, sondern vielmehr ein „Bewusstsein des bloßen Tuns und Lassens“ beschreibt, können wir ihn nicht mehr als eine zeitliche Größe klassifizieren. Genauso dürfen wir unsere Vorstellungen nicht mehr als Erscheinungen auffassen, die in einer zeitlichen Ordnung stehen (denn Verhältnisse der Zeitlichkeit gibt es allein als Korrelate der Erfahrung). Hinsichtlich unseres Selbstbewusstseins im Vollzug von Vorstellungen haben zeitliche Schemata daher keine Anwendung. Die Anwendung der „dynamischen“ Verhältniskategorien, die im Fall der empirischen Vorstellungskräfte thematisch waren, aber nun mit Blick auf ihre apriorische Bestimmtheit im Selbstbewusstsein betrachtet werden, müssen wir daher anders begreifen. Hinsichtlich der Kategorie der Inhärenz scheint dies unproblematisch zu sein, insofern wir davon ausgehen, dass das Verhältnis des Subjekts zu seinen Vorstellungen ein selbstbewusstes ist. Dadurch, dass die Tätigkeit des Vorstellens die Tätigkeit einschließt, eine Vorstellung zu der anderen „hinzuzusetzen“, enthält sie den Akt einer „Verbindung“ und Vereinigung der Vorstellungen „in einem Bewußtsein“ (KrV B 133) und somit auch den Gedanken, dass sie allesamt diesem Bewusstsein angehören. Als vollzogene können Vorstellungen freilich Gegenstände der „inneren Erfahrung“ werden und infolgedessen in zeitlichen Verhältnissen erscheinen. Im selbstbewussten Vollzug des Vorstellens sind diese Verhältnisse hingegen nicht zeitlich artikuliert: Vorstellungen werden nicht in eine Ordnung des Nacheinanders gebracht, sondern vielmehr in die begriffliche und inferentielle Ordnung der „Einheit der Apperzeption“ (KrV B 133).⁹⁰ Die Struktur des Selbstbewusstseins beschreibt Kant in diesem Sinne als ein Verhältnis der „Vorstellung Ich denke“, die alle anderen Vorstellungen „begleitet“ (resp. „muß begleiten können“) und dabei wiederum von keiner weiteren Vorstellung begleitet werden kann (KrV B 131). Auf der Basis dieses Bewusstseins einer apriorischen „Synthesis der Vorstellungen“ ist das Subjekt somit in der Lage, sich „die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen“ selbst vorzustellen (KrV B 133), d. h. sein Verhältnis zu Vorstellungen im Allgemeinen als ein Verhältnis der Inhärenz zu denken (als Innewohnen einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen in einem Bewusstsein). Als kategoriale Struktur nicht der Selbsterfahrung, sondern des Selbstbewusstseins beschreibt „Inhärenz“ somit nicht das fundamentale
Zu einem präzisen Verständnis dieser Einheit des Selbstbewusstseins vgl. Engstrom 2009, S. 98 – 108.
2.2 Die intellektuelle Artikulation der subjektiven Grundvermögen
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Verhältnis, auf dessen Basis Vorstellungen in ihrem zeitlichen Wechsel (als Folge von Veränderungen an einem unverändert Beharrenden) überhaupt erst objektiv bestimmbar werden; sie beschreibt vielmehr das fundamentale Verhältnis, auf dessen Basis Vorstellungen sich überhaupt erst auf Gegenstände objektiv beziehen können. Hinsichtlich der Frage, inwiefern die Kategorie der Kausalität als apriorische Bestimmung intelligibler Verhältnisse verstanden werden kann, begegnen wir jedoch der Schwierigkeit, dass jenseits von zeitlichen Relationen Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung kaum sinnvoll anzunehmen sind. Im Abschnitt über die „Analogien der Erfahrung“ beschreibt Kant die Leistung der Kategorie der Kausalität so, dass nur sie es erlaubt, das zeitliche Dasein einer „Begebenheit“ objektiv zu bestimmen: „Wenn wir erfahren, daß etwas geschieht, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, worauf es nach einer Regel folgt“ (KrV A 195). Was wir hingegen a priori durch unser Selbstbewusstsein von unseren Vorstellungen wissen – also dadurch, dass wir sie zu einer Einheit verbinden –, bezieht sich auf keine „innere“ Erfahrung, erschließt keine zeitliche Begebenheit und lässt sich dementsprechend auch nicht gemäß der Relation der Kausalität schematisieren. Die Schwierigkeit, die ein intelligibler Gebrauch der Kategorie der Kausalität mit sich bringt, besteht genauer darin, dass wir Vorstellungen, die sich im Sinne von selbstbewussten Akten auf einen Gegenstand beziehen, weder als Wirkungen noch als Ursachen ansprechen können. Der Begriff der Wirkung enthält den Begriff der Veränderung (des Entstehens und Vergehens) und kann in diesem Sinne auch nur im Rahmen zeitlicher Verhältnisse in Anschlag gebracht werden. Der Begriff der Ursache wiederum war im Kontext der empirischen Vorstellungskräfte stets auf „Naturursachen“ bezogen, d. h. auf empirische Substanzen, die als zeitliche Größen verstanden wurden (als im Wechsel von Akzidenzen andauernde oder beharrende Erscheinungen). Sobald die Relationen der Erkenntnis und des Begehrens jedoch als intellektuelle Relationen gedacht werden müssen, d. h. als Relationen, die durch den selbstbewussten Akt der Vereinigung von Vorstellungen in einem Bewusstsein Bestimmtheit besitzen, dürfen wir das „Dasein“ von Vorstellungen weder als Ursache noch als Wirkung in jenem Sinne spezifizieren. Wenn also erstens die Handlung, „das Mannigfaltige der (sinnlichen) Anschauung unter ein Bewußtsein a priori zu bringen“, oder die Handlung, „das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft […] zu unterwerfen“ (KpV 5:65), jeweils Vorstellungen hervorbringt, die sich erkennend oder begehrend auf einen Gegenstand beziehen, und wenn zweitens das „Dasein“ dieser Vorstellungen durch Verhältnisse der „Dependenz“ kategorial zu charakterisieren ist, dann können wir diese Relationen der Abhängigkeit nicht als kausale Abhängigkeiten denken. Wird die Kategorie der „Kausalität und Dependenz“ damit hinfällig? Nein. Wir müssen sie vielmehr als intelligibles Verhältnis der „existenziellen Dependenz“ reformulieren. Die Abhängigkeit der Erkenntnis von ihren Gegenständen sowie die Abhängigkeit des Begehrens von Gefühlen der Lust und Unlust beschreiben keine Formen der kausalen Dependenz, sondern Formen der existenziellen Abhängigkeit. Auf diese Weise behalten wir die generelle Kontur der relationalen Kategorie der
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2 Spontaneität und Rezeptivität
Kausalität bei: Der Begriff der existenziellen Abhängigkeit bezieht sich auf das „Dasein“ von etwas, und das bedeutet im vorliegenden Fall: auf die Konstitution der Existenz von Vorstellungen. Und er spezifiziert diese Konstitution dadurch, dass er ihre Existenz in asymmetrische Bedingungsverhältnisse zu der Existenz des Subjekts und zum Dasein von Gegenständen setzt. Für das intelligible Vermögen der Erkenntnis gilt in diesem Sinne, dass die Existenz einer gegenstandsbezogenen Vorstellung die Existenz exakt desjenigen Gegenstands erfordert, auf den sie sich bezieht. Die Existenz dieses Gegenstands ist folglich auf strikte Weise in der Existenz der Vorstellung impliziert.⁹¹ Die Relation zwischen beiden lässt sich dabei nicht umkehren: Wir können die Existenz des Gegenstands denken, ohne dabei zugleich die Existenz einer subjektiven Vorstellung vom Gegenstand annehmen zu müssen; die Existenz einer Vorstellung der Erkenntnis ist aber nur möglich, wenn die Existenz des Gegenstands dabei vorausgesetzt wird.⁹² Für das intellektuelle Vermögen des Begehrens gilt das gleiche, nur in umgekehrter Richtung: Der Gegenstand existiert in dem Maße, wie eine Vorstellung existiert, die sich auf genau diesen Gegenstand bezieht. Das Begehrungsvermögen entspricht somit der Fähigkeit, Gegenstände (durch Vorstellungen) hervorzubringen, die a priori so verstanden sind, dass sie in einer Relation der strikten existenziellen Abhängigkeit zu ihren Vorstellungen stehen. Was diese Fassung der Kategorie der „Dependenz“ vom Begriff der Kausalität unterscheidet, betrifft vor allem den explanatorischen Gehalt der Abhängigkeitsrelation: Im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung bleibt im Fall der existenziellen Abhängigkeit offen, ob die Bedingung das Bedingte auch erklärt. Wenn wir das Verhältnis zwischen Erkenntnis und Gegenstand als ein Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit verstehen, dann behaupten wir damit also nicht notwendig, dass die Existenz des Gegenstandes auch das Vorliegen der Erkenntnis erklärt. Die Relevanz dieses Umstands wird noch deutlich werden. An dieser Stelle ist zunächst wichtig, dass in der Hinsicht, in der Vorstellungen durch selbstbewusste Akte der Vereinigung Bestimmtheit besitzen, die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Vorstellungen und Gegenständen sowie zwischen Gefühlen und Gegenstandsvorstellungen keinen Kausalverhältnissen entsprechen. Insofern Vorstellungsvermögen durch intellektuelle Verhältnisse zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und deren Gegenständen bestimmt sind, haben wir es stattdessen durchgängig, so die These, mit Verhältnissen der existenziellen Abhängigkeit zu tun. Ich werde im Folgenden versuchen, diesen Gedanken in zwei Schritten zu plausibilisieren. Der erste Schritt gilt einer genaueren Charakterisierung dessen, was es heißt, die Verhältnisse zwischen Subjekt, Vorstellung und Gegenstand als intellektu-
Vgl. zu dieser basalen Fassung der Relation der existenziellen Abhängigkeit Correia 2008, S. 1014– 1016. Für einen Überblick über die verschiedenen Varianten der existenziellen Abhängigkeit siehe Tahko/Lowe 2016. Dies entspricht dem Gedanken der „Separierbarkeit“, den Aristoteles als Kriterium für die Asymmetrie in einem Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit bestimmt hat, siehe Aristoteles 1991, V 11. 1019 a, sowie dazu Corkum 2008, S. 71– 84.
2.2 Die intellektuelle Artikulation der subjektiven Grundvermögen
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elle zu verstehen. Im zweiten Schritt werde ich erläutern, weshalb wir die intellektuelle Artikulation dieser Verhältnisse so verstehen sollten, dass sie kategorial durch Verhältnisse der existenziellen Abhängigkeit gekennzeichnet ist. In der empirischen Artikulation der Vorstellungsverhältnisse galt das empirische Subjekt insofern als „Ursache“ von Vorstellungen, als es diese hervorbringt. Allerdings konnte diese Hervorbringung nicht so begriffen werden, dass das Subjekt den gegenständlichen Inhalt seiner Vorstellungen bestimmt (sofern der Gedanke eines im Wechsel der Vorstellungen beharrenden empirischen Subjekts die zeitlichen Veränderungen seiner Vorstellungen nicht erklären kann). Die Vorstellungskräfte des Subjekts konnten dementsprechend nur so gedacht werden, dass sie zugleich Fähigkeiten der Rezeptivität beschreiben: Die Kraft zu Vorstellungen, die sich erkennend auf einen Gegenstand beziehen, basiert auf der Fähigkeit, durch Gegenstände kausal affiziert zu werden und derart sinnliche Eindrücke zu empfangen; die Kraft zu Vorstellungen, die sich begehrend auf einen Gegenstand beziehen, basiert auf der Fähigkeit, durch Gefühle der Lust und Unlust, die durch die Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes als einer „künftigen Wirkung“ des Subjekts bewirkt werden, zur Hervorbringung des Gegenstands bestimmt zu werden. Rezeptivität ist in diesem Sinne das empirische Prinzip der relationalen Bestimmtheit von Vorstellungskräften. Die intellektuelle Artikulation der Vorstellungsvermögen führt hingegen eine zweite Quelle der relationalen Bestimmtheit von Vorstellungen ein, und zwar das Prinzip der Spontaneität: Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erste wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. (KrV A 50)
Kant führt die Unterscheidung zwischen Spontaneität und Rezeptivität im Kontext der Untersuchung des Erkenntnisvermögens ein. Die Weise, in der er sie formuliert, erweckt zunächst den Eindruck, als wären die „zwei Grundquellen des Gemüts“ durch Relationen gleichen – nämlich kausalen – Typs definiert: Während er „die Rezeptivität unseres Gemüts“ als die Fähigkeit bestimmt, „Vorstellungen zu empfangen“, beschreibt er „die Spontaneität des Erkenntnisses“ als „das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen“ (KrV A 75). Je nach dem also, ob das Subjekt mit Bezug auf seine Vorstellungen aktiv oder passiv ist, handelt es sich um spontane oder rezeptive Vorstellungen.⁹³ Es wäre jedoch falsch, diese Differenz zwischen Aktivität und Passivität als eine Differenz zwischen zwei Typen von Kausalität aufzufassen, der zufolge sich das Subjekt hinsichtlich seiner Vorstellungen einerseits in der Position der ak-
Siehe auch Anthropologie 7:140, wo Kant schreibt: „In Ansehung des Zustandes der Vorstellungen ist mein Gemüt entweder handelnd und zeigt Vermögen (facultas), oder es ist leidend und besteht in Empfänglichkeit (receptivitas).“
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tiven Ursache und andererseits in der Position der Empfänglichkeit befindet. Die Unterscheidung zwischen Spontaneität und Rezeptivität bezieht sich nicht nur und nicht primär auf unterschiedliche Verhältnisse zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und deren Gegenständen, sondern auf zwei unterschiedliche Weisen der Bestimmtheit dieser Verhältnisse. Einerseits handelt es sich um eine kausale Struktur, die im Fall der Erkenntnis darin besteht, dass der Gegenstand die Ursache einer Wirkung im Subjekt („als bloße Bestimmung des Gemüts“) ist. Andererseits handelt es sich um eine intellektuelle Struktur, in der das Verhältnis zwischen Vorstellung und Gegenstand ein Verhältnis des Denkens darstellt, d. h. in dem ein Gegenstand nicht „empfangen“ oder (anschauend) „empfunden“, sondern eben gedacht wird. Im Gegensatz zur empirischen Bestimmung dieses Verhältnisses liegt aber mit dieser intellektuellen Struktur überhaupt keine Kausalität vor: Beschreibt das Verhältnis zwischen Vorstellung und Gegenstand eine Relation des Denkens, dann ist die Vorstellung in ihrem „Dasein“ von ihren Gegenständen kausal unabhängig. ⁹⁴ Eine Passage in Kants Manuskript zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die nicht in den Druck aufgenommen wurde, erläutert prägnant den Grund, weshalb wir unsere Vorstellungsvermögen nicht allein als Fähigkeiten der Rezeptivität, sondern auch als Vermögen der Spontaneität auffassen müssen. Dort beschreibt Kant Spontaneität als „ein Vorstellungsvermögen mit Bewußtsein der Handlung wodurch die Vorstellungen auf einen gegebenen Gegenstand bezogen und dieses Verhältnis gedacht wird“ (Kant 1977, S. 527, Anm. zu BA 26).⁹⁵ Diese Formulierung macht erstens deutlich, dass der Bezug zwischen Vorstellung und Gegenstand eine Handlung ist, und zwar eine solche, die „mit Bewußtsein“ vollzogen wird. Sie markiert aber auch zweitens, dass überhaupt erst durch diese Handlung des Denkens eine „bestimmte Beziehung […] auf ein Objekt“ (KrV B 137, Hervorhebung von mir) zustande kommt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass im Fall der empirischen Bestimmung durch Rezeptivität weder ein Handlungsbewusstsein noch eine bestimmte Bezugnahme auf einen Gegenstand – und mithin auch keine Erkenntnis – vorliegt. Die „Rezeptivität der Eindrücke“ ist eine „bloße Bestimmung des Gemüts“, wie Kant im obigen Zitat schreibt (KrV A 50). Eine Bestimmung des Gemüts durch kausale Affektion ist eine bloße Bestimmung in dem Sinne, dass sie nur den inneren Zustand des Subjekts modifiziert – aber eben noch keine bestimmte Beziehung auf ein Objekt der Erkenntnis ergibt.⁹⁶ „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist“ (KrV B 137). Nur in dem Maße also, wie eine Pluralität von Merkmalen zu einer Vorstellung verbunden werden, lässt sich überhaupt von einer Bezugnahme auf einen Gegenstand ausgehen. „Allein die Verbindung
Vgl. dazu Willaschek 2010, S. 169, sowie Kern 2015, S. 1975. Die Stelle stammt aus der Rostocker Anthropologiehandschrift (Manuskript H), die ich, wie zuvor, nach dem Anmerkungsapparat in der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Ausgabe der Anthropologie zitiere. Dies entspricht der Lesart von Kants Argument der Spontaneität, die vor allem John McDowell vertreten hat (siehe McDowell 1998b, S. 452– 470).
2.2 Die intellektuelle Artikulation der subjektiven Grundvermögen
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(conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen“; „sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft“ (KrV 129 f.). „Gegebene“ Anschauungen müssen in diesem Sinne zunächst unter allgemeine Vorstellungen (d. h. auf Begriffe) gebracht werden, so dass sie als wiedererkennbare Merkmale von Gegenständen in Betracht kommen können. Dadurch werden sie als Eigenschaften ansprechbar – etwa als kugelförmige Gestalt, als Drehbewegung, als spiegelnde Plättchen, als Lichteffekte, etc. Erst dann aber, wenn diese Merkmale wiederum aktiv zusammengehalten werden, d. h. mit dem Bewusstsein ihrer Einheit und in der Einheit eines Bewusstseins gedacht werden, lassen sich Vorstellungen erkennend auf einen bestimmten Gegenstand – etwa auf eine besondere Diskokugel – beziehen. Sofern solche Akte der Vereinigung nicht durch kausale Affektion bewirkt werden, dürfen wir davon ausgehen, dass es sich hier um Vorstellungen handelt, „welche ein bloßes Tun des Denkens enthalten“ (Anthropologie 7:140), d. h. um Handlungen aus Spontaneität. Um aber Vorstellungen so begreifen zu können, dass sie einerseits ein „bloßes Tun“ des Subjekts ausdrücken und andererseits eine „bestimmte Beziehung auf ein Objekt“ unterhalten, müssen wir voraussetzen, dass das Subjekt über ein inneres Prinzip verfügt, das es zu solchen Vorstellungen befähigt.⁹⁷ Anders als in der empirischen Auffassung unserer Erkenntniskraft haben wir es demnach nicht mit einem kausalen Prinzip zu tun, durch das unsere Vorstellungen Bestimmtheit gewinnen. Es handelt sich vielmehr um ein Prinzip, auf dessen Basis das Subjekt in der Lage ist, gegenstandsbezogene Vorstellungen (nämlich Begriffe) selbst hervorzubringen.⁹⁸ Das Argument, mit dem sich die intelligible Dimension des Erkenntnisvermögens einführen ließe, lautet demnach, dass die empirische Fassung dieses Vermögens nicht verständlich machen kann, wie Vorstellungen sich auf bestimmte Weise auf Gegenstände beziehen können. Dazu ist vielmehr erforderlich, dass wir solche Vorstellungen als Aktualisierungen der Spontaneität des Denkens begreifen. Obgleich Kant dieses Argument nicht in der gleichen Form in Hinsicht auf das Begehrungsvermögen vorbringt, scheint er gleichwohl davon auszugehen, dass auch der praktische Bezug auf Gegenstände nur in dem Maße als bestimmte Bezugnahme auf ein zu verwirklichendes Objekt gedacht werden kann, wie er auf der Spontaneität des Denkens basiert. Im dritten Abschnitt der Grundlegung behauptet er, dass wir uns eine praktische Spontaneität – d. h. das Prinzip des moralischen Gesetzes und mit ihm die Freiheit der Autonomie – deshalb zuschreiben müssen, weil wir uns notwendig als Verstandesund Vernunftwesen verstehen.⁹⁹ Diese Notwendigkeit, so Kant in der Auflösung der dritten Antinomie, ergibt sich daraus, dass wir auf der Basis unseres reinen Selbst-
Vgl. dazu Kern 2015, S. 1976. Im Fall der Erkenntnis handelt es sich um das Prinzip der „ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption“ (KrV B 135) sowie um die Kategorien des Verstandes im Sinne der „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt“, durch die „gegebene“ Vorstellungen in Hinsicht auf die Formen des Denkens „als bestimmt angesehen“ werden können (KrV B 128). Siehe GMS 4:451.
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2 Spontaneität und Rezeptivität
bewusstseins von unseren Vermögen des Verstandes und der Vernunft wissen, und zwar im Sinne von Vermögen der Spontaneität.¹⁰⁰ Diese „Selbsttätigkeit“ des Denkens ist nicht auf ein spezifisches Vorstellungsvermögen restringiert, sondern drückt vielmehr einen Grundzug aller Vorstellungsvermögen aus. Sobald wir daher in Hinsicht auf unser Erkenntnisvermögen die Notwendigkeit der Spontaneität eingesehen haben, können wir nicht umhin, sie ebenfalls in Hinsicht auf unser Begehrungsvermögen – und, wie wir mit Blick auf die dritte Kritik hinzufügen können, auch in Hinsicht auf unser Vermögen zu Gefühlen der Lust und Unlust – in Anschlag zu bringen.Von dieser Überlegung ausgehend behauptet Kant im ersten Kapitel der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dass auf der Basis der Rezeptivität des Gefühls entstandene Begierden, Neigungen oder „Triebfedern“ das menschliche Begehrungsvermögen nicht direkt „zu einer Handlung bestimm[en]“ können (Religion 6:24). Sie gehen in die Bildung einer handlungseffektiven Vorstellung allein unter der Bedingung ein, dass „der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will)“ (Religion 6:24). Die Bestimmtheit der Bezugnahme auf Gegenstände liegt demnach auch im Fall des Begehrungsvermögens in der Spontaneität des Denkens, nämlich in dem Akt, sich selbsttätig eine Regel des Handelns zu geben. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, so Kant, dass Neigungen oder Triebfedern „mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen“ können (Religion 6:24). Sowohl im Fall des Erkenntnisvermögens, als auch im Fall des Begehrungsvermögens müssen wir demzufolge davon ausgehen, dass die Relation zwischen Vorstellungen und ihren Gegenständen kein Verhältnis der kausalen Bestimmung darstellt, sondern ein Verhältnis der Bestimmung durch Spontaneität. Dies hat Konsequenzen für unser Verständnis der Unterscheidung zwischen dem theoretischen und praktischen Gegenstandsbezug von Vorstellungen. Stephen Engstrom hat behauptet, dass diese Unterscheidung nicht mit Bezug auf zwei gegensätzliche „directions of fit“ profiliert werden kann, also derart, dass einerseits der Gegenstand mit der Vorstellung und andererseits die Vorstellung mit dem Gegenstand übereinstimmt.¹⁰¹ Denn tatsächlich verhält es sich bei Kant in beiden Fällen so, dass das Subjekt durch seine Vorstellungen den Gegenstand bestimmt. Die „Richtung der Übereinstimmung“ ist somit die gleiche: Im theoretischen wie im praktischen Gegenstandsbezug wird der Gegenstand so gedacht, dass er mit der Bestimmung durch die Vorstellung übereinstimmt. Darin liegt gewissermaßen die Pointe der intelligiblen Artikulation des subjektiven Verhältnisses zu Vorstellungen und ihren Gegenständen, d. h. die Pointe des Begriffs der Spontaneität. Engstrom schlägt daher vor, jenen Unterschied anders zu deuten, und zwar als einen Unterschied in der „Richtung“ der existenziellen Abhängigkeit:
Vgl. KrV A 546. Siehe dazu Engstrom 2002, insbes. S. 53 f.
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The difference lies rather in the direction of existential dependence. In the theoretical case, the knowledge depends for its actuality on the actuality of the object […]. In the practical case, the relation is the reverse: here the actuality of the object – as determined – depends on the actuality of the knowledge. (Engstrom 2009, S. 119)
Mit diesem Argument sind wir nun an dem Punkt angelangt, wo wir die Relationen der Dependenz zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und deren Gegenständen so reformulieren können, dass sie keine zeitlichen Schematisierungen beinhalten. Die Charakterisierung dieser Relationen in Termini der existenziellen Abhängigkeit formuliert die intellektuellen „Analoga“ zu denjenigen Vorstellungsverhältnissen, die im Fall der empirischen Vermögen als Verhältnisse der Kausalität gedacht werden. Sofern Vorstellungen Handlungen aus Spontaneität sind, kann ihr Dasein nicht kausal erklärt werden: Es muss unabhängig von der Wirksamkeit ihrer Gegenstände resp. von der Vorstellung der Existenz empirischer Gegenstände verständlich werden. Dies bedeutet aber nicht, dass es auch ontologisch oder existenziell von diesen unabhängig ist. Im Gegenteil: Nur unter der Bedingung, dass Vorstellungen in spezifischen Relationen der existenziellen Abhängigkeit stehen, können wir überhaupt von intellektuell bestimmbaren Vorstellungen der Erkenntnis, des Begehrens und des Gefühls ausgehen. Diese Relationen definieren, in anderen Worten, die Vorstellungsvermögen unter dem Aspekt ihrer Spontaneität. Mit der intellektuellen Artikulation dieser Vermögen führen wir somit zunächst keine neue Art von Kausalität ein – etwa eine „Kausalität aus Freiheit“, in der das Subjekt (als „Ding an sich“) als intelligible Ursache einer empirischen Wirkung fungiert. Kant argumentiert zwar in der Auflösung der dritten Antinomie für einen solchen Begriff der „intelligiblen“ Kausalität,¹⁰² aber wir sind hier noch nicht soweit, uns diesen Begriff verständlich machen zu können. Entscheidend ist daher zunächst, dass eine intellektuelle Bestimmung keine kausale Bestimmung ist, die dasjenige, was sie bestimmt, dadurch bestimmt, dass sie es bewirkt. Sie hat allerdings auch nicht den Status einer bloß „logischen“ Bestimmung, die lediglich das Verhältnis zwischen einem Grund und seiner logischen Folge beschreibt. Im Kontext von Vorstellungsvermögen, die durch intellektuelle Verhältnisse zwischen Subjekt, Vorstellung und Gegenstand charakterisiert sind, haben wir es vielmehr mit einer relationalen Bestimmung der Existenz von Vorstellungen zu tun, d. h. einem Verhältnis zwischen einem „Realgrund“ zu seiner „Realfolge“ (um Kants Terminologie aus den Metaphysik-Vorlesungen zu verwenden). Wie lässt sich nun aber diese nicht-zeitliche, intelligible Existenz von Vorstellungen weiter erläutern, sofern sie im Sinne einer Relation zwischen Realgrund und Realfolge, d. h. im Sinne einer intellektuell bestimmten Relation, zu denken ist? Auch hier hat Stephen Engstrom den entscheidenden Hinweis gegeben: Eine „selbsttätige“ Verbindung und Vereinigung von Vorstellungen in einem Bewusstsein, die sich auf einen Gegenstand derart bezieht, dass sie in einem Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit zu diesem Gegenstand steht, ist eine Bezugnahme, die sich selbst aktiv Siehe KrV A 538 f.
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aufrechterhält. ¹⁰³ Wenn ich die Vorstellungen einer sich drehenden kugelförmigen Gestalt, einer Vielzahl von darauf befestigten Spiegelplättchen, mehrerer Lichtquellen und einer Serie von Lichteffekten auf diesen Gegenstand beziehe, dann schließe ich damit alle anderen Vorstellungen von dieser Bezugnahme aus, die jener Kombination von Vorstellungen widersprechen. Ich kann freilich eine Diskokugel auf vielfache Weise denken: dass sie diese oder jene Größe hat, dass sie sich dreht oder nicht, etc. Jede dieser Weisen, die Diskokugel zu denken, schließt zwar die anderen Vorstellungen jeweils aus. Nichts hindert mich jedoch daran, sie mir nacheinander vor Augen zu führen, so dass sich nicht sagen lässt, dass eine bestimmte Kombination von Vorstellungen in meinem Denken sich selbst aufrechterhält. Sobald ich die Verbindung meiner Vorstellungen aber so auf einen Gegenstand beziehe, dass sie von diesem existenziell abhängig ist, verliert diese Verbindung ihre Beliebigkeit. In einem solchen Akt der Bezugnahme wird die Verknüpfung von Vorstellungen derart zusammengehalten, dass alle dieser Kombination widersprechenden Verbindungen aktiv ausgeschlossen werden. Als Aktualisierungen der Spontaneität des Erkennens und Begehrens existieren Vorstellungen somit in der Weise, dass sie sich auf eine selbstbewusste und selbsttätige Weise aufrechterhalten. In dem Maße nun, in dem diese „Selbsterhaltung“ von Vorstellungen durch Relationen der existenziellen Abhängigkeit bedingt ist, existieren sie als objektiv gültige Vorstellungen. Jene Relationen beschreiben somit, mit anderen Worten, zugleich normative Verhältnisse: Realgrund und Realfolge sind nicht kausal, sondern normativ aufeinander bezogen. Wir sollten an dieser Stelle jedoch nicht vergessen, dass dieser normative Charakter ein (apriorisches) Merkmal der intelligiblen Existenz von Vorstellungen darstellt: „Objektive Gültigkeit“ ist ein striktes Korrelat spontaner Akte des Denkens, die sich innerhalb von Verhältnissen der existenziellen Abhängigkeit selbsttätig aufrechterhalten. Im Fall eines intellektuellen Begehrens bezieht sich eine Vorstellung als Realgrund auf einen Gegenstand als ihre Realfolge daher zunächst nicht so, dass sie diesen kausal hervorbringt, sondern vielmehr so, dass diese real sein soll. Im Fall der Erkenntnis bezieht sich die Vorstellung als existenziell Bedingtes hingegen derart auf ihren Gegenstand, dass sie beansprucht, von diesem existenziell bedingt zu sein.¹⁰⁴ Und für den Fall eines ästhetischen Gefühls – d. h. eines zwar intellektuell nicht bestimmbaren, aber dennoch
Vgl. Engstrom 2009, S. 101– 108, 111– 118. Dieser Anspruch lässt sich natürlich nicht durch den Nachweis einlösen, dass eine Erkenntnis genetisch auf den Gegenstand zurückgeführt wird (schließlich ist die Vorstellung vom Gegenstand kausal unabhängig). Der Anspruch besteht vielmehr darin, dass exakt derjenige Gegenstand, auf den sich die Vorstellung bezieht, der Grund ist, der die Vorstellung rechtfertigt.Was den Gegenstand aber in den Rang eines solchen Grundes bringt, ist die kategoriale Relation der existenziellen Abhängigkeit: Der Grund rechtfertigt die Vorstellung der Erkenntnis nur in dem Maße, wie er existiert, d. h. als Realgrund. Sofern diese Abhängigkeit den Charakter einer existenziellen Abhängigkeit besitzt, müssen wir aber zugleich voraussetzen, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, dass eine genetische Komponente (d. h. eine Kausalität des Gegenstandes) in die Konstitution der Vorstellung eingeht.
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„allgemein mitteilbar[en]“ (KU 5:218) und auf einem apriorischen Prinzip der Spontaneität basierenden Gefühls – gilt dementsprechend, dass das unmittelbare Bewusstsein vom inneren Zustand des Subjekts nicht durch die vorgestellte Existenz des Gegenstands kausal bewirkt wird, sondern vielmehr den Anspruch erhebt, von der Vorstellung des Gegenstands existenziell bedingt zu sein (was in ästhetischen Urteilen zum Ausdruck kommt). Die Relationen der existenziellen Abhängigkeit artikulieren somit keine Formen der Erklärung der Existenz von Vorstellungen, sondern vielmehr Formen der Rechtfertigung ihrer Existenz: Realgründe und Realfolgen verhalten sich zueinander wie Rechtfertigungsgründe zu dem, was aus ihnen normativ folgt. Die Kombination von Vorstellungen im Sinne einer Erkenntnis hält sich selbst aktiv aufrecht, d. h. sie besitzt „objektive Gültigkeit“, wenn sie in einer Beziehung der existenziellen Abhängigkeit zu genau demjenigen Gegenstand steht, auf den sie sich bezieht. Weil sie kausal unabhängig von ihrem Gegenstand ist, der Gegenstand ihr „Dasein“ also nicht erklärt, bedarf die Erkenntnis eines „inneren“ und apriorischen Prinzips, das erklärt, wie sie sich auf objektiv gültige Weise auf einen Gegenstand bezieht, zu dem sie in einer Relation der existenziellen Abhängigkeit steht. Dieses Prinzip ist Kant zufolge die „synthetische Einheit der Apperzeption“ – und mit ihr die Kategorien des reinen Verstandes. Die selbstbewusste Kombination von Vorstellungen im Sinne eines intellektuellen Begehrens hingegen hält sich selbst in dem Maße aufrecht, sofern sie die Existenz des Gegenstandes, auf den sich das Begehren bezieht, zugleich rechtfertigt. Die Dependenzrelation, die das Begehren kategorial definiert, ist zwar die Relation zwischen der Vorstellung als Bedingung und dem Gegenstand als einem Bedingten. In der empirischen Fassung des Begehrungsvermögens verhält es sich jedoch so, dass eine Vorstellung nur in dem Maße in der Position der Ursache einer Wirkung sein kann, wie sie durch Gefühle der Lust und Unlust kausal zur Verwirklichung des Gegenstandes bestimmt wird. Das empirische Begehrungsvermögen wird demnach durch eine zweite Relation der kausalen Abhängigkeit a priori charakterisiert. Im Fall der intellektuellen Fassung des Begehrungsvermögens können wir allerdings nicht davon ausgehen, dass die bestimmte Bezugnahme auf einen praktischen Gegenstand durch Gefühle der Lust und Unlust erklärt wird. Sie ist vielmehr von diesen kausal unabhängig. Aus diesem Grund bedarf das intellektuelle Begehren eines apriorischen Prinzips, das es ihr ermöglicht, sich auf objektiv gültige Weise auf einen Gegenstand zu beziehen, der zu ihr in einem Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit steht. Dieses Prinzip nennt Kant das „moralische Gesetz“. Mit Blick auf die Frage einer intellektuellen Artikulation des Vorstellungsverhältnisses, das für das Vermögen zu Gefühlen der Lust und Unlust charakteristisch ist, begegnen wir jedoch einer Schwierigkeit. Die vorigen Überlegungen scheinen sich nicht einfach auf dieses Vermögen übertragen zu lassen, schließlich handelt es sich um ein Vermögen der Rezeptivität, das schwerlich ohne Rekurs auf die Kategorie der Kausalität verständlich wird. Ein Gefühl ist nicht durch eine objektiv gültige Bezugnahme auf einen Gegenstand definiert, sondern durch die Beziehung gegenständli-
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cher Vorstellungen auf den inneren Zustand des vorstellenden Subjekts, der im empirischen Fall als eine kausale Wirkung gedacht wird. Sollten wir daher die Annahme zurückweisen, der zufolge auch Aktualisierungen des Vermögens zu Gefühlen von der empirischen Kausalität von Vorstellungen unabhängig sein können? Nein. Denn im ersten Teil der dritten Kritik geht Kant davon aus, dass es eine Art von Gefühlen gibt, bei denen der Bezug von Vorstellungen auf den inneren Zustand des Subjekts kein Verhältnis der Kausalität, sondern ein normatives Verhältnis ist: Die Existenz solcher Gefühle, die in ästhetischen Urteilen zum Ausdruck kommt, impliziert den Anspruch, „subjektiv allgemeingültig“ zu sein, d. h. in Hinsicht auf die Vorstellung eines je besonderen sinnlichen Gegenstandes für alle Subjekte gültig zu sein, die über die gleichen Vorstellungsvermögen (der Erkenntnis, des Begehrens und Gefühls) verfügen. In diesem Sinne lässt sich ein solches Gefühl nicht als Resultat einer kausalen Wirkung betrachten. Wir sind uns solcher Gefühle nicht dadurch bewusst, dass Vorstellungen einen bestimmten Effekt auf den inneren Zustand zeitigen, sondern durch ein ästhetisches Urteil, in dem „allgemein mitteilbare“ Gefühle zum Ausdruck kommen. Wir haben es zwar mit einem Bewusstsein der Kausalität zu tun, nämlich dem Bewusstsein, dass die Tätigkeit des Vorstellens in Anbetracht eines Gegenstandes mit Lust empfunden wird. Die vorgestellte Existenz dieses Gegenstands kann aber dabei nicht die Existenz eines solchen Gefühls erklären: Das Gefühl ist keine empirische Wirkung der Vorstellung der antizipierten Wirklichkeit eines Gegenstands. Das bedeutet jedoch nicht, dass es von gegenständlichen Vorstellungen unabhängig ist, im Gegenteil: Das Dasein von „allgemein mitteilbaren“ Gefühlen ist in einem „ontologischen“ Sinne abhängig von Gegenstandsvorstellungen überhaupt, d. h. sie könnten ohne vorliegende gegenständliche Vorstellungen nicht existieren. Sofern diese allerdings jene nicht kausal bewirken, müssen wir uns ihre Relation der existenziellen Abhängigkeit als eine Relation der Rechtfertigung denken, d. h. als eine Vorstellung des Bezugs der Tätigkeit des Vorstellens auf den Zustand des Subjekts, der sich im Urteil gleichsam selbst aufrechterhält. Und dazu bedarf eine solche „ästhetische“ Vorstellung eines apriorischen Prinzips, nämlich des Prinzips der „subjektiven Zweckmäßigkeit“ der reflektierenden Urteilskraft.
2.3 Die Einheit der beiden Artikulationen: Vermögen und Kraft Bisher hatten wir die empirischen und intelligiblen Aspekte der grundlegenden Vorstellungsvermögen isoliert betrachtet: als zwei verschiedene Weisen, in denen die drei kategorialen Verhältnisse zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und Gegenständen a priori bestimmt sind.¹⁰⁵ Diese Betrachtungen waren allerdings Abstraktio Kant selbst adressiert diese beiden Aspekte als „obere“ und „untere“ Form eines Vorstellungsvermögens, die sich leicht auf die Unterscheidung zwischen der intellektuellen und der empirischen Variante der „transzendentalen Definition“ der Vermögen abbilden lassen. Ein „oberes“ Vorstellungsvermögen ist dadurch ausgezeichnet, dass es „seine Prinzipien a priori haben muß“ (KU 5:345).
2.3 Die Einheit der beiden Artikulationen: Vermögen und Kraft
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nen, d. h. einseitige Perspektiven auf die apriorischen Begriffe der Vorstellungsvermögen, die jeweils nur unselbstständige Beschreibungen ihrer Konstitution liefern können. Zwei Überlegungen sprechen für die Unselbstständigkeit dieser Fassungen. Einerseits lassen sich die kategorialen Bestimmungen der empirischen Vorstellungskräfte nicht als vollständige Beschreibungen des Erkenntnis-, Begehrungs- und Gefühlsvermögens verstehen. Für die Fälle der Erkenntnis und des Begehrens gilt, dass eine bestimmte Bezugnahme auf Gegenstände nur in dem Maße angenommen werden kann, wie wir eine Handlung der Spontaneität voraussetzen, die diesen Bezug hervorbringt. Zudem erweist sich die empirische „Definition“ des Gefühlsvermögens als nicht hinreichend, um ästhetische Urteile – und mithin die Möglichkeit von „allgemein mitteilbaren“ Gefühlen – einsehbar zu machen. Andererseits wird bei einer genaueren Betrachtung der intellektuellen Artikulation der Vorstellungsvermögen deutlich, dass diese immer schon auf die empirischen Artikulationen bezogen sind – und jenseits dieser Bezogenheit auch gar nicht verständlich werden. Bei der intellektuellen Bestimmung der existenziellen Verhältnisse zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und dessen Gegenständen haben wir es zwar in erster Linie mit normativen Bestimmungen zu tun. Diese sind allerdings wesentlich Bestimmungen dessen, was durch Kausalität hervorgebracht, empfangen oder empfunden werden kann. Kant charakterisiert dementsprechend das spontane „Vermögen der Erkenntnisse“ derart, dass es sich in der „bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt“ realisiert (KrV B 137, Hervorhebung von mir), wobei er das Erkenntnisobjekt als dasjenige beschreibt, „in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist“ (KrV B 137, Hervorhebung von mir). In die „bestimmte Beziehung“ auf einen Gegenstand der Erkenntnis ist somit dasjenige involviert, was das Subjekt durch die Rezeptivität seiner Sinnlichkeit kausal empfängt.¹⁰⁶ Das gleiche gilt für die Vermögen des Begehrens und des Gefühls: Ohne die empirische Fähigkeit, Veränderungen in der sinnlichen Welt zu verursachen, lässt sich sinnvollerweise kein
Wir haben es also mit einer Spontaneität zu tun, die auf einem reinen Bewusstsein der „Regeln“ der eigenen Vorstellungstätigkeit basiert. Dies gilt sowohl für das obere Erkenntnisvermögen (den Verstand, vgl. KrV A 130), als auch für das obere Begehrungsvermögen (die praktische Vernunft oder den Willen, siehe KpV 5:22). Das Prinzip eines „unteren“ Vorstellungsvermögens ist hingegen a posteriori, entspricht also einem empirischen Prinzip der Kausalität, weshalb dieselben eine Fähigkeit der Rezeptivität implizieren müssen. Das gilt etwa für die Sinnlichkeit (siehe Anthropologie 7:196) oder die Begierde resp. die Neigung (siehe MS 6:212). Hinsichtlich des Vermögens zu Gefühlen der Lust und Unlust wendet Kant zwar die Unterscheidung zwischen einer oberen und einer unteren Form nicht an. Bedenkt man jedoch, dass er obere Vermögen durch apriorische und untere Vermögen durch aposteriorische Prinzipien charakterisiert, kann man eine obere Form des Gefühls (als „Geschmack“, siehe KU 5:296, oder „kontemplative“ Lust, siehe KU 5:209) von einer unteren Form (als „praktische Lust“, MS 6:212) unterscheiden. Vgl. dazu Deleuze 1990, S. 24, 99 f. Aus diesem Grund definiert Kant das Erkenntnisvermögen als die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität: als „ein Zusammengesetztes aus dem […], was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt“ (KrV B 1).
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intellektuelles Begehren annehmen; und selbst „allgemein mitteilbare“ Gefühle beschreiben ein „Bewußtsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zu erhalten“ oder diesen zu verlassen (KU 5:220, Hervorhebung von mir). Die Tatsache, dass die intellektuellen Vermögen bereits auf die empirischen Vermögen bezogen sind, lässt sich auch an der Weise erkennen, in der die Kategorie der Dependenz bezüglich intelligibler Vermögen reformuliert werden muss. Betrachten wir die Verhältnisse der existenziellen Abhängigkeit als solche, dann enthalten sie keinerlei Festlegung hinsichtlich der Frage, wodurch das existenzielle Verhältnis jeweils bestimmt wird oder wie es aktuell zustande kommt. In der Fassung der Dependenzrelation als existenzieller Abhängigkeit bleibt somit offen, ob der jeweilige Realgrund auch seine Realfolge erklärt oder vielmehr durch Rekurs auf ein Prinzip der Spontaneität rechtfertigt. Aus diesem Grund lässt sich die intellektuelle Formulierung der Vorstellungsvermögen so verstehen, dass sie der Möglichkeit nach (mindestens) zwei Deutungen zulässt: die Verhältnisse der existenziellen Abhängigkeit können entweder so gedeutet werden, dass sie durch Rekurs auf aposteriorische Gesetze der Kausalität empirisch erklärbar oder durch Rekurs auf apriorische Prinzipien der Spontaneität normativ bestimmbar sind. Beide Deutungen sind logisch möglich. Dass sie aber nicht bloß logisch möglich, sondern berechtigterweise anzunehmen sind, wissen wir aufgrund unseres doppelten epistemischen Zugangs zu unseren Vorstellungen, d. h. aufgrund der zwei Quellen des Wissens von unseren Vorstellungen: durch das Selbstbewusstsein, das die Tätigkeit des Vorstellens notwendig „begleitet“, und durch die „innere“ Erfahrung, in der Vorstellungen als empirische Gegenstände bewusst sind. Im Kontext der „transzendentalen Definition“ der Vorstellungsvermögen liegt die eigentliche Pointe der Quasi-Kategorie der existenziellen Abhängigkeit jedoch darin, dass sie diese beiden Verständnisse oder Deutungen systematisch zusammenbringt und zusammenhält. Um das zu sehen, müssen wir ihren Status als Reformulierung der Kategorie der Kausalität betonen. Sie artikuliert eine andere Perspektive auf kausale Verhältnisse, indem sie die empirischen Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zwischen Vorstellungen, ihren Gegenständen und ihrem Subjekt als unbestimmte – und auf dieser Basis als intellektuell bestimmbare markiert. Dass die kausalen Verhältnisse zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und Gegenständen „unbestimmt“ sind, besagt nicht, dass sie keine kausale Bestimmtheit besitzen. Die Behauptung besagt vielmehr, dass ihre kausale Bestimmtheit nicht hinreicht, um die intelligiblen Vorstellungsverhältnisse der Erkenntnis, des Begehrens und des Gefühls als bestimmt anzunehmen. Allein aufgrund der Tatsache also, dass die Relationen der existenziellen Abhängigkeit kausal artikulierte Verhältnisse einschließen, können wir überhaupt nur behaupten, dass wir es bei der intellektuellen und der empirischen Fassung der Vorstellungsverhältnisse mit ein und denselben Vorstellungsverhältnissen zu tun haben, – nämlich genau denjenigen, die in der empirischen Fassung der Vermögen eingeführt werden. Dass es sich um dieselben Verhältnisse handelt, besagt allerdings
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nicht, dass sie in beiden Fassungen gleich verstanden werden könnten. In der apriorischen Definition der Vorstellungsrelationen als Relationen der existenziellen Abhängigkeit sind die kausalen Relationen gleichsam „aufgehoben“, d. h. als „negierte“ enthalten oder „aufbewahrt“. Denn erst auf der Basis einer Ursache-WirkungsRelation lassen sich Relationen der existenziellen Abhängigkeit so verstehen, dass sie realisierbar sind und mithin aktuell bestehen können (es handelt sich schließlich um existenzielle Verhältnisse). Beschränken wir uns auf den engeren Rahmen der bloß intellektuellen Bestimmung dieser Verhältnisse, dann ist ein solches Verständnis nicht zugänglich. Dazu ist vielmehr erforderlich, dass ihr Zustandekommen auch erklärbar ist – nämlich als Aktualisierung eines Vorstellungsvermögens, dessen Vollzüge notwendig Kausalität implizieren. Dass kausale Relationen in den Relationen der existenziellen Abhängigkeit demnach „aufbewahrt“ sind, heißt aber nicht, dass sie es sind, die das aktuelle Zustandekommen des entsprechenden Vorstellungsverhältnisses erklären können – schließlich sind Vorstellungen der Spontaneität von kausalen Wirkungen unabhängig. Die Art, in der die Verhältnisse der existenziellen Abhängigkeit kausale Verhältnisse enthalten, „negiert“ somit die Kraft der kausalen Erklärung, die durch die empirische „Definition“ der Vorstellungsverhältnisse in Anschlag gebracht wird. Wir müssen daher annehmen, dass die eigentliche Erklärungsleistung der „Existenz“ von Vorstellungen des Erkennens, Begehrens und Fühlens in der Kombination der kausalen und normativen Artikulationen liegt. Und das bedeutet zunächst, dass wir den Gedanken plausibilisieren sollten, dass die intelligible Fassung der Vermögen nur in dem Maße das existenzielle Verhältnis, in dem Vorstellungen stehen, normativ bestimmt, wie sie dieses auch erklären kann, – was wiederum voraussetzt, dass in die kausale Hervorbringung eines Gegenstandes oder in die kausale Affektion des Subjekts selbst ein normatives oder intellektuelles Prinzip konstitutiv miteingeht: Intellektuelle Prinzipien bestimmen die Weise, in der sich das Subjekt durch Rekurs auf die kausale Affektion seiner Sinnlichkeit auf Gegenstände bezieht; sie bestimmen die Weise, in der sich ein Subjekt durch rezeptiv entstandene „Triebfedern“ selbst zum Handeln bestimmt; und sie können die Weise bestimmen, in der ein Subjekt ein Bewusstsein von der Kausalität seiner Vorstellungen im Hinblick auf seinen inneren Zustand hat (nämlich im Sinne von „allgemein mitteilbaren“ Gefühlen). Wir müssen also die kategoriale Definition eines Vorstellungsverhältnisses so denken, dass es die Einheit zweier Verhältnisse beschreibt. Damit wir es mit der Aktualisierung eines Vorstellungsvermögens im vollen Sinne zu tun haben, muss beides zusammenkommen: Die Verwirklichung des empirischen und kausalen Verhältnisses muss zugleich als die Verwirklichung des intellektuellen und normativen Verhältnisses gedacht werden. Darin besteht Kants anspruchsvoller Begriff eines Vorstellungsvermögens. Fragen wir sodann nach der Einheit dieser beiden Verhältnisse, dann fragen wir nach der Rolle, welche die bislang ausgeblendeten Kategorien bei der „transzendentalen Definition“ der Vorstellungsvermögen spielen. In den bisherigen Überlegungen standen die relationalen Kategorien der Inhärenz und Dependenz im Vordergrund – und mithin die Kategorien der Modalität im Hin-
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tergrund. Damit blieb aber auch die Tatsache unterbeleuchtet, dass wir es überhaupt mit apriorischen Charakterisierungen von Vermögen zu tun haben. Wenn wir aber diesen modalen Aspekt der „transzendentalen Definition“ der Vorstellungsvermögen miteinbeziehen, können wir erkennen, dass die Pointe der Modalkategorien darin besteht, Vorstellungsvermögen als Vermögen zu charakterisieren, und zwar derart, dass dabei zugleich die jeweilige Einheit eines Vorstellungsvermögens kenntlich gemacht wird. Um ein genaueres Verständnis von der Art der Anwendung der Modalkategorien zu gewinnen, sind wir zunächst auf Kants Ausführungen im Kontext der „Grundsätze des reinen Verstandes“ der ersten Kritik verwiesen. Im Abschnitt über die „Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ erläutert Kant den Beitrag dieser Kategorien auf folgende Weise: Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich: daß die den Begriff, dem sie als Prädikate beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Wenn der Begriff eines Dinges schon ganz vollständig ist, so kann ich immer noch von diesem Gegenstande fragen, ob er bloß möglich, oder auch gar wirklich, oder, wenn er das letztere ist, ob er gar auch notwendig ist? Hierdurch werden keine Bestimmungen mehr im Objekte selbst gedacht, sondern es frägt sich nur, wie es sich (samt allen seinen Bestimmungen) zum Verstande und dessen empirischen Gebrauche, zur empirischen Urteilskraft, und zur Vernunft (in ihrer Anwendung auf Erfahrung) verhalte? (KrV A 219)
Die reinen Begriffe der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit leisten also keinen Beitrag zur objektiven Bestimmtheit von Gegenständen selbst, sondern verbinden diese vielmehr mit dem „Erkenntnisvermögen“, durch das der Gegenstand mit dieser Bestimmtheit gedacht oder wahrgenommen wird, – „d. i. sie fügen zu dem Begriffe eines Dinges, […] von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu, worin er entspringt und seinen Sitz hat, so, daß, wenn er bloß im Verstande mit den formalen Bedingungen der Erfahrung in Verknüpfung ist, sein Gegenstand möglich heißt; ist er mit der Wahrnehmung (Empfindung, als Materie der Sinne) im Zusammenhange, und durch dieselben vermittelst des Verstandes bestimmt, so heißt der Gegenstand wirklich“ (KrV A 234). Diese Erläuterung bezieht sich freilich auf die empirische Anwendung der modalen Kategorien, d. h. auf ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrungserkenntnis. Ihre Anwendung besteht nicht darin, der objektiven Erkenntnis von Erfahrungsgegenständen eine apriorische Bestimmung hinzuzufügen, sondern vielmehr darin, exakt jene Art der Anwendung reflexiv zu vergegenwärtigen (nämlich: die Anwendung auf Gegenstände eines Erkenntnisvermögens). Die Pointe der Modalkategorien liegt somit in ihrer Reflexivität: Sie bringen die spezifische Hinsicht zum Ausdruck, in der sich das Subjekt durch seine Vorstellungen auf Gegenstände bezieht. Denkt das Subjekt seinen Gegenstand als einen möglichen, dann drückt sich darin nichts anderes als ein Bewusstsein des spezifischen subjektiven Vermögens aus, das in dieser Vorstellung des Gegenstandes aktualisiert wird. Die Modalität der Möglichkeit verbindet hier die Vorstellung mit dem Vermögen, „worin [sie] entspringt“, d. h. mit dem „Verstande“ und seinen inneren Prinzipien: Ich denke eine mögliche Diskokugel
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(weil ich z. B. über die Ausstattung eines Clubs nachdenke), und das Prädikat „möglich“ besagt, dass dieser bestimmte Gegenstand mit „den formalen Bedingungen der Erfahrung“ übereinstimmt, sofern er bloß durch den empirischen Verstand gedacht wird (und nicht in der Wahrnehmung gegeben ist). Diese Rücksicht auf die „Herkunft“ der Vorstellung wird durch die Begriffe der Modalität somit in der Bezugnahme auf einen Gegenstand zur Geltung gebracht. Die Modalkategorien sollten wir nach Kant demnach so verstehen, dass sie in unseren gegenstandsbezogenen Vorstellungen ein Bewusstsein der jeweiligen subjektiven Vermögen bekunden, die in ihnen aktualisiert werden. Wenn wir nun versuchen, diese Einsicht in den Kontext der apriorischen Definitionen der Vorstellungsvermögen im Allgemeinen zu übertragen, dann können wir dafür argumentieren, dass Kants Überlegungen zur Bedeutung der Modalitätskategorien nicht nur für Vorstellungen des Erkenntnisvermögens, sondern für alle Vorstellungsvermögen gelten. Die Modalität eines möglichen oder wirklichen Gegenstands des Begehrens ist genauso wie die Modalität eines möglichen oder wirklichen Gegenstands der Erkenntnis so zu verstehen, dass sie ein Bewusstsein des besonderen Vermögens ausdrückt, das in der jeweiligen Gegenstandsvorstellung ausgeübt wird. Wenn das richtig ist, stellt sich die Frage, wie dieses Bewusstsein des eigenen Vermögens näher zu charakterisieren sei. Die Antwort sollte auf der Hand liegen: Ein solches Bewusstsein, das nichts anderes artikuliert als die spezifische Weise der Bezogenheit des Subjekts auf seine Vorstellungen von Gegenständen, ist durch Verhältnisse der Inhärenz und Dependenz a priori strukturiert; und diese Verhältnisse definieren, wie das Subjekt durch seine Vorstellungen auf Gegenstände (resp. auf seinen eigenen Zustand) allgemein bezogen ist, nämlich dadurch, dass sie die Existenz dieser Vorstellungen in Relation zum Subjekt und zu Gegenständen spezifizieren. Die Kategorien der Modalität verankern daher die selbstbewusste subjektive Bezogenheit auf Vorstellungen im Gegenstandsbezug dieser Vorstellungen selbst. Und sie erweitern dadurch den Bereich, der durch die Kategorien erschlossen wird (und zunächst nur Gegenstände der Erfahrung betrifft), um die Dimension unseres apriorischen Wissens von ihrer Anwendung, d. h. um das Selbstbewusstsein von den eigenen Vorstellungsvermögen. Auf diese Weise markieren sie den Einsatzpunkt für die „reflexive Anwendung“ der dynamischen Kategorien, die das Thema dieses Kapitels bildet.¹⁰⁷ Das schließt neben den Kategorien der Inhärenz und Dependenz auch einen reflexiven Gebrauch der Kategorien der Modalität mit ein: Durch den „normalen“ Gebrauch der Modalkategorien wird der Bezug auf einen möglichen Gegenstand (der Erfahrung oder des Begehrens) zugleich an die Möglichkeit des Subjekts zu solchen Vorstellungen zurückgebunden, d. h. an sein jeweiliges Vorstellungsvermögen; und der Bezug auf einen wirklichen Gegenstand wird an die Wirklichkeit der Tätigkeit oder des Aktes zurückgebunden, durch den sich das Subjekt auf den Gegenstand bezieht, d. h. auf eine Aktualisierung des Vorstellungsvermögens. Die Verhältnisse der Inhärenz
Vgl. dazu die Argumentation in Abschnitt 1.3. dieser Arbeit.
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und Dependenz können wir demnach einerseits als Vermögen verstehen, insofern wir sie gemäß der Kategorie der Möglichkeit denken, und wir können sie als Verwirklichungen dieser Vermögen verstehen, wenn wir sie gemäß der Kategorie der Wirklichkeit denken. Die Frage, die es nun zu klären gilt, betrifft die Weise, in der das Bewusstsein von den Vorstellungsvermögen, das durch die modalen Kategorien markiert wird, mit der intellektuellen und der empirischen Artikulation der Verhältnisse zwischen dem Subjekt, seinen Vorstellungen und deren Gegenständen zusammenhängt. Sollten wir davon ausgehen, dass das Bewusstsein der Ausübung der eigenen Vermögen, das sich in der Modalität des Gegenstandsbezugs äußert, sowohl auf die empirischen, als auch auf die intelligiblen Vermögen bezogen sein kann, und zwar so, dass es entweder ein Bewusstsein der Ausübung eines empirischen oder eines intelligiblen Vermögens darstellt? Wäre das zutreffend, dann würden wir freilich immer nur eine Perspektive auf Teilvermögen gewinnen, d. h. auf unselbstständige Aspekte der Vorstellungsvermögen: auf den theoretischen Verstand auf der einen oder die Sinnlichkeit auf der anderen Seite, auf die praktische Vernunft auf der einen oder auf Begierden oder Neigungen auf der anderen Seite. Die Einheit der Vorstellungsvermögen bliebe uns auf diesem Weg allerdings verschlossen und rätselhaft. Die reflexive Pointe der Modalkategorien deutet jedoch darauf hin, dass diese Auffassung nicht richtig sein kann. Die Anwendung der basalen Modalbegriffe bringt ein Selbstbewusstsein von den subjektiven Vermögen zum Ausdruck, die wir ausüben, indem wir uns auf Gegenstände beziehen. Der empirische Begriff unserer Vorstellungsvermögen entspricht allerdings keinem Bewusstsein der Ausübung eines Vermögens. Auf der Basis des „inneren Sinns“ beziehen wir uns auf unsere Vorstellungen als Gegenstände unserer „inneren“ Erfahrung, die wir durch aktive oder passive Fähigkeiten empirischer Substanzen (zu denen wir uns dann selbst zählen) erklären. Sofern wir es also mit einem Selbstbewusstsein vom Vollzug eines subjektiven Vermögens zu tun haben, liegt vielmehr der Gedanke nahe, dass die Modalkategorien in erster Linie auf die intelligiblen Vermögen bezogen sind. Und wenn wir davon ausgehen wollen, dass wir mit Bezug auf diese Kategorien in der Lage sind, die Einheit der Vorstellungsvermögen kenntlich zu machen, dann folgt daraus, dass diese Einheit auch nur aus der Perspektive der intelligiblen Vermögen zugänglich ist. Diese Konsequenz ergibt sich auch bereits aus der Überlegung, mit der wir diesen Abschnitt begonnen haben: Wenn es sich so verhält, dass die empirischen Artikulationen der Vorstellungsverhältnisse unvollständig und die intellektuellen Artikulationen auf ihre empirischen Pendants bereits bezogen sind, können wir den Schluss ziehen, dass eine Rekonstruktion der empirisch-intelligiblen Einheit der Vorstellungsvermögen bei den intellektuellen Artikulationen ansetzen muss. Hinsichtlich der empirischen Anwendung der relationalen Kategorien hatte ich bereits den Umstand betont, dass wir allein auf der Basis von kausal artikulierten Vorstellungsverhältnissen kein Vermögen der Erkenntnis verständlich machen können (weil die bestimmte Bezugnahme auf Gegenstände nicht kausal zu erklären ist). Wir könnten aber demgegenüber behaupten wollen, dass wir in der Lage sind, im Ge-
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gensatz zum Erkenntnisvermögen rein empirische Vermögen des Begehrens und des Gefühls anzunehmen. Lassen sich die apriorischen Begriffe der empirischen Relationen der Inhärenz und Kausalität als „vollständige“ Begriffe auffassen, die die Möglichkeit und die Wirklichkeit von empirischen „Begehrungen“ und Gefühlen a priori verständlich machen? Kant selbst hat von seinen vorkritischen Metaphysikvorlesungen bis zur ersten und zweiten Kritik diesen Fall des Begehrens als den eines lebendigen Begehrungsvermögens beschrieben.¹⁰⁸ Im Sinne eines rein empirischen Begriffs – d. h. einer bloß empirischen Anwendung der Kategorien der Inhärenz und Dependenz – bezeichnet er dieses Begehrungsvermögen auch als „arbitrium brutum“ oder „tierische Willkür“, die dadurch charakterisiert ist, dass sie „pathologisch necessitiert“, d. h. durch „Bewegursachen der Sinnlichkeit“ resp. durch die subjektive Kausalität von Gefühlen der Lust und Unlust determiniert wird (KrV A 534).¹⁰⁹ Kant betont jedoch zugleich, dass das menschliche Begehren so nicht begriffen werden kann, weil die Kausalität des Gefühls dessen „Handlungen nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“ (KrV A 534).Wir können daher die Beschreibungen der empirischen Vermögen und ihrer Verwirklichung nicht als vollständig begreifen, denn wären sie dies, würden sie die intellektuelle Bestimmung der existenziellen Vorstellungsverhältnisse ausschließen. Diese intellektuellen Bestimmungen nehmen wir aber mit Notwendigkeit an, und zwar, weil wir über ein Selbstbewusstsein verfügen, das unseren Vollzug von Vorstellungen konstituiert und auf dessen Basis wir ein Bewusstsein von unseren Vorstellungen besitzen, welches in der empirischen Perspektive der Selbstwahrnehmung nicht verfügbar ist. Die Tatsache dieses Selbstbewusstseins verändert aber zugleich die Weise, in der wir ein Bewusstsein von unseren empirischen Vermögen besitzen. Das lässt sich bereits an dem Umstand erkennen, dass Vorstellungen, die wir erfahren oder wahrnehmen, allein auf der Basis des Selbstbewusstseins als unsere Vorstellungen begreifbar werden. Im Fall der empirischen Artikulation der Vorstellungsvermögen wird die Relation der Inhärenz demnach allererst durch Rekurs auf die intellektuelle Artikulation verständlich (weshalb sie auch im Rahmen der empirischen Artikulation als unbestimmbare erscheint). In der „inneren“ Erfahrung der eigenen Vorstellungen ist das intellektuelle Selbstverhältnis zu Vorstellungen dementsprechend bereits vorausgesetzt: Empirische Vorstellungsvermögen sind ohne intelligible Vorstellungsvermögen nicht denkbar. Wie verändert das intellektuelle Selbstbewusstsein der Vermögen aber nun unseren Begriff der empirischen Vermögen? Und welche begrifflichen Konsequenzen ergeben sich daraus für ein Verständnis der intelligiblen Vermögen selbst? Wir hatten bereits gesehen, dass wir die kategorialen Definitionen der intelligiblen Vorstellungsvermögen so auffassen müssen, dass sie die kategorialen Definitionen der em-
Vgl. KpV 5:9 Fn sowie Metaphysik Mrongovius 29:894. Siehe auch Metaphysik Mrongovius 29:896.
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pirischen Vorstellungsvermögen als in ihnen „aufgehobene“ enthalten. Aus diesem Grund ist das intellektuelle Selbstbewusstsein, das in der Ausübung der Tätigkeit des Vorstellens liegt, auf die empirische Artikulation der Vorstellungsverhältnisse bereits bezogen, und zwar derart, dass die Realisierung eines intellektuellen Vermögens zugleich ein Bewusstsein von der Realisierung des empirischen Vermögens einschließt. Die empirischen Vermögen sollten wir demnach so begreifen, dass sie einen konstitutiven Aspekt der Verwirklichung der intelligiblen Vermögen bilden. Und der Grund für diese Annahme liegt in der grundlegenden modalen Artikulation gegenstandsbezogener Vorstellungen, die für die Formen des Selbstbewusstseins der Vorstellungsvermögen charakteristisch ist. Versuchen wir, diesen Gedanken mit Blick auf die „transzendentale Definition“ des Erkenntnisvermögens exemplarisch auszuführen.¹¹⁰ Die Bezugnahme auf einen möglichen Gegenstand der Erfahrung hatten wir so beschrieben, dass sie ein Bewusstsein des Vermögens zum Ausdruck bringt, aufgrund dessen diese Bezugnahme eine bestimmte sein kann. Das Bewusstsein der Möglichkeit des Subjekts zu Vorstellungen der Erkenntnis wird durch ein apriorisches Prinzip definiert, nämlich durch das intellektuelle Prinzip der synthetischen Einheit der Apperzeption. Das durch die Modalität der Möglichkeit artikulierte Bewusstsein des Erkenntnisvermögens enthält derart die eigentliche Definition dieses Vermögens als eines Vermögens: Die Möglichkeit des Subjekts zu Vorstellungen der Erkenntnis – d. h. zu Vorstellungen, die dem Subjekt so inhärieren, dass sie zu ihrem Gegenstand in einem Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit stehen – wird durch das apriorische Prinzip der transzendentalen Apperzeption und der darin liegenden Kategorien der Erfahrung konstituiert. Die Bezugnahme auf einen wirklichen Gegenstand der Erkenntnis drückt hingegen ein Bewusstsein der Aktualisierung des Erkenntnisvermögens aus (d. h. ein Bewusstsein von einer solchen gegenständlichen Bezugnahme, in der das Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit aktuell besteht). Im Abschnitt zu den „Postulaten des empirischen Denkens überhaupt“ unterstreicht Kant, dass der distinkte „Charakter der Wirklichkeit“ in der „Wahrnehmung“ – oder genauer: in der „Empfindung“ – liegt (KrV A 225), d. h. in demjenigen Bezogensein der Vorstellungen auf einen Gegenstand, das durch die Kausalität der Affektion zustande kommt. Das Bewusstsein der Verwirklichung des Erkenntnisvermögens, das sich in der Bezugnahme auf einen wirklichen Gegenstand zeigt, schließt daher notwendig ein Bewusstsein der Aktualisierung des durch eine Relation der kausalen Abhängigkeit definierten empirischen Vermögens der Erkenntnis ein. Der Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein der Möglichkeit und dem Bewusstsein der Wirklichkeit eines Gegenstandes der Erfahrung wird aber nun durch die Modalität der Notwendigkeit markiert. Kant definiert diese Kategorie als „die Existenz, Die folgenden Überlegungen lassen sich ebenfalls auf das Begehrungsvermögen (und sogar, mit Einschränkungen, auf das Vermögen zu Gefühlen) übertragen. Ich werde das an dieser Stelle nicht ausführen, weil die Frage nach der intellektuellen Einheit des intelligiblen und empirischen Begehrungsvermögens das Thema des zweiten Teils dieser Arbeit bildet.
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die durch die Möglichkeit selbst gegeben wird“ (KrV B 111). Gemäß der internen Gliederung der „Klasse“ der Modalkategorien in drei Bestimmungen – die „Möglichkeit“, das „Dasein“ (d. h. die Wirklichkeit) und die „Notwendigkeit“ (KrV A 80) – ergibt sich der Begriff der Notwendigkeit daher „aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse“, d. h. aus einer Verbindung der zweiten Kategorie der Modalität, des „Daseins“ oder der Wirklichkeit, mit der ersten Kategorie der Modalität, der „Möglichkeit“ (KrV B 110).¹¹¹ Der Gedanke der Notwendigkeit beschreibt derart den Gedanken einer Wirklichkeit, die bereits im Gedanken einer Möglichkeit enthalten ist resp. mit dem Gedanken einer Möglichkeit schon „gegeben“ wird. Das besagt nicht, dass der Gegenstand bereits durch seine Möglichkeit gegeben wird, sondern vielmehr, dass die Art der wirklichen Existenz eines Erfahrungsgegenstandes durch die Bedingungen seiner Möglichkeit bestimmt wird. Kants Formulierung der Notwendigkeit – „die Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist“ – müssen wir folglich vor dem Hintergrund der für die Erkenntnis spezifischen Relation der existenziellen Abhängigkeit verstehen: Sofern es sich um die Existenz eines Gegenstandes handelt, von dem die Existenz der Vorstellung abhängig ist, kann „Notwendigkeit“ nur bedeuten, dass die wirkliche Existenz eines Gegenstandes, die sich in „Empfindungen“ manifestiert, schon eine Realisierung der Bedingungen seiner Möglichkeit einbegreift. In der Bezugnahme auf einen notwendigen Gegenstand der Erfahrung markiert sich demnach ein Bewusstsein des internen Zusammenhangs zwischen dem Vermögen der Erkenntnis, das durch das intellektuelle Prinzip der Apperzeption definiert wird, und einer Realisierung der Erkenntnis, die wesentlich eine Aktualisierung der Rezeptivität gegenüber kausalen Einwirkungen beinhaltet. Und dieser Zusammenhang wird so gedacht, dass das Prinzip der Einheit der Apperzeption zugleich das Prinzip der Aktualisierung der Rezeptivität darstellt. Die Einheit des Erkenntnisvermögens – die Einheit der Möglichkeit zu und der Wirklichkeit von Vorstellungen der Erkenntnis (und mit ihr die Einheit der intellektuellen und empirischen Definitionen des Erkenntnisvermögens) – drückt sich demnach in der Modalität der Notwendigkeit aus, die unser Selbstbewusstsein von diesem Vermögen charakterisiert. Letzteres liegt also nicht nur im Bewusstsein eines möglichen Gegenstandes der Erkenntnis, sondern ebenfalls im Bewusstsein eines wirklichen Gegenstandes der Erkenntnis. Die Einsicht, dass das apriorische Prinzip der Erkenntnis mit Notwendigkeit gilt, besagt somit, dass es mit Notwendigkeit in der Empfänglichkeit von gegenständlichen Affektionen realisiert wird. Wenn das stimmt und mutatis mutandis für die Einheit aller Vorstellungsvermögen gilt, dann sollten wir annehmen, dass die Realisierung einer Spontaneität unmittelbar als Aktualisierung einer empirischen Rezeptivität verständlich gemacht werden kann. Das ist freilich ohne Weiteres nicht leicht einzusehen. Denn um eine Um einer Verwechselung der dritten Begriffe der Kategorienklassen mit Prädikabilien vorzubeugen, fügt Kant sofort hinzu, dass die Bildung dieser dritten Kategorien – im Gegensatz zur Bildung von Prädikabilien – „einen besonderen Aktus des Verstandes [erfordert]“ (KrV B 111) und sich demnach nicht aus der bloßen Kombination der ersten beiden Kategorien ergibt.
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solche Einheit der Realisierung zu denken, ist erforderlich, dass wir ein Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit, das durch einen sich selbsttätig aufrechterhaltenden Akt der Spontaneität hervorgebracht wird, mit einem kausalen Abhängigkeitsverhältnis zusammenbringen, das durch die Rezeptivität gegenüber Affektionen zustande kommt. Die Begriffe der intelligiblen Vorstellungsvermögen – d. h. die Begriffe des theoretischen Verstandes, der praktischen Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft – sind, an sich betrachtet, nicht in der Lage, diese Einheit zu artikulieren. Es bedarf vielmehr eines Begriffs der „rezeptiven Spontaneität“ oder der „spontanen Rezeptivität“, der den Zusammenhang zwischen den intellektuellen und den empirischen Vermögen als einen solchen konzeptualisieren kann, der der Ausübung der intellektuellen Vermögen innerlich ist.¹¹² Neben einer rein intellektuellen Spontaneität wäre dementsprechend eine hybride Art der Spontaneität zu denken, die an rezeptive „Eindrücke“ oder rezeptiv entstandene „Triebfedern“ gebunden ist (oder gar selbst als eine Gestalt von Rezeptivität charakterisierbar wäre). Die für uns an dieser Stelle entscheidende Einsicht lautet somit, dass die vermögenstheoretische Anlage von Kants kritischem Projekt die Herausforderung beinhaltet, die interne Differenzierung der Vorstellungsvermögen – in intelligible und empirische Vermögen – als eine interne oder aspektuelle Differenzierung der intelligiblen Vermögen selbst verständlich zu machen. Wenn wir, mit anderen Worten, die kategorialen „Definitionen“ der intellektuellen Vorstellungsvermögen so verstehen müssen, dass sie bereits auf die kategorialen „Definitionen“ der empirischen Vorstellungsvermögen bezogen sind, dann beinhaltet das bereits den Gedanken, dass jene die interne Differenzierung der Vorstellungsvermögen in sich selbst reflektieren. Ein Verständnis der Einheit der intelligiblen und der empirischen Vermögen in ihrer Realisierung ist demnach, so die These, an den Begriff einer internen Teilung der intelligiblen Vermögen verwiesen. Wir gewinnen auf diese Weise einen zweifachen Begriff der intelligiblen Vermögen: einerseits den Begriff eines spontanen Vermögens zur intellektuellen Bestimmung eines Gegenstands (der Erkenntnis oder des Begehrens) innerhalb eines durch Relationen der existenziellen Abhängigkeit definierten Vorstellungsverhältnisses und andererseits den Begriff eines spontanen Vermögens zur Realisierung solcher Bestimmungen innerhalb eines durch Relationen der kausalen Abhängigkeit definierten Vorstellungsverhältnisses (resp. den Begriff eines spontanen Vermögens zur Ermöglichung solcher Bestimmungen mit Bezug auf ein kausal definiertes Vorstellungsverhältnis). Der zweite Begriff dieses intelligiblen Vermögens enthält mehr als der erste, nämlich eine Rücksicht auf die Spezifizität der empirischen Artikulation, d. h. auf ihre zeitliche und kausale Charakteristik, die als Bedingung der Realisierung in die Definition dieses Vermögens mit eingeht. Diese zentrale Problematik, die mit Kants vermögenstheoretischem Ansatz umrissen wird, lässt sich insbesondere an den divergierenden Lesarten des Verhältnisses von Spontaneität und Rezeptivität in Kants Theorie der Erfahrung beobachten. Vgl. etwa Heidegger 1973, § 29, S. 153, McDowell 1994, Lectures I-II, S. 3 – 45, sowie Kern 2006a, S. 155 – 158. Zu dieser Debatte siehe auch Tanzer 2005, Setton 2015 sowie meine Überlegungen im dritten Kapitel.
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In Kants vorkritischen Metaphysikvorlesungen fanden wir bereits eine terminologische Unterscheidung, die diese „interne Reflexion“ (der Differenz zwischen dem Intelligiblen und Sinnlichen im Intelligiblen) auf den Begriff bringen kann: die Unterscheidung von Vermögen und Kraft. Der Vorschlag, mit dem dieses Kapitel zu einem Abschluss kommen soll, lautet also, dass wir diese Unterscheidung in Kants vermögenstheoretischen Ansatz einführen sollten, um die zentrale Problematik besser verstehen zu können, die für seine Begriffe eines freien Willens und der Erfahrungserkenntnis charakteristisch ist: die Einheit und die Differenz zwischen einem intelligiblen Vorstellungsvermögen – im Sinne eines intellektuellen und normativen Prinzips – und einer intelligiblen Vorstellungskraft – im Sinne der Fähigkeit zur Aktualisierung dieses Prinzips innerhalb einer Relation der kausalen Abhängigkeit. In der Deutschen Metaphysik führt Christian Wolff die Unterscheidung zwischen den Begriffen des Vermögens und der Kraft folgendermaßen ein: Es muß aber die Kraft nicht mit dem blossen Vermögen vermenget werden: denn das Vermögen ist nur eine Möglichkeit etwas zu thun: hingegen da die Kraft eine Quelle der Veränderungen ist, muß bey ihr eine Bemühung etwas zu thun anzutreffen sein. […] Durch das Vermögen ist eine Veränderung bloß möglich; durch die Kraft wird sie würcklich. (Wolff 1983, § 117, S. 61 f.)
Das Vermögen scheint hier also kein Vermögen der Realisierung (und entsprechend auch nicht durch eine Form der Verwirklichung definiert) zu sein, sondern nur die bloße Ermöglichung einer Verwirklichung zu beschreiben, die noch einer zusätzlichen „Quelle“ bedarf, um eine „Veränderung“ in der Tat hervorzubringen. In seinen vorkritischen Vorlesungen zur Metaphysik nimmt Kant diese Unterscheidung auf: „Vermögen und Kraft muß voneinander unterschieden werden. Beym Vermögen stellen wir uns die Möglichkeit einer Handlung vor, es enthält nicht den zureichenden Grund der Handlung welches die Kraft ist sondern die bloße Möglichkeit derselben“ (Metaphysik Volckmann 28:434). Über ein Vermögen zu verfügen beschreibt derart einen „Zustand“, der im Hinblick auf seine Realisierung „unzureichend“ ist (Refl. 17:75), weil er bloß das „innre Princip der Möglichkeit einer Handlung“ darstellt (Metaphysik v. Schön 28:515). „Dieses innere Princip der Möglichkeit einer Handlung erfordert aber auch noch einen Bestimmungs Grund, damit die Handlung wirklich werde und das ist Kraft“ (Metaphysik v. Schön 28:515.). Die Stellen in den Vorlesungen zur Metaphysik, in denen Kant diese Unterscheidung zwischen einem „inneren Prinzip“ und einem „Bestimmungsgrund“ zur Handlung diskutiert, sind offensichtlich an einem kausalen Verständnis von Kräften orientiert. Das Prinzip eines Vermögens ist also deshalb „unzureichend“, weil es nicht als eine aktive Ursache wirksam werden kann oder weil es eine bloße Empfänglichkeit beschreibt, die eine externe „Kraft“ erfordert, um aktualisiert zu werden. Im Fall von körperlichen Substanzen definieren deren materielle Eigenschaften ein bestimmtes Vermögen zur kausalen Interaktion mit anderen Substanzen. Zur Aktualisierung solcher Vermögen bedarf es aber, in Leibniz’ Worten, „einer fremden Anregung und sozusagen eines Stachels […], um in Wirklichkeit übertragen zu werden“ (Leibniz 1966, S. 199).
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Das kausale Vermögen jedoch, das lebendige Substanzen besitzen, wird nicht auf „mechanische“ Weise durch eine externe Kraftwirkung aktualisiert, insofern, wie Kant schreibt, „in lebenden Wesen […] Kraft und Vermögen unterschieden“ sind (Refl. 27:76). Im Gegensatz zu Lebewesen verfügen anorganische Substanzen also über keine innere Kraft, ihr Vermögen zu aktualisieren; alle Verwirklichung ist in ihrem Fall „äußerlich abhängend und erzwungen“; lebendige Wesen hingegen sind „selbst thätig und aus ihrer inneren Kraft wirksam“ (Träume 2:327). In diesem Sinne lässt sich auch sagen, dass die Kraft einen internen Aspekt eines lebendigen Vermögens bezeichnet: „Kraft ist das Vermögen, in so ferne es hinreicht zur Wirklichkeit eines accidens“ (Refl. 14:823). Ein lebendiges Vermögen enthält demnach nicht nur das innere Prinzip von möglichen Handlungen, sondern es besitzt auch zugleich die Kraft, sich selbst zum Vollzug dieser Möglichkeiten zu bestimmen. Auch wenn Kant die terminologische Differenz von Kraft und Vermögen in seinen kritischen Schriften nicht mehr verwendet, bleibt sie dennoch der Sache nach gegenwärtig. Am Anfang der Kritik der praktischen Vernunft formuliert er das Begehrungsvermögen so, dass es zwei Aspekte umfasst: „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (KpV 5:9 Fn). Gemäß der vorkritischen Unterscheidung zwischen einem „inneren Prinzip“ und einem „Bestimmungsgrund zur Handlung“ beschreibt der so gedachte Begriff des Lebens ein Vermögen, nämlich das Vermögen, nach Maßgabe der inneren Prinzipien oder Dispositionen, d. h. der „Natur“ des Begehrungsvermögens zu handeln. Das so geschilderte Begehrungsvermögen lässt sich jedoch nicht zugleich so verstehen, dass es auch „äußerlich zureichend“ ist, um Handlungen zu bewirken: Die „inneren Prinzipien“ des Begehrens sind nicht in der Lage, „Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände von Vorstellungen“ zu sein. Dazu bedarf es vielmehr eines zusätzlichen „Bestimmungsgrundes zur Handlung“, nämlich der subjektiven Kausalität einer Autoaffektion durch Gefühle. Diese Art der lebendigen Selbstbestimmung zur Handlung nennt Kant „pathologisch“: Die inneren Dispositionen des Begehrungsvermögens werden in dem Maße aktualisiert, wie die Vorstellung der Existenz eines praktischen Gegenstandes die Gefühle der Lust und Unlust derart affiziert, dass im Lebewesen „Triebfedern“ entstehen, Begierden und Neigungen, welche die Verwirklichung des Begehrungsvermögens „necessitieren“ oder hemmen (KrV B 562). Erst rezeptiv konstituierte Triebfedern verdienen demnach den terminologischen Status von Kräften, die das Vermögen des Begehrens in die Tat umsetzen können. Im Fall eines „animalischen“ Begehrungsvermögens bleiben somit Vermögen und Kraft unterschieden: Die natürlichen Dispositionen (oder „inneren Prinzipien“) des Begehrens beschreiben nicht selbst Kräfte, die zureichend zur kausalen Hervorbringung von Handlungen sind; dazu ist vielmehr die rezeptive Kausalität von Gefühlen notwendig, die dem Subjekt allererst die „Kraft“ verleiht, sein Begehren zu aktualisieren. Dieser kleine Exkurs zu Kants vorkritischen Begriffen des Vermögens und der Kraft setzt uns nun in den Stand, die interne Differenzierung der intelligiblen Vor-
2.3 Die Einheit der beiden Artikulationen: Vermögen und Kraft
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stellungsvermögen besser zu verstehen, in welcher sich die Differenz zwischen der intellektuellen und der empirischen Artikulation der Vorstellungsverhältnisse reflektiert. Das Selbstbewusstsein der apriorischen Prinzipien des Vorstellens ist das Selbstbewusstsein eines Vermögens der Spontaneität, das zur normativen Bestimmung eines intellektuellen Vorstellungsverhältnisses „innerlich zureicht“ (und zwar in dem Sinne, dass sich diese Bestimmung innerhalb einer Relation der existenziellen Abhängigkeit selbsttätig aufrechterhalten lässt). Dieses Vermögen, für sich genommen, ist jedoch nicht „äußerlich zureichend“, um eine solche Bestimmung auch zu realisieren (d. h. um jene Relation der existenziellen Abhängigkeit aktuell werden zu lassen). Denn dazu bedarf es einer Kraft, diese Bestimmung als ein Verhältnis der Kausalität oder mit Bezug auf ein Verhältnis der Kausalität zu verwirklichen. Eine solche Kraft ist deshalb so zu begreifen, dass sie in einem engen Zusammenhang mit einer Form der Rezeptivität steht, denn nur unter dieser Bedingung lässt sie sich als „äußerlich zureichend“ für die Aktualisierung einer kausalen Relation ansprechen. In diesem Sinne haben wir es also mit einem Bewusstsein des Bestimmtwerdens zu tun. Da es sich aber wesentlich um die Verwirklichung resp. um die Wirklichkeit einer intellektuellen Bestimmung handelt, sind wir angehalten, jene Kraft zugleich als die Ausübung eines intelligiblen Vermögens zu denken: Das Bewusstsein des Bestimmtwerdens, der kausalen Abhängigkeit von Gegenständen oder emotionalen Affektionen, ist zugleich der – bewusste oder nichtbewusste – Vollzug einer Spontaneität, d. h. es entspricht einem Bewusstsein des „Sich-bestimmen-lassens“,¹¹³ das die spontane Aktualisierung eines apriorischen Prinzips ebenso wie die Aktualisierung eines empirischen Prinzips der Rezeptivität umfasst (und in dem somit die formalen Bedingungen der Intelligibilität des Gegenstandsbezugs mit den materialen und kausalen Bedingungen der Aktualität eines Gegenstandsverhältnisses eine Einheit bilden). Im Gegensatz zur Charakterisierung eines bloß empirischen Begehrungsvermögens treten hier Vermögen und Kraft also nicht auseinander. Denn die Kraft der Erkenntnis oder des Begehrens ist dadurch definiert, dass sie ein apriorisches Prinzip aktualisiert. Ihr Bezug auf dieses Prinzip ist allerdings von der Weise unterschieden, in der ein Vermögen auf sein Prinzip bezogen ist: Sie bringt dieses allererst in den Rang einer kausalen Ursache oder in den Rang einer apriorischen Bestimmung von kausalen Wirkungen. Erst damit sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir Kants Vorstellung einer „intelligiblen Kausalität“ überhaupt einführen können.¹¹⁴ In dem Maße also, in dem wir „intelligible Kräfte“ annehmen können, durch die das Subjekt in der Lage ist, apriorische Prinzipien innerhalb von kausal definierten Vorstellungsverhältnissen zu aktualisieren, können wir Kants Begriffe der Vorstellungsvermögen so verstehen, dass sie genuin normative Bestimmungen zugleich als Bestimmungen einer kausalen Relation ausweisen können, – denn dies ist der zentrale Gedanke, der den „transzendentalen Ich borge mir hier die Formulierung (und schließe mich damit auch der Einsicht an), die Martin Seel mit Bezug auf die Erkenntnis und die praktische Selbstbestimmung in Sich bestimmen lassen entwickelt hat (vgl. Seel 2002, S. 146, 165 f., 289). Vgl. KrV A 538.
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Definitionen“ der subjektiven Grundvermögen zugrunde liegt: dass Geltungsprinzipien zugleich Realisierungsprinzipien sind. Eine zentrale Herausforderung für Kants Theorie der Erkenntnis und des Wollens besteht dementsprechend darin, nicht nur deren transzendentale Prinzipien einzuführen und zu begründen, sondern auch Begriffe von „intelligiblen Kräften“ zu entwickeln, durch die diese Prinzipien mit Blick auf die empirische Artikulation der Vorstellungsverhältnisse aktualisiert werden. Wir können in diesem Sinne zwei argumentative Schritte in Kants transzendentaler Kritik unterscheiden, die jeweils auf die zwei Aspekte der Notwendigkeit bezogen sind, die die Prinzipien der intelligiblen Vorstellungsvermögen auszeichnet: eine Analyse der objektiven Bedingungen der Möglichkeit und eine Analyse der subjektiven Bedingungen der Wirklichkeit. ¹¹⁵ Der erste Schritt ist durch den Versuch charakterisiert, die Möglichkeit einer allgemeingültigen Erkenntnis oder eines guten Willens durch die Notwendigkeit ihrer intellektuellen Prinzipien zu erweisen. Wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis durch die notwendige Geltung der Kategorien des reinen Verstandes zu begründen versucht, so versucht er die Bedingung der Möglichkeit eines guten Willens durch die notwendige Geltung des kategorischen Imperativs zu fundieren. In diesem Schritt bezieht sich die transzendentale Analyse auf die Vermögen des Subjekts – als den systematischen Ort oder Sitz jener apriorischen Prinzipien, durch die das Subjekt zu objektiv gültigen Vorstellungen des Wissens und Wollens befähigt wird. Das Ziel, die Notwendigkeit von bestimmten apriorischen Prinzipien zu erweisen, ist aber nicht schon mit dem Nachweis erreicht, dass die Möglichkeit der Erkenntnis und des Wollens auf ihnen beruht. Wie wir gesehen haben, bedarf es zusätzlich noch des Nachweises, dass diese Prinzipien auch die subjektive Wirklichkeit und damit auch die wirkliche Möglichkeit allgemeingültigen Wissens oder eines guten Willens konstituieren. Hier setzt der zweite Schritt ein: Es geht um den Versuch, das Argument für die notwendige Möglichkeit (einer wahren Erkenntnis oder eines guten Willens) um ein Argument für die wirkliche Möglichkeit (derselben) zu ergänzen. Die Frage nach den Bedingungen der Wirklichkeit eines guten Willens oder einer wahren Erkenntnis zielt darauf, die „Übereinstimmung“ jener objektiv geltenden Prinzipien mit den empirischen und rezeptiven Bedingungen des Gegenstandsbezugs zu erweisen. Und dies geschieht dadurch, dass gezeigt wird, inwiefern jene Prinzipien auf der Ebene dieser Bedingungen wirksam sind. In diesem zweiten Schritt betrachtet die transzendentale Analyse die Vermögen des Erkennens und Begehrens somit als Kräfte: In der „transzendentalen Deduktion“ der ersten Kritik entdeckt Kant eine transzendentale „Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit“ in Gestalt der Einbildungskraft (KrV B 152) – eine Wirkung, die erklären soll, dass die sinnliche Rezeptivität nicht nur unter den Bedingungen des reinen Verstandes stehen muss (soll Erkenntnis möglich sein), sondern dass sie auch tatsächlich mit diesen übereinstimmt, weil die
Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Riha 1993, S. 32– 36.
2.3 Die Einheit der beiden Artikulationen: Vermögen und Kraft
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Ermöglichungsbedingungen der Erkenntnis in der Sinnlichkeit bereits aktualisiert werden. Und im dritten Hauptstück des ersten Buchs der Kritik der praktischen Vernunft wird in analoger Weise eine transzendentale Wirkung der reinen praktischen Vernunft auf die Rezeptivität des Gefühls in Gestalt einer „moralischen Triebfeder“ entdeckt – eine Wirkung, die erklären soll, dass das Begehren nicht nur dem kategorischen Imperativ gemäß handeln soll, sondern dass es dazu auch immer schon durch das Gefühl der Achtung bekräftigt wird. Die Objektivität des praktischen Gesetzes und der Kategorien ist also nur in dem Maße wirklich bestimmend, wie sie zugleich eine Wirklichkeit im oder als Subjekt hat: wie „der objektive Bestimmungsgrund“ zugleich „der subjektiv hinreichende Bestimmungsgrund“ sein kann (KpV 5:72). Und jene Ermöglichungsbedingungen sind subjektive Bestimmungsgründe in dem Maße, wie sie zugleich Kräfte sind – wie der Verstand zugleich als Einbildungskraft und die Vernunft zugleich als Triebfeder auftritt. Das nächste Kapitel verfolgt das Ziel, im Zuge einer Rekonstruktion von Kants Theorie der Erfahrung in der ersten Kritik für diese Lesart zu argumentieren: Im Ausgang von der Frage, wie die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität in der empirischen Erkenntnis zu verstehen ist, versuche ich zu zeigen, dass der Schlüssel für ein Verständnis dieser Einheit in Kants Begriff der Einbildungskraft liegt, die wir im Sinne einer Kraft des Verstandes – im Gegensatz zum Verstand als Vermögen – denken sollten. Der zweite Teil dieser Arbeit ist der Einheit von Vermögen und Kraft im Fall des Begehrens gewidmet. Die Frage nach der Einheit von Prinzip und Kraft ist hier besonders interessant, weil Kant nicht davon ausgeht, dass die Einheit von Gesetz und Triebfeder die Einheit eines rationalen Begehrungsvermögens hinreichend beschreibt. Vielmehr ist es die Einheit von Wille und Willkür, die Kant in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten in erster Linie im Sinne einer internen Gliederung des vernünftigen Begehrens einführt: Wille und Willkür verhalten sich zueinander wie Vermögen und Kraft. Sofern Kant das praktische Prinzip des Willens auch als die „Ursache“ einer „Wirkung“ auf das Vermögen zu Gefühlen beschreibt, haben wir es also mit zwei Kräften des Begehrens zu tun. Der Grund für diese Komplizierung liegt darin, dass die empirische Artikulation des Begehrungsvermögens durch zwei Relationen der Kausalität gekennzeichnet ist: durch die Kausalität des Begehrens hinsichtlich seiner Gegenstände sowie durch die subjektive Kausalität des Gefühls hinsichtlich der Bestimmung des Begehrens zur Kausalität. Die Studien im zweiten Teil sind dem Versuch gewidmet, das Verhältnis dieser zwei Kräfte des Begehrens in ihrem Verhältnis zum Vermögen des Willens zu untersuchen.
3 Spontane Rezeptivität: Einbildungskraft und Verstand in Kants Theorie der Erfahrung Die folgenden Überlegungen beschreiben den Versuch, die systematische Rekonstruktion der „transzendentalen Definitionen“ der Vorstellungsvermögen, die in den ersten beiden Kapiteln im Zentrum standen, anhand einer etwas genaueren Betrachtung des Vermögens der Erfahrung zu erproben.¹¹⁶ Die Frage, die dabei im Fokus stehen wird, ist die Frage nach der Einheit von Spontaneität und Rezeptivität, deren Beantwortung vor allem mit Blick auf das intelligible Vermögen der Erfahrungserkenntnis, d. h. das Selbstbewusstsein des Verstandes, erfolgen soll. In Frage steht somit die Weise, wie im Verstand der Unterscheid von Verstand und Sinnlichkeit – d. h. der Unterschied zwischen Spontaneität und Rezeptivität, zwischen der intelligiblen und der empirischen Seite der Erkenntnis oder zwischen ihrer normativen und ihrer kausalen Artikulation – reflektiert ist. In der Auffassung, die ich im Folgenden verteidigen möchte, stehen zwei Aspekte im Vordergrund: Um die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität zu verstehen, müssen wir davon ausgehen, dass ihre Differenz in der Spontaneität selbst derart reflektiert ist, dass beide Seiten sowohl distinkt bleiben – sonst hätten wir es nicht mit der Reflektion einer Differenz zu tun – als auch in ihrer Einheit ersichtlich werden. Eine angemessene Weise, diese Einheit der Differenz und die Differenz in der Einheit verständlich zu machen, besteht darin, so die These, sie als Einheit und Differenz von Vermögen und Kraft zu deuten. Indem wir uns also auf das Selbstbewusstsein beziehen, das dem Vollzug des Verstandes resp. der Tätigkeit des Urteilens implizit ist, lassen sich die beiden Momente des Erkenntnisvermögens im Sinne von Gelingensbedingungen rekonstruieren: Um auf empirische Gegenstände bezogen zu sein, müssen diese dem Subjekt rezeptiv gegeben sein; um aber eine intentionale Bestimmtheit zu besitzen, ist erforderlich, dass das Urteilen in der Anwendung von Begriffen besteht, die zur Spontaneität des Subjekts gehören. Aufgrund der Tatsache, dass Urteile Ausdruck von Spontaneität sind, haben sie einen normativen Charakter: Sie formulieren einen Geltungsanspruch und schreiben sich derart in die „Einheit der Apperzeption“ ein (d. h., wenn man so will, in den Zusammenhang eines „logischen Raums der Gründe“). Aufgrund der ersten Gelingensbedingung jedoch, dass solche Urteile von der Rezeptivität der Sinnlichkeit abhängen, sind sie auf einen nicht-normativen oder „natürlichen“ Faktor bezogen. Das Bewusstsein der besonderen Merkmale, die in Urteilen als Instanzen allgemeiner Begriffe erfasst werden, wird durch Affektionen konstituiert, die an sich betrachtet weder einen normativen Status noch einen begrifflichen Gehalt haben. Das Rätsel, das die Frage nach der Einheit von Spontaneität und Rezeptivität motiviert, lautet demnach: Wie ist es möglich, dass ein nicht-normativer und nicht-begrifflicher Teile der Argumentation dieses Kapitels sind erschienen in Setton 2015. https://doi.org/10.1515/9783110669381-005
3 Spontane Rezeptivität: Einbildungskraft und Verstand in Kants Theorie der Erfahrung
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Aspekt (wie die durch Rezeptivität erworbene Mannigfaltigkeit von sinnlichen Eindrücken) eine normative Signifikanz für Erfahrungsurteile besitzt? Kants Lösung dieses Rätsels wird gewöhnlich so verstanden, dass sie auf die Konzeption einer durch Spontaneität konditionierten Rezeptivität, d. h. auf die Vorstellung einer rezeptiven Spontaneität hinausläuft. Damit die Aktualisierungen des Vermögens der Sinnlichkeit in der Lage sind, zur Bildung von Urteilen beizutragen, d. h. eine Bedingung der Gültigkeit von Urteilen darzustellen, muss die Form von sinnlichen Affektionen so begriffen werden, dass sie für das Vermögen zu urteilen grundsätzlich zugänglich sind. Dies kann jedoch nur durch die Spontaneität des Verstandes und seine normativen Prinzipien selbst garantiert werden. Die Bedingungen der Spontaneität gehen daher konstitutiv in die Weise ein, in der uns Gegenstände durch Rezeptivität gegeben werden. Nur in dem Maße also, wie sich die begriffliche Fähigkeit des Verstandes schon innerhalb der Rezeption von Eindrücken aktualisiert, lässt sich die Sinnlichkeit als eine Instanz mit normativer Valenz denken. Diese Formulierung tendiert jedoch dazu, den nicht-normativen und nicht-begrifflichen Charakter des Rezipierten zum Verschwinden zu bringen, und birgt insofern das Risiko, eine Gelingensbedingung des empirischen Urteilens auszustreichen und damit die Konzeption des empirischen Urteilens unverständlich zu machen. Die folgenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass dieses Bild das Resultat eines „idealistischen“ Missverständnisses von Kants Theorie der Erfahrung in der ersten Kritik ist. Der Vorschlag lautet dagegen, die nahezu „materialistische“ Pointe seiner Konzeption einer spontanen Rezeptivität ernst zu nehmen: Wir sollten die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität derart rekonstruieren, dass das urteilende Subjekt sich selbst aus Spontaneität zur Rezeptivität bestimmt, d. h. dass es seine sinnlichen Affektionen als Affektionen selbsttätig aufrechterhält. Derjenige Aspekt der Spontaneität, der eine sinnliche Mannigfaltigkeit als eine empfangene Mannigfaltigkeit zur Geltung bringt, ist die Einbildungskraft. Um dies zu demonstrieren, werde ich einige grundlegende Züge von Kants Beschreibungen der Einbildungskraft in der „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ (nach der ersten und der zweiten Auflage) rekonstruieren. Dabei werde ich ein Argument skizzieren, das die Fähigkeit der Rezeptivität im Sinne eines nicht-normativen Faktors herausstellt, der einen normativen Einfluss auf die Tätigkeit des Urteilens ausübt. Der erste Abschnitt dient zunächst – noch einmal – der philosophischen Einführung von Kants Begriffen der Spontaneität und Rezeptivität sowie der Kennzeichnung einer gewissen Schwierigkeit, die in zeitgenössischen Interpretationen von Kants Bestimmung ihrer Einheit beobachtet werden kann. Die beiden folgenden Abschnitte sind dann dem Versuch gewidmet, Kants Begriff der Einbildungskraft im Sinne einer quasi-materialistischen Auffassung von der Rolle der Rezeptivität im Urteilen zu deuten.
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3.1 Das Rätsel der Rezeptivität Das Problem, wie die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität, von Verstand und Sinnlichkeit zu verstehen ist, ergibt sich aus den zwei fundamentalen Gelingensbedingungen des empirischen Urteilens, die a priori im urteilenden Selbstbewusstsein liegen. Die erste Bedingung bezeichnet John McDowell als „minimal empiricism“ (McDowell 1994, S. xii): Erfahrungsurteile beanspruchen Aspekte der Welt so zu erschließen, wie sie unabhängig von der Erkenntnis vorliegen, und das setzt eine Fähigkeit der Rezeptivität auf Seiten des Subjekts voraus. Die Voraussetzung besagt, dass das Erkenntnisurteil in einer Beziehung der existenziellen Abhängigkeit zu seinem Gegenstand steht: Die Wirklichkeit und mithin die Gültigkeit der Bestimmung, die das Urteil dem Gegenstand zuschreibt, hängt von der Wirklichkeit dieses Gegenstands ab – und nicht umgekehrt. Daher muss der Gegenstand zuvor gegeben worden sein, und zwar durch eine Affektion der Sinnlichkeit. Auf der Basis dieser ersten Bedingung scheint es naheliegend zu sein, die Quelle der Richtigkeit empirischer Urteile in dieser durch Affektion vermittelten Beziehung zum Gegenstand zu verorten. Das aber resultiert in einer empiristischen Auffassung, die, wie McDowell mit Sellars behauptet, auf dem „Mythos des Gegeben“ beruht (McDowell 1994, S. xiv): der Vorstellung, dass das, was die Sinnlichkeit passiv empfängt, vollständige Gegenstandsvorstellungen seien, die wir dann nur noch mit „behauptender Kraft“ ausstatten müssten. Für das Urteilen bliebe nicht mehr als ein Akt der Zustimmung übrig, der auf das Gegebene bezogen wird. Dieses Bild entspricht aber einem naturalistischen Mythos, weil bloße kausale Affektionen nur zu internen Modifikationen im „Strom“ von Empfindungen führen, d. h. zu einer undifferenzierten Mannigfaltigkeit von Eindrücken – und eben nicht zu intentional gehaltvollen Vorstellungen, die sich von sich aus auf Gegenstände beziehen.¹¹⁷ Von einem Gegebensein von Gegenständen kann also auf der Basis bloßer Rezeptivität nicht die Rede sein. Aus diesem Grund spricht McDowell auch von einem „minimalen“ Empirismus: Die Rezeption von Eindrücken – in all der Zufälligkeit, Regellosigkeit und Vereinzelung dessen, was durch sie dem urteilenden Subjekt begegnet – scheint zwar unverzichtbar, aber keine bestimmende Rolle im Urteilen spielen zu können.¹¹⁸ Die intentionale Bezugnahme auf ein Objekt impliziert vielmehr – und damit kommen wir zur zweiten Gelingensbedingung, die a priori im Selbstbewusstsein des Urteilens liegt – eine Anwendung von Begriffen: Um eine Vorstellung auf einen Gegenstand zu beziehen, muss diese Vorstellung „etwas als etwas“ repräsentieren und derart als Instanz einer allgemeinen Bestimmung – „vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann“ (KrV A 320) – charakterisieren, womit dieses „etwas“ zugleich in den einheitlichen Zusammenhang der Erfahrung gesetzt wird. Sofern also bloße Affektionen der Rezeptivität eine solche intentionale Charakteristik
Vgl. McDowell 1994, xiv-xvi, 25 f. Siehe dazu auch Engstrom 2006, S. 14.
3.1 Das Rätsel der Rezeptivität
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nicht besitzen können (weil sie nur den inneren Zustand des Subjekts modifizieren),¹¹⁹ sollten wir den intentional bestimmten Gegenstandsbezug als Spontaneität beschreiben: als Selbsttätigkeit, die die Prinzipien der Bezugnahme auf Gegenstände in sich selbst hat und sich auf diese Weise in ihren Vollzügen selbst führt. Insofern also die Rezeptivität der Sinnlichkeit das Urteilen nicht auf eine kausale Weise determinieren kann, hat das Urteilen einen wesentlich normativen Charakter: Es erhebt einen Anspruch auf Angemessenheit und enthält so das Bewusstsein, die Bestimmung des Gegenstands auf der Basis eines Grundes – nämlich des erfahrungsvermittelten Gegenstands selbst – zu vollziehen. Wie ist es aber möglich, dass dieser Gegenstand, der mir durch Affektion vermittelt wird, eine derartige normative Signifikanz besitzt, wenn die Rezeptivität selbst dem Urteilen keine Regel an die Hand gibt, wie es den sinnlich vermittelten Gegenstand bestimmen soll? Die Antwort, die McDowell und Sellars Kant zuschreiben, besagt, dass die eigentümliche Quelle, aufgrund der ein erfahrungsvermittelter Gegenstand die normative Rolle eines Grundes für empirische Urteile spielen kann, in der Spontaneität des urteilenden Verstandes selbst liegt: in jenem Selbstbewusstsein, das die Spontaneität des Urteilens trägt. Kants zentraler Gedanke lautet hier, dass es die durchgängige Identität der logischen Funktion des „Ich denke“ ist, die alle erkenntnisrelevanten anschaulichen Vorstellungen des Subjekts a priori unter die Bedingung der notwendigen Einheit der Erfahrung stellt. Wenn McDowell (mit Sellars) vom „logischen Raum der Gründe“ spricht (McDowell 1994, S. xiv), in den die sinnliche Gegebenheit eines Gegenstandes der Erfahrung platziert werden muss, um eben die Rolle eines Grundes von Erfahrungsurteilen zu spielen, dann haben wir es mit einer Interpretation eben desjenigen einheitlichen Zusammenhangs zu tun, der Kant zufolge durch die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“ hergestellt wird (KrV B 131). Und weil, so Kant weiter, das System der logischen Funktionen des Urteilens, das dem spontanen Verstand angehört, die grundsätzlichen Bedingungen festlegt, unter denen Bestimmungen von Gegenständen im einheitlichen Zusammenhang eines Selbstbewusstseins stehen können,¹²⁰ definiert der spontane Verstand damit die Bedingungen für Gegenständlichkeit überhaupt, nämlich in Gestalt der von den Urteilsformen abgeleiteten Kategorien. Das Problem besteht nun freilich darin, wie man diese starke Konzeption der Spontaneität mit der Rezeptivitätsbedingung in Einklang bringen kann – und zwar ohne den „minimalen Empirismus“ aufzugeben und in eine Art des „Kohärentismus“ zu verfallen, der McDowell zufolge die Quelle der Richtigkeit von Erfahrungsurteilen einseitig in der Kohärenz eben jenes holistisches Systems inferentieller Beziehungen zwischen Urteilen festmachen will.¹²¹ Wie lässt sich, mit anderen Worten, sowohl ein (naiver) Empirismus als auch ein (naiver) Rationalismus bezüglich der Normativität
Vgl. McDowell 1998b, S. 452– 470. Siehe KrV B 140 – 143. Vgl. McDowell 1994, S. 16 – 23.
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des empirischen Urteilens vermeiden? Der neuralgische Punkt in der Lösung dieses Problems liegt freilich in der Frage von Kants transzendentaler Deduktion: Wie ist es möglich, dass die transzendentalen Bedingungen, die in der Spontaneität des Verstandes wurzeln, konstitutiv in die Art eingehen, wie uns Gegenstände gegeben werden? Denn um eine normative Signifikanz für die Bildung von Erfahrungsurteilen zu besitzen, muss die Rezeption sinnlicher Vorstellungen bereits einen Aspekt von Spontaneität beinhalten – und zwar eine Form der Tätigkeit auf Seiten des Subjekts, die Kant als „Synthesis“ bezeichnet (KrV A 77) –, weil andernfalls sinnliche Anschauungen einen erfahrbaren Gegenstand überhaupt nicht präsentieren könnten. In der gegenwärtigen philosophischen Debatte bezüglich der angemessenen Interpretation von Kants Lösung dieses Problems lassen sich grob zwei Stränge unterscheiden, die gleichermaßen unbefriedigende Alternativen anbieten: Auf der einen Seite finden wir Ansätze, in denen der nicht-normative oder nicht-begriffliche Charakter der Rezeptivität dazu tendiert, zu verschwinden,¹²² während auf der anderen Seite ein Bild von sinnlichen Erfahrungen als Komposita aus normativen und nichtnormativen Aspekten gezeichnet wird, ohne die Art und Weise verstehen zu können, die diese heterogenen Aspekte zusammenhält.¹²³ Beide Ansätze teilen die Überzeugung, dass sich der normative Charakter von Anschauungen nur dadurch aufrechterhalten lässt, dass ihnen ein Aspekt von Spontaneität zukommt. Diese Auffassung ist nicht zu bestreiten, schließlich wäre die Annahme merkwürdig, dass wir durch unsere Rezeptivität unmittelbar vollständige Vorstellungen von Gegenständen empfangen. Die Bildung von anschaulichen Vorstellungen sollte vielmehr als eine Reaktion auf Affektionen beschrieben werden, die Kant als eine Aktivität der „Synthetisierung“ einer Mannigfaltigkeit von sinnlichen Eindrücken konzeptualisiert. Der Unterscheid zwischen jenen beiden Tendenzen der Kant-Deutung liegt in der präzisen Spezifikation dieser synthetischen Aktivität – und in der Rolle, die sie dabei der Rezeptivität zuschreiben. John McDowell zufolge, als vielleicht bekanntestem Vertreter des ersten Ansatzes, besteht die Pointe von Kants Versuch, die Verstandesbedingungen in der Sinnlichkeit zur Geltung zu bringen, darin, eine Konzeption von der Intentionalität der Anschauung vorzustellen, in welcher die sinnliche Erfahrung die Rolle eines Grundes im Urteilen einnehmen kann. Und für McDowell gelingt dies Kant in dem Maße, wie er sinnliche Anschauungen als Aktualisierungen des Verstandes (im Sinne eines „Vermögens der Begriffe“, KU 5:406) bestimmt. Wenn wir also die Anschauung derart verstehen, dass sie von Anfang an einen begrifflichen Gehalt hat, sind wir auch in der Lage, ihre Normativität in Hinsicht auf Urteile der Erfahrung einzusehen.¹²⁴ Das bedeutet aber nicht, so McDowell, den rezeptiven Charakter der Anschauung zu leugnen und mithin dem „minimalen Empirismus“ nicht gerecht zu werden. Der Intentiona Siehe McDowell 1994, Lectures I-II, S. 3 – 45. Diese Einschätzung erläutere ich im nächsten Abschnitt dieses Kapitels. Die Ansätze, auf die ich mich hier beziehe, sind: Sellars 1968, Kap. 1– 2, S. 1– 59, sowie Ginsborg 2006, S. 59 – 106. Vgl. McDowell 1994, S. 46.
3.1 Das Rätsel der Rezeptivität
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lität der Anschauung fehlt nämlich jene Haltung der Zustimmung, die allein die Spontaneität des Urteilens kennzeichnet. Anschauungen sind insofern keine Aktualisierungen des Verstandes im Sinne eines „Vermögen[s] zu urteilen“ (KrV A 69). Das Fehlen jener für das Urteilen charakteristischen Haltung der Festlegung, mit der Prädikatbegriffe als objektive Eigenschaften sinnlich vermittelter Gegenstände bestimmt werden, soll also deutlich machen, dass diese Aktualisierung von Begriffen auf rezeptive Weise geschieht: weil sich das Subjekt hier nur hinnehmend, nicht Stellung-nehmend zum Sinnlichen verhält.¹²⁵ McDowells Modell ist daher ein Modell der rezeptiven Spontaneität: Begriffe werden nicht aktiv auf eine vorbegrifflich gegebene Mannigfaltigkeit des Sinnlichen angewendet, sondern vielmehr auf passive Weise ins sinnliche Anschauen hineingezogen. ¹²⁶ Rezeptivität scheint bei McDowell also nichts weiter als die Kennzeichnung eines Aktualisierungsmodus von Spontaneität zu sein. Was immer wir qua Rezeptivität empfangen – es ist für uns immer schon begrifflich artikuliert. Auf diese Weise wird aber genau derjenige Aspekt der Rezeptivität nicht berücksichtigt, der ihr als nichtspontanem Vermögen eigentümlich ist: das Moment des passiven Bestimmtseins oder Bestimmtwerdens, d. h. ihr pränormatives, präintentionales oder vorbegriffliches Moment. Wenn dieses Moment aber verschwindet, besteht die Gefahr, dass die erste Gelingensbedingung des empirischen Urteilens nicht erfüllt wird. Wir müssen daher eine Antwort auf das eigentliche Rätsel finden, das Kants Begriff der Rezeptivität aufwirft (und das McDowell offensichtlich nicht als Problem anerkennen will): Wie ist es möglich, dass ein derart nicht-normatives oder nicht-begriffliches Moment als solches eine normative Signifikanz für das Urteilen besitzt? Im Gegensatz zu McDowell scheint es gerade dieses Moment zu sein, das Wilfrid Sellars und Hannah Ginsborg in ihren Ansätzen zu bewahren versuchen. Beide verfolgen dabei das Ziel, die kantische Anschauung als eine Kompositstruktur zu rekonstruieren, die aus einer natürlichen und nicht-begrifflichen Komponente auf der einen Seite sowie aus einer normativen Komponente auf der anderen Seite zusammengesetzt ist. Ginsborg weist die Idee zurück, dass Anschauungen ohne eine Art von normativer Stellungnahme die Rolle im Urteilen spielen könnten, die McDowell ihnen zuschreibt, nämlich: als rationale Gründe zu fungieren.¹²⁷ Daher wählt sie die genau entgegengesetzte Strategie. Sie spricht Anschauungen begrifflichen Gehalt ab, schreibt ihnen aber stattdessen eine „primitive“ Urteilshaltung zu (Ginsborg 2006, S. 91): einen „Sinn für die Angemessenheit“ der Aktivität des Synthetisierens von Eindrücken unter den besonderen Umständen der Wahrnehmungssituation, in der sich das Subjekt befindet (Ginsborg 2006, S. 93). Die synthetische Repräsentation sinnlicher Erscheinungen enthält daher den „normativen Anspruch“, dass jedes Subjekt, welches sich in der gleichen Wahrnehmungssituation befindet, „auf genau
Siehe McDowell 1998b, S. 439 f. Siehe McDowell 1994, S. 9. Vgl. Ginsborg 2006, S. 79 f.
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diese Weise synthetisieren soll“ (Ginsborg 2006, S. 94). Damit verleiht Ginsborg der Anschauung also einen „primitiven“ normativen Charakter, wobei jedoch jener „Sinn“ oder jene „Sensibilität“ dafür, so zu synthetisieren, wie man es sollte, überhaupt keine die Synthesis orientierende oder leitende Rolle spielt (Ginsborg 2006, S. 95). Das Verbinden sinnlicher Eindrücke zu einer Anschauung stellt sie sich vielmehr als Aktualisierung einer natürlichen Disposition des assoziativen Reagierens auf Affektionen vor.¹²⁸ Auf diese Weise versucht Ginsborg, die eigenständige Rolle der Rezeptivität zu akzentuieren, die ihrer Ansicht nach vor allem auch darin besteht, den Erwerb neuer empirischer Begriffe möglich zu machen. Weil aber die natürlichen, habituellen Reaktionsmechanismen unserer Sinnlichkeit nicht von einer Regel, einem Begriff oder kantischen Schemata geleitet werden – es handelt sich eher um Pattern regulärer Assoziation –, hinterlässt Ginsborgs Bild der sinnlichen Anschauung den Eindruck einer bloßen Zusammensetzung zweier unverbundener Momente: das habituelle Assoziieren und Zusammenbringen von Eindrücken einerseits und ein Sinn für die Angemessenheit dieser Aktivität andererseits, der jenem Assoziieren eine „normative Wendung“ gibt und eine „Zustimmung“ oder „Festlegung“ ausdrückt (Ginsborg 2006, S. 92). Dieser Akt der „Zustimmung“ scheint aber der rezeptiven Aktivität der Synthesis bloß hinzugefügt zu sein. Was in Ginsborgs Deutungsansatz demnach unklar bleibt, ist die Form der Einheit, die beide Seiten der Aktivität der Synthesis so zusammenhält, dass ihr Zusammenbestehen kein Zufall darstellt.
3.2 Zwei Formen der Spontaneität Ich habe die Lösungsmodelle von McDowell und Ginsborg skizziert, um die spezifische Gestalt des Problems der Einheit von Spontaneität und Rezeptivität deutlich zu machen: Wie kann die Rezeptivität des Subjekts im Sinne eines nicht-normativen, nicht-begrifflichen Moments selbst eine normative Signifikanz für das Urteilen haben? Wie kann, mit anderen Worten, die Aktualisierung der Rezeptivität, die durch kausale Affektionen ausgelöst wird, zugleich eine Aktualisierung der Spontaneität sein, die zu Gegenständen nicht in einem Verhältnis der kausalen Abhängigkeit steht, sondern in einem normativ artikulierten Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit? Die These, die ich nun verfolgen will, besteht darin, dass die beiden unbefriedigenden Alternativen – d. h. die einander entgegengesetzten Ansätze der Kant-Rekonstruktion, die durch McDowell und Ginsborg exemplifiziert werden – das Resultat einer Unterschätzung von Kants Theorie der Einbildungskraft in der ersten Kritik und der damit einhergehenden Konzeption der spontanen Rezeptivität sind. Mein Vorschlag lautet somit, dass wir den Begriff der Einbildungskraft so deuten können, dass er den Schlüssel für ein Verständnis der Einheit von Spontaneität und Rezeptivität liefert: Sie beschreibt eine Kraft der selbsttätigen Aufrechterhaltung der eigenen Rezeptivität.
Siehe Ginsborg 2006, S. 96.
3.2 Zwei Formen der Spontaneität
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Wenn wir die Synthesis der sinnlichen Mannigfaltigkeit einerseits als eine Aktivität auffassen wollen, die Begriffe in die sinnliche Anschauung hineinzieht, dann kann der Verstand als „Vermögen der Begriffe“ (oder gar als „Vermögen zu urteilen“) nicht diejenige Tätigkeit der Spontaneität sein, die das Synthetisieren in erster Linie leistet. Die Aktivität der Synthesis entspricht vielmehr zunächst einem vorbegrifflichen Operieren, welches das Element der Materialität liefert, das für die Erfahrung essentiell ist. Wenn diese Aktivität des Synthetisierens aber andererseits so verstanden werden muss, dass sie eine normative Valenz für das Urteilen besitzt, dann können wir sie nicht einfach als Ausübung einer natürlichen Disposition charakterisieren. Wir sollten die sinnliche Synthesis vielmehr als die Aktualisierung einer Kraft denken, die genauso spontan wie rezeptiv ist, – eine Aktualisierung, die genau deshalb eine Art normativen Druck auf das Urteilen ausübt, weil sie diesen doppelten Charakter besitzt. Die Synthesis der Einbildungskraft kennzeichnet daher die Weise, in der das Subjekt die Materie seiner Erfahrung empfängt. Da wir es jedoch nicht mit einer bloßen, sondern mit einer spontanen Rezeptivität zu tun haben, hat diese Materie (im Sinne einer apprehendierten Mannigfaltigkeit von Empfindungen) den Status eines Äußerlichen, das im Subjekt als Äußerliches zur Geltung gebracht wird. Wenn wir also Kant darin folgen wollen, dass die Einheit von Verstand und Sinnlichkeit im Verstand selbst liegt, dann sollten wir den Verstand, der diese Einheit hervorbringt, so deuten, dass er in der Gestalt der Einbildungskraft gleichsam „neben sich“ operieren kann: Die Einbildungskraft beschreibt eine Spontaneität, die in die Rezeptivität selbst investiert ist. Und aufgrund eines solchen Charakters der „Para-Spontaneität“ ist die synthetische Aktivität der Einbildungskraft in der Lage, der Rezeptivität einen normativen Einfluss auf die Spontaneität des Urteilens zu verschaffen. Dies sollten wir uns allerdings nicht so vorstellen, dass die synthetische Aktivität von einer „primitiven“ normativen Haltung begleitet wird; es handelt sich eher, wie noch zu zeigen sein wird, um die Dynamik einer Selbstaffektion, die eine Aktualisierung des Verstandes anstößt, und zwar derart, dass Begriffe (wahrscheinlich in einem demonstrativen Sinne¹²⁹) in die Anschauung „hineingezogen“ werden. Wenn es möglich ist, die Kontur von Kants Argumentation auf diese Weise zu rekonstruieren, dann wird sowohl die Wiedereinführung der „empiristischen“ Vorstellung einer natürlichen Disposition der Assoziation wie die „idealistische“ Vernachlässigung des nicht-normativen Aspekts der Rezeptivität vermieden. Stattdessen kommt diese Rekonstruktion einer Deutung nahe, die Adorno in der Negativen Dialektik als einen „Übergang“ zum Materialismus beschrieben hat (Adorno 1994, S. 193).¹³⁰ Adorno führt seine Idee des Materialismus dadurch ein, dass er sie von empiristischen und idealistischen Ansätzen unterscheidet. Sein Argument entspricht der Sache nach Kants Einsicht in die beiden Geltungsbedingungen der Erfahrung,
Vgl. McDowell 1994, S. 56 – 60. Siehe Adorno 1994, insbes. S. 182– 197. Den Hinweis auf Adornos Begriff des Materialismus verdanke ich Christoph Menke. Zu dessen Deutung vgl. Menke 2015a, S. 169 – 171, 378 f.
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nämlich Rezeptivität und Spontaneität: Der Gegenstand der Erfahrung ist einerseits weder ein „Gegebener“ noch ein „nacktes sinnliches Datum“, das das Subjekt durch die Affektion seiner Sinnlichkeit empfängt (Adorno 1994, S. 188). Er sollte vielmehr als ein „vermittelter“ gedacht werden: „Vermittlung des Objekts besagt, daß es nicht statisch, dogmatisch, hypostasiert werden darf, sondern nur in seiner Verflechtung mit Subjektivität zu erkennen sei“ (Adorno 1994, S. 186 f.). Die kantische Einsicht, dass Objektivität auf der Spontaneität des Subjekts basiert (dass die Bedingungen des Verstandes in der Rezeptivität aktualisiert werden), enthält jedoch andererseits nicht die Implikation, dass das Gegebensein des Gegenstandes ein Produkt des Subjekts wäre: „Daß die Bestimmungen, durch die das Objekt konkret wird, ihm bloß auferlegt seien, gilt nur unterm unerschütterlichen Glauben an den Primat der Subjektivität“ (Adorno 1994, S. 188). Adorno zufolge liegt der Fehler des Idealismus in der Annahme, die kognitiven Vermögen des Subjekts könnten unabhängig von ihrem spezifischen Bezogensein auf Gegenstände verstanden werden,¹³¹ – unabhängig von der Einsicht, dass sie in einer Relation der existenziellen Abhängigkeit zu ihrem Gegenstand stehen. Adornos Einwand gegen das idealistische „Primat der Subjektivität“ (Adorno 1994, S. 188) – wie auch gegen den Empirismus – basiert auf einer dialektischen Auffassung der Einheit zwischen Spontaneität und Rezeptivität. Beide lassen sich nicht unabhängig voneinander, sondern allein in wechselseitiger Vermittlung verstehen: Die Spontaneität ist wesentlich die Spontaneität einer genuin rezeptiven Fähigkeit; und die Rezeptivität beschreibt einen wesentlichen Aspekt eines genuin spontanen Vermögens. Wir müssen deshalb beide als unselbstständige Momente ein und derselben Fähigkeit begreifen, und zwar einer genauso sinnlichen wie begrifflichen Fähigkeit der Erkenntnis.¹³² Wenn mit den bisherigen Ausführungen Adornos Auffassung eines materialistischen Begriffs der Erfahrung hinreichend beschrieben wäre, dann hätte es den Anschein, dass nichts an seiner Position uns in den Stand setzte, McDowells Deutung von Kant zu widersprechen. Die eigentümliche materialistische Pointe von Adornos Argument wird aber erst dann deutlich, wenn wir genauer betrachten, wie er die dialektische Einheit der Spontaneität des Subjekts und der Rezeptivität gegenüber Objekten konzipiert: Denn erst „durch den Übergang zum Vorrang des Objekts wird Dialektik materialistisch“ (Adorno 1994, S. 193). Adorno betont also, dass ein materialistisches Verständnis der Erfahrung dadurch charakterisiert ist, dass dem „Objekt“ – und mit ihm der Rezeptivität – eine gewisse Priorität innerhalb der dialektischen Einheit der Erkenntnis zukommt. Das bedeutet freilich nicht, so Adorno, dass das Objekt unabhängig von der Spontaneität des Subjekts gedacht werden könnte: „Vorrang des Objekts bedeutet die fortschreitende qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend“ (Adorno 1994, S. 185). Ich verstehe Adornos Punkt so, dass wir uns die
Vgl. dazu Kern 2006b, S. 59. Siehe Kern 2006b, S. 62.
3.2 Zwei Formen der Spontaneität
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Aktualisierung der Erfahrung, in der die Rezeptivität mit der Spontaneität „vermittelt“ ist, als einen Prozess der Differenzierung vorstellen sollten, in dem die Haltung der Rezeptivität gegenüber dem Gegenstand eine Priorität gewinnt – und zwar gemäß der Relation der existenziellen Abhängigkeit, die in der Ausübung der Spontaneität der Erfahrung selbsttätig aufrechterhalten wird. Es wäre allerdings nicht richtig, diesen Prozess der Differenzierung als eine Separierung der Tätigkeit des Urteilens von der Rezeptivität der Anschauung zu interpretieren. Eher handelt es sich um die Differenzierung von zwei Modi der Aktualisierung ihrer Einheit: einer spontanen Rezeptivität im Sinne einer in die Sinnlichkeit involvierten Spontaneität (d. h. der Einbildungskraft) auf der einen Seite und einer rezeptiven Spontaneität auf der anderen Seite, die sich in der Bildung empirischer Begriffe und Urteile realisiert und dabei wesentlich auf die Sinnlichkeit bezogen bleibt. „Vorrang des Objekts“ besagt daher, dass die Relation der existenziellen Abhängigkeit von dem Gegenstand der Erfahrung im Vollzug des Erkenntnisvermögens aktiv aufrechterhalten werden muss, so dass die Haltung der Rezeptivität, ihrer Abhängigkeit von Leistungen der Spontaneität zum Trotz, ein normatives Privileg gewinnt. Ist es möglich, Adornos Gedanken einer dialektischen Differenzierung und des materialistischen „Vorrangs des Objekts“ im Rahmen von Kants Theorie der Erfahrung einzuführen? In einem ersten Schritt sollten wir den Umstand betonen, dass es in der Tat für Kants Ansatz wesentlich ist, dass Spontaneität und Rezeptivität Aspekte ein und desselben Vermögens beschreiben: Nur auf der Basis der Einsicht, dass der Akt des Urteilens und der Akt der Anschauung Aktualisierungen ein und derselben Fähigkeit der empirischen Erkenntnis sind, können wir die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität denken.¹³³ Das scheint genau der Punkt zu sein, den Kant in der zentralen Passage in §10 der ersten Kritik macht: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit“ (KrV A 79). In diesem Satz liegen aber zwei Akzentuierungen. Der ersten und offensichtlichen Betonung zufolge geht es natürlich um die Behauptung einer Selbigkeit der Funktion, die in der Synthesis des Sinnlichen und dem Urteil des Verstandes am Werk ist. Die Kraft zur sinnlichen Synthesis und das Vermögen der Urteile üben beide dieselbe Funktion aus, weil sie in derselben Spontaneität wurzeln, und zwar der synthetischen Einheit der Apperzeption. Aber in der Stelle in §10 lässt sich ebenfalls eine zweite, etwas subtilere Akzentuierung ausmachen. Denn Kant macht zugleich klar, dass „dieselbe Funktion“ doppelt auftritt und offenkundig auch doppelt auftreten muss: „in einem Urteile“ und „in einer Anschauung“. Die Spontaneität, die im Urteilen und in der Sinnlichkeit am Werk ist, tut dies nicht in der gleichen Gestalt, sondern hier als Verstand und dort „unter dem Namen der Einbildungskraft“ (KrV B 162).¹³⁴ Eine materialistische Deu-
Siehe Long 1998, S. 234, 240, sowie Kern 2006a, S. 155 – 158. „Es ist eine und dieselbe Spontaneität, welche dort, unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung bringt“ (KrV B 162 Fn).
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tung dieser Dopplung im Sinne Adornos würde dementsprechend behaupten, dass die Funktion der Spontaneität die Einheit von Verstand und Sinnlichkeit nur in dem Maße realisieren kann, wie sie sich selbst teilt – und sich dadurch in der Anschauung in einer entfremdeten Gestalt gegenübertritt. Was aber sollte uns dazu bringen, diese Verdopplung der Spontaneität im Sinne einer Art Selbstentfremdung zu begreifen? Warum reicht es nicht, sie analog zu McDowells Deutung zu verstehen und zu behaupten, dass Urteile das Resultat einer aktiven Ausübung unserer Fähigkeit zur empirischen Erkenntnis und Anschauungen das Resultat einer passiven Aktualisierung der gleichen Fähigkeit sind? In dieser Auffassung beschreiben Spontaneität und Rezeptivität zwei unterschiedliche Modi der Aktualisierung ein und desselben Vermögens, wobei die rezeptive Art der Aktualisierung so zu verstehen ist, dass sie durch den kausalen Einfluss von Gegenständen auf unsere Sinne ausgelöst wird, für den das Subjekt (aufgrund des darin liegenden Mangels an Spontaneität) nicht verantwortlich ist.¹³⁵ Das Problem dieser Deutung besteht jedoch darin, dass sie die Möglichkeit einer passiven Aktualisierung des „Vermögens der Begriffe“ nicht verständlich machen kann. Das ist vielmehr die spezifische Leistung von Kants Begriff der Einbildungskraft. Wenn wir uns an McDowells Interpretation halten, scheint die Einbildungskraft jedoch kein wirkliches Gewicht in Kants Theorie der Erfahrung zu besitzen, – eine Auffassung, die in der Kant-Interpretation weit verbreitet ist. Dieser Auffassung zufolge ist es vielmehr der Begriff des Verstandes, der die eigentliche explanatorische Arbeit in Kants Konzeption der Rezeptivität verrichtet.¹³⁶ Das kann aber nicht richtig sein. Denn inwiefern ist es möglich, dass die Aktualisierung der Spontaneität unseres „Vermögens der Begriffe“ das Ergebnis der Einwirkung von Gegenständen auf unsere Sinne darstellt, und zwar
Vgl. McDowell 1998b, S. 440, sowie Kern 2006b, S. 63. Um einige Beispiele zu nennen: Strawson hält Kants Gebrauch des Begriffs der Einbildungskraft (obgleich „worth considering“) eher für „metaphorisch“ (Strawson 1982, S. 89). Sellars schließt sich dieser Auffassung an (siehe Sellars 1968, S. 16). Die Einbildungskraft ist für letzteren eine „Metapher“ insofern, als sie entweder für die Generierung begrifflicher Gehalte in sinnlichen Perzeptionen oder für die latente Bildfunktion steht, die in der Anordnung nichtbegrifflicher Aspekte im Sinnlichen am Werk sei und die das Urteilen „von außen“ – einem Konstruktionsmodell gleich – „führe“. McDowell sieht das ähnlich; er lässt der Einbildungskraft nur eine Aufgabe übrig: „The productive imagination generates representations with conceptual content partly expressible by phrases of the form ‚this such‘“ (McDowell 2006, S. 323). Beatrice Longuenesse spricht von einer „‚appropriation‘ of imagination by understanding“ (Longuenesse 2001, S. 207), während Johannes Haag von einer „Intellektualisierung“ der Einbildungskraft durch den Verstand ausgeht (Haag 2007, S. 184). Für Longuenesse und Haag bedarf es einer „Aneignung“ oder „Intellektualisierung“ der Einbildungskraft durch den Verstand nicht nur deshalb, weil damit die (angeblich) epistemisch irrelevanten Spielarten der Einbildungskraft (d. h. vor allem ihr „freies“ und „gedankenloses“ Spiel) ausgeschlossen werden, sondern vor allem auch deshalb, weil allein die Spontaneität des Verstandes die Quelle derjenigen intellektuellen Prinzipien sein kann, durch die das „Mannigfaltige in der Anschauung“ überhaupt als Grund für empirische Urteile in Betracht kommt. Das Wirken der Einbildungskraft in der Anschauung ist daher in dem Maße „intellektualisiert“, wie es jene Prinzipien in der Anschauung zur Geltung bringt (und mithin aller assoziativen Beliebigkeit beraubt ist).
3.3 Die Einbildungskraft als spontane Rezeptivität
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derart, dass spezifische (demonstrative) Begriffe aufgrund dieser Einwirkung in die Anschauung hineingezogen werden? Diese Möglichkeit können wir nur einsehen, wenn wir gleichzeitig die Weise, in der Rezeptivität mit Spontaneität „vermittelt“ ist, so denken, dass die Rezeptivität mit einer aktiven Fähigkeit des Heranziehens von Begriffen ausgestattet ist, – was einen Modus von Spontaneität voraussetzt, der der Rezeptivität selbst angehört und der sich dabei zugleich aktiv von der Spontaneität des Urteilens (und mithin von den Tätigkeiten der Abstraktion, des Vergleichs und der Reflexion, auf denen diese beruht) unterscheidet. Wie Adorno schreibt: „Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes“ (Adorno 1994, S. 184). Dass das Objekt in seiner Andersheit „sich erhält“, und zwar gegenüber der Spontaneität des Denkens, bedeutet nicht, dass wir empirische Gegenstände nicht hinreichend bestimmen oder erkennen können; es besagt vielmehr, dass die Haltung der Rezeptivität, d. h. die Kondition des Bestimmtwerdens, das eigentlich kennzeichnende Merkmal des empirischen Bewusstseins darstellen muss. Insofern aber diese Rezeptivität notwendig eine spontane Aktivität auf Seiten des Subjekts impliziert, sollten wir letztere so verstehen, dass ihre Pointe gerade in der Aufrechterhaltung des rezeptiven Charakters liegt, der der Sinnlichkeit eigentümlich ist: Die Spontaneität des Sinnlichen selbst beschreibt eine Fähigkeit zur Verbindung von sinnlichen Vorstellungen, bei der die rezeptive Natur dieser Vorstellungen durchgehend erhalten bleibt. Die Rolle des Begriffs der Einbildungskraft bei Kant besteht somit darin, die Eigenart dieses Modus der Aktualisierung der Spontaneität zu modellieren. Mit Blick auf den Gedanken einer solchen „Entzweiung“ des Verstandes ergibt auch das Schwanken Kants einen gewissen Sinn, ob die Einbildungskraft nun ein drittes Grundvermögen zwischen Verstand und Sinnlichkeit sei¹³⁷ oder als eine „Funktion des Verstandes“ (KrV B 103) beschrieben werden soll: Das Schwanken unterstreicht sowohl die Nähe als auch die Distanz zwischen diesen beiden Formen der Spontaneität. Die Weise, wie der Verstand in der Anschauung aktualisiert wird, ist somit von der Weise, wie er im Urteilen aktualisiert wird, deutlich unterschieden – ohne dass dabei die Gleichheit der „Funktion“ unterminiert wird. Die Idee, die ich im Folgenden verfolgen möchte, lautet dementsprechend, dass die Aktualisierungsweise als Einbildungskraft hier genau das ist, was der Rezeptivität als Rezeptivität ihr normatives Gewicht für das Urteilen verleiht.
3.3 Die Einbildungskraft als spontane Rezeptivität In der Passage, in der Kant den Begriff der Synthesis einführt und als Akt der Einbildungskraft bestimmt, klingt bereits an, dass der Auftritt des Verstandes als Einbildungskraft einer Art „Verstehen-ohne-Verstand“ gleichkommt: „Die Synthesis überhaupt ist […] die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich
Siehe KrV A 115, 124.
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3 Spontane Rezeptivität
unentbehrlichen Funktion der Seele“ – in seinem Handexemplar der ersten Kritik korrigiert Kant: „einer Funktion des Verstandes“ – „ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind“ (KrV A 78). Wir haben es also mit einer „blinden“ Tätigkeit zu tun, von der wir kein (oder nur „selten“ ein) Bewusstsein haben, weil sie nicht auf selbstbewusste Weise vollzogen wird. Das bedeutet zugleich, dass dem Subjekt die Aktivität der Einbildungskraft nicht als Aktivität bewusst ist. Das schließt nicht aus, dass das, was die synthetische Einbildungskraft bewirkt, an einem bestimmten Punkt ins Bewusstsein tritt oder mit Bewusstsein vorgestellt werden kann.¹³⁸ Insofern die Arbeit der Einbildungskraft von keinem Bewusstsein begleitet wird und demnach „blind“ verfährt, ist sie dabei auch zunächst nicht von einer Regel der Synthesis – d. h. einem Begriff – geleitet. Daraus muss man aber nicht schließen, dass die synthetische Einbildungskraft willkürlich operiert oder nichts weiter als einen habituellen Mechanismus oder eine Routine der Assoziation beschreibt. Wir müssen sie vielmehr, wie Kant sich selbst korrigiert, als eine „Funktion des Verstandes“ verstehen, was gleichzeitig bedeutet, dass sie einer zumindest impliziten Aktualisierung eines Prinzips der Spontaneität entspricht. Aus diesem Grund behauptet Kant auch, dass die synthetisierende Einbildungskraft eine transzendentale Dimension besitzt, d. h. eine Synthesis a priori (eine „figürliche Synthesis“, KrV B 151) vollzieht, die das Rezipieren einer sinnlichen Mannigfaltigkeit allererst ermöglicht. Die „reine“ Einbildungskraft charakterisiert er dann so, dass sie „das Mannigfaltige der Anschauung einerseits […] mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung [bringt]“ (KrV A 124). Ihre Synthesisleistung ist also einerseits „transzendental, wenn ohne Unterschied der Anschauungen sie auf nichts, als bloß auf die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht“ (KrV A 118), d. h. sofern sie sich auf die reinen Formen der Anschauung bezieht und diese mit Blick auf sinnliche Eindrücke aktualisiert. Diese Aktualisierung muss aber Kant zufolge darauf hinauslaufen, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der sinnlichen Anschauung andererseits in eine Beziehung zur Einheit der Apperzeption zu setzen. Weil diese Bezugnahme aber nicht darin bestehen kann, sinnliche Eindrücke unter die Einheit der Apperzeption zu bringen (schließlich ist die synthetische Tätigkeit der Einbildungskraft keine selbstbewusste), lässt sich vermuten, dass Kant davon ausgeht, dass sich in ihrer Tätigkeit ein Aspekt der Bedingungen entfaltet, der für die Einheit der Apperzeption charakteristisch ist, aber auch ohne den Bezug auf ein „Ich denke“ statthaben kann. Und dieser apriorische Aspekt, so deute ich Kant hier, muss in der Form der synthetischen Aktivität der Einbildungskraft selbst liegen (ohne dass es eines Bewusstseins bedürfte, welches die Aktivität durch die Vorstellung einer Regel orientiert).
Wie ich gleich erläutern werde, können wir Kants Konzept der Selbstaffektion so verstehen, dass es die Weise beschreibt, in der die synthetische Wirkung – nicht aber das aktive Wirken – der Einbildungskraft bewusst wird, nämlich als rezeptiv gegebene sinnliche Erscheinung.
3.3 Die Einbildungskraft als spontane Rezeptivität
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In ihrer ursprünglichen Gestalt beschreibt die Einbildungskraft daher weniger einen intellektuellen Mechanismus,¹³⁹ sondern eher eine „verborgene Kunst“ (KrV A 141), die die Form des Raums und die Form der Zeit so aktualisiert, dass sie das Mannigfaltige, das durch Affektionen rezipiert wird, in einen minimal einheitlichen Zusammenhang stellt, nämlich in den Zusammenhang eines Raumes und einer Zeit. Derart wird das Mannigfaltige auf „figürliche“ Weise präsentiert: als raumzeitlich Ausgedehntes in einem einheitlichen raumzeitlichen Zusammenhang. Und das kann die Einbildungskraft auch nur, insofern sie nicht nur eine Aktualisierung der Form der Anschauung, sondern auch eine Aktualisierung der ursprünglichen Apperzeption selbst enthält. Aber wir haben es hier mit einer sehr eigentümlichen Aktualisierung der Apperzeption zu tun, weil es sich nicht um den einheitlichen Zusammenhang eines Selbstbewusstseins handelt, sondern um einen einheitlichen Nexus, der allein durch die Form der synthetischen Tätigkeit der Einbildungskraft gegeben ist: Es ist ihr einheitliches Handeln, die zusammenhängende Weise, in der die Einbildungskraft mit Affektionen verfährt, worin ein Moment von Apperzeption – ohne Begriff, ohne Kategorie und ohne Bewusstsein – aktualisiert wird.¹⁴⁰ Um nun zu verstehen, wie dieses quasi- oder minimal-apperzeptive Funktionieren der „blinden Kunst“ der Einbildungskraft auf die Rezeptivität der Sinnlichkeit bezogen ist, müssen wir uns den eigentümlichen Aktcharakter vergegenwärtigen, den Kant vor allem in der Deduktion der A-Auflage in der ersten Kritik anhand der drei fundamentalen Synthesen der Anschauung (nämlich „Apprehension“, „Reproduktion“ und „Rekognition“) beschrieben hat. Zunächst ist es nur die „Synthesis der Reproduktion“, die Kant mit der Einbildungskraft in Verbindung bringt (KrV A 100), – wobei er offensichtlich ihre traditionelle Definition als eine Fähigkeit der Reproduktion vor Augen hatte: „Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (KrV B 151). Im Deduktionskapitel der Auflage B hingegen kondensiert er alle drei Synthesen in eine einheitliche Struktur, die er als „figürliche Synthesis“ bezeichnet und der Einbildungskraft zuweist (KrV B 151). Ich werde gleich kurz darauf eingehen, warum es sinnvoll ist, das Vermögen zur sinnlichen Vorstellung eines Abwesenden als genau dasjenige Vermögen anzusehen, das ursprünglich die Anwesenheit eines sinnlichen Gegenstandes für das Subjekt konstituiert. Zunächst gilt es den Grund zu betonen, weshalb die Einbildungskraft wesentlich „in einer Anschauung“ ausgeübt wird. Nach Kant ist es die Affektion der Sinne, die eine Aktualisierung der Einbildungskraft, einer erzwungenen Reaktion gleich, auslöst. Die Aktivierung der Einbildungskraft geschieht demnach auf eine
Die reine Synthesis der Einbildungskraft ist nicht intellektuell (durch Begriffe geleitet), weil sie im Sinnlichen operiert, und sie ist nicht mechanisch (durch Gesetze der Kausalität bestimmt), weil sie eine Aktualisierung der Spontaneität (und dementsprechend auch kein Habitus, keine durch Einübung „automatisch“ gewordene Routine) darstellt. Dass die Pointe von Kants Begriff der Einbildungskraft – insbesondere mit Blick auf das Schematismus-Kapitel der ersten Kritik – gerade in ihrer Vollzugsdimension liegt, d. h. in ihrem performativ verstandenen Verfahren mit Mannigfaltigem, hat Thomas Khurana (2013) deutlich gemacht.
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3 Spontane Rezeptivität
kausale Weise (d. h. mit Bezug auf die transzendentale Definition des Erkenntnisvermögens: in seiner empirischen Artikulation der Vorstellungsverhältnisse), und darin liegt auch der Grund, weshalb sie notwendig auf Rezeptivität bezogen ist. Die Entfaltung ihrer Aktivität hingegen gleicht keinem bloßen Reaktionsmechanismus, sondern befähigt eher das Subjekt, jener Einwirkung so ausgesetzt zu sein, dass es ihre Quelle verstehen kann. Denn sobald wir uns Kants Beschreibung der besonderen Charakteristik der Aktivität der Einbildungskraft zuwenden, wird deutlich, dass ihre Synthesen nicht dazu angetan sind, dem Mannigfaltigen der Sinne irgendwelche Formen aufzuzwingen. Vielmehr dienen sie dazu, die notwendige Beziehung auf Rezeptivität auf kontinuierliche Weise aufrechtzuerhalten – und zwar ohne diese Rezeptivität durch Spontaneität zu ersetzen. In dem Maße, wie die „produktive“ Einbildungskraft zur Konstitution von sinnlichen Anschauungen beiträgt, produziert sie nichts, sie bringt keine Vorstellungen aktiv hervor. Sie hat eher den Charakter einer aktiven Passivität, weil sie in erster Linie als ein Fest- und Zusammenhalten des passiv Empfangenen operiert. Dementsprechend beschreibt Kant die Aktivität der Apprehension als das „Durchlaufen“ einer Mannigfaltigkeit von Affektionen, die in diesem „Durchlaufen“ zugleich differenziert und zusammengenommen werden (KrV A 77, 99). Ein solches differenzierendes Zusammennehmen setzt aber voraus, dass im Voranschreiten von Eindruck zu Eindruck die vergangenen Affektionen nicht vergessen, sondern mit den aktuellen Eindrücken jederzeit zusammengehalten („reproduziert“) werden.¹⁴¹ Und dieses Wiederholen wäre seinerseits nicht möglich, wenn dabei nicht eine Art Sinn für die Selbigkeit des Wiederholten mit im Spiel wäre, nämlich eine primitive Synthesis der „Rekognition“ (KrV A 103 f.). Eine solche „Rekognition“ läuft aber zunächst noch nicht darauf hinaus, etwas Besonderes als die Instanz eines Allgemeinen zu begreifen. Im Aufnehmen, Reproduzieren und Zusammenhalten von Affektionen löst die Einbildungskraft die Eindrücke vielmehr von ihrer affektiven Präsenz (von ihrem Dasein als Affektionen der Sinne), wodurch diese eine von ihrer aktuellen Einwirkung unabhängige Aktualität im Subjekt gewinnen. Und dies wiederum verleiht ihnen eine gewisse Allgemeinheit, – die Allgemeinheit von „Bildern“, d. h. von wiederholbaren sinnlichen Merkmalen (die dann die Basis dafür bilden, sinnliche Vorstellungen auf Begriffe zu bringen).¹⁴² Auf diese Weise bringt die Einbildungskraft anwesende Eindrücke virtuell mit der „Totalität“ von abwesenden oder vergangenen Eindrücken zusammen, indem sie jene mit diesen „kontrahiert“, – nicht jedoch im Sinne einer bloßen Assoziation oder Juxtaposition, sondern eher einer Art Überlagerung, so dass gegenwärtige und vergangene Eindrücke sich gewissermaßen durchdringen. Die Einbildungskraft hat derart einen Sinn für Wiederholbarkeit und Selbigkeit – der allerdings nicht durch Begriffe gegeben wird, sondern in der bildlichen Existenz ihrer Vorstellungen liegt. Auf der Basis eines derartigen Zusammenhaltens, einer derartigen
Vgl. KrV A 102. Siehe KrV A 120 f.
3.3 Die Einbildungskraft als spontane Rezeptivität
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Aufladung von gegenwärtigen mit vergangenen Eindrücken, wird somit die Anschauung einer aktuellen Erscheinung durchzogen mit Abwesendem. Und darin besteht auch der Grund, weshalb die dreifache Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition eine Aktivität der Einbildungskraft beschreibt: als dem Vermögen, sinnliche Eindrücke auch ohne deren Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. An dieser Deutung wird gleichzeitig auch ersichtlich, dass wir den Zusammenhang von Rezeptivität und Einbildungskraft nicht im Sinne einer kausalen Folge deuten sollten: Es gibt nicht zuerst die Empfindung einer Affektion, die danach in eine synthetische Sequenz aufgenommen wird. Die synthetische Aktivität ist vielmehr die Realisierung der Empfindung, d. h. im Durchlaufen, im Auseinander- und Zusammenhalten wird das Empfangen von Eindrücken als ein Empfangen verwirklicht. Daher können wir auch die eigentümliche Leistung der Einbildungskraft so beschreiben, dass sie das Sinnliche in seinem rezeptiven Charakter herausstellt. Und insofern sie die Tätigkeit bezeichnet, eine Mannigfaltigkeit als Mannigfaltigkeit aufzunehmen, d. h. sie so zu durchlaufen und zusammenzuhalten, dass sie ihre Momente zeitlich und räumlich differenziert, wird diese Mannigfaltigkeit auch allererst in ihrer raumzeitlichen Gliederung sichtbar. In diesem Sinne ließe sich sagen, dass die transzendentale Pointe der Einbildungskraft darin besteht, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Sinnlichen als eine qua Affektion Bestimmbare gewissermaßen hervorzubringen – womit sie zugleich den subjektiven Zustand des Bestimmtwerdens selbsttätig aufrechterhält. Bis hierhin habe ich versucht zu zeigen, dass die synthetische Tätigkeit der Einbildungskraft genauso eine Aktualisierung der Rezeptivität wie eine Realisierung der Spontaneität beinhaltet. Und ich habe mich dabei bemüht, den un- oder vorbewussten Charakter dieser Tätigkeit zu unterstreichen. Kants Punkt lautet aber natürlich, dass die Einbildungskraft eine nicht-selbstbewusste synthetische Aktivität beschreibt, die das Bewusstwerden des sinnlich Gegebenen realisiert, und zwar in Gestalt der Erscheinung eines „unbestimmten“ Gegenstandes (KrV A 20). Mit Blick auf die Überlegungen des zweiten Kapitels lässt sich dieser Umstand auch derart begreifen, dass die Einbildungskraft eine Relation der kausalen Abhängigkeit in eine Relation der existenziellen Abhängigkeit transformiert, indem sie sinnliche Affektionen – dadurch, dass sie diese in ihrer zeitlichen und räumlichen Gliederung vorstellt – unbestimmt macht. ¹⁴³ Das bedeutet nicht, dass sie den Affektionen ihren rezeptiven Charakter nimmt (im Gegenteil: sie hält diesen Charakter fest); es bedeutet vielmehr, dass sie ihnen eine erste Form der Allgemeinheit verschafft, eine Form der Existenz jenseits ihrer ephemeren und rein kausal induzierten Präsenz als sinnliche Eindrücke, was sie zugleich in den Rang der begrifflichen Bestimmbarkeit bringt. Denn indem die Einbildungskraft die empfangenen Eindrücke durchläuft, zusammenhält,
Den Gedanken, dass die Einbildungskraft eine Tätigkeit des „Unbestimmtmachens“ einschließt, hat Christoph Menke in Kraft entwickelt (Menke 2008, S. 87). Vgl. dazu die Ausführungen im Kap. 2.3.
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bewahrt und mit vergangenen Eindrücken zusammenbringt, wird das Subjekt von ihrer affektiven Präsenz unabhängig und kann sie in ihrer Wiederholbarkeit eigens erfassen. Und sofern die Einbildungskraft die Wiederholbarkeit von sinnlichen Eindrücken akzentuiert, werden letztere in den Stand gesetzt, in ihrer Wiederholbarkeit bestimmt zu werden. Auf diese Weise beschreibt die Aktivität der Einbildungskraft einen Prozess, in dem aus einer Mannigfaltigkeit von Affektionen die Vorstellung einer synthetischen Einheit des Mannigfaltigen wird (bzw. werden kann). Aber diese Aktivität impliziert einen Umschlag: ein Umschlagen von einem vorbewussten Verhalten zu Affektionen in das Bewusstsein eines zu bestimmenden Gegenstandes, d. h. von einer nicht-intentionalen Tätigkeit in eine intentionale Vorstellung. Und dieser Umschlag wird durch dasjenige markiert, so der Vorschlag, was Kant „Selbstaffektion“ nennt. Die Einbildungskraft lässt sich somit als diejenige Aktivität charakterisieren, die das rezeptiv Gegebene ursprünglich in den Bereich der Apperzeption bringt (oder „setzt“), – und zwar als ein Zu-Apperzipierendes, als etwas, das im Zusammenhang eines mit sich identischen Selbstbewusstseins als eine bleibende Bestimmtheit gedacht werden soll. Auf diese Weise gewinnt also die anschauliche Präsentation eines (noch zu bestimmenden) Gegenstandes einen normativen Sinn. Dieser normative Sinn hat weniger die Bedeutung eines Maßstabs oder einer „Führung von außen“, sondern eher diejenige eines „Anstoßes“. Die Einbildungskraft setzt die anschauliche Vorstellung einer noch unbestimmten Erscheinung in eine Beziehung zur urteilenden Tätigkeit des Verstandes. Diese Beziehung, die durch die Tätigkeit der Einbildungskraft gestiftet wird, hat dabei die Gestalt der existenziellen Abhängigkeit: Der Vollzug von Urteilen wird auf Rezeptivität gewissermaßen „verpflichtet“. Jenes „Setzen“ des rezeptiv Gegebenen in die Zuständigkeit der Apperzeption hat deshalb den Charakter eines normativen Anstoßes, weil er vor allem durch Affektion geschieht, worin die Einbildungskraft sich gerade als eine Spontaneität erweist, die als eine Art „Agens“ der Rezeptivität im Subjekt operiert: als eine Spontaneität, die sich nicht aktiv von Rezeptivität unterscheidet. So wie ich es verstehe, lässt sich das Bild, das Kant von der Selbstaffektion im zweiten Teil der B-Deduktion zeichnet,¹⁴⁴ etwas verkürzt folgendermaßen rekonstruieren: Es ist das einheitliche, passiv-aktive „Verfahren“ der Einbildungskraft mit Affektionen, das wiederum den „inneren Sinn“ des Subjekts derart affiziert, dass dessen reine Form der Zeit so aktualisiert wird, dass sie eine „Schematisierung“ erfährt.¹⁴⁵ Die Tätigkeit der Einbildungskraft also, das Durchlaufen-Zusammenhalten-BewahrenUnterscheiden-Vereinigen, affiziert den inneren Sinn derart, dass die synthetisierende Charakteristik der Aktivität beim Empfangen von sinnlichen Eindrücken als Charakteristik des sinnlich Empfangenen selbst erscheint. Und weil in der Form der Aktivität der Einbildungskraft eine transzendentale „Synthesis“ liegt, die ihre Quelle in der
Vgl. KrV B 150 – 156. Vgl. KrV A 138 – 142.
3.3 Die Einbildungskraft als spontane Rezeptivität
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Einheit der Apperzeption des Verstandes hat, wird auf dem Weg der Autoaffektion ebenfalls die Mannigfaltigkeit des Rezipierten im Rahmen von apriorischen Schemata der Zeit präsentiert. Was bedeutet dies nun mit Blick auf das Rätsel der Rezeptivität, das ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels umrissen habe? Kants Konzeption der transzendentalen Einbildungskraft – sofern wir sie gemäß der hier vorgestellten Deutungsskizze verstehen können – erlaubt uns, die Rezeptivität der Erfahrung so zu denken, dass sie eine normative Signifikanz für die empirischen Urteile des Verstandes besitzt, die selbst auf eine nicht-normative Weise konstituiert wird. Wir können damit beiden Gelingensbedingungen des empirischen Urteiles gerecht werden und sie in ihrer dialektischen Einheit erläutern, – nämlich durch die Idee der Einbildungskraft als einer entfremdeten Art der Realisierung des Verstandes, d. h. im Sinne einer Kraft zur Aktualisierung des intellektuellen Erkenntnisvermögens.
Teil 2: Wille und Willkür
4 Gesetz und Begehren: Zwei Formen der Einheit von Wille und Willkür Wozu bedarf es eines derart extensiven Umweges über Kants theoretische Philosophie? Was soll mit der Rekonstruktion der kantischen Vermögenstheorie, die so nie geschrieben wurde, erreicht werden? Das Motiv für die Überlegungen des ersten Teils besteht darin, eine produktive – d. h. eine mit Blick auf das Verhältnis zwischen dem normativen und dem nicht-normativen Aspekt der menschlichen Freiheit fruchtbare – Perspektive auf Kants Unterscheidung zwischen Wille und Willkür zu gewinnen. Es geht darum, ein Verständnis dafür zu entwickeln, weshalb es eigentlich dieser Unterscheidung bedarf: Warum muss sich der eine Begriff des freien Willens in zwei Freiheiten teilen, die sich überdies nicht auf einfache Weise ergänzen, sondern unterschiedlichen Ordnungen angehören: einer normativen Ordnung (der Wille als das Vermögen vernünftiger Selbstbestimmung) und einer nichtnormativen Ordnung (die Willkür als die Kraft eigensinniger Entschiedenheit)? Weshalb ist diese Verdoppelung des Willens notwendig? Und wie ist das Verhältnis dieser beiden Dimensionen und damit zuletzt die Einheit des Willens zu begreifen? Der vermögenstheoretische Ansatz kann uns erklären, warum wir grundsätzlich mit einer solchen Zweiteilung rechnen müssen. Ich hatte versucht zu zeigen, dass die besondere Leistung von Kants Theorie subjektiver Vorstellungsvermögen erstens darin liegt, Geltungsprinzipien (wie die Verstandeskategorien oder das moralische Gesetz) als Realisierungsprinzipien verständlich zu machen: als dasjenige, was ein endliches Subjekt dazu befähigt, angemessen zu erkennen oder moralisch zu wollen und zu handeln. Um aber Geltungsprinzipien zugleich als Prinzipien der Verwirklichung ausweisen zu können, müssen zweitens subjektive Vorstellungsvermögen zwei Dimensionen besitzen: eine empirische Dimension einerseits, die für unsere Rezeptivität gegenüber einer zu erkennenden oder praktisch zu gestaltenden Welt einsteht (Sinnlichkeit, Gefühle der Lust und Unlust), und eine intelligible Dimension andererseits, die für die Existenz normativer Prinzipien einsteht (eine Form der Spontaneität im Sinne der Fähigkeit, sich in seinen Vollzügen durch das Bewusstsein von Prinzipien leiten zu lassen). Die Einheit dieser beiden Dimensionen liegt nach Kant drittens in der intelligiblen Dimension selbst, d. h. in der Dimension der Spontaneität und ihrer Prinzipien. Um aber eine solche intellektuelle Vereinheitlichung von zwei heterogenen Quellen der Vorstellung zu realisieren, akzentuiert Kant einen eigentümlichen Umstand: Die interne Differenzierung eines Vermögens (in einen sinnlichen und einen intelligiblen Teil) muss im Intelligiblen selbst reflektiert sein, und zwar als eine interne Differenzierung der Spontaneität. Der Unterschied zwischen Spontaneität und Rezeptivität, zwischen der selbsttätigen Befolgung eines Prinzips und der sinnlichen oder emotionalen Responsivität zur Welt, verdoppeltet sich, indem er in die Spontaneität wieder eintritt: Diese teilt sich in eine Spontaneität von Prinzipien einerseits und in eine „Para-Spontaneität“ andererseits, durch die das Rezeptive selbst als Spontaneität zur Geltung gebracht wird. Im dritten Kapitel habe ich https://doi.org/10.1515/9783110669381-006
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4 Gesetz und Begehren
mich darum bemüht, diese Verdopplung anhand von Kants Theorie der Erfahrung nachzuvollziehen: Neben der Spontaneität des Verstandes bedarf es zudem einer Spontaneität der Einbildungskraft, durch welche die Mannigfaltigkeit des Sinnlichen nicht allein kausal unbestimmt gemacht (und somit für begriffliche Bestimmungen empfänglich) wird, sondern auch umgekehrt eine „normative Macht“ in Bezug auf Urteile des Verstandes gewinnt. In diesem zweiten Teil soll es nun darum gehen, diese vermögenstheoretische Einsicht im Rahmen von Kants praktischer Philosophie zur Geltung zu bringen und im Medium seiner Theorie des freien Willens auszuformulieren. Die Verdopplung der praktischen Spontaneität, die es entsprechend zu untersuchen gilt, ist die Zweiteilung des „oberen“ Begehrungsvermögens in Wille und Willkür. Die Frage, die ich im Folgenden klären will, lautet somit: Auf welcher theoretischen Basis führt Kant diesen Unterschied in den menschlichen Willen ein? Wie konzeptualisiert er das Verhältnis von Wille und Willkür? Und lässt sich in seinen Überlegungen ein Argument ausfindig machen, das uns zu verstehen hilft, weshalb es für einen freien Willen notwendig ist, sich in Wille und Willkür zu teilen?
4.1 Die moralische Autonomie und der „dezisionistische Rest“ Um das Profil des hier zu verfolgenden Ansatzes etwas genauer zu charakterisieren, werde ich zunächst einen kursorischen Blick in die Kantforschung werfen. Bezüglich der Frage nach der Notwendigkeit einer Zweiteilung der Freiheit in Wille und Willkür lassen sich grob zwei Lager der Kant-Interpretation unterscheiden. Auf der einen Seite argumentieren Autoren von Carl Leonard Reinhold bis Lewis White Beck und Gerold Prauss für die These, dass die Unterscheidung zwischen Wille und Willkür eingeführt wird, um das Problem der Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen zu lösen.¹⁴⁶ Den Autoren zufolge ergibt sich dieses Problem aus Kants moralphilosophischer Auffassung der Autonomie, der zufolge allein moralisch gute Handlungen als freie Handlungen im eigentlichen Sinne bezeichnet werden können. In der Grundlegung behauptet Kant bekanntlich, dass „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ sei (GMS 4:447). Viele haben diese Aussage so verstanden, dass sie auf die unhaltbare Konsequenz hinauslaufe, einen „bösen“ Willen als einen unfreien zu betrachten und menschliche Akteure für ihre moralisch schlechten Handlungen nicht verantwortlich machen zu können. Um Kants Theorie der Freiheit vor dieser Implikation zu bewahren, schlagen Beck und andere vor, die Einführung der Unterscheidung von Wille und Willkür als Versuch zu deuten, das Problem der Zurechenbarkeit böser Handlungen zu lösen. Denn nur dann, so die allgemeine Kontur dieser
Vgl. etwa Reinhold 1972, S. 278, sowie dazu Noller 2020, S. 114 f. Siehe zudem Beck 1995, S. 169 – 173, 187– 191; Prauss 2017, §§ 6 – 7, S. 70 – 100; Allison 1990, S. 129 – 135; Carnois 1997, S. 80 – 84; Hudson 1991, S. 189 – 192.
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Lösung, wenn die menschliche Freiheit nicht in moralischer Autonomie aufgeht, sondern zugleich auch über eine praktische Spontaneität verfügt, die nicht bereits moralisch qualifiziert ist, d. h. über eine Freiheit der Willkür, lassen sich zwei Behauptungen zugleich aufrechterhalten: einerseits Kants Identifikation der praktischen Vernunft mit dem Willen und andererseits die Zurechenbarkeit böser Handlungen, die offensichtlich eine Freiheit voraussetzt, die nicht mit der moralischen Autonomie „einerlei“ ist. Im Gegensatz zu dieser Deutung lassen sich in der Kantforschung viele Positionen ausmachen, die die Einschätzung nicht teilen, dass Kants Engführung von Moralität und Autonomie die Einführung verschiedener Arten von Freiheit des menschlichen Willens erzwingt.¹⁴⁷ Ausgehend von der Überzeugung, dass Kant nie behauptet hat, dass ein Wille nur in Bezug auf moralische Handlungen frei sei, hat Jochen Bojanowski einen konzisen Einwand gegen die erste Tradition der Kant-Interpretation formuliert. Die Pointe der Identifikation von Moralität und Willensfreiheit liegt Bojanowski zufolge darin, dass spezifisch moralische Handlungen für Kant den einzigen Fall des Handelns beschreiben, in dem wir in einem „absoluten“ und „positiven“ Sinne frei sind.¹⁴⁸ Dieser Gedanke schließt nicht aus, dass es andere Weisen des Handelns aus Freiheit gibt, die nicht mit „Achtung für das Gesetz“ erfolgen (und die Autonomie des Willens somit nur in einem formalen Sinne verwirklichen¹⁴⁹). Indem also Kant moralische Handlungen als die einzige Art des Handelns identifiziert, der Freiheit in einem „absoluten“ und „positiven“ Sinne zukommt, ließ er somit Raum für die logische Möglichkeit eines menschlichen Handelns, das sowohl frei als auch unmoralisch ist.¹⁵⁰ Diese logische Möglichkeit sollte allerdings nicht so aufgefasst werden, dass sie uns auf ein Wesensmerkmal der menschlichen Freiheit hinweist. In der Einleitung in die Metaphysik der Sitten – höchstwahrscheinlich in direkter Reaktion auf die Kritik Reinholds – hat Kant ausdrücklich dafür argumentiert, dass die Fähigkeit zu unmoralischen Handlungen keinen notwendigen Bestandteil der philosophischen (d. h. apriorischen) Definition der Willensfreiheit bildet: Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae) definiert werden – wie es wohl einige versucht haben –, obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt. […] Nur das können wir wohl einsehen: daß, obgleich der Mensch, als Sinnenwesen, der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt, dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesens definiert werden könne, weil Erscheinungen kein übersinnliches Objekt (dergleichen doch die freie Willkür ist) verständlich machen können, und daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann […]. Denn ein anderes ist,
Siehe z. B. Potter 1978, S. 593 – 595. Siehe Bojanowski 2007, S. 221. Vgl. dazu Carnois 1997, S. 79 – 82. Vgl. Bojanowski 2007, S. 224 f.
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einen Satz (der Erfahrung) einräumen, ein anderes, ihn zum Erklärungsprinzip (des Begriffs der freien Willkür) und allgemeinem Unterscheidungsmerkmal (vom arbitrio bruto s. servo) machen; weil das erstere nicht behauptet, daß das Merkmal notwendig zum Begriff gehöre, welches doch zum zweiten erforderlich ist. (MS 6:226 f.)
Kant bestreitet also explizit, dass mit seinem Begriff der Willkür ein anderer Begriff von Freiheit als derjenige der moralischen Autonomie verbunden ist. Wenn der Gedanke einer Wahl- oder Willkürfreiheit einen Aspekt des freien Willens beschreibt, dann ist die damit angesprochene Freiheit hinreichend und vollständig durch den Gedanken der Bestimmbarkeit durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft definiert. Dafür bietet Kant in der gerade zitierten Stelle zwei miteinander zusammenhängende Begründungen an: Erstens handelt es sich bei der Willkür um ein intellektuelles Vermögen der Spontaneität, d. h. um ein „übersinnliches Objekt“, das folglich nicht durch Bestimmungen, die wir allein aus Erfahrung und empirischer Beobachtung kennen, spezifiziert werden darf.Von der Möglichkeit, dem moralischen Gesetz zuwider zu handeln, wissen wir jedoch, so Kant, allein „aus Erfahrung“: sofern wir handelnde Subjekte als „Sinnenwesen“ betrachten und den menschlichen Willen im Ausgang von seinen epistemisch zugänglichen Konsequenzen begreifen. Weil aber im Hinblick auf die Freiheit der Willkür handelnde Subjekte unter dem Gesichtspunkt ihres „intelligiblen Wesens“ angesprochen werden müssen, dürfen wir die empirische Möglichkeit eines gesetzwidrigen Handelns nicht zum „Erklärungsprinzip“ der Freiheit machen. Was die Freiheit der Willkür dagegen allein erklären kann, ist ihre positive Bestimmung durch das moralische Gesetz, die wir nicht aus Erfahrung, sondern nur im Rahmen einer philosophischen Reflexion auf den Begriff eines freien Willens erkennen können. Und da Erfahrungserkenntnisse nicht den epistemischen Status einer Erkenntnis von notwendigen Merkmalen besitzen, taugen sie auch zweitens nicht dazu, das „allgemeine Unterscheidungsmerkmal“ zu artikulieren, das den Begriff einer freien Willkür von den Begriffen einer „tierischen“ oder „sklavischen“ Willkür abhebt. Die Vorstellung eines Vermögens zu Handlungen, die nicht mit dem Gesetz der Vernunft übereinstimmen, ist somit nicht in der Lage, als Kriterium der Differenzierung zwischen dem menschlichen Willen und anderen Arten des lebendigen Begehrens zu fungieren. Dazu ist laut Kant nur eine Vernunft fähig, die „für sich selbst praktisch“ ist. Was das Problem der Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen betrifft, so lautet Kants Vorschlag aus der Einleitung in die Metaphysik der Sitten kurz und knapp: „Die Freiheit, in Beziehung auf die Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit, von dieser abzuweichen, ein Unvermögen“ (MS 6:227). Kants Rede von einem „Unvermögen“ erscheint auf den ersten Blick irritierend.¹⁵¹
Geert Keil drückt diese Irritation folgendermaßen aus: „Warum sollte die willkürliche Abweichung vom Sittengesetz auf einem Unvermögen beruhen? Das Vermögen, sich vom Sittengesetz motivieren zu lassen, geht ja nicht dadurch verloren, dass man es im Einzelfall nicht ausübt“ (Keil 2017, S. 194).
4.1 Die moralische Autonomie und der „dezisionistische Rest“
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Jochen Bojanowski deutet Kant hier so, dass er das gesetzwidrige Handeln als eine Schwäche des Willens bestimmt.¹⁵² Nur dann, wenn wir uns moralisch verhalten, verwirklichen wir unsere Freiheit im vollen – d. h. „absoluten“ und „positiven“ – Sinne; wenn wir hingegen unmoralisch handeln, dann scheitern wir daran, unsere wirkliche Freiheit auszuüben. Ein solches Scheitern ist vorwerfbar und fällt mithin in den Verantwortungsbereich von handelnden Subjekten. Durch die Möglichkeit des unmoralischen Handelns wird die philosophische Definition der Freiheit als moralische Autonomie aber nicht im Mindesten angetastet. Weil diese Möglichkeit, Kant zufolge, den epistemischen Status einer Erfahrungstatsache besitzt, können wir allenfalls davon sprechen, dass sie als logische Implikation in jener Definition enthalten ist: als bloße Privation der apriorischen Bestimmung der Freiheit.¹⁵³ Der zweite Strang der Kant-Interpretation, der gegen die Auffassung argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen Wille und Willkür mit einer Unterscheidung zwischen zwei Arten der Freiheit zusammenhängt, kann sich demnach auf Kant selbst berufen. Diese Deutungstradition versteht jene Differenz dementsprechend als eine eher zweitrangige Angelegenheit – als eine Differenz, die der Theorie des freien Willens im Sinne der moralischen Autonomie, die Kant in der Grundlegung und in der zweiten Kritik formuliert hat, keine wesentliche Einsicht hinzufügt, geschweige denn eine Relativierung oder partielle Revision zumutet. Es handelt sich vielmehr um eine „leichte terminologische Normierung“ (Stekeler-Weithofer 1990, S. 306), die der Klärung eines spezifischen begrifflichen Problems dient, ohne dabei aber eine theoretisch gewichtige Unterscheidung verschiedener Freiheitsarten zum Ausdruck zu bringen.¹⁵⁴ Sofern diese grobe Skizze der Debattenlage zutrifft, hat sie für den Kontext dieser Untersuchung ein eher enttäuschendes Resultat. Beide Deutungstraditionen scheitern daran, ein adäquates Bild von der Einheit und der Differenz zwischen den moralischen und nicht-moralischen, den normativen und nicht-normativen Aspekten unseres freien Willens zu zeichnen. Denn was in der kantischen Unterscheidung von Wille und Willkür eigentlich auf dem Spiel steht, so meine Einschätzung, ist die Beantwortung der Frage, wie die Relation zwischen moralischer Autonomie und endlicher Subjektivität genau zu bestimmen ist: Wie wir die Einheit eines endlichen Willens mit den normativen Prinzipien der reinen praktischen Vernunft denken können, ohne die wesentliche Differenz zwischen beiden Aspekten dabei aus dem Blick zu verlieren.
Siehe Bojanowski 2007, S. 223. Vgl. dazu auch Engstrom 2010b, S. 94 f., der die Möglichkeit von Handlungen, die nicht mit der moralischen Autonomie des Willens übereinstimmen, ebenfalls als eine Schwäche der praktischen Vernunft deutet. Es sollte klar sein, dass sich Kant hier, sofern er implizit für einen privativen Begriff des Bösen argumentiert, selbst widerspricht. In der Religionsschrift hat er hingegen ausdrücklich für ein nichtprivatives Verständnis des Bösen argumentiert (vgl. Religion 6:34– 37). Das begriffliche Problem, für das Kants Differenz von Wille und Willkür im Sinne einer „Spracherläuterung“ sachdienlich erscheint, ist laut Stekeler-Weithofer das Determinismus-Problem.
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Mit dem ersten Strang der Kant-Interpretation teile ich deshalb die These, dass Kants Theorie des Willens zwei verschiedene Aspekte der Freiheit umfasst und dass die Pointe der Unterscheidung von Wille und Willkür darin liegt, diese beiden Aspekte zu begreifen. Ich glaube jedoch nicht, dass beispielsweise die Ansätze von Beck und Allison in der Lage sind, die Einheit eines auf zweifache Weise freien Willens zu erklären. Im Grunde schwanken ihre Deutungen zwischen zwei Extremen: Entweder sie zeichnen das Bild eines Willens, der in eine moralische und eine „neutrale“ Freiheit aufgeteilt ist, ohne aber zeigen zu können, inwiefern diese beiden Momente als Momente ein und desselben Willens zu begreifen sind;¹⁵⁵ oder sie schlagen im Rückgriff auf Kants Unterscheidung zwischen einem „Dijudikationsprinzip“ und einem „Exekutionsprinzip“ aus der Vorlesung in die Moralphilosophie aus den 1770er Jahren¹⁵⁶ vor, die Einheit von Wille und Willkür im Sinne der Einheit einer legislativen und einer exekutiven Funktion zu verstehen¹⁵⁷ – wodurch aber wiederum unverständlich wird, inwiefern wir es bei dieser Fassung des Verhältnisses von Wille und Willkür (in der die Willkür eben wesentlich dadurch bestimmt ist, dass sie das „Ausführungsorgan“ der Autonomie der reinen praktischen Vernunft darstellt) überhaupt noch mit zwei verschiedenen Momenten von Freiheit zu tun haben. Im Grunde scheitern aber beide Strategien daran, die beiden zentralen Fragen zu adressieren, die mit der Zweiheit von Wille und Willkür aufgeworfen werden: Wie ist es zu verstehen, dass die Freiheit der moralischen Autonomie notwendig auf die „moralisch neutrale“ Freiheit der Willkür bezogen ist? Und wie kann es sein, dass die negative Freiheit der Unbestimmtheit wesentlich – und nicht bloß zufällig – in einem Zusammenhang mit der Autonomie der praktischen Vernunft steht? Bei der Beantwortung dieser Fragen scheint allerdings auch die zweite Deutungstradition nicht besonders hilfreich zu sein. Zwar kann man ihr sicherlich nicht vorwerfen, die Einheit der menschlichen Freiheit aus dem Blick verloren zu haben. Die Unterscheidung von Wille und Willkür besitzt für sie jedoch den Status einer eher marginalen Episode in Kants Freiheitstheorie. Die Frage, warum es notwendig ist, dass sich die Freiheit in Wille und Willkür zweiteilt, erscheint den Vertreter*innen dieser Traditionslinie schlicht als eine falsche Frage, schließlich ist es für einen autonomen
Das wird auf eindrückliche Weise in der Multiplikation der Freiheitsbegriffe ersichtlich, die Beck, Merbote und Hudson bei Kant heraus- und nebeneinanderstellen: vgl. Beck 1987, S. 38; Hudson 1991, S. 189 – 192; Merbote 1982, S. 71– 74. Auf das spezifische Problem dieser Deutungen, die die Einheit des freien Willens dabei aus den Augen verlieren, hat in Hinblick auf Beck und Silber insbesondere Nelson Potter (1974, S. 592 f.) hingewiesen. Ich möchte an dieser Stelle bereits betonen, dass das Versäumnis hier nicht allein darin besteht, die Einheit der verschiedenen Aspekte der Willensfreiheit nicht explizit thematisiert zu haben. Da diese Aspekte begrifflich erst verständlich werden, wenn wir sie im Zusammenhang ihrer Einheit in der Freiheit des Willens bestimmen, bleiben ihre Formulierungen bestenfalls provisorisch. Siehe Kant 2004, S. 68. Dass in diesen Passagen keine Antwort auf die Frage nach der Einheit eines zugleich moralischen und endlichen Willens liegt, kann man bei Steffi Schadow (2013, S. 191– 196), nachlesen. Vgl. Beck 1995, S. 188, sowie Allison 1990, S. 129 f. und Carnois 1997, S. 85.
4.1 Die moralische Autonomie und der „dezisionistische Rest“
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Willen per definitionem nicht notwendig, in eine derartige „Selbstspaltung“ einzutreten. Mein Argument gegen diese Auffassung umfasst zwei Schritte. Erstens haben die Interpret*innen – und, wie es aussieht, auch Kant selbst – den unmittelbaren theoretischen Kontext in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, in dem die Unterscheidung zwischen Wille und Willkür eingeführt wird, nicht hinreichend gewürdigt. Der Titel des entsprechenden Abschnitts aus der Einleitung lautet: „Von dem Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen“ (MS 6:211). Wie noch zu zeigen sein wird, beschränkt sich Kants Untersuchung dieses Verhältnisses nicht auf das metaethische Unternehmen, die „moralpsychologischen“ Voraussetzungen moralischer Normativität zu klären.¹⁵⁸ Im ersten Teil dieses Buches hatte ich argumentiert, dass die transzendentalphilosophische Pointe von Kants Begriff der „Gemütsvermögen“ keine psychologische, sondern eine ontologische ist: Der entscheidende Beitrag des Vermögensvokabulars besteht in der Klärung der Frage, wie normative Prinzipien eine Wirklichkeit in endlichen Subjekten besitzen. Thematisch ist in dem genannten Abschnitt der Einleitung also nicht bloß das normative Verhältnis der „Sittengesetze“ zu den Vermögen. Wenn der Vermögensbegriff in erster Linie das Wirklichsein normativer Prinzipien beschreibt, deren Realität entsprechend in den „Gemütsvermögen“ endlicher Subjekte liegt, dann sollten wir die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gesetz und Vermögen als eine Frage verstehen, die die Binnenstruktur des „Begehrungsvermögens“ betrifft: Wie hängt das normative oder intellektuelle Verhältnis, das ein „Sittengesetz“ mit Bezug auf das Begehren artikuliert, mit dem kausalen oder empirischen Verhältnis zusammen, das Vorstellungen des Begehrens mit Bezug auf Handlungen artikulieren? Eine Beantwortung dieser Frage kann nicht auf epistemologische oder moralpsychologische Weise allein erfolgen; sie hat in erster Linie eine vermögenstheoretische Kontur – und zwar eben deshalb, weil die Einheit eines normativen und eines kausalen Verhältnisses zu begreifen ist, was eine umfassendere theoretische Perspektive erforderlich macht. Ich will an dieser Stelle natürlich nicht behaupten, dass eine transzendentale Ontologie der Vorstellungsvermögen im Vordergrund des ersten Abschnitts der Einleitung in die Metaphysik der Sitten steht. Meine Auffassung lautet stattdessen, dass dieser Passus aus der Einleitung auf eher unterschwellige Weise eine vermögenstheoretische Dimension besitzt, die erst in dem Maße lesbar wird, wie die Voraussetzungen von Kants transzendentaler Vermögensontologie geklärt sind. Letzteres zumindest im Ansatz zu entwickeln war der Gegenstand des ersten Teils dieses Buches. Die Vermögenstheorie liefert aber nicht nur eine Antwort auf die Frage nach der Einheit von moralischer Vernunft und endlichem Begehren; sie liefert auch – und damit komme ich zu meinem zweiten Schritt – eine andere Antwort auf die Frage nach der Relation zwischen der moralischen Autonomie und einer nichtmoralischen Form der Freiheit. Kant selbst behandelt die Fähigkeit, dem Moralgesetz zuwiderzuhandeln,
So liest Thomas Höwing Kant an dieser Stelle, vgl. Höwing 2013b, S. 54.
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als eine Angelegenheit des bloß empirischen Wissens, die nichts in der philosophischen Definition der Freiheit zu suchen hat. Man könnte Kant hier auch so interpretieren, dass er durchaus anerkennt, dass der menschliche Wille eine Art „voluntaristisches“ oder „dezisionistisches Element“ enthält (Keil 2017, S. 196):¹⁵⁹ eine Fähigkeit der praktischen Wahl oder Entscheidung, die nicht in moralischer Autonomie aufgeht und die eine praktische Freiheit umfasst, die nicht nur von Neigungen, Begierden und Handlungsantrieben unabhängig ist, sondern auch eine gewisse Distanz gegenüber vernünftigen (moralischen) Handlungsgründen aufweist. Kant versteht diese Freiheit jedoch so, dass wir allein auf empirische Weise von ihr wissen. Unser praktisches Selbstbewusstsein, das in der Vernunft liegt, enthält hingegen a priori ein Prinzip der positiven Bestimmung der Willkür – und darin besteht die philosophische Definition der Freiheit (als Autonomie). Kants Situierung des „dezisionistischen Elements“ der Freiheit im Bereich des bloß empirisch Erkennbaren halte ich jedoch für ein Selbstmissverständnis. Der Begriff der Willkür bezieht sich, wie Kant selbst schreibt, auf ein „intelligibles“ Vermögen.Von einem solchen Vermögen wissen wir nicht durch Erfahrung und Selbstbeobachtung, sondern dadurch, dass wir es selbstbewusst realisieren. Die Willkür beschreibt folglich nicht nur ein praktisches Vorstellungsvermögen, sondern auch ein praktisches Selbstbewusstsein. Was wissen wir nun a priori dadurch, dass wir dieses Vermögen selbstbewusst ausüben? Eine Antwort auf diese Frage beschränkt sich nicht darauf, ein Bewusstsein der Bestimmbarkeit durch das Prinzip der reinen praktischen Vernunft hervorzuheben, das im Vollzug des Vermögens leitend sein soll. Denn neben dieser intellektuellen Dimension umfasst das Selbstbewusstsein der Willkür auch ein Bewusstsein der Weise, in der jene Prinzipien auf den Bereich des Empirischen (also: Sinnlichkeit, Gefühle, Handlungen) bezogen sind. Ich hatte im ersten Teil zu demonstrieren versucht, dass die intellektuelle Dimension des Vorstellungsvermögens die Teilung desselben in einen intelligiblen und einen empirischen Teil in sich reflektieren muss, und das bedeutet, dass das praktische Selbstbewusstsein, das in der Aktualisierung der Willkür liegt, zugleich ein Bewusstsein von der Form des Empirischen umfasst, auf die sich das intellektuelle Vermögen bezieht.¹⁶⁰ Dieser apriorische Bezug auf die Form des
Ich schließe mich hier der pointierten Deutung und Kritik der kantischen Position an, die Geert Keil an dieser Stelle präsentiert (siehe auch Keil 2017, S. 193 – 196). Den Hinweis auf Keils Deutung verdanke ich Jörg Noller (2018, S. 164 f.). Man könnte diesen Punkt auch so zum Ausdruck bringen: Wenn Kants Identifikation von Moralität und Freiheit insofern triftig ist, als der Fall des moralischen Handelns den einzigen Fall darstellt, in dem Freiheit in einem absoluten und positiven Sinne realisiert wird, dann sollten wir im vorliegenden Kontext danach fragen, was der Gedanke einer Realisierung von „absoluter positiver Freiheit“ eigentlich enthält. Der Begriff der „absoluten und positiven Freiheit“ ist durch das moralische Gesetz bestimmt: „Das Moralgesetz als Faktum der Vernunft ist der einzige nicht-empirische Definitionsgrund, den wir für die positive Definition der absoluten Freiheit des Willens als eines nicht-empirischen Begriffs haben.“ (Bojanowski 2007, S. 226) Um dasselbe zu verwirklichen, und zwar in der durch kausale Verhältnisse strukturierten „sinnlichen Welt“, müssen wir das moralische Gesetz als ein Vermögen denken, das zugleich als eine Kraft beschrieben werden kann, eine rein normative Be-
4.2 Wille und Willkür in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten
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Empirischen reicht aus, so meine These, um im Fall des „oberen“ Begehrungsvermögens zeigen zu können, dass unser praktisches Selbstbewusstsein mit zwei formal unterschiedenen, aber wesensmäßig zusammenhängenden Arten von Freiheit verbunden ist. Das ist die These, die in diesem zweiten Teil im Zentrum stehen wird. Die transzendentale Theorie der Vorstellungsvermögen liefert somit eine begriffliche Perspektive, die zeigen kann, dass Kants Konzeption des Willens zumindest die theoretischen Ressourcen besitzt, um die Zweiteilung der Freiheit – und zwar a priori – verständlich zu machen. Aus einem vermögenstheoretischen Blickwinkel handelt es sich also nicht um eine bloß empirische Tatsache – sondern vielmehr um einen Umstand, der sich aus der transzendentalen Bestimmung der Vorstellungsvermögen ergibt. Meine allgemeine These dazu lautet, dass wir, sobald dies eingesehen ist, auf dem Gedanken insistieren sollten, dass unserer freier Wille wesentlich eine Art „Selbst-Differenz“ birgt: Vernünftige Autonomie existiert und persistiert in einem endlichen Willen in dem Maße, wie die Freiheit dieses Willens ein „dezisionistisches“ Moment behält.¹⁶¹
4.2 Wille und Willkür in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten Die Frage nach dem Verhältnis und der Einheit von praktischem Gesetz und subjektivem Handlungsvermögen ist, wie gesagt, Gegenstand des ersten Abschnitts der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, der von „dem Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen“ handelt (MS 6:211) – und das heißt in erster Linie: vom Verhältnis des Begehrungsvermögens zum Gesetz der reinen praktischen Vernunft. Ich werde im Folgenden diesen ersten Abschnitt der Einleitung in die Metaphysik der Sitten rekonstruieren. Dieses Vorgehen erscheint insofern vielversprechend, als Kant hier auf wenigen Seiten die vielleicht konziseste Formulierung seiner „reifen“ vermögenstheoretischen Konzeption des Willens liefert – eine Formulierung, die die beiden bekannten Thesen aus der Grundlegung, dass der Wille in einer bestimmten Hinsicht „nichts anderes als praktische Vernunft“, in einer anderen Hinsicht jedoch „nicht […] völlig der Vernunft gemäß“ sei (GMS 4:412), nicht nur in ein
stimmung kausal wirksam werden zu lassen. Um aber ein Vermögen als Kraft zu denken, sollten wir es als ein „hybrides“ intellektuelles Vermögen verstehen, das bereits intern auf das Empirische bezogen ist. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt dieser Bezug auf das Empirische für die philosophische Reflexion die Quelle dar, um die Einsicht in das „dezisionistische“ Moment der Willkür zu formulieren. Einen voluntaristischen Aspekt der Freiheit der Willkür zu behaupten, der nicht auf moralische Autonomie reduzibel ist, enthält nicht die These, dass die Willkür als eine Freiheit zu unsittlichem Verhalten zu definieren sei – denn sie besteht nicht darin, dem kategorischen Imperativ zuwiderzuhandeln (so pointiert Keil 2017, S. 196). Diese Möglichkeit liegt vielmehr in der Struktur der Willkür begründet, die demnach nicht als eine bloß logische Möglichkeit, sondern als eine notwendige Möglichkeit beschrieben werden muss.
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Bild integriert, sondern dabei auch in ein neues Licht rückt. Der wichtige Beitrag dieser Formulierung besteht meines Erachtens darin, ein Niveau der Komplexität in der Beschreibung des Willens zu erreichen, das uns erlauben wird, die Einheit der objektiven und subjektiven Wirklichkeit der Freiheit in ihrer ganzen internen Spannung und Differenzierung genauer zu verstehen. Die eigentümliche Pointe von Kants komplexer Beschreibung liegt demnach in der Einführung der Unterscheidung zwischen Wille und Willkür – im Sinne von zwei Aspekten oder Funktionen eines freien Willens, die ich hier vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Vermögen und Kraft deuten möchte. Das leitende Interesse, das der folgenden Rekonstruktion zugrunde liegt, besteht darin, zunächst überhaupt einmal zu verstehen, inwiefern es für einen freien Willen notwendig ist, sich in sich selbst zu teilen. Und dabei geht es mir in erster Linie darum, die inhärente Problematik herauszuarbeiten, die in dieser Selbst-Differenz liegt. Ich möchte einerseits demonstrieren, dass Kants Fassung der Begriffe des Willens und der Willkür zwei Probleme aufwirft, die intern zusammenhängen: ein Rätsel, das der Willkür anhaftet, und ein Rätsel, das dem reinen Willen anhaftet. Diese beiden Rätsel deuten andererseits darauf hin, dass Kant in der Tat zwischen zwei Formen der Einheit von Wille und Willkür differenziert. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Formen entspricht dabei einer veritablen „Selbstentzweiung“ der Spontaneität des Begehrens. Vor dem Hintergrund der Überlegungen aus dem zweiten Kapitel entspricht die Definition des Begehrungsvermögens, mit der Kant die Einleitung in die Metaphysik der Sitten beginnt, der transzendentalen Definition des empirischen Begehrungsvermögens. Schließlich haben wir es mit einer Relation der Kausalität zu tun, in der das Subjekt („durch seine Vorstellungen“) als Ursache und seine Gegenstände als deren Wirkungen bestimmt sind. Der empirische Begriff ist deshalb die „kanonische“ Formulierung des Begehrungsvermögens, weil die kausale Hervorbringung eines Gegenstandes (resp. einer Handlung) genau denjenigen Akt kennzeichnet, der das Begehrungsvermögen definiert: Der Vollzug des Begehrens „vollendet“ sich in einer Handlung.¹⁶² Das bedeutet nicht, dass nur diejenigen Vorstellungen als „Begehrungen“ gelten können, die Handlungen tatsächlich ursächlich zugrunde liegen. Unerfüllbare Sehnsüchte, Wunschträume, übertriebene moralische Ideale, Rachefantasien lassen sich genauso als Vorstellungen des Begehrens ansprechen, sofern ihnen der Bezug auf die Kausalität der Handlung – wenn auch nur als geträumte, fantasierte
Darin liegt auch der Grund, weshalb Kant in der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft behauptet, dass „der Begriff des Begehrungsvermögens […] empirisch gegeben werden muß“ (KU 5:182). Das trifft allerdings nicht auf das Erkenntnisvermögen zu, das sich in dem Akt „vollendet“, gegebene Vorstellungen objektiv zu denken. Dieser Vollzug lässt sich somit nicht durch eine Relation der Kausalität definieren, woraus folgt, dass das Erkenntnisvermögen auch nicht empirisch gewonnen werden kann (auch wenn die Rezeptivität der Sinnlichkeit in die Definition des für das Erkenntnisvermögen charakteristischen Vollzugs eingeht).
4.2 Wille und Willkür in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten
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oder idealisierte – wesentlich ist.¹⁶³ Wenn es aber so ist, dass das Begehrungsvermögen durch die praktische Kausalität von Vorstellungen definiert ist, dann müssen wir davon ausgehen, dass die kausale Relation von Vorstellungen eine gewisse Priorität in der Bestimmung dieses Vermögens besitzt. Ich habe im ersten Kapitel den methodischen Zuschnitt von Kants Argument in dieser Passage bereits geschildert: Indem Kant sich auf verschiedene Arten der Vorstellung bezieht, durch die das Subjekt jeweils „Ursache der Gegenstände“ seiner Vorstellungen sein kann, führt er verschiedene Formen des Begehrens ein. Durch die sukzessive Betrachtung immer spezifischerer und anspruchsvollerer Begriffe der Vorstellung gelangt Kant somit sukzessive zu immer spezifischeren und anspruchsvolleren Begriffen des Begehrens.¹⁶⁴ Bei diesem Vorgehen geht es Kant nicht einfach darum, verschiedene Formen des Begehrens zu unterscheiden und hinsichtlich ihrer Komplexität oder ihres Anspruchsprofils hierarchisch zu ordnen. Die Pointe liegt vielmehr darin, verschiedene Momente in der Einheit eines Vermögens – des menschlichen Begehrungsvermögens – zu identifizieren und ihren jeweiligen Ort in dieser Einheit zu bestimmen. Die verschiedenen Arten des Begehrens sind demnach, wie Engstrom schreibt, „related as moments in a single sensibly affected but rationally determinable desiderative capacity in a human being under moral laws“ (Engstrom 2010a, S. 39). Die Frage, die Kant beim Fortschreiten von einer Art des Vorstellens zur nächsten leitet, ist die Frage nach den möglichen „Bestimmungsgründen“ des Begehrens: Es ist die Frage nach der Weise, in der die Kausalität der eigenen Vorstellungen hinsichtlich ihrer Gegenstände jeweils Bestimmtheit erlangen kann. In Kants Darstellung lassen sich vier Schritte unterscheiden. In einem ersten Schritt untersucht er das Verhältnis von Begehren und Gefühl, das hier im Sinne einer Bestimmung des Begehrens durch Rezeptivität verstanden wird; im zweiten Schritt führt er das „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ als eine Spontaneität des Begehrens ein, die er „Willkür“ nennt; der dritte Schritt gilt der Frage nach dem Bestimmungsgrund der Willkür, den Kant in der praktischen Vernunft situiert und als „Willen“ bezeichnet; und im vierten Schritt geht es schließlich um dasjenige Verständnis des Willens, auf dessen Basis allererst die Freiheit des Begehrens denkbar wird, nämlich um die reine praktische Vernunft und um ihr Prinzip des moralischen Gesetzes.
Vgl. KU 5:178 Fn, wo Kant schreibt: „Ob wir uns gleich in solchen phantastischen Begehrungen der Unzulänglichkeit unserer Vorstellungen (oder gar ihrer Untauglichkeit), Ursache ihrer Gegenstände zu sein, bewußt sind: so ist doch die Beziehung derselben als Ursache, mithin die Vorstellung ihrer Kausalität in jedem Wunsche enthalten und vornehmlich alsdann sichtbar, wenn dieser ein Affekt, nämlich Sehnsucht, ist.“ Mit Blick auf Vorstellungen im Allgemeinen definiert Kant das Begehrungsvermögen; durch Rekurs auf Vorstellungen, die mit Gefühlen der Lust und Unlust verbunden sind, charakterisiert er „Begierden“ und „Neigungen“; anhand von begrifflichen Vorstellungen führt er das „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (d. h. die „Willkür“) ein; und zuletzt bestimmt er anhand der Vorstellung von Prinzipien das Vermögen des Willens. Vgl. dazu Engstrom 2010a, S. 39.
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Sofern die „kanonische“ Definition des Begehrungsvermögens in der empirischen Artikulation des Vorstellungsverhältnisses liegt, beginnt Kant folgerichtig mit der empirischen Bestimmbarkeit des Begehrens, d. h. mit der Relation von Begehren und Gefühl. Zwei Punkte hebt er dabei hervor. „Mit dem Begehren oder Verabscheuen ist erstlich jederzeit Lust oder Unlust, deren Empfänglichkeit man Gefühl nennt, verbunden“ (MS 6:211) – und zwar: „notwendig verbunden“ (MS 6: 212). Damit bringt er eine Bestimmung zum Ausdruck, die der kategorialen Definition des empirischen Begehrungsvermögens implizit ist.¹⁶⁵ Kant legt aber zweitens einen besonderen Akzent darauf, dass die Einsicht in die Notwendigkeit der Verbindung zwischen der Rezeptivität des Gefühls und der Kausalität des Begehrens nicht impliziert, dass das Gefühl der notwendige Bestimmungsgrund des Begehrens ist.¹⁶⁶ Aus der rein empirischen Perspektive stellt sich deren Verhältnis freilich im Sinne eines zugleich zeitlich und kausal bestimmten Verhältnisses dar: Eine Vorstellung ist in dem Maße die Ursache der Existenz eines Gegenstandes, wie die Vorstellung der Existenz dieses Gegenstandes zuvor eine Erfahrung der Lust hervorgerufen hat. Dass die subjektbezogene Kausalität des Gefühls die objektbezogene Kausalität des Begehrens bestimmt, ergibt sich für Kant jedoch keinesfalls zwangsläufig: „[N]icht immer [geht] die Lust oder Unlust an dem Gegenstande des Begehrens vor dem Begehren vorher und darf nicht allemal als Ursache, sondern kann auch als Wirkung desselben angesehen werden“ (MS 6:211). Es wird daher schnell klar, dass Kants kurze Diskussion des Verhältnisses von Gefühl und Begehren nicht auf eine bloß empirische Perspektive beschränkt ist, sondern von Anfang an bereits auf die intelligible Dimension dieses Vermögens bezogen ist.¹⁶⁷ Die eigentliche Begründung, weshalb die Verbindung eines Gefühls der Lust oder Unlust mit dem Begehren einerseits notwendig ist, andererseits aber nicht zwangsläufig eine Verbindung von Ursache und Wirkung darstellt, ergibt sich daher erst aus den nächsten Schritten seiner Argumentation, die die kausale Effektivität der Vorstellung nicht in begleitenden Gefühlen, sondern in einem begrifflich artikulierten Bewusstsein verankern: Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus desselben ein Wunsch. (MS 6:213)
Siehe dazu Kap. 2.1. Vgl. MS 6:211– 213. Kant nennt diejenige „praktische Lust“, die dem Begehren als Bestimmungsgrund vorangeht, „Begierde“ oder, sofern es sich um eine zum Habitus gewordene Begierde handelt, „Neigung“ (MS 6:212). Dagegen bezeichnet er die praktische Lust, welche als Folge oder Wirkung eines anderweitig, nämlich intellektuell bestimmten Begehrens eintritt, „intellektuelle Lust“ (ebd.). An dieser Stelle wird jedoch nicht klar, wie Kant diejenige Lust verstanden wissen will, die als „Wirkung“ auf eine intellektuelle Bestimmung des Begehrens folgt, und welche Rolle eine solche Lust für ein Begehrungsvermögen besitzt. Siehe dazu Höwing 2013b, S. 31– 33.
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Liegt der Bestimmungsgrund des Begehrens also in der Rezeptivität des Gefühls, so bestimmt der Gegenstand des Begehrens das Begehren nach dem Gegenstand, weil es die vorgestellte Realität des Gegenstandes ist, die das Gefühl derart affiziert, dass das Subjekt nach dem Gegenstand strebt.¹⁶⁸ Das „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ dagegen ist als eine Spontaneität ausgezeichnet, weil der Bestimmungsgrund im Begehrungsvermögen selbst liegt, und zwar in der begrifflichen Bezugnahme auf einen Gegenstand. Dadurch allerdings, dass Kant an dieser Stelle das Begehren „nach Begriffen“ als „ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen“ anspricht, charakterisiert er dessen Spontaneität zunächst als die Wahl eines beliebigen Bestimmungsgrundes. Das Begehren erscheint also noch nicht im Sinne einer bestimmten Beziehung auf einen Gegenstand, sondern im Sinne einer beliebig bestimmbaren Beziehung. Dieser Aspekt der Unbestimmtheit, der bereits in der Einleitung mit Blick auf den Begriff der Willkürfreiheit thematisch war, ist für mein Anliegen zentral. Ich habe im dritten Kapitel die spontane Rezeptivität der Einbildungskraft so beschrieben, dass sie das Bewusstwerden des sinnlich Gegebenen in Gestalt der Erscheinung eines unbestimmten Gegenstandes realisiert: Sie transformiert eine Relation der kausalen Abhängigkeit in eine Relation der existenziellen Abhängigkeit, indem sie sinnliche Eindrücke von ihrer Präsenz als Affektionen ablöst, selbsttätig „festhält“ und dadurch kausal unbestimmt macht. ¹⁶⁹ Analog können wir davon ausgehen, dass die Spontaneität des Begehrens ebenso eine Kraft enthalten muss, die subjektive Kausalität des Gefühls „unbestimmt zu machen“, indem sie die kausale Relation zwischen Gefühl und Begehren in eine Relation der existenziellen Abhängigkeit transformiert. Wir können demnach annehmen, dass das Begehren eine hybride Form der Spontaneität impliziert – eine Art der praktischen Einbildungskraft, eine „Kraft“ des Unbestimmt-Machens, die in der Lage ist, die Bestrebungen, die in rezeptiv konstituierten Begierden oder Neigungen zum Ausdruck kommen, von ihrer affektiven Qualität abzulösen und selbsttätig festzuhalten. Dieser Akt „neutralisiert“ ihre subjektiv-kausale Effektivität: Neigungen oder Begierden gehen nur in dem Maße in die Bestimmung des Begehrens ein, wie das Subjekt sich aus Spontaneität zu ihnen bestimmt – „es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der [es] sich verhalten will“ (Religion 6:24). Auf diese Weise wird also die Möglichkeit eröffnet, rezeptiv generierte Handlungstendenzen als intellektuell und normativ bestimmbare, d. h. als allgemeine Bestimmungen des Be-
Siehe KpV 5:22, wo Kant schreibt: „Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an, der eine Beziehung der Vorstellung auf ein Objekt nach Begriffen, aber nicht auf das Subjekt nach Gefühlen ausdrückt. Sie ist also nur so fern praktisch, als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt.“ Siehe Kap. 3.3.
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gehrens zu denken. In Kants Worten: Das Subjekt besitzt die spontane Fähigkeit, „Triebfedern“ in „Maximen“ „aufzunehmen“.¹⁷⁰ Ich werde auf den Aspekt des Unbestimmt-Machens zurückkommen. An dieser Stelle ist zunächst entscheidend, dass Kant die Spontaneität des Begehrens dadurch einführt, dass er sie in einen reflexiven Bezug zur Rezeptivität des Gefühls setzt. Die kausale Rolle, die Vorstellungen des Begehrens in Bezug auf ihre Gegenstände besitzen, ist selbst nicht kausal (durch Gefühle oder Neigungen) bestimmt.¹⁷¹ Sie liegt vielmehr im „Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts“. Wenn aber das praktische Vermögen zur Kausalität durch Handlungen im Bewusstsein von diesem Vermögen liegt, dann ist die kausale Kraft einer Vorstellung hinsichtlich ihres Gegenstandes ein Korrelat des Umstands, dass das Subjekt seine eigene Vorstellung so vorstellt, dass es durch dieselbe einen Gegenstand hervorbringen kann.¹⁷² Diese Art von Kausalität lässt sich folglich nicht empirisch einsehen. Sie ist vielmehr allein aus der Perspektive der Spontaneität des Subjekts zugänglich: aus der Perspektive des Selbstbewusstseins, mit dem das Subjekt begehrt und sein Begehren vollzieht. Ein Begehren nun, das durch ein Selbstbewusstsein der eigenen Kausalität gekennzeichnet ist und das zugleich das Bewusstsein enthält, dass die Bestimmung dieser Kausalität in das eigene „Belieben“ gestellt ist, bezeichnet Kant als „Willkür“. Die Willkür beschreibt somit ein reflexives Verhältnis des Begehrens zu sich selbst, d. h. ein reflexives Verhältnis zu den rezeptiv konstituierten Bedürfnissen, Neigungen, Trieben oder Handlungsimpulsen, die als bloße Möglichkeiten ihrer Kausalität nunmehr eigens „gewählt“ werden können – und zwar: „nach Belieben“.¹⁷³ Um nun die Frage zu beantworten, wie die Wahl der Willkür ihrerseits Bestimmtheit erlangt, d. h. worin der Bestimmungsgrund des eigenen „Beliebens“ besteht, schreitet Kant vom „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ zum vernünftigen Begehren fort: Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird, heißt der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst. (MS 6:213)
Anders als die Willkür ist der Wille somit weniger ein Selbstbewusstsein der eigenen Kausalität. Er ist vielmehr ein Selbstbewusstsein des Bestimmungsgrundes zur Kausalität. Denn er bezieht sich nicht direkt auf das Handeln; seine Vorstellungen sind
Siehe Religion 6:24. Vgl. dazu Allison 1990, S. 39 – 41, 51 f., sowie meine vermögenstheoretische Deutung der „Inkorporationsthese“ in Kap. 2.2. Vgl. auch Höwing 2013b, S. 41 f. Vgl. Engstrom 2010a, S. 32 f. Siehe dazu die Diskussion der Willkür mit Blick auf Frankfurt und Taylor in der Einleitung dieser Studie.
4.2 Wille und Willkür in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten
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nicht unmittelbar Ursachen für die Hervorbringung von Gegenständen. Er bezieht sich vielmehr auf die Willkür selbst, und zwar im Sinne der Vorstellung eines Grundes, welcher der Vorstellung der Willkür, d. h. dem Bewusstsein ihrer kausalen Wirksamkeit, normative Bestimmtheit verleiht. Wir haben es daher mit einer Verdopplung von Reflexivität zu tun. Die Spontaneität der Willkür beschreibt das reflexive Verhältnis des Begehrens zur Rezeptivität von praktischen Gefühlen; die Spontaneität des Willens bezeichnet dagegen das reflexive Verhältnis des Begehrens zu sich selbst – den Selbstbezug des Begehrens als Bezug des Willens auf die eigene Willkür. Durch letztere erscheint die Kausalität des Begehrens als unbestimmte, als nicht durch die Affektion von Gefühlen unmittelbar determinierte; und durch erstere wird sie positiv bestimmt. Das drückt Kant auch so aus, dass die Willkür „unter dem Willen […] enthalten“ ist (MS 6:213). Was aber setzt nun wiederum den Willen in den Stand, ein Bewusstsein des inneren Bestimmungsgrundes der Willkür zu sein? Im letzten Schritt seines Arguments liefert Kant die Antwort auf diese Frage dadurch, dass er die reine praktische Vernunft einführt und mit ihr die Freiheit der Autonomie: Denn, als reine Vernunft, auf die Willkür, unangesehen dieses ihres Objekts, angewandt, kann sie als Vermögen der Prinzipien (und hier praktischer Prinzipien, mithin als gesetzgebendes Vermögen), da ihr die Materie des Gesetzes abgeht, nicht mehr, als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetz selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde der Willkür machen, und, da die Maximen des Menschen aus subjektiven Ursachen mit jenen objektiven nicht von selbst übereinstimmen, dieses Gesetz nur schlechthin, als Imperativ des Verbots oder Gebots, vorschreiben. (MS 6:214)
Erst mit dem Begriff der reinen praktischen Vernunft sind wir an dem Punkt angelangt, an dem das Begehrungsvermögen als eine „absolute“ Spontaneität in den Blick kommt. Denn es verfügt in der Gestalt der reinen Vernunft über ein Prinzip, das absolut unabhängig von der Rezeptivität des Begehrens ist und allein die Form eines Gesetzes zum Gesetz des Begehrens macht. Als „Vermögen der Prinzipien“ beschreibt die reine Vernunft kein Vermögen der praktischen Deliberation, der Abwägung von Mitteln und der Gewichtung von Zwecken.¹⁷⁴ Sie ist vielmehr ein Vermögen des Schließens von Prinzipien auf die Notwendigkeiten des Begehrens, d. h. sie operiert strikt als ein Vermögen der deduktiven Handlungsbestimmung aus universalen Grundsätzen. Was aber bedeutet es nun für das Begehren der Willkür, dass sein „Belieben“ in der reinen praktischen Vernunft liegt? [D]ie Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür. Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimulus) bestimmbar ist, würde tierische Willkür (arbitrium brutum) sein. Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich […] nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden. (MS 6:213)
Vgl. Engstrom 2010a, S. 30.
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4 Gesetz und Begehren
Die Willkür ist deshalb nicht „rein“, weil sie wesentlich dadurch charakterisiert ist, in einem Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit zu Begierden und Neigungen, d. h. zu rezeptiven Triebfedern zu stehen. Das ist die empirische Bedingung, unter der wir sie als Begehren denken können – als Bewusstsein der Kausalität der eigenen Vorstellungen hinsichtlich ihrer Gegenstände. Die Relation der existenziellen Abhängigkeit schließt aber keineswegs aus, dass das Bewusstsein der Kausalität der Vorstellungen seinen Bestimmungsgrund in einer rein formalen Vorstellung hat. Wir müssen demnach zwei Aspekte der Willkür auseinanderhalten. Indem die Willkür einer Triebfeder folgt, können wir sie einerseits so verstehen, dass sie ein Bewusstsein der Kausalität der eigenen Vorstellung in Hinsicht auf die Hervorbringung ihres Gegenstandes beschreibt: Sie strebt danach, den Gegenstand ihrer Vorstellungen zu verwirklichen; und sie kann eine solche Bestrebung in dem Maße ausprägen, wie ihre Vorstellung von einem begehrten Gegenstand den Status einer „Triebfeder“ besitzt. Indem sich die Willkür von einer rezeptiv, d. h. durch Gefühle generierten Begierde oder Neigung, die kausal unbestimmt gemacht wurde, bestimmen lässt, verleiht sie der Begierde oder Neigung also den Rang einer „Triebfeder“. Der Begriff der Triebfeder beschreibt somit eine Vorstellung unter dem Gesichtspunkt, dass sie ein „subjektiver Bestimmungsgrund“ (KpV 5:72) und in diesem Sinne eine Aktualisierung des Begehrungsvermögens ist. Mit einer Aktualisierung des Begehrungsvermögens haben wir es dann zu tun, wenn diese Vorstellung die für die Verwirklichung des Begehrens in Handlungen erforderliche kausale Rolle einnimmt¹⁷⁵ – nämlich diejenige einer Vorstellung, durch die das Subjekt „Ursache der Gegenstände dieser Vorstellung“ sein kann (MS 6:211). Damit eine Vorstellung aber diese kausale Rolle spielen kann, muss die empirische Bedingung erfüllt sein, dass sie in einem Verhältnis der asymmetrischen existenziellen Abhängigkeit zu einer rezeptiv konstituierten Handlungstendenz steht.¹⁷⁶ Der Begriff einer Triebfeder formuliert demnach die notwendige empirische Bedingung, unter der Vorstellungen eine Kausalität des „Strebens“ aufweisen können. Ohne Bezug auf die praktische Rezeptivität des Vermögens zu Gefühlen kann also kein endlicher Wille handeln: Das Verhältnis zwischen der Spontaneität des Begehrens und der Rezeptivität des Gefühls, d. h. zwischen Willkür und Neigung, ist ein Verhältnis der existenziellen Abhängigkeit. Und dieser notwendige Bezug auf rezeptiv konstituierte Triebfedern hat zur Konsequenz, dass die Tätigkeit der Willkür notwendig einen zeitlichen Index besitzt. In dieser wesentlichen Orientierung an der Rezeptivität liegt aber nur der eine Aspekt der Willkür. Neben der empirischen Bedingung der Aktualisierung des Begehrungsvermögen müssen wir zudem noch eine intellektuelle Bedingung berücksichtigen, durch die der Bezug auf einen praktischen Gegenstand hinreichende Bestimmtheit und überhaupt erst den Rang eines begehrenswerten Gegenstands erlangt.
Diese Formulierung entspricht der Deutung von Kants Begriff der Triebfeder, die Thomas Höwing (2013a, S. 214) vorgeschlagen hat. Das vermögenstheoretische Argument für diese empirische Bedingung findet sich in Kap. 2.3.
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Indem die Willkür einer Triebfeder folgt, fällt sie deshalb andererseits zugleich das praktische Urteil, dass es gut ist, dieser Triebfeder zu folgen: Sie macht es sich zur Regel, nach dieser Triebfeder (resp. nach Triebfedern dieser Art) zu handeln.¹⁷⁷ Insofern können wir die Willkür als eine Art „praktischen Verstand“ deuten: Als „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ beschreibt sie ein „Vermögen der Begriffe“ (KrV A 160). Und weil Begriffe formal durch die Funktion bestimmt sind, die sie in Urteilen einnehmen können, ist die Willkür zugleich ein „Vermögen zu urteilen“ (KrV A 69). Ein praktisches Urteil zu fällen, demzufolge das Handeln gemäß einer Triebfeder gut ist, bedeutet aber auch, sich dabei (zumindest implizit) auf einen Grund zu beziehen, nach dem ein solches Handeln nach Triebfedern die Bestimmtheit eines guten Handelns besitzt.¹⁷⁸ Daher sollten wir die Willkür als eine Form des Selbstbewusstseins begreifen, d. h. als eine selbstbewusste Tätigkeit, die Handlungen dadurch „wählt“ und vollzieht, dass sie die „Mannigfaltigkeit“ ihrer „Begehrungen“ unter die Einheit eines Willens bringt. Durch diesen Bezug auf die Einheit des praktischen Selbstbewusstseins werden Einstellungen des Begehrens somit einer intellektuellen Bedingung unterworfen: Sie müssen sich im Licht des normativen Zusammenhangs des Willens aufrechterhalten lassen. Und weil sich die Willkür im Sinne eines „praktischen Verstandes“ auf das Bewusstsein eines normativen Bestimmungsgrundes bezieht, steht sie somit auch in einem internen Verhältnis zum Willen oder der praktischen Vernunft. Eben das ist die Stelle, an der die Willkür durch reine Vernunft bestimmbar ist: Der kategorische Imperativ drückt nichts anderes aus als die apriorische Bestimmung dieser Einheit des praktischen Selbstbewusstseins im Sinne einer objektiven Einheit. Und diese Einheit muss eine objektive Einheit sein, denn andernfalls könnte die Willkür keine „bestimmte Beziehung“ zu ihren Gegenständen haben, die ihrer Freiheit der Unbestimmtheit gerecht würde: Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein. (MS 6:213 f.)
Wenn die Willkür die Fähigkeit beschreibt, die Bezogenheit des Begehrens auf die Rezeptivität von Gefühlen „unbestimmt zu machen“, dann lässt sich diese Unbestimmtheit als Unabhängigkeit von der „Bestimmung durch sinnliche Antriebe“ nur in dem Maße selbsttätig aufrechthalten, wie der Wille über ein apriorisches Prinzip verfügt, das selbst wiederum auf keine Bestimmung durch „sinnliche Antriebe“ angewiesen ist. Darin besteht also die Autonomie des Willens: Das Subjekt ist in Gestalt der reinen Vernunft „für sich selbst praktisch“, weil es sich in seinem Begehren von Bestimmungsgründen der Rezeptivität unabhängig weiß. Und von dieser Unabhängigkeit weiß es in dem Maße, wie es auf ein „Gesetz der Freiheit“ bezogen ist, aufgrund
Ich folge hier der konzisen Deutung von Stephen Engstrom 2009, S. 44– 54. Siehe Engstrom 2009, S. 49 – 51.
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4 Gesetz und Begehren
dessen es über Bestimmungen seines Begehrens verfügen kann, die sich innerhalb dieser Unabhängigkeit selbsttätig aufrechterhalten lassen. Es ist wichtig zu betonen, dass die negative Freiheit der Willkür zwar allererst durch den Willen der reinen Vernunft als solche erkannt wird (weil jene durch diese a priori bestimmbar ist); der Grund ihrer negativen Freiheit liegt aber nicht in derselben.¹⁷⁹ Das bedeutet, dass die reine praktische Vernunft die negative Freiheit der Willkür nicht erklären kann, sondern voraussetzt. Ohne die Freiheit der Negativität, d. h. ohne das Vermögen der Willkür, den Bezug des endlichen Subjekts auf die Rezeptivität des Gefühls „unbestimmt zu machen“, gäbe es nicht die Möglichkeit, durch die Kant die Freiheit der Willkür definiert – nämlich die Möglichkeit, durch reine Vernunft bestimmt zu werden. Der reine Wille ist allerdings für Kant die einzige Art und Weise, die zunächst nur negativ charakterisierte Freiheit der Willkür in einer bestimmten Beziehung zu einem Gegenstand des Begehrens positiv aufrechtzuerhalten.
4.3 Diesseits und jenseits des Lustprinzips: Die Selbstentzweiung der Spontaneität Wenn diese Beschreibung triftig ist, dann stellt sich sogleich die Frage, was aus der Relation der existenziellen Abhängigkeit von der Rezeptivität des Gefühls wird, die für das Bewusstsein der Kausalität der eigenen Vorstellungen charakteristisch ist. Ich hatte im dritten Kapitel Kants Begriff des Erkenntnisvermögens so erläutert, dass das intelligible Vermögen der Spontaneität (der Verstand) und das empirische Vermögen der Rezeptivität (die Sinnlichkeit) als Gelingensbedingungen der Erfahrung verstanden werden sollten. Analoges gilt jedoch nicht für den Fall des Begehrungsvermögens. Hier liegt die Gelingensbedingung des Handelns allein in der Spontaneität, und zwar im Prinzip des kategorischen Imperativs. Anders als beim Erkenntnisvermögen ist das Vermögen des Willens also nicht dadurch definiert, dass sein Gegenstandsbezug ein Verhältnis der Rezeptivität konstitutiv einschließt. Das Begehrungsvermögen enthält nur in seiner empirischen Dimension einen Bezug auf die Rezeptivität des Gefühls, weshalb wir davon ausgehen können, dass dieselbe keine Gelingensbedingung, sondern allein eine empirische Bedingung der Verwirklichung des Begehrens beschreibt. Das Gesagte lässt sich auch so ausdrücken: Als Wille ist das Begehren unabhängig von rezeptiven Triebfedern, während es als Willkür von rezeptiven Triebfedern existenziell abhängig bleibt. In der Einleitung der Metaphysik der Sitten stellt Kant die Willkür jedoch so dar, dass sie wesentlich als Kraft der Realisierung des reinen Willens erscheint. Der reine Wille aber ist eine „absolute Spontaneität der Prinzipien“ und darin unabhängig von aller praktischen Rezeptivität. Wie kann die Willkür aber eine
Vgl. KpV 5:4 Fn.
4.3 Diesseits und jenseits des Lustprinzips: Die Selbstentzweiung der Spontaneität
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Realisierung des reinen Willens sein, wenn sie in ihrer Realisierung zugleich von Triebfedern und mithin von Bestimmungen der praktischen Rezeptivität existenziell bedingt bleibt? Darin besteht das eigentliche Rätsel der Willkür.¹⁸⁰ Dass die Willkür in der Verwirklichung des Begehrens auf rezeptive Triebfedern angewiesen ist, besagt eben, dass sie sich von diesen selbsttätig bestimmen lässt. Wenn diese Realisierung aber zugleich eine Realisierung des reinen Willens sein soll, dann besteht die Selbsttätigkeit des Begehrens gerade darin, nicht auf rezeptive Triebfern angewiesen zu sein. Man könnte freilich annehmen, dass Kants Gedanke der „Achtung“ als einer „moralischen Triebfeder“ exakt dieses Problem löst: Die Spontaneität des Willens verschafft dem Begehren diejenige nicht-pathologische Triebfeder, die es als Willkür benötigt, um den reinen Willen als solchen zu verwirklichen. Wenn man die kantische Vorstellung der „Achtung“ aber genauer in den Blick nimmt, lässt sich erkennen, dass sie das Rätsel der Willkür nicht löst, sondern eher verschiebt und aufs Neue formuliert. Im dritten Hauptstück der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“, das „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ handelt (KpV 5:71– 89), beschreibt Kant die Kontur seines Arguments folgendermaßen: Sofern es um den Nachweis geht, wie reine Vernunft „für sich selbst praktisch“ sein kann, müssen wir das Verhältnis ihres Gesetzes zum endlichen Subjekt so verstehen, dass „der objektive Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse“ (KpV 5:72, Hervorhebung von mir). Kant insistiert also darauf, dass die Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Bestimmungsgrund im Fall moralischer Handlungen eine reine Aspekt-Differenz ist: Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes selbst, das für den Willen einen objektiven Bestimmungsgrund darstellt, soll „zugleich“ diejenige Triebfeder sein, die als subjektiver Bestimmungsgrund für die Willkür fungiert.¹⁸¹ Sofern aber der Begriff einer Triebfeder eine Vorstellung charakterisiert, die die kausale Funktion des Begehrens besitzt – nämlich „Ursache der Gegenstände dieser Vorstellung […] zu sein“ (MS 6:211) – und mithin ein Bestreben oder einen Antrieb zum Ausdruck bringt, sollte man annehmen, dass Kant im Kapitel „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ ein Argument für die Möglichkeit einer Aktualisierung des Begehrungsvermögens präsentiert, die jenseits der empirischen Bedingung der existenziellen Abhän Wir können uns an dieser Stelle nicht mit der Beschreibung begnügen, dass die Abhängigkeit von sinnlichen Triebfedern bloß den Inhalt oder die Materie des Begehrens betrifft, während die Form des Begehrens unabhängig von diesen Triebfedern und a priori durch den reinen Willen bestimmt wird. Das Gesetz der Freiheit ist kein Selektionsprinzip, das auf Inhalte angewendet wird, die unabhängig von diesem Prinzip und auf „heteronome“ Weise gegeben wären. Die Art und Weise, in der die Willkür auf Affektionen der Rezeptivität des Gefühls Bezug nimmt, lässt sich schließlich nicht so beschreiben, dass sie gewissermaßen „fertige“ oder „gegebene“ Inhalte „aufnimmt“. Sie macht letztere vielmehr „unbestimmt“. Einen Gehalt besitzt eine Triebfeder nur in dem Maße, wie sie einen Teil des begrifflich artikulierten Gegenstandsbezugs des Begehrens bildet. Und dieser Gegenstandsbezug ist bereits durch die Form des Selbstbewusstseins geprägt. Vgl. dazu Engstrom 2010b, S. 93.
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4 Gesetz und Begehren
gigkeit von rezeptiven Triebfedern besteht. Die Erwartung lautet, mit anderen Worten, dass Kant uns erklärt, wie die formale Willensbestimmung der reinen praktischen Vernunft ein subjektiv hinreichender Bestimmungsgrund, d. h. eine auch „äußerlich zureichende“ Kraft der Willkür sein kann. Es hat aber den Anschein, dass er exakt diese Erklärung gar nicht liefert: „Also werden wir nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, sofern es eine solche ist, sie im Gemüte wirkt (besser zu sagen, wirken muß), a priori anzuzeigen haben“ (KpV 5:74). Kants Begründung dafür lautet, dass wir gar nicht einsehen können, „wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne“, denn diese Frage laufe letztlich auf die Frage hinaus, „wie ein freier Wille möglich sei“ (KpV 5:74).¹⁸² Seine Ausführungen über die negative und die positive Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl des Subjekts, die in der Haltung der „Achtung für das Gesetz“ resultiert und die er als Effekt der Weise deutet, in der das Bewusstsein des Gesetzes „im Urteile der Vernunft“ (KpV 5:75) die Ansprüche der „Selbst-Liebe“ und des „Eigendünkels“ (d. h. der „natürlichen“ Tendenzen der endlichen Willkür im praktischen Urteilen) zurückweist, – diese Ausführungen beschreiben also gar nicht, wie das Gesetz Triebfeder wird, sondern dessen Auswirkungen auf die „pathologische“ Konstitution des endlichen Begehrungsvermögens, und zwar unter der Bedingung, dass das Gesetz bereits als eine Triebfeder betrachtet werden kann.¹⁸³ Das Rätsel, inwiefern wir die freie Willkür als eine Realisierung des reinen Willens verstehen können, wenn sie in ihrer Realisierung von Triebfedern der Rezeptivität existenziell bedingt bleibt, wandelt sich somit in ein zweites Rätsel, das Kants Willenskonzeption umgibt und gleichermaßen auf die Realisierungsbedingung des Begehrens bezogen ist: Wie lässt sich die reine praktische Vernunft und ihr Gesetz selbst als eine Form des Begehrens verstehen? Es ist offensichtlich, dass wir sie nicht außerhalb des Begehrungsvermögens setzen können, auf den Thron eines moralischen Gesetzgebers etwa, der an eine begehrende Instanz „Befehle“ erteilte oder bloße Er-
Dass eine Einsicht in die Identität von Gesetz und Triebfeder philosophisch nicht zu erreichen ist, hat Kant bereits am Ende der Grundlegung betont (siehe GMS 4:461 f.). Es ist aber nicht ganz klar, was Kant hier eigentlich meint.Wenn es nur darum geht, eine theoretische (metaphysische oder empirische) Erkenntnis über die Wirklichkeit der Freiheit und die unmittelbare Bestimmbarkeit eines endlichen Willens durch reine Vernunft zurückzuweisen (vgl. Höwing 2013a, S. 220 f.) – oder gar eine psychologische Erklärung moralischer Motivation auszuschließen (vgl. Schadow 2013, S. 240) –, dann hat Kant noch nicht gezeigt, dass auch eine praktische Metaphysik an einer solchen Erklärung scheitern muss. Ob aber eine transzendentale Analyse des praktischen (oder moralischen) Selbstbewusstseins (resp. eine transzendentale Theorie des Begehrungsvermögens) nicht mehr über das Verhältnis von Gesetz, Triebfeder und Begehren sagen kann als eine „bloße“ Untersuchung des phänomenologischen Effekts eines bereits als Triebfeder verstandenen moralischen Urteilens, scheint mir damit noch nicht erwiesen zu sein. Vgl. zu dieser Lesart des dritten Hauptstücks der Analytik der zweiten Kritik Schadow 2013, S. 239 – 241, sowie Höwing 2013a, S. 219 – 222. Diese Deutung ist freilich in der Kantforschung umstritten. Ich werde im Abschnitt 4.4. noch etwas genauer auf die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Triebfeder eingehen.
4.3 Diesseits und jenseits des Lustprinzips: Die Selbstentzweiung der Spontaneität
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kenntnisse des Guten anlieferte. Das wäre absurd und würde der reinen praktischen Vernunft ihren praktischen Charakter nehmen. Um dies zu vermeiden, ist also erforderlich, sie als Begehren zu verstehen, was wiederum bedeutet, dass sie in einer inneren Beziehung zur empirischen Relation der Kausalität (und deren empirischen Bedingungen) steht, die das Begehrungsvermögen definiert. In der Einleitung der Metaphysik der Sitten schreibt Kant folgerichtig, dass der Wille das Begehrungsvermögen ist, „dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben, in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird“ (MS 6:213, Hervorhebung von mir). Dass die Vernunft also einen inneren Bestimmungsgrund des Begehrens enthält besagt, dass „in ihr“ das „Belieben“ liegt. Wie aber kann die reine Vernunft ein „Belieben“ sein, wenn das Begehrungsvermögen gerade durch eine kausale Relation definiert ist, die einer Bestimmung der Rezeptivität existenziell bedarf? Wie ist ein Begehren „jenseits des Lustprinzips“ denkbar? Um mich diesen zwei Seiten desselben Rätsels zu nähern und die Kontur seiner möglichen Auflösung zu skizzieren, werde ich zunächst versuchen, das Verhältnis von Wille und Willkür nochmal etwas genauer zu beschreiben. Betrachten wir dieses Verhältnis vor dem Hintergrund der Überlegungen des ersten Teils, dann lässt sich erwarten, dass die Einheit der intelligiblen und empirischen Aspekte des Begehrungsvermögens in der Spontaneität des Begehrens selbst liegen muss. Das setzt voraus, dass die Spontaneität die empirischen Bedingungen des Begehrens in sich reflektiert, d. h. dass sie sich „verdoppelt“. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Einsicht, dass in der Realisierung eines zugleich empirischen und intelligiblen Begehrungsvermögens die empirische Bestimmung eines kausalen Vorstellungsverhältnisses (die kausale Abhängigkeit des Begehrens von Gefühlen in der Hervorbringung von Gegenständen) mit einer intellektuellen Bestimmung dieses Vorstellungsverhältnisses (im Sinne eines Verhältnisses der existenziellen Abhängigkeit) zusammenkommen muss. Der Wille, als spontanes Vermögen der rein intellektuellen Bestimmung des Gegenstandsbezugs des Begehrens, benötigt deshalb eine Willkür, die als Kraft der Aktualisierung einer intellektuellen Bestimmung begriffen wird. Betrachten wir die Willkür derart als Kraft, so enthält sie, anders als der Wille, eine Rücksicht auf die Spezifizität der empirischen Bestimmung, die als Bedingung der Realisierung in die Definition des Begehrens eingeht. In der Rekonstruktion der Spontaneität des Begehrungsvermögens, die ich im vorigen Abschnitt ausgeführt hatte, wurde sichtbar, dass Wille und Willkür notwendig aufeinander bezogen sind: Die Willkür ist als das Vermögen definiert, durch reine praktische Vernunft bestimmt zu werden; der Wille wiederum ist als das Vermögen definiert, die Willkür durch reine Vernunft zu bestimmen. Willkür und Wille scheinen somit in einer unmittelbaren Einheit zusammenzufallen: der Einheit der Autonomie. Bedeutet dies, dass wir es im Fall des menschlichen Begehrungsvermögens gar nicht mit einer „Verdopplung“ der Spontaneität in Vermögen und Kraft in irgendeinem signifikanten Sinne zu tun haben? Sollten wir nicht eher konzedieren, dass die Willkür nicht mehr als einen Aspekt des Willens beschreibt – nicht mehr als die bloße Ausführung oder Realisierung des Willens, das „principium der Execution“, der ver-
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schwindende Vermittler, der die Bestimmung des Willens im Sinne des „principium der diiudication“ in die empirische Realität hinüberträgt (Kant 2004, S. 68)? Betrachten wir diese Einheit aus einer strikt vermögenstheoretischen Perspektive, dann wird ersichtlich, dass diese Auffassung nur eine einseitige und oberflächliche Beschreibung des Verhältnisses von Wille und Willkür erreicht. Kants Unterscheidung ist nicht bloß eine Unterscheidung zwischen zwei Funktionen des Willens: der Funktion der Bestimmung und der Funktion der Ausführung der Bestimmung. Ihre eigentliche Pointe liegt darin, diese Unterscheidung im Sinne einer Differenz zwischen zwei Formen der Einheit zwischen Wille und Willkür zu formulieren.Wir hatten deutlich gemacht, dass der Wille intern auf die Willkür und die Willkür intern auf den Willen bezogen ist. Die entscheidende Einsicht lautet an dieser Stelle, dass beide Bezüge nicht identisch sind: Die Art, in der sich der Wille auf die Willkür bezieht, müssen wir von der Art unterscheiden, in der sich die Willkür auf den Willen bezieht. Kant behauptet, dass die Willkür „unter dem Willen“ enthalten ist (MS 6:213). Das ist eine Beschreibung, die sich auf den Willen bezieht: Der Wille enthält die Willkür, weil er ein Bewusstsein der Bestimmung der Willkür ist und somit letztere unter eine objektive Einheit des praktischen Selbstbewusstseins bringt. Betrachten wir aber ihr Verhältnis aus der Perspektive der Willkür, dann müssen wir es so beschreiben, dass die Willkür sich selbsttätig unter den Willen bringt, d. h. genauer: unter eine subjektive Einheit des praktischen Selbstbewusstseins. Inwiefern können wir damit eine veritable „Verdopplung“ der Spontaneität verbinden? Meine Annahme dazu lautet, dass wir die inhärente Problematik eines freien Begehrungsvermögens nicht angemessen verstehen, wenn wir nicht in einer ersten Beschreibung konzedieren, dass diese zweifache Einheit von Wille und Willkür einer Selbstentzweiung der praktischen Spontaneität gleichkommt. Im dritten Kapitel dieser Studie hatte ich Kants Begriff der Einbildungskraft im Sinne einer „spontanen Rezeptivität“ gedeutet: Die Einbildungskraft bestimmt sich aus Spontaneität zur Rezeptivität, d. h. sie entspricht einer „Kraft“ der selbsttätigen Aufrechterhaltung der Rezeptivität des Sinnlichen als Rezeptivität. Die Willkür können wir nun analog zu dieser Beschreibung so auffassen, dass sie eine Spontaneität darstellt, die die Rezeptivität des Begehrens als Spontaneität zur Geltung bringt. Wie lässt sich für diese Fassung der Willkür argumentieren? Die Antwort liegt in ihrem eigentümlichen Status als „hybride“ Form der Spontaneität: in der Tatsache, dass sie die „Mitte“ oder „Vermittlung“ zwischen praktischer Spontaneität und praktischer Rezeptivität und somit die interne Reflektion der Rezeptivität in der Spontaneität ist. Auf dieser Grundlage besitzt die Willkür – im Sinne der Kraft der Realisierung des Willens – wesentlich zwei Orientierungen. Ihre erste Orientierung ergibt sich aus der materiellen Rezeptivitätsbedingung der Aktualisierung, sofern die kausale Hervorbringung einer Handlung den Begriff des Begehrungsvermögens definiert und diese Hervorbringung in einer existenziellen Abhängigkeit zu rezeptiv konstituierten Triebfedern steht. Das Verhältnis zwischen Begehren und Gefühl ist
4.3 Diesseits und jenseits des Lustprinzips: Die Selbstentzweiung der Spontaneität
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keines der kausalen Determination, sondern eine Relation des „Einflusses“:¹⁸⁴ Die Willkür muss sich selbsttätig von rezeptiven Triebfedern beeinflussen lassen, um handlungseffektiv sein zu können.¹⁸⁵ Darin besteht aber nur die eine Bedingung der Aktualisierung, denn die Relation der existenziellen Abhängigkeit zwischen Begehren und Gefühl enthält keine Erklärung der kausalen Effektivität der Vorstellung. Damit Vorstellungen eines freien Begehrens Kausalität gewinnen, bedarf es zudem einer normativen oder intellektuellen Bestimmung. Die zweite Orientierung der Willkür liegt daher in der intelligiblen Gelingensbedingung: Als praktisches Urteilsvermögen richtet sich die Willkür nach Gründen, auf deren Basis der begehrende Bezug auf praktische Gegenstände, der durch Gefühle oder Neigungen vermittelt ist, Bestimmtheit gewinnt. Deshalb enthält die Willkür zugleich einen Willen – ein reflexives Begehren oder eine „empirisch-bedingte Vernunft“ (KpV 5:16). Beide Orientierungen sind erforderlich: Damit die intellektuelle Bestimmung und das Bewusstsein der kausalen Effektivität der eigenen Vorstellungen zusammenkommen, bedarf es einer normativen Bestimmung des existenziellen Verhältnisses zwischen Gefühl und Begehren. Ohne die subjektiv-kausale Dynamik des Gefühls wäre es für einen endlichen Willen nicht möglich, ein Bewusstsein der Effektivität der eigenen Vorstellungen zu erlangen. Darin besteht die Endlichkeit des Begehrens. Um ein Vorstellungsverhältnis der praktischen Kausalität auszubilden, ist das Begehren auf einen kausalen Einfluss angewiesen; und erst auf dieser Basis ist es in der Lage, kausale Einflüsse unbestimmt zu machen und im Sinne von Relationen der existenziellen Abhängigkeit selbsttätig aufrechtzuerhalten. Die darin liegende Möglichkeit der intellektuellen Bestimmung des praktischen Vorstellungsverhältnisses kann nur unter dieser Voraussetzung so gedacht werden, dass sie sich zuletzt auf die Bestimmung einer kausalen Relation bezieht. Ein derartiger „minimaler Empirismus“ ist daher aus Kants Theorie des Begehrungsvermögens nicht wegzudenken. Die Willkür folgt also Triebfedern, indem sie praktische Urteile fällt. Und indem sie praktische Urteile fällt, subsumiert sie sich unter den Willen im Sinne einer subjektiven Einheit des Selbstbewusstseins. In diesem Sinne enthält die Willkür praktische Vernunft: das Vermögen, aufgrund der Vorstellung eines Prinzips praktische Urteile zu fällen, die zugleich Ausdruck von Triebfedern sind. Die Vernunft gehört, in anderen Worten, zum Selbstbewusstsein der Willkür: Sie beschreibt die Tätigkeit des praktischen Nachdenkens, d. h. die Mittel und Zwecke zu erwägen, die zur Realisierung rezeptiver Triebfedern taugen. Die Frage lautet aber nun, wie die Willkür, indem sie sich derart unter die Einheit des Willens bringt, die Tätigkeit der praktischen Vernunft auf die sinnliche Rezeptivitätsbedingung ihrer Aktualisierung bezieht. Wenn wir sie so verstehen können, dass sie die Rezeptivität des Begehrens als Spontaneität zur Geltung bringt, dann „verpflichtet“ sie die Vernunft auf jene Rezeptivitätsbedin-
Siehe GMS 4:458. Darin liegt der Grund, weshalb, wie Angelica Nuzzo in Ideal Embodiment schreibt, der „Einfluss“ von Neigungen „zugleich unbestreitbar und unvermeidbar“ ist (Nuzzo 2008, S. 143).
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gung. Sie macht das, was aus der Sicht des reinen Willens eine bloß empirische Bedingung seiner Realisierung darstellt, zu einer Gelingensbedingung des Begehrens. Kant bezeichnet dies als einen „nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit“ (KpV 5:61), oder genauer – von Seiten der Willkür: Die empirisch bedingte Vernunft hat die Aufgabe einer „Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind“ (KrV A 800). Und sie bezieht sich dabei auf das Ideal der „Glückseligkeit“ (KpV 5:124) resp. folgt dem Prinzip der „Selbstliebe“ (KpV 5:74), das eine Vorstellung der Einheit eines empirisch bedingten Willens enthält. Nun stellt sich freilich die Frage, wie wir vor dem Hintergrund einer derart „hybriden“ Form der praktischen Spontaneität Kants Definition der Freiheit der Willkür verstehen sollen, der zufolge die Willkür wesentlich die Fähigkeit zur Realisierung des reinen Willens ist. Zunächst muss die Antwort natürlich lauten, dass die Willkür sich nur in dem Maße unter eine subjektive Einheit des Willens subsumieren kann, wie sie sich dabei auch zugleich unter die objektive Einheit des praktischen Selbstbewusstseins bringt, die durch die reine praktische Vernunft und ihr Gesetz gestiftet ist.¹⁸⁶ Kant beschreibt das praktische Selbstverständnis, das in der Willkür des Subjekts liegt und sich im Prinzip der „Selbstliebe“ ausdrückt, folgerichtig als den „Hang, sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen“ (KpV 5:74). An dieser Formulierung wird einerseits klar, dass Kant die vermögenstheoretische Bestimmung der Willkür – im Sinne der „Kraft“, die Rezeptivität des Begehrens als Spontaneität zur Geltung zu bringen – in der Tat selbst vertritt. Die Formulierung macht aber andererseits auch deutlich, dass die Weise, in der die Willkür ihre zweifache Orientierung an den Realisierungsbedingungen der Rezeptivität und Spontaneität „zuerst“ oder „natürlicherweise“ organisiert,¹⁸⁷ einem „pathologischen“ Willen entspricht, der sich dem reinen Willen entgegensetzt. Auch wenn die Disposition der „Selbstliebe“ – die eine „natürliche“ Tendenz des praktischen Urteilens in dem Maße zum Ausdruck bringt, wie sie die „Natur“ eines endlichen Begehrungsvermögens reflektiert¹⁸⁸ – immer schon eine Aktualisierung der reinen praktischen Vernunft impliziert: Sie entspricht einer veritablen Entzweiung der praktischen Spontaneität insofern, als im Selbstbewusstsein der Willkür die Ordnung der praktischen Prinzipien im Verhältnis zum Selbstbewusstsein des reinen Willens eine verkehrte ist. In den praktischen Urteilen seiner Willkür bringt sich das endliche Subjekt unter die Einheit seines Willens, und zwar derart, dass es dabei das reine Gesetz der Vernunft und das Prinzip der
Im Kapitel 5.2. werde ich den Versuch machen, ein Argument zu formulieren, wieso dies notwendig der Fall ist. Vgl. KpV 5:74. Anders als Kant anzunehmen scheint – vgl. KpV 5:74, wo er schreibt, dass „wir aber unsere Natur als sinnliche Wesen so beschaffen [finden]“ –, entspricht die Beschreibung eines „pathologischen“ Willens somit keiner anthropologischen oder moralpsychologischen Erkenntnis, die der Transzendentalphilosophie äußerlich wäre. Sie hat vielmehr einen vermögenstheoretischen Grund.
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Glückseligkeit in ein bestimmtes Verhältnis setzt¹⁸⁹ – ein Verhältnis, das im vorliegenden Fall einer „ursprünglichen Korruption“ des Gesetzes gleichkommt. Diese „Korruption“ ist aber kein Unfall oder Zufall, sondern ist vielmehr in der transzendentalen Struktur des menschlichen Begehrungsvermögens begründet.¹⁹⁰ Aus diesem Grund können wir sie auch als eine Art „transzendentale Illusion“ deuten, d. h. als einen Irrtum oder Fehler, der in der Konstitution der praktischen Vernunft (im Sinne des praktischen Selbstbewusstseins der Willkür) liegt.¹⁹¹ Da aber die Pointe der reinen praktischen Vernunft darin bestehen muss, die objektive und notwendige Einheit des Wollens zu bestimmen, kann die Freiheit der Autonomie nur darin liegen, dass der Wille sich selbst als einen anderen will: dass er sich nur in dem Maße auf sich selbst bezieht, wie er seine Willkür mit der Forderung nach einem Begehren konfrontiert, das nichts mehr von „Willkür“ an sich hat. Wir haben es hier mit der Struktur einer „Spaltung“ zu tun, die Hannah Arendt in den zwei Bänden Vom Leben des Geistes als Struktur des „Zwei-in-einem“¹⁹² bezeichnet hat: Die Spaltung ereignet sich im Willen selbst; der Konflikt entsteht weder aus einer Spaltung zwischen Geist und Willen noch aus einer Spaltung zwischen Fleisch und Geist. Das zeigt sich schon daran, daß der Wille stets in Imperativen spricht: ‚Du sollst wollen‘, sagt der Wille zu sich selbst. Nur der Wille selber kann solche Befehle geben, und „wäre der Wille ‚ganz‘, so würde er sich nicht befehlen, [es] zu sein“. Es ist dem Willen eigen, daß er sich verdoppelt, und in diesem Sinne gilt: wo ein Wille ist, da sind stets „zwei Willen, von denen keiner ganz ist, und was dem einen gegenwärtig ist, ist es dem anderen nicht“. (Arendt 1998, S. 328)¹⁹³
Diese Darstellung einer Selbstentzweiung des spontanen Begehrens entspricht offensichtlich einer Verschärfung des Problems der Einheit der Willensfreiheit. Meiner Auffassung zufolge handelt es sich jedoch um eine Verschärfung, die die subjektive Wirklichkeit eines zugleich endlichen und autonomen Willens wesentlich charakterisiert. Wenn also hier auf dem Gedanken einer Selbstentzweiung des freien Willens insistiert wird, dann geschieht dies nicht aufgrund einer fehlgeleiteten Leidenschaft für Paradoxien, sondern um den Gedanken zu akzentuieren, dass ein freies Begehrungsvermögen eine problematische Konstitution besitzt – d. h. eine Verfasstheit, die für zugleich endliche und autonome Subjekte ein Problem generiert –, und dass eine „Lösung“ dieses Problems eine Frage des praktischen Selbstverhältnisses darstellt,
Vgl. Religion 6:36. Thomas Höwing hat dies sehr treffend als eine unvermeidbare „Tendenz“ beschrieben, die in der „Struktur der endlichen praktischen Vernunft selbst“ liegt (Höwing 2013a, S. 204). Vgl. dazu Ware 2014, S. 736, der vor allem mit Blick auf den kantischen Begriff des „Eigendünkels“ vorgeschlagen hat, diese „Illusion“ als eine transzendentale zu deuten: als eine irrtümliche Disposition des praktischen Schließens, die darin besteht, „to mistake a maxim of satisfying the inclinations for an unconditional principle of the will“. Siehe Arendt 1998, S. 298 f., 327 f. Die Passagen in französischen Anführungszeichen markieren von Arendt nicht ausgewiesene Augustinus-Zitate.
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das in der Verwirklichung des Begehrens auf dem Spiel steht. Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass wir der theoretischen Kontur einer Überwindung der Selbstentzweiung in dem Maße näherkommen, wie wir zwei Überlegungen miteinander kombinieren: die Einsicht in die zwei Formen der Einheit von Wille und Willkür einerseits und die zwei Seiten des Rätsels eines Begehrens jenseits des Lustprinzips andererseits. Die Kontur einer praktischen Lösung für das Problem der Selbstentzweiung lässt sich dann so zeichnen, dass wir die Art und Weise, in der die Willkür intern auf den Willen und der reine Wille intern auf die Willkür bezogen ist, im Licht der beiden Seiten des Rätsels neu beschreiben. Das Rätsel der freien Willkür besteht in der Schwierigkeit, sie als eine Realisierung des reinen Willens zu verstehen, wo sie doch in ihrer Realisierung von Triebfedern der Rezeptivität existenziell bedingt bleibt. Aus Gründen ihrer vermögenstheoretischen Verfasstheit ist die Willkür, für sich betrachtet, zu einer Realisierung des reinen Willens nicht in der Lage. Daher müssen wir die Art und Weise, in der sich der reine Wille auf die Willkür bezieht, so denken, dass er sie dazu befähigt, ohne Rücksicht auf „pathologische“ Triebfedern zu urteilen und zu handeln. Das setzt aber voraus, dass der reine Wille in eine Beziehung zur Rezeptivitätsbedingung der Willkür treten kann. Folglich bedarf es einer Lösung des zweiten Aspekts des Rätsels: Wie lässt sich der reine Wille selbst als ein Begehren begreifen, wenn letzteres kategorial durch eine kausale Relation definiert ist, die eine rezeptive Bestimmung erfordert? Um wenigstens im Ansatz zu klären, wie dieser Begehrenscharakter des reinen Willens und jene Befähigung der Willkür durch den Willen zu begreifen ist, werde ich mich im Folgenden einer Diskussion des Abschnitts „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ aus der zweiten Kritik zuwenden. Dabei wird mit und gegen Kant zu zeigen sein, dass der Bezug des moralischen Prinzips auf die Rezeptivität des Gefühls sich nicht darin erschöpfen darf, den Einfluss des letzteren auf die Willkür schlicht zu eliminieren und solcherart das empirisch bedingte Selbstbewusstsein des Subjekts zu „demütigen“. Auf diese Weise gelangt man nicht zur Autonomie des endlichen Subjekts. Die Weise, in der sich das Bewusstsein des moralischen Gesetzes auf die Rezeptivität des Gefühls bezieht, sollte vielmehr so gedacht werden, dass sie im Einklang mit den Bedingungen der Rezeptivität geschieht: Das Subjekt (im Sinne des reinen Willens) müsste sich selbst (im Sinne der freien Willkür) auf sinnliche Weise demonstrieren können, dass es jenseits des Lustprinzips begehren und ohne Rückhalt durch „pathologische“ Triebfedern handeln kann; und dabei müsste auch erfahrbar werden, dass seine Freiheit ihre Wirklichkeit in einer anderen (nicht-pathologischen) Verfasstheit des Begehrens hat.
4.4 Die Triebfeder des reinen Willens: Rezeptiv reflektierte Selbstaffektion In der Kantforschung wird das dritte Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft zumeist als eine moralpsychologische Untersuchung gelesen, in der
4.4 Die Triebfeder des reinen Willens: Rezeptiv reflektierte Selbstaffektion
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Kants Beitrag zur Frage nach der Möglichkeit moralischer Motivation zu finden ist.¹⁹⁴ Andere Deutungen setzen den Akzent eher darauf, dass es sich um ein moralphänomenologisches Argument handelt, das einen Typus der emotionalen Erfahrung a priori zu charakterisieren versucht, in dem sich ein endliches Subjekt als moralisch motiviert bewusst wird. ¹⁹⁵ Gegen beide Deutungsstränge will ich versuchen, die implizite vermögenstheoretische Dimension von Kants Überlegungen in den Vordergrund zu stellen. Eine Lektüre des Triebfedern-Kapitels im Licht der Differenz von Wille und Willkür – sowie in Hinsicht auf die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen dem reinen Willen und der rezeptiven Bedingtheit der Willkür zu begreifen –, erlaubt uns, so meine Auffassung, eine neue Perspektive auf den Begehrenscharakter der reinen Vernunft und damit die Möglichkeit eines Willens jenseits des Lustprinzips zu entwickeln. Wirft man einen erneuten Blick auf Kants Formulierung der Aufgabenstellung des dritten Hauptstücks der Analytik, dann hat es den Anschein, als ob der anschließenden Argumentation eine gewisse Zweideutigkeit anhaftet. Auf der einen Seite stellt Kant in Aussicht, „nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, sofern es eine solche ist, sie im Gemüte wirkt […], a priori anzuzeigen“ (KpV 5:72). Auf der anderen Seite charakterisiert er das gleiche Unternehmen aber auch so, dass es ihm darum gehe, „sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen, als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe, vorgehe“ (KpV 5:72). Diese Beschreibung suggeriert zweierlei. Einerseits sind wir angehalten, die Frage nach der „Art“, in der das Gesetz Triebfeder wird, von der Frage nach dem „Grund“ zu unterscheiden, der die Einheit von Gesetz und Triebfeder erklärt. Die Frage nach der „Art“ scheint einer philosophischen Beantwortung fähig, während dies für die Frage nach dem „Grund“ nicht gilt. Anderseits sollen wir jene Frage nach der Art und Weise, wie das Gesetz „in sich“ die Gestalt einer Triebfeder annimmt, von der Frage nach der Wirkung abheben, die das Gesetz, sofern es Triebfeder ist, im „Gemüte“ auf das „menschliche Begehrungsvermögen“ entfaltet. Nimmt man beide Perspektiven zusammen, erwächst offensichtlich eine Zweideutigkeit: Müssen wir Kant hier so verstehen, dass er die Wirksamkeit der Vorstellung des Gesetzes im Sinne einer Triebfeder voraussetzt? Oder dürfen wir annehmen, dass er diesen Triebcharakter eigenes erläutert und einführt? Das Bild, das Kant von der „Achtung fürs Gesetz“ zeichnet, schwankt dementsprechend zwischen einer unmittelbaren Anerkennung der Autorität des Gesetzes (die im Kontext des Kapitels nicht weiter aufgeklärt wird, sondern als Prämisse des Argument funktioniert) und einer indirekten Wirkung der Gesetzesvorstellung aufs Gefühl (die zwar extensiv behandelt wird, aber von der Wirksamkeit des Gesetzes als Triebfeder abhängig zu sein scheint). Lässt sich diese Ambiguität auflösen?
Siehe etwa Beck 1995, S. 198 f.; Reath 2006, S. 8; McCarty 1993, S. 421 f. Vgl. etwa Allison 1990, S. 121; Schadow 2013, S. 240; Höwing 2013a, S. 219 – 222.
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Kants Argumentation umfasst vier Schritte.¹⁹⁶ Der erste Schritt setzt an derjenigen Einsicht an, die er am Ende des ersten Hauptstücks der Analytik in der „Deduktion der Grundsätze“ als erwiesen ansieht, nämlich dass das oberste Prinzip der reinen praktischen Vernunft als unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens angesehen werden sollte: „Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objektiv und unmittelbar den Willen im Urteile der Vernunft“ (KpV 5:78). Wir haben es demnach mit einer reflexiven Aktualisierung des Begehrungsvermögens zu tun, und zwar mit einer Aktualisierung des reinen Willens in einem „Urteile der Vernunft“. Seiner berühmten These vom „Faktum der Vernunft“ (KpV 5:31) zufolge geht Kant davon aus, dass „die Menschen“ (KpV 5:32) in der gewöhnlichen Ausübung ihrer Fähigkeit zur praktischen Überlegung, „unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte[n]“ (KpV 5:32). Wenn aber das moralische Gesetz dem praktischen Bewusstsein a priori „gegeben“ ist (KpV 5:31) – und zwar derart, dass selbst „der gemeinste Verstand“ dasjenige, was aus dem moralischen Gesetz für das eigene Handeln folgt, in seiner Reflexion einsieht und anerkennt (KpV 5:36) –, dann besitzt dieses Gesetz eine Aktualität und Wirksamkeit in unserer Tätigkeit des praktischen Nachdenkens, die der Erläuterung bedarf: In welchem Sinne handelt es sich um eine Aktualisierung unseres Begehrungsvermögens (in der Form des Willens)? Und müssen wir dieser Aktualisierung bereits den Status einer „Triebfeder“ zuschreiben? Darin liegt die erste Schwierigkeit, die für eine vermögenstheoretische Lesart von Kants Argumentation relevant ist. Ausgehend von dieser Prämisse bestimmt er nun in einem zweiten Schritt die notwendige Wirkung, die das „Urteil der Vernunft“ auf die praktische Rezeptivität des endlichen Subjekts haben muss. Zunächst hält Kant allgemein fest, dass dieser Effekt ein negativer ist, weil das reflexive Bewusstsein des moralischen Gesetzes den Einfluss von endlichen Bedürfnissen und Neigungen auf die Willensbildung dadurch unterbricht, dass es deren Rolle als Bestimmungsgründe des Willens normativ zurückweist und „auf die Bedingung der Befolgung [des] reinen Gesetzes einschränkt“ (KpV 5:78). Aus einer derartigen Zurückweisung ergibt sich zwangsläufig, so Kant, ein Gefühl der Unlust oder des „Schmerzes“ (KpV 5:73): ein affektives Bewusstsein davon, dass die „Abweisung“ und der damit zusammenhängende „Abbruch aller Neigungen“ unangenehm für das Subjekt ist (KpV 5:72). Weil jedoch ein derartiger „Schmerz“ allein die Tatsache der Unterbrechung des Einflusses „pathologischer“ Triebfedern registriert, ohne dabei den spezifischen Grund zu reflektieren, aus dem der „Abbruch aller Neigungen“ erfolgt,¹⁹⁷ konkretisiert Kant in einem zweiten Anlauf die negative Wirkung des „Urteils der Vernunft“ auf die Rezeptivität des endlichen Subjekts im Sinne eines „Abbruchs“ der „Eigenliebe“ und einer „Niederschlagung“ des „Eigendünkels“ (KpV 5:73). Mit den Begriffen der Eigen- oder Selbstliebe sowie des Eigendünkels
Eine Zusammenfassung seines Arguments liefert Kant selbst: In der Passage in KpV 5:78 f. lassen sich leicht die vier Schritte ausmachen, die im Folgenden rekonstruiert werden. Vgl. Engstrom 2010b, S. 100.
4.4 Die Triebfeder des reinen Willens: Rezeptiv reflektierte Selbstaffektion
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verbindet Kant Dispositionen des praktischen Urteilens, die für die menschliche Willkür im Sinne einer Aktualisierung des intellektuellen Begehrungsvermögens charakteristisch sind. In beiden Fällen haben wir es mit Tendenzen des Urteilens zu tun, in denen eigene Neigungen und „pathologische“ Triebfedern, die durch Gefühle der Lust und Unlust konstituiert werden, als objektiv gültige und gerechtfertigte Handlungsgründe behandelt werden.¹⁹⁸ Kants Benennungsstrategie spiegelt deutlich die moralische Abwertung wider, die diese Tendenzen aus der Sicht der reinen praktischen Vernunft verdienen: Die Selbstliebe beschreibt eine egozentrische Sorge um das eigene Wohlergehen und die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Neigungen,¹⁹⁹ während der „Eigendünkel“ noch einen Schritt weiter geht und eine narzisstische Hochschätzung seiner selbst insofern zum Ausdruck bringt, als er darauf zielt, den normativen Ansprüchen der Selbstliebe universale Geltung zuzubilligen.²⁰⁰ Für den „Hang“ der Selbstliebe ist zunächst nur kennzeichnend, dass er sich um das eigene Wohlergehen dreht und eine entsprechende Wertschätzung der eigenen Person (als Inbegriff von Wünschen und Neigungen, die auf das eigene Glück gerichtet sind) enthält; die Haltung des Eigendünkels hingegen fokussiert, wie Andrews Reath mit Blick auf Passagen aus der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten ²⁰¹ behauptet, auf die Würde oder das Ansehen der eigenen Person in den Augen Anderer: „It is a desire to be highly regarded, or a tendency to esteem oneself over others“ (Reath 2006, S. 15). Kants These lautet nun, dass das moralische Urteil der Vernunft eine negative Wirkung auf Gefühle der Lust und Unlust in erster Linie deshalb hat, weil es das „natürliche“ Selbstverständnis des endlichen Willens, das sich in den Tendenzen der Selbstliebe und des Eigendünkels artikuliert, normativ zurückweist. Klammern wir für einen Moment die moralische Bewertung dieser beiden Urteilstendenzen ein, dann sehen wir besser, dass sich Kant hier (zumindest implizit) auf die vermögenstheoretische Konzeption der Willkür bezieht: auf das praktische Selbstbewusstsein, das in dem Akt liegt, durch den sich die Willkür unter die subjektive Einheit des Willens bringt. Das Urteil der Vernunft, in dem das Subjekt die Autorität des moralischen Gesetzes anerkennt, richtet sich damit zugleich gegen die Rezeptivitätsorientierung der Willkür – gegen ihr praktisches Selbstverständnis, demzufolge die empirische Bedingung ihrer Realisierung gleichzeitig eine Gelingensbedingung des Urteilens darstellt; und in dem Maße, wie das Vernunfturteil eine Haltung der Anerkennung seitens des Subjekts ausdrückt, muss die intellektuelle Zurückweisung der Ansprüche, die Selbstliebe und Eigendünkel in den praktischen Urteilen der Willkür zur Geltung bringen, auch eine Zurückweisung des Einflusses von Gefühlen und Neigungen enthalten, die selbst affektiv spürbar wird. Die Ablehnung der Ansprüche der Selbstliebe trifft die Orientierung am Wohlergehen der eigenen Person und führt mithin zu einem Siehe KpV 5:74. Siehe Reath 2006, S. 14 f. Zu einer sorgfältigen und ausführlichen Interpretation der Begriffe der Selbstliebe und des Eigendünkels bei Kant vgl. Reath 2006, S. 14– 17, 23 – 25, sowie Engstrom 2010b, S. 101– 111. Vgl. MS 6:448 – 468.
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Gefühl des Schmerzes; die Ablehnung der Ansprüche des Eigendünkels trifft die narzisstische Hochschätzung der eigenen Person und führt damit zu einer Empfindung der Kränkung oder „Demütigung (intellektuelle[n] Verachtung)“ (KpV 5:75). Im dritten Schritt seiner Argumentation zeigt Kant nun, dass die Wirkung des moralischen Vernunfturteils auf die Rezeptivität des endlichen Subjekts (resp. auf dessen Orientierung an der Rezeptivität) zwei Seiten hat: Betrachtet man sie als Wirkung auf die Rezeptivität der Willkür, dann ist sie negativ und hat einen pathologischen Charakter, da sie einer Erfahrung von Unlust, des Unangenehm-Seins-fürmich entspricht.²⁰² Betrachtet man dieselbe Wirkung aber hinsichtlich ihrer Quelle oder ihres Grundes – eine Hinsicht, die zunächst nicht im Gefühl des Schmerzes oder der Demütigung selbst liegt, sondern „im Urteile der Vernunft“ (KpV 5:75) –, dann wird dieses negative Gefühl positiv bewertet, weil, so Kant, „die Wegräumung eines Hindernisses einer positiven Beförderung der Kausalität gleichgeschätzt wird“ (KpV 5:75), nämlich einer Verbesserung der handlungseffektiven Kausalität des moralischen Urteils selbst. Wichtig erscheint an dieser Stelle, dass der Bezug der affektiven Wirkung auf ihre intellektuelle „Ursache“ nicht im Gefühl als solchem gegenwärtig ist: Kant betont den Umstand, dass „für [das] Gesetz gar kein Gefühl stattfindet“ (KpV 5:75); der Rückbezug des Schmerzes und der Demütigung auf die Vorstellung des Gesetzes liegt stattdessen „im Urteile der Vernunft“. Wir haben es also mit einem reflexiven Urteil zu tun, das sich zum Urteil der „Anerkennung des moralischen Gesetzes“ (KpV 5:79) hinzugesellt und ein Bewusstsein von dem Effekt dieser Anerkennung auf das Selbstverständnis der eigenen Willkür und die damit zusammenhängenden Gefühlslagen artikuliert. Dieses Bewusstsein impliziert dabei ein Werturteil über die negativen Gefühle: eine positive Schätzung der Tatsache, dass der Einfluss pathologischer Triebfedern in Schach gehalten und die Wirksamkeit der „empirischen“ Selbstkonzeption der Willkür abgeschwächt wird. Der vierte und letzte Schritt des Arguments gilt nun der Einführung des Begriffs der „Achtung fürs moralische Gesetz“ (KpV 5:79) und der Bestimmung der „moralischen Triebfeder“. Wenn wir alle genannten Aspekte zusammennehmen – also den Akt der Anerkennung der Autorität des Gesetzes, die zugleich negative und pathologische Wirkung dieser Anerkennung aufs Gefühl und die urteilende Wertschätzung dieser Wirkung im Sinne einer „positiven Beförderung“ der Verwirklichung der reinen praktischen Vernunft –, dann haben wir es mit derjenigen Haltung zu tun, die Kant als „Achtung“ bezeichnet. Sein Gedanke lautet also, dass alle diese Momente phänomenologisch zusammengehören, d. h. sie stehen im internen Zusammenhang einer moralischen Erfahrung, in der ein Moment der Autoaffektion und ein Moment der Selbstreflexion verknüpft sind: Die Tätigkeit der praktischen Vernunft (im moralischen Urteil) affiziert die praktische Rezeptivität (in den negativen Gefühlen des Schmerzes und der Kränkung), während diese Selbstaffektion wiederum in einem Urteil der Vernunft reflektiert wird. Der Name der „Achtung“ bezeichnet dann eine Form der
Das behauptet Kant explizit, vgl. KpV 5:75.
4.4 Die Triebfeder des reinen Willens: Rezeptiv reflektierte Selbstaffektion
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Erfahrung, in der beide Aspekte aktiv zusammengehalten sind – der Effekt der eigenen Tätigkeit auf die eigene Rezeptivität und die eigene Reflexion dieses Effekts.²⁰³ „Achtung“ beschreibt ein Bewusstsein, in dem eine Gefühlslage und eine urteilende Bewertung dieser Gefühlslage zusammenkommen, und zwar so, dass negative Gefühle durch ein Urteil der Reflexion an ihren Grund zurückgebunden sind (nämlich an die Anerkennung der Autorität des Gesetzes). Und wenn Kant nun das Bewusstsein der Achtung mit der moralischen Triebfeder identifiziert, dann scheint in der gerade skizzierten Erfahrung seine Antwort auf die Frage zu liegen, „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde“: Die Anerkennung des moralischen Gesetzes aber ist das Bewußtsein einer Tätigkeit der praktischen Vernunft aus objektiven Gründen, die bloß darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjektive Ursachen (pathologische) sie hindern. Also muß die Achtung fürs moralische Gesetz auch als positive, aber indirekte Wirkung desselben aufs Gefühl, sofern jenes den hindernden Einfluß der Neigungen durch Demütigung des Eigendünkels schwächt, mithin als subjektiver Grund der Tätigkeit, d.i. als Triebfeder zur Befolgung desselben und als Grund zu Maximen eines ihm gemäßen Lebenswandels angesehen werden. (KpV 5:79)
Kants zentrale These zur Triebfedern-Frage lautet demnach folgendermaßen: Sofern die Anerkennung des Gesetzes („im Urteile der Vernunft“) den Einfluss pathologischer Triebfedern (durch die Hervorbringung der Affekte des „Schmerzes“ und der „Demütigung“) schwächt und diese Schwächung positiv bewertet wird (weil sie als Effekt der eigenen Tätigkeit bewusst wird), haben wir es mit einer Aktualisierung eines endlichen Begehrungsvermögens zu tun, in dem die objektive Vorstellung des Gesetzes den Status einer subjektiv handlungseffektiven Vorstellung des Wollens bekommt (resp. bekommen kann). Entscheidend für die Bildung einer moralischen Triebfeder ist demzufolge die bewusste Rückbindung der negativen affektiven Wirkungen an die eigene intellektuelle Tätigkeit sowie die damit zusammenhängende positive Beurteilung dieser negativen Gefühle. Wenn die Haltung der Achtung beide Momente umfasst, dann entspricht sie, so Kant, einer Triebfeder, die einen endlichen
Andrews Reath hat argumentiert, dass wir in Kants Begriff der Achtung einen intellektuellen und einen affektiven Aspekt unterscheiden müssen: die unmittelbare Anerkennung der Autorität des Gesetzes und die Erfahrung von negativen Gefühlen, die aus dieser Anerkennung resultieren (vgl. Reath 2006, S. 10). Das ist sicherlich eine richtige Beschreibung. Für die Vorstellung der Achtung scheint mir jedoch zentral zu sein, dass sie wesentlich ein Bewusstsein der Einheit und des Zusammenhangs beider Aspekte zum Ausdruck bringt. Die beiden entscheidenden Momente der Achtung lassen sich daher besser darstellen, wenn man sie als Selbstaffektion und Selbstreflexion fasst: Der erste Aspekt der Achtung beschreibt die Weise, in der eine intellektuelle Spontaneität auf die eigene Rezeptivität wirkt; der zweite Aspekt der Achtung besteht in der intellektuellen Reflexion dieser affektiven Wirkung. Die Aspektdifferenz liegt somit weniger im Unterschied zwischen einer intellektuellen und einer affektiven Seite, sondern im Unterschied zwischen zwei intellektuell-affektiven Relationen (eben der Affektion durch eine intellektuelle Tätigkeit und der intellektuellen Reflexion dieser Affektion).
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Willen, der pathologischen Einflüssen ausgesetzt ist, in den Stand eines moralischen Willens bringen soll.²⁰⁴ Für eine vermögenstheoretische Lesart von Kants Argumentation ergibt sich an dieser Stelle jedoch eine zweite Schwierigkeit. Im obigen Zitat behauptet Kant, dass die „Achtung fürs moralische Gesetz auch als positive, aber indirekte Wirkung desselben aufs Gefühl“ anzusehen sei (Hervorhebung von mir). Diese Behauptung ist deshalb relevant, weil sie ein Moment an der Haltung der Achtung hervorhebt, das bisher noch nicht genannt wurde, aber für die Realisierung eines endlichen Begehrungsvermögens von entscheidender Bedeutung ist: die Erfüllung der Rezeptivitätsbedingung der Willkür, der zufolge eine kausal wirksame Vorstellung des Begehrens in einer Relation der existenziellen Abhängigkeit zu rezeptiv konstituierten Triebfedern stehen muss. Wenn die moralische Triebfeder der Achtung allein negative Gefühle beinhaltet, lässt sich nicht davon sprechen, dass die Rezeptivitätsbedingung erfüllt ist. Daher können wir auf die Annahme einer positiven Gefühlswirkung der Gesetzesvorstellung nicht verzichten. Eine hinreichende Erläuterung dieses positiven Gefühls sucht man allerdings im Text des Triebfedern-Kapitels vergebens. Es hat den Anschein, als würde Kant glauben, dass sich aus der positiven Bewertung der negativen Gefühle nahezu von selbst ein positives Gefühl ergibt: Weil das endliche Subjekt in der Haltung der Achtung, die den intellektuellen Grund der negativen Gefühlsregungen präsent hält, sich „nunmehr eines ganz anderen, [durch das Gesetz] subjektiv hervorgebrachten Interesse[s], welches rein praktisch und frei ist, bewußt wird“ (KpV 5:81) – und weil aus der „positiven Beförderung“ eines Interesses („durch Verminderung der Hindernisse“, KpV 5:79) ein Gefühl der „Lust“ entspringt. Reicht dieses eher blasse Konzept einer „intellektuellen Lust“ aus, um den rezeptiven Charakter der moralischen Triebfeder aufzuweisen?
Wollte man die Deutungskontroverse um Kants Position zur Frage der moralischen Motivation vor dem Hintergrund der hier vertretenen Rekonstruktion betrachten (was, nebenbei bemerkt, für mein Anliegen nicht zentral ist, weil es nicht um das moralpsychologische Problem der Motivation, sondern um das vermögenstheoretische Problem des Verhältnisses von Wille und Willkür geht), so ließe sich Folgendes sagen: Reath identifiziert den aktiv motivierenden Faktor mit dem intellektuellen Aspekt der Achtung (d. h. mit der Anerkennung der Autorität des Gesetzes, vgl. Reath 2006, S. 10). McCarty hält dagegen, dass Kant vielmehr einen komplexen motivationalen Prozess beschreibt, der erst mit der Bildung eines positiven Affekts vollendet ist (McCarty 1993, S. 425 – 428). Wenn man den Kern des Disputs zwischen „intellektualistischen“ und „affektivistischen“ Lesarten von Kants Theorie der „moralischen Motivation“ derart reformulieren kann, dann wird ersichtlich, dass es sich eigentlich nicht um einen Disput handelt. Denn in der Tat lassen sich beide Positionen zugleich derart aufrechterhalten, dass die intellektuelle Anerkennung des Gesetzes der aktive Faktor ist, der moralische Motivation verständlich macht, während die affektiven Wirkungen dieser intellektuellen Tätigkeit eben der passive Faktor sind, der die Bildung einer motivierenden Haltung erst vollendet. Wie oben gezeigt wurde, ist die bewusste Rückbindung der negativen Effekte an die eigene intellektuelle Tätigkeit sowie die damit zusammenhängende positive Beurteilung dieser Effekte der entscheidende „Faktor“, der Kant zufolge moralischen Urteilen die Rolle einer Triebfeder verleiht, die für einen endlichen Willen „motivierend“ ist.
4.4 Die Triebfeder des reinen Willens: Rezeptiv reflektierte Selbstaffektion
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Nicht ohne weiteres. Das Problem an dieser Stelle wird deutlicher, wenn wir uns die allgemeine Gestalt, die eine positive Gefühlswirkung des Gesetzes haben müsste, mithilfe einer Analogie zum Gefühl des Erhabenen vor Augen führen. In der Kritik der Urteilskraft deutet Kant das ästhetische Wohlgefallen, das sich bei der Betrachtung von unermesslich großen oder furchterregenden Naturerscheinungen einstellt, im Sinne eines reflexiven Gefühls der Lust, das sich an einer Erfahrung der Unlust selbst entzündet. Die Unlust ergibt sich hier zunächst aus dem Scheitern der Einbildungskraft, die schiere Größe eines formlos scheinenden Gegenstandes aufzufassen, respektive aus dem Bewusstsein der physischen Ohnmacht in Anbetracht von schrecklichen „Naturgewalten“. Im ästhetischen Urteil wird diese Unlust aber in dem Maße als „zweckmäßig“ geschätzt, wie sie ein „allgemein mitteilbares“ Gefühl „in uns rege macht“ – nämlich „das Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung“ (KU 5:258). Ein solches positives Gefühl beschreibt demnach die Weise, in der ein endliches Subjekt, das auf Rezeptivität angewiesen ist, ein Bewusstsein der Erweiterung seines Vermögens gewinnt: Es „entdeckt“ seine höhere Bestimmung (KU 5:261, Hervorhebung von mir), und zwar im Medium der Rezeptivität selbst. Durch die Tatsache also, dass das endliche Subjekt in Anbetracht von negativen Gefühlen Lust empfindet, wird ihm bewusst, dass die „höhere Bestimmung“ seiner eigenen höheren Bestimmung entspricht. Und dazu ist eine eigentümliche Leistung der Einbildungskraft erforderlich, die Kant im Sinne eines „Werkzeug[s] der Vernunft“ einführt (KU 5:269).²⁰⁵ Ihre besondere Leistung besteht darin, Vorstellungen (von furchterregenden oder unermesslich großen Erscheinungen), die mit negativen Gefühlen verbunden sind, zugleich als negative Darstellungen ²⁰⁶ des eigenen „unbeschränkten Vermögens“ der Vernunft aufzufassen (KU 5:259). Die Erschließung dieses Vermögens geschieht daher wesentlich durch die darstellende Tätigkeit der Einbildungskraft; und die Pointe ihrer negativen Darstellung liegt in der Demonstration einer Analogie zwischen den Gegenständen des Erhabenen und dem eigenen unbeschränkten Vernunftvermögen: Naturerscheinungen, die mit negativen Gefühlen konnotiert sind, überschreiten ebenso wie das „übersinnliche Vermögen“ die Grenzen sinnlich konstituierter Aktualisierungen des Erkenntnis‐ und Begehrungsvermögens. In derartigen Darstellungen gelten negative Gefühle als Indikatoren jener Entgrenzung, die mit der Entdeckung eines erweiterten Vermögens einhergeht. Was im Rahmen der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen in diesem Sinne reflektiert wird, ist eine vermögenstheoretische Bedingung, die im Bereich des Praktischen vorausgesetzt werden muss, aber selbst nicht weiter aufklärbar scheint: dass die Haltung der Achtung mit einem positiven Gefühl intern zusammenhängt, in dem das endliche Subjekt ein sinnliches Bewusstsein von seiner eigenen „höheren Bestimmung“ gewinnt und sich zu einer Realisierung dieser Bestimmung befähigt fühlt. Es Dadurch, dass die Einbildungskraft als eine Kraft der Vernunft gedacht wird, muss sie zugleich so verstanden werden, dass sie eine „Erweiterung und Macht“ erhält, die ihren empirischen Gebrauch übersteigt (KU 5:269). Vgl. KU 5:274.
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handelt sich dabei um eine vermögenstheoretische Bedingung insofern, als in jenem positiven Gefühl eine Aktualisierung des „unteren“ Begehrungsvermögens mit einer Aktualisierung des „oberen“ Begehrungsvermögens zusammenfällt, die allererst die Realisierbarkeit eines reinen Willens durch eine endliche Willkür denkbar werden lässt. Es lohnt sich daher, das Urteil der Achtung, in dem die negativen Effekte der Gesetzesvorstellung auf Gefühle der Lust und Unlust positiv bewertet werden, mit Blick auf das ästhetische Urteil über das Erhabene neu zu beschreiben. Die Erfahrung von Schmerz und „Demütigung“ müsste mit einer Erfahrung der „Erhebung“ (KpV 5:79) einhergehen, durch die das endliche Subjekt zu einem affektiven Bewusstsein der Erweiterung seines Begehrungsvermögens gelangte. Die Rückbindung der negativen Gefühle an ihren intellektuellen Grund und die damit zusammenhängende positive Bewertung würden so gemeinsam die Kontur eines „quasi-ästhetischen“ Urteils besitzen, das der Zweckmäßigkeit der genannten negativen Gefühle gilt. Diese Zweckmäßigkeit würde freilich, anders als bei ästhetischen Urteilen, auf einen Zweck bezogen, nämlich auf die Realisierung des reinen Willens. Das Urteil der Achtung entspräche dabei einer Aktualisierung des „oberen“ im „unteren“ Begehrungsvermögens in dem Maße, wie die Zweckmäßigkeit negativer Gefühle in einem positiven Gefühl erfahrbar würde – der „Lust“ an der Entdeckung einer Erweiterung des eigenen endlichen Begehrungsvermögens.²⁰⁷ Auf dieser Basis wäre das endliche Subjekt in der Lage, sich mit dem moralischen Standpunkt der Vernunft zu identifizieren; und das wäre dem endlichen Subjekt in dem Maße möglich, wie es die negativen Gefühle mit der negativen Darstellung einer „übersinnlichen Bestimmung“ verbinden könnte, die im reinen Willen liegt. Dazu bedürfte es aber einer praktischen Einbildungskraft, die eine solche negative Darstellung nicht nur allererst hervorbrächte, sondern auch darin demonstrierte, dass das endliche Subjekt in und mit seinen negativen Gefühlen selbst die Geltung des moralischen Gesetzes anerkennen kann. Im Kapitel „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ besitzt Kant allerdings nicht die theoretischen Ressourcen, um diesen Gedanken eines nicht-pathologischen positiven Gefühls einzuholen, das die Erfahrung einer erweiterten Befähigung des endlichen Begehrungsvermögens beschreibt. Kants Bild der Achtung erweckt in der Tat nicht den Eindruck einer Erweiterung oder Erhebung des ganzen Begehrungsvermögens, sondern nur den Eindruck einer Realisierung des einen Teils des Begehrens auf Kosten des anderen Teils des Begehrens. Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass in der Haltung der Achtung zweierlei deutlich wird: Durch sie gelangt das praktische Subjekt nicht nur zu einem Bewusstsein von seiner inneren Entzweiung, sondern es verhält sich auch zu dieser. Indem die Achtung die intellektuellen und die rezeptiven Aspekte des Begehrungsvermögens zusammenbringt, soll das Subjekt eine Vereinigung seines reinen Willens mit seiner endlichen Willkür er-
Eine ähnliche Lesart des positiven Gefühlsaspekts der Achtung, die auf Ressourcen der dritten Kritik zurückgreift, hat Owen Ware vorgeschlagen (vgl. Ware 2014: S. 738 – 741).
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reichen. Es ist aber mehr als unklar, ob Kants Konzeption der Achtung überzeugend darlegen kann, wie die Entzweiung zwischen Wille und Willkür überwunden werden kann, ohne die Angewiesenheit der Willkür auf Bestimmungen der Rezeptivität aus dem Blick zu verlieren. Es wird in Kants Argumentation einfach nicht deutlich, inwiefern die Überwindung der Selbstentzweiung der Spontaneität des Begehrens auf etwas anderes hinauslaufen kann als auf Selbst-Unterwerfung und Selbst-Beherrschung. Die Kampf- und Gewaltmetaphern („Abbruch tun“, „niederschlagen“) erscheinen in dieser Hinsicht allzu symptomatisch. Es hat den Anschein, als würde Kant die Problematik der Selbstentzweiung so begreifen, dass es allein darum gehe, die eine Form der Einheit von Wille und Willkür (die objektive Einheit des Willens) über die andere Form der Einheit (die subjektive Einheit des Willens) obsiegen zu lassen. Das sieht allerdings nicht nach einer Überwindung der Selbstentzweiung aus, sondern macht vielmehr den Eindruck ihrer Fortführung oder gar Vertiefung: Sie basiert auf einer partiellen Verarmung und Selbstverneinung des Begehrungsvermögens. Was in der Frage der Überwindung auf dem Spiel steht, ist eine Realisierung des Begehrungsvermögens, in der beide Formen der Einheit von Wille und Willkür zusammenfinden – in der die Willkür nicht bloß unterworfen, sondern erweitert, nicht bloß bezwungen, sondern eigens befähigt wird. Meiner Ansicht nach ist Kant nicht in der Lage, diese theoretische Herausforderung anzuerkennen – und mit ihr das Problem eines positiven Gefühlsanteils der Achtung angemessen zu adressieren –, weil er bereits die erste Unklarheit, die am Beginn seines Arguments auftaucht, nicht eigens thematisiert: Müssen wir nicht das Urteil der Vernunft, in dem das Subjekt die Autorität des Gesetzes einsieht, bereits als eine Aktualisierung des Begehrungsvermögens begreifen? Und unter welchen Voraussetzungen ließe sich von einer solchen Aktualisierung überhaupt sprechen? Kants ganzes Argument hängt offensichtlich davon ab, dass in der praktischen Reflexion das Urteil der Vernunft immer schon die Wirksamkeit einer Triebfeder besitzt. Anders könnten wir gar nicht erklären, wie es überhaupt jene negativen Effekte auf die praktische Rezeptivität und das Selbstverständnis der Willkür zustande bringen sollte. Ich werde daher die Argumentation des Triebfedern-Kapitels noch einmal kurz im Lichte dieser Problematik betrachten, indem ich deutlicher die Rolle der Unterscheidung zwischen Wille und Willkür hervorkehre. Die Willkür bringt sich unter den (empirisch-bedingten) Willen und setzt sich dadurch zugleich dem reinen Willen entgegen. Folglich liegt es nahe, den reinen Willen als ein reflexives Begehren zu deuten: als das Begehren nach einer anderen Form des Begehrens. Auch wenn der Begriff der Triebfeder im eigentlichen Sinn auf eine Aktualisierung der Willkür bezogen ist, in deren Zusammenhang subjektive Vorstellungen allererst eine handlungsbezogene Kausalität gewinnen, so können wir dennoch zunächst in einem übertragenen Sinn von einer „Triebfeder der Reflexion“ oder einer „reflexiven Triebfeder“ sprechen. In diesem Fall haben wir es mit einer Aktualisierung des Begehrungsvermögens zu tun, die nicht auf die kausale Hervorbringung einer Handlung zielt, sondern auf die Hervorbringung eines anderen Begehrens (das der Vorstellung des Gesetzes genau jene Kausalität aus Freiheit verleihen
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soll, die moralisch geboten ist). Es handelt sich um eine reflexive Triebfeder also nicht nur deshalb, weil sie eine Triebfeder des Willens oder der praktischen Reflexion darstellt, sondern auch deshalb, weil sie sich auf die „Erschaffung“ oder Begründung einer Willkür bezieht, die zu moralischen Triebfedern und mithin zu moralischen Handlungen fähig ist. Diese Überlegungen legen den Gedanken nahe, dass in der komplexen Dynamik der Achtung der Begriff der Triebfeder zwei Einsatzpunkte hat: ganz am Anfang, als Aktualisierung des Willens, und ganz am Ende, als (positive) Aktualisierung der Rezeptivität der Willkür. Einerseits haben wir es also mit der Annahme einer primären und unmittelbaren Triebfeder des Willens zu tun. Dass die Vorstellung des Gesetzes diese Gestalt einer Triebfeder besitzt, lässt sich jedoch nur aus dem Umstand verstehen, dass sie auf das endliche Subjekt und seine Rezeptivität wirkt. Sie ist eine Aktualisierung des Begehrungsvermögen daher nur in dem Maße, wie sie einen Effekt auf die endliche Verfasstheit oder auf die an rezeptiven Triebfedern ausgerichtete Selbstkonzeption der Willkür hat. Um diese Effektivität zu verstehen, müssen wir aber zugleich verstehen, wie die Aktualisierung des reinen Willens (d. h. der Akt der Anerkennung der Autorität des moralischen Gesetzes) zugleich eine Aktualisierung der Willkür sein kann. Allererst unter dieser Bedingung besitzt der Akt der Anerkennung jene Wirksamkeit einer Triebfeder, die die praktische Rezeptivität des endlichen Subjekts und sein damit zusammenhängendes Selbstverständnis in der Tat nicht nur treffen, sondern auch verändern kann. Neben jener reflexiven Triebfeder, die unmittelbar im Urteil des reinen Willens liegen soll, müssen wir deshalb andererseits noch eine sekundäre, indirekte Triebfeder annehmen, die der Willkür angehört und die daraus erwächst, dass jene negative Wirkung und das Zustandekommen der damit verbundenen negativen Gefühle positiv beurteilt und erfahren wird. Mit dieser Beschreibung will ich nicht suggerieren, dass wir von zwei distinkten Triebfedern ausgehen sollten. Die Triebfeder des Willens und die Triebfeder der Willkür stehen vielmehr in einem internen Zusammenhang – dem Zusammenhang der Haltung der Achtung. Und darin stehen sie zugleich in einem Verhältnis reziproker existenzieller Abhängigkeit: Keine Triebfeder kann für sich bestehen. Mit jener Beschreibung wollte ich hingegen suggerieren, dass Kants Theorie der Achtung nicht in der Lage ist, diesen internen Zusammenhang verständlich zu machen. Damit das Vernunfturteil unmittelbar Triebfeder sein kann, muss es eine negative Wirkung auf die Rezeptivität und die Selbstkonzeption der Willkür haben; um aber zur indirekten Triebfeder der Willkür zu werden, muss sich die Willkür die Perspektive des Urteils der Vernunft zu eigen machen können. Die Willkür aber setzt sich dem reinen Willen dadurch entgegen, dass sie sich unter die Einheit eines empirisch bedingten Willens bringt. Wie ist es also möglich, dass die Vorstellung des Gesetzes auch eine Aktualisierung der Willkür darstellt? Meiner Ansicht nach fehlt Kant an dieser Stelle ein Argument. Seine ganze Konzeption der Achtung lebt von der Vorstellung, dass „die Vernunft“ ein moralisches Erkenntnisurteil fällt, dessen normative Kraft hinreicht, um das Kartenhaus der endlichen Willkür zum Einsturz zu bringen. Die Vernunft soll aber eine praktische
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sein, und das bedeutet, dass sie als eine Aktualisierung des Begehrungsvermögens betrachtet werden muss, die den Charakter einer Triebfeder besitzt. Um aber die Rolle einer Triebfeder überhaupt einnehmen zu können, muss sich das Gesetz nicht nur im reflexiven Willen, sondern gleichzeitig im Selbstverhältnis der Willkür und in der Rezeptivität des endlichen Subjekts aktualisieren (um so letztlich die Bildung einer Triebfeder der Willkür indirekt zu erwirken). Und genau diese Bedingung lässt sich auf der Basis von Kants Argumentation ohne weitere Überlegungen nicht einsehen. Was Kant hier fehlt, hat Andrews Reath im Titel seines Aufsatzes über das Triebfedern-Kapitel angedeutet: eine „Theorie der moralischen Sensibilität“. Auch wenn Triebfedern aktive Tendenzen des praktischen Urteilens und Handelns bezeichnen, haben sie bei Kant einen vornehmlich rezeptiven Charakter. Der Begriff der Achtung bildet hier keine Ausnahme: Er beschreibt eine ins Moralische gewendete Triebfeder des Begehrens, die sich ebenfalls wesentlich als ein Bewusstsein von Rezeptivität kennzeichnen lässt – als Bewusstsein, von der Vorstellung des moralischen Gesetzes bewegt und bestimmt zu werden. Daher bedarf es einer Theorie der moralischen Sensibilisierung – einer Sensibilisierung, die im praktischen Selbstverhältnis der Willkür, d. h. in der für sie konstitutiven Orientierung an rezeptiven Bestimmungen stattfindet. Wie Angelica Nuzzo gezeigt hat, kann das Werk der reinen praktischen Vernunft nicht einfach darin bestehen, die pathologische Affektion der Willkür zu unterdrücken;²⁰⁸ ihr Werk besteht vielmehr darin, praktische Rezeptivität neu zu formen und zu transformieren, und zwar derart, dass die Vernunft und ihre rein formale Willensbestimmung idealiter selbst an die Stelle der sinnlichen Affektion tritt und die Willkür zum Handeln bewegt.²⁰⁹ Dieses bei Kant fehlende Theoriestück zu entwickeln, beschreibt die Aufgabe der verbleibenden Kapitel dieses Buches. Um eine angemessene Antwort auf die Frage zu finden, wie eine Überwindung der Selbstentzweiung des Willens aussehen könnte, werde ich zunächst für die These argumentieren, dass die Konzeption der moralischen Triebfeder ein Analogon zur Rolle der Einbildungskraft in der Erkenntnis und der ästhetischen Erfahrung benötigt. Ich habe zu zeigen versucht, dass eine Form der Aktualisierung der reinen praktischen Vernunft erforderlich ist, die sich im Selbstverhältnis der Willkür entfaltet und den Charakter einer reflektierten Selbstaffektion besitzt. Um die Möglichkeit einer derartigen Aktualisierung einzusehen, sollten wir die Wirksamkeit des reinen Willens so denken, dass er die Gestalt einer transzendentalen praktischen Einbildungskraft annehmen kann – einer Kraft zur Aktualisierung der Perspektive der Vernunft innerhalb der Rezeptivitätsorientierung der Willkür. Diese Art der Aktualisierung könnte verständlich machen, so der Vorschlag, inwiefern die praktische Rezeptivität der Willkür auf der Grundlage des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft eine neue Form gewinnen kann. Wir würden damit zu einer Beschreibung gelangen, in der die Triebfeder des reinen Willens tatsächlich einer Be-
Vgl. Nuzzo 2008, S. 169. Siehe Nuzzo 2008, S. 162.
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fähigung der endlichen Willkür entspricht, so dass zuletzt die intelligible und die sinnliche Bedingung des Begehrens erfüllt sein können: die Geltungsbedingung der reinen praktischen Vernunft und die Realisierungsbedingung der Rezeptivität. Für ein Verständnis der Überwindung der Selbstentzweiung des Begehrens stellt der Gedanke, dass die Perspektive der reinen Vernunft in Form einer transzendentalen Einbildungskraft in der Willkür wirksam werden kann, allerdings nur einen ersten Schritt dar. Wenn die Triebfeder des reinen Willens zu einer Befähigung und Erweiterung des endlichen Begehrungsvermögens führen soll, dann muss sie vielmehr zwei Momente beinhalten: nicht nur eine erneuerte Rezeptivität der Willkür, sondern auch die Ermöglichung ihrer veränderten Spontaneität. Die Aufgabe besteht somit nicht allein darin, die Selbstaffektion des Begehrens durch den reinen Willen und seine Reflektion in der Willkür neu zu denken. Es bedarf zudem einer Klärung, worauf eine so gefasste Befähigung des endlichen Begehrungsvermögens eigentlich hinausläuft. Der Gedanke, dass die Vorstellung des moralischen Gesetzes eine Triebfeder sein kann, reicht nicht aus, um die Willkür als Kraft der Verwirklichung „absolut positiver“ Freiheit zu begreifen. Der Akt, einer moralischen Triebfeder zu folgen, ist vielmehr ein Akt der freien Spontaneität der Willkür, durch den das Gesetz der Vernunft allererst zu einer wahrhaft aktuellen, praktisch wirksamen Bestimmung des Begehrens wird. Eine Betrachtung des Prinzips des moralischen Gesetzes unter dem Aspekt der Willkür muss daher noch ein weiteres Moment beinhalten, das wir bisher noch nicht berücksichtigt haben: Wir brauchen eine neue Beschreibung, wie die endliche Willkür sich auf der Basis einer moralisch sensibilisierten Rezeptivität unter den reinen Willen bringt. Meiner Auffassung nach muss eine solche Neubeschreibung zwei Aspekte beinhalten: Einerseits ist erforderlich, dass sich die Willkür die durch reine Vernunft erwirkte Transformation ihrer Rezeptivität zu eigen macht – und ihre eigene Spontaneität an dieser erneuerten Rezeptivität orientiert. Auf dieser Grundlage ist ein endlicher Wille andererseits in der Lage, in sich eine neue Kraft zu entdecken: die Fähigkeit, das Gesetz der Vernunft in das Gesetz seines eigenen, besonderen Willens zu verwandeln.²¹⁰ Meine These lautet demnach, dass die Befähigung der Willkür durch den reinen Willen darauf hinausläuft, ihr ein andersartiges Selbstbewusstsein zu ermöglichen – und zwar ein solches, das um einen quasi-transzendentalen Akt der Subjektivierung erweitert ist: den Akt, das Gesetz des reinen Willens zum obersten Grund des eigenen, endlichen, besonderen und subjektiven Willens zu machen. Diese beiden Schritte bilden den Umriss des Programms der nächsten beiden Kapitel. Weil aber die theoretischen Ressourcen von Kants Konzeption eines freien Willens nicht ausreichen, um beide Schritte auch zu vollziehen, werde ich seine Konzeption im Folgenden mit einem anderen philosophischen Ansatz verbinden. Ich möchte genauer verstehen, wie der reine Wille in eine Beziehung zur Rezeptivitätsbedingung der Willkür und wie die Willkür in eine Beziehung zur Gelingensbedingung des reinen Willens treten kann. Dazu ist es hilfreich, ausführlicher auf den Umstand
Ich übernehme hier eine sehr gelungene Formulierung von Melissa Zinkin (2006, S. 38).
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einzugehen, dass mit Kants Begriffen des Willens und der Willkür zwei Formen des praktischen Selbstbewusstseins verknüpft sind: das Selbstbewusstsein, das wir als praktisch Handelnde haben, und das Selbstbewusstsein, das wir als praktisch Erkennende besitzen.²¹¹ Ich werde deshalb den vermögenstheoretischen Rahmen der bisherigen Argumentation um eine zugleich phänomenologische und ontologische Theorie des Selbstbewusstseins erweitern. Die philosophische Perspektive, die mir dazu hilfreich erscheint, ist diejenige, die Sartre in Das Sein und das Nichts vorgelegt hat. Sartres Überlegungen werden mir nicht nur ermöglichen, Kants Begriffe des Willens und der Willkür im Sinne von zwei Formen des praktischen Selbstbewusstseins besser zu verstehen; ich verspreche mir von ihnen auch, die beiden eben skizzierten argumentativen Schritte vorantreiben zu können. Mein Vorschlag lautete, dass wir die Idee einer praktischen Lösung für das Problem der Selbstentzweiung des Willens in dem Maße entwickeln können, wie wir die Art und Weise neu bedenken, in der der reine Wille intern auf die Willkür und die Willkür intern auf den Willen bezogen sind. Die zwei Momente, die einer Neubeschreibung bedürfen, sind die einer Transformation der praktischen Rezeptivität und einer Erweiterung der Spontaneität der Willkür. Sartres selbstbewusstseinstheoretische Konzeptionen des „Blicks“ und der „fundamentalen Wahl“ erlauben uns, diese beiden Momente auf den Begriff zu bringen. Ich werde im fünften Kapitel zwei Überlegungen weiter vertiefen. Auf der einen Seite geht es mir darum, den Gedanken einer Selbstentzweiung der Spontaneität des Begehrens nicht nur von der Seite der Willkür (und ihres empirisch bedingten Selbstverständnisses), sondern auch von der Seite des reinen Willens einzuführen. Auf der anderen Seite will ich aber auch demonstrieren, dass aus der phänomenologischen Perspektive Sartres ein anderes Verständnis der Überwindung der Selbstentzweiung von Wille und Willkür verfügbar wird. Der leitende Gedanke lautet hier, dass mit der Idee eines Gesetzes der Freiheit eine „ursprüngliche Entfremdung“ des endlichen Willens von sich selbst einhergeht, – eine Art der Selbstentfremdung jedoch, in der der entscheidende Hinweis auf eine mögliche Überwindung jener Selbstentzweiung liegt. Der Schlüssel zu einem Verständnis, wie ein zugleich endliches und autonomes Subjekt die Entzweiung zwischen seinem Willen und seiner Willkür in eine neue Einheit überführen kann, liegt in einer Modifikation des praktischen Selbstbewusstseins der Willkür, die sich mit Sartres Idee des „Für-Andereseins“ einführen lässt.
Dies entspricht Stephens Engstroms Fassung der kantischen Unterscheidung von Wille und Willkür (siehe Engstrom 2010a, S. 45).
5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein: Kant mit Sartre Kant und Sartre scheinen widersprüchliche Theorien der Freiheit zu vertreten. Während Kants Konzeption der Autonomie auf der Einsicht basiert, dass der Grund der Normativität zugleich der Grund der Freiheit ist, versteht Sartre in Das Sein und das Nichts die Freiheit des Subjekts in erster Linie als eine nicht-normative: Der Grund der Freiheit liegt nach Sartre in der Struktur der Negativität des menschlichen Selbstbewusstseins. Die folgenden Überlegungen dienen dem Versuch, diesem Eindruck zum Trotz die Vereinbarkeit von zentralen Zügen der beiden Konzeptionen aufzuweisen und zu erproben. Das Leitmotiv dieses Versuchs besteht in der in diesem Buch entwickelten systematischen Überzeugung, dass eine befriedigende philosophische Theorie des freien Willens zwei Aspekte zusammendenken muss, die der Form nach unterschieden, aber zugleich existenziell aufeinander angewiesen sind: die Freiheit der Autonomie und die nicht-normative Freiheit der Negativität oder Unbestimmtheit, die mit dem Begriff der Willkür verbunden ist. Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann scheint der Versuch systematisch attraktiv zu sein, die jeweiligen Stärken von Kants und Sartres Theorien der Freiheit in ein Bild zu integrieren. Da Kant die Einheit von Normativität und Freiheit betont, während Sartre die gegenteilige Akzentuierung vornimmt, verspricht die kritische Konstellation von beiden Ansätzen einigen Aufschluss hinsichtlich der Frage, wie die normativen und nicht-normativen Aspekte der Freiheit in ihrer Spannung zusammenzudenken sind. Daher zielt die folgende Argumentation darauf, Kants zentralen Gedanken eines „Gesetzes der Freiheit“ mit Sartres Theorie des präreflexiven Selbstbewusstseins zu rekonstruieren. Wollen wir erläutern, so der Gedanke, wie das Gesetz der Autonomie das höchste Prinzip eines endlichen Willens sein kann, müssen wir auf einem Begriff der nicht-normativen Freiheit der Negativität insistieren. Dieses Vorgehen eröffnet eine instruktive Perspektive insbesondere auf die Relation zwischen den zwei Formen der praktischen Spontaneität, die im vorigen Kapitel thematisch waren. Die Begriffe des Willens und der Willkür lassen sich als verschiedene Gestalten des Selbstbewusstseins beschreiben, die in einem internen Verhältnis stehen. Kant charakterisiert den Willen so, dass er sich reflexiv auf die Willkür bezieht. Mich interessiert im Folgenden primär dieses reflexive Verhältnis, das zwischen Wille und Willkür im Sinne von zwei Ausprägungen des praktischen Selbstbewusstseins besteht. Mein Vorschlag lautet, dass eine Neudeutung einiger Aspekte von Kants Theorie der Autonomie innerhalb des Rahmens von Sartres phänomenologischer Ontologie uns ermöglicht, dieses Verhältnis der Reflexion genauer zu fassen: nämlich als Verhältnis zwischen einem reflexiven und einem präreflexiven Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein der Willkür enthält nun allerdings selbst einen reflexiven Aspekt: Die Willkür bezieht sich in ihren praktischen Urteilen auf die Hervorbringung https://doi.org/10.1515/9783110669381-007
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von Handlungen derart, dass sie sich unter die subjektive Einheit des Willens bringt. In diesem Kapitel wird es aber in erster Linie um den grundlegenderen Aspekt des Selbstbewusstseins der Willkür gehen, der bisher noch nicht im Fokus der Argumentation stand und der mit Sartre als ein präreflexiver bestimmt werden kann. Mit Blick auf diesen präreflexiven Aspekt des praktischen Selbstbewusstseins lässt sich, so Sartre, die Freiheit der Negativität auf zugleich ontologische und phänomenologische Weise einführen. Die Freiheit der Autonomie liegt hingegen im reflexiven Bezug des Selbstbewusstseins der praktischen Vernunft, die sich auf die Willkür im Sinne eines präreflexiven Selbstbewusstseins der eigenen Freiheit der Negativität bezieht. Im vorliegenden Kapitel werde ich dieses interne Verhältnis der Reflexion genauer untersuchen. Der erste Schritt widmet sich dem Versuch einer Erläuterung, inwiefern eine phänomenologische Untersuchung der Strukturen des praktischen Selbstbewusstseins einen angemessenen Zugang zu Kants Idee eines „Gesetzes der Freiheit“ bildet. Anschließend werde ich in einem zweiten Schritt Kants These, dass die Realität des Selbstbewusstseins metaphysisch unbestimmbar ist, zu Sartres These in Bezug setzen, dass die Seinsweise des präreflexiven Cogito der Freiheit der Negativität entspricht. Der dritte Schritt bemüht sich darum, die Notwendigkeit eines Gesetzes der Freiheit dadurch aufzuzeigen, dass es eine transzendentale Funktion besitzt: Es ist die Bedingung der Möglichkeit, unter der das Subjekt sich auf seine eigene Freiheit der Negativität so beziehen kann, dass sie zum Gegenstand einer objektiven Bestimmung wird. In einem vierten Schritt möchte ich Kants These, dass allein auf der Basis des moralischen Gesetzes die objektive Bestimmbarkeit der eigenen Freiheit denkbar ist, mit Sartres These verbinden, dass diese Objektivität ein Selbstverhältnis impliziert, in dem sich das Subjekt unmittelbar als Objekt des „Blicks“ von anderen erfährt. Meine Intuition lautet an dieser Stelle, dass wir Sartres Konzeption des Blicks, die er im Sinne einer ontologischen Modifikation des präreflexiven Selbstbewusstseins begreift, so deuten können, dass sie als das eigentliche Medium der Aktualisierung der reinen praktischen Vernunft innerhalb des Selbstverhältnisses der Willkür fungiert. Um einsehen zu können, wie die reflexive Aktualisierung der Vorstellung des Gesetzes mit einer präreflexiven Aktualisierung im Selbstbewusstsein der Willkür zusammenfallen (und derart überhaupt eine Aktualisierung des menschlichen Begehrungsvermögens darstellen) kann, müssen wir also eine soziale Dimension in Kants Theorie der Autonomie einführen, und zwar auf der Ebene des zugleich präreflexiven und praktischen Selbstbewusstseins: ein Bewusstsein davon, dass meine Freiheit, mein Wollen und Handeln wesentlich durch die Freiheit, das Wollen und Handeln der Anderen, d. h. sozial bestimmbar ist. Ein solches Bewusstsein des eigenen „Seins-für-Andere“ ermöglicht die objektive Bestimmbarkeit des „bestimmenden Selbst“ (durch das Gesetz der Freiheit) insofern, als sie allererst ein Bewusstsein von der Notwendigkeit einer objektiven Bestimmung auf der Ebene der endlichen Willkür und mithin ein Bewusstsein ihrer Empfänglichkeit für objektive Bestimmungsgründe des reinen Willens konstituiert. Der fünfte und letzte Schritt meines Arguments in diesem Kapitel besteht darin, diese Empfänglichkeit näher zu erläutern: Wie ist es möglich, dass das
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
Gesetz der Vernunft die Willkür in ihrer existenziellen Abhängigkeit von rezeptiv generierten Triebfedern in der Tat treffen kann? Um diese Frage zu beantworten, benötigen wir eine Beschreibung der Aktualisierung des Gesetzes innerhalb des präreflexiven Selbstverhältnisses der Willkür, die ihre praktische Rezeptivität transformiert. An dieser Stelle werde ich ein zweites neues Theorem in Kants Konzeption des menschlichen Begehrungsvermögens einführen: den Gedanken einer reinen praktischen Einbildungskraft. Damit die Rezeptivität der Willkür auf der Basis des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft eine neue Form gewinnen kann, bedarf es einer Kraft zur Aktualisierung der Perspektive der Vernunft innerhalb der Rezeptivitätsorientierung der Willkür, die die existenzielle Abhängigkeit unseres praktischen Bewusstseins von rezeptiv generierten Triebfedern auf eine nicht-pathologische Grundlage stellt. Darin liegt die genuine Leistung eines Schematismus der reinen praktischen Einbildungskraft. Diese Überlegungen ermöglichen uns eine andere Perspektive auf die Frage einer praktischen Überwindung der Selbstentzweiung, die ich im letzten Kapitel untersucht habe. Das Gesetz der Freiheit müssen wir deshalb notwendig annehmen, weil seine primäre Errungenschaft darin besteht, die negative Freiheit des Selbstbewusstseins als eine praktisch bestimmbare zu konstituieren – d. h. derart, dass sich das Selbstbewusstsein in seiner fundamentalen präreflexiven Dimension als ein Objekt der Selbstbestimmung durchsichtig wird. Dies gelingt der reinen praktischen Vernunft aber nur in dem Maße, so die These, wie sie dabei zugleich eine „ursprüngliche Entfremdung“ in die Freiheit der Willkür einführt – eine Entfremdung, die ich mithilfe von Sartres Konzeption des „Blicks“ und des präreflexiven Selbstbewusstseins des „Für-Andere-seins“ genauer kennzeichnen möchte. Die Synthese von Gesetz und Blick, die durch die reine praktische Einbildungskraft hergestellt wird, enthält den entscheidenden Hinweis, wie eine Transformation des Selbstverhältnisses (und damit auch eine Transformation der Rezeptivitätsorientierung) eines endlichen Willens durch die reine Vernunft zu denken ist: Sie entspricht einer Entfremdung der Willkür in die Perspektive des reinen Willens.
5.1 Das Gesetz als Form der Person Ich beginne mit einigen Überlegungen zum Begriff des praktischen Gesetzes und zur Frage nach den Gründen, weshalb wir an diesem Begriff festhalten sollten. Es scheint nicht selbstverständlich zu sein, das normative Prinzip eines autonomen Willens als „Gesetz der Freiheit“ zu verstehen – und nicht etwa als intersubjektiv konstituierte personale Identität, als Form moralischer Praxis, als tugendhafte Verfassung des Charakters oder als eine substantielle Konzeption des Guten. All diese stichwortartig aufgeführten Begriffe formulieren den Anspruch, eine allgemeine Bestimmtheit des Willens zu beschreiben („Volitionen zweiter Ordnung“), die nicht bloß unabhängig von besonderen Antrieben, Neigungen und Interessen (d. h. von „Wünschen erster
5.1 Das Gesetz als Form der Person
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Stufe“) gilt, sondern auch deren normatives Prinzip artikuliert.²¹² Weder in der Grundlegung noch in der zweiten Kritik führt Kant allerdings den Begriff eines praktischen Gesetzes auf eine Weise ein, die diese anderen Konzeptionen der praktischen Universalität eines autonomen Willens ausschließen oder als unzureichend erweisen würde. Stattdessen betont Kant in der Kritik der praktischen Vernunft immer wieder, dass es sogar „für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen“ sei, welche seiner Handlungsgründe die reine Form des Gesetzes aufweisen (KpV 5:36). Diese Auffassung gründet auf Kants These, dass das Gesetz der Freiheit ein „Faktum der Vernunft“ sei (KpV 5:31). Wenn also das Gesetz dem praktischen Bewusstsein a priori gegeben ist, dann besitzt es eine Wirklichkeit im praktischen Selbstbewusstsein, die der Erläuterung bedarf. Um Kants Behauptung zu verteidigen, dass das moralische Gesetz ein nicht-empirisches Faktum der gewöhnlichen praktischen Vernunft ist, müssen wir dabei zwei bekannte Einwände zurückweisen, die exakt auf der Ebene der Unausweichlichkeit oder Zwangsläufigkeit der „Wirkungen“ des Gesetzes auf der Ebene des gewöhnlichen Selbstbewusstseins ansetzen: erstens den Einwand, dass diese „Wirkungen“ in der Tat dem sedimentierten Effekt einer theologischen Vorstellung der Ethik entsprechen, die historisch überholt ist,²¹³ und zweitens den Einwand, dass das angeblich reine Selbstbewusstsein des Willens von der unbewussten Bildung eines „Überichs“ abhängig ist.²¹⁴ Mir geht es hier nicht um die konkrete argumentative Struktur dieser Einwände, sondern nur um die allgemeine Form, die beiden gemeinsam ist: Anscombe und Freud behaupten, dass das unbedingte Sollen des kategorischen Imperativs kein ursprüngliches Faktum sein kann, sondern vielmehr den Effekt einer pathologischen resp. psychologischen oder einer habituellen resp. ideologischen Bedingung darstellt, die dem praktischen Selbstbewusstsein entzogen ist und letztendlich in Heteronomie mündet. Was wir demnach benötigen, um Kants Behauptung des Faktums der Vernunft zu verteidigen, ist ein Argument, dass die subjektive Wirklichkeit des Gesetzes der Freiheit auf ein ursprüngliches und irreduzibles „Faktum“ des praktischen Bewusstseins zurückführt – ein Faktum also, das sich weder „aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln“ lässt, noch durch eine „reine oder empirische Anschauung“ zugänglich ist (KpV 5:31). Eine solche Argumentation muss versuchen, die Wirklichkeit des Gesetzes durch eine Analyse der Struktur des praktischen Selbstbewusstseins und dessen, was diesem a priori gegeben ist, aufzuklären. Meinem Vorschlag zufolge könnte ein phänomenologischer Ansatz, der sich exakt auf Formen der Gegebenheit für das Selbstbewusstsein konzentriert, in der Lage sein, eine solche Argumentation zu liefern. Im Folgenden möchte ich untersuchen, inwiefern dies auf der Basis einer Neudeutung von Passagen aus Sartres
Zu dieser Terminologie vgl. die Diskussion von Harry Frankfurts und Charles Taylors Theorien der personalen Autonomie in der Einleitung in diesem Band. Siehe Anscombe 1958, S. 4 f. Vgl. Freud 1996, S. 288 – 291.
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
„phänomenologischer Ontologie“ des Selbstbewusstseins in Das Sein und das Nichts möglich ist. Um den besonderen Beitrag der phänomenologischen Reflexion für die Frage nach dem Gesetz der Freiheit genauer zu charakterisieren, möchte ich zunächst einen Zugang zu Kants Begriff des Gesetzes skizzieren, der jenen Beitrag motivieren kann. Was bedeutet es also, dass das Gesetz der Freiheit ein „Faktum“ des praktischen Selbstbewusstseins ist? In §7 der zweiten Kritik schreibt Kant, dass das Gesetz ein Faktum sei, „weil es sich für sich selbst uns aufdringt“ (KpV 5:31). Die Frage lautet demnach: Wie oder in welcher Form drängt es sich uns auf? Was könnte es für das praktische Subjekt und sein gewöhnliches Selbstbewusstsein heißen, dass es sich mit Blick auf ein „Gesetz“ versteht? Kant zufolge enthält die Vorstellung eines praktischen Gesetzes, wenn wir sie auf einen endlichen Willen anwenden, den Gedanken eines doppelten Effekts: die Subtraktion einer jeden vorgängigen voluntativen Einstellung, die sich auf ein Interesse an bestimmten Gütern gründet, sowie eine dadurch erzeugte „Reinigung“ der Selbstbeziehung des Willens. Ein reiner Handlungsgrund (also ein solcher, der die Form des Gesetzes hat) ist demzufolge eine Vorstellung, die sich auf den Willen als eine solche Kausalität bezieht, welche allein durch die Form vernünftiger Gründe bestimmt werden kann. Wir haben es also mit dem Effekt einer eigentümlichen Reduktion zu tun: Nachdem der Wille von jeder Rücksicht auf praktische Gegenstände befreit ist, die ihn interessieren – und mithin von jedem Wunsch, jeder Neigung, jedem Trieb oder Bedürfnis –, bleibt ein „nacktes“ Wollen übrig, das an nichts anderem als an der Vernünftigkeit seiner Gründe orientiert ist. Das mag etwas überspitzt klingen. Mir geht es hier jedoch darum, diese eigentümliche „Nacktheit“ zu betonen, die das praktische Bewusstsein in dem Maße ereilt, in dem es sich unter ein Gesetz im vollen Sinne gestellt sieht. Wenn wir also die Vorstellung einer derart purifizierten normativen Selbstbeziehung als diejenige Form bestimmen können, die das „Erscheinen“ eines praktischen Gesetzes im Bewusstsein des Willens annimmt, dann liegt also der erste Effekt dieses Gesetzes darin, dass das praktische Subjekt sich genötigt sieht, ein bestimmtes Selbstverständnis anzunehmen. Provisorisch können wir uns diesem „erzwungenen“ Selbstverständnis durch eine Analogie mit der Konstitution eines Rechtssubjekts nähern, d. h. eines solchen Subjekts, das durch die Existenz eines (in diesem Fall: rechtlichen) Gesetzes bestimmt ist. Es geht hier nur um den allerersten und unmittelbaren Unterschied, den ein Gesetz im Allgemeinen für ein Subjekt macht – respektive darum, was a priori in dem Bewusstsein liegt, Gegenstand und Adressat*in eines Gesetzes zu sein. Wahrscheinlich gibt es keine bessere und knappere Formulierung für diesen spezifischen Unterschied als die hegelsche aus den einleitenden Paragraphen des ersten Teils der Rechtsphilosophie. In §36 schreibt Hegel, dass das grundlegende Gebot des Rechts schlechthin lautet: „sei eine Person“.²¹⁵ Was ein Gesetz dem Subjekt befiehlt, bevor es irgendetwas
Hegel 1970b, § 36, S. 95.
5.2 Das präreflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Negativität
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Spezifisches befiehlt – allein auf der Basis, dass es ein Gesetz ist – besteht darin, ein bestimmtes Selbstverständnis zu übernehmen. Sich selbst als Adressat*in eines Gesetzes zu begreifen, als ein Wesen, das sich einem Gesetz gegenüber zu verantworten hat, bedeutet notwendig, sich als eine Person zu begreifen und sich eine Persönlichkeit zuzuschreiben. Hegel beschreibt dieses Selbstverständnis folgendermaßen: Die Persönlichkeit fängt erst da an, insofern das Subjekt nicht bloß ein Selbstbewußtsein überhaupt von sich hat als konkretem, auf irgendeine Weise bestimmtem, sondern vielmehr ein Selbstbewußtsein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist. (Hegel 1970b, § 35, S. 93)
Diese Beschreibung ist der Sache nach identisch mit Kants Beschreibung dessen, was es heißt, auf selbstbewusste Weise unter einem Gesetz zu stehen. Es bedeutet, sich von jeder besonderen Absicht und individuellen Bestimmtheit zu distanzieren. Die Dimension also, in welcher ein praktisches Gesetz im gewöhnlichen Bewusstsein erscheint, ist die Dimension des praktischen Selbstverständnisses. In diesem Sinne beschreibt der Begriff des Gesetzes eine spezifische Form des Selbstbewusstseins, nämlich: sich selbst als eine Person zu verstehen. Und der Begriff der Person bezieht sich zuallererst, in Hegels Worten, auf ein „abstraktes Ich“, d. h. es handelt sich um eine Selbstbeziehung des Willens, die zunächst von allen konkreten Relationen des Begehrens zu Gegenständen abstrahiert.
5.2 Das präreflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Negativität Soweit die Analogie mit dem „abstrakten Recht“ trägt, besteht der unmittelbare Effekt der adressierenden Kraft des Gesetzes darin, dass ein Subjekt sich selbst als eine Person identifiziert.²¹⁶ Warum aber sollten wir das Gesetz der Freiheit so verstehen, dass es ein solches Selbstverständnis hervorbringt? Inwiefern ist die Vorstellung eines Gesetzes unverzichtbar, um die Persönlichkeit als notwendige Form einer praktischen Selbstkonzeption zu begreifen? Was wir verstehen wollen, ist demnach das präzise Verhältnis zwischen den Begriffen des Gesetzes, der Freiheit und der Persönlichkeit. Um dies zu erreichen, müssen wir uns zunächst der begrifflichen Reziprozität zwischen dem moralischen Gesetz und der Freiheit zuwenden, um danach zu erläutern, wo und wie der Begriff der Person innerhalb dieser Reziprozität situiert ist. Kant zufolge stehen Freiheit und Gesetz in einem ontologischen und einem epistemologischen Verhältnis:
Diese Auffassung kommt Korsgaards Interpretation sehr nahe (vgl. Korsgaard 1996, S. 94– 104).
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
[W]äre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist […], anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein. (KpV 5:5 Fn)
Ich schlage vor, diese beiden Relationen vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen einem Freiheitsbewusstsein qua Subjekt und einem Freiheitsbewusstsein qua Objekt zu verstehen.²¹⁷ Wenn wir das Gesetz als Erkenntnisgrund des Freiheitsbewusstseins denken, fassen wir Freiheit in einem objektiven Sinn auf: Sie ist der Gegenstand unseres praktischen Bewusstseins von uns selbst, d. h. wir erkennen uns auf der Basis des praktischen Gesetzes als eine freie Person. Beziehen wir uns hingegen auf das Freiheitsbewusstsein, das in unserem Bewusstsein des Gesetzes als Seinsgrund vorausgesetzt ist, verstehen wir es in einem subjektiven Sinn: Die Freiheit ist hier nicht der Gegenstand unseres Bewusstseins, sondern beschreibt die Seinsweise des bewussten Subjekts. Als solche steht diese Freiheit in keinem unmittelbaren Verhältnis zum Begriff der Person. Wir haben es vielmehr mit einer „prä-personalen“ Freiheit zu tun. Wie ist es möglich, ein solches „prä-personales“ Bewusstsein der Freiheit zu denken? Und in welchem Sinn stellt es den Seinsgrund des moralischen Gesetzes dar? Um diese Fragen zu klären, will ich Kants Auffassung des praktischen Selbstbewusstseins im Licht von Sartres „ontologischer Phänomenologie“ des „präreflexiven Cogito“ betrachten. In diesem Kontext bestünde Sartres Beitrag zunächst darin, die begriffliche Reziprozität zwischen Freiheit und Gesetz in ihrer ontologischen Dimension zu erläutern, d. h. das Freiheitsbewusstsein im subjektiven Sinne aufzuklären. Sartre fasst das Bewusstsein strikt als Tätigkeit oder Vollzug: als selbstbewussten Akt des Sich-auf-etwas-Beziehens. Wenn es stimmt, dass Bewusstsein nur auf der Basis von Selbstbewusstsein möglich ist, dann muss letzteres, so Sartre, in seiner basalen Form ein „präreflexives Cogito“ sein (Sartre 1994, S. 22). Wäre das Selbstbewusstsein auf fundamentalem Niveau ein Akt der Reflexion, der sich auf einen anderen Akt der intentionalen Bezugnahme zurückbezieht (um diesen als bewussten Akt zu konstituieren), benötigte dieses Selbstbewusstsein seinerseits einen weiteren Akt der Reflexion, damit es als bewusste Bezugnahme stattfinden könnte.²¹⁸ Um diesen Regress zu vermeiden, betont Sartre, dass wir das Selbstbewusstsein nicht mit der Struktur eines gegenständlichen Bewusstseins von etwas verwechseln dürfen. Und er bestreitet entsprechend, dass das Selbstbewusstsein einen kognitiven Charakter aufweist.²¹⁹ Über diesen Gedanken lässt sich natürlich streiten. Wenn ich einen Tisch wahrnehme oder Erbsen zähle oder ein Bild male, habe ich zugleich ein Bewusstsein davon, dass ich wahrnehme, zähle oder male. Dieses Bewusstsein habe ich nicht auf der
Vgl. Longuenesse 2007, S. 859. Siehe Sartre 1994, S. 20 f. Sartre reagiert hier bekannterweise auf Fichtes Kritik am sogenannten Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins, vgl. Henrich 1966, S. 194– 196. Vgl. Sartre 1994, S. 21 f.
5.2 Das präreflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Negativität
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Basis von Selbstbeobachtung, sondern auf der Basis von präreflexivem Selbstbewusstsein. Warum also sollten wir dann nicht sagen: Präreflexives Selbstbewusstsein ist unmittelbares und nicht-empirisches Wissen von sich? Für Sartre würde diese Auffassung darauf hinauslaufen, die ursprüngliche Dimension des Selbstbewusstseins zu verfehlen. Die Beziehung zwischen dem präreflexiven Cogito und dem Bewusstsein-von-etwas entspricht ihm zufolge einem Seinsverhältnis. Auf der Basis seines Selbstbewusstseins existiert das Subjekt als ein Bewusstsein-von-etwas: „Dieses Bewußtsein (von) sich dürfen wir nicht als ein neues Bewußtsein betrachten, sondern als den einzig möglichen Existenzmodus für ein Bewußtsein von etwas“ (Sartre 1994, S. 23). Offensichtlich muss sich das Bewusstsein im Vollzug der Bezugnahme von seinem Gegenstand aktiv unterscheiden: Es muss zugleich Bewusstsein von etwas und Bewusstsein vom Unterschied zwischen sich und dem Gegenstand sein. In eben diesem Sinne enthält jedes Bewusstsein Selbstbewusstsein, und zwar ein Bewusstsein davon, Bewusstsein von einem Objekt (und nicht: Objekt für sich selbst) zu sein. Dasjenige also, was diesen Unterschied innerhalb bewusster Akte „präsent“ hält und den bewussten Akt als Akt der Bezugnahme transparent macht, ist das Selbstbewusstsein, das Sartre entsprechend als „présence à soi“, als „Anwesenheit bei sich“ definiert (Sartre 1994, S. 169). Derart können wir das präreflexive Cogito als den Seinsgrund bestimmen, auf dessen Basis ein bewusstes Subjekt jederzeit wissen und sagen kann: Ich zähle Erbsen, ich schaue mir den Tisch an, ich male ein Bild. Auf der Basis von Selbstbewusstsein kann das Subjekt also jederzeit reflexiv auf die bewusste Bezugnahme (auf die praktische Relation zu Erbsen, Tischen, Bildern) zurückkommen. Die Reflexion betrifft hier nicht das Bewusstsein in einem reifizierten Sinn, sondern sie richtet sich auf den bewussten Bezug auf Gegenstände. Das präreflexive Selbstbewusstsein ist so die ontologische Möglichkeitsbedingung des Wissens von sich. Als strikt aktbezogenes „Bei-sich-sein“ aber können und dürfen wir es nicht, so Sartre, als einen Wissensbezug bestimmen: Im Moment des Vollzugs der bewussten Tätigkeit des Erbsenzählens, Tischbetrachtens oder Bildmalens liegt das Wissen im Gegenstandsbezug selbst, d. h. in der Bezugnahme auf einen existierenden oder existierend zu machenden Gegenstand der Welt – und nicht im Selbstbewusstsein von dieser Bezugnahme. Letzteres ist vielmehr der Grund dafür, dass ich meinen wissenden Gegenstandsbezug für mich selbst transparent und reflexiv vergegenwärtigen kann. Wenn man sich an dieser Stelle aber an die Unterscheidung zwischen einem materialen und einem formalen Wissen erinnert, d. h. zwischen einer gegenstandsbezogenen Erkenntnis und einer (apriorischen) Erkenntnis von der Form des Gegenstandsbezugs,²²⁰ könnte man Sartre entgegenhalten, dass seine Argumentation gar nicht ausschließt, das präreflexive Selbstbewusstsein als ein formales Wissen zu verstehen. Das oben rekonstruierte Argument erhebt schließlich nur den Anspruch,
Diese Erinnerung verdanke ich Stephen Engstrom.
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
die Auffassung zurückzuweisen, dass das Cogito in irgendeinem gegenständlichen Sinne als unmittelbares Wissen von sich zu betrachten sei. Mit Blick auf Kant (und vor allem auf das Argument der B-Auflage der transzendentalen Deduktion) ließe sich also behaupten, dass das präreflexive Cogito keinem bloßen Bei-sich-sein des gegenstandsbezogenen Bewusstseins entspricht, sondern zugleich ein Bewusstsein von der Form des bewussten Gegenstandsbezugs einschließt. Der entscheidende Punkt besteht Sartre zufolge nun darin, dass es für das Subjekt unmöglich ist, sein eigenes präreflexives Cogito gegenständlich („material“) zu erkennen: Das präreflexive Bei-sich-sein befähigt das Subjekt, auf sein Bewusstseinvon-etwas zu reflektieren und die eigene bewusste Relation zu einem Gegenstand selbst zum Gegenstand zu machen. Da aber das Bei-sich-sein der bewussten Aktivität von keinem weiteren Bei-sich-sein begleitet wird und kein höherstufiges Selbstbewusstsein in ein und demselben Akt zugegen ist, kann das präreflexive Cogito selbst dem Bewusstsein nicht „gegeben“ sein. Das erkennende Selbst in seiner existentiellen Dimension kann nicht zum Gegenstand substantieller theoretischer Erkenntnis werden. Und daraus folgt, dass die grundlegende Spontaneität des Denkens als solche unbestimmbar ist. Diese Einsicht lässt sich in einen Zusammenhang mit Kants Grundgedanken aus dem Abschnitt über die „Paralogismen der reinen Vernunft“ in der ersten Kritik bringen. Kants Punkt besteht hier bekanntlich darin, zu bestreiten, dass metaphysisches (d. h. reflexives apriorisches) Wissen vom Cogito als solchem möglich ist. Das Argument lautet, sehr kurz gesagt: Das theoretische Konzept einer personalen und substantiellen Identität des Subjekts entspricht einer transzendentalen Illusion, weil das „bestimmende […] Selbst“ der logische Grund für die Anwendung der Kategorien des Verstandes auf Gegenstände der Erfahrung ist und deshalb auf der Basis einer Anwendung eben dieser Kategorien nicht als ein bestimmter Gegenstand – als „bestimmbare[s] Selbst“ – vorgestellt werden kann (KrV B 407).²²¹ Ich will hier nicht weiter auf Kants Argument eingehen, sondern nur einen Aspekt hervorheben. In dem Maße, wie es Kant zu zeigen gelingt, dass das bestimmende Selbst nicht theoretisch bestimmt werden kann, hat es den Anschein, als würde er dem „Ich denke“ jede Realität absprechen. Dass dies eine falsche Einschätzung ist, macht Kant explizit klar. In der zweiten Auflage der Kritik schreibt er: „Die Apperzeption ist etwas Reales“ (KrV B 419). Und ein paar Seiten weiter heißt es: „Das Ich denke, ist […] ein empirischer Satz und enthält den Satz, Ich existiere, in sich“ (KrV B 42 Fn.). Obgleich die Behauptung, dass das „Ich denke“ einen empirischen Gehalt habe, etwas merkwürdig klingt, ist Kants Punkt hier zunächst nur, dass der Gedanke des Cogito analytisch den Gedanken der Existenz impliziert. Man könnte dies mit Sartre so deuten: Der Begriff des Selbstbewusstseins enthält analytisch den Begriff der Existenz, eben weil das Selbstbewusstsein die Existenzweise des denkenden Bewusstseins beschreibt. Da aber die Rede von „Existenz“ hier, wie Kant betont, keinen kategorialen Sinn besitzt –
Siehe zu diesem Argument die ganze Passage in KrV B 406 – 413.
5.2 Das präreflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Negativität
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sie trägt nichts zur begrifflichen Bestimmtheit des „Ich denke“ bei –, handelt es sich um die Vorstellung der Existenz eines unbestimmten Gegenstandes. Kants Rede vom „Ich denke“ als „empirischem Satz“ bedeutet vor diesem Hintergrund nicht, dass das Cogito ein bestimmter empirischer Gegenstand ist. Sie besagt eher, dass die unbestimmte Existenz des Cogito einen Gegenstandsbereich eröffnet, und zwar für den „inneren Sinn“ respektive für die auf die bewusste Tätigkeit des Denkens bezogene Selbsterfahrung. Der Satz „ich denke“, schreibt Kant, ist „etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst, (Noumenon), sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satze, ich denke, als ein solches bezeichnet wird“ (KrV B 422). Wenn wir nun diese Rede vom Cogito als „etwas Realem“ mit Kants Bemerkungen aus der ersten Auflage der Kritik verbinden, wo er das „Ich“ als eine „einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung“ bezeichnet (KrV A 345 f.) oder als ein „Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt […], als ein transzendentales Subjekt der Gedanken […] = x“ (KrV A 346), dann scheint es Kant darum zu gehen, eine vorbegriffliche, vor-anschauliche und nicht-personale Dimension der Wirklichkeit eines Selbstbewusstseins zu denken, und zwar eine Wirklichkeit, die weder eine noumenale noch eine phänomenale, sondern eher eine „transzendentale“ ist: eine Art des Existierens, die allein in der bewussten Bezugnahme auf Gegenstände liegt, insofern das Selbstbewusstsein diese Bezugnahme konstituiert und ihre Verwirklichung ermöglicht. Kehren wir nun zu Sartre zurück, um diese Vorstellung einer kognitiv unbestimmbaren Realität des „Ich denke“ weiter zu erläutern. Eine derartige Unbestimmtheit des Selbstbewusstseins hat in der Tat keine bloß negative Bedeutung, sondern eine positive: Das Selbstbewusstsein beschreibt eine existierende Negativität ²²² – ein „Nichts“, wie Sartre sich ausdrückt (Sartre 1994, S. 81) – und von dieser Eigenschaft können wir in der Tat wissen. Die Quelle für diese Negativität liegt nämlich in der formalen Differenz zwischen den beiden Relationen, welche die Struktur des Bewusstseins ausmachen: dem Seinsverhältnis (dem präreflexiven Selbstverhältnis) und dem Gegenstandsverhältnis (dem Bewusstsein-von-etwas). Es sollte klar sein, dass diese Differenz wesentlich als Einheit oder unmittelbare Identität begriffen werden muss: Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein sind Aspekte ein und desselben Bewusstseins. Wenn ich von einer bestimmten Sache überzeugt bin, bin ich dies auf eine selbstbewusste Weise. Weil mein präreflexives Selbstbewusstsein sich nicht aktiv von dem Bewusstsein meiner Überzeugung unterscheidet, dessen Selbstbewusstsein es ist, sind das Cogito und die Überzeugung ein und dasselbe. Der Grund dafür ist offensichtlich: Um zwischen Bewusstsein und Gegenstand zu unterscheiden, bedarf es eines Selbstbewusstseins, das diesen Unterschied „präsent“ hält. Da ein präreflexives Selbstbewusstsein aber von keinem weiteren Selbstbewusstsein „begleitet“ wird, ist auch kein Bewusstsein vom Unter-
Vgl. Sartre 1994, S. 99 f.
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
schied zwischen Selbstbewusstsein und Bewusstsein verfügbar. Beide stehen somit in einer unmittelbaren Einheit. Gleichwohl impliziert ihre Einheit einen strukturellen oder formalen Unterschied. Wenn ich mich dazu entschließe, das Rauchen aufzugeben, dann bin ich dieses sich entscheidende Bewusstsein und das Selbstbewusstsein von meiner Entscheidung. Sartre insistiert jedoch darauf, dass diese Identität einen zwar unqualifizierten, aber realisierbaren Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Bewusstsein impliziert, d. h. einen in meinem Akt des Entschlusses nicht bemerkten, aber bemerkbaren Unterschied zwischen moi, der sich seiner Entscheidung bewusst ist, und je, der diese Entscheidung trifft. „Nichts“, schreibt Sartre, unterscheidet das moi vom je (Sartre 1994, S. 89), „nichts“ trennt das sich entscheidende Bewusstsein von seinem Selbstbewusstsein. Dennoch hat dieses „Nichts“ eine positive Relevanz, da es für mein reflexives Bewusstsein, das auf meinen Entschluss Bezug nimmt, „gegeben“ ist.²²³ Das strukturelle Bestehen eines nicht gemachten (oder „präsent“ gehaltenen) Unterschieds befähigt also meine Reflexion dazu, exakt diese Differenz zwischen Mir und Mir zu erschließen. Aus der Perspektive meines reflexiven Bewusstseins offenbart sich so ein Unterschied zwischen mir als dem Willen, das Rauchen aufzuhören, und mir als der Fähigkeit, willentlich meine Entscheidung zu revidieren oder ihr zuwiderzuhandeln. Sartre zufolge ist es vor allem das sich aus diesem Bewusstsein ergebende Phänomen der praktischen „Angst“, das jene wesentliche Möglichkeit einer „Teilung“ meines Selbst bezeugt.²²⁴ In dem Maße nun, wie ein solches reflexives Angst-Bewusstsein immer möglich ist, besitzt das Subjekt ein allgemeines Vermögen des Sichvon-sich-Distanzierens, das in der differenzierten Struktur des menschlichen Bewusstseins verankert ist. Aus diesem Grund sieht sich Sartre dazu berechtigt, die Seinsweise selbstbewusster Spontaneität als Freiheit der Negativität zu bestimmen – und zwar insofern das präreflexive Selbstbewusstsein die ontologische Bedingung ist, auf der die Fähigkeit des Sich-von-sich-distanzierens basiert. In dieser Beschreibung können wir bereits einen Grundzug desjenigen praktischen Selbstbewusstseins erkennen, das Kant als Willkür fasst: Die Fähigkeit, die konstitutive Bezogenheit auf die subjektive Kausalität des Gefühls unbestimmt zu machen,²²⁵ beschreibt einen Aspekt der Fähigkeit, sich von jeder Bestimmung, die das Subjekt in sich (durch Rezeptivität) vorfindet oder sich (durch Spontaneität) gegeben hat, zu distanzieren. Auf der Ebene der praktischen Reflexion hingegen lässt sich diejenige Form des Selbstbewusstseins situieren, die Kant als Wille anspricht, d. h. die Ausübung praktischer Vernunft. Ein wesentliches Moment dieses reflexiven Selbstbewusstseins besteht darin, sich eigens auf die Negativität des Bewusstseins der Willkür zu beziehen, und zwar zunächst im Sinne der kognitiv nicht bestimmbaren, prä-personalen Wirklichkeit des Selbstbewusstseins: Das reflexive Selbstbewusstsein
Siehe Sartre 1994, S. 99. Vgl. Sartre 1994, S. 108 f. Vgl. dazu die Rekonstruktion im Abschnitt 4.2.
5.3 Das reflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Autonomie
163
erschließt gewissermaßen die Freiheit der Unbestimmtheit, die dem präreflexiven Selbstbewusstsein (im Sinne der Willkür) eignet.
5.3 Das reflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Autonomie Kommen wir zu Kants Reziprozitäts-These und zum Begriff eines Gesetzes der Freiheit zurück. Die Freiheit der Negativität ist die ratio essendi des Bewusstseins vom moralischen Gesetz insofern, als sie in der Seinsweise selbstbewusster Akte liegt, d. h. auf dem präreflexiven Selbstbewusstsein gründet. Ein Bewusstsein der Freiheit im rein subjektiven Sinne – als Freiheit der Unbestimmtheit oder des Sich-unbestimmt-Machens – bildet demnach die ontologische Voraussetzung für ein reflexives Bewusstsein vom Gesetz der Freiheit. Umgekehrt aber beschreibt das moralische Gesetz die ratio cognoscendi eines Freiheitsbewusstseins im objektiven Sinne, weil es den Grund darstellt, auf dessen Basis jenes negative Freiheitsbewusstsein als ein Gegenstand der Bestimmung gedacht werden kann, nämlich als Gegenstand einer praktischen Erkenntnis oder Selbstbestimmung. In diesem Sinne besitzt das moralische Gesetz eine transzendentale Funktion: Es ist die Bedingung der Möglichkeit, unter der sich das Subjekt auf seine eigene Spontaneität als Objekt beziehen und sein „bestimmendes Selbst“ tatsächlich als ein „bestimmbares Selbst“ betrachten kann. Nur wenn wir über ein Bewusstsein vom praktischen Gesetz verfügen, ist es uns demnach möglich, dass wir uns in unserer Freiheit selbst bestimmen. Denn weil das präreflexive Selbstbewusstsein, das unserer Spontaneität ontologisch zugrunde liegt, sowohl theoretisch unbestimmbar ist als auch eine Freiheit der Negativität beschreibt – beide Aspekte hängen wesentlich zusammen –, kann es auf der Basis des präreflexiven Selbstbewusstseins allein auch kein Freiheitsbewusstsein im objektiven Sinne geben. In dem Maße jedoch, in dem wir in unserem reflexiven Bewusstsein im Besitz eines apriorischen Begriffs der praktischen Bestimmbarkeit sind, nämlich des Begriffs eines Gesetzes der Freiheit, wird das Subjekt dazu befähigt, auf seine eigene Spontaneität im Sinne eines nicht-empirischen Gegenstands – einer praktisch hervorzubringenden Person – Bezug zu nehmen.²²⁶ Das Gesetz der Freiheit konstituiert derart den Gegenstand eines praktischen und reflexiven Bewusstseins überhaupt: das eigene „bestimmbare Selbst“. Wir dürfen allerdings diese transzendentale Funktion des Gesetzes, die Freiheit des Selbstbewusstseins als Gegenstand für dieses Selbstbewusstsein zu konstituieren, nicht in allzu enger Analogie zur transzendentalen Funktion der Verstandeskategorien denken. Die letzteren bilden gemeinsam die Bedingung der Möglichkeit der rezeptiven Gegebenheit von Gegenständen, während das Gesetz der Freiheit die Bedingung der Möglichkeit von Gegenständen beschreibt, die durch die Autonomie des Subjekts verwirklicht werden können. Ich werde versuchen, relativ kurz zwei eher
Vgl. KrV B 430 f.
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
abstrakte Merkmale herauszustellen, die das tätige Selbstbewusstsein als Gegenstand einer praktischen Erkenntnis im Allgemeinen aufweisen müsste. Die Form eines solchen „objektiven Selbst“ kann erstens nicht der Form eines möglichen Gegenstands der Erfahrung entsprechen, und zwar deshalb, weil die Wirklichkeit des Objekts im Bewusstsein dieses Objekts nicht vorausgesetzt werden kann. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Bezogen auf die Idee unbedingter Spontaneität muss das gegenständliche Selbst die Form eines Objekts annehmen, das nicht existiert – eines Gegenstands also, der nicht (rezeptiv) gegeben ist und mithin kein Teil der erfahrbaren Welt bildet. Dieses Nicht-Sein des objektiven Selbst spiegelt jene Negativität der Freiheit, die ich mit Sartre als Seinsgrund des Gesetzes gedeutet habe. Das Selbstbewusstsein kann nur in dem Maße zum Objekt einer praktischen Bestimmung werden, wie in der Form seiner Objektivität das kognitiv unbestimmbare Sein des Subjekts und die damit korrespondierende Fähigkeit des Sich-von-sich-Distanzierens reflektiert ist, die ein präreflexives Selbstbewusstsein ausmacht. Doch insofern es dieses unbestimmte Dasein und seine Freiheit selbst sind, die für das Subjekt bestimmbar werden sollen, ist zweitens erforderlich, dass das objektive Selbst eine Form der begrifflichen Einheit und Allgemeinheit aufweist, die Gegenstände der Erkenntnis kennzeichnet. Mit Sartre können wir dies so ausdrücken, dass die negative Freiheit, welche die Existenzweise des präreflexiven Selbstbewusstseins beschreibt, eine Art ontologischen Bedarf an Bestimmtheit generiert. Denn für das reflexive Bewusstsein ist jene Freiheit der Negativität offenbar, und zwar als ein „Mangel an Sein“ (Sartre 1994, S. 182) – der freilich einem Mangel an Bestimmtsein entspricht. Aus Kants Perspektive bedeutet dies allerdings, dass wir einen Mangel an Bestimmtheit nur in dem Maße erkennen können, wie wir über einen kategorialen Begriff des Bestimmtseins verfügen, der die notwendige Form eines Gegenstands des Wissens charakterisiert. Und dieser transzendentale Begriff beinhaltet die Vorstellung, dass die Bestimmtheit eines Gegenstands die Eigenschaften der Allgemeingültigkeit, Einheitlichkeit und Objektivität besitzt: Alle seine Bestimmungen müssen erstens nichtarbiträre sein, so dass sie konträre Bestimmungen nachhaltig ausschließen und sich derart aktiv aufrechterhalten lassen; diese Bestimmungen müssen zweitens mit anderen nichtarbiträren Bestimmungen eine bleibende, kohärente, sich selbst aufrechterhaltende Einheit bilden; und zuletzt gilt von dieser Einheit, dass sie in all ihren Bestimmungen als dieselbe wiedererkennbar ist und derart in ihrer Identität angesprochen werden kann, die sich durch alle Bestimmungen insofern hindurchzieht, als sie diese zusammenhält. Für Kant besagt dies in erster Linie, dass das „bestimmende Selbst“, soll es ein „bestimmbares“ und mithin Gegenstand einer allgemeinen und objektiven Bestimmung werden, unter einem Gesetz steht – und zwar einem Gesetz, das eine spezifische Form des Selbstverständnisses erzwingt: das Verständnis, dass „ich“ ein einfacher Gegenstand mit personaler Identität bin. Weil das „bestimmende Selbst“, das es zu bestimmen gilt, aber eine Spontaneität mit negativer Freiheit beschreibt, die sich selbst unbestimmt macht, muss das Gesetz der Bestimmtheit des objektiven Selbst ein Gesetz der Freiheit sein. Als ein solches Gesetz kann es nur das Gesetz eines Gegenstands sein, der nicht existiert (sofern er durch
5.3 Das reflexive Selbstbewusstsein als Freiheit der Autonomie
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einen selbst erzeugten „Mangel an Sein“ gezeichnet ist). Das war der erste Punkt. Da wir es aber mit einem Gesetz der Freiheit zu tun haben – und das ist der zweite Punkt –, müssen wir die objektive und allgemeine Bestimmtheit so verstehen, dass sie sein soll. Denken wir diese beiden Aspekte nun zusammen, bedeutet dies, dass die Form einer objektiv erkennbaren Gegenständlichkeit der bestimmenden (und sich unbestimmt machenden) Tätigkeit des Selbst als eine zu verwirklichende, durch Handlungen aktiv hervorzubringende auferlegt ist: Das Subjekt ist dazu aufgefordert, sich gemäß der Form der personalen Identität praktisch zu realisieren. Die Notwendigkeit, die Autonomie oder die Fähigkeit der praktischen Selbstbestimmung als Einheit von Gesetz und Freiheit zu denken, ergibt sich demnach aus dem internen Verhältnis zwischen dem Begriff des Gesetzes und dem Begriff der Personalität (im Sinne des objektiv bestimmbaren Selbst). Die Idee eines Gesetzes ist daher unverzichtbar für die Konstitution einer freien Person. Ohne sie wäre ein Subjekt nicht in der Lage, sich selbst als ein praktisches zu denken: als ein Subjekt, das seine eigene Tätigkeit auf freie Weise bestimmen kann. Denn es gewinnt ein Bewusstsein von seiner Fähigkeit der freien Selbstbestimmung nur dadurch, dass es seine Handlungen so vorstellt, dass sie die eigene Person im Sinne einer objektiv erkennbaren Gegenstandsform hervorbringen. Bis zu diesem Punkt habe ich also zu erläutern versucht, dass ein praktisches Subjekt ein Bewusstsein von sich als einem bestimmbaren Selbstbewusstsein insofern hat, als es über einen transzendentalen Begriff verfügt: den Begriff eines Gesetzes der Freiheit. Der „Träger“ dieses apriorischen Begriffs ist dabei offensichtlich nicht das präreflexive Selbstbewusstsein (der Willkür), das in seiner bestimmenden Tätigkeit bestimmbar werden soll, sondern vielmehr das Selbstbewusstsein der Reflexion (resp. des Willens): Im „Bei-sich-sein“ des praktischen Nachdenkens liegt ein Wissen von der für dieses Nachdenken konstitutiven Form des Gegenstandsbezugs, der freilich den Charakter eines Selbstbezugs hat. Die Frage, die ich nun verfolge, richtet sich auf das Verhältnis zwischen dem so verstandenen reflexiven Bewusstsein des Willens und dem präreflexiven Selbstbewusstsein der Willkür: Wie können wir zunächst das Selbstbewusstsein desjenigen reflexiven Bewusstseins beschreiben, das auf das „bestimmende Selbst“ (auf die Spontaneität der Willkür) Bezug nimmt, und zwar im Sinne eines durch das Gesetz objektiv „bestimmbaren Selbst“? Und inwiefern reflektiert sich dieser Bezug auf der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins der Willkür? Das Cogito der Reflexion befindet sich natürlich in unmittelbarer Einheit mit dem reflexiven Bewusstsein, dessen Selbstbewusstsein es ist und das sich auf eine praktische Bestimmung der eigenen Person bezieht. Allerdings ist damit noch nicht klar, wie dieses selbstbewusste Bewusstsein der Reflexion auch mit seinem Gegenstand eins sein kann, d. h. mit dem Selbstbewusstsein, das es in der Gestalt eines objektiven Bestimmungsgrundes bestimmt. Wenn, mit anderen Worten, das Selbstbewusstsein der Selbstbestimmung, das in der praktischen Vernunft oder dem Willen im kantischen Sinne liegt, wirklich ein Bewusstsein der Selbstreflexion sein soll, dann muss dieses Bewusstsein ein Bewusstsein der Identität des reflektierenden und des re-
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flektierten Selbst beinhalten. Und diese Identität muss im Cogito der praktischen Reflexion selbst repräsentiert sein: Sie muss einen Aspekt des formalen Wissens bilden, das den Bezug der Reflexion auf das tätige Selbstbewusstsein (der Willkür) strukturiert und das durch den apriorischen Begriff eines Gesetzes der Freiheit artikuliert wird. Das Subjekt scheint sich aber auf der Ebene seiner praktischen Reflexion einfach nur als ein Selbst zu „entwerfen“, das unter einem Gesetz steht oder mit der einfachen Form einer personalen Identität übereinstimmt. Für die reflektierende Vernunft bliebe ihre Identität mit dem reflektierten Selbst eine bloß gedachte Einheit: eine Einheit, die als noch nicht verwirklichte und damit zugleich als eine noch zu verwirklichende vorgestellt wird. Damit kann sich die praktische Reflexion des Willens aber nicht begnügen. Denn die Verwirklichung jener (zunächst nur normativ geforderten) Identität von reflektierendem und reflektiertem Bewusstsein setzt voraus, dass die Bestimmbarkeit des letzteren durch das Gesetz der Vernunft gewährleitet ist. Damit diese Bestimmbarkeit aber gewährleistet sein kann, bedarf es einer Einheit des reflexiven Selbstbewusstseins mit dem reflektierten Selbstbewusstsein, die in einer existenziellen Dimension angesiedelt ist. Diese Einheit, die die Strukturen des reflexiven und des präreflexiven Selbst umgreift und zusammenhält, entspricht natürlich dem Bewusstsein, als einfache Person zu existieren. Das „bestimmende Selbst“ der Willkür muss also als Person durch das Gesetz bestimmbar sein, oder anders gesagt: Es muss diese objektive Bestimmbarkeit – seine Personalität – in seiner Seinsweise als Selbstbewusstsein reflektieren. Dieses Erfordernis bedeutet nun nicht, dass aus dem präreflexiven Bewusstsein der Willkür ein reflexives Bewusstsein wird; es heißt vielmehr, dass der reflexive Wille sich in der Willkür wiedererkennen kann – dass er die objektive Bestimmbarkeit der Willkür im Bewusstsein der Willkür reflektiert findet. Die Bestimmbarkeit der eigenen Person durch das Gesetz ist daher auf der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins der Willkür selbst zu situieren. Weil aber diese Vorstellung der objektiven Bestimmbarkeit durch das Gesetz allererst durch dieses Gesetz selbst konstituiert wird, das dem Selbstbewusstsein des reflexiven Willens – und nicht dem Selbstbewusstsein der Willkür – angehört, stellt sich die Frage, wie sie im präreflexiven Cogito der letzteren zur Geltung gebracht werden kann. Es sollte offensichtlich sein, dass wir an dieser Stelle auf das gleiche Problem stoßen, dem wir am Ende des vierten Kapitels in der Diskussion von Kants Begriff einer moralischen Triebfeder begegnet sind. Dort hatte ich argumentiert, dass eine Aktualisierung des reinen Willens nur in dem Maße als Triebfeder des Begehrungsvermögens angesprochen werden kann, wie sich die Vorstellung des Gesetzes zugleich im Selbstverhältnis der Willkür aktualisiert. Diese Aktualisierung ist eine Bedingung dafür, dass ein moralisches Urteil der Vernunft überhaupt jene negative Wirkung auf das Selbstverständnis und die Rezeptivität der Willkür entfalten kann, die Kant ihm zutraut. Ich hatte aber auch versucht zu zeigen, dass Kant nicht in der Lage ist, diese zweifache Aktualisierung des Gesetzes – auf der Ebene des reflexiven Willens und auf der Ebene des Selbstverhältnisses der Willkür – verständlich zu machen.Wenn es nun um die Klärung geht, wie die objektive Bestimmbarkeit der eigenen Person durch das
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Gesetz des reflexiven Cogito in der Seinsweise der Willkür selbst zur Geltung gebracht – d. h. für ihr präreflexives Selbstbewusstsein offenbar – werden kann, dann adressieren wir folglich dieselbe Schwierigkeit (und zwar dieses Mal nicht aus einer vermögenstheoretischen, sondern aus einer selbstbewusstseinstheoretischen Perspektive). Aus der Kombination von Kants Theorie des freien Willens mit Einsichten von Sartres Phänomenologie des Selbstbewusstseins wird deutlich, dass eine wesentliche Pointe des Gesetzes der Freiheit darin besteht, dass das präreflexive Selbstbewusstsein der Willkür sich selbst gegenständlich wird und dabei für sich selbst den Charakter eines (nichtempirischen) Objekts gewinnt – einen Charakter, der sie durch das Gesetz als bestimmbar erscheinen lässt. Und dazu bedarf es einer Aktualisierung der Perspektive der praktischen Reflexion im präreflexiven Selbstverhältnis der Willkür – einer Aktualisierung, durch die dem „bestimmenden Selbst“ der eigene „Mangel an Sein“ im Sinne eines Mangels an objektivem Bestimmtsein erfahrbar und bewusst wird. Erst auf der Basis eines solchen Bewusstseins können wir davon sprechen, dass die Spontaneität der Willkür objektiv bestimmbar ist: Ihre eigene objektive Bestimmbarkeit muss für sie selbst durchsichtig werden.
5.4. Die präreflexive Distanz zu sich selbst: Der Blick der Anderen Auf welche Weise gewinnt nun das „bestimmende Selbst“ der Willkür ein Bewusstsein seiner objektiven Bestimmbarkeit durch das Gesetz? Im Folgenden werde ich versuchen, eine eher experimentelle Antwort auf diese Frage zu formulieren. Die Grundannahme dieses Versuchs lautet, dass der Schlüssel für eine Lösung in Sartres Analyse des Bewusstseins von anderem Bewusstsein zu finden ist (die er im Kapitel über den „Blick“ in Das Sein und das Nichts präsentiert²²⁷). Sein Gedanke, dass wir mit einer grundlegenden Struktur des präreflexiven Selbstbewusstseins rechnen müssen, die „der Existenz des Andern“ gilt (Sartre 1994, S. 455), liefert uns den entscheidenden Hinweis, so der Vorschlag, wie die praktische Spontaneität des „bestimmenden Selbst“ sich gegenständlich und eine Empfänglichkeit der Willkür für objektive Bestimmungsgründe der Vernunft gedacht werden kann. Im „Blick“-Kapitel beschäftigt sich Sartre mit der Frage, wie die Relation des Bewusstseins zu einem anderen Bewusstsein phänomenologisch aufzuklären ist. Im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit Husserls, Heideggers und Hegels Theorien der Intersubjektivität²²⁸ arbeitet er zunächst die wesentliche Bedingung heraus, die eine angemessene Theorie des Bewusstseins von anderen Subjekten zu erfüllen hat: Die „erste Beziehung meines Bewußtseins zu dem des Anderen“ muss eine Gestalt haben, „in der der Andere mir direkt als Subjet, wenn auch in Verbindung mit mir, gegeben“ ist (Sartre 1994, S. 458). Aus dieser Bedingung leitet Sartre die
Vgl. Sartre 1994, S. 457– 538. Siehe Sartre 1994, S. 453 – 456.
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Konsequenz ab, dass „der fundamentale Bezug, der eigentliche Typus meines FürAndere-seins“ (Sartre 1994, S. 458) nicht epistemologisch gedeutet werden darf: Er entspricht keinem Verhältnis der Erkenntnis und liegt folglich auch nicht im Bewusstsein-von-etwas, aus dessen Perspektive die Andere primär als „Objekt-Andere“ (Sartre 1994, S. 463) und allenfalls sekundär als Subjekt erscheint.²²⁹ Die „ursprüngliche Beziehung zum Anderen“ (Sartre 1994, S. 458) beschreibt vielmehr ein Seinsverhältnis, das auf der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins situiert ist: Wenn der Objekt-Andere in Verbindung mit der Welt als der Gegenstand definiert ist, der das sieht, was ich sehe, muss meine fundamentale Verbindung mit dem Subjekt-Anderen [d. h. mit dem Anderen als Subjekt eines selbstbewussten Bezugs auf die Welt] auf meine permanente Möglichkeit zurückgeführt werden können, durch Andere gesehen zu werden. Das heißt, in der Enthüllung meines Objekt-seins für den Anderen und durch sie muß ich die Anwesenheit seines Subjekt-seins erfassen können. (Sartre 1994, S. 463 f.)
Auf die Details des Arguments, mit dem Sartre diese These zu verteidigen versucht, werde ich hier nicht weiter eingehen.²³⁰ Was seine Idee einer „Enthüllung meines Objekt-seins für den Anderen“ für den Kontext dieser Untersuchung interessant macht, ist die Theorie der „Objektivierung“ des eigenen Selbstbewusstseins, die Sartre mit ihr formuliert. Wir wollen wissen, wie die „Objektivierung“ der eigenen praktischen Spontaneität, die durch das reflexive Cogito geschieht, mit einem Bewusstsein der Bestimmbarkeit der eigenen Person – des „objektiven Selbst“ – zusammenkommt, das auf der Ebene der selbstbewussten Seinsweise der Willkür situiert ist. Welche Struktur des präreflexiven Cogito könnte uns eine solche Selbst-Objektivierung verständlich machen? Die Gegenständlichkeit des handelnden Selbst ist zunächst nur für das reflexive Cogito verfügbar, nicht aber für das präreflexive Selbstbewusstsein, dessen grundlegende Verfasstheit von Sartre als Struktur des „Für-sich“ bestimmt wird (Sartre 1994, S. 169). In dieser fundamentalen Dimension bin ich „der, der grundsätzlich nicht das Objekt für sich selbst sein kann“ (Sartre 1994, S. 464). Dieser Umstand liegt im Begriff eines wesentlich präreflexiven Cogito begründet: Im unmittelbaren Selbstbewusstsein als Handelnde gibt es keine Ich-Instanz als Adresse von Zuschreibungen oder Gegenstand von Urteilen. Das Subjekt bleibt „für sich“ – es bringt sich nur unter eine subjektive Einheit des Selbstbewusstseins, die keine hinreichende reflexive Distanz zwischen dem (empirisch-bedingten) Willen und der endlichen Willkür beinhaltet
Sartre benutzt im „Blick“-Kapitel durchgängig das generische Maskulinum „der Andere“. Diese Verwendung ist genauso wenig überraschend wie hinsichtlich ihrer geschlechtsabstrahierenden Kapazität fragwürdig. Ich werde daher im Folgenden das generische Femininum oder den geschlechtsneutralen Plural gebrauchen, um jene Verwendung zumindest zu konterkarieren. Zur Rekonstruktion und kritischen Diskussion von Sartres Argumentation siehe Gardner 2009, S. 126 – 143, sowie Honneth 2003.
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und somit auch keine Vergegenständlichung des eigenen „bestimmenden Selbst“ enthält.²³¹ Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass das Subjekt in eine präreflexive Distanz zu sich selbst treten kann. Sartre führt diesen Gedanken einer nicht-reflexiven Selbst-Objektivierung im Rahmen einer phänomenologischen Analyse des „Schamgefühls“ ein (Sartre 1994, S. 504), das er im Sinne einer „abrupte[n] Modifikation“ (Sartre 1994, S. 482) der Struktur des Für-sich-seins beschreibt: Nehmen wir an, ich sei aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekommen, mein Ohr an eine Tür zu legen, durch ein Schlüsselloch zu gucken. Ich bin allein und auf der Ebene des nicht-thetischen [d. h. präreflexiven] Bewußtseins (von) mir. (Sartre 1994, S. 467) Jetzt habe ich Schritte im Flur gehört: man sieht mich. Was soll das heißen? Das heißt, daß ich in meinem Sein plötzlich getroffen bin und daß wesentliche Modifikationen in meinen Strukturen erscheinen […]. (Sartre 1994, S. 469)
Die entscheidende Modifikation, die sich in dieser Schlüsselloch-Szene ergibt, ist der „Einbruch des Ich“ (Sartre 1994, S. 469) ins präreflexive Selbstbewusstsein, den Sartre in dramatischen Farben malt: „[J]etzt ist das Ich dabei, das unreflektierte Bewußtsein heimzusuchen“ (Sartre 1994, S. 470). Das „Ich“, das hier das präreflexive Bewusstsein „heimsucht“, ist freilich nicht das tätige Ich des unmittelbaren Selbstbewusstseins, sondern ein „Objekt-Ich“ (Sartre 1994, S. 491). In der Erfahrung der Scham, die Sartre ausdrücklich nicht als einen psychischen Zustand, sondern als eine Gestalt des Selbstbewusstseins fasst, offenbart sich dieser Objektcharakter des Ich in dem Ausgenblick, in dem es sich dem Blick Anderer ausgesetzt wähnt: „ich schäme mich über mich vor Anderen“ (Sartre 1994, S. 490). Sartre betrachtet das Phänomen der Scham demnach als paradigmatisch für eine radikale ontologische Transformation des ei-
Um es noch einmal zu betonen: Ein reflexiver Bezug auf die Einheit des Willens impliziert eine Art der Vergegenständlichung, die keine Reifizierung darstellt. Für das reflexive Cogito entspricht das „objektive Selbst“ keinem theoretisch erkennbaren oder beobachten Gegenstand – was keineswegs ausschließt, dass es Gegenstand einer praktischen Erkenntnis ist und derart auch grundsätzlich die Bedingungen epistemischer Gegenständlichkeit (nämlich die Bedingungen der Objektivität, Einheitlichkeit und Identität) erfüllt. Ein reflexiver Bezug auf die objektive Einheit des Willens hat deshalb die Form eines Bezugs auf eine „Selbstkonzeption“, die vom präreflexiven Selbstverständnis abgehoben, aber in Handlungen zu verwirklichen ist. Und er setzt einen Standpunkt der reflexiven Distanz zu sich selbst voraus – und mithin ein Bewusstsein der Selbstdifferenz, die für das präreflexive Cogito gerade nicht charakteristisch ist. Mein praktisches Bewusstsein „klebt an meinen Handlungen; es ist meine Handlungen“ (Sartre 1994, S. 468). Deshalb ist die „absolute Spontaneität der Willkür“ (Religion 6:24) auch in der Bedeutung, in der Kant sie sich wünscht – nämlich als wesentlich durch reine Vernunft objektiv Bestimmbare – zunächst gar nicht ansprechbar. Das präreflexive Cogito der Willkür, das sich unter die subjektive Einheit des Willens bringt, bezieht sich im Modus seines Für-sich-seins auf eine reflexive Vernunft nur im Sinne einer empirisch-bedingten Vernunft: Letztere spielt die Rolle, die verschiedenen Zwecke und Mittel zu koordinieren, die in der bewussten Ausrichtung auf das Handeln in gegebenen Situationen enthalten sind; sie ist nicht dazu angetan, die Einheit des Willens zu „objektivieren“.
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genen präreflexiven Selbstverhältnisses, der er den Titel „Für-Andere-sein“ gibt (Sartre 1994, S. 458): „So ist der Andere zunächst für mich das Sein, für das ich Objekt bin, das heißt das Sein, durch das ich meine Objektheit gewinne“ (Sartre 1994, S. 486). Dadurch jedoch, dass das Ich seine „Objektheit“ gewinnt, verliert es zugleich seine Subjektivität: Seine Objektivierung enthält „eine ausdrückliche Negation. Das Objekt ist das, was nicht das Bewußtsein ist […]“ (Sartre 1994, S. 491). In dem Maße also, wie das Ich für sich selbst den Status eines Objekts für die Andere gewinnt, hört es auf, für sich selbst ein tätiges Bewusstsein zu sein: „Also ist das Objekt-Ich-für-mich ein Ich, das nicht Ich ist, das heißt nicht die Merkmale des Bewußtseins hat. Es ist vermindertes Bewußtsein; die Objektivierung ist eine radikale Metamorphose […]“ (Sartre 1994, S. 491). Diese „Metamorphose“ geht allerdings nicht so weit, dass das tätige Ich zu einem bloßen empirischen Ding wird, in dem sein praktischer Charakter völlig erloschen wäre. Der Blick gilt vielmehr exakt dem tätigen Ich, das er in ein Objekt der Bewertung verwandelt: „[E]rblickt werden heißt sich als unerkanntes Objekt von unerkennbaren Beurteilungen, insbesondere Wert-Beurteilungen, erfassen“ (Sartre 1994, S. 481). Die Metamorphose in ein „Objekt-Ich“ etabliert das „bestimmende Selbst“ folglich als eine Instanz der Zurechnung, in dem das eigene Wollen und Handeln zum Gegenstand von evaluativen Zuschreibungen und Werturteilen wird. Es ist demnach nicht so, dass im „Scham-Bewußtsein“ (Sartre 1994, S. 490) das Für-sich-sein des handelnden Bewusstseins einfach in den Hintergrund tritt und durch die Struktur des Für-Andere-seins ersetzt wird. Vielmehr durchläuft das Fürsich-sein selbst eine Modifikation: Durch den Blick der Anderen wird das präreflexive Bewusstsein für sich, d. h. in seinem Für-sich-sein, zum Gegenstand des Blicks der Anderen – es wird „Für-sich-für-Andere-sein“ (Sartre 1994, S. 506). Inwiefern müssen wir aber mit dieser Seinsweise „für Andere“ die Vorstellung verbinden, dass das Subjekt sich „als unerkanntes Objekt von unerkennbaren Beurteilungen“ begreift? In erster Linie, d. h. auf dem fundamentalen Niveau des Für-Andere-seins, ist „das Band zwischen meinem unreflektierten Bewußtsein und meinem angeblickten-Ego ein Band nicht des Erkennens, sondern des Seins. Ich bin, jenseits aller Erkenntnis, die ich haben kann, dieses Ich, das ein anderer erkennt“ (Sartre 1994, S. 471). Sartre will natürlich nicht bestreiten, dass ich ein Wissen darüber erlangen kann, wie Andere mich beurteilen; er will vielmehr bestreiten, dass das präreflexive Verhältnis, in dem das Subjekt zu sich selbst steht, wenn es sich als Adressat*in des Blicks Anderer erfährt, ein Verhältnis des Erkennens darstellt. Es handelt sich vielmehr zunächst um „eine Seinsbeziehung“ (Sartre 1994, S. 472): Ich erkenne nicht, wie die Andere mich sieht; ich erkenne vielmehr an, dass ich genau dieses Sein bin, das mir in meinem Fürmich-sein verborgen bleibt, aber von der Anderen erkannt und beurteilt wird. Denn die „Scham ist ihrer Natur nach Anerkennung: Ich erkenne an, daß ich bin, wie Andere mich sehen“ (Sartre 1994, S. 406); sie ist „Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt. Ich kann mich nur meiner Freiheit schämen, insofern sie mir entgeht und gegebenes Objekt wird“ (Sartre 1994, S. 471). Indem das handelnde Subjekt diese veräußerte Existenzweise seiner selbst unmittelbar als die eigene anerkennt – und sich für diese verantwortlich fühlt – erkennt
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es damit allerdings zugleich an, dass dieses objektiv gewordene Selbst eine Bestimmtheit besitzt, die dem eigenen Für-sich-sein „entgeht“. Das Bewusstsein der eigenen Bestimmbarkeit als Objekt ist somit kein Bewusstsein der Spontaneität: Es ist kein Bewusstsein, dass die eigene Spontaneität durch und für die eigene Spontaneität selbst objektivierbar und derart in einem objektiven Sinn bestimmbar ist. Im Gegenteil: Die eigene Spontaneität erscheint dem präreflexiven Cogito so, dass sie durch die Freiheit und Spontaneität Anderer in einem objektiven Sinn bestimmbar ist. Das Bewusstsein der Bestimmbarkeit seiner selbst in einem objektiven Sinn entspricht daher einem Bewusstsein der Rezeptivität: einem Bewusstsein der Empfänglichkeit für Bestimmungen der eigenen selbstbewussten Seinsweise, die durch das urteilende Bewusstsein anderer Subjekte vorgenommen werden. In dem Maße allerdings, wie diese Bestimmungen des eigenen objektiven Selbst den Charakter von Bestimmungen meiner Rezeptivität besitzen – ohne darin durch die subjektive Kausalität von Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen vermittelt zu sein – handelt es sich zunächst um keine genuin praktischen Bestimmungen: Sie sind nicht konstitutiv für die Aktualisierung des eigenen Begehrungsvermögens. Sie beziehen sich zwar auf das eigene praktische Leben; weil sie aber keine Bestimmungen des Wollens und Handelns, d. h. keine Bestimmungen zur Kausalität der eigenen Vorstellungen sind, sondern allein Bestimmungen des zum Objekt gewordenen Wollens und Handelns, bleibt zunächst auch unklar, inwiefern in der Struktur des FürAndere-seins die Lösung für das Rätsel der objektiven Bestimmbarkeit der eigenen praktischen Spontaneität bestehen kann. Wir müssen daher noch etwas genauer untersuchen, wie das Verhältnis zwischen dem reflexiven und dem präreflexiven Cogito des praktischen Bewusstseins verfasst ist. Was es zu klären gilt, betrifft dabei vor allem das Verhältnis zwischen der epistemologischen Relation auf der einen Seite, die im Bezug der Reflexion oder der praktischen Erkenntnis auf das tätige Selbst liegt, und der ontologischen Relation auf der anderen Seite, die das Selbstverhältnis des präreflexiven Selbstbewusstseins strukturiert, d. h. das Für-sich-für-Andere-sein der praktischen Spontaneität der Willkür.²³² Vor dem Hintergrund von Sartres Gedanken des „Blicks der Anderen“ können wir zwei Formen der Einheit des reflexiven und präreflexiven Cogito unterscheiden – eine Einheit der Heteronomie und eine Einheit der Autonomie. Diese Unterscheidung geht zugleich mit zwei Bedeutungen einher, in denen wir von einer Freiheit der Negativität auf der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins sprechen können. In der Struktur des präreflexiven Bewusstseins von sich liegt erstens eine Freiheit der Negativität, die für das eigene reflexive Bewusstsein offenbar wird: Dadurch, dass Vgl. den Abschnitt 5.2. Zur Erinnerung: In der zweiten Kritik behauptet Kant, dass der reine Wille und die Freiheit der endlichen Willkür in einem epistemologischen und in einem ontologischen Verhältnis stehen. Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes ist der Erkenntnisgrund der Freiheit in einem objektiven Sinn, während die Freiheit der Negativität (d. h. die Freiheit in einem subjektiven Sinn) den Seinsgrund des Bewusstseins des moralischen Gesetzes darstellt.
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die Reflexion den Unterschied zwischen dem Bewusstsein-von-etwas und dem unmittelbaren Selbstbewusstsein von diesem Bewusstsein aufdeckt, erschließt es nicht nur die Fähigkeit der Willkür, sich von jeder gegebenen Bestimmung zu lösen – d. h. ihre negative Freiheit im subjektiven Sinn –, sondern auch einen „Mangel“ an subjektivem Bestimmtsein. Ich habe diese Freiheit der Negativität bisher so gedeutet, dass das Bewusstsein der Willkür eine praktische Einbildungskraft enthält, die die subjektive Kausalität des Gefühls unbestimmt und damit zugleich ihre Bestimmbarkeit durch die eigene Reflexion offenbar macht. Auf diese Weise gelangt das endliche Subjekt folglich zu einem Bewusstsein seiner Angewiesenheit auf die praktische Reflexion der Vernunft, d. h. zu einem Bewusstsein seiner Abhängigkeit von „hypothetische[n] Imperativen“ (KpV 5:20). Die bestimmende Tätigkeit der Willkür verfährt daher so, dass sie ihre „Kausalität der Freiheit“ im praktischen Urteilen bestimmt, und zwar dadurch, dass sie sich unter eine subjektive Einheit des Willens bringt, die wiederum durch das Prinzip der Selbstliebe organisiert ist. Hier ist die Freiheit der Negativität der Seinsgrund derjenigen Art der reflexiven Selbstbestimmung, die Kant als „pathologisch“ begreift und somit als eine Form der Heteronomie klassifiziert. In dieser Beschreibung bleibt das endliche Subjekt jedoch im Modus des Für-sichseins. Wie müssen wir das Verhältnis von Reflexion und präreflexivem Cogito aber fassen, wenn wir nun zweitens die Struktur des Für-Andere-seins berücksichtigen, d. h. jene ontologische Modifikation des präreflexiven Selbstbewusstseins, durch die das Subjekt ein Bewusstsein der Bestimmbarkeit seines „objektiven Selbst“ gewinnt? Zunächst hat es den Anschein, dass wir hier mit einer Erfahrung von Heteronomie konfrontiert sind – einer Erfahrung des passiven Bestimmtwerdens der eigenen Person durch die Werturteile und Zuschreibungen anderer, das dem Für-sich-sein des praktischen Selbstbewusstseins entzogen ist. Dieser Anschein ist nicht falsch. Denn der Blick der Anderen, der unmittelbar „bei mir anwesend“ ist (Sartre 1994, S. 484), der „ohne Distanz auf mir ruht und mich zugleich auf Distanz hält“ (Sartre 1994, S. 466), disloziert mein Für-mich-sein in eine soziale und objektive Dimension: „[E]rblickt werden heißt sich als unerkanntes Objekt von unerkennbaren Beurteilungen, insbesondere Wert-Beurteilungen, erfassen“ (Sartre 1994, S. 481). Damit geht offensichtlich eine zweite Bedeutung des „Seinsmangels“ einher, der für die eigene Reflexion durchsichtig wird: Diejenige Art der reflexiven Selbstbestimmung, die das Für-sich der endlichen Willkür im Zeichen der Glückseligkeit verfolgt, stellt sich dem eigenen reflexiven Blick als ein Mangel an objektivem Bestimmtsein dar; und die „Selbstliebe“, die der empirisch-bedingten praktischen Vernunft als Prinzip dient, um eine subjektive Einheit des Willens hervorzubringen und eine subjektive Bestimmtheit der praktischen Kausalität der Willkür zu garantieren, erscheint in der Perspektive der Reflexion nun plötzlich als ein „Hang, sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen der Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen“ (KpV 5:74). Offensichtlich aber taugen diese subjektiven Bestimmungsgründe gar nicht dazu, den objektiven und sozialen Sinn des eigenen praktischen Selbst zu bestimmen – denn dieser Sinn liegt im Blick der Anderen und nicht in der Perspektive des unmittelbaren Für-sich-seins. Das
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Problem besteht an dieser Stelle nicht im pathologischen Charakter von Triebfedern per se, die die Willkür in ihre Maximen „aufnimmt“; das Problem besteht vielmehr darin, dass die Orientierung der Willkür an der Rezeptivität des Gefühls gar nicht ausreicht, um das vollständige Dasein der eigenen praktischen Spontaneität zu erfassen, d. h. das „Für-sich-für-Andere-sein“, das nicht in pathologischer Selbstbestimmung aufgeht, sondern wesentlich in der Welt des Sozialen situiert ist. Dieser Mangel an objektivem Bestimmtsein, der der eigenen Willkür anhaftet, sofern sie im Modus ihres Für-sich-seins verbleibt, besitzt somit vom Blickwinkel der Reflexion zunächst die Bedeutung der Fremdbestimmung (nämlich durch die Urteile und Zuschreibungen Anderer). Kants kritische Diagnose, dass die pathologische Selbstbestimmung in Heteronomie umschlägt, findet ihre Evidenz demnach in der Perspektive der Reflexion auf das Für-Andere-sein: Die Reflexion erschließt allererst diese Einsicht in die Unfreiheit des eigenen Für-sich-seins und enthält folglich auch eine normative Zurückweisung der damit einhergehenden Form der Selbstbestimmung. Vor dem Hintergrund von Sartres Analyse des „Blicks“ ließe sich vermuten, dass der unmittelbare Effekt dieser reflexiven Einsicht auf das Selbstverständnis der Willkür der „Scham“ zumindest nahekommt.²³³ Freilich kann die vernünftige Reflexion bei dieser Einsicht nicht stehenbleiben. Sartre hält mit Blick auf das Für-Andere-sein fest, dass es „genaugenommen nicht so [ist], daß ich meine Freiheit verliere und ein Ding werde, sondern sie ist dort, außerhalb meiner gelebten Freiheit, wie ein gegebenes Attribut jenes Seins, das ich für den Andern bin“ (Sartre 1994, S. 474). Wenn es aber so ist, dass meine Freiheit nicht verlorengeht, sondern vielmehr eine neue Existenzform gewinnt, die für die selbstbezogene Tätigkeit der Willkür nicht zu bestimmen ist: Wie kann ich mich in dieser Dimension der Bestimmbarkeit durch den „Blick“ (d. h. durch die Urteile und Zuschreibungen) Anderer überhaupt als ein Subjekt der Freiheit verstehen? Das ist die Stelle, an der das Gesetz der Freiheit ins Spiel kommt, das dem reflexiven Cogito angehört: Es setzt die praktische Reflexion in die Lage, das, was zunächst als Quelle von Heteronomie erscheint, als Medium der Autonomie zu betrachten. Im Für-Andere-sein einen neuen Aspekt der eigenen Freiheit zu sehen bedeutet zunächst, eine zweite Ebene der Freiheit der Negativität aufzudecken, nämlich eine negative Freiheit der Willkür nicht allein mit Bezug auf den Einfluss von Neigungen und Gefühlen, sondern auch mit Bezug auf die Tendenz ihrer eigenen Spontaneität, sich selbsttätig von Neigungen und Gefühlen bestimmen zu lassen. Indem das endliche Subjekt durch den Blick der Anderen in eine präreflexive Distanz zu sich selbst gerückt wird, gewinnt es also zugleich auch ein reflexives Bewusstsein von seiner Fähigkeit, sich von genau derjenigen Art der praktischen Selbstbestim Das setzt natürlich voraus, dass wir die Scham hier nicht als einen psychischen Zustand unter anderen psychischen Zuständen fassen, sondern vielmehr, wie Sartre es tut, als eine allgemeine Art des Selbstbewusstseins, die einen „Mangel“ der eigenen Freiheit registriert, und zwar im Modus eines Bewusstseins der Rezeptivität – denn als Für-andere-sein „setze ich mich den Beurteilungen der anderen aus“ (Sartre 1994, S. 481).
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mung zu distanzieren, die das Für-sich-sein der eigenen Willkür charakterisiert. Hinsichtlich der Struktur des Für-Andere-seins geht das reflexive Bewusstsein eines Mangels an objektivem Bestimmtsein demnach ebenfalls mit dem Bewusstsein einer negativen Freiheit einher – nämlich dem Bewusstsein, dass die endliche Willkür die Negativität ihrer Freiheit auch gegen ihre eigene Spontaneität richten kann. Weshalb ist die reflexive Einsicht in diese erweiterte Kraft der Negativität, die der Freiheit der Willkür eignet, eine Einsicht, die dem Subjekt allein auf der Basis eines Bewusstseins vom praktischen Gesetz möglich wird? Und inwiefern wird das endliche Subjekt durch diese Einsicht dazu befähigt, eine anders geartete Abhängigkeit von der eigenen praktischen Reflexion anzuerkennen und damit auch in ein anderes Verhältnis zur Vernunft zu treten – nämlich in ein Verhältnis der Autonomie? Sartre hat deutlich gemacht, dass die einzige Weise, in der ein präreflexives Bewusstsein seiner selbst als Objekt gewahr werden kann, in der Struktur des Für-Andere-seins liegt. Da dieses Sein-für-Andere eine Form des Selbstbewusstseins beschreibt, besitzt das Subjekt ein präreflexives Bewusstsein von seiner Bestimmbarkeit als Objekt. Diese Bestimmbarkeit entspricht allerdings keiner Bestimmbarkeit durch sich selbst: Das präreflexive Bewusstsein ist Objekt nicht für sich, sondern für Andere. Als bestimmbares Objekt erscheint sich das Subjekt allerdings nicht allein aufgrund des Blicks der Anderen, sondern auch für den „Blick“ des eigenen reflexiven Bewusstseins.²³⁴ Mit Kant können wir daher hinzufügen, dass die einzige Weise, in der ein endlicher Wille in der Dimension seines Für-sich-für-Andere-seins seine Freiheit der Selbstbestimmung positiv aufrechterhalten kann, in der Autonomie der reinen Vernunft liegt. Der Standpunkt des reinen Willens ist der endlichen Willkür folglich insofern „vermittelbar“, als letztere über ein präreflexives Bewusstsein der eigenen Bestimmbarkeit als Objekt verfügt, ihre Seinsweise als Objekt a priori als die eigene anerkennt und in eine präreflexive Distanz zu sich selbst rückt. Auf der Basis dieser Anerkennung wird die endliche Willkür somit für den reinen Willen und seine objektiven Bestimmungsgründe adressierbar: Weil das Gesetz der Freiheit die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, die eigene Bestimmbarkeit als Objekt selbst zu bestimmen, und zwar auf objektive Weise. Kraft seines präreflexiven Bewusstseins, dem Blick der Anderen ausgesetzt zu sein, anerkennt das Subjekt der Willkür aber nicht nur die Tatsache, dass sein Wollen und Handeln eine soziale und objektive Existenz hat, die dem eigenen Für-sich-sein entzogen ist; es ist sich auch a priori darüber bewusst, dass es für seine objektive und soziale Existenzweise selbst verantwortlich ist.²³⁵ Die Verantwortung für das eigene Für-sich-für-Andere-sein kann das endliche Subjekt aber
Mit Bezug auf das Erscheinen des Für-Andere-seins schreibt Sartre, dass „diese Rolle, die nur dem reflexiven Bewußtsein zufiel: das Gegenwärtig-machen des Ich, […] jetzt dem unreflektierten Bewußtsein an[gehört]“. Und er fügt hinzu: „Doch das reflexive Bewußtsein hat direkt das Ich zum Objekt. Das unreflektierte Bewußtsein erfaßt die Person nicht direkt und nicht als sein Objekt: die Person ist dem Bewußtsein gegenwärtig, insofern sie Objekt für Andere ist“ (Sartre 1994, S. 470). Denn, so Sartre, „dieses neue Sein, das für Andere erscheint, liegt nicht in Anderen: ich bin dafür verantwortlich“ (Sartre 1994, S. 407).
5.4. Die präreflexive Distanz zu sich selbst: Der Blick der Anderen
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nur übernehmen, wenn es dabei zugleich seine Angewiesenheit auf die praktische Reflexion der reinen Vernunft anerkennt. Das Gesetz der Vernunft befähigt das endliche Subjekt nicht dazu, sich selbst als Objekt zu verstehen (denn das liegt bereits im präreflexiven Cogito der Existenz Anderer); das Gesetz der Vernunft befähigt das endliche Subjekt vielmehr dazu, die eigene bestimmende Tätigkeit in diesem Verständnis – d. h. in ihrer objektiven und sozialen Seinsweise – positiv zu bestimmen. Das Gesetz erschließt dem endlichen Subjekt demnach eine andersartige Weise des Könnens: Es kann (anders), weil es (anders) soll.²³⁶ Die reflexive Distanz zu sich selbst, die die (reine) Vernunft in einen Abstand zum endlichen Willen bringt, und die präreflexive Distanz zu sich selbst, die durch den Blick der Anderen vermittelt ist: diese beiden Aspekte der negativen Freiheit von sich selbst bilden demnach eine Einheit, sofern sie zwei Aspekte des gleichen Selbstbezugs sind. Die Reflexion des reinen Willens bezieht sich auf das objektiv bestimmbare Selbst, d. h. ihr eigentlicher Gegenstand ist das Für-sich-für-Andere-sein der Willkür (und nicht bloß ihr Für-sich-sein). Darin liegt der Grund, weshalb Sartre behaupten kann, dass der „Andere […] der unentbehrliche Vermittler zwischen mir und mir selbst“ ist (Sartre 1994, S. 406): Der reflexive Selbstbezug, der für die Autonomie charakteristisch ist, entspricht einem Bezug auf das Selbst, der durch den Blick der Anderen vermittelt wird; und das Gesetz der Freiheit ist genau derjenige transzendentale Begriff, der es dem endlichen Subjekt ermöglicht, sich auf sein eigenes Fürsich-für-Andere praktisch zu beziehen und es zum Gegenstand einer objektiven Bestimmung zu machen.²³⁷
Im Leben der Freiheit hat Thomas Khurana gezeigt, dass das Verhältnis von Können und Sollen bei Kant nicht gemäß der Formel „Ought implies Can“ verstanden werden kann. Das Bewusstsein des unbedingten Sollens, das im reinen Willen liegt, enthält die Fähigkeit, dieses Sollen auch zu wollen und zu verwirklichen, nicht wie eine analytische Implikation, die im Begriff des Sollens schon vorausgesetzt ist, aber unabhängig von diesem Begriff verständlich gemacht werden kann (siehe Khurana 2017, S. 181, 191). Bei Kant verhält es sich vielmehr umgekehrt: Das praktische Bewusstsein des Sollens „[eröffnet] uns Zugang zu einem besonderen, uns sonst unbekanntem Können“ (Khurana 2017, S. 180), d. h. es „entdeckt“ allererst eine Fähigkeit (Khurana 2017, S. 191). Vgl. dazu KpV 5:30 sowie MS 6:404 f. Sartres Behauptung, dass der „Andere […] der unentbehrliche Vermittler zwischen mir und mir selbst“ ist (Sartre 1994, S. 406), gilt demnach nicht nur für das präreflexive, sondern auch für das reflexive Cogito: Die Anwesenheit der Anderen erschließt dem präreflexiven Selbstbewusstsein die eigene Bestimmbarkeit als Objekt, während sie dem reflexiven Selbstbewusstsein die Möglichkeit einer objektiven Bestimmung der Spontaneität der Willkür eröffnet. In beiden Fällen ist der Selbstbezug über Andere vermittelt: Die Vorstellung des Gesetzes adressiert den endlichen Willen so, wie er im Blick anonymer Anderer erscheint; und die Empfänglichkeit der Willkür für das Gesetz ist über die Empfänglichkeit für den Blick der Anderen vermittelt. Das Für-Andere-sein ist eine präreflexive Modifikation des Für-sich-seins; das Gesetz der Freiheit ist eine reflexive Modifikation des Für-Andere-seins.
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5.5 Die Aufforderung zur Autonomie Was es nun zu begreifen gilt, ist die Weise, in der diese praktische Bestimmung des Für-sich-für-Andere-seins funktioniert. Bis hierhin habe ich argumentiert, dass uns Sartres phänomenologische Konzeption des Blicks einerseits ein Verständnis dafür eröffnet, wie auf der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins der Willkür ein Bewusstsein der Bestimmbarkeit als Objekt denkbar wird. Sie ermöglicht uns andererseits aber auch eine präzisere Fassung des eigentlichen Gegenstands des reinen Willens: Das Gesetz der Freiheit bezieht sich auf die eigene Person im Sinne des FürAndere-seins. Sofern aber die existenzielle Transformation, die das Für-sich-für-Andere-sein beschreibt, einer „Selbstentfremdung“ (Sartre 1994, S. 475) des unmittelbaren praktischen Selbstbewusstseins der Willkür gleichkommt²³⁸ und mithin denjenigen Modus der Selbstbestimmung unterbricht, der im Für-sich-sein der Willkür liegt, stellt sich die Frage, wie das endliche Subjekt ein genuin praktisches Selbstbewusstsein – ein Selbstbewusstsein als handelndes Subjekt – entwickeln kann, das die Verantwortung für das eigene Für-Andere-sein nicht zurückweist, sondern vielmehr anerkennt und aufrechterhält. Eine phänomenologische und selbstbewusstseinstheoretische Deutung der Autonomie, die eine Antwort auf diese Frage formulieren kann, besitzt zwei zusammenhängende Elemente: eine Neubeschreibung der „imperativischen“ Aufforderung, die im reflexiven Bezug des Selbstbewusstseins der reinen Vernunft auf das Bewusstsein der Willkür liegt; und eine Neubeschreibung der Empfänglichkeit der Willkür für die Vorstellung des Gesetzes – d. h. eine neue Darstellung des zugleich unterbrechenden und befähigenden Effekts, den jene Aufforderung auf die Willkür und ihre spontane Orientierung an der Rezeptivität des Gefühls hat. Wie ist also die Struktur der reflexiven Selbst-Aufforderung zu verstehen, die für die Autonomie charakteristisch ist? Und wie erscheint die Vorstellung des Gesetzes dem Selbstbewusstsein der Willkür? Insofern der reflexive Wille auf das Für-Anderesein der Willkür bezogen ist, tritt er in eine interne Relation zum Urteilsstandpunkt der Anderen. Sartre geht davon aus, dass die präreflexive Struktur des Für-Andere-seins der Reflexion eine Perspektive auf das eigene „objektive Selbst“ eröffnet, die dem Standpunkt der Anderen in einem gewissen Sinne korrespondiert: „[D]urch das Erscheinen Anderer werde ich in die Lage versetzt, über mich selbst ein Urteil wie über ein Objekt zu fällen, denn als Objekt erscheine ich Anderen“ (Sartre 1994, S. 406, Hervorhebung von mir). Das reflexive Subjekt erkennt demnach das eigene praktische
Sartre charakterisiert die Struktur des Blicks als „Entfremdung meiner eigenen Möglichkeiten“ (Sartre 1994, S. 474): Weil meine Handlungen im Blick der Anderen erscheinen, werden sie zum Medium ihrer Möglichkeiten – sie werden „durch den Anderen auf seine eigenen Möglichkeiten hin überschritten“ (Sartre 1994, S. 475). Meine Handlungen sind daher nicht mehr nur die Verwirklichung meiner praktischen Möglichkeiten, sondern generieren zugleich Handlungsmöglichkeiten für Andere, die den Sinn meiner Handlungen verändern. In diesem Sinne „impliziert die Selbstentfremdung, die das Gesehenwerden ist, die Entfremdung der Welt, die ich organisiere“ (Sartre 1994, S. 457).
5.5 Die Aufforderung zur Autonomie
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Selbst, indem es sich „mit den Augen Anderer“ betrachtet – die eigene bestimmende Tätigkeit aus dem Blickwinkel anonymer oder konkreter Anderer beurteilt und bewertet, sich selbst mit Bezug auf die Perspektiven beliebiger oder besonderer Anderer kritisiert oder versichert. In dem Maße jedoch, wie die Reflexion der (reinen) Vernunft ein Bewusstsein vom Gesetz der Freiheit enthält, kann das Subjekt das eigene Wollen und Handeln mit Blick auf die Position der Anderen nicht allein nachträglich bewerten oder antizipierend beurteilen; sie besitzt darüber hinaus die Fähigkeit, die eigene Willkür in ihrer objektiven und sozialen Dimension, d. h. mit Bezug auf die Freiheit und Spontaneität der Anderen, praktisch zu erkennen und zu bestimmen. Dazu muss der reine Wille aber einen Standpunkt einnehmen, in dem sich der eigene reflexive Blick auf sich selbst nicht vom Blick anonymer Anderer unterscheidet. Die Weise, in der sich das Subjekt selbst adressiert und in der es für sich selbst ansprechbar wird, wenn es seinen reinen Willen auf die eigene Willkür bezieht, hat demnach zwei Aspekte: Einerseits ist der reflexive Selbstbezug wesentlich durch die präreflexive Struktur des Blicks der Anderen vermittelt, d. h. das Subjekt des reinen Willens adressiert die eigene Persönlichkeit im Sinne des Für-sich-für-Andere-seins; und andererseits nimmt die praktische Vernunft dabei einen Standpunkt ein, der sich normativ nicht vom Standpunkt der Freiheit Anderer unterscheidet. Die für die Autonomie des Willens charakteristische Selbstaufforderung geschieht demnach so, als würde das endliche Subjekt, wenn es den Anspruch der reinen Vernunft an sich richtet, damit zugleich von anonymen Anderen zur Autonomie aufgefordert. ²³⁹ Meine Annahme lautet demnach, dass das endliche Subjekt durch das Gesetz der Freiheit nur dadurch ansprechbar wird, dass die „imperativische“ Vorstellung des Gesetzes in der „figuralen“ Form des Blicks der Anderen erscheint.²⁴⁰ Worin besteht der Grund für diese Annahme? Das Gesetz kann offenbar eine subjektive Wirklichkeit in einem endlichen Willen nur in dem Maße gewinnen, wie die reflexive Distanz Diese Formulierung ist an Fichtes Gedanken der „Aufforderung“ angelehnt, den er in §3 des ersten Hauptstücks der Grundlage des Naturrechts entwickelt (vgl. Fichte 1845, S. 33). Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Fichtes Theorie der Aufforderung und Sartres Theorie des Blicks vgl. Gardner 2005, S. 337– 348. In diesem Sinne schließe ich mich Jacques Lacans These an, dass das „Gebot [des moralischen Imperativs] als vom Anderen her an uns ergeht“ (Lacan 1986, S. 140). Der Untertitel des vorliegenden Kapitels – „Kant mit Sartre“ – ist natürlich eine Anspielung auf die Wendung, die Lacan seinem äußerst kryptischen Artikel zum Verhältnis von Kant und de Sade vorangestellt hat. Die Anspielung hat ein sachliches Motiv: Meine Überlegungen lassen sich in gewisser Weise auch so deuten, dass ich drei Behauptungen Lacans zur Verfasstheit des menschlichen Begehrens, die in dessen Auseinandersetzung mit Kants Begriff des moralischen Gesetzes eine zentrale Rolle spielen, in einem jeweils spezifischen Sinne verteidigen möchte. Neben der gerade zitierten These, dass das Gesetz „als vom Anderen her an uns ergeht“, geht es mir zudem um den Gedanken, dass „das Begehren des Menschen das Begehren des Anderen ist“ (Lacan 1991, S. 220), sowie um die Behauptung, „daß das Moralgesetz sich in Absicht auf das Reale als solches artikuliert“ (Lacan 1996, S. 95). Diese drei Thesen möchte ich hier keiner expliziten Auslegung unterziehen, d. h. es geht mir nicht darum, was Lacan genau mit ihnen meint. Ich behandle diese Thesen eher als Anregungen und Hinweise, die auf der argumentativen Ebene von „Kant mit Sartre“ genauer auszuführen sind.
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
(zwischen dem reinen Willen und der endlichen Willkür) dabei aufrechterhalten wird: in dem Maße, wie der Unterschied zwischen dem Standpunkt des Willens und dem Standpunkt der Willkür in der Willkür und ihrer selbstbewussten Seinsweise repräsentiert ist. ²⁴¹ Und das funktioniert für das präreflexive Cogito der Willkür nur, wenn die reflexive Distanz zu sich selbst mit der präreflexiven Distanz zu sich selbst (mit dem Unterschied zwischen der Person resp. dem „Objekt-Ich“ und dem tätigen Ich) zusammengeführt wird – und die reflexive Selbstdifferenz zugleich als präreflexive Selbstdifferenz erscheint. Das bedeutet wiederum, dass die Vorstellung des Gesetzes für das präreflexive Selbstbewusstsein der Willkür auch die Form des Blicks der Anderen annimmt. Wir sollten demnach davon ausgehen, dass das Gesetz der Freiheit dem endlichen Willen auf zwei Weisen erscheint: in der Gestalt der eigenen praktischen Reflexion und in der Gestalt der Freiheit der Anderen.²⁴² Der eigene Wille oder die eigene Vernunft beschreibt demnach nur die eine Gestalt, in der das Gesetz einem Subjekt gegeben ist, d. h. nur die eine Form der Aktualisierung des Gesetzes im praktischen Selbstbewusstsein. Denn neben dem eigenen reflexiven Willen existiert noch eine zweite Form der Aktualisierung des Gesetzes, nämlich im präreflexiven Selbstbewusstsein der Willkür und in ihrem Für-Andere-sein. Gerade weil die Vorstellung des praktischen Gesetzes auf das Für-sich-für-Andere bezogen ist, muss diese Struktur des Seins-für-Andere a priori in die Form ihrer Aktualisierung im praktischen Selbstbewusstsein mit einbezogen sein – und zwar im Sinne des Bewusstseins eines Anspruchs, der nicht allein ein Anspruch der „eigenen“ Vernunft ist, sondern auch ein solcher, der sich zugleich vom Ort der Anderen ausgehend an das Subjekt richtet. Die Aktualisierung des reinen Willens, der die eigene Willkür mit der Forderung eines unbedingten Sollens adressiert, beinhaltet derart eine Aktualisierung der Struktur des Blicks der Anderen, in der die präreflexive Anwesenheit-der-Anderen-bei-mir (das unmittelbare Selbstbewusstsein, Objekt des Blicks der Anderen zu sein) die Form einer universalen Aufforderung annimmt. Und nur in dem Maße, wie die die reflexive
Kant schreibt in der Grundlegung: „Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt gehörig und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig“ (GMS 4:453). Auf den ersten Blick scheint Kant hier schlicht zwei Standpunkte und zwei Mitgliedschaften gegenüberzustellen. Tatsächlich aber ist der zweite Standpunkt komplexer als der erste, denn er beschreibt das Selbstbewusstsein von der eigenen Mitgliedschaft in der Sinnenwelt derart, dass es zugleich auf das Selbstbewusstsein von der eigenen Mitgliedschaft in der Verstandeswelt verweist. Das Selbstbewusstsein des „verpflichteten“ Subjekts impliziert auf diese Weise das Bewusstsein einer Teilung oder Differenz im Selbst. In ihrer Deutung von Kants Begriff des „Eigendünkels“ hat Francey Russell dafür argumentiert, dass wir die Vorstellung des moralischen Gesetzes so verstehen sollten, dass sie wesentlich zwei Erscheinungsweisen besitzt: „crucially, the law ‚shows up‘ for human beings […] in two guises: one’s own reason and other persons“ (Russell 2019, S. 268). Eine sorgfältige Analyse des „Eigendünkels“ und der Art des Fehlers, die in dieser Tendenz des endlichen Willens liegt, zeigt demnach, dass wir von Anfang an mit diesen beiden Gestalten des Selbstbewusstseins vom moralischen Gesetz rechnen müssen (siehe Russell 2019, S. 282).
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Aktualisierung des Gesetzes mit dieser präreflexiven Aktualisierung zusammenfällt, können wir davon sprechen, dass das Gesetz überhaupt eine Aktualisierung des menschlichen Begehrungsvermögens, d. h. ein desideratives Bewusstseins oder eine „Triebfeder“ des endlichen Willens darstellt. Lässt sich diese Behauptung plausibilisieren? – Der vermögenstheoretische Ansatz, der dieser Untersuchung zugrunde liegt und den ich in diesem Kapitel mit einer Theorie des praktischen Selbstbewusstseins anreichere, legt den Akzent auf die Tatsache, dass Geltungsprinzipien zugleich als Realisierungsprinzipien verständlich gemacht werden müssen. Den Gedanken eines Gesetzes der Freiheit sollten wir demnach so deuten, dass er zugleich eine Struktur des Begehrungsvermögens und des damit zusammenhängenden praktischen Selbstbewusstseins beschreibt. Kant zufolge hat ein Bestimmungsgrund des Willens die Form eines praktischen Gesetzes, wenn er „als objektiv, d.i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt“ wird (KpV 5:19). Wie Stephen Engstrom gezeigt hat, enthält Kants Rede von „objektiver Gültigkeit“ tatsächlich zwei Momente, nämlich neben der objektiven auch eine subjektive Form der Allgemeingültigkeit:²⁴³ Eine Bestimmung des Guten durch das praktische Gesetz besitzt in dem Maße objektive Allgemeingültigkeit, wie sie von allen Gegenständen gilt, die unter den Begriff eines praktischen Gesetzes der Vernunft fallen, d. h. von allen vernünftigen Wesen, die über eine freie Willkür verfügen; und eine Bestimmung des Guten durch das Gesetz besitzt subjektive Allgemeingültigkeit, wenn sie für alle Subjekte gilt, die über den Begriff eines praktischen Gesetzes verfügen, d. h. für alle vernünftigen Wesen, die einen reflexiven Willen haben. In der Form der universalen Geltung wird demnach die Struktur des Begehrungsvermögens reflektiert, d. h. sie entspricht einer Universalisierung des reflexiven Selbstbezugs – der Bezugnahme des Willens auf die Willkür. Kants Formulierung der Autonomie als „Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ (GMS 4:447), bringt diese Engführung der selbstbezüglichen Struktur des Gesetzes mit der selbstbezüglichen Struktur des Willens prägnant auf den Punkt. Wie müssen wir diese „Eigenschaft des Willens“ deuten, wenn wir sie mit Sartres Einsicht verknüpfen, dass das reflexive Selbstverhältnis über das Bewusstsein der Anderen vermittelt ist? Das Gesetz der Freiheit gilt einerseits mit subjektiver Allgemeingültigkeit: Ein reflexiver Wille, der ein Bewusstsein des Gesetzes artikuliert, ist der eigene Wille nur in dem Maße, wie er sich zugleich als der Wille aller vernünftigen Wesen selbsttätig aufrechterhalten lässt. Dieser Umstand wird im reflexiven Cogito so repräsentiert, dass das Subjekt hier einen Standpunkt einnimmt, der nicht dem bloßen Für-sich-sein des Selbstbewusstseins entspricht (d. h. der empirisch-bedingten Vernunft), sondern mit dieser Perspektive dadurch bricht, dass er mit dem Standpunkt anderer Subjekte de jure konvergiert. Die Forderung des so verstandenen reinen Willens, die sich für das endliche Subjekt zugleich als Forderung des Willens Anderer artikuliert, gilt andererseits mit objektiver Allgemeingültigkeit: Sie adressiert die Er-
Vgl. Engstrom 2009, S. 115 f.
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wartung an das Subjekt, seine eigene Willkür in ihrem Für-Andere-sein als Willkür aller vernünftigen Wesen zu verstehen. Wie wird diese Forderung im präreflexiven Cogito der Willkür repräsentiert? Im ersten Abschnitt dieses Kapitels habe ich mit Bezug auf Hegel angedeutet, dass das Bewusstsein, unter einem Gesetz zu stehen, den Gedanken enthält, sich als Person oder „abstraktes Ich“ zu verstehen: Das Bewusstsein des Gesetzes geht mit einer Selbstbeziehung des Willens einher, die von allen konkreten Relationen des Begehrens zu Gegenständen abstrahiert. Eine wahrhaft objektive Bestimmung des Für-Andere-seins kann dementsprechend nicht auf der Basis von „materialen Bestimmungsgründen“ erfolgen, die in der praktischen Rezeptivität des endlichen Subjekts begründet sind. Als „Materie“ des Begehrens definiert Kant „einen Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehrt wird“ (KpV 5:21). Materielle Bestimmungsgründe des Begehrens sind für Kant demnach solche, bei denen das rezeptive Bewusstsein der Lust (an der Vorstellung der Wirklichkeit eines Guts) dem Begehren nach einem Gut zugrunde liegt. Als solche gehören sie dem Für-sich-sein der endlichen Willkür und der Tendenz ihrer Spontaneität an, sich von rezeptiv konstituierten Triebfedern selbsttätig bestimmen zu lassen. Sofern sich die reflexive Vorstellung des Gesetzes also auf das endliche Subjekt und seine Willkür so bezieht, dass es sich in seinem Sein-für-Andere gewahr wird – und zwar derart, dass die Forderung des Gesetzes zugleich die Gestalt einer Forderung der Anderen annimmt –, wird das handelnde Subjekt in der Dimension seiner Freiheit der Negativität adressiert: Es rückt in eine Distanz zu seinen materiellen Triebfedern, es wird sich abstrakt. Ich hatte bereits deutlich gemacht, dass das endliche Subjekt dadurch, dass es durch das Bewusstsein des Blicks der Anderen in einen präreflexiven Abstand zu sich selbst gerückt wird, ein Bewusstsein von seiner Fähigkeit gewinnt, sich von genau derjenigen Art der praktischen Selbstbestimmung zu distanzieren, die das Für-sich-sein der eigenen Willkür charakterisiert: Es erfährt die Negativität seiner Freiheit als präreflexive Distanz zu seiner eigenen praktischen Spontaneität (d. h. zu seiner Tendenz, die eigene praktische Rezeptivität selbsttätig zur Geltung zu bringen). Die Willkür wird für sich selbst zur Willkür „aller vernünftigen Wesen“ also dadurch, dass sie sich der Negativität ihrer Freiheit bewusst wird. Sobald das Begehren des Subjekts für sich selbst die Form des Gesetzes annimmt, konfrontiert es sich mit dem reflexiven Begehren, sich in der eigenen Freiheit der Negativität gewissermaßen festzuhalten: In der Gestalt des Anspruchs der Freiheit der Anderen fordert es sich selbst dazu auf, in dieser Negativität zu verharren und die bloße Form dieser Negativität zum Ausgangspunkt der eigenen Selbstbestimmung zu machen. Was soll es bedeuten, die Form der so verstandenen Freiheit der Negativität zum alleinigen Bestimmungsgrund des eigenen Wollens und Handelns zu erheben? Ich werde eine Antwort auf diese Frage (weil sie keine wesentliche Funktion für das hier zu entwickelnde Argument besitzt) nur andeuten, und zwar unter Bezugnahme auf
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Étienne Balibars Begriff der égaliberté: ²⁴⁴ Die „reine Form“ der selbstbezüglichen Negativität der Freiheit, die im präreflexiven Selbstbewusstsein des Für-Andere-seins liegt, enthält den Gedanken, dass die Freiheit des eigenen Willens mit der Gleichheit aller Subjekte in einem gewissen Sinne zu identifizieren ist. Sofern der endliche Wille oder das Begehrungsvermögen sich selbst in der Form des Gesetzes gegenübertritt, haben wir es mit einer Struktur des praktischen Selbstbewusstseins zu tun, in der der eigene Wille zugleich als Wille der Anderen erscheint und die eigene Willkür sich nicht mehr von der Willkür beliebiger Anderer unterscheiden kann. Die eigene Freiheit steht damit in einem Verhältnis der Gleichheit zur Freiheit der Anderen. Sartre betont, dass das präreflexive Selbstbewusstsein des Für-Andere-seins dem endlichen Subjekt in erster Linie eine existenzielle Verwobenheit mit der Freiheit der Anderen erschließt. Diese Einsicht liegt im Bewusstsein der Freiheit der Negativität, das die Vorstellung des Gesetzes in den Vordergrund rückt: „[D]ie Freiheit des Anderen wird mir über die beunruhigende Unbestimmtheit des Seins enthüllt, das ich für ihn bin“ (Sartre 1994, S. 472). Zunächst hat es zwar den Anschein, als würde die Freiheit der Anderen meine Freiheit einschränken oder gar negieren. Es geht jedoch im Gegenteil um einen essentiellen Aspekt meiner eigenen Freiheit: „So ist dieses Sein“, das ich für die Andere bin, „nicht mein Mögliches, es geht nicht immer um es in meiner Freiheit: es ist im Gegenteil die Grenze meiner Freiheit, ihre ‚verdeckte Seite‘“ (Sartre 1994, S. 472). Die Freiheit der Anderen ist die „verdeckte Seite“ und „Grenze“ meiner Freiheit also in erster Linie nicht dadurch, dass diese Anderen meine Handlungsmöglichkeiten überschreiten, sich aneignen, beschränken oder unterminieren. Stattdessen verhält es sich so, dass mein reflexives Bewusstsein des Gesetzes mein Bewusstsein der Freiheit der Anderen und damit zugleich das Bewusstsein meiner eigenen Freiheit modifiziert: Die Negation der Freiheit meines Für-mich-seins, die in meinem Für-Andere-sein liegt, wird erstens zu einer Bedingung der Verwirklichung meiner Freiheit. Und um diese negative Selbstbeziehung meiner Freiheit positiv aufrechtzuerhalten und als Gesetz aufzufassen, muss ich meine Freiheit zweitens mit der Freiheit der Anderen „gleichsetzen“.²⁴⁵ Denn wenn meine Freiheit der Selbstbestimmung eine solche ist, die wesentlich ein „Objekt“ für die Freiheit der Selbstbestimmung der Anderen ist, dann kann ich meine Freiheit nur in dem Maße realisieren, wie ich sie gemeinsam mit der Freiheit der Anderen realisiere. Unsere Freiheiten sind einander „Medien“ der Realisierung unserer Freiheiten. Damit sich die Freiheiten nicht an- und gegeneinander negieren, müssen sie sich als gleiche Freiheiten erkennen: als „Gleichfreiheiten“ – als Freiheiten, die sich nur unter der Bedingung der
Vgl. Balibar 2012, S. 72– 120. Diese „Gleichsetzung“ von Freiheit und Gleichheit sollten wir nicht so verstehen, dass damit eine Art begriffliche Identität behauptet wird. Balibar zufolge haben Freiheit und Gleichheit keinen gemeinsamen semantischen Kern (sie beschreiben vielmehr mitunter gegenläufige Tendenzen). Die Gleichsetzung sollte deshalb vielmehr so gedacht werden, dass sie in den Bedingungen der Verwirklichung von Freiheit liegt: Freiheit lässt sich nur unter der Bedingung der Gleichheit und Gleichheit nur unter der Bedingung der Freiheit realisieren. Siehe dazu Balibar 2012, S. 92– 94.
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5 Der Blick des Gesetzes und das präreflexive Selbstbewusstsein
Gleichheit realisieren lassen, so dass keine Freiheit eine andere Freiheit beherrscht oder unterwirft.²⁴⁶
5.6 Die Schematisierung des Blicks und die Transformation der Rezeptivität Inwiefern liegt nun der Schlüssel für die Lösung des vermögenstheoretischen Problems der Autonomie in derjenigen Struktur des Selbstbewusstseins, die Sartre als „Für-sich-für-Andere-sein“ bezeichnet? Im vierten Kapitel hatte ich dieses Problem in der Form eines doppelten Rätsels beschrieben, das sich aus der Konstitution eines zugleich endlichen und vernünftigen Begehrungsvermögens ergibt: Wie können wir, auf der einen Seite, die freie Willkür als eine Realisierung des reinen Willens verstehen, wenn sie in ihrer Realisierung von materiellen Triebfedern der Rezeptivität existenziell bedingt ist? Und wie lassen sich, auf der anderen Seite, die reine praktische Vernunft und ihr Gesetz selbst als eine Form des Begehrens begreifen, wenn das Vermögen des Begehrens kategorial durch eine kausale Relation definiert ist, die einer durch Gefühle der Lust und Unlust generierten Bestimmung existenziell bedarf? Beide Rätsel beschreiben nicht bloß theoretische Probleme; sie artikulieren vielmehr die beiden Facetten einer Selbstentzweiung des praktischen Subjekts, die durch die problematische Konstitution eines endlichen Begehrungsvermögens gegeben ist: Das endliche Subjekt setzt sich mit seiner Willkür dem reinen Willen entgegen; und das vernünftige Subjekt begehrt in Gestalt seines reinen Willen die eigene Willkür als eine andere. Das vermögenstheoretische Problem der Autonomie lautet demnach: Wie ist ein endliches Begehrungsvermögen jenseits des Lustprinzips – d. h. jenseits der empirischen Bedingung der existenziellen Abhängigkeit von materiellen Triebfedern – denkbar? Um die Möglichkeit einer Überwindung der Selbstentzweiung des Begehrens einzusehen, müssen wir, so hatte ich argumentiert, eine doppelte Annahme machen: Der reine Wille muss in eine Beziehung zur Willkür und ihrer Rezeptivitätsbedingung treten können, die diesen dazu befähigt, ohne Rücksicht auf materielle Triebfedern zu urteilen und zu handeln. Dazu ist erforderlich, dass das Gesetz nicht nur im reflexiven Willen, sondern zugleich im präreflexiven Selbstverhältnis der Willkür und mit Bezug auf die Rezeptivität des endlichen Subjekts aktualisiert wird. Sartres Gedanke, dass der reflexive Selbstbezug des praktischen Subjekts wesentlich durch die selbstbewusste Struktur des Für-Andere-seins vermittelt ist, erlaubt uns, diese doppelte Annahme einzuholen. Wir müssen demnach eine soziale Dimension in Kants Theorie der Autonomie einführen, und zwar auf der Ebene des praktischen Selbstbewusstseins: Sie liegt im Bewusstsein, dass meine Freiheit, mein Wollen und Handeln wesentlich durch die Freiheit, das Wollen und Handeln der Anderen, d. h. sozial bestimmbar ist.
Vgl. Balibar 2012, S. 95 f.
5.6 Die Schematisierung des Blicks und die Transformation der Rezeptivität
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Ein solches Bewusstsein des eigenen Seins-für-Andere ermöglicht die objektive Bestimmbarkeit des „bestimmenden Selbst“ (durch das Gesetz der Freiheit) insofern, als sie allererst ein Bewusstsein von der Notwendigkeit einer objektiven Bestimmung auf der Ebene der endlichen Willkür und mithin ein Bewusstsein ihrer Empfänglichkeit für objektive Bestimmungsgründe des reinen Willens konstituiert. Dies verändert unser Verständnis der vermögenstheoretischen Form der Autonomie und des reflexiven Selbstbezugs des praktischen Subjekts von Grund auf. Im vorigen Abschnitt galten meine Überlegungen der Struktur der Aufforderung, die im reflexiven Bezug des Selbstbewusstseins der reinen Vernunft auf das Für-Andere-sein der Willkür liegt, sowie der Erscheinungsweise dieser Aufforderung im präreflexiven Selbstbewusstsein der Willkür: Die Vorstellung des Gesetzes adressiert den endlichen Willen so, wie er im Blick anonymer Anderer erscheint; und die Empfänglichkeit der Willkür für das Gesetz ist über die Empfänglichkeit für den Blick der Anderen vermittelt. Der Standpunkt der reinen praktischen Vernunft gewinnt eine Wirklichkeit in einem endlichen Subjekt deshalb allein dadurch, dass er in seinem praktischen Selbstbewusstsein eine doppelte Gestalt annimmt: die reflexive Gestalt des eigenen Willens und die präreflexive Gestalt des Anspruchs der Freiheit der Anderen. Wenn das begehrende und handelnde Subjekt für sich selbst die Form des Gesetzes annimmt, haben wir es mit einer Struktur des praktischen Selbstbewusstseins zu tun, in der der eigene reflexive Wille zugleich als Wille der Anderen erscheint, die Vorstellung des Gesetzes die Form eines Anspruchs der Anderen erhält und die eigene Willkür ein Bewusstsein ihrer Freiheit der Negativität derart gewinnt, dass sie ihre „Gleichfreiheit“ mit beliebigen Anderen als eine Bedingung der Realisierung ihrer eigenen Freiheit anerkennen kann. Um nun einsehen zu können, wie die reflexive Aktualisierung der Vorstellung des Gesetzes mit einer solchen präreflexiven Aktualisierung im Selbstbewusstsein der Willkür zusammenfallen – d. h. wie das Gesetz überhaupt eine Aktualisierung des menschlichen Begehrungsvermögens darstellen – kann, müssen wir neben Sartres Konzeption des Für-sich-für-Andere-seins noch ein zweites neues Theorem in Kants Theorie der Autonomie einführen – nämlich den Gedanken einer transzendentalen praktischen Einbildungskraft im Sinne eines Schematismus des Gesetzes der Freiheit. Was wir benötigen, damit die Möglichkeit einer derartigen Aktualisierung verständlich wird, ist eine Erläuterung, wie das Gesetz der Vernunft die Willkür in ihrer existenziellen Abhängigkeit von rezeptiv generierten Triebfedern in der Tat treffen kann. Wir brauchen, mit anderen Worten, eine Beschreibung der Aktualisierung des Gesetzes innerhalb des präreflexiven Selbstverhältnisses der Willkür, die ihre praktische Rezeptivität transformiert. Dasjenige vermögenstheoretische Konzept, das im Rahmen von Kants kritischer Philosophie die Funktion besitzt, die Aktualisierung reiner Begriffe mit der Aktualisierung der Form eines rezeptiven Vermögens zusammenzubringen, ist das Konzept der transzendentalen Einbildungskraft. Eine Theorie des menschlichen Begehrungsvermögens bedarf demnach eines Analogons zur Rolle der Einbildungskraft bei der Konstitution der Erfahrungserkenntnis. Wenn wir die reinen Begriffe des Verstandes
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auf die Möglichkeit der Erfahrung beziehen, beziehen wir sie auf die rezeptiven Bedingungen der Aktualisierung der Erfahrung, d. h. auf Sinnlichkeit überhaupt. Diese Bezugnahme wird Kant zufolge durch die transzendentale Einbildungskraft hergestellt: durch die reinen Schemata der Zeit. Sinnliche Anschauungen erscheinen dann notwendigerweise so, dass sie im Medium der Zeit situiert sind und durch Begriffe gedacht werden können.Wenn wir nun das Gesetz der reinen praktischen Vernunft auf die Möglichkeit des Handelns in der „sinnlichen Welt“ beziehen (d. h. auf das Bewusstsein der Kausalität der eigenen Vorstellungen), beziehen wir es damit nicht allein auf die intellektuelle Aktualisierungsbedingung der Spontaneität, sondern auch auf die empirische Aktualisierungsbedingung der Rezeptivität (d. h. auf die Bedingung der existenziellen Abhängigkeit von rezeptiv konstituierten Triebfedern). Auch im Bereich des Praktischen ist demnach die Funktion einer transzendentalen Einbildungskraft erforderlich, die diesen Bezug herstellt: als eine Schematisierung desjenigen Bewusstseins der Rezeptivität, das für die Realisierung von Handlungen in der „sinnlichen Welt“ notwendig ist. Das betrifft, wie wir sehen werden, nicht nur die Empfänglichkeit der Willkür für den Einfluss von Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen, sondern auch und vor allem ihre rezeptive Bestimmbarkeit durch den „Blick“ der Anderen. Durch den Schematismus der reinen praktischen Einbildungskraft erscheint dem endlichen Subjekt das eigene Handeln in der sinnlichen Welt notwendig so, dass es im Medium des Sozialen und für den Blick der Anderen sichtbar wird – und damit so, dass es sich genau in dieser Dimension durch das Gesetz der Freiheit objektiv bestimmen lassen kann. Sobald wir also eine praktische Einbildungskraft annehmen, die im Sinne einer Kraft zur Aktualisierung der Perspektive der Vernunft innerhalb der Rezeptivitätsorientierung der Willkür operiert, sind wir in der Lage zu begreifen, wie die praktische Rezeptivität der Willkür auf der Basis des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft eine neue Form gewinnen kann – und zwar derart, dass die existenzielle Abhängigkeit unseres praktischen Bewusstseins von rezeptiv generierten Triebfedern eine nichtpathologische Grundlage erhält. Das präreflexive und endliche Subjekt befindet sich sowohl mit Bezug auf seine praktische Reflexion, wie mit Bezug auf den Blick der Anderen in der Position der Rezeptivität: Es erfährt sich als Objekt von Bestimmungen. Die Position der Empfänglichkeit jedoch, die im Für-Andere-sein liegt, beschreibt zunächst keine praktische Rezeptivität, d. h. keine Empfänglichkeit für Bestimmungen zum Handeln. Denn die Bestimmungen, um die es im Für-Andere-sein geht, entsprechen Zuschreibungen und Beurteilungen, die ich auf der Basis des Erscheinens meiner Handlungen für Andere empfange. Meine Rezeptivität gegenüber meinem eigenen reflexiven Willen ist vielmehr zunächst nur dadurch praktisch, dass die Urteile und Überlegungen meines reflexiven Willens der Realisierung eines materiellen Begehrens dienen, das bereits in meiner endlichen Willkür liegt. Meine Empfänglichkeit für reflexive Bestimmungen setzt demnach ein empirisch konstituiertes Begehren meiner Willkür voraus und verweist somit auf die pathologische Rezeptivität des Gefühls. Meine Empfänglichkeit für die Beurteilungen Anderer wiederum entspricht einer Empfänglichkeit für intel-
5.6 Die Schematisierung des Blicks und die Transformation der Rezeptivität
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ligible Bestimmungen, die eine Rolle in meiner praktischen Selbstbestimmung nur unter der Bedingung spielen, dass sie in meinen reflexiven Willen aufgenommen werden – d. h. dass ich die Perspektiven, Gründe und Urteile, die mir von konkreten Anderen kommuniziert werden, in meinen praktischen Überlegungen berücksichtige und sie darin integriere. Bezogen auf die eigene Reflexion sowie auf die Zuschreibungen und Urteile Anderer hat es also den Anschein, dass meine praktische „Empfänglichkeit für Gründe“ nach wie vor durch mein Vermögen für Gefühle des Angenehmen und Unangenehmen vermittelt ist. Die Pointe einer Schematisierung des Gesetzes der Freiheit durch die reine praktische Einbildungskraft besteht nun darin, jene beiden Arten der Empfänglichkeit (für die eigene Reflexion und die Zuschreibungen Anderer) von ihrer Angewiesenheit auf die „pathologische“ Rezeptivität des Gefühls zu lösen, indem sie direkt miteinander verknüpft werden und das Bewusstsein der existenziellen Abhängigkeit vom „Blick“ der Anderen damit zugleich praktisch gewendet wird: Meine endliche Willkür wird für rein intellektuelle Bestimmungen meines reflexiven Willens empfänglich, wenn sie für mich unmittelbar die Gestalt von intelligiblen Bestimmungen durch Andere annehmen; und meine endliche Willkür wird für intelligible Bestimmungen durch Andere im Sinne von praktischen Bestimmungen empfänglich, wenn sie für die endliche Willkür unmittelbar als Darstellungen des eigenen reflexiven Willens erscheinen. Der praktische Schematismus verleiht derart beiden Formen der Rezeptivität einen genuin praktischen Charakter, indem er sie in eine Rezeptivität anderer Art transformiert – und zwar in eine intelligible Empfänglichkeit, eine Empfänglichkeit für intellektuelle Bestimmungen (Urteile und Gründe), die keine materielle Bestimmung des Begehrens (durch Gefühle und Neigungen) voraussetzt. Wie kann nun die Leistung der transzendentalen Einbildungskraft allgemein charakterisiert werden? Bei Kant lassen sich zwei Grundfunktionen der „Synthesis“ des sinnlich Mannigfaltigen unterscheiden: einerseits die Einheit der Funktionen der „Apprehension“, „Reproduktion“ und „Rekognition“ sowie andererseits die Funktion des Schematismus.²⁴⁷ Die erste Bedeutung der Synthesis lässt sich als Aktualisierung der Sinnlichkeit mit Blick auf den Verstand kennzeichnen: Indem die Einbildungskraft empfangene Eindrücke aufnimmt, durchgeht, reproduziert, verbindet und zusammenhält, wird das Mannigfaltige der Anschauung begreifbar und beurteilbar. Beim Schematisieren geht die Einbildungskraft den umgekehrten Weg: nicht von der Sinnlichkeit zum Verstand, sondern vom Verstand zur Sinnlichkeit; nicht den Weg einer Aktualisierung der Sinnlichkeit in Hinblick auf den Verstand, sondern denjenigen einer Aktualisierung des Verstandes in Hinblick auf die Sinnlichkeit. Weil Erfahrungsbegriffe einen Gehalt nur in dem Maße haben, wie sie sich auf Anschauung beziehen, muss diese Bezogenheit jederzeit – d. h. auch jenseits der Gegebenheit eines entsprechenden Gegenstands in der Wahrnehmung – repräsentierbar sein. Als „Ver-
Zur Funktion der Synthesis vgl. KrV A 97, zur Funktion des Schematismus siehe KrV B 179. Vgl. auch die Überlegungen dazu im Abschnitt 3.3.
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mögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (KrV B 151), besteht die Leistung der schematisierenden Einbildungskraft genau darin, diesen notwendigen Bezug herzustellen. „Wir können uns keine Linie denken“, schreibt Kant, „ohne sie in Gedanken zu ziehen“ (KrV B 154). Eine Aktualisierung des Begriffs der Linie im Denken geht demnach mit einer Aktualisierung dieses Begriffs im Sinnlichen (resp. mit einer Aktualisierung der zeitlichen oder räumlichen Form des Sinnlichen) einher: ich ziehe eine Linie „in Gedanken“. Die schematisierende Einbildungskraft verwendet Begriffe somit als Verfahren der Darstellung: Sie verbindet mit einem Begriff ein Schema im Sinne der „Vorstellung einer Methode“, sinnliche Anschauungen selbsttätig so zu synthetisieren, dass sie als bildliche Darstellung eines Begriffs erscheinen (KrV A 140). Dementsprechend lässt sich die Schematisierung der reinen Begriffe des Verstandes als ein Verfahren der Einbildungskraft deuten, kategoriale Bestimmungen in der Gestalt von zeitlichen Relationen zur Darstellung zu bringen, und zwar derart, dass die Synthesis von sinnlichen Eindrücken in einer (zunächst noch unbestimmten) gegenständlichen Form erscheint (die dann gemäß kategorialer Begriffe bestimmbar ist). Der Schematismus der reinen Einbildungskraft beschreibt derart eine „Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit“ (KrV B 152): Der reine Verstand „übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt […] aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde“ (KrV B 153). Der Schematismus lässt sich demnach als eine Selbstaffektion charakterisieren: Die Operationen der Einbildungskraft affizieren die Rezeptivität des „inneren Sinns“ derart, dass das Subjekt für zeitlich spezifizierte Erscheinungen empfänglich wird. Wie wäre dementsprechend die Schematisierungsleistung einer reinen praktischen Einbildungskraft zu interpretieren? In Analogie zum Schematismus der reinen theoretischen Einbildungskraft haben wir es mit einer Aktualisierung des Gesetzes der Freiheit in Hinblick auf das Handeln in der „sinnlichen Welt“ zu tun. Als praktische Version des „Vermögens, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“, präsentiert die Einbildungskraft einen Gegenstand des Handelns derart, dass er unmittelbar mit einem Merkmal des praktischen Kontextes verbunden ist, in dem sich das endliche Subjekt befindet: Sie synthetisiert die Wahrnehmung eines gegenwärtigen Situationsmerkmals mit der Vorstellung einer nicht anwesenden, zu verwirklichenden Handlung. Diese Synthesis entspricht dabei einem Verfahren der Darstellung des reinen Begriffs des Gesetzes: Die Einbildungskraft operiert in meiner Wahrnehmung der aktuellen Situation, und sie macht aus dieser Wahrnehmung eine praktische Wahrnehmung, indem sie ein Merkmal der Situation herausgreift und akzentuiert, und zwar so, dass es unmittelbar mit der Vorstellung einer unbedingt auszuführenden Handlung verknüpft wird.²⁴⁸ Es handelt sich
Dieser Gedanke des Hervorstechens situativer Merkmale in der praktischen Wahrnehmung hat John McDowell in „Virtue and Reason“ ausgearbeitet (siehe McDowell 1998a, S. 51 f., 55, 68 f.). Anders
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um die Darstellung einer unbedingten Handlung insofern, als das Situationsmerkmal, das die Einbildungskraft in den Vordergrund der praktischen Wahrnehmung hebt, alle anderen Situationsmerkmale in den Hintergrund treten lässt (und damit implizit als praktisch sekundär darstellt). Das transzendentale Schema des Gesetzes der Freiheit lässt sich daher als Schema des praktisch hervorspringenden Situationsmerkmals deuten, das mit der nachdrücklichen Markierung einer zu realisierenden Handlung unmittelbar gekoppelt ist.²⁴⁹ Diese Synthesis der Einbildungskraft sollten wir aber zudem so auffassen, dass sie das akzentuierte Situationsmerkmal in dem Maße mit der Vorstellung einer zu verwirklichenden Tat verbindet, wie darin eine Perspektive auf das Handeln zum Ausdruck kommt, die den eigenen Blick auf die Situation mit dem Blick der Anderen verknüpft. Die schematisierende Operation der Einbildungskraft affiziert das endliche Subjekt damit in seinem Für-Andere-sein, d. h. in seinem Bewusstsein der Empfänglichkeit für Bestimmungen seiner Spontaneität durch Andere. Das Handeln in der „sinnlichen Welt“ ist ein Handeln in einer sozialen Welt, in der das Subjekt für die Perspektiven der Anderen sichtbar und bewertbar wird. Und sofern sich das Gesetz der Freiheit auf das Handeln in der sinnlichen Welt in diesem objektiven Sinne bezieht, muss eine Schematisierung des Gesetzes das damit zusammenhängende Sichtbarund Bewertbarwerden präreflexiv erfahrbar machen – und das Subjekt folglich in seinem Bewusstsein der existenziellen Abhängigkeit von Zuschreibungen der Anderen affizieren. In Analogie zur Rolle der schematisierenden Einbildungskraft in der Erkenntnis, die den notwendigen Bezug von Begriffen auf die Rezeptivität der sinnlichen Anschauung vergegenwärtigt, können wir die Rolle der schematisierenden Einbildungskraft daher so bestimmen, dass sie den notwendigen Bezug eines praktischen Urteils der reinen Vernunft auf die Rezeptivität des Für-sich-für-Andere-seins zur Darstellung bringt. Denn wenn die Beschreibung zutrifft, dass das Gesetz der Freiheit wesentlich auf das „objektive Selbst“ und mithin auf das Für-Andere-sein des praktischen Subjekts bezogen ist, dann sollten wir dementsprechend die Leistung der reinen Einbildungskraft so interpretieren, dass sie die Urteile des reinen Willens in einen Bezug zur Form der Empfänglichkeit des endlichen Subjekts für Zuschreibungen und Bewertungen aus der Perspektive der Anderen setzt.
als McDowell will ich diese Fähigkeit der praktischen Wahrnehmung hier nicht als eine Neuinterpretation des aristotelischen Begriffs der Tugend einführen, die mit den Intuitionen des moralischen Realismus kompatibel ist. Ich verstehe jene Fähigkeit vielmehr als eine genuine Leistung der produktiven, praktischen Einbildungskraft – und deute sie mithin als Ergänzung zum kantischen Modell des Handelns aus „Achtung für das Gesetz“. Ob damit eine eher konstruktivistische oder realistische Position in der Moralphilosophie verbunden ist, will ich an dieser Stelle nicht diskutieren. Mir geht es hier vielmehr um eine Neubestimmung der Rolle der praktischen Rezeptivität im Rahmen einer Konzeption der Autonomie. Zur kritischen Reformulierung von McDowells Argument vgl. Setton 2012, S. 182– 184, 243 f., 254– 258. Ich werde im Abschnitt 6.2. diese Schematisierung der praktischen Wahrnehmung am Beispiel des Prologs der sophokleischen Antigone noch etwas näher erläutern.
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Die schematisierende Operation der Einbildungskraft hat dabei nicht den Status einer Reaktion auf eine Erfahrung des Erblicktwerdens oder auf eine besondere Bewertung durch konkrete Andere; es handelt sich vielmehr um eine spontane Aktualisierung der rezeptiven Form des Für-Andere-seins, d. h. um eine selbst erwirkte und imaginär realisierte Erfahrung des „Gesehenwerdens“. Die Einbildungskraft verwandelt dieses Bewusstsein der Rezeptivität in ein praktisches Bewusstsein, indem sie das Gesehenwerden hier im Sinne eines Aufgefordertwerdens durch Andere darstellt. Sie führt dem endlichen Subjekt den Anspruch des reinen Willens derart als Anspruch unbestimmter Anderen vor Augen: Die emphatische Vorstellung einer zu verwirklichenden Handlung hat den imaginären Charakter einer Erwartung oder eines Appells, der sich zugleich aus der Perspektive der Anderen an das Subjekt richtet. Auf diese Weise bewirkt der praktische Schematismus eine Akzentverschiebung in der Vorstellung der Handlung. Die Verwirklichung eines praktischen Gegenstands stellt sich dem endlichen Subjekt nicht als erstrebenswert dar, weil die Vorstellung dieser Wirklichkeit mit einem Gefühl des Angenehmen verbunden ist: Die Betonung des Situationsmerkmals wird weder durch begleitende Gefühle hervorgerufen, noch erscheint der Gegenstand der Handlung dem endlichen Subjekt so, dass er in erster Linie einen Wert für es selbst hat (weil er mit seinem materiellen Begehren zusammenhängt). Dieser Aspekt des Handelns tritt vielmehr im Schema der Einbildungskraft, im Verfahren des Herausgreifens eines Merkmals der Situation, in den Hintergrund. Derjenige Aspekt, den die Einbildungskraft stattdessen in den Vordergrund hebt, ist der Wert, den das Subjekt, das in seiner Handlung für Andere einen Objektcharakter annimmt, dadurch gewinnt, dass es die Handlung realisiert. Der praktische Schematismus stellt daher die Verwirklichung der Handlung mit Nachdruck als Verwirklichung der eigenen Person dar – als Erscheinen des „objektiven Selbst“ für den bewertenden Blick Anderer. Und als erstrebenswert erscheint die Handlung nicht, weil sie einen Wert für mich hat, sondern aufgrund der Vorstellung des spezifischen Werts, den das Subjekt selbst durch die Ausführung der Handlung in den Augen der Anderen verdient. Die Pointe der reinen praktischen Einbildungskraft besteht demnach darin, die Perspektive des Gesetzes der Freiheit als Perspektive der Anderen in der praktischen Perspektive auf das eigene Handeln zur Darstellung zu bringen. Mithilfe des Schemas des hervorstechenden Situationsmerkmals kreiert sie eine Vorstellung des Handelns, die das endliche Subjekt in seinem Bewusstsein der existentiellen Abhängigkeit von Bewertungen Anderer anspricht. Als entscheidend erweist sich daher die Einsicht, dass es einer Aktualisierung der rezeptiven Form des Gesehenwerdens durch die Einbildungskraft bedarf, damit das Subjekt für objektive Bestimmungen des reinen Willens empfänglich wird. Das Situationsmerkmal, das durch den Schematismus der reinen Einbildungskraft in der Wahrnehmung der Situation herausgegriffen wird, erscheint dem endlichen Subjekt als mit der Perspektive der Anderen verknüpft – als würde es seine praktische Situation gewissermaßen „mit den Augen der Anderen“ betrachten – so dass die Handlung, die mit diesem Merkmal verbunden wird, zugleich als Medium des objektiven Erscheinens der eigenen Person aufgefasst wird. Und in
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dem Maße, in dem die Darstellung der zu realisierenden Handlung zugleich den Status einer Darstellung des „intelligiblen Charakters“ des Subjekts erhält, der zum Objekt der Bewertungen Anderer wird,²⁵⁰ tritt das Subjekt nicht nur in eine präreflexive Distanz zu sich selbst, sondern es wird sensibel für den objektiven Wert, den es in den Augen der Anderen erhalten kann: Mit dem Herausgreifen eines situativen Merkmals und der Synthetisierung dieses Merkmals mit einer besonderen Handlung ist die Erwartung verknüpft, dass Andere der eigenen Person einen „moralischen Wert“ zuschreiben. Das Schema das Gesetzes beschreibt demzufolge eine dreifache Synthesis: die Synthesis eines hervorstechenden Situationsmerkmals mit der Vorstellung einer Handlung; die Synthesis dieser vorgestellten Handlung mit der Perspektive der Anderen; und die Synthesis dieser Perspektive der Anderen mit der Perspektive des eigenen reflexiven Willens. Die reine praktische Einbildungskraft fokussiert die praktische Wahrnehmung des Subjekts damit auf den objektiven Wert seiner Person, den es in seinem Handeln exponiert, und zwar für den bewertenden Blick der Anderen; und indem sie das Subjekt in der Dimension affiziert, in der es die existenzielle Abhängigkeit seines Begehrens von diesem Blick a priori anerkennt, macht sie diesen Wert zum Gegenstand des eigenen Begehrens: Das Subjekt wird in die Lage versetzt, die Realisierung einer Handlung zu wollen, durch die es sich als der Situation würdig erweist. Meine hier entwickelte These lautet demnach, dass der Standpunkt der reinen praktischen Vernunft in einem endlichen, auf rezeptiv konstituierte Triebfedern angewiesenen Subjekt nur in dem Maße die Form eines Begehrensvermögens annimmt, wie es eine reine praktische Einbildungskraft gibt, die diesen Standpunkt auf die Empfänglichkeit des Subjekts für Bewertungen Anderer bezieht. Ihre Darstellungsleistung bringt das endliche Subjekt in einen Abstand zu seinem materiellen Begehren, indem es das Bewusstsein der existenziellen Abhängigkeit von jenen Bewertungen affiziert – und zwar derart, dass das endliche Subjekt darin eine praktische Bestimmung seines eigenen Begehrens erkennen kann. Es ist daher wichtig zu betonen, dass die Struktur des praktischen Selbstbewusstseins, die sich in jenem Zusammenspiel von reiner Vernunft und reiner Einbildungskraft herausbildet und die für die Autonomie des Subjekts charakteristisch ist, weder auf das Für-sich-sein, noch auf das Für-Andere-sein reduzibel ist. Bisher hatte ich zumeist davon gesprochen, dass in der Vorstellung des Gesetzes der Blick der eigenen Reflexion nicht vom Blick der Anderen unterschieden ist – resp. dass die Vorstellung des Gesetzes auf zweifache Weise dem praktischen Selbstbewusstsein erscheint, nämlich in der Gestalt des eigenen reflexiven Willens und in der Gestalt Die Leistung der transzendentalen praktischen Einbildungskraft ließe sich demnach auch so charakterisieren, dass sie eine Vorstellung des Handelns hervorbringt, in der mein „empirischer Charakter“ – d. h. der Charakter meines Wollens, der in meinen Handlungen für Andere erscheint – als Versinnlichung des Gesetzes aufgefasst wird: als Verkörperung eines „intelligiblen Charakters“, der die Form des Gesetzes hat.
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einer Aufforderung der Anderen. Diese Formulierungen verstehe ich einerseits im Sinne einer doppelten Negation: Das praktische Selbstbewusstsein der Autonomie zeichnet sich durch eine zugleich reflexive und präreflexive Perspektive aus, in der das Subjekt sowohl von den konkreten Perspektiven der Anderen, als auch von der Perspektive des eigenen materiellen Begehrens unabhängig wird – es entspricht also weder der pathologischen Unfreiheit des Für-sich-seins noch der sozialen Unfreiheit des Für-Andere-seins. Andererseits ist mit jenen Formulierungen aber auch der Gedanke verbunden, dass die Perspektiven des Für-sich-seins und des Für-Andere-seins in der Autonomie eine Einheit bilden – ein Drittes neben der Freiheit des Für-sichseins einerseits, die im Für-Andere-sein negiert und aufgehoben ist, und der Freiheit der Anderen andererseits, die in der Perspektive der Autonomie als eigene Freiheit beansprucht wird. Die Unabhängigkeit des Subjekts vom eigenen materiellen Begehren liegt darin, dass das Gesetz der Vernunft die Anerkennung des eigenen Für-Andere-seins affirmiert und bewahrt: Im Schematismus der praktischen Einbildungskraft stellt sich dem endlichen Subjekt der Anspruch des Gesetzes zugleich als Aufforderung unbestimmter Anderen dar (wodurch die Freiheit des Subjekts in eine negative Selbstbeziehung tritt, d. h. das Subjekt bei der Negativität seiner Freiheit gegenüber sich selbst verharrt). Die Unabhängigkeit des Subjekts von konkreten Zuschreibungen und Bewertungen der Anderen liegt hingegen darin, dass sich das Subjekt nicht einfach an die Urteile der Anderen hält, sondern vielmehr die Freiheit der Anderen als seine eigene Freiheit in Anspruch nimmt. Das Begehren der Autonomie ließe sich derart als „Begehren des Anderen“²⁵¹ deuten: als Begehren nach einer existenziellen Einheit der eigenen Freiheit mit der Freiheit der Anderen. In den Worten Sartres: Ich „beanspruche“ die Freiheit der Anderen, für die mein Wollen und Handeln erscheint, „als meine“ Freiheit“: Ich „behaupte […] eine tiefe Einheit der Bewußtseine“ und mit ihr eine „tiefe Einheit“ unserer Freiheit – „eine Seinseinheit, denn ich akzeptiere und will, daß die Anderen mir ein Sein verleihen, das ich anerkenne“ (Sartre 1994, S. 473). Das Begehren der Autonomie, das durch das Gesetz der Freiheit strukturiert wird, dreht sich daher um eine bestimmte Form der Rezeptivität: der Empfänglichkeit für ein praktisches „Sein“, das nur die Anderen mir „verleihen“ können. Und ich begehre eine „tiefe Einheit“ meiner Freiheit mit der Freiheit der Anderen, weil ich mich von der Freiheit der Anderen existenziell abhängig weiß. Das Argument, das ich hier zu entwickeln versuchte, um die Empfänglichkeit des endlichen Subjekts für objektive Bestimmungen seines Begehrens durch das praktische Gesetz verständlich zu machen, basiert auf dem Gedanken, dass der Schematismus der praktischen Einbildungskraft das endliche Subjekt nicht nur von der Rezeptivität von Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen distanziert, sondern ihm dabei zugleich demonstriert, dass es für reflexive Bestimmungen des eigenen FürAndere-seins in der Tat empfänglich ist. Die Einbildungskraft transformiert die
Vgl. Lacan 1991, S. 220.
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praktische Rezeptivität des Subjekts dadurch, dass sie das Bewusstsein der existenziellen Angewiesenheit auf Urteile und Bewertungen Anderer von Gefühlen des Angenehmen löst und somit zu einer genuinen Grundlage des eigenen praktischen Urteilens macht. Das Argument lässt sich dementsprechend in drei Schritten zusammenfassen. Das präreflexive Selbstbewusstsein des Für-Andere-seins entspricht erstens einem Bewusstsein der Rezeptivität: In ihm liegt eine Anerkennung der existenziellen Abhängigkeit von den Urteilen und den Bewertungen Anderer. Beim Für-Andere-sein handelt es sich somit um eine präreflexive Modifikation des Für-sichSeins – um ein „Für-sich-für-Andere-sein“ in einem ersten Sinne, durch das die eigene praktische Spontaneität des Für-sich-seins unterbrochen wird. Das reflexive Selbstbewusstsein des Gesetzes bezieht sich auf dieses präreflexive Selbstbewusstsein, d. h. es beschreibt zweitens eine reflexive Modifikation des Für-Andere-seins. Aufgrund dieser Modifikation wird das eigene Für-Andere-sein für das Subjekt selbst objektiv bestimmbar: Das Bewusstsein vom Gesetz verwandelt das Für-Andere-sein in ein Fürsich-für-Andere-sein in einem zweiten, praktischen Sinne. Dabei bewahrt und verstärkt es die Unterbrechung der Perspektive des Für-sich-seins, wendet sie aber wieder ins Praktische: in eine nicht mehr materiale, sondern objektive und formale Bestimmung des eigenen Begehrens. Die Rolle der transzendentalen praktischen Einbildungskraft besteht nun drittens darin, diese reflexive Modifikation des Gesetzes als Perspektive der Anderen im präreflexiven Bewusstsein vom eigenen Handeln zur Darstellung bringen – um das endliche Subjekt damit für rein intelligible Bestimmungen des Gesetzes empfänglich zu machen: Die praktische Einbildungskraft demonstriert dem Subjekt, dass es so handeln kann und soll; und sie versorgt das Urteil der autonomen Vernunft mit einer praktischen Wahrnehmung der Situation, die es dem endlichen Subjekt evident macht, dass es jenseits des Lustprinzips begehren kann.
6 Die fundamentale Wahl der Autonomie: Kant mit Antigone Auf der Basis von Sartres Konzeption des Für-Andere-seins und einer an Kant und McDowell angelehnten Konzeption des praktischen Schematismus habe ich einen Vorschlag formuliert, wie die Empfänglichkeit der Willkür für das Gesetz des reinen Willens verständlich gemacht werden kann. Wir sollten uns jedoch in Erinnerung rufen, dass in der autoaffektiven Wirksamkeit des Gesetzes, durch welche die praktische Rezeptivität des Subjekts transformiert wird, nur ein Aspekt der Erklärung liegt, wie ein autonomes Begehrungsvermögens im Sinne Kants möglich ist. Denn wie ich im letzten Abschnitt des vierten Kapitels argumentiert hatte, ist zusätzlich eine Transformation der praktischen Spontaneität der Willkür erforderlich: Wir müssen verstehen, wie die endliche Willkür die durch reine Vernunft erwirkte moralische Sensibilisierung ihrer Rezeptivität sich aneignen und zum Bezugspunkt ihrer Spontaneität machen kann. Im abschließenden Kapitel dieser Untersuchung wird es darum gehen, diesen zweiten Aspekt zu adressieren, der für den Begriff eines autonomen Begehrungsvermögens kennzeichnend ist: Die Transformation der praktischen Rezeptivität durch das Gesetz befähigt das endliche Subjekt, sofern ihm dadurch die Möglichkeit eines neuen praktischen Selbstbewusstseins erschlossen wird – es entdeckt in sich die Fähigkeit zu dem Akt, das Gesetz der Vernunft in das Gesetz seines eigenen, endlichen, besonderen Willens zu verwandeln. Die folgenden Überlegungen werden sich darum bemühen, diesen Gedanken auf eine eher explorative und exemplarische Weise einzuführen, und zwar anhand desjenigen literarischen Beispiels, mit dem ich dieses Buch begonnen hatte: der Antigone. Es wäre sicherlich nicht richtig, Sophokles’ Tragödie als ein Beispiel zu betrachten, das mit der „heroischen“ Handlung seiner Protagonistin einen typischen Einzelfall des autonomen Handelns in bühnengerechter Zuspitzung vorführte. Wir haben es vielmehr mit der poetischen Reflexion eines zunächst untypisch erscheinenden, ja irritierenden Falls des freien Handelns zu tun, der gerade aufgrund seines rätselhaften Charakters ins Zentrum des Stücks rückt und zum expliziten Gegenstand der Auseinandersetzungen und Konflikte auf der Bühne wird. Das ist der Grund, weshalb die Antigone für den Kontext dieser Studie einen unschätzbaren Wert besitzt: Indem sie gerade die zweideutigen und problematischen Züge der Autonomie hervorhebt, erscheint sie als paradigmatisch für diejenige Spannung in einem endlichen und autonomen Begehrungsvermögen, die im Zentrum meiner Überlegungen steht. Einzigartig und beispielhaft zugleich ist die Tragödie also nicht allein deshalb, weil in ihr die erste historisch dokumentierte Überlieferung des Wortes „autonom“ zu finden ist. Wenn der Chor im vierten Epeisodion dieses Prädikat nahezu despektierlich verwendet, um Antigone zu charakterisieren, dann nur in dem Maße, wie er einige Zeilen später diese doppeldeutige Charakterisierung mit der Zuschreibung eines eigensin-
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nigen und willkürlichen „Temperaments“ verschärft.²⁵² In den Augen des Chors steht Antigones Autonomie somit im Zeichen einer eigentümlichen Ambivalenz: Ihr autonomes Handeln scheint mit einem Aspekt von Willkür oder Eigensinn untrennbar verknüpft zu sein. In The Heroic Temper hat Bernard Knox dafür argumentiert, dass diese Zweideutigkeit nicht nur für die Antigone, sondern für die dramatische Konstruktion der sophokleischen Protagonist*innen insgesamt kennzeichnend ist. Mit Bezug auf den Austausch zwischen dem Chor und Antigone im vierten Epeisodion schreibt Knox: Two words in this long, lyrical dialogue precisely define the character of Antigone and the heroic temper in general: αὐτόνομος ‘a law unto itself’ and αὐτόγνωτος ὀργά ‘passion self-conceived.’ The force which drives the hero to assert his independence, like a sovereign state, is something which stems from his inner being, his physis, his true self: it is not to be explained by outside circumstances. (Knox 1964, S. 67)
Der „heroische Charakter“, der Knox zufolge im Zentrum von Sophokles’ Tragödien steht, ist durch eine prägnante Form der individuellen moralischen Verantwortung und Autorschaft für das eigene Handeln ausgezeichnet, die vor allem durch die soziale Isolation deutlich in den Vordergrund tritt, in die sich die tragischen Protagonist*innen entweder gezwungenermaßen oder freiwillig begeben. Denn was durch diese Isolierung zum Vorschein kommt, so Knox, ist der Umstand, dass die eigentliche Quelle der Handlung allein in der Handelnden selbst liegt und sich weder auf den Einfluss anderer (Personen oder Götter) noch auf äußere Umstände zurückführen lässt.²⁵³ Auch wenn in dieser Behauptung zunächst unklar bleibt, in welchem Sinne die Handelnde selbst als alleiniger Grund der Handlung in Betracht kommt, so wird dennoch klar, dass damit die Frage der Autonomie eine zentrale Frage der sophokleischen Tragödien darstellt. Für Knox definiert jene Spannung von Autonomie und selbstgemachter Leidenschaft gerade das heroische Temperament. In meiner Lesart hingegen geht es in der Antigone in erster Linie weder um eine ins Heldenhafte getriebene Vorstellung individueller Verantwortung noch um die erhabene Größe einer konsequenten Entschlossenheit. Die dramatische Form des Heroischen – oder genauer: die Form der tragischen Isolierung, die einen „heroischen Charakter“ hervortreten lässt – beschreibt vielmehr eine Darstellungsstrategie der Übertreibung, die eine zugleich ästhetische und epistemische Pointe hat: Sie macht die inhärente Zweideutigkeit der Autonomie zwischen normativer Einsicht und eigenwilliger Entschlossenheit, zwischen einem moralisch reflektierten Willen und einer eigensinnigen Willkür eigens begreifbar. Aus diesem Grund sollten wir die Autonomie, die durch die radikale Verantwortung der tragischen Protagonistin in Szene gesetzt wird, weder als kaum er-
Vgl. Sophokles 1981, V. 821 und 875, sowie den Anfang der Einleitung dieses Buches zu diesen Stellen. Siehe Knox 1964, S. 5.
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reichbares moralisches Ideal,²⁵⁴ noch als extravagantes und mithin philosophisch unerhebliches Fallbeispiel auffassen. Es handelt sich stattdessen um eine theatrale Überzeichnung, die allererst dadurch, dass sie eine dramatisch zugespitzte Handlungssituation mit einer ins Tragische getriebenen Handlungsentscheidung und einer geradezu störrisch kompromisslosen Treue zu dieser Entscheidung zusammenbringt, Aspekte der Autonomie sicht- und darstellbar macht, die typischerweise im Verborgenen bleiben. Im Gegensatz zu Knox, der die eigentümliche Verschränkung von Autonomie und eigensinniger Leidenschaft so erläutert, dass sie expressiv auf das „innere Sein, die physis, das wahre Selbst“ der Protagonistin verweist (Knox 1964, S. 67), werde ich im Folgenden argumentieren, dass es angemessener ist, ihre zweideutige Einheit nicht auf eine bereits gegebene praktische Identität zurückzuführen, sondern stattdessen auf der begrifflichen Grundlage von Kants Unterscheidung zwischen Wille und Willkür zu rekonstruieren. Der Versuch besteht demnach darin, meine Auseinandersetzung mit Kants Theorie eines zugleich endlichen und autonomen Begehrungsvermögens in eine experimentelle Konstellation mit der sophokleischen Antigone zu bringen. Wenn wir die Tragödie vor diesem Hintergrund betrachten, deutet die Zuschreibung einer „selbsterzeugten Leidenschaft“ (autognōtos orga) einerseits darauf hin, dass wir es in Antigones Fall mit einer transformierten Rezeptivität zu tun haben, die zu einem „pathologischen“ oder „materiellen“ Begehren im Sinne Kants in einem deutlichen Kontrast steht. Doch insofern die Rede von „autognōtos orga“ auch noch eine kognitive Implikation hat, nämlich eine Art des impliziten und praktischen Selbstwissens enthält,²⁵⁵ die überdies mit der Konnotation des Eigenwilligen versehen ist, lässt sie sich andererseits mit dem Gedanken einer transformierten Spontaneität der Willkür in Verbindung bringen. Wenn wir diese Deutung nun mit der zweideutigen Zuschreibung von Autonomie zusammenbringen, der zufolge Antigone nicht allein aus Einsicht in eine unbedingte Pflicht handelt, sondern dies in dem Sinne tut, dass sie darin nur ihrem eigenen Gesetz folgt, können wir besser verstehen, inwiefern Autonomie und Willkür im paradigmatischen Fall von Antigone verknüpft sind: Die subjektive Wirklichkeit eines autonomen Begehrungsvermögens basiert auf dem Akt, das Gesetz der Freiheit zum eigenen Gesetz eines endlichen, besonderen und subjektiven Willens zu machen. Die radikale Verantwortung, die durch die soziale Isolierung Antigones nicht allein erfahrbar, sondern auch nachdrücklich von Antigone selbst reklamiert wird, entspricht demnach nicht allein oder in erster Linie einer Verantwortung für ihr eigenes Handeln. In ihrem öffentlichen Akt der emphatischen Identifikation mit ihrer umstrittenen Handlung liegt, mehr noch, die Übernahme einer Verantwortung für genau dasjenige „Temperament“, d. h. diejenige Gemüts- und Denkungsart, die ihre Handlung allererst erklärt: Ihr „Naturell“ hat Antigone sich, mit Kant gesprochen, „selbst zugezogen“ (Religion 6:29).
Vgl. zu dieser Deutung McNeill 2011, S. 414. Siehe McNeill 2011, S. 430.
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Man könnte natürlich meinen, dass wir nicht einfach davon ausgehen dürfen, dass die Vorstellung der Autonomie, die in der sophokleischen Tragödie verhandelt wird, dem kantischen Begriff von ihr entspricht. Im Folgenden möchte ich jedoch demonstrieren, dass jene Vorstellung mit diesem Begriff in einigen wichtigen Hinsichten durchaus vergleichbar ist.²⁵⁶ Wenn wir Sophokles’ Tragödie im Licht jener mehrdeutigen Autonomiezuschreibung lesen, mit der der Chor Antigone im vierten Epeisodion charakterisiert, können wir sehen, dass bestimmte Aspekte der zwei kantischen Formen der Einheit von Wille und Willkür, die ich im vierten Kapitel eingeführt hatte,²⁵⁷ auf eine sehr erhellende Weise in der Tragödie auf dem Spiel stehen. Im vorliegenden Kontext geht es mir nicht darum, Kants Theorie des freien Willens zu illustrieren. Eine Deutung der Antigone vor dem Hintergrund der Spannung von Wille und Willkür kann vielmehr einen aufschlussreichen Einblick in die Struktur der menschlichen Autonomie selbst vermitteln – einen Einblick, den wir nur in dem Maße gewinnen, wie wir die bisher entwickelte Rekonstruktion von Kants Konzeption eines freien Begehrungsvermögen in eine kritische Konstellation mit der antiken Tragödie bringen. Ich werde mich im Folgenden nur auf einige wenige Aspekte und Stellen der Tragödie konzentrieren – nämlich auf diejenigen, die für eine Deutung im Hinblick auf das Verhältnis von Wille und Willkür instruktiv sind.²⁵⁸ Mein Anspruch besteht nicht darin, eine systematische Lektüre vorzustellen. Ich will vielmehr an und mit der Antigone exemplarisch vor Augen führen, wie jene beiden Aspekte einer möglichen Überwindung der fundamentalen Entzweiung des menschlichen Begehrungsvermögens – die transformierten Gestalten der Rezeptivität und der Spontaneität der Willkür – gedacht werden können. Dieses Vorgehen wird mir auch die Gelegenheit geben, einige zentrale Momente meiner bisherigen Argumentation noch einmal aufzugreifen. Im Abschnitt 6.1. werde ich zunächst untersuchen, wie die Spannung von Wille und Willkür in der Antigone verhandelt wird. In einem ersten Schritt möchte ich zeigen, dass und auf welche Weise der Prolog der Tragödie die Entzweiung des menschlichen Begehrungsvermögens exponiert. Die Antigone lässt sich in diesem Zusammenhang nicht nur als Figuration des einen Pols der Entzweiung des menschlichen Begehrens
Vgl. dazu auch Menke 2015b, o.S., der die Auffassung vertritt, dass die Antigone „in gewisser Weise eine moderne Erfindung [ist]. Erst seit Hölderlin 1804 Antigone und Ödipus zusammen übersetzt hat, sind es die Tragödien geworden. Erst mit der Moderne wurden sie zu den paradigmatischen Tragödien.“ David McNeill hat zudem auf überzeugende Weise dargelegt, in welchen Hinsichten die Antigone mit Kants Begriff der Autonomie vereinbar ist (siehe McNeill 2011). Selbst wenn also die Einschätzung richtig ist, dass die moderne Konzeption der Autonomie nicht vorschnell auf die Figur der Antigone projiziert werden sollte, so wäre es dennoch „a serious mistake“, so McNeill, „to simply dissociate this first occurrence of autonomos with our concept (or concepts) of autonomy“ (McNeill 2011, S. 414). Siehe Kapitel 4.3. Das betrifft insbesondere den Prolog, in dem sich Antigone und ihre Schwester Ismene außerhalb des Palastes von Theben treffen, sowie einige Passagen aus dem zweiten und vierten Epeisodion, wo Antigone auf Kreon und den Chor trifft.
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interpretieren, nämlich der objektiven Einheit von Wille und Willkür. Sie steht vielmehr auch für eine bestimmte Form der Überwindung dieser Entzweiung, d. h. für ein autonomes Begehren, in dem die objektive Einheit des Willens zugleich eine subjektive Einheit beschreibt. In einem zweiten Schritt werde ich einen Vorschlag formulieren, wie das Porträt, das Sophokles’ Stück von der Autonomie des Begehrens zeichnet, allgemein zu verstehen ist. Die These lautet hier, dass die Figur der Antigone die zugleich objektive und subjektive Einheit von Wille und Willkür und mit ihr die Form des autonomen Begehrens als eine inhärent zweideutige verkörpert. In den Abschnitten 6.2. und 6.3. werde ich dann versuchen, einige Andeutungen dazu zu machen, wie die beiden zentralen Aspekte einer zugleich subjektiven und objektiven Einheit von Wille und Willkür in der Tragödie präsentiert werden: Inwiefern können wir in der Figur der Antigone eine transformierte Gestalt der praktischen Rezeptivität erkennen? Und lässt sich die Form des autonomen Begehrens, die sie repräsentiert, mit einem Moment von „absoluter Spontaneität der Willkür“ verbinden, d. h. mit dem Akt einer Subjektivierung des Gesetzes, das dieses in das eigene Gesetz eines endlichen und besonderen Willens verwandelt (und insofern mit Zweideutigkeit auflädt)?
6.1 Antigones Wille und die Zweideutigkeit der Autonomie In gewisser Hinsicht erscheint Antigone als eine Kantianerin avant la lettre: Sie insistiert in geradezu rigoristischer Weise auf dem „Gesetz“, das ihre Handlung zugleich motiviert und rechtfertigt.²⁵⁹ Die Vorstellung des Prinzips, das in ihren Augen dafür spricht, ihren Bruder Polyneikes trotz des expliziten Verbots ordnungsgemäß zu bestatten, steht für Antigone dermaßen im Vordergrund, dass die praktischen Konsequenzen (die Bestrafung mit dem Tod) und die erfolgreiche Ausführung des Begräbnisses jede Relevanz einzubüßen scheinen. Der Vorschlag ihrer Schwester Ismene, die Bestattung im Verborgenen zu planen und durchzuführen, lehnt sie brüsk ab.²⁶⁰ Weder ist es ihr Anliegen, dass ihre Handlung unbemerkt bleibt, um dem Tod zu entgehen, noch legt sie einen gesteigerten Wert darauf, dass die Bestattung ohne die Gefahr der Unterbrechung vollendet wird. Worauf es ihr ankommt, wenn sie Ismenes Empfehlung mit den Worten „schrei es heraus!“ (Sophokles 1981, V. 86) zurückweist, ist dabei weniger, dass alle von ihrer Tat erfahren sollen, sondern dass sie aus Einsicht in eine unbedingte Pflicht handelt, die im Prinzip die Anerkennung aller verdient. Antigones vehemente Fokussierung auf die Vorstellung einer unbedingten Verpflichtung wird durch ihre Haltung unterstrichen, dass die Frage nach der richtigen Handlung keinerlei Raum für die Ausübung von Wahl- oder Willkürfreiheit lässt. Nachdem sie Ismene von Kreons Anordnung in Kenntnis gesetzt hat, die ein Begräbnis Siehe vor allem Sophokles 1981, V. 450 – 460, 908 – 915. „ISMENE: So rede nur von dieser Tat zu keinem Menschen! Verbirg sie im Geheimen, und so ich mit dir! ANTIGONE: Oh mir! schrei es heraus! Weit mehr noch haß ich dich, schweigst Du und rufst du es nicht allen aus!“ (Sophokles 1972, S. 13, V. 84– 87)
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ihres toten Bruders unter Androhung der Todesstrafe verbietet, konfrontiert sie ihre Schwester mit einer einfachen Alternative, die in der englischen Übersetzung von Gibbons und Segal wie folgt lautet: „There you have how things stand, and soon you will show whether you are noble, or – despite high birth – are low and cowardly.“ (Sophokles 2003, S. 54,V. 37 f.) Ihren Bruder zu bestatten oder nicht zu bestatten ist in diesem Sinne keine Frage der Abwägung von Präferenzen, keine Frage der Gewichtung von Gründen, die dafür oder dagegen sprechen. Die Alternative zwischen den beiden Handlungsoptionen entspricht stattdessen der Alternative, sich der eigenen „hohen Geburt“ als würdig zu erweisen – oder daran zu scheitern. Überhaupt auf den Gedanken zu kommen, dass es hier eine Wahl gibt, dass die gegebene Situation nach der Maßgabe von besonderen Interessenlagen oder unter der Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte entschieden werden sollte, impliziert für Antigone bereits, sich als der eigenen „guten Geburt“ unwürdig zu erweisen.²⁶¹ Die Vorstellung der Pflicht schließt aus dieser Perspektive a priori jede Wahl aus. Dass Antigone hier Pflicht und Geburt zusammenbringt, ergibt sich aus der Auffassung, dass verwandtschaftliche Verhältnisse unmittelbar Träger moralischer Normen sind, die insbesondere im Fall des Todes von Angehörigen eine Quelle von Verpflichtungen darstellen.²⁶² Im zweiten Epeisodion, in dem Antigone nach ihrer Festnahme zum ersten Mal auf Kreon trifft und offensiv in eine polemische Auseinandersetzung mit ihm tritt, beruft sie sich auf die „ungeschrieben und unfehlbaren Gesetze der Götter“ (Sophokles 1981, V. 454 f.), und zwar vornehmlich der „unteren Götter“ (Sophokles 1981, V. 451) oder der Götter der „Unterwelt“, um die moralische Überlegenheit ihrer Pflicht über Kreons Dekret zu rechtfertigen.²⁶³ Der Kontrast zwi-
Vgl. zu dieser Deutung Thomä 2018, S. 369. Darin besteht natürlich der Ausgangspunkt von Hegels berühmter Deutung der Antigone in der Phänomenologie des Geistes, in der die Tragödie als exemplarisches Modell für die Konzeption antiker Sittlichkeit behandelt wird (siehe Hegel 1970a, S. 327– 354). Für Hegel liegt die Grundintuition dieser Konzeption, deren Verfasstheit und krisenhafter Untergang in der Antigone reflektiert wird, in dem Gedanken einer unmittelbaren Einheit des ethischen Selbstbewusstseins mit seinem genuinen Objekt – der „sittlichen Substanz“ im Sinne des Systems von Normen, Gesetzen und Gewohnheiten, die das Leben eines Gemeinwesens regeln (Hegel 1970a, S. 325). Das besondere Verständnis der Form dieser Gesetze, auf das sich Antigone explizit beruft, um die Bestattung ihres toten Bruders als eine unbedingte Pflicht zu rechtfertigen (vgl. Sophokles 1981, V. 450 – 459), nennt Hegel das „göttliche Gesetz“ (Hegel 1970a, S. 330). Die Autorität ethischer Normen ist hier ein Korrelat des Umstands, dass sie immer schon und auf unmittelbare Weise existieren, und zwar als in einer ethischen Gemeinschaft verkörperte Normen: Ihre Gültigkeit beruht auf den „natürlichen“ Bestimmungen der Existenz von Personen, d. h. auf dem, was sie als Personen auf natürliche Weise miteinander verbindet und in die Einheit einer Gemeinschaft bringt – ihren verwandtschaftlichen Beziehungen. Die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft erkennen derart jene Normen auf eine klare und einfache Weise als ihre eigenen Normen an, die unabhängig von ihren je besonderen Willensbestimmungen Geltung besitzen. In der Übersetzung von Gibbons und Segals lautet Antigones Erwiderung auf Kreon wie folgt: „It was not Zeus who made that proclamation to me; nor was it Justice, who resides in the same house with the gods below the earth, who put in place for men such laws as yours. Nor did I think that your proclamation was so strong that you, a mortal, could overrule the laws of the gods, that are unwritten
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schen göttlichen und menschlichen Gesetzen, auf dem ihr knappes Argument beruht, erweckt zunächst den Eindruck, dass sie hier eine religiöse Auffassung von der Normativität moralischer Pflichten vertritt, deren Geltung auf der Autorität von Göttern basiert. Im Vergleich zu Kants Konzeption der „Selbstgesetzgebung“ der Vernunft scheint diese religiöse Fassung natürlich eher auf eine Heteronomie des Moralischen hinauszulaufen.²⁶⁴ Zwei Beobachtungen relativieren jedoch diesen Eindruck. Einerseits sollten wir uns vor Augen führen, dass der „Wille der Götter“ für Antigone weniger ein fremder Wille, eine externe oder transzendente Autorität darstellt, der sie sich zu beugen hat, sondern vielmehr einen Aspekt ihrer eigenen praktischen Identität beschreibt. Wenn sie ihrer Schwester gegenüber betont, dass es Kreon „überhaupt nicht zu[steht], von den Meinen mich wegzudrängen“ (Sophokles 1981, V. 48), dann handelt es sich nicht allein um ihre philia, ihre affektive Bindung an die Ihrigen,²⁶⁵ die die Bestattung ihres Bruders zu ihrer eigenen Angelegenheit macht. Wie David McNeill überzeugend dargelegt hat, ist es gerade ihre Verpflichtung gegenüber den Ihrigen (und nicht das bloße Faktum der familiären Mitgliedschaft), in der sich ein „göttlicher“ Wille manifestiert und die das „Eigene“ von Antigone (d. h. das Gesetz ihres Willens) bestimmt: „When Antigone insists that it is not for Kreon ‚to keep me from my own‘, what is her own is first and foremost her obligation to her own. Indeed, her duty to bury her brother has a strange priority over the brother who it is her duty to bury“ (McNeill 2011, S. 417). Andererseits sollte uns nicht entgehen, dass es Antigone an jener Stelle, an der sie sich auf die „nomima theōn“ (Sophokles 1981, V. 454 f.) bezieht, weniger auf die Begründung, sondern primär auf die spezifische Geltungsform dieser Gesetze ankommt, die sich kategorial von der Geltungsform von Kreons Dekret unterscheidet: Die „Gesetze der Götter“ setzen ihrer Meinung nach Kreons „Proklamation“ außer Kraft, weil jene im Gegensatz zu diesem auf unbedingte Weise gebieten und in diesem Sinne einen moralischen Verpflichtungscharakter besitzen. Diejenigen Normen hingegen, die durch „Sterbliche“ instituiert werden (Sophokles 1981, V. 455), bleiben insofern bedingt, als sie auf den endlichen Willen derer zurückgehen, die sie eingesetzt haben. Antigones Verweis auf die „Götter“ steht somit weniger für einen autoritätsstiftenden Ursprung ein, sondern soll gerade die Abwesenheit einer identifizierbaren Urheberschaft markieren: Moralische Normen sind weder entstanden noch eingesetzt, sondern immer schon in Kraft. Die Pointe von Antigones polemischer Rechtfertigung, die gegen Kreon gerichtet ist, besteht demnach darin, dass sie unabhängig von besonderen Willenseinstellungen gelten, oder genauer: unabhängig von den Bestimmungen
and unfailing, for these laws live not now or yesterday but always, and no one knows how long ago they appeared. And therefore I did not intend to pay the penalty among the gods for being frightened of the will of a man“ (Sophokles 2003, S. 73, V. 450 – 459). Vgl. dazu McNeill 2011, S. 414, der aber an dieser Stelle vor allem betont, dass Antigone im Verlauf der Tragödie von einer heteronomen Vorstellung ihrer Pflicht zu einer autonomen Selbstkonzeption übergeht. Siehe dazu Sophokles 1981, V. 73.
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der endlichen Willkür der Mitglieder und Repräsentanten eines Gemeinwesens. Aus diesem Grund nimmt Antigone für sich in Anspruch, dass sich in ihrer Handlung kein „menschlicher“ und in diesem Sinne bedingter Wille ausdrückt, sondern ein „göttlicher“ oder „reiner“ Wille. Auch wenn ihre Auffassung von der verpflichtenden Natur von Verwandtschaftsverhältnissen Kants Konzeption der Autonomie der Vernunft entgegengesetzt zu sein scheint, so weisen die genannten Stellen der Tragödie dennoch auf eine für den vorliegenden Kontext entscheidende Parallele hin: Aus Einsicht in eine Pflicht zu handeln bedeutet, dass sich der eigene Wille gegen seine Endlichkeit wendet und jenseits der endlichen Bedingungen seines Begehrens begehrt. In diesem Sinne haben wir es mit einer Konstellation von Wille und Willkür zu tun, die Kants Begriff einer objektiven Einheit insofern ähnelt, als die Willkür hier so gedacht wird, dass sie nicht mehr als ein Ausführorgan des reinen Willens darstellt.²⁶⁶ Lässt sich Antigones Selbstverständnis so beschreiben, dass es eine solche objektive Einheit impliziert? Antigones ablehnende Reaktionen auf Ismene und Kreon suggerieren, dass sie sich gegen drei Grundprinzipien der endlichen Willkür richtet: gegen das Prinzip der Wahlfreiheit, das Prinzip der Selbstliebe und das mit letzterer zusammenhängende Rationalitätsprinzip des „Ought implies Can“, dem zufolge Bestimmungen des Sollens nur in dem Maße Geltung beanspruchen können, wie sie im Bereich des endlichen Wollens und Könnens liegen (und also durch die Willkür bedingt sind).²⁶⁷ Dass Antigone davon ausgeht, dass die Vorstellung einer unbedingten Pflicht den Gebrauch von Wahlfreiheit kategorisch ausschließt, haben wir bereits gesehen. Und dass sie darüber hinaus der Auffassung ist, dass diese Vorstellung eine „Achtung für etwas ganz anderes als das Leben“ enthält, „womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr mit all seiner Annehmlichkeit gar keinen Wert hat“ (KpV 5:88), liegt ebenfalls auf der Hand.²⁶⁸ Wir können daher an dieser Stelle eine „säkularisierende“ Interpretation stark machen, die Antigones Berufungen auf Hades, Zeus oder Dike²⁶⁹ als Bezugnahmen auf Figurationen von Prinzipien versteht (wie es z. B. Hegel tut). Insbesondere der Verweis auf Hades als „Gott der Unterwelt“ scheint hier zu akzentuieren, dass die Belange der Selbstliebe, der Selbsterhaltung und der Förderung des Lebens für einen wahrhaft moralischen Willen nicht konstitutiv sind;
Vgl. dazu die Überlegungen im Kapitel 4.2. Wogegen sich Antigone interessanterweise nicht wendet, ist dasjenige Grundprinzip des endlichen Willens, das ich im ersten Teil dieses Buches herausgearbeitet habe: das Prinzip, demzufolge alle Willensbestimmungen endlich in dem Sinne sind, dass sie in einer existenziellen Abhängigkeit zu rezeptiv generierten Triebfedern stehen. Wie im nächsten Abschnitt deutlicher werden wird, lässt sich Antigones Haltung bezüglich der Form moralisch bindender Gesetze auch anders deuten. Denn ihre Referenz auf die „Gesetze der Götter“ enthält die Auffassung, dass sich endliche (etwa: „sterbliche“) Subjekte im Verhältnis zu diesen Gesetzen wesentlich in einer Position der Rezeptivität befinden (und nicht in einer Position der aktiven Urheberschaft). In diesem Sinne beharrt Antigone auf ihrer Haltung der Rezeptivität – denn sie beschreibt ein konstitutives Merkmal des Verhältnisses endlicher Wesen zur Vorstellung moralisch gebietender Normen. Siehe dazu auch McNeill 2011, S. 414 f., der die gleiche Stelle aus Kants zweiter Kritik zitiert. Vgl. Sophokles 1981, V. 450 f., 519.
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ein solcher Wille hat seinen Ort vielmehr in der „unheimlichen“ Dimension eines Begehrens jenseits des Lust- und Lebensprinzips. Antigones Beharren auf einem solchen Begehren kommt zuletzt an derjenigen Stelle des Prologs deutlich zum Vorschein, an der ihre Schwester ihr vorhält, Unmögliches zu wollen. Ismene appelliert an Antigones Verstand: „Bedenk, wie schmählich wir sterben müssen, wenn dem Gesetz zu Trotz wir den Beschluß der Herrscher oder ihre Macht übertreten“ (Sophokles 1981, V. 59). „Einsehen gilt es, einmal: Frauen sind wir und können so nicht gegen Männer streiten. Und dann: beherrscht sind wir von Stärkeren“ (Sophokles 1972, S. 13, V. 61– 63). Ismene konzediert zwar, dass die Bestattung ihres Bruders im Prinzip geboten ist.²⁷⁰ Weil aber unter den gegebenen Machtverhältnissen die von Kreon angeordnete Todesstrafe unausweichlich erscheint, verliert diese Pflicht ihren Verpflichtungscharakter. Der Grund für diesen Geltungsverlust liegt Ismene zufolge in einem grundlegenden Rationalitätsprinzip, an das sie Antigone erinnert: „mehr tun, als man kann, hat nicht Verstand“ (Sophokles 1972, S. 13, V. 67). Dasjenige, was in ihren Augen die Grenze des eigenen Könnens markiert, ist dabei allerdings keine bloß äußerliche Beschränkung, sondern eine innere, die durch das Prinzip der Selbstliebe markiert wird, der Wertschätzung des eigenen Wohlergehens und der Selbsterhaltung. Daher macht Ismene geltend, dass Antigones Wille zur Erfüllung jener Pflicht, die unter den gegebenen Umständen aufhört, eine Pflicht zu sein, einer Irrationalität gleichkommt: „Unmögliches willst du“ (Sophokles 1981,V. 90). Antigone versteht dies zunächst so, als würde Ismene nur von der faktisch fraglichen Machbarkeit sprechen, Polyneikes Leichnam bestatten zu können, d. h. von einer durch die äußeren Umstände definierten Grenze ihrer Handlungsfähigkeit: „Nun, wenn ich es denn nicht schaffe, wird es ein Ende haben“ (Sophokles 1981, V. 91). Ismene aber behauptet etwas anderes: Es geht ihr nicht um eine externe Begrenzung des Handelns, sondern um eine interne Grenze des Wollens: „Von Anfang an soll man nach dem Unmöglichen nicht jagen!“ (Sophokles 1972, S. 14,V. 92) Das ist die Stelle, an der Antigones Verhältnis zu ihrer Schwester endgültig in eine Relation der Feindseligkeit umschlägt: „Wenn du das meinst, wirst du von mir gehaßt werden“ (Sophokles 1981, V. 93). Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Schwestern, mit der die Tragödie beginnt, ähnelt damit stark derjenigen Entzweiung des Begehrungsvermögens, die ich im vierten Kapitel entwickelt hatte. Am Anfang des Dialogs betont Antigone noch ihre geschwisterliche Intimität: „Ismene, my own true sister, Oh dear one, sharing our common bond of birth“, lautet die erste Zeile der Tragödie in der englischen Übersetzung von Gibbons und Segal (Sophokles 2003, S. 53, V. 1). Die beiden Schwestern befinden sich in der gleichen Situation – ihnen obliegt als einzig verbliebenen Angehörigen von Polyneikes die Pflicht zur Bestattung und sie sind daher beide besonders vom Bestattungsverbot betroffen. Am Ende des Dialogs aber steht kein gemeinsamer Wille: Ismene erscheint ihre Schwester als irrational, während Antigone
Vgl. Sophokles 1981, V. 99.
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sich hasserfüllt von ihrer Schwester abwendet. Ismene figuriert ein Begehrungsvermögen, das in der Endlichkeit der Selbstliebe ihr ultimatives Maß findet und somit eine empirisch-bedingte Rationalität der Willkür offenbart, welche (kantisch gesprochen) nur eine subjektive Einheit des Willens erreicht: eine Einheit von Wille und Willkür, die durch das Prinzip der Willkür begrenzt bleibt. Ismenes praktische Vernunft basiert auf dem Grundsatz „Sollen impliziert Können“: Die Grenzen des endlichen Wollenkönnens definieren die Grenzen der Verpflichtung; jenseits dieser Grenzen verlieren Pflichten ihren verständlichen Sinn.²⁷¹ Antigone hingegen lässt dieses Prinzip nicht gelten.²⁷² Sie steht stattdessen für ein Begehrungsvermögen ein, das sich durch den kantischen Grundsatz „Du kannst, denn du sollst“ charakterisieren ließe.²⁷³ Wenn wir eine Passage aus der zweiten Kritik leicht abwandeln, können wir diesen Grundsatz folgendermaßen reformulieren: Antigone „urteilt also, daß sie etwas kann, darum weil sie sich bewußt ist, daß sie es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihr sonst ohne das moralische Gesetz unbemerkt geblieben wäre“ (vgl. KpV 5:30). Ihr Bewusstsein des Sollens erschließt Antigone ein Bewusstsein von ihrem erweiterten und autonomen Begehrungsvermögens, denn es befähigt sie dazu, ihren Willen allein durch das Sollen zu bestimmen²⁷⁴ – und zwar von einem Standpunkt aus, der jenseits der Grenzen ihres endlichen Begehrens liegt. Deshalb vertritt sie die Auffassung, dass das Streben nach der Erhaltung und Beförderung ihres eigenen Lebens durch die Universalität des Prinzips, das sie zum Handeln verpflichtet, außer Kraft gesetzt wird: „For me, it’s noble to do this thing, then die“ (Sophokles 2003, S. 56, V. 72). Antigones ganzes Bestreben lässt sich daher so interpretieren, dass es ihr auf die Realisierung einer objektiven Einheit von Wille und Willkür ankommt: Ihr Bewusstsein der Pflicht beschreibt die Einstellung eines reinen Willens, dem die endliche Willkür untergeordnet ist. Letztere wird im buchstäblichen Sinne als verschwindender (weil sterbender) Vermittler für die Hervorbringung einer objektiven Realität ihres moralischen Willens behandelt – eines Willens, der den empirischen Tod ihrer eigenen Person normativ überleben soll.²⁷⁵ Dies verlangt Antigones eigener Willkür eine eigentümliche Selbstnegation ab, deren heftige emotionale Folgen sie selbst – kurz bevor sie lebendig begraben wird – im Rahmen des Kommos des vierten Epeisodions in lyrischer Breite entfaltet, wo sie ihre eigene Totenklage antizipierend vollzieht.²⁷⁶
Vgl. Martin 2009, S. 111, sowie dazu Khurana 2017, S. 178 f. Ihre Reaktion auf Ismenes wiederholte Formulierung dieses Rationalitätsprinzips lautet in der englischen Übersetzung: „Offer that excuse“ (Sophokles 2003, S. 56, V. 80). Zu diesem Gegensatz der Prinzipien („Sollen impliziert Können“ vs. „Du kannst, denn du sollst“) vgl. Timmermann 2003, S. 113 – 122, sowie Thomas Khuranas ausführliche Diskussion dieses Gegensatzes in Khurana 2017, S. 178 – 198. So lautet die Analyse von Kants Position in Khurana 2017, S. 193. Wie diese Befähigung in der Tragödie selbst im Detail dargestellt wird, werde ich im nächsten Abschnitt rekonstruieren. Antigone geht es in gewisser Weise darum, mit ihrer Tat ihre Mitgliedschaft in einer Art „intelligiblen Gemeinschaft“ zu sichern, oder wie David McNeill es formuliert, „she hopes to participate in, if not a kingdom of ends, a spiritual community of selves“ (McNeill 2011, S. 415). So argumentiert Knox 1964, S. 66. Siehe dazu Sophokles 1981, V. 806 – 881.
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Der Prolog der Tragödie führt uns also mit dem Konflikt der zwei Schwestern die strukturelle Entzweiung des menschlichen Begehrungsvermögens vor: Antigones Wille wendet sich von Ismenes endlichem Willen in dem Maße ab, wie dieser sich Antigones „reinem“ und unbedingtem Wollen entgegensetzt. Wenn wir aber in Antigones Selbstverständnis vor allem eine Exemplifikation von Kants Begriff der objektiven Einheit des Willens erkennen, dann scheint kaum Platz für einen Akt der freien Willkür, der das objektive Gesetz zum Gesetz des eigenen, besonderen und subjektiven Willens machte. Antigones Wille scheint von jeder Spannung zwischen Autonomie und Willkür frei zu sein: Ihren Willen, d. h. die Form ihrer eigenen Willkür, bestimmt von Anfang an die Form des Gesetzes. Willkür gibt es aus ihrer Perspektive nur im Willen der anderen: im Willen Ismenes, die an ihrer „guten Geburt“ scheitert, und im Willen Kreons, den Antigone als „Tor“ (Sophokles 1981, V. 470) und „Tyrannen“²⁷⁷ bezeichnet. Diese Deutung lässt sich zwar am Text der Tragödie nachvollziehen, bleibt aber letztlich einseitig. Obgleich uns das Stück durchaus Anlass bietet, Antigone als autonom Handelnde in einem nahezu kantischen Sinne (d. h. gemäß der objektiven Einheit des Willens) zu betrachten, liefert uns die Tragödie zugleich hinreichend Hinweise zur Annahme des Gegenteils: Antigone leidet an einer Art pathologischer Fixierung auf den Tod (resp. an einer Überidentifikation mit den Toten ihrer Familie) und ist darin das Opfer eines desaströsen Familienschicksals, das ihr Handeln stattdessen als einen Akt der Heteronomie erscheinen lässt. Zwischen den beiden Passagen im vierten Epeisodion, in denen der Chor Antigone einerseits so beschreibt, dass sie nur ihrem eigenen Gesetz gehorcht, und ihr andererseits vorwirft, dass sie primär unter den tödlichen Folgen ihres verschrobenen Eigensinns leidet,²⁷⁸ artikuliert Antigone in ihrem Klagelied eine Perspektive auf sich selbst, die ihrem früheren Anspruch auf moralische Autonomie zu widersprechen scheint. Sie erinnert darin nicht nur an all die katastrophalen Ereignisse, die ihre Familie erschüttert haben: Vatermord, Inzest, Selbstmord und Brudermord; sie reiht sich und ihre Tat sogar explizit in diese Kette des fatalen Unheils ein – womit sie den Anschein erweckt, als würde sie der Annahme des Chores zustimmen, dass sie das Opfer eines dämonischen Schuldzusammenhangs ist, in den die Familie der Labdakiden wie in einen Fluch verstrickt ist.²⁷⁹ Judith Butler hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Tatsache Antigones sarkastische Willkürkritik an die Adresse Kreons lautet wie folgt: „Aber die Gewaltherrschaft [tyrannis] hat in vielem ihren Segen, und ihr ist es erlaubt, zu tun und zu sagen, was sie will“ (Sophokles 1981, V. 506 f.). Siehe Sophokles 1981, V. 821 und 875. „CHORUS: And for some torment of your father’s,you are paying, still! ANTIGONE: Of all my cares, you have touched the one most painful to me: My father’s doom – recurring like the plowing of a field three times – and the ruin of us all, the famed family of the Labdakids! Ah, my mother’s disaster of a marriage bed, and the self-incestuous coupling of my father with my ill-fated mother! From such as they, I – who have been made miserable in my mind – was begotten! Under a curse, unmarried, I go back to them, having no other home but theirs“ (Sophokles 2003, S. 92 f., V. 856 – 868, Hervorhebung von mir). Man sollte daraus allerdings nicht den Schluss ziehen, dass Antigone hier ihrer früheren
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dieser zerrütteten Verwandtschaftsverhältnisse genau dasjenige normative Fundament einer verschärften Krise aussetzt, das Antigone explizit in Anspruch nimmt, um ihre Tat zu rechtfertigen: „Antigone repräsentiert nicht Verwandtschaft in ihrer idealen Form, sondern deren Deformation und Verschiebung“ (Butler 2001, S. 48).²⁸⁰ Was kann es vor diesem Hintergrund heißen, dass Antigone sich ihrer „guten Geburt“ würdig erweisen will, wenn diese „Geburt“ kaum noch als Anzeige eines normativen Standards taugt? Diesen Zweifel an Antigones moralischer Motivation und der Autonomie ihres Willens scheint insbesondere eine Passage zu nähren, die viele Kommentator*innen konsterniert hat. Nach ihrem Klagegesang kommt Antigone noch ein letztes Mal auf das „Gesetz“ zu sprechen, welches ihrem Handeln zugrunde lag. Das jedoch, was sie dort ausführt, scheint kaum noch jenem „göttlichen Gesetz“ zu ähneln, auf das sie sich im zweiten Epeisodion berufen hat, um ihre Handlung vor Kreon zu verteidigen: Denn weder, wäre Mutter ich von Kindern Gewesen, noch auch wäre mir im Tod ein Gatte Dahingeschmolzen, hätte ich gewaltsam Gegen die Bürger unternommen diese Mühe. Im Sinne welcher Regel [νόμου] sag ich dies? Starb mir der Gatte, könnte mir ein anderer werden, Und auch ein Sohn von einem andern Manne, Wenn ich ihn eingebüßt. Wenn aber Mutter Und Vater ruhn geborgen in dem Totenreich, Nie kann ein Bruder dann erwachsen mehr. Doch weil nun nach solcher Regel dich Vor allen hab geehrt, erscheint es Kreon, Als hätte ich darin gefehlt und Fürchterliches Zu tun gewagt, o brüderliches Haupt! (Sophokles 1972, S. 43, V. 905 – 915)
Für Richard Jebb stellt diese letzte seltsame Auskunft der tragischen Protagonistin einen deutlichen Selbstwiderspruch dar: Da sich schwerlich behaupten lässt, dass das „Gesetz von Hades“ (d. h. das „göttliche Gesetz“) nur für die Geschwister verstorbener Söhne bereits gestorbener Eltern gilt (und z. B. nicht für verstorbene Ehegatten oder Kinder), „she suddenly gives up that which, throughout the drama, has been the immovable basis of her action, – the universal and unqualified validity of the divine
Selbstbeschreibung schlicht widerspricht. Wir haben es schließlich mit der Rhetorik eines Klagelieds zu tun, das aus der Perspektive ihres Schmerzes artikuliert wird – und dabei weniger auf die Gründe und Motive ihres Handelns fokussiert, sondern primär die Weise betrifft, in der Antigone die Umstände und Folgen ihres Handelns erfährt. Das symbolische Durcheinander, das alle Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Familie der Labdakiden heillos überdeterminiert und hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Zuordnung mehrdeutig macht, hat Butler im dritten Kapitel von Antigones Verlangen – vor allem auch mit Blick auf den Ödipus auf Kolonos – auf sehr überzeugende Weise dargelegt, vgl. Butler 2001, S. 93 – 116.
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law“ (Sophokles 1888, S. 258).²⁸¹ Bernard Knox geht noch weiter, wenn er in diesen eigentümlichen Zeilen Antigones „moment of truth“ vermutet (Knox 1964, S. 107), der das rein persönliche Motiv offenbart, das sie tatsächlich zu ihrer Handlung bewegt hat: „Antigone abandons both her political and her religious loyalities in one speech – in one sentence, in fact“ (Knox 1964, S. 107). Sein abschließendes Urteil über die sophokleische Darstellung von Antigones Handlungsperspektive lautet demensprechend: „the deepest motive for action is individual, particular, inexplicable in any other terms than personal, a passionate, almost irrational impulse“ (Knox 1964, S. 110). Betrachten wir die Tragödie aus dieser Perspektive, erweckt Antigone nicht mehr den Eindruck, aufgrund einer Einsicht in die universale Geltung eines ungeschriebenen Gesetzes gehandelt zu haben. Wenn Ismene ihrer Schwester vorwirft, einer „Liebe zum Unmöglichen“ nachzuhängen; wenn der Chor etwas später diese seltsame Form der affektiven Besetzung als einen „Eros für den Tod“ reformuliert²⁸² und sie zuletzt einer „eigenwilligen Leidenschaftlichkeit“ tadelt,²⁸³ dann sind diese Zuschreibungen nicht völlig von der Hand zu weisen: Antigones Auftreten hat etwas Exzessives.²⁸⁴ In den Worten David McNeills: „Whether we think of it as springing from an ancestral curse or from merely human misfortune, the play gives us ample reason to ascribe to Antigone a pathological relationship to the dead“ (McNeill 2011, S. 413). Diese Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen einem Handeln aus Achtung für das Gesetz und dem Ausagieren eines selbstzerstörerischen Hangs oder eines familiär induzierten Wiederholungszwangs, wird in der sophokleischen Tragödie bis zum Schluss nicht aufgelöst. Ob Antigone aus Einsicht in ihre Pflicht und in das „göttliche Gesetz“ gehandelt hat, wie Hegel annimmt,²⁸⁵ oder aus einer inzestuösen Liebe zu ihrem Bruder, wie Butler suggeriert,²⁸⁶ ob ihre Tat einem Akt der moralischen Autonomie entspricht oder vielmehr eine Haltung des Eigendünkels oder einer nahezu fanatischen, moralistischen Arroganz zum Ausdruck bringt, lässt sich auf der Basis des Textes der Tragödie nicht entscheiden. Die Pointe der Antigone scheint mir vielmehr darin zu bestehen, diese Serie von Ambiguitäten zu behaupten – und bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Nimmt man diese Behauptung der Ambiguität ernst und betrachtet sie auf der Basis von Kants Unterscheidung
Vgl. dazu auch Butler 2001, S. 25 f., die anders als Jebb betont, dass man die beiden „Gesetze“, die Antigone nennt (das „göttliche Gesetz“ und das Gesetz des letzten verbliebenen Bruders), zusammendenken sollte, um die ganze Krise der normativen Funktion von Verwandtschaftsverhältnissen in den Blick zu bekommen, den Antigones Begehren figuriert: Das „Gesetz“ ihres Willens ist ein solches, das nur einen einzigen Anwendungsfall hat und infolgedessen seinen eigenen Status als Gesetz durchkreuzt. Ich werde im letzten Abschnitt noch einmal auf die Verse 905 – 915 der Antigone zurückkommen und eine andere Deutung vorschlagen. Siehe Sophokles 1981, V. 220, sowie dazu McNeill 2011, S. 421. Vgl. Sophokles 1981, V. 875. Vgl. dazu Menke 2015b. Vgl. Hegel 1970a, S. 327– 342. Siehe Butler 2001, S. 46 – 48, 97 f., 115 f.
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zwischen Wille und Willkür, dann können wir die Tragödie so deuten, dass sie eine gewisse Skepsis gegenüber der Form des autonomen Handelns artikuliert: Sie liefert uns auf zugespitzte Weise einen Einblick in den Hang zur tragischen Zweideutigkeit, der in die spannungsgeladene Relation von Wille und Willkür a priori eingetragen ist. Die Antigone scheint nahezulegen, dass der Begriff einer objektiven und autonomen Einheit des Willens in dem Moment, in dem es um die Realisierung dieser Einheit im konkreten Handeln geht, konstitutiv der Gefahr ausgesetzt ist, von der Gestalt eines heteronomen Willens ununterscheidbar zu werden. Ich tendiere also dazu, die Tragödie so zu lesen, dass sie uns die notwendige Möglichkeit der Zweideutigkeit der Autonomie auf exemplarische Weise vor Augen führt. Diese Zweideutigkeit können wir zunächst mit Kants These aus der Grundlegung verbinden, der zufolge „durch Erfahrung“ kein einziger Fall „mit völliger Gewißheit“ auszumachen sei, dass die Maxime einer pflichtgemäßen Handlung „lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe“ – und dem Handeln nicht doch ein „geheimer Antrieb der Selbstliebe“ (oder auch ein untergründiger Impuls einer pathologisch entstellten Selbstliebe) zugrunde lag (GMS 4:407). Weil es bei der Frage nach dem moralischen Wert von Handlungen „nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht“ (GMS 4:407), lässt sich durch Beobachtung und selbst für die „schärfste Selbstprüfung“ (GMS 4:407) niemals einwandfrei feststellen, ob wir es mit einer Handlung aus Pflicht oder einer bloß pflichtgemäßen Handlung zu tun haben, die nicht aus Achtung für das Gesetz vollzogen wurde. An dieser Stelle liegt natürlich der Einwand nahe, dass diese Einschränkung allein für die theoretische Erkenntnis (die Selbst- und Fremdbeobachtung) gilt, nicht aber für das praktisches Wissen resp. für unser praktisches Selbstbewusstsein: Von den Prinzipien oder Maximen, die meinem Handeln zugrunde liegen, weiß ich auf praktische Weise, weil ich es selbst bin, der ihnen in der Tat folgt. Dieser Einwand gegen die epistemische Zweideutigkeit des moralischen Handelns, der auf der „Autorität der ersten Person“ basiert, wird allerdings durch den Begriff eines zugleich endlichen und autonomen Begehrungsvermögens und der komplizierten Relation von Wille und Willkür, die er enthält, entkräftet. Das praktische Wissen, dass ich von den „inneren Prinzipien“ meines Handelns habe, liegt in meinem Willen im Sinne meines reflexiven Selbstbewusstseins. Dieses reflexive Bewusstsein des Sollens artikuliert in dem Maße ein praktisches Wissen, wie es mir gleichzeitig ein Können erschließt. Das Selbstbewusstsein jedoch, aus dem ich handele, ist das präreflexive Selbstbewusstsein der Willkür. Zu diesem Vollzugsbewusstsein habe ich, wie im fünften Kapitel gezeigt wurde, keinen direkten Zugang, d. h. ich verfüge über kein reflexives Wissen von dem Prinzip, dem ich in meinem Handeln tatsächlich folge. Aus diesem Grund erscheinen freie Handlungen der Möglichkeit nach in einem doppelten Aspekt: als Ausdruck „selbstverschuldeter“ Heteronomie oder als Ausdruck von Autonomie. Beide Perspektiven sind jederzeit möglich. Handlungen aus Freiheit haben daher auf fundamentalem Niveau eine ambige Form.
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Die Doppeldeutigkeiten, die Antigones Tat anhaften, lassen sich somit als dramatisierte Fälle jener epistemischen Intransparenz des autonomen Handelns interpretieren, die Kant in der Grundlegung herausgestellt hat. Aber nicht nur die Antigone ist von dieser Problematik betroffen. In der Tragödie gehen die Willkürunterstellungen vielmehr in alle Richtungen, so dass jede Figur, die einen „reinen“ oder vernünftigen Willen für sich reklamiert, aus der Perspektive der anderen als willkürlich – als eigenwillig, irrational oder affektiv verblendet – erscheint: In den Augen des Chors, Kreons und Ismenes ist Antigones Eigensinn unbestreitbar, während für Antigone ihre Schwester und Kreon auf unterschiedliche Weise daran scheitern, die endlichen Beschränkungen ihres Willens zu überwinden. Kreon wiederum, der sein Bestattungsverbot durch den Verweis auf ein an Hobbes erinnerndes Souveränitätsprinzip zu legitimieren versucht,²⁸⁷ muss sich nicht nur von Antigone anhören, dass er ein „Tor“ und „Tyrann“ (Sophokles 1981, V. 470, 506) ist, sondern wird auch von Ismene,²⁸⁸ seinem Sohn Haimon,²⁸⁹ von Teiresias²⁹⁰ und zuletzt von sich selbst²⁹¹ mit dem Vorwurf der Willkürlichkeit konfrontiert. Für Ismene handelt Antigone „ohne Verstand“ (Sophokles 1972, S. 13, V. 67) und Kreon ungerecht,²⁹² während für Kreon die beiden Schwestern „von allen Sinnen sind“ (Sophokles 2003, S. 78, V. 560): die eine in der aktuellen Situation und die andere „seit ihrem ersten Schrei“ (Sophokles 1981,V. 561). Bei genauerer Analyse wird allerdings deutlich, dass es in der Antigone nicht allein um eine Eskalation der epistemischen Zweideutigkeit des freien Handelns geht, sondern auch und in erster Linie um eine strukturelle Zweideutigkeit, die der Form eines Begehrens jenseits des Lustprinzips konstitutiv anhaftet. Die sophokleische Tragödie bleibt, mit anderen Worten, nicht bei der Behauptung jener epistemischen Ambiguität stehen. Denn es ließe sich zeigen, dass das Stück auch eine originelle und überraschende Antwort auf das Problem dieser Zweideutigkeit gibt – eine Antwort, die mit dem Porträt zusammenhängt, das in der Tragödie von Antigones Akt gezeichnet wird, mit dem sie das „göttliche Gesetz“ zum Gesetz ihres eigenen, besonderen und subjektiven Willens macht. Indem die Tragödie eine Antwort auf die epistemische Zweideutigkeit der Autonomie artikuliert, werden wir natürlich nicht alle Zweideutigkeit los, im Gegenteil. Es scheint vielmehr die eigentliche Pointe der Tragödie zu sein, dass die Gefahr, in Heteronomie umzuschlagen, der Autonomie wie ein „dämonisches Schicksal“ anhängt. Die Antwort, die in der Tragödie lesbar wird, gibt dieser Zweideutigkeit aber eine interessante Wendung: Sie führt die Ambiguität nicht bloß als eine Divergenz verschiedener Perspektiven auf ein und dieselbe Handlung vor, sondern vielmehr als Eigenschaft genau derjenigen Handlungsperspektive, aus der diese Handlung realisiert wird. Auf diese Weise trägt die sopho-
Vgl. Sophokles 1981, V. 666 – 677. Siehe Sophokles 1981, V. 572. Vgl. Sophokles 1981, V. 739, 743, 745, 757, 753. Vgl. Sophokles 1981, V. 1015, 1052, 1073, 1087– 1090. Siehe Sophokles 1981, V. 1261– 1265. Vgl. Sophokles 1981, V. 572.
6.2 Antigones Schema und die Empfänglichkeit für das Gesetz
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kleische Antigone eine Zweideutigkeit in die Struktur der Autonomie selbst, d. h. in das in sie eingelassene Verhältnis der objektiven und subjektiven Einheit von Wille und Willkür ein: in den Akt der Subjektivierung der Autonomie. Die Tragödie zeigt also nicht nur, dass Antigones Wille in ihrer Handlung und in ihrer Rechtfertigung für die Perspektive der anderen als das Gegenteil seiner selbst erscheint, nämlich als heteronomer Eigensinn (oder als eine durch soziale Umstände verstörte Willkür). Die Tragödie erweist ihren „reinen“ Willen vielmehr zugleich als einen notwendig „unreinen“ Wille insofern, als dessen objektive Einheit von Anfang an die Form einer subjektiven Einheit und damit auch die ambigen Züge einer zweifach transformierten Willkür besitzt: eine durch das Gesetz schematisierte Rezeptivität und eine „fundamentale Wahl“ des Gesetzes, die dasselbe von sich selbst entfremdet.
6.2 Antigones Schema und die Empfänglichkeit für das Gesetz Wie verfährt die Tragödie also mit der Entzweiung des Begehrungsvermögens, die im Prolog anhand des Verhältnisses der beiden Schwestern exponiert wird? Einerseits führt sie uns ihre Hauptfigur nicht bloß als den einen Pol der Entzweiung vor Augen, sondern zugleich als eine Figur der zweideutigen Überwindung der Entzweiung. Antigones Wille verbleibt nicht in der abstrakten oder einseitigen Form der objektiven Einheit: Die Einheit ihres Willens beschreibt zugleich eine subjektive Einheit – eine Einheit, die nicht allein von ihrem „reinen“ Willen, sondern auch von ihrer „unreinen“ oder endlichen Willkür her gedacht werden muss. Antigone vollzieht also von Anfang an eine Subjektivierung jener objektiven Einheit, die zwei Aspekte besitzt und die ich in den letzten beiden Abschnitten dieser Studie nachvollziehen möchte: Die Spontaneität ihrer Willkür und die praktische Rezeptivität ihres Gefühls erscheinen jeweils in einer transformierten Gestalt. Dadurch aber, dass die Tragödie mit der Figur der Antigone eine Überwindung der Entzweiung vorführt, zeigt sie andererseits zugleich, dass ihre Autonomie von einer gewissen Zweideutigkeit nicht verschont bleibt. Es ist bemerkenswert, wie die Tragödie diejenige Handlung einführt, die ihr skandalöses Zentrum bildet. In der ersten Szene des Stücks trifft sich Antigone mit ihrer Schwester Ismene außerhalb des Palastes von Theben, um sie unter vier Augen über Kreons Bestattungsverbot zu informieren und sie zugleich aufzufordern, ihr beim Begräbnis zu helfen. Dabei ist zunächst interessant, wie Antigone dies tut. In der ersten Zeile der Tragödie wendet sie sich an ihre Schwester mit einer für ihre Unübersetzbarkeit berüchtigten Anrede, die Hölderlin genauso treffend wie verrätselt als „Gemeinsamschwesterliches! o Ismenes Haupt!“ fasst (Hölderlin 1952, S. 205). Die Worte κοινὸν αὐτάδελφον betonen auf emphatische Weise die verwandtschaftliche Beziehung, die die beiden Schwestern verbindet.²⁹³ Diese Überakzentuierung birgt
Siehe dazu Richard Jebbs Kommentar in Sophokles 1888, S. 8, der die Wendung in der ersten Zeile des Prologs mit „my sister, mine own dear sister“ übersetzt.
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jedoch noch ein anderes Moment, das den folgenden Dialog auf eine spezifische Weise rahmt und eine zweifache Lektüre ermöglicht. Das Wort koinos meint nicht nur „verwandt“, sondern lässt sich auch allgemeiner so verstehen, dass es sich adjektivisch auf eine gemeinsam geteilte Sache bezieht. Und der Ausdruck autadelphos kombiniert das Wort für „Bruder“ oder „Schwester“ mit der Vorsilbe „selbst“,²⁹⁴ wobei letztere nicht nur als eine poetische Verstärkung fungiert (wie in „meine eigene Schwester“), sondern dahin tendiert, das intime Band der beiden Schwestern, das „Gemeinsamschwesterliche“, dermaßen zusammenzuziehen, als handelte es sich um ein und dasselbe „Selbst“. Buchstäblich ließe sich somit Antigones Anrede als „geteilte Selbst-Schwester“ übersetzen²⁹⁵ – eine Wendung, die zwar einerseits unverständlich erscheint, aber andererseits deutlich macht, wie Antigone im Folgenden ihre Schwester anspricht: Sie adressiert Ismene wie sich selbst – als würden beide ein gemeinsames „schwesterliches Selbst“ teilen. In diesem Sinne eröffnet die erste Zeile des Prologs eine doppelte Lektüre: Zum einen handelt es sich um eine dialogische Auseinandersetzung zwischen den Schwestern, die uns die beiden Seiten der Selbstentzweiung des Begehrungsvermögens vorführt. Diese Lesart habe ich im letzten Abschnitt hervorgehoben. Zum anderen können wir Antigones Äußerungen aber auch als Ausdruck ihres eigenen praktischen Selbstverhältnisses deuten: Die Weise, in der Antigone ihre Schwester anspricht, reflektiert die Weise, in der Antigone (in Gestalt ihres Willens) auf sich selbst (in Gestalt ihrer Willkür) bezogen ist. Diese zweite Interpretation erscheint insbesondere für den zunächst unscheinbar wirkenden Passus angemessen, in dem Antigone ihrer Schwester die neueste Entwicklung nach der tödlichen Konfrontation ihrer beiden Brüder mitteilt: Hat Kreon nicht den Einen unserer beiden Brüder Des Grabs gewürdigt und dem andern es verwehrt? Eteokles, sagt man, hab er nach rechtem Recht und Gesetz geborgen in der Erde, So daß er drunten Ehre bei den Toten hat. Den armselig gestorbenen Leib indessen Des Polyneikes, sagen sie – da sei Den Bürgern ausgerufen worden, daß ihn keiner Im Grabe berge noch beklage. Lassen Soll man ihn grablos, unbeweint, den Vögeln Als süßen Vorrat auszuspähn zu Fraßes Lust. So etwas, sagt man, hat der gute Kreon dir Und mir – ich sage: mir auch! – kundgegeben […] Wer derlei tut, dem sei bestimmt der Tod Der Steinigung vom Volke in der Stadt. – So steht dir das! und gleich wirst Du beweisen, Ob du bist gut geboren, ob von Edlen schlecht. (Sophokles 1974, S. 12, V. 21– 38)
Vgl. Gibbons 2003, S. 40. So lautet der Vorschlag von Segal 2003, S. 7.
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Es ist charakteristisch für Antigones Perspektive auf die Situation, dass sie mit ihr keinerlei Bedarf an Reflexion oder Überlegung verbindet. Für Antigone gibt es keinen Anlass, die Gründe eigens zu erwägen, die für oder gegen die zugleich moralisch gebotene und politisch verbotene Bestattung ihres Bruders sprechen, um auf diese Weise gemeinsam mit ihrer Schwester zu einem ausgewogenen Urteil darüber zu gelangen, was unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände die beste Handlungsweise darstellte. Diese Haltung gibt Antigone auch in der auf ihre Schilderung folgenden Diskussion mit Ismene nicht auf. Obwohl ihre Schwester deutlich macht, dass sie Antigones Vorhaben weder gutheißt noch dazu bereit ist, sie dabei zu unterstützen, unternimmt Antigone keinen Versuch, Ismene zu überzeugen.²⁹⁶ Stattdessen präsentiert sie nicht mehr als eine Situationsbeschreibung, in der ein einziges Merkmal in den Vordergrund tritt: der unbestattete, unbeklagte Bruder. Dieses Merkmal wird zudem mit einer starken Emphase ausgestattet: Das Bestattungsverbot hat einen entwürdigenden Charakter, der einem Akt der Gewalt gleichkommt (Polyneikes‘ Leichnam wird den Vögeln zum Fraß vorgeworfen). Und auch wenn die drohende Todesstrafe in Antigones Beschreibung vorkommt, so wirkt dieser nicht unerhebliche situative Aspekt im Lichte jener nachdrücklichen Hervorhebung merkwürdig blass und büßt jede Relevanz hinsichtlich der Frage ein, wie sie auf die neuen Umstände reagieren will. In Antigones Augen erscheint es stattdessen evident, was zu tun ist.²⁹⁷ Die spezifische Art und Weise, in der die Tragödie Antigones Handlungsperspektive einführt, trägt demnach deutliche Spuren jenes Darstellungsverfahrens, das ich im letzten Kapitel als praktischen Schematismus beschrieben hatte. Sofern es also angemessen ist, ihre Schilderung zugleich als Artikulation ihres eigenen praktischen Selbstverhältnisses zu deuten – sie adressiert ihre Schwester, als teilte sie mit ihr das gleiche praktische Selbstbewusstsein –, können wir diese Schilderung so verstehen, dass sie ein unreflexives Verhältnis zur Situation beschreibt, in dem Antigones Wille unmittelbar zum Ausdruck kommt. Dieser Umstand würde erklären, weshalb sie keinen Bedarf für weitere praktische Überlegungen sieht: Ihr „reiner“ Wille äußert sich direkt und auf implizite Weise in ihrer Situationswahrnehmung, und zwar dadurch, dass letztere durch das Darstellungsschema des hervorstechenden Merkmals organisiert wird, das mit der Vorstellung einer einzigen Handlung alternativlos verknüpft wird.²⁹⁸ Dass es sich hier um einen Schematismus handelt, der ein praktisches Gesetz
In der Übersetzung von Gibbons und Segal reagiert Antigone auf die argumentativen Bemühungen ihrer Schwester mit einem lapidaren: „I won’t insist“ (Sophokles 2003, S. 56, V. 69). Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass Ismene nicht nur ungläubig auf Antigones Situationsbeschreibung reagiert – sie muss drei Mal nachhaken, bevor sie realisieren kann, dass Antigone in der Tat genau das vorhat, was ihre Schilderung nahelegt (siehe Sophokles 1981, V. 39 – 40, 42, 44) – sondern zunächst einmal an Antigones Verstand und Reflexionsvermögen appelliert: „Bedenke [φρόνησον], Schwester“ (Sophokles 1981, V. 49). Alle diejenigen Merkmale des praktischen Kontextes hingegen, die von Antigone ignoriert oder unterschwellig als praktisch irrelevant eingestuft werden, macht die Tragödie nicht nur in Ismenes
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(resp. eine Bestimmung des Handelns, die mit der Kraft eines Gesetzes ausgestattet ist) unmittelbar vor Augen führt, macht Antigone spätestens an der Stelle deutlich, wo sie explizit argumentiert und in eine politische Praxis der Rechtfertigung eintritt: Im zweiten Epeisodion, in dem Antigone zum ersten Mal auf Kreon trifft, identifiziert sie ihre Tat ausdrücklich mit einer Handlung aus „Achtung für das Gesetz“ – indem sie sie nämlich als eine Instanziierung der „ungeschrieben und unfehlbaren Gesetze der Götter“ bezeichnet (Sophokles 1981, V. 454 f.). Aufschlussreich ist insbesondere die Weise, in der Antigone im Prolog jene Verknüpfung ihrer Situationsdarstellung mit einer als unbedingt vorgestellten Handlung vornimmt. Sie berichtet von Kreons Erlass, der dem toten Bruder die Würde der Bestattung untersagt, und betont dabei, dass dieses Verbot in erster Linie Ismene und sie selbst als die letzten verbliebenden direkten Familienangehörigen betrifft: Dies hat „der gute Kreon dir und mir – ich sage: mir auch! – kundgegeben“ (Sophokles 1974, V. 31 f.). In dem Moment aber, in dem Antigone ihre Situationsbeschreibung explizit mit einer Handlungsvorstellung verbindet, wechselt sie von der Perspektive der Mitbetroffenen in die Zweite-Person-Perspektive der Fordernden: „So steht dir das! und gleich wirst Du beweisen, ob du bist gut geboren, ob von Edlen schlecht“ (Sophokles 1974, S. 12,V. 37 f.). Ohne die Handlung zu benennen, die in ihrer Schilderung mehr als nahegelegt wird, und ohne den deskriptiven Duktus ihrer Ausführungen zu unterbrechen, adressiert Antigone ihre Schwester nicht mehr nur als eine Gleiche, sondern wie eine Andere und als eine Andere: Indem sie Ismenes Reaktion auf die neuen Umstände im Voraus derart einordnet, dass ihr Handeln faktisch demonstrieren wird, ob sie ihrer „edlen Herkunft“ gegenüber würdig ist, synthetisiert Antigone ihre Wahrnehmungsperspektive auf die Situation zugleich mit dem Blick unbestimmter Anderer: Sie nimmt diesen wertenden Blick, vor dem Ismene als würdig oder unwürdig erscheinen wird, a priori für sich in Anspruch. Trotz der Atmosphäre der Vertrautheit, in der sich die beiden Schwestern treffen, macht Antigone damit eine Handlungsperspektive geltend, die mit der geschwisterlichen Intimität bricht: Denn es handelt
Reaktion explizit, sondern auch im Einzugslied des Chores, der direkt auf den Prolog folgt, sowie in Kreons anschließender Rede an die Bürger von Theben im ersten Epeisodion. Die Ode des Chors im Parodos beschreibt die angsterfüllte Szenerie einer Stadt, die gerade eine existenzbedrohliche Krise überstanden hat (vgl. Sophokles 1981, V. 100 – 154). Sie demonstriert uns damit eine Perspektive auf Polyneikes, die in einem deutlichen Kontrast zum Blickwinkel der beiden Schwestern steht (vgl. Knox 1964 S. 83 f.): Er erscheint als Verräter, der eine mächtige fremde Armee gegen Theben geführt hat, „scharf schreiend wie ein Adler […], mit Waffen viel und mit roßmähnigen Helmen […], mit mörderischen Lanzen rings umklaffend den siebentorigen Mund“ der Stadt (Sophokles 1974, S. 15, V. 112– 119). Das Einzugslied des Chores markiert damit den motivationalen Kontext für die sicherheitspolitische Maßnahme des neuen Herrschers von Theben, der zufolge Polyneikes „weder mit einem Grab zu beehren noch zu […] beklagen ist, sondern unbestattet zu lassen, den Vögeln und Hunden ein Fraß, und als geschändet anzusehen“ (Sophokles 1981,V. 203 – 206). In seiner inauguralen Rede an die Bürger der Stadt erinnert Kreon daran, dass Polyneikes „die Vatererde und die einheimischen Götter, als Flüchtling aus der Verbannung zurückgekommen, mit Feuer gänzlich verbrennen, sich am gemeinsamen Blut sättigen, den Rest in die Sklaverei führen wollte“ (Sophokles 1981, V. 199 – 202).
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sich um eine Perspektive, aus der die agierende Person in ihrem Handeln objektiv erscheint, d. h. in ihrem objektiven Wert ansichtig wird. Antigones Aufforderung an die Adresse ihrer Schwester, der gemeinsam geteilten „edlen Herkunft“ und der darin liegenden Pflicht gerecht zu werden, appelliert somit nicht bloß an Ismenes Familiensinn, sondern an ihre Sensibilität für die normative Abhängigkeit ihres Handelns von der Perspektive der Anderen, die Antigone für sich reklamiert. Und dieser Appell ist bereits in ihrer Situationsbeschreibung enthalten, die dazu angetan ist, ihre Schwester in ihrem Für-Andere-sein zu affizieren – d. h. in ihrem Bewusstsein der Empfänglichkeit für Bestimmungen durch die Werturteile unbestimmt Anderer.²⁹⁹ „So steht es“ aber natürlich nicht nur für Ismene, sondern auch und erst recht für Antigone selbst. Ihr Appell an die Schwester bringt auch einen Aspekt ihres eigenen Selbstverhältnisses zum Ausdruck, den wir mit Kants Gedanken der Selbstaffektion deuten können. In Antigones von einer moralischen Einbildungskraft durchzogenen Situationswahrnehmung liegt bereits die Macht eines Imperativs, der dem Anspruch nach eine unbedingte Handlungsanforderung artikuliert und mithin aus einer Perspektive erfolgt, die dem Selbstbewusstsein des Für-sich-für-Andere-seins entspricht.³⁰⁰ Durch ihre Wahrnehmung der Situation affiziert sich Antigone also selbst, und zwar in ihrem eigenen Für-Andere-sein und ihrem Bewusstsein der normativen Abhängigkeit von den Urteilen anderer – woraus nicht nur eine im Sinne des Für-sichfür-Andere-seins transformierte Leidenschaftlichkeit resultiert, die in der Tragödie an vielen Stellen in grellen Farben beschrieben wird, sondern auch eine Transformation von Antigones eigenem Selbstbewusstsein, das von Anfang an in derjenigen objektiven und moralischen Dimension verankert ist, als die Sartre das Für-sich-für-Andere-sein charakterisiert. Es wäre sicherlich nicht richtig, die affektive Dimension von Antigones Begehren und ihr damit zusammenhängendes praktisches Bewusstsein so zu beschreiben, dass sie in der Tragödie eine „Transformation“ durchliefen. Ich halte es jedoch für bedeutsam, wie die Tragödie Antigones Handlungsperspektive einführt, nämlich über eine moralisch schematisierte Situationsschilderung, die den affektiven und evaluativen Aspekten ihres praktischen Bewusstseins in der Folge eine gewisse Verständlichkeit und Folgerichtigkeit verleiht – und zwar gerade dort, wo sie zunächst nur schwer nachvollziehbar sind. Die Tatsache, dass diese Verständlichkeit zunächst nicht auf dem Weg der Reflexion und ausdrücklichen Rechtfertigung hergestellt wird, sollte nicht unterschätzt werden. Die subjektive Wirklichkeit und praktische Wirksamkeit jenes Prinzips, auf das sich Antigone erst später im Stück explizit beruft, wird zunächst im Medium einer Situationswahrnehmung vermittelt – was meines Erachtens darauf hinweist, dass dem praktischen Schematismus eine gewisse Priorität gebührt, um Antigones Begehren in seiner subjektiven Wirklichkeit deutlich zu ma Denn wie ich im Abschnitt 5.5. argumentiert habe, ist diese normative Perspektive unbestimmter Anderer exakt diejenige, aus der ein objektiver oder moralischer Wert von Personen allererst erschlossen wird. Siehe dazu die Argumentation im Abschnitt 5.6.
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chen. Denn was ihre schematisierte Wahrnehmung von Anfang an in den Vordergrund hebt, ist die besondere Gestalt ihrer praktischen Rezeptivität gegenüber der Situation, von der ausgehend ihr emotionales Leben eine im Vergleich zu den anderen Figuren eigentümliche Verzerrung oder Verfremdung erfährt. Die „selbstgemachte Leidenschaft“ oder das „eigenwillige Temperament“, das der Chor im vierten Epeisodion Antigone attestiert, die „Liebe zum Unmöglichen“ und das „glühende Herz für das Kalte“ (Sophopkles 1981, V. 88), das Ismene an ihrer Schwester beklagt – alle diese Zuschreibungen betonen den Umstand, dass Antigones philia, ihre affektive Bindung an die Ihrigen, in einem deutlichen Kontrast zu kantisch verstanden Neigungen oder materiellen Triebfedern der Selbstliebe stehen. Ihre Absicht, ihren Bruder zu bestatten, wird nirgendwo in der Tragödie so dargestellt, dass sie damit eine Annehmlichkeit, eine Lust oder Befriedigung in irgendeinem Sinne verbinden würde.³⁰¹ Aus dem Blickwinkel derjenigen Figuren, die in den Prinzipien des endlichen Willens fest verankert sind und die, wie im Falle Kreons und Ismenes, umwillen der kollektiven oder individuellen Selbsterhaltung agieren und urteilen, erscheinen Antigones Gefühlsäußerungen daher notwendig in der verzerrten Gestalt einer Pathologie oder Irrationalität – und zwar gerade deswegen, weil ein Begehren, das den Boden des Lustprinzips verlassen hat, im begrifflichen Rahmen eines endlichen Willens allein nicht verständlich werden kann. Antigones irritierend transformierte Form der Affektivität, die zwischen einer moralischen Triebfeder und einer eigensinnigen Passion ununterscheidbar changiert, erklärt sich aus dem Umstand, dass sie in erster Linie auf ihr Selbstbewusstsein des Für-Andere-seins bezogen ist (worauf bereits der Ausdruck autognōtos hinweist, der auch eine Art des Selbstwissens konnotiert). Ich hatte im Abschnitt 5.6. behauptet, dass die subjektive Wirksamkeit des Gesetzes der Freiheit als eine Modifikation des präreflexiven Selbstbewusstseins des Für-Andere-seins beschrieben werden kann. Wenn diese Modifikation des Selbstverhältnisses (in Gestalt einer moralischen Einbildungskraft) in Antigones Situationsschilderung im Prolog am Werk ist, wird verständlich, weshalb ihr Begehren in erster Linie um ihr Für-sich-für-Andere-sein kreist. Denn worum es ihr geht, wenn sie auf der Bestattung ihres verstorbenen Bruders besteht, ist zweierlei: Mit dem Vollzug dieser Handlung will sie einerseits ihren Bruder in seinem objektiven Wert als Person würdigen und andererseits ihre eigene Würde als Person unter Beweis stellen.³⁰² In ihrer Handlung verbinden sich derart der Wert ihrer Person mit dem Wert der Person ihres Bruders – was sich vor dem Hintergrund meiner Argumentation im fünften Kapitel auch so ausdrücken lässt, dass das praktische Selbstbewusstsein des Für-sich-für-Andere-seins, aus dem heraus Antigone handelt, sowohl das Für-Andere-sein von Polyneikes umfasst – seinen Wert, den er durch den Blick der Anderen, den Antigone hier für sich beansprucht, erwerben kann –, als auch
Siehe dazu McNeill 2011, S. 417. Vgl. McNeill 2011, S. 415, 420 f., der diese kantischen Implikationen von Antigones Bestreben auf sehr überzeugende Weise herausgearbeitet hat.
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ihr eigenes Für-Andere-sein – den moralischen Wert, den sie vor dem Blick der Anderen dadurch beansprucht, dass sie ihrem verstorbenen Bruder die Ehre erweist. Diese Ausrichtung von Antigones Begehrens auf die zugleich objektive, moralische und soziale Dimension des praktischen Selbstbewusstseins ist bereits in ihrer Situationsdarstellung im Prolog angelegt, denn dort beschreibt sie das Unrecht, das mit dem Bestattungsverbot ihrem Bruder angetan wird, in Termini des Für-Andere-seins: Polyneikes wird vorenthalten, durch ein Begräbnis „gewürdigt“ zu werden.³⁰³ Das Wort, das sie an dieser Stelle und im weiteren Verlauf der Tragödie immer wieder verwendet, lautet „τιμή“,³⁰⁴ die mit Bezug auf Personen nicht nur als „Würde“ übersetzt werden kann,³⁰⁵ sondern genauer den Respekt bezeichnet, den eine Person in den Augen Anderer verdient.³⁰⁶ Mit der Bestattung von Polyneikes geht es Antigone somit darum, seine timē wiederherzustellen – es geht ihr um das Sein-für-Andere von Polyneikes, den objektiven Wert, der ihm im Blick Anderer zukommt und der für sie ein „Gesetz“ ihres Willens darstellt. Die gleiche Art des Respekts im Blick der Anderen sucht Antigone auch für sich: Indem sie ihren Bruder bestattet, restauriert sie nicht allein auf rituelle Weise seine timē, sondern sie bringt dabei zugleich ihren eigenen objektiven und moralischen Wert zur Geltung, der ihrem Anspruch nach in den Augen der Anderen universellen Respekt verdient. Weshalb lässt sich Antigones Pflichtbewusstsein mit ihrem praktischen Selbstbewusstsein des Für-sich-für-Andere-seins in Verbindung bringen? In der Grundstruktur desjenigen Selbstbewusstseins, das Sartre als Für-Andere-sein bezeichnet, figuriert die Andere in dem Maße als „reines Subjekt“ (Sartre 1994, S. 486), wie im Fokus dieser Form des Bewusstseins das objektive und soziale Sein des Selbst steht, das im oder vor dem Blick der Anderen erscheint. Innerhalb dieser Struktur ist die Andere somit gerade nicht das Objekt von Bewertungen und Zuschreibungen, sondern als Objekt von Bewertungen und Zuschreibungen erfährt sich das Subjekt des Selbstbewusstseins vielmehr selbst. In diesem Sinne hat die Andere den Status eines „reinen“ Subjekts: einer Person, die gerade nicht zum Objekt von Bewertungen und Zuschreibungen gemacht wird. Auf Antigone bezogen bedeutet dies, dass sie in ihrer Vorstellung der Pflicht auf diesem reinen Subjekt-Status ihres Bruders beharrt: Anders als Kreon, der Polyneikes die Würde der Bestattung untersagt, weil er sich wie ein politischer „Feind“ von Theben verhalten hat, betrachtet Antigone ihren Bruder als „reines Subjekt“ und weigert sich, ihn in seinem Handeln zum Objekt einer Bewertung zu machen.³⁰⁷ Welche Art der Modifikation bewirkt nun das Bewusstsein des moralischen Gesetzes in jener Struktur des Für-Andere-seins und insbesondere im Bewusstsein der Anderen als „reinem Subjekt“? Die Pointe dieser Modifikation besteht darin, das das
Vgl. Sophokles 1981, V. 21– 30. Siehe Sophokles 1981, V. 22, 25 sowie 904, 913. So McNeill 2011, S. 420. Vgl. Knox 1964, S. 92. Siehe Sophokles 1981, V. 512– 525.
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eigene Sein-für-Andere, das allein im Blick der Anderen eine Bestimmtheit gewinnen kann, durch das Gesetz als solches und für das Subjekt selbst praktisch bestimmbar wird, und zwar auf eine objektiv gültige und rein formale Weise. Die Andere gewinnt dabei durch diese objektive und formale Bestimmung durch das Gesetz a priori den Status eines intrinsischen Werts. Denn eine adäquate Bestimmung des eigenen Handelns, die allein von der Grundstruktur des eigenen Für-Andere-seins ausgeht und in der das Ich sich als für den Blick der Anderen erscheinend weiß, kann die Andere dabei mit objektiver und subjektiver Allgemeingültigkeit, d. h. in ihrem normativen Sinn, nur als „reines Subjekt“ behandeln, als Subjekt (und nicht als Objekt) von Bewertungen oder Zuschreibungen und somit allein „als Zweck an sich selbst“, „niemals bloß als Mittel“ (GMS 4:429). Sofern Antigones Bestreben auf ihr Für-sich-für-Anderesein fokussiert ist, besteht es darin, durch den Akt der Bestattung diesen objektiven Wert ihres verstorbenen Bruders wiederherzustellen – und gegen Kreon darauf zu insistieren, dass der moralische Wert von Polyneikes als Person von jeder Bewertung seines Handelns, durch die er als Objekt betrachtet wird, unabhängig ist.³⁰⁸
6.3 Antigones Willkür und der Akt der Subjektivierung des Gesetzes Antigone figuriert also nicht nur eine objektive Einheit von Wille und Willkür. Denn wie ich gerade anhand einer kurzen Lektüre des Prologs der Tragödie gezeigt habe, enthält ihre praktische Perspektive bereits eine erste Subjektivierung dieser objektiven Einheit: Das „göttliche“ Gesetz ist bereits als „Triebfeder“ in ihrer Situationswahrnehmung wirksam – im Sinne einer moralisch transformierten Empfänglichkeit, die die praktische Sensibilität ihrer endlichen Willkür von sich selbst und in die Dimension des Für-sich-für-Andere-seins entfremdet. Wenn wir vor diesem Hintergrund einen erneuten Blick auf die Beziehung zwischen Antigone und Ismene im Prolog werfen, lässt sich erkennen, dass die einander entgegengesetzten Perspektiven der beiden Schwestern einen Aspekt von Antigones praktischem Selbstbewusstsein offenbaren, der bisher noch nicht berücksichtigt wurde. Ich hatte diese Entgegensetzung zunächst so charakterisiert, dass sie uns eine Entzweiung des Begehrungsvermögens vor Augen führt. Antigone figuriert dabei aber nicht nur die eine Seite der Entzweiung, nämlich die objektive Einheit des Willens, sondern kann zugleich auch als ihre Überwindung gelesen werden, denn ihr „reiner“ Wille hat bereits eine erste Form der subjektiven Wirklichkeit angenommen, nämlich in der Schematisierung ihrer praktischen Rezeptivität und der transformierten Gestalt ihres praktischen Gefühls. Um aber die damit zusammenhängende Bestimmung ihres Handelns als eine Meine Behauptung, dass es Antigone um das Für-Andere-sein ihres Bruders geht, muss ich vor diesem Hintergrund reformulieren: Es geht ihr um das reine Für-Andere-sein von Polyneikes – denn einen objektiven Wert besitzen Person allein im Blick von Anderen und niemals im bloßen Für-sichsein.
6.3 Antigones Willkür und der Akt der Subjektivierung des Gesetzes
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(dem Anspruch nach) objektiv gültige und zugleich subjektiv wirksame Bestimmung ihres Willens zu denken, bedarf es neben der Annahme einer transformierten Rezeptivität (im Sinne einer transformierten Kraft oder „Triebfeder“ ihres Willens) auch der Annahme einer transformierten Spontaneität ihrer Willkür. Dieses Erfordernis können wir einsehen, wenn wir die Frage beantworten, worin sich Antigones Haltung von derjenigen ihrer Schwester abhebt: Wodurch wird verständlich, dass Antigone (und nicht Ismene) zu einer moralisch schematisierten Situationswahrnehmung fähig ist? Wie ich bereits betont hatte, wäre es falsch zu behaupten, dass Ismene die Pflicht zur Bestattung von Polyneikes nicht anerkennen würde. Sie geht jedoch davon aus, dass der Verpflichtungscharakter dieser Verpflichtung unter den gegebenen Umständen nicht aufrechterhalten werden kann: Das „göttliche Gesetz“, das die Bestattung verstorbener Familienangehöriger gebietet, verliert im konkreten Fall ihrer von Inzest, Vatermord, Selbstmord und Brudermord erschütterten Familie seine Geltung, weil dessen Befolgung diesem Leid in Gestalt der angedrohten Todesstrafe ein weiteres Leid hinzufügen würde, das sie auf der Basis der Endlichkeit ihres Begehrens und Handelns schlicht nicht wollen kann.³⁰⁹ Ismenes Weigerung, ihren Bruder zu beerdigen, zeigt daher, dass dieses Gesetz nicht ihr eigenes Gesetz im vollen Sinne ist: Anders als das Rationalitätsprinzip, dem zufolge alles Sollen nur im Rahmen der fundamentalen Koordinaten des endlichen Wollens Geltung beanspruchen kann, bestimmt jenes „göttliche“ Prinzip nicht die Form ihrer praktischen Identität. Diese Überlegung macht deutlich, dass sich Antigones Verpflichtung auf das „ungeschriebene und göttliche Gesetz“ nicht einfach als ein Gehorsam gegenüber einem Prinzip verständlich machen lässt, das bereits die Form ihrer ethischen Identität als Schwester des Toten bestimmen würde (und das im Zuge der Sozialisierung in das sittliche Gemeinwesen ihrer Heimatstadt zu ihrer zweiten Natur geworden wäre). Vergleichen wir Antigones Bewusstsein der Pflicht mit dem praktischen Bewusstsein ihrer Schwester, muss vielmehr auffallen, dass Antigones Handlungsperspektive einen zusätzlichen Akt der Bejahung, der Aneignung oder Wahl des „göttlichen Gesetzes“ beinhaltet. Die Gegenüberstellung der beiden Schwestern im Prolog unterstreicht geradezu die Notwendigkeit eines solchen Aktes, ein moralisches Gesetz zum Gesetz des eigenen, endlichen und besonderen Willens zu machen – denn sonst würde dem Gesetz (wie im Fall Ismenes) jene hinreichende subjektive Wirklichkeit fehlen, derer es bedarf, um als kausale Kraft des Willens realisiert zu werden. Die Figur der Antigone demonstriert damit die Abhängigkeit der moralischen Autonomie von einem eigentümlichen Akt der Wahl – und zwar als eine Bedingung, unter der Antigone nicht nur die Bestattung ihres Bruders realisieren, sondern zudem die volle Verantwortung für ihre Tat³¹⁰ und sogar für ihr „eigensinniges Temperament“³¹¹ übernehmen kann.
Vgl. Sophokles 1981, V. 49 – 60. Vgl. Sophokles 1981, V. 448, 539, 542. Siehe Sophokles 1981, V. 925 f.
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Die einzige Stelle in der Tragödie, in der Antigone davon spricht, dass sie eine Wahl getroffen hat, befindet sich im zweiten Epeisodion. Ihre Auseinandersetzung mit Kreon wird durch den Auftritt Ismenes unterbrochen, die offensichtlich darum bemüht ist, ihrer Schwester beizustehen – und zwar dadurch, dass sie sich als Mittätern darstellt, um mit Antigone gemeinsam die tödlichen Folgen zu tragen.³¹² Wie zu erwarten war, weist Antigone diesen Versuch ihrer Schwester brüsk zurück. Es ist jedoch bezeichnend, dass in dem Moment, in dem es Antigone darum geht, die Tat als ihre eigene zu reklamieren und ausschließlich sich zuzurechnen,³¹³ sie nicht nur die Zeugenschaft der Götter bemüht,³¹⁴ sondern auf einen besonderen Akt der Wahl verweist, der hinter ihrer Tat steht: ISMENE: Must I, in my misery, fall short of your fate? ANTIGONE: Yes – because you chose to live, and I to die. ISMENE: But I did not leave these words of mine unsaid! ANTIGONE: To one side you seemed right; to the other, I did. (Sophokles 2003, S. 78, V. 554– 557)
Der philosophische Gehalt der Uneinigkeit zwischen Ismene und Antigone im Prolog besteht darin, ob ein notwendig endlicher Wille die Pflicht zum Begräbnis wollen kann, wenn die Befolgung dieser Pflicht den sicheren Tod bedeutet. Antigones Sicht schien zunächst mit Kants Prinzip „Du kannst, weil du sollst“ hinreichend beschrieben zu sein. Doch an dieser Stelle fügt Antigone eine weitere Bedingung hinzu, die für ein Begehrenkönnen der Pflicht erforderlich ist: eine Wahl, die – in diesem Fall: tödlichen – Folgen der Pflichterfüllung auf sich zu nehmen. Zwar hat es den Anschein, dass diese Wahl bereits durch das Bewusstsein der Pflicht auf implizite oder abstrakte Weise vorgeschrieben ist. Dass sie aber für einen endlichen Willen überhaupt möglich ist, setzt jene schematisierende Arbeit der praktischen Einbildungskraft voraus, die dem endlichen Subjekt allererst diese Möglichkeit konkret zugänglich macht: Denn das Gesetz erschließt dem endlichen Subjekt ein Können nur dadurch, dass es dieses zu einer anderen Wahrnehmung der Situation, einer anderen Art des Affiziertwerdens und dabei zu einer anderen Form des zugleich präreflexiven und praktisch wirksamen Selbstbewusstseins befähigt. Ob diese Befähigung aber ausgeübt wird und das endliche Subjekt sich ein anderes Können zu eigen macht, bleibt kontingent. Die eigentliche Pointe der oben zitierten Stelle besteht deshalb darin, dass Antigones „Wahl des Sterbens“ nicht einfach ein Akt der Befolgung des „göttlichen Gesetzes“ ist, sondern vielmehr ein Akt, der allererst die konkrete Anwendbarkeit und Geltung dieses Gesetzes für ihr endliches Wollen stiftet. Das ist der Grund, weshalb Antigone Ismenes Handlungsperspektive nicht mehr einfach so beschreibt, dass sie an ihrer „hohen
Vgl. Sophokles 1981, V. 536 f., 540 f., 544 f. Vgl. Sophokles 1981, V. 546 f. Vgl. Sophokles 1981, V. 538 f., 542.
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Geburt“ scheitert, sondern ihr immerhin konzediert, dass sie im Rahmen ihrer „Wahl des Lebens“ richtig zu urteilen schien. Um die alleinige Verantwortung für ihre Tat zu untermauern, betont Antigone also, dass die „Wahl des Sterbens“ ihre Wahl und nicht diejenige Ismenes war. Sie bezieht sich dabei allerdings weniger auf die Wahl einer konkreten Handlung (d. h. auf den Entschluss zur Bestattung von Polyneikes). Es handelt sich vielmehr um eine Wahl, die ihrem handlungsbezogenen Entschluss zugrunde liegt. ³¹⁵ Was hier also auf dem Spiel steht, ist die Signifikanz jenes eigentümlichen Akts der Willkür, mit dem sich ein endliches Subjekt unter seinen eigenen Willen bringt – und der nicht mit dem Akt identisch ist, mit dem der „reine“ Wille das endliche Begehrungsvermögen unter seine objektive Bestimmung subsumiert. Die Übereinstimmung einer objektiven mit einer subjektiven Einheit des Willens lässt sich deshalb nicht durch erstere erklären. Und um die Zurechenbarkeit einer Handlung zu garantieren, reicht es nicht, auf den objektiven Willen zu verweisen. Antigone bezieht sich stattdessen auf die subjektive Einheit ihres Willens, die durch eine Wahl oder einen Akt ihrer Willkür gestiftet wird, der ihrer eigenen Handlungsentscheidung vorausliegt. Die Vorstellung der Pflicht lässt zwar in Antigones Augen keinen Raum für eine Wahl. Damit aber diese Vorstellung der Pflicht den Gebrauch der handlungsbezogenen Willkür derart einschränken kann, bedarf es eines höherstufigen Aktes der Willkür, welcher ihrem Bewusstsein der Pflicht zuerst diese beschränkende Macht verleiht. Die zweite Stelle in der Tragödie, die die Virulenz eines solchen Akts der Willkür offenbart, hatte ich bereits im ersten Abschnitt dieses Kapitels thematisiert. Sie befindet sich im vierten Epeisodion, wo sich Antigone in ihren letzten Momenten auf der Bühne erneut auf das „Gesetz“ bezieht, das ihrem Handeln zugrunde lag. Die Verse 902– 915 wurden zumeist so interpretiert, dass Antigone hier ihren eigenen Anspruch auf moralische Autonomie unterläuft und sich stattdessen zu einem irreduzibel privaten, partikularen und irrationalen Begehren bekennt. David McNeill hat jedoch eine überzeugende Lesart dieser Verse vorgeschlagen, die dieser Auffassung entgegengesetzt ist.Worum es Antigone in diesen Zeilen geht, ist weniger der Versuch, den Gehalt desjenigen „Gesetzes“ zu konkretisieren, das ihre umstrittene Handlung rechtfertigt. Es handelt sich vielmehr um eine Rhetorik der „ethischen Erzählung“ im aristotelischen Sinne, die sich um die deutliche Darstellung des Charakters (der „Gesinnung“) der Sprechenden bemüht.³¹⁶ Im Zentrum der Passage, die ich in der Übersetzung von McNeill noch einmal zitieren werde, steht somit nicht das „Gesetz“ selbst, sondern die Weise, in der Antigones „Charakter“ auf es bezogen ist:
Vgl. dazu Religion 6:23, sowie McNeill 2011, S. 425 f., der Kants Unterscheidung zwischen einem Akt der Willkür, der durch die Bildung einer Maxime eine Handlung wählt, und einem Akt der Willkür, der durch die Wahl einer „obersten Maxime“ (Religion 6:23) die Maximenbildung als solche betrifft, auf Antigones „Wahl des Sterbens“ bezieht. Siehe McNeill 2011, S. 425.
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And now, Polyneikes, For laying out your body, this is what I receive. And yet, to those with understanding, I did well in honouring you. For if I was by nature a mother of children, Or if a husband of mine was dissolving in death, I would not have borne out this labor against the power of the citizens. Thanks to what law do I say this? If my husband were dead, there would be another, And a child by that other man if I lost one, But with mother and father both hidden in Hades No brother of any kind could spring up. It was by such a law that I put you forth in honour, But this seemed to Kreon to be to do wrong And to venture terrible things, dear brother. (V. 902– 915, zit. in McNeill 2011, S. 426)
Zunächst sollte auffallen, dass Antigone in diesen Zeilen – anders als Jebb meint³¹⁷ – keineswegs den Anspruch auf universale Gültigkeit und mithin auf den moralischen Wert ihrer Handlung aufgibt („to those with understanding, I did well in honouring you“). Worauf es ihr an dieser Stelle ankommt, hat vielmehr mit ihrem praktischen Selbstverständnis zu tun (und zwar im Sinne der subjektiven Einheit ihres Willens), das ihrer Tat zugrunde liegt. Dieses Selbstverständnis thematisiert sie auf indirekte Weise, indem sie sich kontrafaktisch auf andere Selbstverständnisse bezieht, die zwar der Möglichkeit nach für sie in Frage gekommen wären, für die aber jenes „göttliche Gesetz“ keine unbedingte Verbindlichkeit gehabt hätte. McNeill zufolge missverstehen Jebb und Butler jedoch die genaue Konstruktion von Antigones kontrafaktischer Annahme. Antigone verfährt in dieser Passage nicht so, dass sie den Anwendungskontext ihres „göttlichen Gesetzes“ auf einen einzigen Fall beschränkt (nämlich denjenigen ihres letzten verstorbenen Bruders, nach dem kein anderer Bruder mehr geboren werden kann). Sie imaginiert vielmehr einen kontrafaktischen Kontext, in dem dieses Gesetz nicht auf die gleiche Weise gelten könnte – weil sie eine andere gewesen wäre, als sie ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge ist: Würde sie sich als Mutter oder Ehefrau verstehen, hätte sie sich niemals jener Mühe unterzogen, ihren Bruder gegen das politische Dekret von Kreon zu bestatten.³¹⁸ Die zweite wichtige Beobachtung McNeills besteht darin, dass das „Gesetz“, auf das sich Antigone in den oben zitierten Versen explizit bezieht, nicht dem „göttlichen Gesetz“ entspricht, dem sie gefolgt ist.Wir haben es vielmehr mit einem „Naturgesetz“ (Sophokles 1981, V. 913) zu tun, in Ansehung dessen sie die Würde ihres Bruders durch das Begräbnis materiell hervorgebracht hat. Dieses „Naturgesetz“, das sie in ihrer kontrafaktischen Rede auf exemplarische Weise darstellt, besagt, dass alles menschliche Leben in eine Logik der Fortpflanzung und Reproduktion eingelassen ist,
Vgl. Sophokles 1888, S. 258. Vgl. McNeill 2011, S. 426.
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wodurch das Leben der Einzelnen einem endlosen Prozess der Nach- oder Aufeinanderfolge und des Austausches oder der Substitution ausgesetzt wird.³¹⁹ Wäre sie eine Ehefrau (welche sie in ihrem Selbstverständnis nicht ist), könnte ein weiterer Ehemann folgen, wäre der ihre verstorben. Wäre sie eine Mutter (die sie in ihrem Selbstverständnis auch nicht ist), könnte ein weiteres Kind folgen, wäre eines gestorben. Für sie als Schwester (welche sie ihrem Selbstverständnis gemäß ist) kann allerdings kein weiterer Bruder folgen, weil ihre beiden Eltern bereits gestorben sind. Gibt ihr dies einen guten Grund, ihren letzten gestorbenen und nicht bestatteten Bruder zu bestatten? Wohl kaum.³²⁰ „But with mother and father both hidden in Hades no brother of any kind could spring up“ (V. 911 f., zit. in McNeill 2011, S. 426): Was soll dies besagen? Dass sie ihren Bruder bestattet hat, weil er in dem Sinne unersetzlich ist, dass nach ihm kein weiterer Bruder mehr nachfolgen kann? Dass darin der Gehalt des „göttlichen Gesetzes“ besteht? Liest man genauer, so wird deutlich, dass dieser Satz tatsächlich in den kontrafaktischen Kontext gehört, den Antigone konstruiert – und nicht Teil einer ausdrücklichen Rechtfertigung ihres Handelns darstellt. Antigone will erklären, weshalb sie, wäre sie eine andere (Mutter oder Ehefrau) gewesen, sich nicht gegen das Bestattungsgebot gewendet und nicht ihren Bruder unter Inkaufnahme des Todes bestattet hätte. Der Grund für diese kontrafaktische Annahme liegt in dem „Naturgesetz“ des Lebens, des Austauschs der Einzelnen, der Aufeinanderfolge und Ersetzung in den allgemeinen relationalen Kategorien der Verwandtschaft. Weil Verwandtschaftsverhältnisse, dem „göttlichen Gesetz“ zufolge, Quelle von Verpflichtungen sind, würde es gemäß dieses „Naturgesetzes“ immer andere, mögliche oder gegenwärtige Nahestehende geben, denen sie als Mutter oder Ehefrau verpflichtet wäre. Die Pointe ihrer Ausführungen ist darum die folgende: Weil sie sich nicht als Mutter oder Ehefrau versteht – weil diese Rollen ihren Charakter oder ihre ethische Identität nicht definieren –, besitzt jene Ökonomie des Austauschs keine Relevanz für ihre Auffassung von der Verpflichtung, die sie ihrem Bruder gegenüber hat. Ihr eigener Charakter, den sie in dieser Passage im Zuge ihrer kontrafaktischen Konstruktion implizit als ihre Wahl beschreibt, lässt sich im Umkehrschluss so erschließen, dass er jenem „Naturgesetz“ des Lebens entgegengesetzt ist: Sie hat sich als diejenige gewählt, die dieser Ökonomie des Lebens moralisch widersteht. In diesem Sinne können wir also davon sprechen, dass sich Antigone das „göttliche Gesetz“ zu eigen gemacht und in das Gesetz ihres besonderen, endlichen Willens verwandelt hat. Den eigentlichen Gehalt ihrer „ursprünglichen Wahl“, die sie in den Versen 902– 915 in erster Linie auf kontrafaktische Weise andeutet, belässt sie jedoch im Unbestimmten und Rätselhaften. Wählt sie sich als Schwester, als Angehörige einer kaputten Familie, als Niobe, die ihren Tod im schönen Bild einer Vereinigung mit der unorganischen Ma Vgl. McNeill 2011, S. 427 f. In ihrer Rede wendet sich Antigone explizit an Polyneikes. Ihn durch ein Begräbnis zu würdigen bedeutet für sie nicht, ihn im Sinne irgendeines Bruders oder als Repräsentant der allgemeinen Kategorie des Bruders zu bestatten.
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terie imaginiert,³²¹ und somit als „Anti-gone“, „Anti-Geschlecht“ und „Widerständige“ gegen die Ökonomie der Aufeinanderfolge und Ersetzung des Lebendigen? Antigone hat sich ihre „Gesinnung“ auf höchst eigenwillige und „unerforschliche“ Weise zugezogen. Und sie hat sich damit allererst zu genau derjenigen gemacht, die unter dem „Gesetz von Hades“ steht und die diesem Gesetz seine subjektive Wirklichkeit, seine Anwendung und Geltung im konkreten Fall verschafft.³²² Ich werde diese Studie mit einigen wenigen Bemerkungen zu Kants eigener Konzeptualisierung eines solchen „ersten“ und „unerforschlichen“ Aktes der Willkür abschließen, die sich im ersten Hauptstück der Religionsschrift befindet. Denn dort liefert Kant die für den vorliegenden Kontext einschlägige Beschreibung, wie die Willkür sich im Sinne einer „absoluten Spontaneität“ unter den eigenen Willen bringt. Kant formuliert im Zuge dessen auch ein Argument für den begrifflichen Nexus zwischen der Zurechenbarkeit des eigenen Handelns und einem „ersten Akt der Willkür“, den Antigone in ihrer Rede von ihrer „Wahl des Todes“ eindrucksvoll artikuliert. Erinnern wir uns zunächst daran, dass für Kant keine Triebfeder einen freien Willen direkt bestimmen kann. Diese werden nur in dem Maße zu wirklichen und wirksamen Bestimmungen des Begehrungsvermögens, wie sie durch einen freien Akt der Willkür „in seine [des Menschen] Maximen aufgenommen“ werden (Religion 6:24). Nur unter dieser Bedingung, so Kant, ist ein konkretes Subjekt für seine einzelnen Handlungen verantwortlich. Ein Subjekt muss sich aber nicht nur seine besonderen Handlungen, sondern auch die Gründe, aus denen es jeweils handelt, selbst zurechnen können. Diese Zurechenbarkeit verweist dabei in erster Linie auf die praktische Wirksamkeit von Gründen, d. h. darauf, dass das Subjekt aus bestimmten Gründen handelt. Deshalb macht Kant auch geltend, dass ein freier Urteilsakt der Willkür nur in dem Maße auf einen Grund Bezug nimmt, wie dieser selbst als ein frei angeeigneter verstanden werden kann – als ein solcher, der qua „Aufnahme“ von Triebfedern in Maximen verständlich wird. Dieser Gedanke führt natürlich in einen Zirkel. Kant fragt nach dem „subjektiven Grund des Gebrauchs“ der Willkürfreiheit, der ihre Aktivität leitet – nach einem „ersten Grund der Annehmung von Maximen“ (Religion 6:21). „Dieser subjektive Grund muß aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein (denn sonst könnte der Gebrauch, oder Mißbrauch der Willkür des Menschen […] ihm nicht zugerechnet werden […])“ (Religion 6:21). Wir können also die Frage nach dem subjektiven Grund der Annahme von Maximen ins Unendliche treiben, jeder Grund der Annahme verweist auf einen weiteren Akt der Freiheit usw. Offensichtlich befinden wir uns hier in jener Zirkularität der Selbstbestimmung, die das Paradox der Autonomie in der kantischen Formulierung bezeichnet.³²³ Welchen Ausweg schlägt
Siehe McNeill 2011, S. 424. Ich sollte an dieser Stelle betonen, dass meine Lesart der umstrittenen Verse 902– 915, die maßgeblich von McNeill stammt, natürlich nur eine mögliche Lesart darstellt. In ihrer Mehrdeutigkeit aber spiegelt diese Passage jene konstitutive Ambiguität, die mit einer solchen „Wahl seines intelligiblen Charakters“ einhergeht. Vgl. GMS 4:449.
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Kant nun vor? Anstatt nach einer Unterbrechung des Zirkels zu suchen, leitet er überraschenderweise aus der Zirkularität die Forderung ab, die Unergründlichkeit der Willkür denken zu müssen, d. h. einen „unerforschlichen“ ersten Akt der Freiheit (Religion 6:21). Diese Konsequenz erscheint als eine Notwendigkeit, die durch das praktische Selbstbewusstsein konstituiert wird: durch das Selbstbewusstsein, das die Akte der Willkür begleitet und die Gründe, auf die es sich dabei bezieht, als zum Willen des Subjekts gehörende, subjektiv wirkliche markiert. Im vierten Kapitel hatte ich dieses Selbstbewusstsein so gedeutet, dass es den impliziten Akt einer subjektiven Vereinheitlichung des Begehrens enthält und derart das unausgesprochene Selbstverständnis artikuliert, aus dem heraus ein Subjekt urteilt und handelt. Das lässt sich – mit Sartre – auch so ausdrücken, dass das Selbstbewusstsein der Willkür Wahl ist, d. h. als irreduzibel präreflexive Wahl existiert: als subjektivierende Wahl seiner selbst.³²⁴ Betrachten wir diese „Wahl“ etwas genauer. In der Religionsschrift versteht Kant diesen „Actus der Freiheit“ als Wahl einer obersten Maxime, die „den subjektiven Grund des Gebrauchs [der eigenen] Freiheit (unter objektiven moralischen Gesetzen)“ betrifft (Religion 6:21). Darin liegt zugleich eine Wahl der eigenen praktischen „Gesinnung“: Die Gesinnung, d.i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein, und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. (Religion 6:25)
Der entscheidende Punkt ist nun aber: Dieser Akt der Wahl einer Gesinnung resp. einer „ersten“ Maxime, die der Wahl von Maximen des Handelns allgemein zugrunde liegt, findet weder zu einer bestimmten Zeit statt, noch ist er Ausdruck einer reflexiv bewussten Wahl, die in Anbetracht und unter Abwägung von alternativen Prinzipien oder „Gesinnungen“ geschieht. Dies ist der Grund, weshalb Kant die Willkür als eine „absolute Spontaneität“ beschreibt (Religion 6:24). Wir müssen diesen Akt deshalb so verstehen, dass er im Selbstbewusstsein liegt, mit dem das Subjekt sich auf die Gegenstände seines Begehrens, Triebfedern folgend und Urteile fällend, bezieht. Dieser Akt durchzieht alle praktischen Urteile des Begehrens, denen sich das Subjekt ausdrücklich bewusstwerden und deren kausale Resultate es in seinem Handeln empirisch beobachten kann. Mit jedem praktischen Urteil bringt sich das Subjekt, als Willkür betrachtet, unter die Einheit seines Willens, mit jedem Akt der handlungsbezogenen Wahl bestätigt oder verschiebt, wiederholt oder korrigiert, beharrt oder erschüttert es diese je vorgängige, subjektivierende und fundierende Wahl. Dies geschieht jedoch nicht so, dass das Subjekt sich direkt auf den „Gegenstand“ der Wahl – die Einheit seines Willens – bezieht. Als Willkür betrachtet hat das endliche Subjekt einen Zugang zu dieser Einheit seines Willens allein durch die Serie seiner Urteile Vgl. Sartre 1994, S. 765.
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hindurch, allein durch das aktive synthetisierende „Durchlaufen“ und „Zusammenhalten“ der „Mannigfaltigkeit seiner Begehrungen“, seiner besonderen Akte des Wählens von Triebfedern und Handlungen, des Überlegens und Abwägens, des Hinterfragens und Entscheidens. Das bedeutet nun zugleich, dass dieser fundierende und subjektivierende Akt³²⁵ der Willkür in jeder einzelnen Wahl und in jeder einzelnen Handlung sowohl implizit zugegen als auch entzogen ist. Der „erste Aktus der Willkür“ steht, mit anderen Worten, zu jeder einzelnen Wahl und Handlung in einem Verhältnis der Vorzeitigkeit und Nachträglichkeit: Das Subjekt hat sich immer schon als eine Person gewählt, die den Grundprinzipien des Begehrens (der Glückseligkeit, der Moralität) in einer bestimmten Ordnung folgt; und es muss sich immer wieder als eine solche Person wählen, woraus folgt, dass jede Handlungsentscheidung wesentlich auf künftige Handlungsentscheidungen verwiesen bleibt. Aus diesem Grund beschreibt Kant auch das Verhältnis des reflexiven Willens zu seinem radikalen Akt der freien Willkür mit der Analogie der „Natur“: Obgleich ein Akt der Freiheit, erscheint er dem selbstbewussten Subjekt doch wie eine natürliche Bestimmung seines Willens, die einer vernünftigen Überlegung wesentlich entzogen ist.³²⁶ Das Selbstbewusstsein, mit dem wir es hier zu tun haben, hat somit einen präreflexiven Charakter. Das Subjekt weiß von dem radikalen Akt seiner Willkür dadurch, dass es sich die „Natur“ seines praktischen Charakters selbst zurechnet, sich für sie verantwortlich fühlt. Sein praktisches Selbstbewusstsein, dem zufolge es sich unter der Idee der Freiheit begreifen muss, bezieht es auf einen unergründlichen Akt der Willkür, durch den es den normativen Raum der Gründe als seinen Raum weiß – und ihn deshalb auch „revolutionieren“ kann. Ein transzendentaler Akt der Freiheit ließe sich demnach mit Derrida als eine „unmögliche Möglichkeit“³²⁷ beschreiben: Er ist in dem Maße möglich, wie er für das reflexive Subjekt unmöglich ist. Darin besteht, wenn man so will, das „Paradox“ der Autonomie: dass diese auf einem Akt der Freiheit beruht – einem Akt der Willkür, der subjektiviert, ohne der Akt eines Subjektes zu sein, und der dem Subjekt also allein retrospektiv zugänglich ist. Wenn es aber möglich sein soll, dass die Willkür sich allein durch den reinen Willen bestimmen lässt, dann muss sie, so Kant, zu einer „Revolution in der Gesinnung“ (Religion 6:45) fähig sein. Eine solche Revolution hat statt, wenn der Mensch „den obersten Grund seiner Maximen“, der ein empirisch bedingtes Selbstverständnis ausdrückt, „durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt“ (Religion 6:48). Eine solche „einzige unwandelbare Entschließung“, durch die das endliche Subjekt seine praktische „Denkungsart“ revolutioniert, lässt sich freilich nicht leicht denken. Gleichwohl enthält sie den entscheidenden Hinweis, auf welcher Bedingung der praktische Charakter – und mithin der Begehrenscharakter – der reinen Vernunft beruht.Wir müssen den subjektivierenden Akt der Willkür so begreifen, dass er immer
Vgl. dazu Riha 2011. Vgl. Religion 6:20 – 22, 25. Vgl. Derrida 2003, S. 16, 29 – 33, 40 – 44.
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schon eine Aktualisierung des praktischen Prinzips der Vernunft einschließt. Und in dem Maße, in dem die Willkür in der Lage ist, sich auf Triebfedern der Autonomie zu beziehen, wird deutlich, dass sie eine Aktualisierung des reinen Willens sein kann. Ein subjektivierender Akt, der in der Einheit des Selbstbewusstseins der Willkür diesen reinen Willen zum Ausdruck bringt, verliehe dem Gesetz somit eine Wirklichkeit und Wirksamkeit im endlichen Subjekt, die es uns ermöglicht, die reine praktische Vernunft als ein Begehren oder „Belieben“ anzusprechen: da sie konstitutiv auf ihre Aktualisierung im Selbstbewusstsein der Willkür bezogen ist.³²⁸ Der „Aktus“ der Wahl der eigenen praktischen „Gesinnung“ muss demnach die Form haben, dass das endliche Subjekt sich als diejenige Person begreift, die unter dem praktischen Gesetz steht – wodurch dieses Gesetz allererst anwendbar wird. Dass sich aber ein endliches Subjekt aus „absoluter Spontaneität“, also selbsttätig unter den reinen Willen subsumiert, indem es sich als eine Person versteht, deren Pflicht durch das Gesetz bestimmt wird: Dies bleibt ein erster „unerforschlicher“ Akt der Willkür, der kein Akt der Autonomie (keine Anwendung des Gesetzes) sein kann. Vielmehr handelt es sich um einen Akt zur Autonomie – der gleichzeitig nicht nur die Möglichkeit birgt, ein freier Akt zur Heteronomie zu sein,³²⁹ sondern auch die Form des autonomen Begehrens in eine zweideutige Einheit mit der absoluten Spontaneität der Willkür bringt.
In den Abschnitten 5.4 bis 5.6. habe ich die Form dieses Bezugs detailliert entwickelt. Es ist wichtig, zu betonen, dass mit dieser Beschreibung nicht behauptet wird, dass die Freiheit der Willkür als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen, als ein Vermögen zur Autonomie und zur Heteronomie zu definieren sei. Das bestreitet Kant ausdrücklich (siehe MS 6:226 f. sowie die Diskussion dieser Passage im Abschnitt 4.1). Als eine Kraft der Freiheit ist die Willkür wesentlich durch die Möglichkeit gekennzeichnet, durch reine Vernunft bestimmt zu werden. Das ist der Grund, weshalb es der Willkür unmöglich ist, dem Gesetz gegenüber indifferent zu sein (vgl. dazu Religion 6:24). Dass die Willkür durch reine Vernunft bestimmt ist, heißt also, dass ihre Aktualisierung notwendig eine Aktualisierung des moralischen Prinzips ist. Da ihre „Natur“ als Kraft des Begehrens jedoch darin liegt, die praktische Rezeptivität des Gefühls als Spontaneität zur Geltung zu bringen, enthält die Definition der Willkür (nämlich: ihre Bestimmbarkeit durch reine praktische Vernunft) nicht allein die logische Möglichkeit, dass sie in ihrem subjektivierenden Akt der Wahl einer praktischen Gesinnung vom Gesetz abweicht – dass die Willkür also die jederzeit mögliche Abweichung vom Gesetz in ihre oberste Maxime aufnimmt. Die Definition der Willkür enthält vielmehr die notwendige Möglichkeit zu einer solchen Abweichung – und zwar a priori: weil sie strukturell, d. h. mit Blick auf die Verfasstheit eines zugleich endlichen und freien Begehrungsvermögens erklärt werden kann. In dieser notwendigen Möglichkeit finden wir somit auch den Grund der Möglichkeit des „wirklichen Widerstreits“ zwischen dem reinen Willen und der Willkür.
Bibliographie Kants Schriften werden, sofern nicht anders angegeben, nach der Akademie-Ausgabe (AA) zitiert, und zwar unter Verwendung des folgenden Siglenverzeichnisses und mit Angabe der Band- und Seitennummer. Die einzige Ausnahme bildet die Kritik der reinen Vernunft, die nach den Auflagen A (1781) und B (1787) zitiert wird.
Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Bde. 1 – 16), der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Bde. 17 – 22), der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und/oder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Bde. 23 – 25 und 27 – 29), und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Bd. 26), Berlin: Reimer, jetzt: De Gruyter 1900 ff. Adorno, Theodor W. (1994): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Allison, Henry E. (1990): Kant’s Theory of Freedom. Cambridge, New York: Cambridge University Press. Allison, Henry E. (1996): „On naturalizing Kant’s transcendental psychology“. In: Idealism and Freedom. Essays on Kant’s Theoretical and Practical Philosophy. Cambridge, New York: Cambridge University Press, S. 53 – 66. Anscombe, G. E. M. (1958): „Modern Moral Philosophy“. In: Philosophy 33, Nr. 124, S. 1 – 19. Arendt, Hannah (1998): „Das Wollen“. In: Vom Leben des Geistes. München: Piper. Aristoteles (1991): Metaphysik. Bücher VII (Z) – XIV (N). Hamburg: Meiner. Aristoteles (1995): Über die Seele. Hamburg: Meiner. Baldwin, Thomas (1979 – 1980): „The Original Choice in Sartre and Kant“. In: Proceedings of the Aristotelian Society 80, S. 31 – 44. Balibar, Étienne (2012): Gleichfreiheit. Politische Essays. Berlin: Suhrkamp. Beck, Lewis White (1987): „Five Concepts of Freedom in Kant“. In: Jan J.T. Srzednicki (Hg.): Stephan Körner – Philosophical Analysis and Reconstruction. Dordrecht: Martinus Nijhoff, S. 35 – 51. Beck, Lewis White (19953): Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Ein Kommentar. München: Fink. Betzler, Monika (2001): „Bedingungen personaler Autonomie“. In: Harry G. Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte. Berlin: Akademie Verlag, S. 17 – 46. Bojanowski, Jochen (2006): Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung. Berlin, New York: De Gruyter. Bojanowski, Jochen (2007): „Kant und das Problem der Zurechenbarkeit“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 61, Nr. 2, S. 207 – 228. Brandt, Reinhard (1999): Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Hamburg: Meiner. Butler, Judith (2001): Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Carnois, Bernard (1987): The Coherence of Kant’s Doctrine of Freedom. Chicago: University of Chicago Press. Corkum, Phil (2008): „Aristotle on Ontological Dependence“. In: Phronesis 53, S. 65 – 92. Correia, Fabrice (2008): „Ontological Dependence“. In: Philosophy Compass 3, Nr. 5, S. 1013 – 1032. Deleuze, Gilles (1990): Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen. Berlin: Merve. Derrida, Jacques (2003): Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin: Merve. Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main, New York: Campus.
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Siglenverzeichnis Anthropologie GMS KpV KrV KU MAN Metaphysik Herder Metaphysik Mrongovius Metaphysik v. Schön Metaphysik Volckmann MS Nova dilucidatio Refl. Religion Träume
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 7) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 4) Kritik der praktischen Vernunft (AA 5) Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft (AA 5) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (AA 4) Vorlesung über Metaphysik, Nachschrift Herder (AA 28) Vorlesung über Metaphysik, Nachschrift Mrongovius (AA 29) Vorlesung über Metaphysik (Ontologie), Nachschrift von Schön (AA 28) Vorlesung über Metaphysik, Nachschrift Volckmann (AA 28) Die Metaphysik der Sitten (AA 6) Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (AA 1) Handschriftliche Notizen (Reflexionen) aus dem Zeitraum 1765 – 1800 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 6) Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (AA 2)
https://doi.org/10.1515/9783110669381-010
Sachregister Abhängigkeit 59, 64, 67 f., 73 f., 78 f., 81 – 83, 101, 131, 172, 174, 188, 211, 215 – Existenzielle Abhängigkeit 46, 51, 67 – 69, 72 – 76, 78 f., 84 – 86, 89, 94, 98, 100 f., 107 f., 125, 128, 130, 132 – 135, 144, 148, 154, 182 – 185, 187, 189, 191, 199 – Kausale Abhängigkeit 49 f., 67, 75, 84, 86 f., 89, 98, 107, 125, 133 Achtung 14, 91, 115, 131 f., 139, 142 – 149, 187, 199, 204 f., 210 Affekt 123, 143 f. Affektion 61 – 64, 70 f., 79, 84 – 86, 89, 92 – 96, 98, 100, 105 – 108, 125, 127, 131, 143, 149 – Selbstaffektion 63 f., 88, 99, 104, 108 f., 138, 142 f., 149 f., 186, 211 Aktualisierung 19, 26 f., 32 f., 36, 61 f., 71, 74, 76, 79, 81, 84 f., 87, 89, 93, 96 – 99, 101 – 105, 107, 109, 120, 128, 131, 133 – 136, 140 f., 143, 145 – 149, 153 f., 166 f., 171, 178 f., 183 – 186, 188, 223 Akzidenz 34, 38, 40 f., 44, 54 – 56, 58, 67 Angst 162 Anschauung 31, 35, 40 – 46, 48, 51, 61 f., 67, 70 f., 77, 96 – 99, 101 – 107, 155, 184 – 187 – Selbstanschauung 44, 49, 52, 62 Apperzeption 16, 30, 43 f., 46, 66, 71, 75, 84 f., 92, 95, 101, 104 f., 108 f., 160 Autonomie 1 – 5, 7 – 19, 23, 71, 114 – 121, 127, 129, 133, 137 f., 152 f., 155, 163, 165, 171, 173 – 179, 182 f., 187, 189 f., 192 – 196, 199, 202 – 207, 215, 217, 222 f. – Paradox der Autonomie 10, 220 Begehren 6, 16, 18 – 20, 24 f., 29 – 32, 37, 45 f., 48 f., 62 – 65, 67, 73 – 79, 81, 83, 86, 88 – 91, 113, 116, 119, 122 – 138, 144, 146 f., 149 – 151, 157, 177, 180, 182, 184 f., 188 – 191, 194 – 196, 199 – 201, 204, 206, 211 – 213, 215, 217, 221 – 223 Begehrungsvermögen 15 – 20, 24 f., 29, 31, 47, 50 f., 53, 62, 68, 71 f., 75, 77, 83 f., 88 f., 91, 114, 119, 121 – 137, 139 – 141, 143 – 150, 153 f., 166, 171, 179, 181 – 183, 192, 194 f., 200 – 202, 205, 207 f., 214, 217, 220, 223
https://doi.org/10.1515/9783110669381-011
Bestimmtheit 5, 9, 36, 41, 44 f., 53, 56 f., 61, 65 – 72, 78, 80, 92, 108, 123, 126 – 129, 135, 154, 157, 161, 164 f., 171 f., 214 Bestimmungsgrund 47, 87 f., 91, 123 – 129, 131 – 133, 136, 139 f., 165, 172, 179 f. Blick der Anderen 19, 167, 170 – 178, 180, 183 f., 187, 189, 212 – 214 Cogito 153, 158 – 161, 165 – 169, 171 – 173, 175, 178 – 180 – Präreflexives Cogito 153, 158 – 160, 166, 168 f., 171, 175, 178, 180 – Reflexives Cogito 167 – 169, 173, 175, 179 Darstellung 47, 123, 137, 145, 176, 185 – 189, 191, 204, 217 – Negative Darstellung 145 f. Eigendünkel 132, 137, 140 – 143, 178, 204 Eigensinn 1 – 3, 10, 193, 202, 206 f. Einbildungskraft 15, 17, 90 – 93, 98 f., 101 – 109, 114, 125, 134, 145, 149 f., 183 – 190, 211 f. – Praktische Einbildungskraft 19, 125, 146, 149, 154, 172, 183 – 191, 216 Empirismus 26, 94 – 96, 100, 135 Endlichkeit 14 f., 135, 199, 201, 215 Entfremdung 151, 154, 176 – Selbstentfremdung 102, 151, 176 Entzweiung 20, 103, 136, 146 f., 151, 195 f., 200, 202, 207, 214 – Selbstentzweiung 18 f., 122, 130, 134, 137 f., 147, 149 – 151, 154, 182, 208 Epistemologie 15, 26 Erfahrung 16 f., 27, 31, 35, 38, 40 – 48, 50, 53 – 55, 58 – 60, 62 f., 65 – 67, 78, 80 – 86, 91 – 96, 99 – 102, 109, 114 – 116, 120, 124, 130, 139, 142 f., 145 f., 149, 160, 164, 169, 172, 184, 188, 205 – Analogien der Erfahrung 53, 55 f., 66 f. – Ästhetische Erfahrung 27, 35, 145, 149 Erhabene, das 27, 145 f., 193 Erkenntnis 16 f., 24, 27, 29, 32, 34 – 37, 41, 43 – 48, 53 f., 57 – 59, 61, 63 – 65, 67 – 71, 73 – 78, 80 – 82, 84 – 86, 89 – 92, 94, 100,
232
Sachregister
104, 116, 132, 136, 145, 149, 159 f., 163 f., 168 – 171, 187, 205 – Empirische Erkenntnis 37, 49, 58, 91, 101 f. – Selbsterkenntnis 2, 43 f., 49, 61 Erkenntnisvermögen 15, 17, 24 f., 29 – 32, 34, 43, 45 – 47, 51 f., 61 f., 69, 71 f., 77, 80 f., 83 – 85, 92, 101, 106, 109, 122, 130 Fähigkeit 6, 9 f., 14 f., 19, 28, 33, 35 f., 39, 60, 68 – 70, 77, 82, 87, 93 f., 100 – 103, 105, 113, 115, 119 f., 126, 129, 136, 140, 150, 162, 164 f., 172 f., 175, 177, 180, 187, 192 Freiheit 1, 3 – 16, 19, 23, 47, 71 – 73, 113 – 123, 127, 129 f., 132, 136 – 138, 147, 150, 152 – 154, 157 f., 163 – 165, 170 – 175, 177 f., 180 – 183, 190, 201, 205, 220 – 223 – Freiheitsbewusstsein 158, 163 – Negative Freiheit 4, 6, 118, 130, 154, 164, 172 – 175 Für-Andere-sein 19, 151, 154, 168, 170 – 178, 180 – 184, 187 – 192, 211 – 214 Für-sich-sein 169 – 176, 179 f., 189 – 191, 214 Gefühl 16, 24, 27, 29, 35, 45, 49, 51, 63 – 65, 68, 72 – 79, 83 f., 88, 91, 120, 123 – 135, 138 – 146, 148, 162, 171 – 173, 176, 184 f., 188, 190 f., 207, 214, 223 – Gefühl der Lust und Unlust 16, 24 f., 32, 46, 63, 67, 69, 72, 75, 77, 83, 88, 113, 123, 141, 146, 182 – Gefühl des Erhabenen 145 – Praktisches Gefühl 127, 214 Gelingensbedingung 23, 35, 92 – 94, 97, 109, 130, 135 f., 141, 150 Gesetz 1 – 3, 5, 8 – 14, 16, 18 f., 23 f., 30 – 32, 47 f., 55, 67, 71, 75, 78, 88, 91, 105, 113 – 116, 119 – 121, 123, 127, 131 f., 136 – 150, 152 – 158, 163 – 167, 171, 174 – 184, 186 f., 189 – 192, 194, 196 – 210, 213 – 221, 223 – Gesetz der Freiheit 3 f., 15, 19, 129, 131, 151 – 157, 163 – 167, 173 – 179, 183 – 188, 190, 194, 212 – Göttliches Gesetz 197, 203 f., 206, 214 – 216., 218 f. – Moralisches Gesetz 9, 119 f., 177, 215 – Sittengesetz 23, 116, 119, 121 Gesinnung 12, 217, 220 – 223 Gleichfreiheit 181, 183
Handlungseffektivität 7 Handlungsvermögen 23 f., 121 Heteronomie 155, 171 – 173, 198, 202, 204 – 206, 223 Identität 8 – 10, 12, 66, 95, 132, 154, 160 – 162, 164 – 166, 169, 181, 215, 219 – Praktische Identität 8 f., 194, 198, 215 Imperativ 8 f., 16, 27, 90 f., 121, 127, 129 f., 137, 155, 172, 177, 211 – Kategorischer Imperativ 8 f., 16, 27, 90 f., 121, 129 f., 155 Inhärenz 38 – 40, 43, 46, 48 – 51, 55 – 57, 60 f., 66, 79, 81, 83 Intentionalität 96 f. Irrationalität 10, 200, 212 Kategorie 16, 27, 29, 31, 37 – 48, 51, 53 f., 57, 60, 62, 66 – 68, 71, 75, 78 – 85, 90 f., 95, 105, 160, 219 – Dynamische Kategorie 40 f., 50, 53, 81 – Kategorie der Modalität 38, 50 – 52, 79 – 81, 85 – Kategorie der Relation 38, 40 f., 47 f., 51, 59 – Kategorien der Freiheit 47 f. – Mathematische Kategorie 41 Kausalität 18, 37 – 40, 43, 46 – 48, 50 f., 55 – 65, 67 – 70, 73 – 79, 83 f., 88 f., 91, 105, 122 – 128, 130, 133, 135, 142, 147, 156, 162, 171 f., 184 Kraft 14, 17, 39 f., 51 f., 56 – 58, 60 – 64, 69, 76, 79, 87 – 89, 91 f., 94, 98 f., 101, 107, 109, 113, 120 – 122, 125 f., 130, 132 – 134, 136, 145, 148 – 150, 154, 157, 174, 184, 198, 201, 210, 215, 223 Lust
16, 30, 35, 49, 63, 76 f., 124 f., 144 – 146, 180, 200, 208, 212 – Lustprinzip 130, 133, 138 f., 182, 191, 206, 212 – Lust und Unlust 32, 63 Materialismus 99 Maxime 11 f., 14, 72, 126 f., 140, 143, 173, 205, 217, 220 – 223 Modalität 33, 38, 40 f., 47 – 49, 51 f., 80 – 82, 84 f. Möglichkeit 4, 10, 14, 18 f., 25, 29, 32 – 35, 37 – 41, 43 f., 48 – 52, 59 f., 63, 77 f., 80 – 85, 87 f., 90, 102 f., 116 f., 121, 125 f.,
Sachregister
130 f., 135, 139, 149, 153, 162 f., 168, 174 – 176, 182 – 184, 192, 205, 216, 218, 222 f. – Logische Möglichkeit 34, 115, 121, 223 Moralphilosophie 27, 118, 187 Moralpsychologie 14 f., 119, 136, 138, 144 Motivation 14, 144 – Moralische Motivation 13 f., 132, 139, 144, 203 Negativität 3, 14, 152, 161 f., 164, 174, 180 f., 190 – Freiheit der Negativität 19, 130, 152 f., 157, 162 – 164, 171 – 173, 180 f., 183 Neigung 5, 15, 72, 77, 82, 88, 120, 123 – 128, 135 f., 140 f., 143, 154, 156, 173, 185, 212 Normativität 10, 12, 14 f., 23, 95 f., 119, 152, 198 Objektivierung 168 – 170 Objektivität 19, 91, 100, 153, 164, 169 Ontologie 15, 119, 152, 156, 230 Person 1, 8, 19, 36, 141 f., 154, 156 – 158, 163, 165 f., 168, 172, 174, 176, 178, 180, 188 f., 193, 197, 201, 205, 210 – 214, 222 f. – Freie Person 6, 158, 165 Pflicht 2 f., 9, 27, 194, 196 – 201, 204 f., 211, 213, 215 – 217, 219, 223 Phänomenologie 18, 158, 167, 197 Prädikabilie 37 – 43, 46, 48, 57, 85 Prinzip 4 f., 10, 12, 16, 23 – 25, 31, 35, 37, 49, 52, 69, 71, 75 – 79, 84 f., 87 – 89, 91, 104, 113, 120, 123, 127, 130 f., 135 f., 138, 140, 150, 152, 154, 172, 196, 199 – 201, 205, 211, 215 f., 223 – Apriorisches Prinzip 23, 58, 84, 89, 129 – Dijudikationsprinzip 118, 134 – Empirisches Prinzip 29, 31, 37, 69, 77, 89 – Exekutionsprinzip 118, 133 – Geltungsprinzip 16 f., 28, 35, 90, 113, 179 – Moralisches Prinzip 4, 138, 223 – Normatives Prinzip 3, 10, 16, 27, 87, 93, 117, 155 Realisierung 4 – 6, 15, 18, 23, 27, 32 – 35, 37, 40 – 43, 49, 51 f., 75, 79, 82 – 89, 107, 109, 113, 120, 128, 130 – 136, 138, 141 f., 144 – 147, 150, 161, 166, 176, 181 – 184, 188 f., 201, 205 – Realisierungsprinzip 17, 35, 90, 113, 179
233
Reflexion 8, 15, 18, 37, 87, 103, 116, 121, 140, 143, 147, 152 f., 156, 158 f., 162, 165 f., 171 – 173, 175 – 177, 185, 189, 192, 209, 211, 230 – Praktische Reflexion 8, 147 f., 162, 166 f., 172 – 175, 178, 184 – Selbstreflexion 7, 142 f., 165 Reflexivität 5, 80, 127 Rezeptivität 13 – 15, 17 – 19, 30, 48, 53, 61 – 65, 69 f., 72, 75, 77, 85 – 87, 89 – 103, 105 – 109, 113, 122 – 136, 138, 140, 142 f., 145, 147 – 150, 153 f., 162, 166 f., 171, 173, 175 f., 182 – 192, 194 f., 199, 207, 211, 214 f. – Praktische Rezeptivität 18 f., 128, 130 f., 134, 140, 142, 147 – 149, 151, 154, 180, 183 f., 187, 191 f., 196, 207, 212, 214, 223 – Rezeptivitätsbedingung 95, 134 – 136, 138, 144, 150, 182 – Rezeptivitätsorientierung 141, 149, 154, 184 – Spontane Rezeptivität 86, 92 f., 98 f., 101, 103, 125, 134 Scham 169 f., 173 Schematisierung 19, 73, 108, 184 – 187, 214 Schematismus 19, 105, 154, 183 – 186, 188, 190, 192, 209, 211 Selbstbestimmung 4, 8, 11, 14, 62 f., 88 f., 113, 154, 163, 165, 172 – 174, 176, 180 f., 185, 220 Selbstbewusstsein 2, 10, 18 f., 30, 34, 37, 43 – 49, 51 f., 60, 65 – 67, 72, 78, 81 – 85, 89, 92, 94 f., 105, 108, 120, 126, 129, 131 f., 134 – 138, 141, 150 – 169, 171 – 176, 178 f., 181 – 183, 189 – 192, 197, 205, 209, 211 – 214, 216, 221 – 223 – Apriorisches Selbstbewusstsein 47, 51 f. – Gewöhnliches Selbstbewusstsein 156 – Praktisches Selbstbewusstsein 120 f., 176, 205, 222 – Präreflexives Selbstbewusstsein 159, 161, 164, 167 Selbstliebe 132, 136, 140 f., 172, 199 – 201, 205, 212 Selbsttätigkeit 72, 95, 131 Sinnlichkeit 15, 25, 29 f., 38 f., 43, 48, 51, 65, 77, 79, 82 f., 90 – 96, 98 – 103, 105, 113, 120, 122, 130, 136, 184 – 186 Spontaneität 14 f., 17 – 19, 43, 47 f., 53, 69 – 75, 77 – 79, 85 f., 89, 91 – 108, 113 f., 116, 122 f., 125 – 128, 130 f., 133 – 136, 143, 147, 150 f., 160, 162 – 165, 167, 171, 173 –
234
Sachregister
175, 177, 180, 184, 187, 192, 194 f., 207, 215, 223 – Absolute Spontaneität 3 f., 12, 17, 72, 130, 169, 196, 220 f., 223 – Praktische Spontaneität 17, 71, 114 f., 134, 136, 152, 167 f., 171, 173, 180, 191 f. – Rezeptive Spontaneität 86, 93, 97, 101 Subjektivierung 150, 196, 207, 214 Subjektivität 13, 16, 100, 117, 170 Substanz 34, 38 – 41, 44, 50, 54 – 62, 64, 66 f., 82, 87 f., 197 Synthesis 29, 40 – 42, 66, 96, 98 f., 101, 103 – 108, 185 – 187, 189 Transzendental 16, 19, 23, 26 – 32, 34 – 39, 42 – 53, 57 – 59, 61 f., 64 f., 76, 78 – 80, 84, 89 – 92, 96, 104, 106 – 109, 119, 121 f., 132, 137, 149 f., 153, 161, 163 – 165, 175, 183 – 187, 189, 191, 222 – Quasi-transzendental 13, 150 – Transzendentale Deduktion 44, 90, 96, 160 – Transzendentale Illusion 137, 160 Transzendentalphilosophie 16, 24, 35, 47, 136 Triebfeder 11 f., 14, 18, 72, 79, 86, 88, 91, 126, 128 – 132, 134 f., 138 – 141, 143 f., 146 – 150, 154, 166, 173, 179 f., 182 – 184, 189, 199, 212, 214 f., 220 – 223 – Moralische Triebfeder 3, 14, 91, 131, 142 – 144, 148 – 150, 166, 212 – Pathologische Triebfeder 131, 142 f. – Reflexive Triebfeder 147 f. Unbestimmtheit 6 f., 10, 25, 107, 118, 125 f., 129, 152, 161, 163, 181 – Freiheit der Unbestimmtheit 3, 10, 129, 163 Unfreiheit 6 f., 10, 173, 190 Universalität 13, 155, 201 Unlust 16, 30, 49, 63, 124, 140, 142, 145 Unvermögen 116 Urteilsfunktionen 44 Urteilskraft 15, 24, 29, 31, 42, 49, 76, 80, 86, 122, 145, 230 Urteil/Urteilen 8, 14, 26 f., 35 – 37, 43 f., 46, 48 f., 64, 75 – 77, 92 – 99, 101 – 103, 108 f., 114, 129, 132, 135 f., 138, 140 – 149, 152, 168, 172 f., 176, 182, 184 f., 187, 190 f., 204, 209, 211 f., 217, 221 – Ästhetisches Urteil 46, 49, 76 f., 145 f. – Empirisches Urteil/Urteilen 93 – 97, 102, 109 – Erkenntnisurteil 44, 94, 148
– Moralisches Urteil 166 – Praktisches Urteil/Urteilen
8, 129
Verantwortung 2, 12, 174, 176, 193 f., 215, 217 Vermögen 4, 6, 11, 15 – 17, 23 – 46, 48 f., 51 f., 54, 61 – 63, 65, 68 – 73, 75 – 93, 96 f., 99 – 102, 105, 107, 113, 115 f., 119 – 130, 133, 135, 145, 162, 183, 185 f., 223 – Empirisches Vermögen 17 – Gemütsvermögen 24, 26, 119 – Intelligibles Vermögen 49 – Seelenvermögen 15, 24, 29 Vermögenspsychologie 26 – 28 Vermögenstheorie 15 – 18, 24, 35, 86 f., 113 f., 119, 121, 126, 128, 134, 136, 138 – 141, 144 – 146, 151, 167, 179, 182 f. Vernunft 11, 13 f., 17, 19, 23, 30, 72, 80, 91, 115 f., 119 – 121, 126, 132 f., 135 f., 140 – 143, 145 – 150, 154 f., 158, 166 f., 169, 172, 174 f., 177 – 179, 183 f., 190 – 192, 198 f., 223, 230 – Empirisch-bedingte praktische Vernunft 172 – Faktum der Vernunft 3, 120, 140, 155 – Praktische Vernunft 8, 13, 15 – 19, 31, 48, 67, 77, 82, 86, 88, 91, 115, 117 f., 121, 123, 126, 129, 135, 137 f., 142 f., 153, 155, 162, 165, 177, 201, 230 – Reine praktische Vernunft 11, 13, 23 f., 31, 48, 91, 116 – 118, 120 f., 123, 127, 130 – 133, 136 – 138, 140 – 142, 146, 149 f., 153 f., 182 – 184, 189, 223 – Reine Vernunft 14, 18, 23, 32, 38, 90, 127, 129 – 133, 139, 150, 154, 160, 169, 174 – 177, 183, 187, 189, 192, 222 – 224, 230 Verstand 15 – 17, 27 – 31, 33, 36, 38 f., 41 f., 44, 46 – 48, 51, 61, 67 f., 71 f., 75, 77, 79 – 82, 85 f., 90 – 97, 99 – 104, 108 f., 114, 123 – 125, 129 f., 140, 145, 155, 160, 175, 183, 185 f., 200, 206, 209, 212, 220 – Praktischer Verstand 129 – Reiner Verstand 31, 38, 42, 75, 80, 90, 186 Verwandtschaft 29 – 32, 203, 219 Vorstellung 1, 3 f., 7, 9 f., 13 f., 16, 19, 24 – 27, 29 f., 32, 35 – 38, 42 – 85, 88 – 90, 93 – 96, 99, 101, 103 – 106, 108, 113, 116, 119, 122 – 128, 130 f., 135 f., 139, 142 – 145, 147 – 150, 153, 155 – 157, 161, 164, 166, 170 f., 175 – 178, 180 f., 183 f., 186 – 189, 193, 195 – 199, 205, 209, 213, 217 – Vorstellungsverhältnis 65, 86, 135
Sachregister
Vorstellungsvermögen 15 – 17, 23, 26 f., 34 – 38, 42, 44 – 53, 57, 59, 62 – 65, 68 – 73, 76 – 87, 89 f., 92, 113, 119 – 121 Wahl 2 – 7, 10, 12, 38, 115 f., 120, 125 f., 151, 192, 196 f., 207, 215 – 217, 219 – 223 – Ursprüngliche Wahl 3, 219 – Wahlfreiheit 10, 199 Wille 1, 3, 5 – 10, 12 – 14, 16 – 20, 23, 40, 53, 77, 91, 113 – 123, 126 f., 129 – 131, 133 – 140, 144, 146 – 152, 156, 162, 165 f., 168, 171, 174 – 179, 181 – 185, 193 – 196, 198 – 202, 205 – 207, 209, 214, 216 f., 220 – 223 – Endlicher Wille 13 f., 128, 150, 174, 216 – Freier Wille 6, 12, 114, 121, 132 – Reiner Wille 18, 127, 130 f., 136, 138 – 140, 146 – 151, 153 f., 166, 171, 174 – 179, 182 f., 187 f., 192, 199, 201, 207, 209, 214, 217, 222 f. – Subjektiver Wille 10, 12 f., 150, 194, 202, 206
235
Willensschwäche 6 Willkür 1 – 7, 9 – 20, 23, 40, 53, 72, 83, 91, 113 – 124, 126 – 139, 141 f., 144, 146 – 154, 162 f., 165 – 169, 171 – 185, 192 – 196, 199, 201 f., 205, 207 f., 214 f., 217, 220 – 223 – Freie Willkür 5 f., 18, 115 f., 127, 132, 138, 179, 182, 202, 221 f. – Willkürfreiheit 3 – 7, 9 – 12, 116, 125, 196, 220 Wirklichkeit 3, 8, 10 – 13, 15 f., 23, 25, 27 f., 32 – 37, 39 – 41, 51 f., 62 – 64, 76, 80 – 85, 87 – 91, 94, 119, 125, 132, 138, 155, 161 f., 164, 180, 183, 188, 223 – Subjektive Wirklichkeit 18, 23, 35, 90, 122, 137, 155, 177, 194, 211, 214 f., 220 Zurechenbarkeit 114 – 116, 217, 220 Zweckmäßigkeit 16, 31, 76, 146 Zweideutigkeit 139, 193, 196, 205 – 207 – Epistemische Zweideutigkeit 205 f.
Personenregister Adorno, Theodor W. 99 – 103 Allison, Henry E. 27, 114, 118, 126, 139 Anscombe, G. E. M. 155 Antigone 1 – 3, 9, 19 f., 187, 192 – 220 Arendt, Hannah 137 Aristoteles 25, 32 – 34, 36, 68 Augustinus 137 Balibar, Étienne 181 f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 25, 40 Beck, Lewis White 114, 118, 139 Betzler, Monika 8 Bojanowski, Jochen 41, 115, 117, 120 Butler, Judith 202 – 204, 218 Carnois, Bernard 114 f., 118 Crusius, Christian August 25 Deleuze, Gilles 77 Derrida, Jacques 222 Ehrenberg, Alain 10 Engstrom, Stephen 25, 66, 72 – 74, 94, 117, 123, 126 f., 129, 131, 140 f., 151, 159, 179 Fichte, Johann Gottlieb 158, 177 Frankfurt, Harry G. 5 – 9, 12, 126, 155 Freud, Sigmund 155 Gardner, Sebastian 168, 177 Gibbons, Reginald 1, 197, 200, 208 f. Ginsborg, Hannah 96 – 98 Haag, Johannes 102 Haimon 206 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 4 f., 8, 10, 12, 15, 24, 156 f., 167, 180, 197, 199, 204 Heidegger, Martin 86, 167 Henrich, Dieter 158 Heßbrüggen-Walter, Stefan 25, 39 Hobbes, Thomas 4, 206 Hölderlin, Friedrich 2, 195, 207 Honneth, Axel 168 Höwing, Thomas 119, 124, 126, 128, 132, 137, 139 Hudson, Hud 114, 118 Husserl, Edmund 167 https://doi.org/10.1515/9783110669381-012
Ismene 195 f., 199 – 202, 204, 206 – 212, 214 – 217 Jebb, Richard Claverhouse
2, 203 f., 207, 218
Kant, Immanuel 3 – 5, 8, 10 – 19, 23 – 32, 34 – 48, 50 – 63, 66 f., 69 – 73, 75 – 77, 79 – 81, 83 – 93, 95 – 109, 113 – 128, 130 – 136, 138 – 158, 160 – 164, 166 f., 169, 171 – 175, 177 – 180, 182 – 186, 192, 194 f., 198 f., 201 f., 204 – 206, 211, 216 f., 220 – 224 Keil, Geert 116, 120 f. Kern, Andrea 12 f., 24, 54, 70 f., 86, 100 – 102, 144, 181 Khurana, Thomas 9, 12, 25, 105, 175, 201 Kitcher, Patricia 27 Knappik, Franz 25 Knox, Bernard 193 f., 201, 204, 210, 213 Korsgaard, Christine M. 7 f., 157 Kreon 1, 195 – 200, 202 f., 206 – 208, 210, 212 – 214, 216, 218 Lacan, Jacques 177, 190 Leibniz, Gottfried Wilhelm 25, 87 Locke, John 26 Longuenesse, Beatrice 102, 158 Martin, Wayne 201 McCarty, Richard 139, 144 McDowell, John 70, 86, 94 – 100, 102, 186 f., 192 McNeill, David N. 1 – 3, 194 f., 198 f., 201, 204, 212 f., 217 – 220 Menke, Christoph 8, 10, 12, 99, 107, 195, 204 Merbote, Ralf 118 Noller, Jörg 114, 120 Nuzzo, Angelica 135, 149 Ödipus
195, 203
Pippin, Robert B. 8 Polyneikes 1, 196, 200, 208 – 210, 212 – 215, 217 – 219 Potter, Nelson 115, 118 Prauss, Gerold 114
Personenregister
Reath, Andrews 139, 141, 143 f., 149 Rebentisch, Juliane 4 f., 10 Reinhold, Carl Leonard 114 f. Riha, Rado 90, 222 Rorty, Richard 24, 27 Rousseau, Jean-Jacques 12 Russell, Francey 178 Salecl, Renata 10 Sartre, Jean Paul 3, 15, 18 f., 151 – 155, 158 – 162, 164, 167 – 177, 179, 181 – 183, 190, 192, 211, 213, 221 Schadewaldt, Wolfgang 2 Schadow, Steffi 118, 132, 139 Seel, Martin 28, 36, 54, 61, 89, 104 Segal, Charles 1, 197, 200, 208 f. Sellars, Wilfrid 94 – 97, 102
237
Sophokles 1 f., 192 f., 195 – 204, 206 – 210, 213, 215 f., 218 Stekeler-Weithofer, Pirmin 117 Strawson, Peter 24, 26, 102 Tanzer, Mark B. 86 Taylor, Charles 4 – 6, 9, 12, 126, 155 Teiresias 206 Thomä, Dieter 197 Timmermann, Jens 201 Ware, Owen 137, 146 Watkins, Eric 53, 55 f., 58 Willaschek, Marcus 70 Wolff, Christian 25, 40, 87 Zinkin, Melissa
150