Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800: Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz 9783110916577, 9783484181366


175 79 15MB

German Pages 300 [304] Year 1994

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Individualität
III. Tagebuch, Autobiographie und (Identitäts-) Bildungsroman
IV. Fiktionalität
V. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)
VI. Christoph Martin Wieland (1733–1813)
VII. Johann Gottfried Herder (1744–1803)
VIII. Karl Philipp Moritz (1756–1793)
IX. Zusammenfassung und Ausblick
X. Siglen
XI. Bibliographie
Recommend Papers

Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800: Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz
 9783110916577, 9783484181366

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Birgit Nübel

Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800 Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nübel,

Birgit:

Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800 : Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz / Birgit Nübel. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 136) NE: GT ISBN 3-484-18136-2

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH 8t Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung

II.

Individualität

i

1. Literarische Selbstdarstellungs- und Kommunikationsmedien als Gesellschafts- und Seeleninkarnat

;

a) Individualität als Funktion von Prozessen und Figurationen

. .

.

j 18

b) Individualität als Funktion von Kommunikation c) Individualität als Funktion der (auto-)biographischen Selbstdarstellung

21

2. Die Ineffabilität des Individuellen und der autobiographische Diskurs

III.

26

a) Die (Auto-)biographie als >Zivilisationsgerät< b) Über die Dialektik der Individualisierung

26 29

c) Das Konzept der >autonomen< Individualität

52

Tagebuch, Autobiographie und (Identitäts-)Bildungsroman 1. Literarische Figurationswandlungen

36

2. Z u den Wegen der Forschung

41

a) Zur Individualitätsproblematik

42

b) Zur Fiktionalitätsproblematik

46

c) Diaristik und Autobiographik als Zweck- oder Kunstform ? Abgrenzungsproblematik und Typologisierungsversuche d) Lösungsstrategien

IV.

. . .

50 56

Fiktionalität 1. Fiktionalität als Funktion von Figurationswandlungen

;8

2. Über das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit

59

3. Fiktionalität als kommunikative Funktion

64

a) Konstituenten der fiktionalen Kommunikation

66

b) Fiktionsindikatoren

67

c) Bestimmung der Fiktionalitätsstruktur

68

V

4. Analysekriterien

72

a) Die narrative Verflechtung der Temporalstrukturen b) Verflechtung von Subjektfigurationen V.

72 76

Jean-Jacques Rousseau ( 1 7 1 2 - 1 7 7 8 ) 1. Die Einheit des Ich und die Vielzahl der Stimmen: >Les Confessions< (1770/1) 2. Selbsterkenntnis als Menschenkenntnis: Die Strukturhomologie des autobiographischen und zivilisationstheoretischen Diskurses 3. Die Individualität des einen und die Identität des anderen: Das Selbstbild und die fremden Blicke 4. Temporalstrukturen

VI.

82

. .

87

96 107

a) Zeit des Erzählens

107

b) Erzählzeit und erzählte Zeit

109

5. Subjektfigurationen

119

6. Das autobiographische Ich der >Confessions< (1770/1) und das diarische Ich der >Reveries< (1776—8)

127

Christoph Martin Wieland ( 1 7 3 3 - 1 8 1 3 ) 1. Zwei Menschenkenner auf verschiedenen Wegen: Wieland und Rousseau

134

2. Das fiktionale (Selbst-)Experiment: >Die Geschichte des Agathon< ('1766/7, '1794)

VII.

142

3. Der distanzierte Blick

148

4. Die Wahrheit der Fiktion

157

Johann Gottfried Herder (1744—1803) 1. Die >Menschliche Philosophie< oder

VI

Die Anthropologisierung der Diskurse

16;

2. Das Herdersche Biographie-Programm

172

3. Die diarische Palingenesie des Ich im >Journal meiner Reise im Jahr I7Ö9
individuelles< Bildungsmittel

190

c) Autobiographik als >gesellschaftliches< Bildungsmittel

196

VIII. Karl Philipp Moritz ( 1 7 5 6 - 1 7 9 3 ) 1. Der kalte Blick des Selbstbeobachters 2. Die ästhetische Anthropodizee< der schönen Individualität

199 . . . .

206

3. Die Fiktionalisierung des diarischen Ich in den >Beiträgen zur Philosophie des Lebens< ("1780/ *8i/ '91)

. .

212

4. Der diarische Diskurs des anderen: Die >Fragmente aus dem Tagebuch eines Geistersehers< (1787)

. .

221

5. Das autobiographische Unternehmen in fiktionaler Form: >Anton Reiser. Ein psychologischer Roman< (1785-90) a) Die Gattungsproblematik: Roman oder Autobiographie?

229 . . .

229

b) Subjektfigurationen

2)3

c) Temporalstrukturen

240

d) Erinnerung als Identitätskonstituens

244

6. Das >verhaßte Selbst< und die >Blicke der anderen
anschauenden< - d. h. ästhetischen - Erkenntnis das jeweils im Mittelpunkt der Darstellung stehende menschliche Individuum im Schnittfeld der zeitgenössischen Diskussion als durch die göttliche Vorsehung Bestimmtes, als Monade, als Organismus oder als ein gesellschaftlich und geschichtlich Gewordenes. Das sich entwickelnde Selbstverständnis des Menschen als >Prozeß< verstärkt jedoch auch die Frage nach dem Unwandelbaren, je Eigenen, Unveräußerlichen, Unteilbaren und Einzigartigen des menschlichen Individuums. Dieses Phänomen läßt sich gleichzeitig zu der Verdichtung und Differenzierung der gesellschaftlichen Figurationsstrukturen beobachten. Es beruht nach Norbert Elias auf einer zu den gesellschaftlichen Strukturveränderungen komplementär verlaufenden individuellen Strukturveränderung, d. h. der intrapsychischen Ausdifferenzierung einer modernen Selbststeuerungs- bzw. Selbstzwangapparatur. Die gesellschaftlichen und individuellen Strukturveränderungen gehen einher mit einer Neuverortung des menschlichen Selbstverständnisses im Zeichen der Selbstzwecklichkeit. Parallel zu der Setzung der Autonomie des menschlichen Individuums gegen die Heteronomie seiner Bedingungen läßt sich das Autonomiepostulat der Kunst als gesellschaftliche Institutionalisierung der

symbolischen (literarischen) Kommunikationsformen beobachten. Es stellt sich somit die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Form der Individualisierung, die auf der individuellen Ebene als Identitätsbildungsprozeß zu bestimmen ist, und dem Grad der Fiktionalität, d. h. der narrativen Differenzierung und Dynamisierung der literarischen Selbst- und Menschenbilder. Mit anderen Worten: Gefragt wird nach dem Verhältnis zwischen den Formen der Selbstdarstellung und deren erzähltechnischer Komplexität. Diese Problemstellung wird für den Untersuchungszeitraum (1760 bis 1800) anhand der aus Tagebüchern, Autobiographien und Identitätsbildungsromanen bestehenden Materialbasis einer exemplarischen Analyse unterzogen. Angestrebt wird dabei sowohl ein verbessertes Verständnis der untersuchten Texte selbst als auch eine Klärung des Verhältnisses von Individualitätskonzepten und deren textueller Mediatisierung. Der Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen und individuellen Strukturveränderungen einerseits und dem Wandel der menschlichen Kommunikationsformen andererseits bzw. die komplementären Prozesse einer zunehmenden Individualisierung und Fiktionalisierung lassen sich zunächst auf der externen Kommunikationsebene, die das Verhältnis zwischen den >empirischenKunstFiktion< und »Wirklichkeit innerhalb der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit eine zunehmende Radikalisierung. Zur Diskussion steht nicht zuletzt die gesellschaftliche Funktion der Kunst, und während der aufklärerische Literaturbegriff noch keine strikte Trennung von Kunst- und pragmatischen Zweckformen (>DidaxeReveries< und >Confessions< (Kapitel V), als auch Wielands >Agathon< (Kapitel VI), Herders (Auto-)Biographie-Programm und sein >Reisejournal< (Kapitel VII) und Moritz' diarische >Beiträge< und >Fragmente< sowie sein >Anton-ReiserMenschenwissenschaftlers< und >MenschenbildnersSubjektivierung< bzw. >Individualisierung< der Fragestellung: >Was ist der Mensch?< zu der Frage: >Wer bin ich?< feststellen. Es handelt sich hierbei um eine Verlagerung des theoretischen und methodologischen Problems der Menschenbeobachtung, -erkenntnis und -bildung zu der Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Selbstbeobachtung, Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung. Die methodologische Aporie des Menschenwissenschaftlers, näm3

lieh zugleich Subjekt und Objekt der Selbstbeobachtung und -erkenntnis zu sein, wiederholt sich bei der Autobiographik im Spannungsfeld von >Wissenschaft und >KunstIch< und seine >Geschichte< zwischen Authentizität und Stilisierung, zwischen Unsagbarkeitstopos und tout dire im Medium der autobiographischen Vertextung als Einheit zu beglaubigen, zerfällt dieses in eine Vielzahl von Stimmen, die alle sagen: >Ich bin...
Individuum< und >GesellschaftProzesses< eine Aufhebung der begrifflichen Dichotomisierung zwischen den Bereichen >Geschichte< und >GesellschaftFiguration< die Aufhebung der Entge' Vgl. hierzu auch den Titel des Sammelbandes >Vom E n d e des Individuums zur Individualität ohne EndeGeschöpfeSchöpferFortschrittRückschritt< sei. Aber es ist damit auch nicht gesagt, daß es sich nur um quantitative Veränderungen handelt. Hier, wie so oft in der Geschichte, sind es Strukturveränderungen«; vgl. auch ders. (1977), S. 138.

17

Vgl. ders. (1977, S. 127): »Die Aufgabe einer Theorie sozialer Prozesse ist die Diagnose und Erklärung der langfristigen und ungeplanten, aber gleichwohl strukturierten und gerichteten Trends in der Entwicklung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen, die die Infrastruktur dessen bilden, was man gemeinhin >Geschichte< nennt«. Ders. (1987a, S. 26): »Und dieses zwecklose Dasein der Individuen in Gesellschaft miteinander bildet den Stoff, es bildet das Grundgeflecht, in das die Menschen die wechselnden Figuren ihrer Zwecke einweben«.

,g

8

Ders. (1969a), II, S. j j z f . Ders. (1969a, I, S. L X X I X ) : »daß alle diese Prozesse aus nichts bestehen als aus Aktionen einzelner Menschen, und daß dennoch in ihnen Institutionen und Formationen entstehen, die so, wie sie tatsächlich werden, von keinem einzelnen Individuum beabsichtigt oder geplant waren«; vgl. ders. (1969a, II, S. 313): »In der Tat weist nichts in der Geschichte darauf hin, daß diese Veränderung >rationalWirklichkeitsInnen< und dem >AußenIch< und den >Anderen< beruht.'' N a c h N . Elias ist das Menschenbild des homo clausus, welches sich im abendländischen Kulturkreis seit der Renaissance herausgebildet hat und auf einer dichotomischen Entgegensetzung v o n >Innen< und >AußenSubjekt< und >ObjektIndividuum< und >Gesellschaft< beruht, in seiner historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit zu hinterfragen." 1 Die zivilisationstheoretischen und (wissens-)soziologischen Untersuchungen von N . Elias eröffnen zum einen — gegenüber philosophischen, phänomenologischen, hermeneutischen," handlungstheoretischen, systemtheoretischen" etc. Ansät19

Vgl. ders. (1987a, S. »Die Kluft und der besonders heftige Widerstreit, die die reich individualisierten Menschen unserer Zivilisationsstufe in sich selbst verspüren, sie werden von ihrem Bewußtsein in die Welt hineinprojiziert; sie erscheinen ihnen bei ihren theoretischen Überlegungen als existentielle Kluft und als ewiger Widerstreit zwischen Individuum und Gesellschaft«; vgl. auch T.W. Adorno (1955). s - 5°10 N. Elias (1984a, S. Ö4f.): »Die Theorie des Zivilisationsprozesses ermöglicht es zu erkennen, daß dieser Typ des Selbsterlebnisses und der Individualisierung selbst etwas Gewordenes, Teil eines sozialen Prozesses ist«. " Vgl. hierzu u. a. die beiden Sammelbände >IndividualitätDie Frage nach dem SubjektIch< als Wahrnehmungs- und Bewußtseinsapparat nur oberflächlich aufsitzt.'' Die Grenzen zwischen >Unten< (dem >Unbewußten< *' Vgl. hierzu das Kapitel >Zur Soziogenese der Begriffe Zivilisation und Kultur< in N . Elias (1969a), I, S. iff. ' 6 Vgl. hierzu ders. (1969a, II, S. 7): »Der Druck des Hoflebens, die Konkurrenz um die Gunst des Fürsten oder der >Großenself-controlEsOben< (dem >Vorbewußten< bzw. >IchInnen< (dem >IchAußen< (den >AnderenEsAußenIch< als Vermittlungsinstanz zwischen der >äußeren< und >inneren< Realität (dem >EsÜber-Ich< als Verinnerlichung der elterlichen bzw. kulturellen Verbote stellt als vergleichsweise spätes Produkt der Onto- und Phylogenese eine Art von gesellschaftlicher Transformationsinstanz innerhalb der intrapsychischen Struktur des menschlichen Individuums dar, »ein Stück der Außenwelt«, das »ein Bestandteil der Innenwelt« geworden ist." Der Prozeß der intrapsychischen Ausdifferenzierung der internalisierten Funktionen des Gewissens, der Triebkontrolle als Voraussetzung der Verhaltensmodellierung, aber auch die Fähigkeit der Selbstbeobachtung, welcher in der psychoanalytischen Theoriebildung am Modell des Odipus-Komplexes gewonnen worden ist,' 6 erfährt innerhalb der prozeß- und figurationssoziologischen Analysen und Synthesen nicht nur eine gesellschaftliche Begründung, sondern auch eine historische Dynamisierung:' 7 Der Kontroll- und Überwachungsapparatur in der Gesellschaft entspricht die Kontrollapparatur, die sich im Seelenhaushalt des Individuums herausbildet.' 8

So verdeutlicht N. Elias u. a. am Beispiel des »Gabelrituals« eine Wandlung des menschlichen Trieb- und Affekthaushaltes im Übergang vom Mittelalter ' ' Ders. (1938), S. 9; N . Elias (1969a, II, S. 378) spricht in diesem Zusammenhang von einer stärkeren Differenzierung zwischen »Triebzentrum und Ichzentrum«. " »4 " '6 "

S. Freud (1938), S. 5 ; ; vgl. N. Elias (1969a), II, S. 400. S. Freud ( 1 9 2 3 ) , S. zotf. Ders. (1938), S. 59f. Vgl. hierzu ders. (1932), S. 62ff. und S. 7off. und ders. (1938), S. 60. N . Elias war von 1930 bis 1933 Assistent Karl Mannheims im Soziologischen Seminar in Frankfurt (vgl. hierzu H. Körte, 1988, S. 108—133): Die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Elias'schen Psychoanalyserezeption zu der des frühen E . Fromms am Frankfurter Institut für Sozialforschung bzw. am Psychoanalytischen Institut bedürfen noch einer eingehenden Untersuchung.

'" N . Elias (1969a), II, S.

12

527f.

bis zum 18. Jahrhundert, die mit der Internalisierung der gesellschaftlichen Fremdzwänge einhergeht. Das gesellschaftliche Tabu des Essens mit den Händen bzw. mit dem Messer kann demnach »als Ritual oder Institution gewordenes Unlust-, Peinlichkeits-, Ekel-, Angst- oder Schamgefühl« gekennzeichnet werden." Der neue Verhaltensmodus, das Essen mit der Gabel, wird zunächst in den Kreisen der höfischen Gesellschaft praktiziert, bis die Verwendung dieses >Zivilisationsgerätes< — durch die Vorbildfunktion des Adels für das sich in einem Assimilationsprozeß befindende Bürgertum — allgemeine Verbreitung findet.4" Die soziogenetische Verhaltensnorm reproduziert sich nunmehr quasi-automatisch, indem jede Generation der folgenden die geltenden Standards vermittels der Erzeugung von Schamund Peinlichkeitsgefühlen, Lust- und Unlustempfindungen aufzwingt. Auf der psychogenetischen Ebene funktionieren diese Selbstkontrollen der Über-Ich-Instanz als »innerer Automatismus«, als »Abdruck der Gesellschaft im Innern«.4' Die Sozio- und Psychogenese der intrapsychischen Kontrollinstanz des Uber-Ich sind untrennbar miteinander verbunden: A u f diese Weise vollzieht sich also der geschichtlich-gesellschaftliche Prozeß von Jahrhunderten, in dessen Verlauf der Standard der Scham- und Peinlichkeitsgefühle langsam vorrückt, in dem einzelnen Menschen in abgekürzter Form von neuem. Wenn man darauf aus wäre, wiederkehrende Prozesse als Gesetz auszudrücken, könnte man in Parallele zu dem biogenetischen von einem sozio- und psychogenetischen Grundgesetz sprechen. 4 '

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verflechtungsstrukturen und Interdependenzketten garantiert der Mechanismus der neuzeitlich-modernen Selbstzwangapparatur einerseits die relative Konformität der Menschen in bezug auf die jeweils geforderten gesellschaftlichen Verhaltenstandards und gewährleistet zum anderen auch die relative Autonomie des einzelnen Menschen innerhalb seines, je nach sozialer Position variierenden, interindividuellen Handlungspielraums.4' Die Strukturveränderungen des Menschen als " Ders. (1969a), I, S. 1 7 1 . N . Elias (1969a, II, S. 424) unterscheidet: »Eine Kolonisations- oder Assimilationsphase, in der die jeweils untere und breitere Schicht zwar im Aufsteigen, aber doch noch der oberen deutlich unterlegen, in der sie spürbar am Vorbild der oberen orientiert ist und in der diese obere Gruppe sie, gewollt oder ungewollt, mit ihren Verhaltensweisen durchsetzt. Und eine zweite Phase der Abstoßung, der Differenzierung oder Emanzipation, in der die aufsteigende Gruppe spürbar an gesellschaftlicher Stärke und an Selbstbewußtsein gewinnt«.

40

41 4!

4!

Ders. (1969a), I, S. 173. Ders. (1969a), I, S. 174; vgl. auch ders. (1969a, I, Anm. 1 1 9 , S. 330): »Die G e schichte einer Gesellschaft spiegelt sich in der Geschichte des einzelnen Individuums innerhalb ihrer: Den Zivilisationsprozeß, den die Gesellschaft als Ganzes während vieler Jahrhunderte durchlaufen hat, muß das einzelne Individuum, abgekürzt, von neuem durchlaufen«. Vgl. hierzu ders. (1969b, S. 36): »Verglichen mit Menschen in anderen gesell-

13

Individuum, welche in Korrelation zu den Strukturveränderungen der Menschen als Gesellschaften verlaufen, werden von N . Elias als Prozeß der Zivilisierung der menschlichen Trieb-, Bewußtseins-, Verhaltens- und Interaktionsformen gekennzeichnet. Auf der Grundlage der Internalisierung der gesellschaftlichen Fremdzwänge in individuelle Selbstzwänge kann dieser Vorgang auch als »individueller Zivilisationsprozeß« 44 bzw. als Prozeß der Individualisierung 4 ' beschrieben werden. Dieser Individualisierungsprozeß, der sich im abendländischen Kulturraum seit der Renaissance beobachten läßt und im 18. Jahrhundert aufgrund der sich beschleunigenden Prozesse der figurativen Ausdifferenzierung, der zunehmenden Verdichtung und Komplexität der interindividuellen Interdependenzketten, einen erneuten Intensivierungsschub erfahrt, bringt eine Verlagerung des Schwergewichts von der Wir-Identität zu der Ich-Identität des Menschen mit sich.46 Das Phänomen >Individualität< hat weder einen A n f a n g - nicht bei den Juden des Alten Testamentes, den Christen, den Renaissance-Menschen oder den Pietisten 47 — noch ein Ende. Es handelt sich um eine inter- und intra-menschliche Struktur, die in Korrelation zu den sich wandelnden Strukturen der gesellschaftlichen Figurationen ein bestimmtes Balanceverhältnis zwischen der Wir- und der Ich-Identität aufweist: E s gibt keine Ich-Identität ohne Wir-Identität. N u r die Gewichte der Ich-WirBalance, die Muster der Ich-Wir-Beziehung sind wandelbar. 48

So läßt sich stark vereinfachend ein relatives Übergewicht der Wir-Identität in den archaischen Stammesgesellschaften einer relativen Dominanz der Ich-Identität in den modernen Gesellschaftsformen, in welchen der Individualismus geradezu zum Programm avanciert ist, gegenüberstellen. 4 ' Nach schaftlichen Positionen, war Ludwigs X V I . Spielraum der Individualisierung besonders groß, weil er ein König war«. 44 41

46 47

4

Ders. (1969a), II, S. 354. Vgl. auch N . Elias (1969a, I, S. L X I X f ) , der den »Zivilisationsprozeß als eine Wandlung der Individualstrukturen« kennzeichnet. Vgl. hierzu ausführlicher N . Elias (1987a), S. 2Ö2f. Vgl. M. Schwab (1988), S. 36. - Nicht eine bestimmte Form der Religion ist die >Ursache< des Individualisierungsprozesses, sondern vielmehr kann mit N . Elias (1969a, I, S. 277) gesagt werden: »Die Religion ist jeweils genau so >zivilisiert< [bzw. individualisiert, d. V . ] wie die Gesellschaft oder wie die Schicht, die sie trägt«.

' N . Elias (1987a), S. 247. Vgl. T. Luckmann (1979b), S. j 6 f f . und ders. (1979c), S. 13 3ff. - Als Hauptdifferenz der Individualitätskonzeptionen N . Elias' und T . Luckmanns läßt sich zum einen die fehlende historisch-dynamische Perspektivierung des phänomenologischen Ansatzes festhalten, welcher sich auf die Nebeneinanderstellung zweier Z u standsbeschreibungen (archaische vs. moderne Gesellschaften) beschränkt; vgl. hierzu auch die (selbst-)kritische Anmerkung T . Luckmanns (1979b, S. 37). Z u m anderen definiert T . Luckmann (1979c, S. 1 3 1 ) soziale Aktionen als »regelgesteuer-

49

14

N. Elias beruhen die gesellschaftlich und geschichtlich variablen Formen der Individualität »als Verschiedenheit in der Gestalt und im Aufbau der psychischen Selbststeuerung« (bzw. Selbstzwangapparatur) 10 auf den in einer bestimmten zivilisatorischen Phase jeweils gültigen figurativen Mustern der Verhaltensregulierung. Auf diese Weise stehen die Individualität und Gesellschaftsbezogenheit eines Menschen [...] nicht nur nicht im Gegensatz zueinander, sondern die einzigartige Ziselierung und Differenzierung der psychischen Funktionen eines Menschen, der wir durch das Wort >Individualität< Ausdruck geben, sie ist überhaupt nur dann und nur dadurch möglich, daß ein Mensch in einem Verbände von Menschen, daß er in einer Gesellschaft aufwächst.' 1

Das heißt konkret: Jedes der menschlichen Individuen, die gesellschaftliche Figurationen miteinander bilden, ist einmalig und einzigartig — doch nur als Variation innerhalb eines bestimmten historischen und gesellschaftlichen Grundschemas:' 2 Der individuelle Zivilisations- bzw. Identitätsbildungsprozeß ist eine Funktion des gesellschaftlichen." Doch nicht nur die Form bzw. der Typus der Individualität als Gestaltqualität der menschlichen Selbststeuerung in bezug auf andere Menschen und Dinge,' 4 sondern auch die Art und der Grad der Selbstdistanzierung unterliegt gesellschaftlichen und historischen Wandlungen. Menschen sind in der Lage, sich beobachtend und reflektierend von sich selbst zu distanzieren, d. h. sowohl Subjekt als auch Objekt als auch Bedingung ihrer (Selbst-)Erkenntnis zu sein. In seinen stärker wissenssoziologisch ausgerichteten Überlegungen verweist N. Elias darauf, daß die Veränderung des menschlichen Naturbildes im Übergang vom geo- zum heliozentrischen Denken seit Beginn der Neuzeit mit einer Veränderung des Bildes, das Menschen von sich selbst als Individuen und als Gesellschaften haben, einhergeht:" in der Periode, die wir die >Neuzeit< nennen, erreichen die Menschen eine Stufe der Selbstdistanzierung, die es ihnen ermöglicht, das Naturgeschehen gedanklich als einen eigengesetzlichen Zusammenhang zu verarbeiten, der sich ohne Absicht, ohne Zweck und ohne Bestimmung, rein mechanisch oder kausal vollzieht, und

tes, intentionales Verhalten«, während N . Elias die relative >Blindheit< der Figurationswandlungen betont, die sich nicht auf individuelle bzw. interindividuelle Intentionen zurückführen lassen. Gemeinsam ist beiden Theorien die Reflexion auf die >anthropologische DimensionLeiblichkeit< (T. Luckmann) bzw. >Triebstruktur< (N. Elias) der Menschen. >° N . Elias (1987a), S. 90. '' Ders. (1987a), S. 4 1 . ' 2 Ders. (1969b), S. 22 und S. 27. » Vgl. ders. (1969a), I, A n m . , S. L X X V . 14 Ders. (1987a), S. 57 und S. 87. " Vgl. ders. (1983), S. 17.

15

der einen Sinn und einen Zweck für sie selbst nur dann hat, wenn sie in der Lage sind, ihn auf Grund ihrer Sachkenntnis zu kontrollieren und ihm auf diese Weise selbst einen Sinn und einen Zweck zu geben. Aber sie können sich auf dieser Stufe zunächst noch nicht in genügendem Maße von sich selbst distanzieren, um auch die eigene Selbstdistanzierung, die eigene Affektzurückhaltung, kurzum die Bedingungen ihrer eigenen Rolle als Subjekt der wissenschaftlichen Naturerkenntnis zum Gegenstand der Erkenntis, und zum Objekt der Forschung zu machen.' 6 Das heißt, daß das Wissen und die Kontrolle über die >äußere< Natur nur ein relatives Maß der Kontrolle bzw. Beherrschung der >inneren< Natur voraussetzt: Die Menschen sind in höherem Maße als zuvor fähig, sich selbst zu beobachten; aber sie sind noch nicht in der Lage, sich selbst als Menschen zu beobachten, die sich selbst beobachten.' 7 Während die Veränderung des menschlichen Naturbildes eine größere Distanziertheit und individuelle Selbstkontrolle der Menschen gegenüber außermenschlichen Zusammenhängen notwendig macht, vollzieht sich die Auseinandersetzung mit den inter- und intraindividuellen Vorgängen (noch) nicht im Modus der reflexiven >DistanziertheitEngagementsSich-selbst-aus-dem-Zentrum-rücken< verlangte: Im Denken der Menschen über sich selbst wurde das geozentrische Weltbild weitgehend in einem egozentrischen aufgehoben«. 60

16

Vgl. ders. (1969b, S. 363): »Von solchen Wandlungen der Menschen ist die Rede, wenn man von stärkerer Individualisierung, stärkerer Panzerung der Affekte, stärkerer Distanzierung von Natur, Menschen und Selbst spricht«; vgl. ders. (1969b, S. 361): »Auch dieses Vermögen [der Selbstdistanzierung, d. V.] hängt strukturell

die stärkere Zurückhaltung affektgeladener Impulse gegenüber den Gegenständen des Denkens und Beobachtens, die mit jedem Schritt auf dem Wege der stärkeren gedanklichen Distanzierung Hand in Hand geht, stellt sich in der Selbsterfahrung der Menschen hier als ein tatsächlich existierender K ä f i g dar, der das >SelbstIch< oder jenachdem [!] auch die >Vernunft< und >Existenz< v o n der Welt >außerhalb< des Individuums ab- und ausschließt. 6 ' D e r Prozeß der zunehmenden Individualisierung, der sich für den abendländischen Kulturkreis seit dem A u s g a n g des Mittelalters als Veränderung der menschlichen Verhaltens-, Trieb-, Bewußtseins- und Selbsterfahrungsmuster beobachten läßt, kann demzufolge als Resultat der affektiven Selbstkontrolle beschrieben werden, die ihren Ausdruck in der Vorstellung von dem einzelnen >Ich< im verschlossenen Gehäuse findet, von dem >Selbstdraußen< vor sich geht, abgetrennt ist. E s sind die zum Teil automatisch funktionierenden zivilisatorischen Selbstkontrollen, die in der individuellen Selbsterfahrung nun als Mauer, sei es zwischen >Subjekt< und >ObjektSelbst< und den anderen Menschen, der >GesellschaftKern und Schlaube< ( J . G . Herder), der >InnenAußenobjektiven< Zeitmessung und der >subjektiven< Eigenzeit,' 4 der Konjunktur der Wortkomposita mit >-ich-< und >-selbst-< etc. verdeutlichen ließe,' 1 ruft Z w e i f e l an der >äußeren< Realität h e r v o r . " Die >Wirklichaufs engste mit der Entwicklung einer stärkeren Panzerung des einzelnen Menschen in der Form von teils mehr, teils weniger automatischen Selbstkontrollen zusammen. Es läßt sich zunächst in kleineren Eliteschichten, dann im Laufe der Jahrhunderte, im Zuge der zunehmenden Komplizierung und Organisierung der menschlichen Interdependenzen in immer weiteren Schichten beobachten« und ders. (1969b), S. 574 und S. 376. ' ' Ders. (1969a), I, S. L X I . 61 Ders. (1969a), I, S. L X I f . '» Ders. (1969a), I, S. L X I I I . 64 Vgl. ders. (1969a), II, S. 558 und ders. (1984b); vgl. hierzu A . R i t t e r (Hrsg.) (1978), S. 3. 61 Vgl. H. Blumenberg ( 1 9 5 ; , S. 641): »Die von Kopernikus angezeigte kosmische Exzentrität wird wettgemacht durch die Selbsteinsetzung des Menschen in die Mitte seiner Welt. Der triumphierende Gebrauch des Possessivpronomens der ersten Person markiert prägnant den Bewußtseinswandel«; vgl. hierzu auch H.J . Fuchs (1976), S. 21. 66

N . Elias (1969b, S. 37of.) kennzeichnet »die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Illusion« als »eine der großen Paradoxien der ganzen Epoche«, in deren »Verlauf die Gesellschaft der Menschen in höherem Maße als je zuvor den

17

keit< wird nicht länger als eine durch die transzendentale göttliche Instanz garantierte,67 sondern zunehmend als eine sinnlich und interindividuell konstituierte, d. h. relative und somit wandelbare Größe erfahren. Das Verhältnis von >Wirklichkeit< (bzw. >ObjektivitätIllusion< (bzw. Subjektivität^ avanciert zum philosophischen und literarischen Leitmotiv des Übergangs von der mittelalterlichen Sinnordnung der Repräsentanz zum neuzeitlichen Welt- und Menschenbild.6' In der Differenz von Selbst- und Wirklichkeitserfahrung, welche sich in der Gestalt des windmühlenkämpfenden Don Quijote zum literarischen Symbol einer ganzen Epoche verdichtet und im 18. Jahrhundert in der Figur des Schwärmers und mondsüchtigen Melancholikus eine Fortsetzung findet, wird sich das menschliche Individuum selbst zum Thema und zum Problem. b)

Individualität als Funktion von Kommunikation

Der Prozeß der Zivilisierung der menschlichen Verhaltensformen, der mit einer zunehmenden Individualisierung des menschlichen Selbstverständnisses einhergeht, läßt sich nicht nur an dem Verhalten zu Tisch und im Schlafraum, dem Umgang mit den Zivilisationsgeräten der Gabel und des Schnupftuches und der Gestaltung der Innenräume und Außenfassaden der Wohnräume der Menschen nachweisen, sondern auch an ihren literarischen Interaktions- bzw. Kommunikationsformen. Die menschliche Individualitätsstruktur wird auf der Grundlage des symbolischen Interaktionismus (G.H. Mead),69 nicht nur in phänomenologischen (T. Luckmann),7" sondern auch und vor allem in handlungstheoretischen Kontexten (J. Habermas),7' als interaktive bzw. kommunikative Bereich ihrer Kontrollen über ihre Welt, besonders über das, was sie Natur nennen, aber auch über die Menschenwelt und sich selbst ausdehnen, während gleichzeitig immer von neuem in den verschiedensten Formen als stehenes Leitmotiv dieser ganzen Periode die Frage auftaucht, was denn nun eigentlich wirklich, real, objektiv oder wie immer man es auch nennen mag, sei, und was lediglich menschlicher Gedanke, Kunstprodukt, Illusion, kurzum nur >subjektiv< und in diesem Sinne unwirklich«. 67

Vgl. H. Blumenberg (1964), S. 1 1 f.

6

' Vgl. hierzu auch P. Brenner (1981), S. 20 und S. 41. 69 Vgl. hierzu G . H . Mead (1934) und L . Krappmann ( 1 9 7 1 ) , S. 39, H. Dubiel (1976), S. 149, S. Stryker (1976), S. 260 u. a. 70

71

18

Vgl. hierzu T . Luckmann (1979a), S. 299 und S. 302 und ders. (1979c), S. 1 3 1 und H . - G . Soeffner ( 1 9 8 1 ) , S. 252 und ders. (1983), S. 16 und S. 21. Vgl. hierzu J . Habermas (1981, II, S. 206): »Sie [die Kommunikationspartner, d. V . ] können nämlich eine persönliche Identität nur ausbilden, wenn sie erkennen, daß die Sequenz ihrer eigenen Handlungen eine narrativ darstellbare Lebensgeschichte bildet, und eine soziale Identität nur dann, wenn sie erkennen, daß sie über die Teilnahme an Interaktionen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen

G r ö ß e , d.h. als Balanceverhältnis v o n sozialer (Wir-)Identität und personaler (Ich-)Identität bestimmt. 7 1 In einem synchronen Querschnitt läßt sich der Anteil der sozialen Wir-Identität auf der horizontalen K o o r d i n a t e als Bündel v o n internalisierten kulturellen, gesellschaftlichen, institutionellen und

situationellen

Verhaltensstandards,

Erwartungshaltungen,

Normen,

Sanktionen, sozialen Positionen, Rollenmustern etc. beschreiben. A u f der vertikalen K o o r d i n a t e n e b e n e besteht die persönliche Ich-Identität w i e d e r u m aus einem Relationsverhältnis z w i s c h e n der D i m e n s i o n d e r L e i b l i c h k e i t (als körperlicher Wachstums-, R e i f u n g s - und Verfallsprozeß des menschlichen Organismus) z u einem E r f a h r u n g s - und Gedächtnisspeicher, m ö g e n der E r i n n e r u n g

dem

(und des Vergessens) als (Dis-)Kontinuität

Verdes

menschlichen Selbstbewußtseins. 7 ' D e r Identitätsbildungsprozeß des M e n schen umfaßt somit die K o m p l e m e n t ä r v o r g ä n g e der Individuation, Sozialisation und K o m m u n i k a t i o n : L ä ß t sich die >materielle< b z w . biologische K o m p o n e n t e in soziologischer Hinsicht nicht u n a b h ä n g i g v o n den kulturell und gesellschaftlich bedingten E n t w i c k l u n g s p e r i o d e n u n d Initiationsriten denken, so ist auch die >immaterielle< K o m p o n e n t e des menschlichen Selbstbewußtseins eine interaktive, d. h. interindividuelle und mithin

figurative

G r ö ß e , die sich in >materiellen< K o m m u n i k a t i o n s z u s a m m e n h ä n g e n konstituiert. D i e Individualität ist eine F u n k t i o n der menschlichen Interaktion bzw. Kommunikation.

aufrechterhalten und dabei in die narrativ darstellbare Geschichte von Kollektiven verstrickt sind«. - J. Habermas bettet die subjektphilosophische Attributierung Selbstbewußtsein + Selbstbehauptung< in einen funktional-pragmatischen Begründungszusammenhang ein und kennzeichnet (1985, S. 398) die >personale Identität< des Menschen als >Interaktionsfahigkeitenpersonal identity< auf der vertikalen Zeitachse) und einer >sozialen Identität< (»social identity< in der horizontalen Dimension): »Die persönliche Identität kommt zum Ausdruck in einer unverwechselbaren Biographie, die soziale Identität in der Zugehörigkeit ein und derselben Person zu verschiedenen, oft inkompitablen Bezugsgruppen. Während persönliche Identität so etwas wie die Kontinuität des Ich in der Folge der wechselnden Zustände der Lebensgeschichte garantiert, wahrt soziale Identität die Einheit in der Mannigfaltigkeit verschiedener Rollensysteme, die zur gleichen Zeit »gekonnt sein müssen [...]. Ich-Identität kann dann als die Balance zwischen der Aufrechterhaltung beider Identitäten, der persönlichen und der sozialen, aufgefaßt werden«; vgl. hierzu H. Dubiel (1976), S. 150 und L. Krappmann (1987), S. 134.

7J

Vgl. M. Schwab (1988), S. 43: »Körperidentität und Kontinuität der Erinnerung z. B. sind zwei Dimensionen der Identität personaler Einzelwesen«.

19

Die Individualitätsstruktur

als Balanceverhältnis von Wir- und

Ich-

Identität konstituiert sich im interaktiven Prozeß von >Ego< und >Alter< und wird im Habermas'schen Modell des idealen Diskurses als kommunikative Kompetenz der Rollenreversibilität beschrieben. Die Gleichzeitigkeit des deiktischen bzw. performativen Wechsels v o n der ersten zur zweiten Person und des virtuellen Aktes der Selbstdistanzierung aus der Beobachterperspektive der dritten Person, des >NeuterIch< bzw. >Wir< und in bezug auf andere >DuEr< oder >SieIhr< 74

Vgl. R. Döbert / J . Habermas / G . Nunner-Winkler (1977), S. 22; vgl. J . Habermas (1985), S. 34Öf. 7 ' Vgl. N. Elias (1987a), S. 225: »man [könnte] vielleicht sagen, daß der Durchbruch zur Dominanz eines neuen, umfassenderen und komplexeren Typs der menschlichen Organisation Hand in Hand geht mit einem weiteren Schub und einem anderen Muster der Individualisierung. Auch der Kanon des Verhaltens, und besonders die Reichweite der Identifizierung von Mensch zu Mensch, ändert sich beim Übergang auf eine neue Stufe der Integration in spezifischer Weise. Die Reichweite der Identifizierung wächst«; vgl. ders. (1986c), S. 586: »Im Zusammenhang mit der zunehmenden Verselbständigung der individuellen Selbstregelungsinstanzen, zu denen Verstand wie Gewissen, Ich wie Über-Ich gehören, erweitert sich offenbar auch die Reichweite des Vermögens eines Menschen, sich mit anderen Menschen in relativer Unabhängigkeit von deren Gruppenzugehörigkeit zu identifizieren, also auch Mitgefühl mit ihnen zu empfinden. Entzivilisierung bedeutet dann eine Veränderung in entgegengesetzter Richtung, eine Verringerung der Reichweite des Mitgefühls«. 76

77

78

20

Vgl. hierzu auch ders. (1969b), S. 2i7f. und G . Kiss' (1991, S. 80) kritische Revision der Elias'schen Zivilisationstheorie aus systemtheoretischer Perspektive. Bereits C.H. Cooley (1902) spricht in diesem Zusammenhang von einem >SpiegelungseffektSie< sagen, wird von N . Elias als basales Sttuktutprinzip von Figurationen, die Menschen miteinander bilden, beschrieben: Art und Grad der Selbstdistanzierung wandeln sich im Laufe der sozialen Entwicklung. Ich möchte vorschlagen, daß man die Entwicklung von Sprachen und besonders die Art, in der Fürwörterfunktionen auf verschiedenen Stufen der Sprachentwicklung symbolisch repräsentiert werden, genauer untersucht, um Veränderungen der Stellung der einzelnen Menschen in ihrer Gesellschaft und Veränderungen der Selbsterfahrung, die mit denen der Gesellschaft Hand in Hand gingen, auf die Spur zu kommen." Der Frage nach dem Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen, individuellen und kommunikativen Figurationswandlungen wird in dieser Studie anhand der literarischen Selbstdarstellungs- und Kommunikationsmedien des Tagebuches, der Autobiographie und des Identitätsbildungsromans für den Zeitraum um 1800 exemplarisch nachgegangen. Der Identitätsbildungsprozeß der menschlichen Individuen vollzieht sich sowohl auf der synchronen als auch auf der diachronen Analyseebene über das Erzählen von (Lebens-)Geschichten. Die Individualität ist eine Funktion der (auto-) biographischen Selbstdarstellung.80

c)

Individualität als Funktion der (auto-)biographischen Selbstdarstellung

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts läßt sich eine Neubestimmung des Menschen im Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen Menschen und zu der Natur beobachten. Zur Zeit der Aufklärung erfolgt nicht nur eine Rationalisierung des Natur- und Weltbildes8' und eine Psychologisierung des Menschenbildes,82 sondern auch eine Problematisierung des menschlichen 79

81

81

Ders. (1987a), S. 262; vgl. bereits ders. (1970), S. 138: »Das Fürwortmodell hilft, den perspektivischen Charakter der menschlichen Interdependenzgeflechte verständlich zu machen«. In dieser These vereinen sich phänomenologische und systemtheoretische Ansätze; so z. B. einerseits A. Pieper (1973, S. 734f.): »Es zeigt sich, daß der Satz Individuum est ineffabile< in gewisser Hinsicht auch vom praktischen Individuum gilt, insofern nur die Geschichte eines Individuums mitteilbar ist, nicht aber seine Individualität« und dies. (1973, S. 735): »die Individualität des Individuums« ist »als Geschichte erzählbar, nicht aber als Begriff a priori konstruierbar« und andererseits H. Lübbe (1979a), S. 277 und S. 280; vgl. hierzu kritisch die handlungstheoretische Position von W.-D. Stempel (1979), S. 672. N. Elias (1969a, II, S. 37}f.): »Wie das Gesamtverhalten, so wird auch die Beobachtung der Dinge und Menschen im Zuge der Zivilisation affektneutraler; auch das >Weltbild< wird allmählich weniger unmittelbar durch die menschlichen Wünsche und Ängste bestimmt, und es orientiert sich stärker an dem, was wir >Erfahrung< oder >Empirie< nennen«. Vgl. hierzu ders. (1969a, II, S. 372): »Und wie sich so Verhalten und Seelenhaus21

Selbstbildes. Diese vielschichtigen Wirklichkeitsbilder formieren sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zu den wissenschaftlichen Disziplinen der Geschichtsphilososophie, Anthropologie und Ästhetik. 8 ' Die Frage: >Was ist der Mensch?Wer bin ich?< verhandelt. Das anthropologische Paradigma geht mit einem verstärkten Interesse an der >empirischen< Selbstbeobachtung und deren Kommunikation einher, welches sich geradezu in einem Boom von diarischen, autobiographischen und fiktionalen Selbstentwürfen und Menschenbildern manifestiert. Die Autobiographik als Instrument und Medium der Selbst- und Menschen-(Er-)Kenntnis im Schnittpunkt der literarischen, historiographischen und anthropologischen Diskurse wird zu einem entscheidenden Konstituens der Menschenwissenschaften im 18. Jahrhundert. Das Problem der »gedoppelten Natur des Menschen«,' 4 dessen Selbstbild in eine >tierische< bzw. sinnliche (>Untengöttliche< bzw. geistige Dimension (>Obenindividuelle< Funktion der Identitätsbildung mit der >gesellschaftlichen< Funktion der Individualisierung dieser Erlebnis- und Verhaltensmuster. Im Prozeß der psychogenetischen (Selbst-)Darstellung über die Vertextungsmechanismen der Selektion, Kombination und (retrospektiven) Interpretation bzw. Synthetisierung der relevanten (Lebens-)Data erfolgt nicht nur die Konstitution des dargestellten Objektes der Lebensgeschichte innerhalb der jeweiligen sozio-historischen Definitionsräume, sondern auch die Konstitution des Subjektes der (auto-)biographischen Aussage. Der Akt der Darstellung, die Präsentation der medialen (Selbst-)Bilder als synchrone Momentaufnahme (Tagebuch) oder als diachrones Entwicklungsschema (Autobiographie) wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem sowohl erfahrungsinterpretierenden als auch handlungsorientierenden9' Instrumentarium der Selbst-Konstitution. Mit der Mediatisierung der das neuzeitlich-moderne Selbstverständis kennzeichnenden Verdoppelungserfahrung als Dualisierung von >Oben< (>Geist< bzw. >Über-IchUnten< (>Körper-Maschine< bzw. >EsAußen< (andere Menschen, >WirklichkeitIchIllusionenSpiegelgeselligeentlastendeerfahrungserweiterndekritische< und die >antizipierende< Funktion der Literatur im Prozeß der Zivilisation und überlagert diese Typologie mit einer normativen Zweiteilung zwischen den »stabilisierenden« Funktionen der Literatur, worunter die ersten fünf Typen fallen, und der >reflexiven< Funktionen derselben, worunter die beiden letzten Typen gefaßt werden; vgl. ders. (1984), S. 390. 58

*7

neue Individualitäts-Typus, der innerhalb des ästhetischen Diskurses als eine Mutation des tugendhaften Idealtypus ä la Samuel Richardson und des g e mischtem Charakters ä la Gotthold Ephraim Lessing verstanden werden kann, entspricht mit seiner nuancierten Grautonmodellierung jenseits der frühaufklärerischen Tugendbolde (>weißschwarzAls-Ob-KonfigurationenIneffabilität< des Individuellen in der Form von Geschieht«« (im Plural!) zum Sprechen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wirklichkeitsbereiche und der Dichotomisierung der literarischen Kommunikationsformen in >KunstZweckSelberlebensbeschreibers< (Jean Paul)'°' im Akt der Selbstbeobachtung und (retrospektiven) Selbstbeschreibung selbst zum >Neuter< und im A k t des Sich-Selber-Wiederlesens zum >AlterKlassiker< reduzieren läßt. Es ist die erschreckende Modernität dieser Texte, die relative Nähe zu unserer eigenen intra- und interindividuellen Strukturierung, es sind die den Texten eingeschriebenen Gefühls- und Erlebnismuster, die über die intellektuelle Anstrengung hinaus, welche diese Texte heutigen Lesern abverlangen, Formen der affektiven Betroffenheit, des Wieder-Erkennens, aber auch der Abwehr auslösen. Ohne diese zentrale Frage der (Rezeptions-)Ästhetik im Rahmen dieser Studie erschöpfend behandeln zu können, läßt sich vermuten, daß das Faszinosum des (auto-)biographischen Diskurses aus dem Versuch der Verschriftlichung, der Vertextung des individuellen Leidens resultiert. Es ist das Leiden an dem soziogenetischen Prozeß der Individuation und das Leiden an dem psychogenetischen Identitätsbildungsprozeß, das in den untersuchten Diarien, Selbstbiographien und Identitätsbildungsgeschichten zum Ausdruck kommt. Es ist sowohl das Leiden an der Identität als auch das Leiden an der Alterität, das Leiden an der Kontinuität und an der Diskontinuität, das Leiden an dem eigenen Körper und an den eigenen Erinnerungen, das Leiden an den eigenen Wünschen und das Leiden an ihren gesellschaftlichen Verhinderungen, das Leiden unter den Blicken der anderen und das Leiden unter dem eigenen Blick auf sich selbst. Es sind die sozio- und psychogenetischen Leiden an der Divergenz von >Unten< und >ObenInnen< und >AußenIllusion< und >WirklichkeitUrsprungsUrsprungsInnerstenIndividualität< und der >Identität< im (auto-)biographischen Diskurs bringt gerade die Erfahrung der Einsamkeit und Isolation, die Zerstückelungs- und Verschmelzungsphantasien und das Begehren der Nicht-Identität (>Ich möchte ein anderer sein!Identität< und >Subjektivität< durch das Erzählen seiner (Lebens-)Geschichte als auch der Prozeß der De-Konstruktion desselben im Akt des Erzählens bzw. in der Vertextung des Erzählten als gleichzeitig verlaufende, ineinander verflochtene Bewegung verfolgen. Der Anspruch auf programmatische Individualität (>Ich bin etwas Besonderes^) ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch untrennbar mit der Exemplarität des Individuellen, Einzelnen in Hinsicht auf ein Allgemeines, Ganzes verbunden, wie auch der individuelle und der gesellschaftliche bzw. universalgeschichtliche Bildungsprozeß in den Wissens- und Denkstrukturen des Zeitalters der Aufklärung noch eine quasi-gesetzmäßige Konvergenz aufweisen. Doch um 1800 ist nicht nur das Konzept der >besten aller Weitem, die als Summe des individuellen Leidens >Glück< deduziert, sondern auch das Konzept einer progressiven, zielgerichteten und intentional beeinflußbaren Teleologie der geschichtlichen Bewegung zu Fortschritt und Aufklärung brüchig geworden. Der Verlust der >Transzendenz< (G. Lukäcs), das Verschwinden der garantierten Realität< (H. Blumenberg) und das Ende des >Zeitalters der Ähnlichkeiten (M. Foucault) sind Symptome einer Transformation der gesellschaftlichen Figurationssysteme und der sie begleitenden ökonomischen und politischen Umstrukturierungsprozesse: der individuellen Strukturveränderungen, der sich wandelnden Deutungsschemata, der Ausdifferenzierungen der kommunikativen Verflechtungsstrukturen des Literaturmarktes und der damit verbundenden Gattungsbzw. Textsortenveränderungen. Die zunehmende Dekonstruktion der makrokosmischen Totalitätskonzepte wird über einen methodologischen Paradigmenwechsel (Induktion, Empirismus etc.) kompensiert. Doch die Mikroskopie des Leidens, die in den diarischen und (auto-)biographischen Texten als Teil der anthropologischen und literarischen Diskurssysteme zum Ausdruck kommt, scheint jeglicher Tröstung zu entbehren. Was bleibt, ist der Versuch einer Überwindung des individuellen Leidens im Prozeß der intersubjektiven Dia-(bzw. >Multiäußeren< Natur konfrontiert, so kommt in den (auto-)biographischen Selbstdarstellungs- und Kommunikationsmedien am Ende des 18. Jahrhunderts das Leiden an der Zivilisierung der >inneren< Natur der Menschen zur Sprache. Der Motor des Prozesses der Individualisierung hat den gesichtslosen Namen >AngstHeimlichkeitInnere< des Einzelnen, abgedrängt werden.108 Diese Angstzustände, der permanente (unsichtbare) Druck der intrapsychischen Ängste als internalisierte Gewissens- und Triebkonflikte, die >Geschichte des Wahnsinns< und die >Geburt der KlinikDialektiker der AufklärungÜber-Ichautonomen< Individualität

Doch das Zeitalter der Aufklärung ist nicht allein ein Eldorado der Grillenfänger, Hypochondristen und Melancholiker, sondern auch das Zeitalter der omnipotenten Original-Genies." 2 Die gesellschaftlichen, individuellen und kommunikativen Strukturveränderungen, welche im Untersuchungszeitraum der >Epochenschwelle< bzw. >Sattelzeit< (R. Koselleck) im Übergang von der Neuzeit zur Moderne einen neuen Intensivierungsschub erreichen, gehen mit einer Neuverortung des menschlichen Selbstverständnisses im Zeichen der Selbstzwecklichkeit einher. Die quantitative und qualitative Erweiterung der individuellen Handlungs- und Entscheidungsspielräume als Folge der zunehmenden Flexibilität und Mobilität der gesellschaftlichen Figurationsstrukturen wird als individuelle Autonomie bzw. Autarkie gedeutet. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausdifferenzierung der theologischen, ökonomischen, (natur-)wissenschaftlichen und ästhetischen Diskurse vollzieht sich die Radikalisierung der Konzeption der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die menschliche Apotheose zum Schöpfergott als absolutem Subjekt-Modell. Das neuzeitlich-moderne Individuum nähert sich im Versuch, sich der »Prädikate der göttlichen Identität«" 1 zu bemächtigen, der göttlichen Vollkommenheit des ens perfectissimus nicht im Modus der perfectio, sondern im Modus der perfectabilite,'H in einem Prozeß der allmählichen Selbstvervollkommnung (>BildungCharacteristics of Men, Manners, Opinions, Times< ( 1 7 1 1 ) : »Such a Poet is indeed a second Maker. a just PROMETHEUS, under J O V E . L i k e that Souvereign Artist or universal Plastik Nature, he forms a Whole, coherent and proportion'd in it-self, with due Subjection and Subordinacy of constituent Parts«; zit. nach R . Konersmann (1988), S. 166.

Gott (>Wie ist das Böse in der Welt zu rechtfertigen?Übertribunalisierung< (O. Marquard), d. h. unter »absoluten Rechtfertigungsdruck« und »Legitimationszwang«." 7 Und so dauert die Rechtfertigungsfunktion des diarischen und autobiographischen Diskurses auch nach der Säkularisation der Gattungstypen fort."' Doch mit dem Verlust der göttlichen Gnade und der Hoffnung auf Absolution verliert auch die Instanz des Jüngsten Gerichtes ihre Funktion. Gott tritt außerhalb des religiösen Diskurses allenfalls als Nebenkläger auf. Nicht mehr vor einer transzendentalen göttlichen Instanz, sondern allein vor sich selbst und den anderen Menschen, versucht sich der Einzelne in der minuziösen Aufzeichnung seiner >inneren Geschichte* zu rechtfertigen - in der Hoffnung auf Freispruch durch ein >menschliches< (Leser-)Publikum. Die Leser als Teil der neuen figurativen Ausdifferenzierung der Institution Literatur werden zu Beobachtern, zu Richtern und zu Geschworenen, zur einzigen und letzten Instanz der Beglaubigung des Erzählten. Um 1800 läßt sich gleichzeitig zu der Setzung der Autonomie des menschlichen Individuums gegen die Heteronomie seiner gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen das Autonomiepostulat der Kunst als gesellschaftliche Institutionalisierung der symbolischen bzw. literarischen Kunstformen beobachten. Die Arbeitsthese dieser Studie lautet, daß die Interdependenz der Setzung der Autonomie des menschlichen Individuums und seiner literarischen Kommunikationsformen in einer steigenden Fiktionalisierungstendenz als Multiperspektivität der (auto-)biographischen Erzählstrukturen und -muster ihren Ausdruck findet. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Form bzw. dem Typ der Individualisierung, der auf der individuellen Ebene als Identitätsbildungsprozeß zu bestimmen ist, und den Formen der Fiktionalisierung, d. h. der Differenzierung und Dynamisierung der menschlichen Selbstbilder. Mit anderen Worten: Gefragt wird zum einen nach den kommunikativen Funktionen der literarischen Selbst- und Menschenbilder innerhalb des Prozesses der Individualisierung bzw. Identitätsbildung und zum anderen nach dem Verhält-

" 7 O. Marquard (1980), S. 199: »der Mensch wird der absolute Angeklagte, und das ist — in nuce - der Befund, den ich als die >Übertribunalisierung< der menschlichen Lebenswirklichkeit bezeichnet habe: daß fortan der Mensch als wegen der Übel der Welt absoluter Angeklagter — vor einem Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist — unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationszwang gerät«. " 8 Vgl. G . Niggl (1974), S. } 6 7 f f . , bes. S. 3 9 of. und ders. (1977), S. 6ff. und S. özff., H . R . Jauß (1979a), S. 606.

33

nis zwischen den Formen der Selbstdarstellung und deren erzähltechnischer Komplexität. Läßt sich in prozeßsoziologischer Hinsicht ein Zusammenhang zwischen der jeweiligen Phase des Zivilisationsprozesses als Grad der gesellschaftlichen Differenzierung und Integration und dem Typ der Individualisierung als Grad der Herausbildung einer psychischen Selbstzwangapparatur nachweisen," 5 so stellt sich für den Gegenstandsbereich der literarischen Selbstdarstellungs- und Kommunikationsmedien die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Form bzw. dem Typ der Individualisierung und dem Grad der Fiktionalität der literarischen Selbst- und Menschenbilder. Zur Veranschaulichung der Hauptzüge dieses Argumentationsrahmens dient die anbei abgedruckte schematische Darstellung, welche auf der Grundlage der Elias'schen Prozeß- und Figurationssoziologie entwickelt worden ist: Innerhalb eines prozeß- und figurationssoziologischen Zugangs zum Problem der Individualität und ihren Vertextungsstrategien nimmt deren gesellschaftliche und geschichtliche Bedingtheit eine Zentralstellung ein. Dieses Verständnis von Individualität umschifft die Scylla und Charybdis der Re- und De-Konstruktion des >Subjektes< und eröffnet einen innovativen Zugang zu dem für die literarischen Kommunikationsformen des Tagebuches, der Autobiographie und des Identitätsbildungsromans konstitutiven Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und dessen narrativer bzw. erzähltechnischer Vermitteltheit. Bei dem hier untersuchten Zusammenhang zwischen den narrativen Mustern der individuellen Selbstdarstellung und den Formen der Fiktionalisierung der menschlichen Selbstbilder und Identitätsbildungsgeschichten wird vor dem Hintergrund der komplementären gesellschaftlichen, individuellen und kommunikativen Strukturveränderungen die Frage nach der Interdependenz zwischen der Autonomie-Setzung des menschlichen Individuums und seiner literarischen Kommunikationsmedien im Vordergrund des Untersuchungsinteresses stehen.

"» Vgl. N. Elias (1987a), Anm. 2, S. 3 1 1 . 34

Modell des gesellschaftlichen, individuellen und kommunikativen Figurationswandels im Prozeß der Zivilisation

verändertes Verhältnis des Menschen: a) zu außermenschlichen Zusammenhängen (Natur) b) zu zwischenmenschlichen Zusammenhängen (Gesellschaft)

Komplementarität der Prozeßarten 120 bei zunehmender Differenzierung der Figurationsebenen:

1) gesellschaftliche Differenzierungsprozesse (z. B. Funktionsteilung)

Wandel der Figurationen (gesellschaftlicher Strukturwandel)

Phase des Zivilisationsprozesses

Wandel der Menschen (individueller Strukturwandel als Verschiebung der Balance von der Wir- zur IchIdentität)

Typ bzw. Form der Individualisierung

2) Integrationsprozesse (z. B. Staatenbildung)

, c) zu sich selbst wachsender Grad an Distanzierung gegenüber außermenschlichen Zusammenhängen + Selbstdistanzierung

sich wandelnde Formen der Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung

. \ differenziertere Formen der Selbststeuerung des Menschen in bezug auf die Natur, andere Menschen und sich selbst + Herausbildung des Überich als Selbstzwangapparatur

>SpiegeIeffekt< (d. h. Doppelstruktur des modernen Menschen als Subjekt und Objekt der Erkenntnis)

3) Wandlung der gesellschaftlichen Verhaltensstandards (z. B. Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle)

4) Wandlung der individuellen Persönlichkeitsstruktur (Zivilisierung als Transformation der Fremdzwänge in Selbstzwänge)

5) verbesserte Abstimmung der menschlichen Wissens- und Sprachsymbole als Kommunikations-, Orientierungs- und Kontrollmittel 121

Wandel der Grad der gesellschaftlichen Fiktio(inkl. literarischen) nalität Kommunikationsmedien

Ders. (1977), S. 145: »Keinem v o n ihnen k o m m t ein absoluter Primat als G r u n d lage oder A n t r i e b s k r a f t aller anderen zu«. Vgl. ders. (1977), S. 144 und ders. (1984b), S. X X I X u n d S. XLV. 35

III.

Tagebuch, Autobiographie und (Identitäts-) Bildungsroman

i.

Literarische Figurationswandlungen

Komplementär zu den gesellschaftlichen und individuellen Strukturwandlungen der sogenannten >Sattelzeit< (R. Koselleck) vollzieht sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein Strukturwandel der literarischen Gattungen. Eine figurative Transformation zwischen der höfischen und der bürgerlichen Institutionalisierung der literarischen Kommunikationsformen läßt sich nicht nur hinsichtlich der Tendenz einer zunehmenden Verschriftlichung und einer Verschiebung der Inhalte vom amusement zur moralischen message beobachten. Die Ablösung der höfischen Kunstform des amusement und divertissement und deren Ideal der Rokoko-Galanterie geht einher mit einer Infragestellung des aufklärerischen Literaturprogramms des prodesse in der süßen Verpackung des delectare und dessen Leitbild des geselligen Weltbürgers. Als im Zuge der permanenten Revolutionierung der Französischen Revolution die als Humanisierung gepriesene Mechanisierung der Tötungsmaschinerien die Umsetzung des Prinzips der égalité zumindest auf dem Schafott verwirklichte und nicht nur die Symbole, sondern auch die personale Inkarnation der repräsentativen Öffentlichkeitsform guillotinierte, schieden sich spätestens mit dem Datum des 2 1 . Januars 1793 (der Hinrichtung Ludwigs X V I . ) die deutschen Geister und mit ihnen das j a k o binische« und das >klassische< (bzw. romantische) Literaturprogramm. Innerhalb des literarischen Diskurses erfahrt das aufklärerische Telos einer gleichsam gesamtgesellschaftlichen Katharsis mittels einer zunehmenden ästhetischen Sensibilisierung der Individuen' nunmehr eine Reduktion auf die subjektimmanente Perfektibilität der individuellen Bildung. Es vollzieht sich eine Verlagerung bzw. Verschiebung des stärker gesellschaftlich orientierten Projektes der Läuterung und >Vermenschlichung< der gesellschaftlichen Strukturen zum verinnerlichten Ideal der Humanität. Doch wie auch die Favorisierung des deutschen >KulturZivilisationsrein menschlichen« Men-

' Vgl. 2. B. Gotthold Ephraim Lessings Mitleids-Konzeption, welche eine der zunehmenden Ausdifferenzierung der intrapsychischen Strukturen entsprechende vergrößerte Reichweite der Identifikationsfähigkeit und der Emphatie erzielen möchte; vgl. hierzu H . - J . Schings (1980b), S. 34—46. ' Vgl. das erste Kapitel in N. Elias (1969a), I, S. 1-65.

36

schenbildes jenseits von theologischen, geographischen, klimatischen und ständischen Determinationen als entelechisches Organon-Modell mitsamt seinem Komplement, dem selbstzwecklichen Kunstgebilde, nur im Zusammenhang mit den jeweiligen figurativen Verflechtungsstrukturen und Machtbalancen zu verstehen. Die Kombination des Idealbildes vom homo oeconomicus und homo aestheticus läßt sich im Spannungsfeld der bürgerlichen Assimilations- und Emanzipationsprozesse im Untersuchungszeitraum als programmatische Abgrenzungsbestrebung nach >oben< und >untenMassenMagazins zur Erfahrungsseelenkundebürgerlicher< Diskussion und Kommunikation. Darum liegt es auf der Hand, daß der Romandiskurs vor allem mit denjenigen Diskursen interagiert, die im entstehenden literaturtheoretischen Diskurs und in dessen Kontexten geführt werden: der Mimesisdebatte, der Geschmacksdebatte, der Wirkungsdebatte, der Debatte über das sich emanzipierende Individuum und seine dadurch problematisch werdende Stellung zur Gesellschaft, der Debatte über Ehe, Sexualität und Freundschaft."

S.J. Schmidt diagnostiziert als Folge »der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert [...] ein autonomisiertes, selbstorganisiertes Sozialsystem Literatur als konstitutives Teilsystem der Gesellschaft«'' und — »als Resultante verwirklichter Selbstreferentialität des Literatursystems als 9

Friedrich von Blanckenburg, >Versuch über den Roman< (1774). Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, hrsg. v. E. Lämmert, Stuttgart 1965. Als frühe Beispiele für Autobiographien von Frauen sind Friderika Baldinger (Lebensbeschreibung, von ihr selbst verfaßt, hrsg. und mit einer Vorrede begleitet von Sophie, Witwe von LaRoche, Offenbach 1791) und Caroline Pichler (Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, München 1814) zu nennen. Die Anfange einer weiblichen Autobiographik werden jedoch im allgemeinen erst in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts angesetzt (vgl. hierzu M.Vogt, 1981), ihr erster Höhepunkt in der Literaturbewegung des deutschen Vormärz; s. hierzu auch R. Möhrmann (Hrsg.) (1978).

" S.J. Schmidt (1989), S. 100. " Ders., S. 401. " Ders., S. 19. 39

Sozialsystem« — die »Autonomisierung des Kunstwerks«.' 4 Doch diese Z u sammenhänge müssen nicht notwendig als Beleg für das Konzept der A u topoetizität selbstreferentieller Systeme gelten. Der (funktional-)strukturalistische Systembegriff vermag zwar die Korrelationen zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen formal zu erfassen, besitzt jedoch in bezug auf den diachronen Wandel bzw. prozessualen Charakters der Strukturveränderungen und das Verhältnis zwischen einem >System< und dessen >Umwelt< nur bedingte Adäquanz. 1 ' Weiterführend scheint mir dagegen der gleichfalls auf der Grundlage der Luhmannschen Systemtheorie entwickelte, schon etwas ältere Vorschlag W . Voßkamps zu sein, Gattungen als »literarisch-soziale Institutionen«' 6 zu fassen, um im Rahmen einer »funktionsgeschichtlich orientierten Gattungshistorie [...] der doppelten Funktion einer Gattung einerseits im symbolischen und andererseits im sozialen System« nachgehen zu können.' 7 Literarische Gattungen können demnach gemäß dem Prinzip der >Reduktion von Komplexität< sowohl auf der synchronen als auch auf der diachronen Ebene'" als möglichkeitsreduzierende

Strukturen

verstanden

werden, welche über Selektionsmechanismen die Auswahl und Kombina-

' 4 Ders., S. 407. 11 Vgl. hierzu N. Elias' Auseinandersetzung mit dem soziologischen Strukturalismus T . Parsons. In: ders. (1969a, I, S. V I I - L X X ) . — Wenngleich das Konzept des autopoietischen Systems für organische Strukturen innerhalb der (Neuro-)Biologie auch einen hohen Erklärungswert besitzen mag (vgl. hierzu H.R. Maturana/ F . J . Varela, 1984), so ist dessen Reichweite zur Erfassung, Beschreibung und Erklärung menschlicher Gesellschaften und deren symbolischen Ordnungen zumindest nicht unumstritten; vgl. hierzu N. Elias (1983), S. 3 iff. - Anzumerken bleibt, daß auch N. Luhmann (1984, 28) im Kontext des autopoietischen Paradigmenwechsels der Systemtheorie zu einer »radikalen Verzeitlichung des Elementbegriffs« gefunden hat. ' 6 W. Voßkamp (1977), S.30; vgl. hierzu auch ders. (1988, S. 337). — W. Voßkamps »begriffs- und funktionsgeschichtlichen Überlegungen zum deutschen Bildungsroman« kommen allerdings, wie auch die inhaltliche Kennzeichnung des Bildungsromans als »narrative Darstellung der >Bildung< eines individuellen Charakters in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität« (1988, S. 337), die den traditionellen Topos >Ich< vs. >(Um-)WeltConfessiones< (um 400 n. Chr.), Jean-Jacques Rousseaus >Les Confessions< ( 1 7 7 1 ) und Johann Wolfgang Goethes >Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit< (1811—33) z u nennen.

20

W. Voßkamp (1977), S. 27. Vgl. hierzu die Forschungsberichte von K . W . Hempfer (1973) und D. Lamping (1990).

11

41

a)

Z u r Individualitätsproblematik

In der Forschungsliteratur zur literarischen Kommunikationsform des Tagebuchs, aber auch zur Autobiographie und zum Bildungsroman, überwiegen stoffliche, motivgeschichtliche und inhaltliche Gesichtspunkte." Die diarischen und autobiographischen Schriften um 1800 werden unter weitgehender

Vernachlässigung

poetologischer,

formaler,

struktureller

und

pragmatischer Kriterien innerhalb des hermeneutischen Paradigmas überwiegend als Inkarnate einer unmittelbar sich äußernden Individualität und Subjektivität verstanden. Als ältere Studien sind hier neben derjenigen J . Burckhardts, 2 ' der Ende des 19. Jahrhunderts einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des neuzeitlichen Individualitätsbewußtseins und der Ausbildung des autobiographischen Kommunikationsmediums entwikkelt hat, vor allem die Arbeiten der Dilthey-Schule mit ihrem Programm des autobiographischen Individualismus< bzw. der >individualistischen A u t o biographie< zu nennen. 14 Seit Hegel in seiner viel zitierten ironischen Skizzierung die Bildungsromanhelden als moderne Ritter gekennzeichnet hat, welche im Zeitalter

22

Die Publikationen sind neben ihrem inhaltlichen Übergewicht auch thematisch meist relativ ungeordnet und kommentieren eine ausgewählte Mischung von Primärzitaten nur begleitend; s. z. B. die ältere Arbeit von M. Buchholz (1942), aber auch C. Vogelgesang (1971) und R. Görner (1986); vorwiegend inhaltlich-referierend ist auch die jüngste Monographie zum Tagebuch von R.-R. Wuthenow (1990). 2 ' J . Burckhardt (1860), Bd. 1, S. i 4 i f f . 24 G . Misch (1907/49, S. 4zf.) versteht die Geschichte der Autobiographie als »Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins« und geht davon aus, daß die Selbstdarstellung »je nach den Zeiten und der individuellen und sozialen Lage« die verschiedensten Formen annehme. Auch W. Mahrholz (1919, S. 8f.) bezeichnet die Selbstbiographie als »Form dieses Individualismus« und als die »wichtigste Quelle« der »Geschichte des Geistes und der Seele«. G . R . Hocke (1963, S. 9 u. S. 12) sieht in den diarischen Selbstzeugnissen seit der europäischen Renaissance »immer genauere Spiegelungen der intimen, unteilbaren, souveränen Individualität«, welche das Material zu einer umfassenden »Geschichte des europäischen Subjektivismus« im Sinne einer »Seelen- und Schicksalsgeschichte Europas« böten. — Aber auch in neueren Untersuchungen werden die literarischen Kommunikationsformen des Tagebuchs und der Autobiographie einerseits und das Phänomen des neuzeitlichen Individualismus« andererseits in einen engen, wenngleich auch weitgehend ungeklärten, Zusammenhang gestellt (so z. B. bei K . G . Just, 1966, S. 26, K . Pestalozzi, 1982, S. 15 5f. u. a.), da das Moment der gesellschaftlichen Vermittelheit der Individualität außerhalb der Betrachtungen bleibt. Weitergeführt werden die Grundannahmen G . Mischs u . a . von K.-D. Müller (1976, S. 3J9), der vorschlägt, »die Veränderungen des Individualitätsbewußtseins als Grundlage von Formveränderungen zu interpretieren«, oder auch von H. Winter (198;, S. 2), der davon ausgeht, daß Selbstdarstellungen »die historische Entwicklung von Identitätstheorien« spiegelten.

42

des staatlichen Integrationsprozesses »als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber« stünden und ihre »Kämpfe [...] als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit«," ist der IndividualitätsTopos mit seinen Antipoden >Welt< bzw. >Wirklichkeit< immer wieder, auf mehr oder weniger dialektisierende Weise, aufgegriffen worden. S o stellt der Bildungsroman nach W . Dilthey »bewußt und kunstvoll das allgemein Menschliche an einem Lebensverlaufe« dar: Eine gesetzmäßige Entwicklung wird im Leben des Individuums angeschaut, jede ihrer Stufen hat einen Eigenwert und ist zugleich Grundlage einer höheren Stufe. Die Dissonanzen und Konflikte des Lebens erscheinen als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und Harmonie.' 6 Dererlei harmonisierende Projektionen, welche der Vielfalt der literarischen Darstellungen zur Thematik der problematisch gewordenen Identitätsbildung des modernen Individuums als Ausdruck seines Selbst- und Weltverständnisses nur bedingt gerecht zu werden vermögen, sind spätestens seit Ende der 70er, A n f a n g der 80er Jahre in zahlreichen Einzelstudien in Frage gestellt worden: Gefragt wird nunmehr verstärkt nach den Deformationen und Rissen, nach der Gebrochenheit und Gespaltenheit der modernen Identitätserfahrung, und den Ver-rücktheiten und Wahnsinnigkeiten des subjectum als Opfer seiner gesellschaftlichen und medialen Konstitutionsbedingungen im Zeitalter der >Einheit der VernunftIdentitätsromanenSimplicissimus< bis zu T. Manns >Zauberberg< reicht, die »Identitätsbewegung« als Strukturgesetz des Bildungsromans bestimmt, welches (einmal abgesehen von ungeklärten nomologischen Grundannahmen) in Anlehnung an E . H . Erikson auf den Ablauf »Identitätsverwirrung — Selbstreflexion - Synthetisierung« als Adoleszens-Krise verkürzt wird. Weiterführender scheint mir dagegen eine Anmerkung H. Tiefenbachers (1982, S. 48) zu sein, welcher die Ausdifferenzierung der Weltbilder, die »Individualisierung des Weltverstehens« und »die Entwicklung polyperspektivischen Darstellens« als einen zusammenhängenden Prozeß - allerdings in bezug auf die Jahrhundertwende um 1900 - begreift, wenngleich das Konzept der Individualität auch hier eine stark idealisierende Tendenz aufweist (vgl. hierzu ders., 1982, S. 53). — Die neuere Untersuchung zum Verhältnis zwischen der Individualitätsproblematik und der Liebesfahigkeit der Bildungsromanhelden, welche von B. Hansel (1986) vorgelegt worden ist, kann dagegen aufgrund ihrer sowohl theoretischen als auch interpretatorischen Anspruchslosig-

43

Der hermeneutischen Zentrierung auf den Aspekt der Subjektivität und ihren inhaltlichen Objektivationen wird gegenwärtig deren Entmystifizierung in strukturalistischen 1 ' und Dezentrierung in diskursanalytischen Diskurszusammenhängen

entgegengesetzt.

So

führt M. Schneider

die

Ge-

schichte des menschlichen Gedächtnisses, die sich an der Autobiographie ablesen lasse, auf den »historischen Stand der Speichertechnologien« zurück: 1 ' »es gibt keine Innerlichkeit ohne die Drucktechnik«' 0 . Die »modernen Wahrheitsmaschinen«'' der Selbstzeugnisse als »Schriftwerdung des neuzeitlichen Über-Ich« seien als »eine Praxis öffentlicher Selbstkontrolle«' 1 im Dienste der polizeilichen Überwachung zu verstehen." Im allgemeinen überwiegen - so läßt sich zusammenfassen — in den neueren Studien zur Autobiographieforschung bei dem Versuch, das umfangreiche empirische Material v o n einem übergeordneten theoretischen Gesichtspunkt aus zu organisieren, entweder referierende Darstellungen und Deutungen der inhaltlichen Aspekte, die anhand einer chronologischen Aneinanderreihung der Beispieltexte dargeboten' 4 oder aber als Belege für ein System grobmaschiger Abstraktion gewertet werden." Der überzeugendste und über den Übersetzungsvorschlag G . Mischs als »die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen keit und Unreflektiertheit unberücksichtigt bleiben. Ihre grundlegende Arbeitsthese beschränkt sich auf die Annahme einer >Unfähigkeit zu lieben< als Folge einer marzißstischen PersönlichkeitsstörungIch< sagt, erfindet sich eine fiktionale G e stalt.' 1

Diese provokante These, die von M. Jurgensen in exemplarischen Stichproben an die Tagebücher von Johann Wolfgang Goethe bis Peter Handke herangetragen wird, kann an Radikalität kaum noch überboten werden, läßt jedoch an Differenziertheit durchaus zu wünschen übrig: So wird zum einen nicht zwischen den Prozessen der >Fiktionalisierung< und der >Literarisierung< unterschieden und zum anderen wiederum auf den herkömmlichen dichotomischen >IchUmweltRealität< zu geben und sich somit einer P r ü f u n g der Verifizierbarkeit zu unterziehen."

Genau an dieser Stelle wird allerdings stets einschränkend hinzugefügt, daß sich eine derartige >Verifikation< bei der Autobiographie aufgrund deren subjektiven, auf persönlichen Erfahrungen beruhenden Charakters und des Perspektivismus jeglicher Wahrnehmung (und Darstellung) nur schwerlich durchführen lasse. Die Gegenposition, nämlich daß die Autobiographie zu den fiktionalen Texten zu zählen sei, wird sowohl immanent poetologisch als auch rezeptionsästhetisch begründet: So wertet J. Kronsbein bereits den Einsatz »narrativer Techniken« als »Techniken der Fiktionalisierung«.' 6 W. Segebrecht geht darüber hinaus davon aus, daß »der gegenüber beispielsweise dem Roman verringerte Fiktionalitätsgrad der Autobiographie mit einer erhöhten Intensität der Kommunikation mit dem Leser einhergeht«,' 7 welcher »sowohl die Bemühung des Autobiographen um historische " Ders., S. 34. " Ders., S. 18. W. Shumaker (1954), S. 75; vgl. auch R . Tarot (1985), S. 43. " P. Lejeune (1973/5), S. 244. ' 6 J . Kronsbein (1984), S. 52; vgl. dagegen K . - D . Müller (1976, S. 339 u. S. 354), welcher z w a r v o n einer zeitlich begrenzten »Literarisierung der Autobiographie« spricht, die in der »Übernahme, Variation und analogischen Nachbildung fiktionaler Darstellungstechniken« bestehe, dennoch aber grundsätzlich zwischen der nichtfiktionalen Autobiographie und dem fiktionalen R o m a n unterscheidet. " W. Segebrecht (1969), S. 169.

47

Treue als auch das Verfahren der Fiktionalisierung« begutachte. D i e jeweilige Akzeptanz des »Grades der Fiktivität«' 1 seitens des Lesers entspreche wiederum den bestehenden Gattungskonventionen. Nachgegangen werden soll

im

Rahmen

dieser

Untersuchung

dem

Differenzierungsvorschlag

M. Salzmanns, welche die Autobiographie als »Subkategorie« der literarischen Erzählung zu den fiktionalen Texten zählt" und den problematischen Fiktionsstatus der Autobiographie als mixed form ( S . A . Shapiro) wie folgt verdeutlicht: »Die Autobiographie ist somit auf der Mikroebene referentiell [...], von der Makroebene her gesehen, ist sie fiktional«. 60 A u f der Basis dieser Bestimmung kann die Autobiographie in einem ersten Schritt als dokumentarische Fiktion< bzw. als >Fiktion der Dokumentation gekennzeichnet werden, »da sie Wirkliches, Dokumentiertes, Faktisches fiktional präsentiert«. 6 ' In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung um den Bildungsroman wird das Fiktionalitätsproblem — trotz oder gerade wegen der generellen Zuweisung des Fiktionsstatus — nur vereinzelt thematisiert. 6 ' In

" Ders., S. 162. 19 M . Salzmann (1988), S. 9. Dies., S. 91; vgl. hierzu das Figurationsmodell diarischer und (autobiographischer Texte (im Querschnitt) im IV. Kapitel dieser Studie. 61 M . Salzmann (1988), Anm. 65, S. 40. 62 Der Roman hat sich im Unterschied zu den diarischen und autobiographischen Kommunikationsmedien im Verlauf der literaturhistorischen Entwicklung auf der Ebene des literaturwissenschaftlichen Diskurssystems zum (relativ) unbestrittenen Kunstwerk mausern können, wenngleich F. Martini noch 1961 (S. 263) in seinem Forschungsbericht zum Bildungsroman betont, daß dieser keine »kategoriale ästhetische Form« sei, »sondern vielmehr von Voraussetzungen bestimmt wird, die primär im Stofflichen, Thematischen, im Weltanschaulichen und in seiner Wirkungsabsicht und -funktion liegen«. Diese Kombination von inhaltlichen und funktionalen Kriterien zur Beschreibung der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehenden Gattung des Bildungsromans ist bereits in dem ersten Versuch einer Begriffsbestimmung durch K . Morgenstern (1820, S. 74; vgl. auch ders., 1 8 1 7 , S. 64) zu finden: »Bildungsroman, sagten wir, wird er heißen dürfen,

60

1. und vorzüglich, wegen des Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe und Vollendung darstellt; 2. aber auch, weil er gerade durch diese Darstellung des Lesers Bildung in weiterm Umfang als jede andere Art des Romans fördert«. — Doch während der rezeptionsästhetische bzw. funktionale Aspekt dieser Romanform nur vereinzelt einer Untersuchung unterzogen worden ist (vgl. R. Wild, 1982 und ders., 1984, S. 385—400), läßt sich v o r allem bei den älteren Studien zum Bildungsroman (vgl. hierzu ausführlicher die Forschungsberichte von L. Köhn (1969), R. Selbmann (1984) und ders. (Hrsg.) 1988, S. 1-45) ein Überwiegen stofflich-inhaltlicher Bestimmungsversuche konstatieren, welche ihre Legitimation zum einen aus der Bildungs- und Individualitätsthematik und zum anderen aus den autobiographischen Inhalten dieser Romanform ableiten; vgl. hierzu z. B. H.H. Borcherdt (1941, S. 230): »Der Bildungsroman ist zum guten Teil Selbstdarstellung des Verfassers«; hiermit eng 48

neueren Arbeiten wird jedoch zusehends versucht, die Fiktionsstruktur des Bildungsromans anhand v o n narrativen Modellen zu begründen und einer näheren Untersuchung zugänglich zu machen. So stellt M . Schräder ihre vergleichenden »poetologischen Studien zum Bildungsroman« unter das vielversprechende Motto »Mimesis und Poiesis«, ohne jedoch innerhalb ihres abstrakten und an vielen Stellen auch grobschnittigen

Argumentati-

onsmusters über die Bestimmung des »Bildungsromans als F o r m der Selbstreflexion des Romans«, 6 ' »in der die Struktur der Fiktion am Beispiel des dargestellten Entwicklungsganges zugleich Gegenstand der Fiktion ist«,64 hinauszugelangen. Die angeführten »prinzipiellen poetologischen

Bedin-

gungen des Bildungsromans« 6 ' lassen die Reflexion einer pragmatischen Dimension vermissen und erweisen sich zudem als wenig hilfreich für eine mögliche A b g r e n z u n g zwischen den drei literarischen

Kommunikations-

formen Tagebuch, Autobiographie und Bildungsroman. Wenig ergiebig hinsichtlich der hier untersuchten Fragestellung sind auch die A u s f ü h r u n gen H . Tiefenbachers, welcher z w a r den literaturwissenschaftlichen

Dis-

kussionsstand zur Bestimmung des Fiktionalen referiert, ohne jedoch selbst in diesem Bereich neue Untersuchungsperspektiven zu entwerfen 6 6 , und die Studie von L . Saariluoma zu der »Erzählstruktur des frühen deutschen Bildungsromans«, die den Fiktionstatus der Erzählsituation am Seinsmodus des Kommunikationsgegenstandes festmacht. 67

verbunden ist oft eine fehlende Differenzierung zwischen Autor, Erzähler und Helden im Bildungsroman, die erstmals von W. Kayser (1954) ' n die literaturwissenschaftliche Forschungsdiskussion eingeführt worden ist. 6 » M. Schräder (1975), S. 14. 64 Dies., S. 16. 6 ' Genannt werden (dies., S. 26): »1) Auflösung der unmittelbaren Evidenzstruktur objektiver Realität; 2) Begründung eines subjektiven Imaginationsraumes als Instrument der Vermittlung von Faktizität und Wahrheit; 3) daraus resultierender Begriff der >möglichen Weltvon etwas< (der in den kommunikationstheoretischen Modellen oft übersehen wird): wovon erzählt wird, ist jetzt nicht die reale Welt, sondern eine fiktive, von der gesprochen wird, als ob sie real wäre«. — Die Kennzeichnung der Erzählstruktur der untersuchten Romane - Christoph Martin Wielands >Geschichte des Agathon< und Johann Wolfgang Goethes >Wilhelm Meisters Lehrjahre< - läuft jedoch im wesentlichen auf eine

49

c)

Diaristik und Autobiographik als Zweck- oder Kunstform ? Abgrenzungsproblematik und Typologisierungsversuche

Kennzeichnend für die überwiegende Anzahl der Forschungsarbeiten zu den diarischen und autobiographischen Formen ist ein Denken in binären statischen Oppositionen. Die dichotomische Konzeption der literarischen Kunst- und Gebrauchsformen leitet sich, mehr oder minder explizit, von dem Ideal des sog. >klassischen< Literaturprogramms der ästhetischen Autonomie des Kunstwerks als (scheinbar) entfunktionalisiertes Objekt des interesselosen Wohlgefallens< (I. Kant) ab und wiederholt sich in der Beteuerung, daß mit Goethes Autobiographie >Dichtung und Wahrheit< der Höhe- bzw. Kulminationspunkt 6 ' hinsichtlich der Möglichkeiten einer gattungsimmanenten Literarisierung erreicht sei, während vor und nach Goethe als Nullpunkt des literaturwissenschaftlichen Koordinatensystems die Zweckhaftigkeit der autobiographischen Gattung deren ästhetische Elemente und Intentionen dominiere. Nach K.-D. Müller, der in seinen aufschlußreichen »Studien zur Literarisierung der Autobiographie der Goethezeit« den parallel verlaufenden Prozeß der Literarisierung der Autobiographie als Übernahme epischer Erzählstrukturen und der >Autobiographisierung< des Romans als Ausrichtung der Romanform an autobiographischen Erzählmustern aufgezeigt hat,65 handelt es sich hierbei um ein historisch bedingtes Ausnahmephänomen. Grundsätzlich rechnet K.-D. Müller jedoch die Autobiographie wie auch das Tagebuch zu den nicht-poetischen Zweckformen, zu denen weiterhin noch die Biographie, der Essay, die Reisebeschreibung und die Buchkritik gehören. Bei all diesen Formen sei »von einer Priorität der Gegenständlichkeit und der Zweckbestimmung gegenüber der Darstellung auszugehen«. 70 Doch neben der Dominanz des WAS und WOFÜR über das WIE der Darstellung wird auch das Fiktionalitätskriterium implizit als Differenzmerkmal für die literarischen Kunst- und Gebrauchsformen eingeführt: »im Unterschied zu den poetischen Gattungen sei das Verfahren der Zweckform nicht Gegenstandskonstituierung, sondern Gegenstandsobjektivierung«. 7 ' G. Niggl, der ebenfalls eine kenntnisreiche Untersuchung Differenzierung zwischen dem Verfasser als immanenten Erzähler (z. B. in der personalen oder auktorialen Erzählform) und als »Schöpfer einer fiktiven Welt«, inklusive der >Erzählfiktionen< (z. B. fiktiver Herausgeber, Rahmenerzähler etc.) hinaus (dies., 1 9 8 ; , S. 68f., vgl. auch S. 72), während im eigentlichen Untersuchungsteil der Arbeit fast ausschließlich inhaltliche, erzähltechnische Fragestellungen jedoch allenfalls am Rande berücksichtigende, Interpretationen vorgenommen werden. 68

S o z . B . M . Schüz (1963), S. 98 und S. 214, I. Aichinger (1977a), S. 813 G . N i g g l (1977), S. 1 5 3 .

69

K . - D . Müller (1976). Ders., S. 2 9 3 t Ders., S. 298.

70 71



und

zur »Geschichte der Autobiographie im 18. Jahrhundert« 7 * vorgelegt hat, ordnet dagegen die Autobiographie und mithin das Tagebuch den literarischen (Kunst-)Formen zu, unterscheidet jedoch grundsätzlich zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Gattungen. Z w e i Koordinaten werden gleichsam an den Gegenstandsbereich angelegt: Während auf der x-Achse zwischen den literarischen und nichtliterarischen Formen »Übergänge und Stufen« zu verzeichnen seien," wird auf der y-Achse kategorisch zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Gattungen unterschieden: Da nichtfiktionale Gattungen immer Zweck- und Gebrauchsformen sind, spielen bei ihnen - im Unterschied zu den meisten fiktionalen Gattungen - die außerliterarischen Bezüge, Intentionen und Zwecke eine konstitutive Rolle. 74 Wird die Autobiographie auf der Grundlage einer dichotomischen Konzeption der literarischen Gattungen entweder den Gebrauchs- 7 '

oder den

Kunstformen 7 6 zugerechnet, 77 so wird das Tagebuch überwiegend zu den 71

G . Niggl (1977). Ders. (1983), S. 306. 74 Ders., S. 307^ Allerdings stellt die direkt anschließende Beobachtung G . Niggls (ders., S. 308) eine Art argumentatives Eigentor dar: »Schon die Geschichte einer fiktionalen Gattung kann auf die Einordnung der allgemeinhistorischen Hintergründe und die Darstellung ihrer Impulswerte nicht verzichten. So könnten etwa der Aufstieg des Romans oder die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels ohne entsprechende Würdigung des sozialgeschichtlichen Wandels im 18. Jahrhundert nicht zureichend beschrieben werden. Um so nötiger, ja unerläßlich ist die Beachtung dieser textexternen Faktoren für die Geschichte einer Zweckform«. 7 ' R. Tarot (1985), S. 43. 76 M. Salzmann (1988), S. 9. 77 In der ersten Phase der Autobiographieforschung (vgl. hierzu den Forschungsbericht von G . Niggl (Hrsg.) 1989, S. 1—21) überwiegen geisteswissenschaftliche und kulturhistorische Erkenntnisinteressen, welche vor allem den funktionalen Aspekt der literarischen Kommunikationsmedien als (unmittelbare) Ausdrucksformen eines neuzeitlich-modernen Individualitätsbewußtseins betonen. Wenngleich bereits G. Misch (1907/49, S.4;) die Autobiographie als eine »eigene Literaturgattung« wertet und den Begriff der >Autobiographie< hinsichtlich ihrer Literarizität wertungsindifferent verwenden will (ders., S. 40), so stellt er ihr doch eine funktionale Bestimmung als »Mittel zur menschlichen Selbsterkenntnis« gegenüber (ders., S. 45). Das erste Plädoyer für ein Verständnis der Autobiographie als >Dichtung< läßt sich auf die zweite Forschungsphase der 50er Jahre datieren (R. Pascal, 1959, S. 156; m. E. auch W. Shumaker, 1954 und G . Gusdorf, 1956). Das Verständnis der Autobiographie als Kunstform (und damit zusammenhängend, deren Untersuchung mittels poetologischer Kriterien), das sich dagegen in der dritten Phase der Autobiographieforschung seit dem Ende der 60er Jahre immer mehr durchgesetzt hat (so bei S.A. Shapiro, 1968, H.R. Picard, 1978, M. Salzmann, 1988 u. a.), wird jedoch teilweise durch deflatorische Spitzfindigkeiten — [so grenzt I. Aichinger, 1970, S. i86f. die Autobiographie als »Sprachkunstwerk, das aber nicht alle Züge des Dichterischen aufweist«, von der »Dichtung« im eigentlichen Sinne einer »sprachkünstlerischen Gestaltung einer auto7)

51

literarischen Kunstformen gezählt.78 Allerdings weist bereits P. Boerner darauf hin, daß das Diarium aufgrund seines >Zwittercharakters< immer wieder »die Grenzen zwischen Gebrauchsliteratur und künstlerischer Gestaltung« überschreite:" Zwischen privaten und öffentlichen Tagebüchern, zwischen den als Zweckform konzipierten Erinnerungsjournalen und den »literarischen Tagebüchernnahsichtige< Tagebuch oft in Notizform der Fülle der aktuellen Einzelheiten (des Tages) gerecht werde, versuche die >weitsichtige< Autobiographie einen Zusammenhang des (Lebens-)Ganzen herzustellen. 8 ' Bei der Autobiographie und dem (Identitätsbildungs-)Roman werden als Abgrenzungskriterien einerseits die autobiographische Intention^ oder die Echtheit bzw. Fingiertheit des Aussagesubjekts'' und die Historizität der dargestellten Person genannt;'* andererseits als Unterscheidungsmerkmale zwischen der Autobiographie und dem (Ich- bzw. autobiographischen) Roman die (Namens-)Identität von Autor-Erzähler-Figur" als >Dreieinigkeit des autobiographischen Erzählens< (J. Kronsbein). Bereits L. Köhn merkt an,' 4 daß viele der von R. Pascal vorgenommenen Kennzeichnungen der Autobiographie, zu denen neben dem pragmatischem Kriterium der Verifizierbarkeit der Wahrheit der berichteten Ereignisse und dem poetologischen Kriterium der eingeschränkten Möglichkeiten polyperspektivischen Erzählens auch der Widerstreit zwischen Ich und Außenwelt und die Konstruktion eines Musters [pattern), das dem Leben unterlegt wird, gehören," auch 16

A . Gräser ( 1 9 ; ; ) , S. 124, K . G . Just (1966), S. 40 u. a. W . Grenzmann (1959), S. 85. 18 Ebd.; vgl. auch G . R . Hocke (1963), A n m . 1, S. 29^ und die beiden zusammenfassenden Forschungsberichte von P. Boerner (1969, S. 1—11) und I. Aichinger (1977a, S. 8o3f.). 8 ' W . Grenzmann (1959), S. 84f.; R. Pascal (i960, S. 13), der als einer der ersten die Autobiographie als Kunstform versteht, bestimmt das temporale Kriterium der retrospektiven Struktur als Differenzmerkmal zwischen der Autobiographie und dem Tagebuch, denn während sich dieses »mit der Zeit vorwärts« bewegt, blickt jene »von einem bestimmten Zeitpunkt aus auf ein Leben zurück«. Darüber hinaus gibt es innerhalb der Autobiographieforschung auch Versuche, das systematisch orientierte typologische mit einem diachronen Ordnungsraster zu verbinden: Während H.R. Picard (1978, S. 5 2 1 ; vgl. auch J . Kronsbein, 1984, S. 81) noch zwischen einer >traditionellen< und einer reflektierenden modernen< Autobiographie unterscheidet, sieht J . Lehmann (1983, S. 272—274; vgl. auch ders., 1988) auf der Grundlage des sprechakttheoretischen Paradigmas im Zeitraum v o m Anfang des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einen Wandel der autobiographischen Formen vom >Bekennen< über das >Erzählen< zum >BerichtenIchTextenmorgen war Weihnachten^,'6 die Verwendung von Verben der inneren Vorgänge in der 3. Person Singular'7 und das Vorkommen von erlebter Rede,'" leiteten sich aus dieser sprachlogischen Grundstruktur ab. Während die nicht-fiktive Wirklichkeits-Aussage einen Relationszusammenhang darstelle, in welchem ein »reales, echtes Aussagesubjekt« Aussagen über ein Objekt mache, beruhe die logische Struktur der Fiktion, welche als Funktionszusammenhang gekennzeichnet wird, nicht auf der Wirklichkeit bzw. Nicht-Wirklichkeit eines Aussageobjekts (z. B. beim Traum, der Phantasie oder Lüge),'' sondern auf der Nicht-Wirklichkeit des Aussagesubjekts. Trennt eine »unüberschreitbare G r e n z e « , e i n e " Dies., S. 274. 12 Als Ausnahme ist hier die Gattungspoetik R. Tarots (1970) zu nennen, welche — im Gegensatz zu K . Hamburger - zwar auch die Lyrik zur Fiktion zählt, die Dichotomisierung zwischen den Begriffen >fiktiv< (z. B. Bildungsroman) und >fingiert< (z. B. Autobiographie) jedoch übernimmt; vgl. hierzu auch H. MüllerMichaels (1987), S. 81 ff. '' Denn nur die Epik und Dramatik vermitteln — so K . Hamburger (1968, S. 12) — »das Erlebnis der Fiktion oder der Nicht-Wirklichkeit«, während dagegen die lyrische Dichtung ein Erlebnis der Wirklichkeit evoziert und die narrative IchForm nur ein Erlebnis von Nicht-Wirklichkeit bzw. Fiktion fingiert, d. h. vortäuscht. 14 Dies., S. 6of.; dagegen habe die Ich-Form als fingierte bzw. Quasi-Wirklichkeitsaussage »ihren Wesensursprung in der autobiographischen Ausagestruktur« (dies., S. 272). " K . Bühler (1934). ' 6 K . Hamburger (1968), S. 64ff. 17 Dies., S. 78ff. " Dies., S. 8off. 19 Dies., S. 49. Dies., S. 1 3 ; . 60

»schmale, aber unüberbrückbare Kluft«," die >Fiktion< (also z. B. den Bildungsroman in der Er-Form) von der >Wirklichkeitsaussage< (z. B. dem Tagebuch oder der Autobiographie in der Ich-Form), so besteht — so K . Hamburger - dagegen keine kategoriale Differenz, sondern nur ein Gradunterschied zwischen der autobiographischen Wirklichkeitsaussage und der fingierten Ich-Form des Romans: »Es gibt ein mehr oder weniger Quasi, aber es gibt kein mehr oder weniger fiktiv«." Aufgrund des fließenden Ubergangsverhältnisses zwischen der sogenannten >echten< autobiographischen Wirklichkeitsaussage und ihrem vermeintlichen fingierten romanhaften Äquivalent in der Ich-Form sei es jedoch im konkreten Einzelfall oftmals schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, ausschließlich mittels textinterner Kriterien, sondern vielmehr nur auf der Grundlage historischer Dokumente eindeutig zu entscheiden, ob es sich um eine Autobiographie oder einen Ich-Roman handele. 2 ' Grundlage der Fiktionsbestimmung K . Hamburgers ist ein Verständnis von Sprache nicht als Prozeß, sondern als verborgene Struktur, nicht als Mitteilung zwischen Menschen, sondern als Aussage über etwas." 1 Ein Verständnis von Sprache und speziell von Literatur als Prozeß dynamisiert dagegen die kategoriale Setzung eines >Entweder-Oder< zu einem pragmatischen Relationsverhältnis des >Sowohl-als-Auchnicht ernst< gemeint und dennoch bar jeglicher Täuschungsabsicht.' 6 Das entscheidende Merkmal einer literarischen Fiktion liegt damit in der illokutiven, d. h. kommunikativen Intention des Autors. Wie J.R. Searle, so geht auch J. Landwehr in seiner pragmatischen Texttheorie davon aus, daß die Fiktionalität literarischer Texte nicht textintern (durch die Verwendung einer bestimmten >poetischen< Sprache, einer bestimmten Aussageform oder Textstruktur), sondern nur textextern,' 7 mittels text- und rezeptionsabhängiger Merkmale,' 9 bestimmt werden könne. Die Autor-Intentionalität sei hingegen nur ein mögliches Konstituens der Fiktionalität unter anderen. Der »Grad an Wirklichkeit«, der einer bestimmten Kommunikationssituation zugesprochen werde, beruhe auf dem Konsens der Kommunikationsteilnehmer," also nicht allein der Intentionalität des Autors, sondern auch der des Rezipienten: Das fiktive bzw. fiktionalisierende Moment könne in der kommunikativen Rolle des Produzenten, des Rezipienten oder des Dargestellten liegen. 40 Und je größer der räumliche und/ ' 4 J . R . Searles (1975, S. 59) Differenzierung zwischen dem >LiteraturFiktionsintentionalen< Veränderungen der Kommunikationskonstituenten andererseits dar. Hierzu ist anzumerken, daß sich die intentionale Umdeutung oder Negation eines Seinsmodus stets vor dem Hintergrund einer zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, innerhalb einer bestimmten Gesellschaft bzw. sozialen Gruppe oder Teilfiguration geltenden Wirklichkeitskonvention und Realitätsnorm vollzieht. Korreliert ein Wandel der gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeitsauffassung mit einer Veränderung der Seinsmodi (d. h. der Einschätzung des Realen, Möglichen und Notwendigen) und einer Veränderung der Kommunikationskonstituenten (d. h. dem Verhältnis von Produzent, Rezipient zu den Kommunikationsgegenständen), so läßt sich das Phänomen des Fiktiven nicht ausschließlich über das Kriterium der individuellen Intentionalität bestimmen. Voraussetzung der >intentionalen< Veränderungen von Kommunikationskonstituenten sind stets die sogenannten »faktischen« Veränderungen, also z. B. die >Übertragungsdifferenz< zwischen Text-Produktion und Text-Rezeption; vgl. hier-

65

Als >real< können demgegenüber Gegenstände, Sachverhalte, aber auch Personen (Gottheiten etc.) bezeichnet werden, denen dieser Seinsmodus »aufgrund einer intersubjektiv akzeptierten, durch Konventionen und Sanktionen abgesicherten N o r m zuerkannt wird«. 47 Auf dieser Definitionsgrundlage führt J . Landwehr nun auch eine klare Differenzierung zwischen den Begriffen des Fiktiven und der Fiktion ein: Bezeichnet das >Fiktive< bzw. die >Fiktivierung< die intentionale Umdeutung von Gegenständen und Sachverhalten, so ist die >Fiktion< als deren »Verbalisierung oder andere Form der Kodierung« 4 ' bzw. Mediatisierung zu verstehen. Während die dargestellte Welt des literarischen Textes fiktiv ist, 4 ' läßt sich deren textuelle Versprachlichung bzw. Mediatisierung als >fiktional< bezeichnen.'" Fiktionalität ist — so J . Landwehr — kein Differenzmerkmal literarischer Texte, sondern vielmehr eine Art von Teil- bzw. Untermenge der pragmatischen und ästhetischen Kommunikation und somit auch »in jeder Kommunikationssituation potentiell aktualisierbar«.' 1

a)

Konstituenten der fiktionalen Kommunikation

Innerhalb des kommunikationstheoretischen Paradigmas lassen sich die folgenden textexternen Konstituenten als bedingende Faktoren einer fiktionalen Kommunikationssituation bestimmen: i. Eine geographisch, historisch, gesellschaftlich, institutionell, situativ und individuell variierende Wirklichkeitsauffassung.'' z. Die relative Entpragmatisierung der Kommunikationssituation: Zur Bereitschaft der Einnahme einer spezifisch ästhetischen Einstellung, beispielsweise als Selbst-Fiktivierung bei der Lektüre eines Textes, bedarf es bestimmter entpragmatisierender Rahmenbedingungen (wie z. B. fehzu auch S.J. Schmidt (1980, S. 554): »Descriptions, assertions, objects or states of affair are not fictional themselves but they are judged or declared to be fictional by people according to the relation o f their cognitive representation o f the objects to their W M o [ = »ortho-world-model«, d. V.] at the time o f that declaration«. 47

Vgl. H. Grabes (1977), S. 66.

J . Landwehr (1975), S. 35 und S. 185; vgl. auch R. Harweg (1979b), S. 3 5 ; . Aus der Außenperspektive des Literaturwissenschaftlers versteht sich, nicht aus der Innenperspektive der fiktiven Figuren oder des sich temporär fiktivierenden Rezipienten; zu diesen Unterscheidungen vgl. R. Harweg (1979a). Der fiktionale Text ist also gleichsam ein Binde- oder Zwischenglied zwischen der fiktiven textinternen Welt und der textexternen nicht-fiktiven Welt; vgl. R. Harweg ('979 a )> s - " 9 " J . Landwehr, S. 181. | ! Vgl. hierzu auch S . J . Schmidt (1980, S. 527): »It is obvious, in my opinion, that any concept o f fictionality is fundamentally determined by the presupposed concepts o f reality, world or the like« und U. E c o (1990, S. 166): »Innerhalb einer konstruktivistischen Annäherung an die möglichen Welten muß auch die sogenannte >reale< Bezugswelt als ein kulturelles Gebilde verstanden werden«.

48

49

66

lende Sanktionen, keine direkten Handlungsanweisungen etc.), d. h. eine relative Folge- und Konsequenzlosigkeit hinsichtlich der unmittelbaren lebensweltlichen Zusammenhänge. 3. Die Gattungskonvention: Der Vorsatz, einen Roman oder eine Biographie zu schreiben, wirkt sich sowohl auf die Wahl einer bestimmten Gattungsform, als auch auf die Textstruktur und, über die analytische Textebene des >impliziten Lesers< (W. Iser) bzw. >Modell-Lesers< (U. Eco)," auf die Rezeptionserwartung und mithin Rezeptionseinstellung aus. Entscheidend ist bei dem pragmatisch variablen Autor-Leser-Kontrakt das jeweilige gattungsspezifische Zusammenspiel von realitäts- bzw. fiktionsbehauptendem Anspruch und den textinternen Relationierungen. 4. Die Rezeptionserwartung bzw. -haltung gilt (zumindest innerhalb des pragmatischen Paradigmas) als das entscheidende Moment der fiktionalen Kommunikationssituation.' 4 In das Verständnis eines literarischen Textes als fiktional gehen neben dem Faktor der sogenannten diachronischen und diatopischen Übertragungsdifferenz" zwischen dem Wirklichkeits- und Fiktionsverständnis des Produzenten und des Rezipienten und den rezeptionsleitenden Fiktionsindikatoren (beispielsweise des Autornamens und der Gattungsbezeichnung), auch die Lesererfahrung bzw. die kommunikative Kompetenz des Rezipienten ein.

b)

Fiktionsindikatoren

In einem engen Zusammenhang mit diesen Konstituenten eines fiktionalen Textes bzw. einer fiktionalen Kommunikationssituation stehen die folgenden kontextuellen Fiktionsindikatoren. Bei all diesen Merkmalen mit fiktiver Signalwirkung handelt es sich weder um notwendige, noch um hinreichende Bedingungen der fiktionalen Kommunikation, sondern allein um Indikatoren, die (unter bestimmten Voraussetzungen) das Rezeptionsverhalten lenken können.' 6 Es lassen sich folgende Fiktionsindikatoren unterscheiden:" " Vgl. hierzu W. Iser (1972) und U. Eco (1990), S. 79f.: »An dieser Stelle werden wir uns auf die Schlußfolgerung beschränken, daß ein Modell-Autor als Interpretationshypothese vorliegt, wenn dabei das Subjekt einer Textstrategie, die aus dem zu untersuchenden Text sichtbar wird, eine Konfiguration [mit dem >Modell-LeserWerther< in Moritz >Anton Reisen) innerhalb fiktionaler Texte und deren textexternen Äquivalenten gesprochen werden. 2. Die kommunikative Doppelstruktur Die fiktionale Doppelstruktur der internen und externen Kommunikationssituationen74 läßt sich als Verdoppelung der Rollen des Produzenten, des Rezipienten und der Kommunikationsgegenstände kennzeichnen. 7 ' S o wird zum Beispiel mit der Einführung eines fiktiven Erzähler-Ich, d. h. der A u f -

6

' V g l . G . Gabriel (1975). ° Hiermit eng verbunden ist das Merkmal der >Wirklichkeitsindifferenz< fiktionaler Texte und mithin der fehlende Anspruch auf Überprüfbarkeit seitens des Rezipienten. Innerhalb der entpragmatisierten Kommunikationssituation steht die Polyvalenz fiktionaler Texte in einer Korrelation zu der Polyinterpretierbarkeit (vgl. S.J. Schmidt, 1972, S. 66 und A . Assmann, 1980, S. 12) oder auch Polyfunktionalität auf der Rezipientenseite. 7 ' R . Harweg (1979a), Anm. 1, S. 1 1 2 . 72 R . Harweg (1979b) S. 360. 75 Es handelt sich hierbei um fiktionale Texte zweiten Grades; vgl. R. Harweg

7

74

71



( 1 9 7 9 ) . s - 346. K . Stierle (1975a), S. 357; vgl. hierzu auch R. Harwegs (1979a, Anm . 1 , S. 1 1 2 ) textlinguistisches Modell, das von einer »Verdoppelung der für nichtfiktionale Texte gültigen Kommunikationsstruktur« ausgeht. K . Stierle (1975c), S. io2f. Die Argumentation K . Kasics' (1990), der über eine allgemeine Darstellung der Fiktionalitätsdebatte und eine Unterscheidung zwischen den >Akten der Fiktionalisierung< auf der Produktionsseite und den >Akten der Fiktivierung< auf der Rezeptionsseite nicht hinausgelangt, vermag dagegen nicht zu überzeugen. Demnach konserviert die »schematische Duplikation« einer textintern-fiktiven und einer textextern-realen Kommunikationsstruktur »die vermeintliche Dichotomie von Fiktivem und Realem, mithin die taditionelle Autonomie-These« (ders., S. 18; vgl. auch S. 228). Dieser wird allerdings in einem nächsten Schritt wiederum eine »Dualitätsstruktur« entgegengesetzt: »Die durch die kommunikativen Akte der Fiktionalisierung und Fiktivierung konstituierte Dualität von Innenwelt und Außenwelt kann allgemein als charakteristisches Strukturmoment, als strukturelles Kennzeichen literarischer Texte beschrieben werden« (ders., S. 56).

Spaltung des externen Textproduzenten in eine oder mehrere textinterne Figuren, eine Fiktivierung der gesamten Kommunikationssituation erzielt. Ebenso kann es durch die explizite Ausgestaltung einer fiktiven Leserfigur, an welche sich der fiktive Herausgeber oder der fiktive Erzähler wendet, zu einer Verdoppelung der Rezipientenrolle auf der textexternen und -internen Kommunikationsebene kommen. Nach R. Warning vollzieht sich dieses Rollenspiel zwischen Autor und Lesern auf zweifacher Grundlage: Zum einen besteht bei der fiktionalen Kommunikation eine Simultaneität von interner Sprechsituation und externer Rezeptionssituation (mit deren jeweiligen deiktischen Systemen). 76 Zum anderen läßt sich die kommunikative Funktion eines gleichsam spielerischen Als-Ob-Handelns als Merkmal des >inszenierten Diskurses< angeben. Auch R. Warning kennzeichnet den literarischen Text innerhalb des handlungstheoretischen Paradigmas als Sprechakt bzw. Diskurs-Handlung, 77 unterscheidet aber deutlicher als beispielsweise K. Stierle7" zwischen dem fiktionalen und dem ästhetischen Diskurs. Fiktionalität wird hier definiert als eine Diskurskomponente (unter anderen), welche den ästhetischen und/ oder pragmatischen Diskurs als fiktive Sprechhandlung qualifiziert. Sie ist das »Ergebnis einer je historischen Situationsdefinition« 79 und als Kontrakt zwischen Autor und Leser Bestandteil der betreffenden Gattungskonvention. Innerhalb der hier entwickelten Bestimmung der Fiktionalität literarischer Texte auf der Grundlage einer referentiellen und kommunikativen Doppelstrukturiertheit soll keine Gleichsetzung des fiktionalen mit dem literarischen Text vorgenommen werden. Das Fiktive ist als eine Komponente des literarischen Textes zu verstehen, ohne daß eine Identitätsbeziehung zwischen beiden Dimensionen notwendig vorliegen muß. Weiterhin stellt das Fiktive kein Differenzmerkmal der Literatur gegenüber anderen lebensweltlichen Kommunikationssituationen dar. Bestimmt sich das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit in je verschiedenen kulturellen, gesellschaftlichen, institutionellen und situativen Kontexten wechselseitig, 1 ' so verändert ein sich wandelndes Wirklichkeitsverständnis auch die Produktion und/ oder Rezeption eines (literarischen) Textes als primär referentiell oder fiktional. Die Schwierigkeiten einer Abgrenzung des Fiktionalitäts- und Li76

R. Warning (1983), S. 193. Ders., S. 185. 7 ' K . Stierle (1975c, S. 110) u. ders. (1979, S. 107) vermeidet eine klare Differenzierung zwischen >Literarisierung< bzw. >Ästhetisierung< und >Fiktionalisierung< und läßt diese beiden Begriffe ineinander übergehen; vgl. auch H.R. Jauß (1984, S. 325). 79 R. Warning (1983), S. 191. Ders., S. 194. " Vgl. H.U. Gumbrecht (1983b), S. 433. 77

71

teraturbegriffes leiten sich aus dem weitgehenden Annäherungsprozeß bzw. der Vergrößerung einer gemeinsamen Schnittmenge zwischen diesen beiden Bereichen im Übergang von der Neuzeit zur Moderne ab:'" Im Verlauf der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wirklichkeitsbereiche werden die literarischen Figurationen zu den bevorzugten Medien des Fiktiven. Komplementär zu diesem Prozeß läßt sich — zumindest für den deutschen Sprachraum seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts — eine steigende Komplexität der narrativen Strukturen beobachten.8' Diese beiden Aspekte werden von mir in der These vom steigenden Fiktionalitätsgrad zusammengeführt. Diese lautet, daß sich die Fiktionalität als Relation zwischen der Fiktivierung von Kommunikationskonstituenten und dem Grad der Komplexität und Perspektivität der narrativen Strukturen bei dem Tagebuch, der Autobiographie und dem (Identitäts-)Bildungsroman als aufsteigende Verlaufskurve zwischen den Polen >Authentizität< und >Stilisierung< begründen läßt.

4.

Analysekriterien

Auf der Grundlage des pragmatischen Fiktionsmodells, d. h. unter der Annahme einer referentiellen und kommunikativen Verdoppelung der fiktionalen Kommunikationssituation, wird es möglich, die Struktur der Fiktionalität, welche die literarischen Selbstdarstellungs- und Kommunikationsmedien Tagebuch, Autobiographie und des Identitätsbildungsroman auf einer aufsteigenden Komplexitätslinie miteinander verbindet, anhand der temporalen und subjektfigurativen Verflechtungsstrukturen zu untersuchen. a)

Die narrative Verflechtung der Temporalstrukturen

Das von K . Stierle entwickelte Strukturmodell narrativer Texte,84 welches zwischen den Ebenen >GeschehenGeschichte< und >Diskurs< bzw. >Text der Geschichte< unterscheidet, macht es möglich, sowohl die Faktizität des Dargestellten (als Lebenslauf), als auch die gesellschaftlich-kulturellen Schemata (z. B. Individualitätskonzepte), welche in die Ebene der Geschichte (Biographie)8' eingehen, und die Mediatisierung des Erzählten auf der Ebene des >Textes der Geschichte< (Fiktion) zu unterscheiden:

81

Ders., S. 436. > Vgl. K . Stierle (1975c!), S. 362. 84 Ders. (1976), S. 15; vgl. auch ders. (1975b). 8 ' Z u r Unterscheidung zwischen >Lebenslauf< und >Biographie< vgl. A. Hahn (1988), S. 93ff. 8

72

Figurationsmodell diarischer und (auto-)biographischer Texte (im Längsschnitt): Geschehen (>LebenslaufBiographieGeschichte< (Biographie) vollzieht sich zum einen die Selektion und Kombination des Erzählten. So sind beispielsweise die frühen Kindheitserfahrungen f ü r den Identitätsbildungsprozeß des menschlichen Individuums innerhalb des Untersuchungszeitraums um 1800 ein neuartiges Denk- und somit auch Erzählmuster. Die Relevanzstruktur der jeweiligen Menschenbilder und das kulturell, historisch und gesellschaftlich bedingte Wirklichkeitsverständnis als lebensweltlicher Sinn- und Interpretationszusammenhang findet auf der A c h s e der Kombination wiederum A u s d r u c k in der A r t und Weise der horizontalen Verknüpfung der erzählten Erlebnis-, Entwicklungs- und Identitätsbildungsgeschichten als dominante narrative »Fügungs- und Verkettungsmuster«. 8 8 Z u m anderen erfolgt auf der E b e n e der >Geschichte< (bzw. des Erzählens) die Funktionalisierung der >GeschehensKonzeptGeschichte< als Ebene der Selektion und Kombination des Erzählten konstruiert einen (temporalen) Zusammenhang zwischen dem Anfangs- und Endpunkt des Erzählten. ' 7 Die >Vertextung< der diarischen bzw. (auto-)biographischen >Geschichte< wird nur unter der Voraussetzung einer referentiellen und kommunikativen Doppelstrukturiertheit als >Fiktion< gekennzeichnet, welche a) die Versprachlichung, Vertextung bzw. Mediatisierung des Erzählens durch narrative Subjektfigurationen und Temporalstrukturen und b) die Perspektivierung des Erzählens leistet. 88 Vgl. M. Voges (1987), S. 242: »Der Nexus der erzählten Welt kann von Zufall und Notwendigkeit, von Kausalität und psychologischer Wahrscheinlichkeit oder von providentieller Lenkung bestimmt sein. E r steht in engem Zusammenhang mit epochenspezifisch dominanten geschichtsphilosophischen Grundmustern, die sich nun allerdings nicht allein aus dem Arrangement der erzählten Welt ablesen lassen, sondern ebenso in der Erzählweise und den Erzählformen selbst zum Ausdruck kommen«; vgl. zu diesem Problemkreis auch die (Goethe-)Studie von G . Röder (1968).

73

menhang des Erzählten als temporale Kohärenzstruktur konstituiert wird. Bestimmte bereits Gotthold Ephraim Lessing im >Laokooninszenierten Diskurses< (R. Warning) erfolgt. Auf diese Weise ließe sich die Anrede an die >geneigte LeserinVorher< und >Nachher< und kann darüber hinaus durchaus mit einem Namenswechsel einhergehen; vgl. hierzu jedoch die differenzierteren Ausführungen P. Lejeunes zu dem Phänomen der >Autobiography in the Third Personimpliziten Autors< und >impliziten Lesers< handelt es sich um eine rein analytische bzw. texttheoretische Analyseebene, die sich weder in der textexternen Kommunikation zwischen einem historisch-konkreten Autor und Leser, noch auf der textinternen Kommunikationsebene der explizierten fiktiven Erzäh79

Figurationsmodell diarischer und (auto-)biographischer Texte (im Querschnitt): Gattungskonventionen Kl =fiktivetextexterne Kommunikationsebene

ler- und Leserrollen nachweisen läßt. Das Konzept des >impliziten Lesers< als Textstruktur bezeichnet im Anschluß an die rezeptionsästhetischen bzw. wirkungstheoretischen Überlegungen W. Isers »die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet« (W. Iser, 1984, S. 6off.; vgl. auch ders., 1972, S. 8f.). Der analytische Gegenpol des >impliziten Lesersimplizite AutorModell-Autor< und >Modell-Leser< als »zwei Arten von Textstrategien«: Demnach »formuliert der empirische Autor einen hypothetischen Modell-Leser und - indem er diese Hyphothese in seine eigne Strategie übersetzt kennzeichnet sich dabei selbst als Subjekt der Äußerung, ebenfalls in strategischen Begriffen und zugleich als eine Art textueller Operation. Doch auf der anderen Seite muß auch der empirische Leser — als konkretes Subjekt der verschiedenen Akte der Mitarbeit — einen hypothetischen Autor entwerfen, den er aus eben den Daten der Textstrategie deduziert«. 80

flechtung der Subjektfigurationen (Ki—Kn) und der Komplexität der Temporalstrukturen (Ti—Tn) kann ein korrelativer, wenn nicht sogar bedingender Zusammenhang angenommen werden. 1 " O b sich eine Abgrenzung zwischen dem Tagebuch und der Autobiographie vor dem Hintergrund der Realisation und jeweiligen Balance- und Dominanzverhältnisse zwischen den Kommunikationsebenen K 3 und K 4 vornehmen läßt, bleibt allerdings der eingehenderen Textanalyse vorbehalten. Im folgenden (Kapitel V bis VIII) ist für den Untersuchungszeitraum um 1800 anhand eines exemplarischen Textkorpus zu überprüfen, ob die These von der gemeinsamen Fiktionalitätsstruktur des Tagebuchs, der Autobiographie und des Bildungsromans als sich nur graduell unterscheidende Komplexität und Mediatisierung der Selbstbilder und Identitätsbildungsgeschichten mit Hilfe der oben explizierten Analysekriterien auf der textinternen Kommunikationsebene bestätigt werden kann.

' " Verdeutlichen läßt sich diese Beobachtung beispielsweise anhand der autobiographischen Textbeispiele, bei denen trotz der formalen Identität der Ich-Erzählform, unter der Prämisse eines fiktionalen Rollenspiels auf mehreren Ebenen, von einer strukturellen Differenz zwischen dem erzählten Ich auf der Kommunikationsebene K 4 und dem erzählenden Ich auf den Kommunikationsebenen K j und K i gesprochen werden kann. Durch phasenweise Fokussierungen der Erzähl-Ebene ( K 5 ) oder Handlungs-Ebene (K4), welche sich u. a. an dem Wechsel szenisch-dialogischer Partien, der autoreflexiven Erzählerrede, oder auch an den Arten und Formen der erlebten bzw. indirekten Rede festmachen lassen, ergeben sich weitere Verschiebungen und Verdichtungen der Temporalstruktur.

81

V.

Jean-Jacques Rousseau ( 1 7 1 2 — 1 7 7 8 )

1.

Die Einheit des Ich und die Vielzahl der Stimmen: >Les Confessions< (1770/1) Der Schritt vom Wirklichen %um Möglichen scheint mir gut sein. (CS,154 = P,III,426)

Mit den Schriften Jean-Jacques Rousseaus, vor allem jedoch mit seiner Autobiographie, läßt sich der Beginn der Moderne1 bzw. des modernen menschlichen Selbstverständnisses datieren. Der Wahnsinnige im Zeitalter der Vernunft' schreit ganz laut >ichConfessionsIch< wechselt die Narration vom Erzählerdiskurs ( K j ) auf die Ebene der Handlung (K4) und setzt den Anfang dieser einzigartigen Geschichte, die zugleich die Geschichte einer Einzigartigkeit ist, setzt den Anfang dieser (Lebens-)>Geschichte< — unter Nennung der Zeit- und Ortsangaben, des Namens des Vaters und der Mutter - mit der Geburt des erzählten Ich an: Ich bin in Genf dem Bürger Isaak Rousseau und der Bürgerin Susanna Bernard im Jahre 1 7 1 2 geboren worden. (BK,I,38 = P,I,j)

1

Vgl. hierzu F . A . Kittler (1977), S. 9, H.-R. Jauß (1983b), S. ioof. u. a. ' Vgl. hierzu J . - J . Rousseau, >Le Persiffleur< (1749) (P,I,i 110): »Zum Beispiel gibt es bei mir zwei besonders vorherrschende Züge, welche sich ziemlich konstant alle acht Tage ablösen und die ich meine Wochenseelen nenne: kraft der einen bin ich vernünftig wahnsinnig, kraft der anderen wahnsinnig vernünftig, allerdings so, daß in beiden Fällen der Wahnsinn stärker ist als die Vernunft, hat er doch besonders deutlich in der Woche die Überhand, da ich mich vernünftig heiße«; zitiert nach der Übersetzung v. U. Raulff in: J . Starobinski (1971), S. 82. 3

82

Nach der Pleiade-Ausgabe; im Gegensatz zum Deutschen wird im Französischen zwischen dem >je< (>ichmoi< (Ich) als Bezeichnung für die Instanz des Ich unterschieden.

Es folgt eine romantisch verklärte und idealisierte Darstellung der märchenhaften Trennung der beiden Liebenden und ihrer ( W i e d e r v e r e i n i gung. Doch die folgenden Nennungen des >Ich< als Wiederaufnahme des Geburtsthemas fallen mit dem Ende dieser Liebesgeschichte zusammen: Ich ward die traurige Frucht dieser Rückkehr. Nach zehn Monaten wurde ich krank und schwächlich geboren, kostete meiner Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück. ( B K , I , J 9 = P,I,7)

Dieses >Ich< ist mit seiner Geburt schuldlos schuldig geworden. Es ist die Paradoxie des modernen Menschen als origine (und original) des Lebens und seiner >GeschichteEmileContrat SocialLes ConfessionsDiscoursDiscours sur l'Origine de l'Inégalité parmi les Hommes< (175 5). Ders., >Émile ou de l'Éducation< (1762). 7 Ders., >Le Contrat Social< (1762). * Ders., >Les Confessions< (1770/1). ' Vgl. zu Beginn des >ÉmileRêveries< (R,66; = P , I , i o i 4 f . ) . " V o n seinen zweiundvierzig »Hemden aus dem schönsten Linnen« trennte sich Rousseau allerdings nur unfreiwillig; sie wurden nach dem Waschen aus dem Trockenraum gestohlen ( B K , V I I I , 5 i i = P,I,364). 1

6

" Vgl. in den >Confessions< (BK,IX,J64 = P,1,403) und in den >Lettres à Malesherbes< (1962): »Ich habe erst am 9. April 1756 zu leben angefangen« (HR,1,486 = P,1,1138). 84

Die Decke, unter der ich atme, hat A u g e n , und die Mauern, die mich umgeben, haben Ohren. Von Spionen und wachsamen, übelwollenden Aufpassern umgeben, kann ich nur ängstlich und zerstreut in aller Hast ein paar unterbrochene Worte aufs Papier werfen, und kaum bleibt mir die Zeit, sie noch einmal durchzulesen, geschweige denn, irgend etwas daran zu verbessern. ( B K , V I I , 3 9 6 = P,1,279)

Es ist dies der Ort des erzählenden Ich auf der textintemen (K3) und textexternen ( K i ) Kommunikationsebene, der bis zum Lebensende nicht abreißende Versuch, die Identität dieses Ich, dessen Einheit, die Einheit seines Werkes und die Einheit von Autor und Werk,' 3 in der autobiographischen Vertextung zu beglaubigen. Doch diese Zirkelstruktur einer endlosen Selbstaussage — als >ConfessionsDialoguesDiscours sur l'Origine et les Fondements de l'Inégalité parmi les Hommes< (1755) mit den folgenden Worten: Die Kenntnis des Menschen hat unter allen seinen Wissenschaften den größten Nutzen und scheint mir doch am wenigsten ausgearbeitet. (II.) Ich unterstehe mich zu behaupten, daß die größten moralischen Bücher kein so wichtiges und schweres Gebot enthalten wie die Aufschrift auf dem Tempel zu Delphi. (HR,I,i8i = P,III,122)

In dem Briefroman >Julie ou La Nouvelle Héloïse< (1761), welcher bei den Zeitgenossen entschieden besser reüssierte als die zivilisationstheoretischen, pädagogischen und politischen Schriften und den Grundstein des Rousseau-Kults legte, schreibt die fiktive Figur Saint-Preux: Meine Absicht ist es, den Menschen kennenzulernen, und meine Methode die, ihn in seinen verschiednen Verhältnissen zu untersuchen. (NH,II,249 = P,11/1,242)

Im IV. Buch des >Emile ou de l'Education< (1762) sagt der savoyische Vikar in seinem Glaubensbekenntnis (>Profession de FoiRousseau J u g e de Jean-Jacques< ( 1 7 7 2 - 6 ) rechtfertigt der fiktive Gesprächspartner >Le FrançoisJean-JacquesRêveries du Promeneur Solitaire< (1776—8) endlich, Rousseaus letztem, diarischen Text, welche den endlosen Versuch einer autobiographischen Vertextung mit dem Tod des Autors beendet," klingt das G e b o t des siècle des lumières, das Popesche Motto: »The proper study of mankind is man«., noch einmal an: Das >Erkenne dich selbst!< des Tempels zu Delphi [ist] keine so leicht zu befolgende Maxime [...], wie ich in meinen >Bekenntnissen< geglaubt hatte. (R,674 = P,1,1024) Seit der >IlluminationRêveries< arbeitete, stets mit sich trug, um seine Träumereien und Reflexionen >unmittelbarLettres à Malesherbes< (1764) (HR,I,485f. = P,I,ii55f.), in den >Confessions< (1770/1) (BK,VIII,493f. = P,I,3jof.), in den >Dialogues< (1772—6) (0,448 = P,I,828f.) und in den >Rêveries< (1776-8) (R,66; = P,I,ioi4f.). 88

den psycho- und soziogenetischen Prozessen, und hieraus folgend, einer Analogie zwischen der menschlichen Selbsterkenntnis und der Menschenkenntnis (auf der synchronen und diachronen Ebene) als methodologisches Grundaxiom gesetzt und danach nur noch in Thema und Form variiert. Die Frage nach dem inneren, dem wahren Ich (vrai mot) verbindet sich mit der Frage nach dem ursprünglichen, dem natürlichen Menschen (homme naturel) und nach der wahren, der politisch legitimen Gesellschaft: Unser süßestes Dasein ist relativ und kollektiv, und unser wahres Ich (notre vrai moi) ist nicht ganz in uns (n'est pas tout entier en nous). (HR,II,429 = P,I,813) Rousseau als »der Mensch der Verdoppelung und der Differenz«' 4 nimmt sowohl auf der diachronen Ebene der Menschheitsgeschichte als auch innerhalb des menschlichen Individuums eine existentielle Spaltung an: Der Mensch ist kein einfaches Wesen, er besteht aus zwei Substanzen (L'homme n'est pas un être simple; il est composé de deux substances). (P.IV^ö)'' A u c h hier begründet die menschliche Selbsterkenntnis die Kenntnis der menschlichen Natur, das Glaubensbekenntnis (>Profession de Foi du Vicaire SavoyardEmileDiscours< durchgeführt, resultiert auch die Doppelheit von dessen Hauptingredienz, der Selbstliebe (amour de soi)-. Denn auch diese sei, so Rousseau in einem Brief vom 6. 2. 1 7 6 3 an seinen Kontrahenten, den Erzbischof von Paris, Christophe de Beaumont, keine einfache Leidenschaft, sondern sie hat zwei Gründe, das verständige (l'être intelligent) und das empfindsame Wesen {l'être sensitif), deren Wohlsein sehr verschieden ist. Der sinnliche Trieb (/appétit des sens) strebt nach dem Wohlsein des 14 2

C. Salomon-Bayet (1974), S. 143. ' J . - J . Rousseau, >Brief an Beaumont< (1763); zit. nach (HR,1,509). 89

Körpers, und die Liebe zur Ordnung {Tamottr de Fordre) nach dem Wohl der Seele. Letzterer Trieb, wenn er entwickelt ist und tätig wird, erhält den Namen Gewissen (consciente), allein das Gewissen entwickelt sich und wird nicht eher tätig als mit den Einsichten des Menschen (lumieres de thomme). (HR,1,509 = P,IV,956)

Allerdings geht das Menschenbild Rousseaus über die Kartesianische Zweiteilung von res cogitans und res extensa hinaus, indem die methodologische Überwindung des Zweifels nicht über das cogito, ergo sum, sondern durch die Evidenz des Herzens (sentiment propre de mon existence) vollzogen wird: Existieren heißt für uns: empfinden. Unsere Empfindsamkeit geht unserer Intelligenz voraus, und wir haben Gefühle gehabt, ehe wir Vorstellungen haben. (E,IV,305 = P,I,6oo)

Besser gesagt, der rationalistische Zweifel wird weder überwunden, noch aufgehoben, sondern als dialektisches Moment der Aufklärung in Frage gestellt, da Rousseau von einer Zweiteilung der Vernunft in eine >gute< Vernunft ( r e f l e x i ó n ) , welche die göttliche, d. i. natürliche Ordnung erkennt, und eine >böseInnen< und >Außengutenschlechter< Vernunft, gesprochen. Vgl. E. Linsen (1986,47), der von der »Rousseauschen Triade (>coeurcorpscerveauEntwederOder< der zeitgenössischen Diskussion um das Menschen- und Weltbild des Rationalismus vs. Materialismus der V e r n u n f t - und sprachlose Ur-Mensch präsentiert, welcher einsam durch die Wälder irrt und Früchte sammelt, 18 ausgestattet allein mit einem Potential, der perfectibilité als Vermögen der menschlichen Vervollkommnung, welche ihn v o m Tier unterscheidet. Dieser Naturmensch (homme naturel) als vollkommen unabhängiges und autarkes absolutes Wesen (être absolu) — dessen Renaissance Rousseau im übrigen weder erwünscht noch für möglich hält 2 ' - wird v o n zwei G r u n d prinzipien bewegt: der Selbstliebe (amour de soi), als ursprünglicher Instinkt der Selbsterhaltung, und dem Mitleid (commisération), als A b n e i g u n g seines-

®8 Entgegen dem Hobbeschen Credo >homo homini lupus est< ist der Mensch bei Rousseau — unter Berufung auf Buffons histoire naturelle — aufgrund der Beschaffenheit seines Gebisses ein »pflanzenfressendes Tier«; s. hierzu Rousseaus Anmerkung zum 2. Discours in (HR,I,27of.). 29 Voltaire quittiert die Zusendung des 2. Discours durch Rousseau am 30. August 1755 mit den folgenden Worten: »Je reçu, Monsieur, votre nouveau livre contre le genre humain; je vous en remercie [...]. O n n'a jamais tant employé d'esprit à vouloir nous rendre bêtes. Il prend envie de marcher à quatre pattes quand on lit votre ouvrage. Cependent comme il y a plus de soixante ans que j'en ai perdu l'habitude, je sens malheureusement qu'il m'est impossible de la reprendre. E t je laisse cette allure naturelle à ceux qui en sont plus dignes que vous et moi« (Voltaire, Correspondance, Bd. I V , ed. T. Besterman, Paris 1978, S. 539); — Rousseau tritt schon zu Lebzeiten gegen die ihm fälschlicherweise zugesprochene Autorschaft des vielzitierten Mottos >Zurück zur Naturk in den Anmerkungen zum 2. Discours an: »Wird man die Gesellschaften zerstören, das Mein und Dein aufheben und wieder in die Wälder zurückkehren müssen, um dort mit den Bären zusammenzuleben? Dies ist eine Folgerung, die vielleicht meine Gegner werden ziehen wollen. Ich will ihr ebenso gern zuvorkommen wie ihnen die Schande lassen, diese gezogen zu haben. O ihr, die ihr die göttliche Stimme niemals vernommen habt [...], es liegt nur an euch: sucht die Wälder auf, um dort die Laster eurer Zeitgenossen aus den Augen und aus dem Andenken zu verlieren, fürchtet euch nicht, das menschliche Geschlecht zu entehren, wenn ihr seinen Einsichten entsagt, um zugleich seinen Lastern zu entsagen. Was aber die Menschen meinesgleichen betrifft [...]. Sie werden die heiligen Bande der Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind, hochschätzen, sie werden ihren Nächsten lieben und ihm, soviel in ihrer Macht steht, dienen, sie werden die Gesetze gewissenhaft beobachten und denjenigen, die sie gegeben haben und die sie verwalten, Gehorsam leisten, sie werden vornehmlich die guten und weisen Fürsten verehren [...] und dadurch ihren Eifer anfeuern, aber sie werden dessenungeachtet eine Verfassung verachten, die nicht anders erhalten werden kann als vermittels so vieler ehrwürdiger Leute, die man öfter wünscht, als man sie findet« (HR,I,282f. = P,III,207f.).

91

gleichen zu töten.3" Doch dieses individuelle Strukturmodell des Naturmenschen in der ersten Phase der präzivilisatorischen Entwicklung stellt keine historische Invariante dar: Die Ur-Monas ist nicht fensterlos. Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Anforderungen der äußeren Realität kommt es zum Schutz vor wilden Tieren und Naturkatastrophen (z. B. Waldbränden) zum Zusammenschluß mehrerer Menschen innerhalb kleinerer, aus Jägern und Fischern bestehender Verbände. Bis das >Goldene Zeitalten der Hirten (barbars) als dritte und letzte Phase des Naturzustandes erreicht ist, verändern sich nicht nur die Formen und die Intensität der interindividuellen Figurationen, sondern auch die intraindividuelle Strukturierung des Menschen: Mit der Entwicklung des menschlichen Denk- und Sprechvermögens, der sich vergrößernden Brennweite der Imagination (als Voraussetzung der Empathie) und der Entfaltung der zwei Vernunftprinzipien ( r é f l e x i o n und raison), welche mit der zunehmenden Komplexität und Größe der menschlichen (Zweck-)Gemeinschaften einhergehen, verfeinert sich zunehmend der >Mitleids-Trieb< der commisération. Doch auch hier steckt unter der Rose der Dorn, denn die von Rousseau positiv bewertete Entwicklung der einen Substanz geht einher mit der Degeneration der anderen: Die Selbstliebe (amour de sot) entwickelt sich unter dem Einfluß des instrumentellen Vernunftprinzips der raison zusehends zur Selbstsucht des Menschen, zum Egoismus 3 ' (amour propre). Geht Rousseau innerhalb des Rokoko-Idylls des >Goldenen Zeitalters< noch von einer Balance, einem mittleren Zustand von amour de soi (Selbstliebe) und amour propre (Egoismus) aus, so gewinnt mit dem Austritt des Menschen aus dem Naturzustand (als menschheitsgeschichtlicher Sündenfall) entweder das egoistische Prinzip die Oberhand, d. h. im Falle des Vertrages, den die Reichen (riches) zu ihren eigenen Gunsten vorschlagen, oder aber es erfolgt, im Falle des Gesellschaftsvertrages (contrat social) im Idealfall eine Steigerung zur Tugend (vertu) bzw. — als pragmatische Ersatzvariante - zum Patriotismus (patriotism). JO

31

92

I. Fetscher (1980, S. 4if. und S. 77) weist an dieser Stelle einen Widerspruch zu der Annahme einer ursprünglich menschlichen Substanz des Mitleids im zweiten >Discours< (175 ;) zu dem »Essai sur l'Origine des Langues< (1759) nach, in welcher Rousseau das Mitleid — wie die Sprache und die Vernunft - als das Produkt einer historischen Entwicklung begreift, welche dem Menschen nicht angeboren bzw. >wesentlich< sei, sondern die Fähigkeit der Vorstellungskraft (imagination) voraussetzt, die erst im Zuge der Aufnahme von interindividuellen Beziehungen entstehe. Die Unterscheidung zwischen einer amour de soi und einer amour propre hat Rousseau aus der theologischen und moralphilosophischen Literatur des 17. Jahrhunderts entnommen (Malebranche und Vauvenargues), die den Terminus égoisme noch nicht kannte; (vgl. I. Fetscher, 1980, S. 68f. und ders., 1989, S. 7). — Ich übersetze im folgenden den Begriff der amour de soi mit >Selbstliebe< und den der amour propre nicht, wie sonst üblich, mit »Eigenliebe^ sondern zur besseren Unterscheidbarkeit mit >EgoismusGoldenes Zeitalter' *\ barbar \ Balance von amour de soi I amour propre Mideid (Gewissen) Vernunft (réflexion + Contrat raison) social

(Hirte)

C^Glück^^)

| homme citoyen \ - être relatif (fraction du tout) vertu / patriotism Gewissen (Kleinbauern, Handwerker) Freiheit

)

93

Diese Historisierung des Menschenbildes bei Rousseau und dessen Grundannahme einer Strukturhomologie zwischen der intra- und der interindividuellen Entwicklung der Menschheitsgeschichte begründet zugleich eine gesellschaftliche Utopie. Doch es ist weder die Utopie einer die menschliche Zwei- bzw. Dreiteilung überwindenden Einheit des Individuums, noch die Utopie einer Einheit (der Interessen) von Individuum und Gesellschaft. Auch auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrages zerfällt das menschliche Individuum in ein être sensitif, ein passives Wesen, und ein être intelligent, ein aktives Wesen.'' Doch diese anthropologische Struktur bzw. Dezentrierung erfährt im Rahmen einer politisch legitimen Verfaßtheit und mithin einer >menschliche(re)n< Ordnung der Verhältnisse, welche sowohl der vorausliegenden bzw. vorausgesetzten natürlich-göttlichen Ordnung als auch der ursprünglichen bonté (als >Güte< bzw. moralische Indifferenz) des Naturmenschen entspricht, eine Neuorganisation: Innerhalb des per Vertragsschluß zu schaffenden politischen Systems verhält sich der Mensch zugleich aktiv als Staatsbürger (citoyen) und passiv als Untertan {sujet). Die Strukturierung des politischen Körpers (corps moral et collectif) mit der Triade Staat-Legislative-Regierung entspricht der intraindividuellen des Menschen aus corps (Körper), coeur (Herz) und cerveau (Gehirn, Verstand). So kann sich im Prozeß der Menschheitsgeschichte vollziehen: entweder ein Strukturwandel des Menschen vom être absolu, dem absoluten Wesen des Naturmenschen, zum homme de l'homme, dem gesellschaftlich vermittelten homme civilisé, welcher sich in einer — von Rousseau als moralisch schlecht erachteten — Abhängigkeit und Bedingtheit von anderen Menschen befindet und nur seinen egoistischen Interessen folgt, oder aber ein Strukturwandel des Menschen zum être relatif, dem relativen Wesen als Teil eines politischen Ganzen (fraction du tout). Das heißt, verändert sich die menschliche Natur im Verlauf des historischen Prozesses und — damit verbunden — figurativen Strukturwandels zum Negativen, dann ist sie auch, mittels einer vernünftigen Gesetzgebung (im Sinne der réflexion), zum Positiven veränderbar:" Der Gesetzgeber einer legitimen politischen Verfaßtheit der Menschen muß - so Rousseau — wagen, sozusagen die menschliche Natur umzuwandeln. J e d e n einzelnen {individu), der ein in sich vollkommenes und selbständiges Ganzes (un tout parfait et solitaire) ist, in einen Teil eines größeren Ganzen (en partie d'un plus grand tout) umzuformen, v o n dem diese Einzelwesen gewissermaßen ihr Sein und ihr Leben erhalten; die Verfassung des Menschen entstellen, u m sie zu verstärken. E i n e anteilige und moralische Existenz (existence partielle et morale) an die Stelle einer physischen und

unabhängigen Existenz (existence physique et indépendante) zu setzen, die wir von der

N a t u r mitbekommen haben. (CS,ioo = P , I I I , 3 8 1 ) " V g l . im >Émile< ( E , I V , 2 8 2 = P , I , J 7 } ) . " Vgl. hierzu in den >Confessions< ( B K , I X , J 6 7 = P,1,404): »Ich hatte gesehen, daß alles völlig von der Staatskunst abhing und daß jegliches V o l k , wie man es auch anstellen wollte, niemals etwas anderes sein w ü r d e als das, w o z u die Natur seiner Regierung es machte«.

94

Die »empfindende Einheit [oder] das individuelle Ich (l'unité sensitive ou le moi individuel)« (E,IV,291 = P,IV,5 84) fühlt sich durch die Zauberformel des >Contrat SocialConfessions< in ein »Ungeheuer (monstre)« (BK,XII,885 = P,1,64 5) verwandelt zu werden. Diesem verfälschenden Blick der anderen wird der Autobiograph Rousseau bis zum Ende seines Lebens sein >wahres< Selbstbildnis entgegensetzen. Und heißt es in einem Epilog der an die >Confessions< anschließenden >Dialogues< noch fragend: Wenn die Menschen mich anders sehen wollen, als ich bin, was geht das mich an? Liegt mein wirkliches Wesen in ihren Blicken? (Si les hommes veulent me voir autre que je ne suis, que m'importe? L'essence de mon être est-elle dans leurs regards?) (D,6z8 = P,1,985)

So endet die letzte Schrift der autobiographischen Vertextung, die >RêveriesNouvelle HéloïseMon PortraitÉmile< und d e m >Contrat SocialEmile< auf, vgl. hierzu in den >Confessions< (BK,XI,778ff. = P.I.jöjff.). " Sowohl der >Emile< als auch der >Contrat Social< werden direkt nach ihrem Erscheinen im Frühjahr 1762 verboten und öffentlich verbrannt. 60 An dieser Stelle ist vor allem die 1764 anonym erschiene Schrift Voltaires, >Senti14

107

der selbstbewußten Anstrengung des Angeklagten mittels der autobiographischen Vertextung einen Freispruch in eigener Sache durchzusetzen: Die Posaune des Jüngsten Gerichts mag erschallen, wann immer sie will, ich werde vor den höchsten Richter treten, dies Buch in der Hand [...]. (BK,I,37 = P.1,5) Im Zeitraum von 1765 bis 1767 arbeitet Rousseau, vor allem während der dreizehn Monate, die er in Wootton (England) bei David Hume verbringt, am ersten Teil, den Büchern eins bis sechs seiner >ConfessionsConfessions< im Jahre 1782 im zeitgenössischen Deutschland heftige und kontroverse Diskussionen über den Wert bzw. Unwert des Programms der getreuen und wahrhaften Selbstdarstellung ausgelöst hat.76 5-/4. Die Bücher drei und vier beschreiben auf jeweils 44 Seiten einen Zeitraum von je 1 1/2 Jahren; insgesamt reicht die erzählte Zeit vom Dezember 1728 bis zum Herbst 1731. 7 7 Hier erfolgt abermals die Wiederaufnahme des Masochismus-Motivs in den Erzählungen von erotischen Ungeschicklichkeiten, der Sehnsucht nach körperlicher Züchtigung, der exhibitionistischen Mißverständnisse und der sexuellen Abenteuer, welche einerseits der Demonstration der Unschuld oder doch zumindest Unwissenheit des jugendlichen Protagonisten dienen, während der Erzähler gleichzeitig den Nachweis zu erbringen versucht, daß der Autor Jean-Jacques Rousseau kein »Wüstling (débauché)« sei. Dieser Rechtfertigungszwang durchzieht als ein entscheidendes Motiv der Selbstdarstellung auch die auf die >Confessions< folgenden autobiographischen Vertextungen.78 5./ 6. Die beiden folgenden Bücher, fünf und sechs, sind inhaltlich zusammenhängend und beschreiben auf jeweils 48 bzw. 49 Seiten einen Zeitraum von insgesamt zehn Jahren (1731 bis 1741). Erfolgt am Ende der Erzählung des ersten Buches die Flucht aus der Heimatstadt Genf als Ende der Phase der Kindheit, schließt das zweite Buch mit dem ersten >schuldhaften Verschulden< Rousseaus, der Entwendung eines rosafarbenen Halsbandes und der falschlichen Anschuldigung des unschuldigen Dienstmädchens Marion, so endet der gesamte erste Teil der >Confessions< mit des Protagonisten Vertreibung aus der Idylle von Les Char71

A m Ende des zweiten Buches der >Confessions< heißt es zwar: »Dies habe ich über diesen Gegenstand zu sagen. Und nun sei es mir erlaubt, nie wieder davon zu sprechen« ( B K , I I , i 4 5 = P,I,87), doch im 4. Spaziergang der >Reveries< wird dieses Thema abermals aufgenommen.

16

Vgl. Kapitel V I . dieser Studie.

77

E s ist die erzählte Zeit der Musik, des didaktischen Prinzips des Lernens durch die Lehre, der ersten mißglückten Opernaufführung, des Beginns der aktiven Tätigkeit als Komponist mit derem passiven Komplement des Notenkopisten. E s ist die Zeit des Reisens und der ständigen Ortsveränderungen, welche um einen einzigen Mittelpunkt konzentriert sind und nur ein einziges Ziel kennen: die

Rückkehr zu Maman. 78

Deren Bedeutung für die Kommunikationssituation K i zwischen dem Autor und seinen Lesern und der damit verbundenen Gewichtung auf der Ebene der G e schichte läßt sich auch daran ablesen, daß in den ersten Entwürfen zu den >Confessions< von 1764/5, direkt im Anschluß an die Präambel, in relativ ausführlicher Weise die Darstellung der grundlegenden sexuellen Erfahrung der körperlichen Züchtigung steht; vgl. (P,I,i 1 ; 5 ff.).

113

mettes durch den ungeliebten Nebenbuhler (namens Vinztenried) bei der geliebten Marnati, welche bei ihrem Liebling nicht nur die Funktion(en) der Mutter, sondern auch die der Heiligen und Geliebten in persona ausgeübt hat.79 Löst sich die ursprüngliche Dreierkonstellation im fünften Buch noch durch den Tod des Rivalen Claude Anet, so endet die zweite ménage à trois im sechsten Buch mit der Abreise Rousseaus nach Paris. Es ist das Ende der Idylle, deren Erinnerung als gleichsam Archimedischer Punkt der menschenmöglichen Glückserfahrung sämtliche Phasen und Formen der autobiographischen Vertextung durchzieht. Nur in dem kurzen Zeitraum von nicht ganz zwei Monaten, die Rousseau auf der Petersinsel ( K i und K4) in einem Zustand des zeitlosen Glücks (und der Erinnerung an die Idylle von Les Charmettes) verbracht hat, wird sie wiedergefunden und -erlebt, um im fünften Spaziergang der >Rèveries< schließlich nur noch auf der Ebene des erinnerten Glücks anzuklingen. Doch die vermeintliche Idylle trügt nicht allein hinsichtlich der allgegenwärtigen Nebenbuhler um die Gunst von Marnati: »Und unter der Rose steckt immer der Dorn« (BK,I,4; = P , I , n ) . Die Zeit der Idylle ist zugleich die Zeit des Krankheitsausbruchs, der Beginn des Ohrensausens, des Blasenleidens und der immer wiederkehrenden Diagnose auf die Zeit- bzw. Modekrankheit des 18. Jahrhunderts, die Hypochondrie. Nach dieser letzten und unwiderruflichen Vertreibung aus dem Paradies, dem Eingeständnis des schmerzlichen Faktums des Nebenbuhlers sowohl auf der Handlungs- (K4) als auch auf der Erzählebene (Kj), endet der erste Teil der Rousseauschen Autobiographie. Die Relevanzstruktur der erzählten Lebensgeschichte spiegelt sich in der formalen Einteilung der >Confessions< als zwei auf der Ebene des Erzählerdiskurses in eine pikareske und eine apologetische Tonlage auseinanderfallende Teile.80 Wobei die Zeitebenen des >Vor< und >Nach< Les Charmettes vor allem durch die über das erinnernde Erzähler-Ich konstituierte personale Identität der Ich-Form zusammengehalten werden. Während der erste Teil noch von einer gewissen epischen Breite, nicht zuletzt auch wegen des relativen erzähltechnischen Primats der Handlungsebene bestimmt ist, verschiebt sich im zweiten Teil der >Confessions< die Balance zwischen dem Erzählen (T3) und dem Erzählten (T4) hin zur relativen Dominanz der Erzähler-Origo. Diese narrative Bewegung läßt sich als asymptotische An79

D e r Erzähler versucht die Divergenz dieser Funktionen von Maman für ihren >Kleinen< — der Protagonist fühlt sich, als er zum ersten Mal mit ihr schläft so, als beginge er »Blutschande« (inceste) ( B K , V , 2 8 9 = P,1,197) - durch den (wiederholten) Hinweis auf die sinnliche Leidenschaftslosigkeit der polygamen Katholikin zu beschwichtigen. Vgl. J . Starobinski (1970), S. 21 if.

114

näherung an die Origo des Autors ( T i ) beschreiben, welcher inmitten der Finsternis mit seinem autobiographischem Werk gegen das Komplott (Je complot), gegen die allgemeine Verschwörung anschreibt. Doch es ist nicht allein der Ort der Finsternis,8' sondern auch der der (paranoischen) Hellsicht i g k e i t : D e r wissende Erzähler deckt dem Leser mit beschwörender Stimme die Fäden auf, in denen sich der (noch im Zustand der Unwissenheit befindende) Protagonist immer mehr verstrickt, ohne sie jedoch selbst entwirren zu können. Diese Umschichtung der erzähltechnischen Perspektivierung und der damit verbundene Stilwechsel bzw. -bruch zwischen den beiden Teilen der >Confessions< ist nicht mit Notwendigkeit als Mangel der ästhetischen Gestaltung der erzählten Lebensgeschichte und somit als ein sicheres Indiz für die autobiographische Zweckform als Psychogramm einer kranken Seele zu werten,'' sondern vielmehr ästhetisches Programm. Der Stil der Selbstdarstellung wird zum Seismograph der Seele in der janusköpfigen Perspektivik der temporalen Ebenen des erzählenden (T3) und des erzählten Ich (T4) auf der textinternen Kommunikationsebene: Für das, was ich zu sagen habe, müßte man eine Sprache erfinden, die ebenso neuartig wäre, wie mein Vorhaben: denn welchen Ton, welchen Stil soll man wählen, um dies ungeheure Chaos verschiedenartigster, widersprüchlichster, oft so gemeiner und oft so erhabener Empfindungen, die mich beständig überfielen, zu entwirren? [...] Ich werde mich also mit dem Stil ganz nach den Dingen richten. Ich werde nicht danach streben, ihn einheitlich zu machen, sondern immer den haben, der mir eben zufällt, und ihn ungescheut nach meiner Stimmung wechseln, ich werde jede Sache so sagen, wie ich sie empfinde, wie ich sie sehe, ohne Nachforschungen, ohne Scham, ohne mich an dem Stilgemisch zu stören. Indem ich mich zugleich der Erinnerung an den vergangenen Eindruck wie dem gegenwärtigen Gefühl hingebe, werde ich den Zustand meiner Seele in zweifacher Weise abschildern, nämlich in dem Augenblick, da das Ereignis mir geschah, und in dem Augenblick, da ich es beschrieb. Mein ungleichmäßiger und natürlicher Stil, bald geschwind, bald diffus, bald vernünftig und bald verrückt, bald gewichtig und bald heiter, wird selbst ein Teil meiner Geschichte sein. ( P . I . i i j j f . ) ' 4 Z u Beginn des siebten Buches rechtfertigt die fiktive Erzählerfigur den Stilbruch zwischen den beiden Hauptteilen der >ConfessionsBekenntnisse< beschreibt die Umstände der Entstehungszeit des Briefromans >Julie oü la Nouvelle Helo'iseReveries< (R,642 = P,1,998) und (R,646 = P,I,iooi); vgl. auch C. McDonald (1978), S. 728f. 119

D a ich mich niemandem mehr anvertrauen konnte, der nicht zum Verräter an mir geworden wäre, beschloß ich, mich der Vorsehung allein anzuvertrauen, ihr allein die Bestimmung über das Pfand zu überlassen, welches ich in sicheren Händen zurückzulassen wünschte. (D,6i9f. = P,I,977f.)

In einem Nachwort zu den >Dialoguesman< (on) bedacht.90 Eine Personalisierung oder besser Typologisierung einer Leserfigur oder auch Gruppe von Lesern wird nur dann vorgenommen, wenn das erzählende Ich für das erzählte Ich ein herablassendes Lächeln oder gar Spott befürchtet.9' Nur an wenigen Stellen wendet sich der (fiktive) Erzähler (K3) dem (fiktiven) Leser (K3) direkt, in der zweiten Person Singular oder auch Plural zu.9' In jedem Fall überwiegt jedoch der imperativische Gestus des Erzählers. Die grammatikalische Form der Gemeinsamkeit, die Wir-Form, klingt nur an, wenn anthropologische oder zivilisationstheore90

9

Vgl. J . Starobinski (1970), S. 209. Vgl. z. B. »Die Frauen, die dies lesen, mögen nicht boshaft lächeln« ( B K , V , 2 9 ; = P,1,201); »Kurz, die Spottvögel mögen lachen« ( B K , V , 2 9 7 = P, 1,297); »Aber ihr anderen, ihr großen Männer, die ihr sicherlich lachet« ( B K , V I , 3 5 0 = P,1,243) e t c -

' Vgl. z. B. »O du neugieriger Leser der großen Geschichte des Nußbaums auf der Terrasse, vernimm nur seine schauerliche Tragödie, und wenn du es vermagst, so erbebe nicht« (BK,I,59 = P,I,22); »Mitleidiger Leser, teile meinen Kummer!« (BK,I,75 = P,I,34); »Doch du, der du mich liest, täusche dich nicht« ( B K , I V , 2 i 3 = P,I,i39); »Wer auch immer ihr auch sein möget, die ihr einen Menschen bis auf den Grund kennenlernen wollt, leset furchtlos die zwei oder drei folgenden Seiten« ( B K , V I I , 4 ; 2 = P,1,320).

120

tische Grundannahmen des Autors Rousseau (Ki) berührt werden." Erst in dem zweiten Teil der >Confessions< wird der Ton der Erzählerfigur gegenüber seinem erzähltechnischen Komplement auf der Ebene der textinternen Kommunikationssituation K3 moderater, wenn die fiktive Leserfigur, vor allem ab dem neunten Buch, mit der Possessivform »mein Leser {mon lecteur)«'4 angesprochen wird. Doch das distanzierte Verhältnis der fiktiven Erzählerfigur zu dem fiktiven Publikum des autobiographischen Tribunals nimmt nur augenscheinlich einen vertraulicheren Modus an, um nach einem letzten Versuch der Beeinflussung bzw. Beschwörung des Zeugen in die Beschuldigung des Lesers als »Teilhaber« an der allgemeinen »Verschwörung« (BK,XII,809 = P,I,589) umzuschlagen. Die Ich-Form der Rousseauschen Autobiographie als Struktur des doppelten bzw. multiplen Ich (bzw. als >Dreieinigkeit< der erzähltechnischen Subjekte der autobiographischen Vertextung) wird an einigen Stellen innerhalb der >Confessions< unterbrochen: so zum Beispiel wenn das erzählende Ich (K3) über das erzählte Ich (K4) in der Er-Form redet oder gar den Protagonisten mit dem Vornamen anspricht, sei es um dessen »Seele« bzw. »Person« gegenüber dessen Funktion als Autor (mit dem Nachnamen >Rousseau4); »wir sind so wenig geschaffen, hienieden glücklich zu sein« ( B K , V I , J 5 6 = P,1,247); »unsere törichten bürgerlichen Einrichtungen« ( B K , V I I , 4 6 1 = P,1,327). 94

Vgl. z. B. ( B K , V I , j 4 o = P,1,235). ( B K . I X . 5 7 9 = P, 1,414), ( B K . X I . 7 8 2 = P, 1,586) etc. " Vgl. z. B. »denn es war meine Person {ma personne) selber, auf den man es abgesehen hatte. Um den Verfasser (tauteur) kümmerte man sich herzlich wenig, sondern nur Jean-Jacques wollte man verderben« ( B K . I X . 5 6 9 = P,1,406); vgl. auch (BK,XII,870 = P,1,634) etc. 56

Vgl. z. B. »Armer Jean-Jacques, in diesem grausamen Augenblick hofftest du wahrhaftig nicht« ( B K , I V , 2 2 7 = P,1,149); »Ach, armer Jean-Jacques, liebe du in aller Gewissensruhe« ( B K , I X , 6 i 7 = P,1,442).

121

Handlung stellt, meist in Verbindung mit entsprechenden Zeitbestimmungen, eine Kontinuitätslinie zwischen den beiden erzähltechnisch hierarchisierten und zeitlich auseinanderliegenden Ich-Figuren her, indem beispielsweise auf den Interimszeitraum verwiesen wird.'7 Für die Ebene der internen Textkonstituierung durch die fiktive Erzählerfigur sind vor allem jene — übrigens kaum zählbaren - Stellen von Relevanz, an welchen innerhalb des Erzählerdiskurses in den Tempora der Gegenwart auf die Mechanismen des Erinnerungsprozesses und dessen Selektions- und Relationierungsfunktion'® für die erzählte Lebensgeschichte und die aktuelle (in diesem Falle fiktive Schreibsituation) verwiesen wird. Im Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars< heißt es zur Funktionsbestimmung der Erinnerung für das Identitätsbewußtsein des menschlichen Individuums: Aber ich weiß genau, daß die Identität des Ich (Tidentité du moi) nur durch das Gedächtnis Dauer hat, und daß ich, um wirklich der gleiche zu sein, mich erinnern muß, schon dagewesen zu sein. ( E , I V , 297 = P,IV,59o)

Doch mittels der Erinnerung konstituiert sich nicht nur die Identität des Individuums über die erinnerte und erzählte Lebens->GeschichteText der Geschichten Der Erzähler gibt zahlreiche Regieanweisungen, um die Aufmerksamkeit seines fiktiven Leser-Publikums zu lenken, und verliert vor allem niemals dessen Unterhaltungsbedürfnis aus den Augen, fürchtet seine Leser zu langweilen (BK,VII,396 = P,1,279), begründet die Auswahl der erzählten Episoden, wählt gezielt in den Zusammenhang passende und überdies illustre Beispiele aus (BK,III,182 = P,1,115) und entschuldigt sich für etwaige Auslassungen (BK,VIII,5 36 = P,1,382) oder auch für die Detailfreudigkeit der Darstellung insgesamt und damit verbundene Längen und Wiederholungen: Ich weiß wohl, daß der Leser kein allzu großes Bedürfnis verspüren wird, all dies zu erfahren, ich meinerseits aber habe das Bedürfnis, es ihm mitzuteilen. Wie sollte ich da nicht wagen, ihm ebenso all die kleinen Anekdoten dieser glücklichen Zeit zu erzählen, Vorfalle, die mich noch heute vor Freude zittern lassen, wenn ich 97

98

Vgl. z. B. »Seit diesem Abenteuer sind nun mehr als fünfzig Jahre verstrichen« ( B K , I , 5 ; = P,1,19); »Fast dreißig Jahre sind seit meinem Fortgang von Bossey verflossen« ( B K , I , ; 7 = P,I,2i); »Ich berühre den Zeitpunkt, der mein früheres Dasein mit meinem jetzigen verknüpft« (BK,V,3c>9 = P , 1 , 2 1 2 ) etc. Vgl. z. B. »An all diesen Vorgänge ist mir eine so wirre Erinnerung geblieben, daß ich weder Ordnung noch Zusammenhang in die sich darauf beziehenden Gedanken zu bringen vermag, sondern sie vielmehr nur einzeln und verstreut geben kann, so wie sie gerade in mir aufsteigen« ( B K , X I I , 8 6 i = P,1,627).

122

ihrer gedenke! Fünf oder sechs vor allem ... Vergleichen wir uns: ich erlasse ihm fünf, aber einen, einen einzigen muß ich erzählen, unter der Bedingung, daß man mich so lang und breit erzählen läßt, wie es mir nur irgend möglich ist, um mein Vergnügen daran zu verlängern. (BK,I,58 = P,I,2if.)

Doch der Erzähler beschränkt sich nicht auf Hinweise, welche die textkonstituierende Funktion des Erinnerns und Erzählens betreffen. Er erfahrt darüber hinaus als erzähltechnische Figur eine starke Personalisierung bzw. Psychologisierung in den — als Teil des Erzählerdiskurses — geschilderten Momenten des Wieder- und Neuerlebens emotionaler Reaktionen in bezug auf das erzählte Ich und dessen Geschichte. Deren Skalierung reicht vom Pol der Nähe bzw. Identifizierung bis zur Distanzierung: Das erzählende Ich glaubt sich wieder in die alten Zeiten zurückversetzt (BK,111,191 = P,1,122), fühlt im Akt der Niederschrift, wie sein Puls zu schlagen beginnt (BK,I,56 = P,I,2o), wird immer noch von manchen Erinnerungen gequält (BK.,11,143 = P,I,85f.), während er bei anderen »noch heute in Entzücken« gerät (BK,II,i9i = P, 1,122) und sein Herz »noch immer mit einer reinen Freude erfüllt« wird (BK,IV,207 = P,I,i34). Über manche Erinnerungen kann der Erzähler jedoch — >heute< — herzlich lachen (BK,I,72 = P,I,32) und manchmal weiß er nicht: »ob ich über mich lachen oder über mich weinen soll« (BK,VI, 3 5 O = P,1,243). Auch die Verwendung der ironischen Redeweise kann als Indiz der Distanzierung des Erzählsubjekts gegenüber dem erzählten Objekt gewertet werden: Während der erste Teil der >Confessions< eine Reihe von ironisierenden Passagen enthält, in welchen das Erzähler-Ich (K3) aus der temporalen Distanz das Ich des Helden (K4) kritisch belächelt, finden sich diese im zweiten Teil der Rousseauschen Autobiographie jedoch nicht mehr. Als weitere Indikatoren der Distanz bzw. Differenz sind alle jene Stellen zu werten, an welchen die Erzählerfigur den Wissens- bzw. Erfahrungsabstand zwischen sich und dem erzählten Ich mittels evaluativer Prädikationen" betont und die hierdurch angezeigte Identitätsabweichung durch einen Tempuswechsel in Kombination mit den entsprechenden Zeitadverbien unterstrichen wird.'00 Der Erzähler wirft dem Protagonisten Naivität (BK.XI.792 = P,1,575) und Einfältigkeit (BK,IX,6O9 = P, 1,436) vor und weist auch auf die Differenz zwischen der lebhaften Einbildungskraft des erzählten Ich (K4) und der Wirklichkeitsauffassung bzw. Realitätseinschätzung des erzählenden Ich (K3) hin. Aufschlußreich sind vor allem jene Passagen, in welchen der Erzähler über die ins Wahnhafte gesteigerten Phantasmen hinsichtlich einer jesuitischen Weltverschwörung gegen den " V g l . z. B. »Wäre ich nicht so dumm gewesen« (BK,IV,2o6 = P,I,i33). Vgl. z. B. »So ungefähr sah ich damals die Sache an: heute sehe ich sei anders« (BK.IV.204 = P . I . i j i ) ; »Hätte ich damals aber auch schon alles gewußt, was ich heute weiß« (BK.X.ögp = P,I,505).

100

123

>Emile< im Tempus der Vergangenheit berichtet und diesen Zeitraum lapidar als abgeschlossene Lebensphase der vorübergehenden »Gespensterseherei (;vision)« abtut (BK,XI,78i = P,1,567), ohne eine eventuelle Parallelität zur aktuellen Schreibsituation (auf der Ebene der internen und externen Kommunikationssituation) auch nur in Erwägung zu ziehen: Hier sieht der >reale< bzw. historisch-konkrete Leser auf der Kommunikationsebene K i mehr als der Erzähler auf der Kommunikationsebene K3, welcher selbst einräumt, seit der gegen ihn gerichteten Schmähschrift und den damit verbundenen Anklagen, die auf der Kommunikationsebene K i des Autors den entscheidenen Anstoß zur autobiographischen Vertextung gegeben haben, von einer so dichten »Finsternis« umhüllt zu sein, daß er »in keiner Sache mehr die Wahrheit habe erkennen können« (BK,XII,869 = P,1,633). In einer Sequenz mit stark apologetischer Tendenz wird die Entscheidung Jean-Jacques Rousseaus, seine Kinder in ein Findelheim zu geben und die damit verbundene Ablehnung der Vater-Rolle, durch die Offenlegung seiner Motivationen und die Aufdeckung der sie begleitenden Akzidentien zu rechtfertigen versucht.101 Und so lautet es in einem - nicht allzu überzeugenden — Akkord der Zeitebenen des erzählten und des erzählenden Ich im Konjunktiv: Alles erwogen, wählte ich für meine Kinder das Beste oder glaubte doch wenigstens, daß es das Beste sei. Ich hätte gewollt und ich wollte noch heute, ich wäre wie sie aufgezogen und herangebildet worden. (BK,VIII,¡03 = P,1,358)

Ausgerechnet bzw. bezeichnenderweise gerade im Punkt der Hauptanklage, als Autor des Erziehungsromans >Emile< seine Kinder nicht selbst aufgezogen zu haben, entfährt dem Erzähler ein trotziges >Ich-bereue-nichtsDamals< und >Heute< überspringt und die Identitätsbeziehung zwischen den beiden Ebenen des angeklagten und entlastenden Ich bestätigt. Doch über die drei bisher genannten Subjekte der Aussage auf den drei erzähltechnisch hierarchisierten Kommunikationsebenen K i (Autor), K3 (Erzähler) und K4 (Figur) hinaus, welche untereinander sowohl eine temporale als auch eine erzähltechnische Identitätsabweichung bzw. strukturelle Differenz aufweisen, erfährt die narrative Subjektfiguration der >Confessions< eine weitere Komplexitätssteigerung durch die Einfügung von nachträglich dem autobiographischen Text zugefügten Anmerkungen, mit denen das vom Autor Rousseau zur Veröffentlichung bestimmte Genfer Manuskript versehen worden ist. Diese Zusätze, welche im ersten Teil nur verein101

Dagegen bekennt der Erzähler in der Rolle des Sohnes eine Unterlassungssünde, welcher der Autor Rousseau nicht öffentlich angeklagt worden ist, nämlich die arme und kranke Maman im Alter nicht (finanziell) unterstützt zu haben (BK,VIII,549 = P,1,391).

124

zeit, im zweiten dagegen häufiger zu finden sind, weisen auf Leerstellen bzw. Auslassungen hin, welche die (fiktionstheoretisch) durch den Erzähler konstituierte narrative Achse gegenüber der Geschehensebene aufweist,"" oder liefern in Einzelfallen ergänzende Datierungen zu der Ebene der internen Textkonstituierung nach. 10 ' Nicht selten werden auch die Annahmen der Erzählerfigur von einem Zeitpunkt, der innerhalb der textinternen Kommunikationssituation nach dem Zeitpunkt bzw. -verlauf der Abfassung der >Bekenntnisse< liegt, evaluiert, korrigiert, kommentiert und kritisiert.' 04 Dieses >Ich< kann weder das >Ich< des Protagonisten auf der Zeitebene T4 der erzählten Geschichte sein noch das >Ich< der Erzählerfigur auf der temporalen Analyseebene T3. Handelt es sich hier um das Ich des Autors, der seinen eigenen Text, den Text seiner Lebensgeschichte, für die Veröffentlichung aktualisiert und redigiert? Ist es der Autor auf der Kommunikationsebene K i in der Funktion des Herausgebers seiner eigenen Autobiographie? Oder ist es der Autor, der sich auf der Ebene des Textes in eine weitere Erzählerfigur, eine fiktive Herausgeberfigur (K2) aufspaltet? Letztere Annahme, nämlich die analytische Setzung einer vierten Subjektinstanz innerhalb der narrativen Erzählkonfiguration der >ConfessionsTextes der Geschichte< wird die erzählte >Geschichte< einer Identitätsbildung in verschiedene Stimmen aufgefächert, die zu verschiedenen Zeiten und in synchroner Uberlagerung sprechen, die alle >ich< sagen und einen anderen meinen: den, der sie einmal gewesen sind. A u f der letzten Seite des zwölften Buches, der letzten Seite der >Confessions< überhaupt, werden diese vier erzähltechnischen Subjekte der Aussage perspektivisch zusammengeführt, indem die Narration von der Handlungsebene zum Bericht der Erzählerfigur über die Vorlesung der Autobiographie durch ihren Autor wechselt: Als ich dieses Werk in Gegenwart des Herrn Grafen und der Frau Gräfin Egmont, des Prinzen Pignatelli, der Frau Marquise von Mesmes und des Herrn Marquis

101

Vgl. z. B. »Da ich es versäumt habe, hier ein kleines, aber beachtenswertes Abenteuer mit besagtem Grimm zu erzählen, [...] so will ich nicht mehr darauf zurückkommen« ( B K , V I I I , 5 2 3 = P, 1,572).

,OJ

Vgl. z. B. »Ich schrieb dies im Jahr 1769« ( B K , X , 7 7 2 = P,I,546). Vgl. z. B. »Um die Zeit, da ich dieses niederschrieb, ahnte ich die große Verschwörung Diderots und Grimms gegen mich noch nicht« ( B K , V I I I , 5 4 5 = P,1,389); »Ich bewundere jetzt meine Dummheit, beim Schreiben dieser Zeilen nicht erkannt zu haben« ( B K , I X , 6 o 6 = P,1,1482); »In der Einfalt meines Herzens glaubte ich das noch, als ich meine Bekenntnisse schrieb« ( B K , X , 6 9 3 = P,1,501) etc.

104

1*5

von Juigne vorlas, fügte ich die folgenden Worte hinzu: »Ich habe die Wahrheit gesagt.« (BK, 12,900 = P,I, 656)"" Und dieser (innerhalb der textinternen Kommunikationsebene) fiktive Autor hält eine von der fiktiven Erzählerfigur in direkter Rede präsentierte Ansprache an den erlauchten Kreis seiner Zuhörer, von welchem sich wohl auch der Leser auf der textexternen Ebene der Kommunikation ( K i ) angesprochen fühlen darf: »Wer, sogar ohne meine Werke gelesen zu haben, mit eigenen Augen mein Wesen, meinen Charakter, meine Sitten, meine Neigungen, meine Vergnügungen und meine Gewohnheiten prüft und mich dann noch für einen ehrlosen Menschen halten kann, verdient selber, mit Verachtung gestraft zu werden«. (BK, 12,900 = P , I , 6 J 6)

Heißt es auf der ersten Seite der >Confessions< in einer direkten Anrufung des »ewigen Geistes« noch: »Versammle um mich die zahllosen Scharen meiner Mitmenschen, sie mögen meine Bekenntnisse anhören, sie mögen ob meiner Schändlichkeiten seufzen und rot werden ob meiner Schwächen«. (BK,I,37 = P,I,j) So werden uns nun, auf der letzten Seite der >ConfessionsFrucht zu erntenConfessions< ( 1 7 7 0 / 1 ) und das diarische Ich der >Reveries< (1776—8) Ich habe sehr oft Fabeln erzählt, aber äußerst selten gelogen. (R.,690 = P,1,1038)

Rousseaus letzter, diarischer Text, die >Rèveries du Promeneur SolitaireCollection complète des CEuvresConfessions< herausgegeben und erscheinen noch im selben Jahr als deutschsprachige Übersetzung beim Verlag Unger in Berlin unter dem Titel: >J.J. Rousseau's Selbstgespräche auf einsamen Spaziergängen. Ein Anhang zu den Bekenntnissen^ '°7 Die in zehn Kapitel (bzw. Spaziergänge) eingeteilten »Blätter« werden vom Diaristen als »ein formloses Tagebuch meiner Träumereien« klassifiziert und sind explizit als »Anhang« (R,Ö44f. = P,I,iooo) bzw. »Fortsetzung« (R,649 = P,1,1003) zu seiner Autobiographie konzipiert. Die diarischen Meditationen folgen jedoch nicht mehr dem genetischen und zugleich teleologisch orientierten Darstellungsprinzip der >BekenntnisseInnerenConfessions< der Kette der E m p f i n dungen und der durch diese vermittelten Ereignisse folgte, bewirkte noch eine weitgehende Parallelisierung von Erzählzeit ( T 5 ) und erzählter Zeit (T4). In den >Reveries< dagegen werden die einzelnen Versatzstücke der erzählten Lebensgeschichte zwar wieder aufgenommen (z. B. die Motive der Halsband-Lüge im 4. Spaziergang, die Petersinsel im 5. Spaziergang und die Zeit mit Maman im 10. Spaziergang), doch auf der Ebene der Narration, des > Textes der Geschichte^ neu organisiert. D e r Erzählerdiskurs folgt nicht mehr dem biologisch-physikalischen Lebenslauf, sondern durchbricht mittels des Darstellungsprinzips der freien Assoziation die chronologische L i -

1

128

Medium der diarischen Fiktionalisierung, denn während des Zeitraumes, in welchem Rousseau seine >Rêveries< schrieb, begleitete ihn manchmal Bernardin de Saint-Pierre auf seinen >einsamen< Spaziergängen; vgl. hierzu ausführlicher C. Kunze (1978) (C,86}). Bereits in den >Confessions< wandert der Autor Rousseau nicht nur gerne als Protagonist, sondern erzählt in seiner Funktion als Erzählerfigur auch gerne und ausgiebig von seinen Reisen ( B K , I V , 2 J 7 = P,1,172). Auf der Ebene der erzählten Lebensgeschichte scheint der Wechsel des Ortes bzw. die Bewegung zwischen zwei auseinanderliegenden Räumen oftmals entscheidender zu sein, als die zwischen zwei Orten oder an einem bestimmten Ort verstrichene Zeit. Der Erzähler prädikatiert sich selbst — wie auch das Objekt seines autobiographischen Diskurses — als Reisenden (»Ein wandelndes Leben paßt am besten für mich« (BK,IV,257 = P,I,i 7 2)), als einen von Schicksal und Vorsehung Hin- und Hergetriebenen, als ewigen »Flüchtling« (BK,XII,8i5 = P,I,594) und als »einsamen Spaziergänger«. Nur im Gehen — als Bewegung zwischen zwei Orten — kann der ungesellige Held denken (BK,III,180 = P,1,114), n u r auf seinen einsamen Spaziergängen schreiben (vgl. »Ich hatte stets ein kleines, leeres Heft und einen Bleistift bei mir und warf hin und wieder einzelne Gedanken auf das Papier« ( B K , V I I I , 5 1 7 = P, 1,568)), nur auf seinen Wanderungen sich selbst fühlen: »Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens und, wenn ich so sagen darf, meines Ichs (été moi) so erfüllt gewesen als auf meinen einsamen Fußwanderungen« (BK,IV,243 = P, 1,162).

nearität des Erzählten mittels einer anachronischen Anordnung des autobiographischen Materials. Nicht mehr eine kohärente Geschichte der eigenen Seele auf der Ebene der Handlung wird erzählt, sondern eine Bewegung der Erinnerung, welche einzelne - in der Retrospektive des sich erinnernden Subjekts bedeutsame — Momente dieser Lebensgeschichte aufnimmt und frei variiert. Die Meditationen und Träumereien des autobiographischen »Unternehmens« letzter Teil in diarischer F o r m dienen — so »der Maler der Natur und Geschichtsschreiber des menschlichen Herzens« ( D , 3 3 i = P, 1,728) — nicht mehr der Rechtfertigung v o r G o t t und v o r den Mitmenschen, sondern dem Selbststudium und der Rechenschaft vor sich selbst. Um im Dienste des selbstzwecklichen Forschungsinteresses der Menschenkenntnis qua Selbsterkenntnis von allen Modifikationen meiner Seele und ihrer Aufeinanderfolge Rechenschaft abzulegen. Ich werde an mir selbst in gewisser Weise dieselben Handlungen vornehmen wie die Physiker, wenn sie täglich den Zustand der Luft untersuchen. Ich werde an meine Seele ein Barometer halten, und durch diese sorgfältig vorgenommenen und lange wiederholten Handlungen könnte ich so sichere Resultate erhalten wie die Physiker. So weit werde ich aber mein Unternehmen (entreprise) nicht ausdehnen. Ich werde mich damit begnügen, ein Verzeichnis meiner Messungen zu führen, ohne sie in ein System bringen zu wollen. (R,Ö4;f. = P,I,iooof.) Das diarische Ich ( K i und K 3 ) beschränkt sich auf die täglichen Messungen seines Inneren und deren Notierung in einer A r t Herbarium seiner Seele, deren Sinn weder v o m Objekt noch v o m Subjekt der diarischen Selbstbeobachtungen erkannt werden kann, sondern vielmehr »als eines der f ü r die menschliche Vernunft undurchdringlichen Geheimnisse des Himmels anzusehen« ist (R,Ö57 = P,I,IOIO). Doch der Menschenwissenschaftler, welcher sich selbst zum Objekt seiner Beobachtung und diarischen Vertextung macht und nur noch beobachten, messen und aufschreiben will, ohne eine Klassifikation oder ein System zu entwerfen, ist sich bei seinen wissenschaftlichen Selbstversuchen des Spannungsverhältnisses v o n Engagement und Distanzierung durchaus bewußt: Wie konnte ich über so viele Reichtümer ein genaues Verzeichnis anlegen? Wenn ich so viele angenehme Träumereien mir zurückrufen wollte, um sie zu schildern, so werde ich statt dessen aufs neue darin versinken. ( R , 6 4 9 = P , I , I O O J ) Im A k t des Wieder-Lesens der eigenen diarischen Ausführungen vermag der Schreibende in der imaginativen Realisierung, in der Wiederherstellung der vergangenen Zeiten, sich im Medium der diarischen Vertextung selbst als das andere, das »wahre Ich {vrai moi)« zu entwerfen und erfährt auf diese Weise eine Verdoppelung seiner Existenz. D o c h das diarische Ich verdoppelt sich nicht nur, indem es auf der textexternen Kommunikationsebene K i sowohl die Rolle des Textproduzenten als auch des Rezipienten ein129

nimmt: Es erfährt gleichsam eine Multiplikation des Selbstgenusses und Vergnügens (R-,646 = P , I , I O O I ) im Moment des Träumens und Erlebens, des Erinnerns, Schreibens und Wieder-Lesens sowohl auf der Ebene der textexternen Kommunikation ( K i ) als auch auf der Ebene der textinternen Kommunikation in der Vervielfältigung in einem multiplen Rollenspiel (K3 und K4). Auf der Handlungsebene (K4) wird die Erfahrung des absoluten Selbstgenusses jedoch nur in der Überwindung des Zustandes der intra- und interindividuellen Zerrissenheit in einem Moment der Verschmelzung, in einem Zustand der Selbstgenügsamkeit und Selbstvergessenheit möglich.'" Dieser wird paradigmatisch im zweiten Spaziergang im Zusammenhang mit dem Doggen-Unfall beschrieben, als der promenierende und botanisierende Protagonist, von einem großen Hund überrannt, in einen Zustand der Bewußtlosigkeit versinkt und »keinen deutlichen Begriff« mehr hat von seinem »Individuum (Je n'avois nulle notion distincte de mon individu)«. Im Moment der Selbstvergessenheit, der Erinnerungs- und Körperlosigkeit, vollzieht sich der Moment der Wiedergeburt: In diesem Moment wurde ich zum Leben geboren [je naissois dans cet instant à la vie) [...]. ( R , 6 j 2 = P , I I , i o o ; )

Nach diesem Nullpunkt des Ich (K4), nach diesem degré %éro du moi,"1 liest der am einem Donnerstag Nachmittag, dem 24. Oktober 1776, Neugeborene zwei Monate später, am 20. Dezember, seinen eigenen Nachruf im >Courrier d'Avignon< (R,6;6 = P,I,iooc)): Herr Jean-Jacques Rousseau ist an den Folgen seines Sturzes gestorben. E r hat in A r m u t gelebt, er ist elend gestorben; und die Einzigartigkeit seiner Bestimmung hat ihn bis ans G r a b begleitet."'

Es ist zugleich der Beginn der Niederschrift der >Rêveries< auf der textexternen Kommunikationsebene (Ki). Der Ort, von welchem die Stimme, die >ich< sagt, von nun an spricht, kommt aus »der Tiefe des Abgrundes« (R,643 = P, 1,999), a u s dem Jenseits. Vom Archimedischen Standpunkt des antizipierten Todes auf Erden (R,Ö39 = P,1,99 5) spricht der von seinen »Mitmenschen« frühzeitig zu Tode Erklärte — wie von einem »fremden Planeten« (R,643f. = P,1,999) - nur noch über sich selbst, zu sich selbst und für sich selbst: »ich schreibe meine Träumereien nur für mich« (R,Ö46 = P,I,IOOI).

Das Subjekt ( K i und K ; ) der diarischen Vertextung der >Rêveries< hat sowohl die Hoffnung auf die zeitgenössischen Leser (wie noch in den >Con1,1

1,1

Vgl. »Nie meditiere oder träume ich anmutiger, als wenn ich mich ganz vergesse (,quand je m'oublie moi-même)« (K,jzi = P,1,1065). E . Linsen (1986), S. 40.

" ' Zit. nach C. Kunze (1978) (C,866); vgl. (P,1,1777).

130

fessionsDialoguesInnerstes< zurück, um den Blicken und Worten der anderen zu entgehen. Dieser Rückzug bringt in der letzten, diarischen Selbstvertextung sowohl einen Verzicht auf die Maskerade als auch auf die Enthüllung des Ich mit sich: D a alle irdischen Neigungen daraus [aus dem Herzen, d. V . ] getilgt sind, was sollte ich wohl noch bekennen? Ich kann mich so wenig loben wie tadeln; ich bin fortan nichts unter den Menschen, und das ist auch alles, was ich sein kann, weil ich nicht mehr in einem wirklichen Verhältnis oder gesellschaftlicher Verbindung mit ihnen stehe. (R,Ó4j = P,I,iooo)

Die Zuschauerbank bleibt im Akt der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung nunmehr unbesetzt: Sein »wahres Wesen (naturel)« (R,7J4 = P,1,1095) bietet er keinem Publikum mehr durchsichtig und in allen Beleuchtungen in einem autobiographischen Schauprozeß zur Urteilsfällung an. Ob er kraft eines Zauberringes unsichtbar unter den Menschen weilt, ob er sich zeigt, wie er wirklich zu sein glaubt, oder ob er sich verstellt: Die anderen werden ihn verkennen. Es ist ihnen unmöglich, ihn zu sehen, denn sie werden statt meiner immer den J . J . sehen, den sie sich gemacht, den sie ganz nach ihrem Herzen gemacht haben, um ihn nach Belieben hassen zu können.

(R.7I3 = P,I,io59) Das eigene Selbstbild und das Fremdbild der anderen will nicht konvergieren. Die Stimme, die sagt >Ich binJa, du bistRêveries< hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes der >Confessions< sowohl auf der Ebene der erzählten Lebensgeschichte als auch auf der Ebene des Erzählerdiskurses ein paar »unschuldige Täuschungen« ein

132

{R,6j6

=

P,I,IO26). Das Ich, das einstmals alles sagen (tout dire) wollte, habe zwar »nie zuwenig, aber oft zuviel gesagt«: Ich schrieb meine >BekenntnisseConfessions< und seinen >Reveries< überschneiden sich zum einen das geschichtsphilosophische Erkenntnisinteresse als Frage nach der Vergangenheit der Menschheit (2. >DiscoursEmilewahre Ich< (vrai moi) und seine Geschichte läßt sich im Prozeß der autobiographischen Vertextung des modernen menschlichen Selbstbildes allein als Authentizität der Darstellung, nicht jedoch des Dargestellten erlangen.

133

VI.

1.

Christoph M a r t i n W i e l a n d ( 1 7 3 3 - 1 8 1 3 )

Zwei Menschenkenner auf verschiedenen Wegen: Wieland und Rousseau daß der Mensch, so wie er organisirt ist, weder unabhängig noch sich seihst genugsam seyn kann'

Bereits zwei Jahre vor dem Erscheinen des ersten Teils der >Confessions< und der >Reveries du Promeneur Solitaire< im Jahre 1 7 8 2 findet der Ankläger und Angeklagte in eigener Sache, Jean-Jacques Rousseau, jenseits des Rheins einen selbsternannten >Apologetenwilder< Völkerstämme belegt bzw. illustriert wird (WSW,31,20).

134

homme naturel im zweiten Diskurs von 1755 vor allem zwei Aspekte im Brennpunkt der Wielandschen Kritik. Z u m einen handelt es sich um ein Mißverständnis, das Wieland mit vielen der zeitgenössischen

Rousseau-

Rezipienten teilt, und zwar um die Unterstellung des Postulats >Zurück zur NaturU, und zum anderen um den Vorwurf der Ungeselligkeit. S o legt Wieland in einer abenteuerlichen Zitierweise Rousseau einen sowohl für das galante als auch für das empfindsame Ohr des 18. Jahrhunderts allerdings »abenteuerlichen Satz« in den Mund, nämlich: »daß der ursprüngliche Stand des Menschen der Stand eines zahmen Thieres gewesen sey«, - und daß man allen Nazionen, unter denen sich (nach seinem Ausdruck) die Stimme des Himmels nicht habe hören lassen, keinen bessern Rath geben könne, als »in die Wälder zu den Orang-Utangs und den übrigen Affen, ihren Brüdern, zurückzukehren, aus welchen sie eine unselige Kette von Zufallen zu ihrem Unglück herausgezogen habe«. (WSW, 31,10) Hier sieht (bzw. liest) der Aufklärer Wieland nicht mit eigenen bzw. »aus gesunden A u g e n gerade v o r sich hin« ( A G 1 , 1 4 ) , sondern vielmehr durch die Voltairesche Brille, denn dieser Satz findet sich ebensowenig in den Rousseauschen Schriften 6 wie das folgende Szenarium, welches angeblich als Erlösung aus der Misere des denaturierten homme civilisé vorgeschlagen wird: alle Gewänder und Ausschmückungen der Natur, alle unsre Wissenschaften, Künste, Polizei, Bequemlichkeiten, Wollüste und Bedürfnisse von uns zu werfen, und nackend — gleich dem jungen Hottentotten auf dem Titelkupferstich seines Buches - zu unsrer ursprünglichen Gesellschaft, den Vierfüßigen, in den Wald zurückzukehren? (WSW, 31,14) Der Pessimist und Dialektiker der Aufklärung Rousseau bewertet den Prozeß der Zivilisation als »Uebergang aus dem Stande der Natur in den Stand der Polizirung« 7 ( W S W , 3 1 , 2 5 ) , einem >Goldenen Zeitalter< als »Mittelstand

6

Es handelt sich bei der zitierten Stelle um eine Anmerkung, welche Rousseau dem zweiten Diskurs (1755) beigefügt hat, um auf polemische Weise die Lesart des >Zurück zur NaturU zurückzuweisen. 7 Der terminus sociologicus der >PolizirungUnterredungen mit dem Pfarrer von ***< (177;): »Um an der wirklichen Verbesserung des sittlichen Zustandes der Menschen arbeiten zu können, müssen wir wissen — wie gut oder schlecht die Menschen dermalen sind; warum sie so sind; auf welche Bedingungen sie besser werden können« (WSW,49,181). Bereits der neunzehnjährige Wieland gibt in einem Empfehlungsschreiben an seinen poetischen Lehrmeister Johann Jacob Bodmer im März 1752 an, daß es sein bisheriges »Hauptstudium« gewesen sei, »den Menschen kennen zu lernen« ( W B R , I , j i ) ; am 24. 5. 1959 heißt es in einem Brief an J . G . Zimmermann: »Ich ambitioniere ein Mahler der Seelen zu seyn« (WBR,1,448); vgl. hierzu auch C.M. Wieland, >Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-kunst< (1757) (in: C.M. Wieland, Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Nachdruck der 1. Aufl. Berlin 1916, Hildesheim 1986, Abt. I, Bd. 4, S. 338): »Der Name eines Seelenmahlers gebührt in seiner stärksten Bedeutung dem Poeten, der uns in das Innerste seiner Personen hineinführen und den Ursprung und stufenweisen Wachsthum ihrer Leidenschaften, die Absichten ihrer Handlungen, die feinsten Züge ihres individualen Characters, kurz alle ihre Empfindungen, Gedanken und Reden, aufs Deutlichste abschildern kann«. 1

i7

Gegensatz zu Rousseau nicht, daß sich das gemeinsame Ziel der Menschenkenntnis mittels einer schonungslosen Offenbarung und Selbstentblößung im Modus des tout dire erreichen ließe, sondern setzt vielmehr auf eine ausgewogene Beleuchtungstechnik, welche v o r allem die didaktischen und moralischen Wirkungen angesichts eines zwar (noch) nicht aufgeklärten, doch der Aufklärung für würdig befundenen deutschen Publikums zu berücksichtigen habe. Diese Aufklärung habe ihre Grenzen jedoch dort, » w o bei allem möglichen Lichte nichts mehr zu sehen ist« (WSW,40,408). 1 4 Beleuchtet, das heißt der Aufklärung zugänglich gemacht werden — so lautet es in diesem zwischen Ironie und Pragmatismus oszillierenden Zugriff, welcher allerdings nicht voreilig im Sinne des black-box-Prinzips,

sondern viel-

mehr als Bescheidenheitstopos der beschränkten Perspektivik des Menschen gegenüber der göttlichen Allwissenheit zu verstehen ist — können jedoch nur »alle sichtbaren Gegenstände«. Und auch diese nur unter den beiden folgenden Voraussetzungen: 1) daß Licht genug vorhanden sey, und 2) daß diejenigen, welche dabei sehen sollen, weder blind noch gelbsüchtig Seyen, noch durch irgend eine andere Ursache verhindert werden, sehen zu können oder sehen zu wollen. (WSW,40,40;) U n d genau diese Gelbsucht wird Rousseau in seinen zivilisationstheoretischen Diskursen vorgeworfen: Man kann sich nicht erwehren dem Manne gut zu seyn, der die verhaßten Paradoxen mit einer so aufrichtigen Miene von Wohlmeinenheit vorbringt, — mit einer so ehrlichen Miene die seltsamsten Fehlschlüsse macht, und uns aus der Fülle seines Gefühls zuschwört, daß alles gelb sey, ohne den kleinsten Verdacht zu haben, daß doch wohl vielleicht er selbst mit der Gelbsucht behaftet seyn könnte. (WSW.ji.iof.)" Im autobiographischen Diskurs dagegen dient die coloristische bzw. perspektivische Täuschung geradezu als Garant der Authentizität des Ausgesagten,' 6 der Wahrhaftigkeit der autobiographischen

Intention und der

14

Ders., >Sechs Antworten auf sechs Fragen< (WSW,40,403-414). '' Vgl. auch ders., >Ueber die von J . J . Rousseau vorgeschlagenen Versuche, den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken< (1770): »Die Grille, gegen das allgemeine Gefühl und den einstimmigen Glauben des menschlichen Geschlechts zu behaupten, daß der Schnee schwarz sey, hat in unsern Tagen (unsers Wissens) keinen stärker angefochten, als den berühmten Verfasser des >Emils< und der >neuen HeloiseDevin de village< und des >Briefs gegen das Theaterdaß die Wissenschaften und Künste der Gesellschaft^ und >daß die Geselligkeit dem menschlichen Geschlechte verderblich seyen, u.s.w.« (WSW, 31,61 f.). ,6

138

Wenn auch nicht notwendig zur Beglaubigung der Aussage; vgl. hierzu die »Fortsetzung des Nachtrags zur Anekdote von J . J . RousseauUeber die Frage: In wiefern es gut sey, die Uebelthaten vortreflicher Menschen bekannt zu machen?!, in welcher C.M. Wieland Zweifel an der Autorschaft Rousseaus an den >Dialogues< äußert (in: >Der Teutsche Merkur< (1780), IV, S. 38f.).

»Wahrheit seines Charakters«. Und so heißt es in einer Fußnote zu den autobiographischen Dialogen >Rousseau Juge de Jean-Jacquesc Der Augenschein muß jeden Leser der genannten Schrift überzeugen, daß sie in einer traurigen Art von Krankheit, die ich Anthropophobie nennen möchte, geschrieben sey. In einem Fieber, worinn die Seele ihrer eignen Einbildungen nicht mehr mächtig ist, und sich, mitten unter Menschensgesichtern, von Teufelslarven und Schrekgespenstern umgeben glaubt, in solchem Zustande hört alle künstliche Verstellung auf. Wer aus einer solchen Seelenverfinsterung noch solche Stralen von Güte, Wahrheit, Unschuld und Trost auf sein Selbstbewußtseyn, von sich wirft, ist wahrlich kein Heuchler - oder es giebt gar kein Kennzeichnen, woran man Natur und Kunst, Wahrheit und Lüge an einem Menschen unterscheiden kann."

Wieland differen2Íert zwischen zwei Wirkungsdimensionen der autobiographischen Rede: Zum einen — und hier spricht der Philosoph Wieland — dem Wahrheitswert der autobiographischen Rede, und zum anderen — und hier spricht der Moralist Wieland bürgerlicher und überdies pietistischer Herkunft, der sich von dem Vorwurf einer gewissen galanten Schlüpfrigkeit nie hat gänzlich freisprechen können' 8 — ihren didaktischen Implikationen. Die Wahrheit ist, so Wieland, »etwas verhältnißmäßiges« und kann nicht aus »den allgemein anerkannten Grundwahrheiten der Vernunft« des Menschen abgeleitet werden (WSW,30,18if.),'' sondern einzig und allein aus »der Wahrheit seines eignen Gefühls«, dem »innigen Bewußtseyn dessen, was wir fühlen« (WSW,jo,x84). Und so tönt auch das Wielandsche Diktum: so glaube ich meinem Gefühl mehr als einer ganzen Welt die dagegen zeugte, und als allen Filosofen, die mir a priori beweisen wollten ich träume oder rase (WSW,30,186)

noch ganz rousseauistisch. Aus der Relativierung der Wahrheitsfrage, welche in der Schulphilosophie noch als Kongruenzverhältnis zwischen der menschlichen Vernunft zu der Vernünftigkeit bzw. Vollkommenheit der göttlichen Weltordnung gesetzt wurde, und der damit verbundenen Verlagerung dieser epistemologischen Problematik aus der Domäne des a l l g e meinem Vernunftprinzips zu dem principium individuationis des >individuellen< Gefühls ergibt sich zunächst folgerichtig die Multiperspektivik des ästhetischen — und mithin — autobiographischen Programms: Die Wahrheit ist weder hier noch da - [...] Keinem offenbart sie sich ganz; jeder sieht sie nur stückweise, nur von hinten, oder nur den Saum ihres Gewandes, — aus einem andern Punkt, in einem andern Lichte. (WSW,30,i88f.) Ders., S. 59. Wielands Zeitgenossen warfen ihm einen >viehischen Epikurismus< vor (vgl. J. Jacobs 1969, S. 53), und die Zensurbehörden von Zürich und Wien verboten den Agathon-Roman u. a. wegen >UnsittlichkeitWas ist Wahrheit?< (1776) (WSW,30,179-192). 17

|S

x

39

Vorausgesetzt wird allerdings auch hier, »daß ein Mensch überhaupt gesund und des Unterschieds seiner Empfindungen und Einbildungen sich bewußt ist« (WSW,30,184). Doch gilt dieses Prinzip auch für die Grenzfalle der Selbsttäuschung, der übersteigerten Einbildung und speziell der >Gelbsucht< bzw. >Anthropophobie