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German Pages 488 [492] Year 2007
Till Dembeck Texte rahmen
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
46 (280)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
Texte rahmen Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul)
von
Till Dembeck
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Hilfe der Ludwig Sievers Stiftung, Hannover. Univ. Siegen Diss. 2007
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019602-3 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutseben
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Vorwort Die vorliegende Arbeit untersucht den Stellenwert von Grenzregionen literarischer Texte im 18. Jahrhundert, vor allem in der deutschen Literatur. Sie fragt dabei insbesondere nach Wechselwirkungen zwischen textuellen Rahmungen und den von ihnen gerahmten Texten. Historisch gesehen formuliert sie die These, daß sich im 18. Jahrhundert eine neuartige Unterscheidungsmöglichkeit etabliert, die zwei Verfahren der Rahmung künstlerischer Objekte einander gegenüberstellt, zugleich aber in eine enge Verbindung setzt. Diese Verfahren werden zunächst als extrinsische und intrinsische Rahmung bezeichnet. Dabei kann die intrinsische Rahmung als das spezifisch neue Verfahren gelten, das in der Autonomieästhetik um 1800 systematisch beschrieben wird. In einem ersten Schritt verfolgt die Arbeit ein systematisches Interesse und versucht, die genannten Verfahren text- und kommunikationstheoretisch zu beschreiben. Als Bezugspunkte dienen dabei Überlegungen aus dem Kontext der Dekonstruktion und der Systemtheorie, aber auch der strukturalistischen Texttheorie. Die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Rahmung wird hier enggeführt mit Verfahren der Adressierung von Texten. Entworfen wird dabei eine Differenz zwischen Fremd- und Selbstadressierung, die mit derjenigen von extrinsischer und intrinsischer Rahmung korrespondiert. Den systematischen Schwerpunkt verfolgen insbesondere das erste und das letzte Kapitel der Arbeit. Die übrigen Kapitel sind demgegenüber der Auseinandersetzung mit historischen Konstellationen gewidmet, wie sie sich in der deutschen Literatur vor allem des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts abzeichnen. Im Zentrum stehen dabei erzählende Texte. Die am ausführlichsten betrachteten literarischen Texte stammen von Wieland und Jean Paul, während ästhetische Theorie und Poetik schwerpunktartig anhand von Texten Gottscheds und Moritz' rekonstruiert werden. Auch in den historisch orientierten Kapiteln der Arbeit setzt sich freilich die Auseinandersetzung mit den systematischen Fragestellungen fort. Die wechselseitige Durchdringung der historischen und der systematischen Dimension der Untersuchung führt insbesondere dazu, daß im Schlußteil der Arbeit auf der Grundlage der Lektüreergebnisse Vorschläge zu einer text- und kommunikationstheoretischen Fassung der Begriffe Text und Adresse unterbreitet werden können.
Dank Diese Arbeit ist als Dissertation an der Universität Siegen entstanden und durch das Gießener Graduiertenkolleg „Klassizismus und Romantik" großzügig gefördert worden. Mein Dank gilt zuvorderst meinem Siegener Betreuer Georg Stanitzek und meinem Mentor am Gießener Graduiertenkolleg, Günter Oesterle. Natalie Binczek und Remigius Bunia haben mir als Ersdeser wertvolle Korrekturen und Anregungen mitgeteilt. Ihnen danke ich ebenso wie Ulrich Breuer, Jane Brown, Matthias Buschmeier, Martin Cielobatzki, Markus Dauss, Jürgen Fohrmann, Alina Grinberga, Dieter Gutzen, Frederik Kunze, Gerhard Kurz, Kai Merten, Christian Nolte, Anja Oesterhelt, Stephan Pabst, Hartmut Stenzel und Achim Vesper. Ernst Osterkamp und Werner Röcke sowie dem Verlag Walter de Gruyter danke ich für die Aufnahme des Buchs in die Reihe „Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte".
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Dank I.
Rahmen, Paratext, Adresse. Zur Einführung 1. 2. 3. 4. 5.
II.
VI Paratexte im Kontext. Kommunikation und Werk Paratextualität: Einheit durch Konfiguration Rahmen als Grenzen Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion Programm und Aufbau der Arbeit
Hors d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur im 18. Jahrhundert
Werk und Beiwerk. Wege einer Unterscheidung im „Vorbericht" zu Wielands „Agathon" 2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a 3. Paratextuelle Gestaltung literarischer Texte im 18. Jahrhundert und davor 4. Aufklärerische Kriük am ,barocken' Paratext 5. Fremdadressierung/Selbstadressierung III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz in der Poetik um 1750 1. Die Umstände der Entwicklung. Bestimmungsprobleme in Wielands „Agathon" 2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700 3. Okkasionelle Literatur um 1700 am Beispiel der Lyrik 4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung, Wahrscheinlichkeit und die Theorie möglicher Welten IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon": Aufklärung als Selbstadressierung
1 4 15 25 34 46 53
1.
1.
„Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
54 64 83 101 108 114 117 126 141 151 172 173
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.
Die Stimme der Natur und die Stimme der Tugend in Wielands „Agathon" 3. Apologetik als Apostrophe: Die erste Fassung des „Agathon" von 1766/67 4. Abschluß mit Supplement: Die dritte Fassung des „Agathon" von 1794 V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks 1. Der Kontur als Grenze. Die Einheit des schönen Gegenstandes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts a) Die Kunst der Beschreibung: Moritz und Winckelmann b) Das schöne Ganze und seine Teile: Moritz und Baumgarten c) Nebeneinander/Nacheinander: Moritz und Lessing 2. „Fingerzeige des Schönen". Der Rahmen des Kunstwerks bei Moritz und Kant a) Moritz' Produktionsästhetik: Aufhebung der Vermögenstheorie? b) Reine Einschnitte. Die Zweckfreiheit des Schönen bei Kant c) „Vom Isoliren". Der doppelte Rahmen der Kunst VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul 1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie a) Begrenzung/Entgrenzung. Phantasie und Einbildungskraft ; b) Der Buchstabe als Kippfigur: Schrift als Figur und Ornament c) Bilder als Buchstaben: Die „Erklärung der Holzschnitte" 2. Witzig schreiben/humoristisch lesen. Jean Pauls Poetik des Paratextuellen a) Beschränkte Wahrnehmung. (Gedruckte) Texte in der Idylle b) Der Humor zwischen Satire und Empfindsamkeit c) „Überfließende Darstellung". Lektüren des Ornamentalen d) Witz und Wissensverarbeitung als Verfahren der Kontexterzeugung
195 214 230 242 242 243 248 261 269 270 275 284 295 297 297 313 320 327 328 340 352 360
Inhaltsverzeichnis
3.
IX
Der Roman als „Appendix": Ein Paratext? 371 a) Digression und Narration: Figurationen des Erzähltextes 371 b) Geschichten, „Saturnalien" und „Freiheitsfeste". Die „Heilsordnungen" von „Appendix" und Roman ....388 c) Text als Adresse mit Humor 401
VII. Text, Werk, Kunst. Theoretische Schlußfolgerungen 406 1. Figur/Ornament. Der Text als Objekt und Konfiguration ....407 2. (Post-)Strukturalistische Texttheorie: Lotman und Barthes ....418 3. Autonomie und Kunst: Texte als Adressen? 424 Literaturverzeichnis a) Quellen b) Forschung
438 438 442
Personenindex
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Sachindex
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I. Rahmen, Paratext, Adresse. Zur Einführung Wenn im Untertitel dieser Arbeit nicht von Grenzen, sondern von Grenzregionen die Rede ist, so birgt diese Formulierung eine merkwürdig ambivalente Zuschreibung: Während man einer Grenze als solcher keine Ausdehnung zuschreiben würde, findet sie sich als Grenzregion zu einem Gebiet ausgedehnt. Aus dem Einschnitt, der ein Diesseits von einem Jenseits trennt, wird ein Streifen, von dem gefragt werden kann, ob er nun als ganzer die Grenze darstellt, also eine Art Ubergangszone bildet, die weder Diesseits noch Jenseits ist; oder ob er irgendwo in sich die ,eigentliche' Grenze birgt, die vielleicht nur nicht sauber markiert ist. In beiden Fällen kann sich an diese Frage diejenige nach den Grenzen der Grenzregion selbst anschließen. Wenn man von einer Grenzregion spricht, wird also die von der Grenze getroffene Unterscheidung gerade in dem Moment, in dem sie getroffen wird, ein Stückweit auch wieder aufgehoben. Denn es läßt sich nicht ohne weiteres sagen, wie sich die Grenzregion selbst zu dieser Unterscheidung verhält. Die historischen Studien, die in dieser Arbeit vorgelegt werden, interessieren sich für die Komplexität, die den Grenzregionen literarischer Texte aus dem 18. Jahrhundert innewohnt. Was ist — beispielsweise — von einem anonym erscheinenden Roman zu halten, der zudem mit einer falschen Verlagsortsangabe versehen ist? Die Anonymität, so läßt sich in einem solchen Fall spekulieren oder sogar nachweisen, kann als Maske dienen und den Autor schützen, der befürchtet, mit seinem Text Anlaß zu Angriffen auf seine Person zu geben. Auch die irreführende Ortsangabe könnte in einem ähnlichen Sinn gedeutet werden, beispielsweise als Versuch einer Täuschung der Zensur. Die Titelseite — sicherlich eine der Grenzregionen eines literarischen Textes — würde damit zumindest der Intention nach Wirkungen in einem Bereich zeitigen, den man wohl zum ,Textäußeren' rechnete, Wirkungen im Jenseits der durch die Grenzregion ,Titelseite' markierten Grenze. Dasjenige, was den ,eigentlichen' Roman ausmacht, bliebe von diesen Strategien scheinbar unberührt; die Titelseite wäre lediglich kontingentes Beiwerk. Was aber, wenn sich zugleich die Anonymität und die falsche Verlagsortangabe auch aus dem poetologischen Programm herleiten ließen, das der Text für sich entwirft? Dann wäre die Gestaltung der Grenzregion auch vom Innern des Romans her, aus dem Diesseits der Grenze heraus motiviert. Der .eigentliche' Roman
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
und das scheinbar bloße ,Beiwerk' stünden dann in einem engen Wechselverhältnis. Die durch das Titelblatt markierte Anonymität verhielte sich nicht mehr kontingent zu demjenigen, was den literarischen Text als solchen ausmacht. Keineswegs müßte nun davon ausgegangen werden, eine der beiden Deutungen relativiere die andere. Vielmehr könnte konstatiert werden, daß der ambivalente Status der Titelseite als Grenzregion hier eine doppelte Möglichkeit des Umgangs mit ihr anbietet — und daß vielleicht diese doppelte Möglichkeit die Funktionalität der Grenzregion ausmacht. Wenn im folgenden solche und ähnliche Grenzregionen literarischer Texte vornehmlich aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diskutiert werden - der soeben skizzierte Fall entspricht in etwa dem der Erstausgabe von Wielands „Geschichte des Agathon" 1 —, so geht es immer darum zu zeigen, wie Textbestandteile, die scheinbar durch eine äußere Funktion motiviert sind, zugleich im Innern des Textes eine Funktion ausüben. Die einzelnen Kapitel gehen in detaillierten Lektüren Figuren der gleichzeitigen Ablösung und Anknüpfung, der gleichzeitigen Exklusion und Inklusion, der parallelen Rahmung und Rahmenüberschreitung nach. Motiviert sind sie insbesondere durch die Beobachtung, daß Rahmen, Ornamente und anderes ,Beiwerk' an der Schwelle zur Kunstautonomie ihren Status deutlich verändern. Stark verkürzt könnte man sagen, daß hinsichtlich des Rahmens eine ,neue' Unterscheidung in tragender Funktion genutzt wird: Diejenige zwischen einer ,extrinsischen' und einer ,intrinsischen' Rahmung. Ein Beispiel für diese Unterscheidung wurde soeben angeführt: Die Rahmung von Wielands „Agathon" durch seine Titelseite wurde zunächst extrinsisch und anschließend intrinsisch motiviert; dabei wurde keiner der beiden Rahmungsstrategien eine funktionale Priorität eingeräumt. Auf diese Möglichkeit einer doppelten Motivierung von Rahmen wird man spätestens um 1800 in der Literatur aufmerksam. Der Rahmen rückt in seiner Komplexität als Grenzregion in den Fokus der Aufmerksamkeit, und man stellt fest, daß diese Komplexität keinesfalls hinderlich ist: Man hat gemeinhin wenig Probleme im Umgang mit Grenzregionen. Es kann sogar sein — und dies nehme ich in der Tat für Wielands „Agathon" an —, daß die Möglichkeit einer doppelten Motivierung des Rahmens zur Formbildung genutzt wird. Die vorliegende Arbeit interessiert sich vor allem dafür, wie textuelle Grenzregionen unterschiedliche Arten des Gebrauchs programmieren, den man von ihnen (und von dem Text, dem sie anhängen) machen kann. Sie fragt nach dem Nutzen, den man aus ihnen zieht und nach den Arten und Weisen, wie sie Anschlüsse ermöglichen und konditionieren. 1
Siehe II.l und IV.2/3.
Zur Einführung
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Die Begriffsreihe „Rahmen, Paratext, Adresse" in der Kapitelüberschrift weist auf systematische Konzepte hin, die der Arbeit zugrundeliegen. Während Genette Begriff des Paratextes konkret auf textuelle Grenzregionen abzielt, impliziert der Begriff des Rahmens auch jene situativen Organisatoren, die Goffman „frames" nennt und die sich dadurch auszeichnen, daß sie den Umgang mit den Grenzen regulieren, die eine Situation uns auferlegen kann. Interessant ist allerdings, daß der Begriff des Rahmens weniger auf den Rahmen als Grenzregion abzielt, als vielmehr auf abstrakte Unterscheidungen. Goffmans „frames" zeichnen sich unter Umständen gerade dadurch aus, daß man sie nicht ,sehen' kann und deswegen Gefahr läuft, sich aufgrund irrtümlicher Situationsbesümmungen unangemessen zu verhalten. Ein weiteres Ziel der Arbeit besteht schließlich darin zu zeigen, daß textuelle Grenzregionen (als Rahmen oder Paratexte) in besonderer Weise Funktionen der Adressierung verpflichtet sind. Dies ist insofern einsichtig, als Adressen gemeinhin ihren Ort am Rand der Schriftstücke zu finden pflegen, die sie adressieren. Es wird sich zeigen, daß sich diese intuitiv einleuchtende Nähe von Konzepten der Grenzregion zu solchen der Adressierung systematisch begründen läßt. Zum Zweck der Einführung wird im folgenden das Genettesche Konzept des Paratextes in den angedeuteten differenz- bzw. kommunikationstheoretischen Rahmen eingebettet. Dazu wird in einem ersten Unterkapitel in teils ausführlicher Lektüre des Genetteschen Textes und in Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Fortentwicklungen seiner Ausgangsidee eine Modifizierung seiner Begrifflichkeit vorgenommen. Das zweite Unterkapitel ergänzt das erste um Betrachtungen zu den historischen Vorbedingungen der heute gebräuchlichen paratextuellen Ordnung. Die genauere theoretische Bestimmung des Rahmenbegriffs (1.3) wird dann zum Ausgangspunkt einer ersten hypothetischen Annäherung an die historischen Verschiebungen, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen (1.4). Kapitel II.5 und VII nehmen die hier entfalteten theoretischen Fragestellungen wieder auf und machen vor dem Hintergrund der in der historischen Untersuchung erzielten Ergebnisse Vorschläge zu einer präziseren Beschreibung des Zusammenhangs von Rahmung und Adressierung, allgemeiner gesprochen von Textualität und Kommunikation.
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
1. Paratexte im Kontext. Kommunikation und Werk „Der Gebrauch des Buches — die Philosophie] seiner Lektüre wird in der Vorrede gegeben." 2 Dieser Satz von Novalis besagt mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Er spricht von einer Art ,Gebrauchanweisung' für das Buch, eben von einer „Philosophie] seiner Lektüre". Dies aber geschieht erst im zweiten Anlauf. Zunächst ist nur vom „Gebrauch des Buches" die Rede, davon, wie mit einem Buch umgegangen, wie es (in der Kommunikation?) genutzt und (weiter-)verwendet werden kann. In seinem ersten Anlauf spricht das Zitat also keinesfalls von einer Gebrauchsanmisung für das Buch. Dieser Lesart zufolge wird in einer Vorrede nicht ««gegeben, wie das Buch zu benutzen sei, sondern es wird sein Gebrauch gegeben. Die Vorrede ist demzufolge nicht nur der Ort der Anzeige eines möglichen Gebrauchs, den man von dem Buch machen kann, sondern auch der Ort einer (Über-) Gabe oder Transaktion, die den Gebrauch des Buches zum Gegenstand hat. Es kommt nicht nur auf ihre konstative, sondern auch auf ihre performative Dimension an. Weder wird dabei gesagt, wer das Buch gebraucht, noch, wer den Gebrauch bzw. die Gebrauchsanweisung gibt. Novalis' Satz steht in frappierender Nähe zu einigen Formulierungen, mittels derer Genette die Funktion von Paratexten zu beschreiben versucht hat. Nicht zuletzt wird die Vorrede bei Genette deutlich ausführlicher behandelt als andere Paratexte wie Titel, Anmerkung, Klappentext oder Kapitelüberschrift. Ich möchte im folgenden Genettes Theorie des Paratextes, wie er sie, ausgehend von einer Typologie in „Palimpsestes" (1982), 3 ausführlich in „Seuils" (1987) 4 entfaltet hat, vor dem Hintergrund des Satzes von Novalis lesen. Es wird sich dabei zeigen, daß die Offenheit von Novalis' Formulierung die Funktionalität ihres Gegenstandes sehr genau erfaßt. Dabei gilt es, Genettes Theorie auf eine Unterscheidung zu
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Novalis: „Das allgemeine Brouillon (Materialien %ur En^yklopädistik) 1798/99". In: N.: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl (= Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2). Dannstadt 1999, S. 471-720, hier S. 598 (Fragment Nr. 550). Gerard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf %weiter Stufe. Frankfurt/M. 1993 [1982], hier S. 11 ff. Im einzelnen unterscheidet Genette in dieser Arbeit fünf Typen der „Trans textualität": Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität. Der Paratext wird definiert als die Menge von Elementen, „die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen K o m m e n tar versehen" (S. 11). Von der Forschung ist im Grunde genommen nur die Kategorie der Paratextualität aufgenommen worden. Gerard Genette: Seuils. Paris 2002 [1987]; deutsch: Gerard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/M. - N e w York 1992 [1987]. - Eine Einordnung in Genettes Gesamtwerk liefert Richard Macksey: „Foreword: Pausing on the threshold". In: Gerard Genette: Paratexts. Thresholds of interpretation. Cambridge 1997, S. XI-XXII.
1. Paratexte im Kontext. Kommunikation und Werk
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beziehen, die für den Rahmen dieser Arbeit von grundlegender Bedeutung ist, nämlich die Unterscheidung von Text und Kommunikation, die mit der Unterscheidung von Text und Werk in einen engen Zusammenhang tritt und die Unterscheidung von Buch und Gebrauch, wie sie Novalis entwirft, präzisiert. Mittels dieser Unterscheidung läßt sich die Schwellenfunktion von Paratexten, d. h. ihre Funktionalität als textuelle Grenzregion, präzise beschreiben. Mich interessieren Para/toc/i in ihrer Funktion für (literarische) Kommunikation. Mit dieser Formulierung soll auf mehrere Punkte hingewiesen werden: Zunächst sind Texte nicht in jedem Fall Kommunikationen,5 denn Kommunikation, wie sie beispielsweise in der Luhmannschen Systemtheorie beschrieben wird,6 konstituiert sich in der Verkettung von Operationen des Verstehens, also in der Verkettung von Ereignissen. (Mit Novalis gesprochen: Ein Buch, insofern es Text ist, entspricht nicht dem 5
Siehe Dirk Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!". In: Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek (Hgg.): Paratexte in Literatur, Film, Femsehen. Berlin 2004, S. 43-52, S. 46: „Wenn Schrift Kommunikation werden soll [...], muss offensichtlich noch etwas anderes geschehen als das, was geschehen ist, wenn ein Text vorliegt. Ein Text ist (noch) keine kommunikative Einheit. Er sagt nichts, er spricht nicht, er schweigt noch nicht einmal. Er rauscht nur leise vor sich hin, wie man jedoch auch nur hören kann, wenn man ihn aus der Perspektive der Kommunikation beobachtet." Siehe hierzu auch Natalie Binczek: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. München 2000, S. 179: „Ein Text und die operativen Prozesse des Kommunizierens und Wahrnehmens sind [...] auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt." Ahnlich Albrecht Koschorke: „Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie". In: Α. K., Cornelia Vismann (Hgg.): Widerstände der Sjstemtheone. Kulturtheoretische Analysen %um Werk von Niklas Luhmann. Berlin 1999, S. 49-60, S. 50: „Texte im vollen Wortsinn sind plurale, a-systemische Gebilde. Sie verfügen über keinen eindeutigen Systembezug; ihre Polyvalenz wird nicht durch einen isolierbaren binären Code und dessen Unterprogramme gesteuert." Schließlich Baßler: „Ich schlage vor, Texte und Kommunikationen strikt voneinander zu trennen und Texte nicht als Teile, sondern als Umwelten sozialer Systeme zu beschreiben." (Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005, S. 132.) Baßler unterscheidet Texte explizit auch von Aussagen (S. 123 ff.).
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Zu den theoretischen Grundlagen siehe z.B. Niklas Luhmann: Sociale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1996 [1984], S. 203 ff., Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 190ff., sowie Niklas Luhmann: „Die Unwahrscheinüchkeit der Kommunikation" [1981] und „Was ist Kommunikation?" [1995] - beide in: N. L.: Aufsätze und Reden. Hg. v. Oliver Jahraus. Stuttgart 2001, S. 76-93, bzw. S. 94-110. Es liegen eine Reihe von Untersuchungen über die Vereinbarkeit dieses Kommunikationsbegriffs mit einem für die Literaturwissenschaft geeigneten Textbegriff vor. Ich nenne hier nur einige Titel (eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Problem findet sich in Kapitel VII): Georg Stanitzek: „Systemtheorie? Anwenden?". In: H. Brackert, J. Stückrath (Hgg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 650-63, Henk de Berg: „Die Ereignishaftigkeit des Textes". In: H. d. B., Matthias Prangel (Hgg.): Kommunikation und Differenz Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft. Opladen 1993, S. 32-52, Georg Stanitzek: „Was ist Kommunikation?". In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hgg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 21-55, Moritz Baßler: „Systeme kann man nicht lesen". In: Rechtshistorisches Journal 17, 1998, S. 387-404.
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
Gebrauch, den Kommunikation von ihm macht.7) Dabei werden an das Verstehen relativ geringe Voraussetzungen gemacht. Es reicht zu erkennen, daß die Mitteilung einer Information vorliegt. Um als Kommunikation eine Rolle spielen zu können, muß dann dieses Verstehen an weiteren Mitteilungen beobachtbar werden. Es handelt sich also bei Kommunikation um einen rekursiven Zusammenhang. Dabei ist mit der Rekursivität und der sich daraus ergebenden zeitlichen Komplexität ein Merkmal jeglicher Sinnkonstitution gegeben, wie es beispielsweise auch die Dekonstruktion herausstellen würde.8 Genauer ließe sich formulieren: Texte haben insofern eine andere Struktur als Kommunikation, als man sie sich als Fixierungen vorstellen kann. (Wieder mit Novalis: Der Gegenstand ,Buch' ist strukturell unterschieden von demjenigen, was seine Lektüre oder seinen Gebrauch ausmacht.) Die Buchstäblichkeit von Texten ist ein Moment, das zu der komplexen Temporalität des Mediums Sinn quersteht.9 Zugleich aber scheint sie den Werkcharakter von Texten wenn nicht auszumachen, so doch zu bedingen, denn als Werk kommt in Betracht, worauf man als eine Art,feste Größe' zurückkommen kann. Gleichwohl läßt sich das offenkundig konstitutive Moment der Fixiertheit von Texten mit systemtheoretischen Konzepten einfangen. Ausführlicher wird dies im letzten Kapitel dieser Arbeit versucht. Texte lassen sich allgemein als Beschreibungen kennzeichnen, also als Beobachtungen, die für weitere Operationen verfügbar gehalten werden. (Daß sie als Beschreibungen oft im Medium der Sprache gebildet werden, ist dabei interessanterweise weniger von Bedeutung.) An die von Texten dauerhaft zur Verfügung gestellten Unterscheidungen und Bezeichnungen kann man anschließen, indem man sie einem anderen Beobachter zurechnet. Und
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Der Begriff .Buch' bezieht sich sowohl bei Novalis als auch bei Genette auf beide hier in den Blick genommenen Aspekte von Textualität: Er bezeichnet sowohl den Text als solchen als auch den Text als Werk. Auf diese Doppeldeutigkeit komme ich zurück. Man könnte sagen, daß ein Systemtheorie und Dekonstruktion gemeinsamer Ausgangspunkt die Einsicht in die komplexe und paradoxale Temporalität von Sinn ist. (Vgl. hierzu Luhmanns Anmerkungen zur differance, angeführt und kommentiert in Georg Stanitzek: „und Dekonstruktion". In: Nummer 3.4/5, 1996, S. 28-31.) Diese unhintergehbare Rekursivität von sinnhaften ZuSchreibungen steht in gewisser Weise ,quer' zu Strukturen der Textualität. Dies führt zu der Frage, wie Texte als Einheiten von Kommunikation konstruiert werden - worauf ebenfalls ausführlicher in Kapitel VII eingegangen wird. Zum Verhältnis von Systemtheorie und Dekonstruktion siehe Binczek: Im Medium der Schrift. Diese Arbeit fragt einerseits nach dekonstruktiven Momenten in der Systemtheorie Luhmanns und versucht andererseits, auf der Grundlage von Überlegungen zur Rolle der Schrift in Systemtheorie und Dekonstruktion aufzuzeigen, welche Effekte eine konsequente Applikation der Dekonstruktion auf die Systemtheorie hätte. Die Unterscheidung, die Buchstaben konstituiert, wird im Zusammenhang mit Jean Pauls Theorie der Einbildungskraft erläutert (VI.l) und anschließend in einer Zusammenführung kommunikations- und texttheoretischer Konzepte in VII. 1 ausgearbeitet.
1. Paratexte im Kontext. Kommunikation und Werk
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nur indem man an sie anschließt, haben sie überhaupt kommunikative Relevanz. Mit Luhmann gesprochen werden Texte — und charakteristischerweise auch Kunstwerke — in diesem Fall als „Kompaktkommunikationen"10 behandelt und damit in die Verkettungen der Kommunikation eingebunden (wie auch jede andere Mitteilung erst rekursiv in den Zusammenhang der Kommunikation eingebunden werden muß). Wenn dies zutrifft, dann haben gerade Paratexte eine zentrale Funktion.11 Nicht von ungefähr hebt Genette ihre rezeptionssteuernde Funktion hervor. Offenkundig bieten Vorreden und andere Paratexte bei der Einbindung von Texten in kommunikative Zusammenhänge eine gewisse Orientierung. Diese Unterscheidung und gleichzeitige Verquickung von (kommunikativer) Prozessualität und (textueller) Fixierung ist auch für Novalis' Äußerung in Anschlag zu bringen. Das Wort .Gebrauch' bezeichnet das Moment der Einbindung des Textes in einen rekursiven Zusammenhang. Hinter Novalis' Bemerkung steht die Frage danach, wie diese Einbindung mittels der Vorrede geleistet werden kann. Genettes Projekt verfolgt dieselbe Frage, wenn es den Aspekt der Rezeptions Steuerung mit dem der Werkkonstitution zusammenbringt. Es mag zunächst verwundern, daß sich Genettes Begriff des Paratextes in der literaturwissenschaftlichen Diskussion so schnell durchgesetzt hat, denn die von ihm vorgeschlagenen Bestimmungen dessen, was den Paratext ausmacht, lassen bei genauerer Betrachtung zahlreiche Fragen offen. Trotz der anscheinend divergenten Einordnungen der einzelnen Paratexte und ihrer jeweiligen Funktionen aber gilt es zunächst, das zentrale Verdienst seiner Arbeit hervorzuheben: Genette hat darauf aufmerksam gemacht, daß die unterschiedlichen Texteinheiten, die an der Schwelle des Textes zu situieren sind, einen ähnlichen Stellenwert hinsichtlich der Anschlußfähigkeit des Textes für Kommunikation haben. Der Genettesche Begriff des Paratextes setzt eine Unterscheidung, wo vorher viele herrschten. Offenkundig besitzt diese Zusammenfassung eine Plausibilität, die jenseits der partikularen Kritik die Anschlußfähigkeit des Konzepts ausmacht. Dies zeigt nicht zuletzt die Aufnahme des Begriffs in zahlreiche 10
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Niklas Luhmann: „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst". In: Delfin III, 1984, S. 51—69, S. 53. Vgl. hierzu Stanitzek: „Was ist Kommunikation?", S. 25 ff., sowie (in Antwort hierauf) Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1998 [1995], S. 63. Siehe die grundlegende These von Kreimeier und Stanitzek: „Paratexte organisieren die Kommunikation von Texten überhaupt." (Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek: „Vorwort". In: Κ. K., G. S. (Hgg.): Paratexte in Literatur, Vilm, Fernsehen. Berlin 2004, S. VII-VIII, hier S. VII.)
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
neuere Lexika.12 Im Anschluß an Genette ist der Begriff in mehreren Arbeiten aufgegriffen worden. Dazu gehören Versuche, das Konzept für Analysen einzelner Texte fruchtbar zu machen. 13 Andere nutzen ihn im Zuge historischer Studien,14 die zuweilen auch ein ausgeprägtes systemati12
Burkhard Moennighoff: „Paratexte". In: Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 2001 [1996], S. 349-56, Werner Wolf: „Paratexte". In: Ansgar Nünning (Hg.): Metier Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart — Weimar 1998, S. 413-14, Nicolas Pethes: „Paratext". In: Ralf Schneü (Hg.): Metier Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Stuttgart — Weimar 2000, S. 403, R. Grüttemeier: „Paratext". In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, S. 570-73, Burkhard Moennighoff: „Paratext". In: JanDirk Müller, Georg Braungart, Harald Fricke u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin - New York 2003, S. 22-23.
13
Jeri DeBois King: Paratextuality in Balzac's ,La Peau de Chargrin. The Wild Ass's Skin'. Lewiston, NY 1992, Horst Zander: ,,,Νοη enim adjecto haec ejus, sed opus ipsum est'. Überlegungen zum Paratext in Tristram Shandy". In: Poetica 28, 1996, S. 132-53, Harald Haferland: „Erzählen als Beglaubigung. Eine paratextuelle Strategie, aufgezeigt u. a. am Beispiel des ,Livre des figure hieroglyphiques' von Nicolas Flamel". In: Harald Haferland, Michael Mecklenburg (Hgg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neurit. München 1996, S. 425—44, Rosemarie Zeller: „Der Paratext der Kabbala Denudata. Die Vermittlung von jüdischer und christlicher Weisheit". In: Morgen-Glant£ 7, 1997, S. 141-69, Wolfgang Neuber: „Topik als Lektüremodell. Zur frühneuzeitlichen Praxis der Texterschließung durch Marginalien am Beispiel einiger Drucke von Hans Stadens Wahrhaftiger Historia". In: Thomas Schirren, Gert Ueding (Hgg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen 2000, S. 177-79, Natalie Binczek: „Epistolare Paratexte: Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in einer Reihe von Briefen". In: Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek (Hgg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin 2004, S. 117—33, sowie (im selben Band, S. 55-99) Ursula Geitner: „Allographie. Autorschaft und Paratext im Fall der Portugiesischen Briefe", und schließlich: Christoph Jürgensen: „Der Rahmen arbeitet". Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Göttingen 2007.
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Joachim Brand: Oer Text zum Bild. Untersuchungen zu den Erscheinungsformen undparatextuellen Funktionen von sprachlichen Bestandteilen ζu deutschen graphischen Folgen und Zyklen des 19. Jahrhunderts. Marburg 1993, Dirk Niefanger: „Sfumato: Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ,Barock' und ,Aufklärung'". In: Zeitschrift fir Literaturwissenschaft und Linguistik 98, 1995, S. 94-118, Anne Cayuela: Le paratexte au Siede d'Or: Prose romanesque, livres et lecteurs en Espagne au XVII' siecle. Genf 1996, Johannes Ullmaier: „Paratexte im Pop. Ein Text über das Beiwerk zum Text". In: testcard. Beiträge zur Popgeschichte 7, 1999, S. 54-93, Annette Retsch: Paratext und Textanfang. Würzburg 2000. - Neuere Arbeiten zu einzelnen Paratextelementen, die sich auf Genette beziehen, sind ζ. B.: Yvette Sanchez: „Titel als Mittel. Poetologie eines Paratexts". In: arcadia 34.2, 1999, S. 244-61, Burkhard Moennighoff: Goethes Gedichttitel. Berlin - New York 2000, Sabine Mainberger: „Die zweite Stimme. Zu Fußnoten in literarischen Texten". In: Poetica 33.3-4, 2001, S. 337-53, Harald Weinrich: „Titel für Texte". In: Jochen Mecke, Susanne Heiler (Hgg.): Titel — Text — Kontext. Randbezirke des Textes. Festschrift für Arnold Rothe ζ«"ΐ 65. Geburtstag. Berlin - Cambridge 2000, S. 3 - 1 9 . Die umfassende Arbeit von Breyl arbeitet zwar nicht mit dem Bgriff des Paratextes, führt aber einen anderen Begriff ein, um die funktionale Einheit der verschiedenen Paratextelemente zu beschreiben: „Der Begriff ,Rahmenkomposition' ermöglicht es, unterschiedliche Bild- und Textsorten als Einheit zu behandeln: Titelbild, Porträt des Autors und des Widmungsadressaten, Illustrationen zu bestimmten Themen des Vorspanns einerseits, Titelblatt, Dedikation, Vorrede, Ehrengedichte, Register, Anmerkungen und Nachwort andererseits." (Jutta Breyl: Pictura loquens - poesis tacens. Studien zu Titelbildern und RahmenkomposiHonen
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sches Interesse entfalten und beispielsweise über das Verhältnis des Paratextkonzepts zu dem Begriff des Parergons nachdenken, wie ihn Derrida geprägt hat. 15 Auch (und teilsweise mit einem gewissen zeitlichen Vorsprung) wurde der Begriff auf andere, ,nicht-biblionome' Medien übertragen, wie beispielsweise auf Film, Fernsehen und neue Medien.16 Nicht zuletzt angesichts dieser bei aller Kritik im einzelnen eher affirmativen Aufnahme des Konzepts muß Genettes Versuch einer Synthese der unterschiedlichen paratextuellen Elemente ernstgenommen werden. Dabei ist der Paratextbegriff in ein kommunikations- und texttheoretisches Rahmenprogramm einzubeziehen.17 Im folgenden geht es einerseits
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der erzählenden Uteratur des 17. jahrhunderts von Sidneys ,Arcadia" bis Ziglers „Banise". Hg. v. Hans Geulen, Wolfgang Harms, Nikola von Merveldt. Wiesbaden 2006, S. 11.) - Ich komme auf die hier und in der vorangehenden Fußnote angeführten Arbeiten im Verlauf der Arbeit zurück. Jacques Dugast: „Parerga und Paratexte. Eine Ästhetik des Beiwerks". In: Gerard Raulet, Burghart Schmidt (Hgg.): Vom Parergon ^um labyrinth. Untersuchungen %ur kritischen Theorie des Ornaments. Wien - Köln - Weimar 2001, S. 101-10, Uwe Wirth: „Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung". In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performan^. Stuttgart - Weimar 2004, S. 603-28. Zum Parergon siehe Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Makrei. Wien 1992 [1978]. - Auf Derridas Fassung des Parergon-Begriffs komme ich in 1.4 zurück. Darauf verweist Georg Stanitzek: „Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung". In: Klaus Kreimeier, G. S. (Hgg.): 'Paratexte in Uteratur, Film, Femsehen. Berlin 2004, S. 3 - 1 9 : Gerade die Filmwissenschaft habe schon angesichts der filmischen Produktionsbedingungen jene „kommunikationstheoretische Abstraktion" (S. 13) zu vollziehen, an der es bei Genette fehle. Zugleich aber mache das Metzsche Konzept der „unpersönlichen Enunziation" grundsätzlich deutlich, daß für Filme wie für Texte im allgemeinen von einer ähnlichen Situierung gegenüber dem Rezipienten auszugehen ist (siehe Christian Metz: Die unpersönliche EnunsgaHon oder der Ort des Films. Münster 1997, besonders S. 152 ff.). Zentrale Arbeiten zum Paratext im Film sind Alexander Böhnke, Alan Smithee, Georg Stanitzek: „Formen des Vorspanns im Hollywoodfilm und im westeuropäischen Autorenfilm seit 1950". In: SPIEL 20.29, 2001, S. 270-83, Alexander Böhnke, Rembert Hüser, Georg Stanitzek: Das Buch %um Vorspann. „the title is a shot'. Berlin 2006, Alexander Böhnke: Paratexte des Films. Über die Grenzen des filmischen Universums. Bielefeld 2007. Zur Paratextualität in den neuen Medien siehe beispielsweise: Jochen Mecke: „Randbezirke des Hypertextes". In: J. M., Susanne Heiler (Hgg.): Titel — Text - Kontext. Randbe^jrke des Textes. Festschrift für Arnold Küthe spm 65. Geburtstag. Berlin - Cambridge 2000, S. 51-72, Knud Böhle: „Inkunablenzeit: Theoreme, Paratexte, Hypertexte. Eine Nachlese". In: Georg Christoph Tholen, Martin Warnke, Wolfgang Coy (Hgg.): HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien. Basel - Frankfurt/M. 1997, S. 119-50. Untersuchungen zum Paratext im Fernsehen verweisen auf dessen Bedeutung für den für dieses Medium charakteristischen flow, innerhalb dessen Einheiten erst konstituiert werden müssen; siehe Knut Hickethier: „.Bleiben Sie dran!' Programmverbindungen und Programm. Zum Entstehen einer Ästhetik des Übergangs im Fernsehen". In: K. H., Joan Bleicher (Hgg.): Trailer, Teaser, Appetiser. Zu Ästhetik und Design der Programmverbindungen im Femsehen. Hamburg 1997, S. 15—57, sowie (im selben Band, S. 59-66): Jörg Adolph, Christina Scherer: „Begriff und Funktionen: Programmpräsentation und Fernseh-Design an den Nahtstellen des Programms im deutschen Fernsehen". Stanitzek weist auf die Genettes Argument inhärente Ausblendung eines kommunikationstheoretischen Rahmens ausdrücklich hin (Stanitzek: „Texte, Paratexte, in Medien", 11 ff.).
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darum, Genettes theoretische Bemühungen genauer zu rekonstruieren, andererseits um eine Entfaltung dieses Rahmenprogramms. Dabei werden an einigen Stellen Genettes Ausführungen gegen den Strich gelesen. Doch sind seine Arbeiten oft gerade insofern von besonderem Interesse, als sie durch die Entwürfe systematischer Unterscheidungen ufmerksam machen auf die Schwierigkeiten, die diese Unterscheidungen aufwerfen.18 Genettes Buch setzt ein mit einer Betonung der Schwellenfunktion von Paratexten, der zugleich die Bezeichnung ,Paratext' geschuldet ist, wie er mit einem Zitat von J. Hillis Miller deutlich macht: Para ist eine antithetische Vorsilbe, die gleichzeitig Nähe und Entfernung, Ähnlichkeit und Unterschied, Innerlichkeit und Äußerlichkeit bezeichnet [...], etwas, das zugleich diesseits und jenseits einer Grenze, einer Schwelle oder eines Rands liegt, den gleichen Status besitzt und dennoch sekundär ist, subsidär und untergeordnet wie ein Gast seinem Gastgeber oder ein Sklave seinem Herrn. 1 9
Das ,para-Artige' dessen, was der Untertitel der deutschen Ausgabe von „Seuils" als „Beiwerk des Buches"20 bezeichnet, harrt noch einer genaueren Bestimmung. Genette selbst interessiert sich auch im weiteren Verlauf seiner Untersuchung für den Paratext als Schwellenphänomen.21 Gleichwohl ist immer dann, wenn es um den eigentümlichen Status der Schwelle selbst geht, eine gewisse Zögerlichkeit zu spüren. Wirklich definiert wird der Paratext als solcher nicht, vielmehr kommt es zu einer Bewegung des definitorischen Aufschubs, die Genettes Arbeit - vermutlich entgegen
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Dies betrifft auch die narratologischen Arbeiten Genettes. Daß es auch Genette selbst durchaus um diesen Punkt geht, zeigt Remigius Bunia: Rez. v. Gerard Genette: Metalepse. De la figure ä la fiction. In: Poetica 36, 2004, S. 453-56. Genette: Paratexte, S. 9 (Zitat J. Hillis Miller). Die Bedeutung des griechischen π α ρ ά ist recht vielfältig. Als Präposition mit dem Genitiv kann es „bei, neben" heißen, und auch mit dem Dativ bzw. dem Akkusativ verwendet bezeichnet es ein Verhältnis der Nähe, wenn nicht der Kontiguität und Zugehörigkeit. Als Adverb hingegen heißt π α ρ ά „über hinaus", und in einem ähnlichen Sinn kann es als Präfix Jenseitiges andeuten ( π α ρ ά ς etwa heißt „jenseitiges Ufer"). Siehe Wilhelm Gemoll: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. Neunte Auflage. Durchgesehen und erweitert von Karl Vretska. Mit einer Einfiihrung in die Sprachgeschichte von Hein% Kronasser. Wien 1991, S. 569. Hierzu vgl. Thomas Schestag: ,„Call me Ishmael"'. In: Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek (Hgg.): Paratexte in Uteratur, Film, Femsehen. Berlin 2004, S. 21-42. Für den Begriff des .Beiwerks' gibt es interessanterweise keinerlei Entsprechung im französischen Original. Siehe Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin 2007, S. 288. Gleichwohl gelingt es ihm, so Schestag, letztlich nicht, den eigentümlichen Status des Paratextes definitorisch zu fassen. Schestag geht den Strukturen dieses Versagens angesichts der Bestimmung dessen, „was vor den Anfang des bloßen nackten Textes zurück und über dessen Ende hinausgeht" (Schestag: „,Call me Ishmael'", S. 27), anhand konkreter Textbefunde nach.
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ihrer Intention - mit poststrukturalistischen Verfahren kompatibel macht.22 Die unterschiedlichen Elemente des Paratextes und die „vielgestaltige Menge von Praktiken und Diskursen", die sie darstellen, werden, so Genette einleitend, aufgrund einer „Gemeinsamkeit ihrer Interessen" oder einer „Übereinstimmung ihrer Wirkungen"23 zusammengefaßt. Die unterstellte gemeinsame ,Funktion' oder ,Wirkung' aller paratextuellen Elemente besteht einerseits in einer Art Präsentationsfunktion: „Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird".24 Insofern kommt dem Paratext eine einheitsstiftende Funktion zu. Andererseits ist er „Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im [...] Dienst einer besseren Rezeption des Textes".25 Allerdings ergeben sich sogleich Probleme hinsichtlich der Separierbarkeit des Paratextes und damit der Bestimmbarkeit seiner Grenzen. So bezeichnet Genette den Paratext mit einem Begriff Duchets als eine „,unbestimmte Zone' [Duchet] zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist".26 Der Paratext bildet „zwischen Text und Nicht-Text nicht bloß eine Zone des Ubergangs, sondern der Transaktion".11 Als „Zone des Übergangs" ist er weder Teil des einen noch des anderen Bereichs: Vom Text aus gesehen, gehört er zum Kontext, vom Kontext her gesehen aber zum Text. In ihm erweitert sich die Grenze zwischen Text und Nicht-Text (Lotman28) zu einer Grenzregion wobei noch geklärt werden muß, was das bedeutet.29 Ausgehend von einer Überlegung, die das mittelalterliche .Aufschreibesystem' betrifft, kommt Genette hinsichtlich der Präsentationsfunktion der Paratexte zu weitergehenden Schlüssen, wenn er behauptet, daß „das bloße Abschreiben - aber auch die mündliche Weitergabe — [...] der Idealität des Textes eine schriftliche oder lautliche Materialisierung" verschaffe, „die sich [...] paratextuell auswirken kann."30 Weiter heißt es: „In diesem Sinne läßt sich gewiß behaupten, daß es keinen Text ohne Paratext 22
23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. Stanitzek: „Texte, Paratexte, in Medien", S. 10 f., Monika Wehrheim-Peuker: Rez. v. Gerard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 37, 1990, S. 506-08, King: Paratextuality in Balzac's ,La Peau de ChargrinS. 5. Genette: Paratexte, S. 10. Genette: Paratexte, S. 10. Genette: Paratexte, S. 10. Genette: Paratexte, S. 10. Weiterhin beruft sich Genette auf Compagnon und Lejeune. Genette: Paratexte, S. 10. Siehe Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1993 [1972], S. 300 ff. Siehe 1.4. Genette: Paratexte, S. 11.
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
gibt oder je gegeben hat". 31 Die Allgemeinheit dieser Aussage ist bemerkenswert. Denn während Genette sich in weiten Teilen seiner Arbeit einer bloßen Bestandsaufnahme verschreibt und vor allem danach fragt, welche paratextuellen Erscheinungen tatsächlich vorkommen, 32 verweist er hier auf eine Möglichkeit der systematischen, genauer: funktionalen Bestimmung des Paratextes, die ich im folgenden stärken möchte. Zwar sind paratextuelle Erscheinungen historisch bedingt, doch ist ihre Basisleistung unabhängig davon als die Erzeugung und Organisation textueller Einheiten zu beschreiben. Irgendeine Form von Paratextualität überhaupt ist notwendig, wenn Texte als fixierte Strukturen für Kommunikation anschlußfähig sein sollen. In diesem Sinn ist der Paratext, so könnte man Genettes Ausführungen gemäß dem oben skizzierten Verhältnis zwischen Text und Kommunikation präzisieren, eine Art Schalt- oder Schnittstelle: Er ist eine textuelle Struktur, also eine Struktur, die der Fixiertheit von Texten entspringt, die zugleich aber die Einbindung des Textes in kommunikative Zusammenhänge ermöglicht oder zumindest erleichtert und katalysiert. Insofern wird hier der kommunikative ,Gebrauch' des Buches nicht nur angegeben, sondern überhaupt erst ermöglicht. Dabei steht der Paratext zwar neben dem Text, gehört ihm aber gewissermaßen auch an — womit eine der beiden möglichen Bedeutungen des Präfixes para, nämlich para im Sinne von ,bei, neben', abgedeckt wäre. Das Genettesche Konzepts ist insofern ein wenig uneindeutig, als es jenseits der basalen Funktion, textuelle Einheiten der Kommunikation zuzuführen, noch eine zweite Funktion des Paratextes anführt: Er soll eine ,bessere Rezeption des Textes' ermöglichen. Diesem Wechsel des Blickwinkels entspricht, daß sich die Aufmerksamkeit von der Funktion der Textkonstitution hin zu der derjenigen der Werkkonstitution verlagert - unter Genettes Prämissen hin zu einem Konzept des Autors. Die relativ wenig beachtete Unterscheidung von Epitext und Peritext zeigt diesen Wechsel des Gesichtspunkts deutlich an. Der Peritext besteht nach Genette aus Elementen, die „im Umfeld des Textes" situiert sind, „innerhalb ein und desselben Bandes, wie der Titel und das Vorwort, mitunter in den Zwischenräumen des Textes, wie die Kapitelüberschriften oder manche Anmerkungen". 33 Hingegen umfaßt der Epitext jene Elemente, die zwar ,,[i]mmer noch im Umfeld des Textes" zu finden sind, „aber in respektvoller (oder vorsichtiger) Entfernung" und die „zumindest ursprünglich außerhalb des Textes angesiedelt sind". 34 Binczek hat darauf hingewiesen, daß sich die beiden Sorten von Paratexten hinsichtlich ihres definitori31 32 33 34
Genette: Paratexte, S. 11. Dabei bezieht er sich im wesentlichen auf die Neuzeit. Genette: Paratexte, S. 12. Genette: Paratexte, S. 12.
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sehen Bezugspunkts unterscheiden.35 Dieser ergibt sich beim Peritext aus der Einheit des Buchs, beim Epitext hingegen aus der Einheit von Autor und Werk. Erst vom bestehenden Werk aus kann etwas zum Epitext werden. Dies hat weitreichende Folgen, beispielsweise fur den Begriff des Autors: Mit dem Umlenken vom Buch zum Autor und damit supplementär zum Werk entsteht aber ein kaum behebbarer Widerspruch zwischen der Vielfalt paratextueller Spielarten, die sich am Automamen beobachten lassen, und dem Autor als intentionale Kontrollinstanz und juristisch verbürgte Kategorie; eine Konkurrenz zwischen dem Autor als Paratext und dem Autor als Garant von Werkeinheit. 36
Allgemeiner könnte man sagen, daß am Genetteschen Paratextbegriff eine Überlagerung zweier Funktionen zu beobachten ist: Nicht nur konstituiert der Peritext den Text als solchen, wohingegen der Epitext auf den bereits konstituierten Text als Werk bezogen ist. Dieser doppelte Bezug wohnt in Genettes Beschreibung bereits dem Peritext inne: Auch hier ist der Autor eine Größe, die durch den Paratext erst erzeugt wird, während er zugleich als dessen „intentionale Kontrollinstanz" fungiert. Diese Bemühung der Autorinstanz aber ist ebenso zentral wie die Bestimmung des Paratextes über seine Schwellenfunktion. So spricht Genette dem Paratext die Funktion der Lektüresteuerung im Sinne des „Autors und seiner Verbündeten"37 zu: „[DJefinitionsgemäß" entspreche der Paratext der „Absicht des Autors".38 Man mag die doppelte Bestimmung des Paratextes für eine unnötige Schwäche der Arbeit Genettes halten. Ihre Problematik besteht vor allem darin, daß sie ein eindeutiges Kausalverhältnis suggeriert: Im Autor macht Genette eine Instanz aus, der die text- und die werkkonstitutive Funktion des Paratextes zugerechnet werden kann. Paratexte konstituieren Text und Werk, weil sie auktorial sind. Dieser Rückschluß muß unbefriedigend erscheinen, insofern er zirkulär ist, dies aber nicht eingesteht: Der Paratext nämlich ermöglicht überhaupt erst die Bezugnahme auf jene Instanz, die ihn angeblich autorisiert.39 Wenn man hingegen Kommunikation (allgemeiner: Sinn) als einen immer erst in der Rekursion sich ergebenden Zusammenhang denkt, muß auch die Intentionalität eines Autors als etwas erscheinen, was diesem (zumindest in der Kommunikation) erst im 35 36 37 38 39
Binczek: „Epistolare Paratexte", hier S. 118 ff. Binczek: „Epistolare Paratexte", hier S. 120. Genette: Paratexte, S. 10 Genette: Paratexte, S . l l . Siehe Stanitzek: „Texte, Paratexte, in Medien", S. 9. - Die grundlegende Ambivalenz des Paratextes wird übersehen von der sprechakttheoretischen Rekonstruktion des ParatextKonzepts durch Marie Maclean: „Pretexts and paratexts: the art of the peripheral". In: New Literary History 22, 1991, S. 273-79.
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Nachhinein zugeschrieben werden kann. Soll der Paratext als das einfach zu handhabende Instrument des Autors gelten, so muß seine Funktionalität im Grunde bereits gesichert sein. Der Autor taugt insofern nicht als singulare Instanz, auf die die basale Konstitutionsfunktion der Paratexte zurückgeführt werden kann. Umgekehrt verhelfen erst Paratexte dazu, eine solche Instanz (oder mehrere) im Nachhinein zu konstruieren. Dann erst können zweckfunktionale Zurechnungen, wie sie nahezu durchgängig im Zentrum des Genetteschen Interesses stehen, vorgenommen werden. Die Komplexität dieser wechselseitigen Konstitutionsverhältnisse, die sich zwischen dem Paratext, dem Haupttext und dem Text als Werk beobachten läßt, gerät in Genettes Arbeit aus dem Blick. Obwohl Genettes Verdienst gerade darin besteht, daß er nach der Bedingung der Möglichkeit von Einheitenbildung fragt, setzt er im Buch Text- und Werkeinheit zu sehr in eins. Damit wird die Frage ausgeblendet, wie sich Text und Werk unterscheiden bzw. wechselseitig konstituieren. Der Verdacht liegt nahe, daß sie auf unterschiedlichen Ebenen zu situieren sind und daß Paratextuelles auf beiden Ebenen eine Rolle spielt.40 Wenn Genette angesichts von Abgrenzungsproblemen - was ist Paratext, was nicht? - seine Zuflucht in der Rückbindung an die Autorinstanz sucht, so ist dies dennoch in gewisser Hinsicht stimmig: Gerade als Schwelle, als der Ort, an dem der .Gebrauch' des Textes gegeben, d. h. seine Einbindung in einen kommunikativen Zusammenhang wahrscheinlich gemacht wird, kann der Paratext im Nachhinein als Ort der Implementierung zweckhafter Pragmatiken lesbar werden, insbesondere also als Ort auktorialer Einflußnahme. Allerdings sollte man sich die Option offenhalten, die Grenzregion des Paratextes als Kreuzungspunkt unterschiedlicher Pragmatiken anzusehen, die auch von Instanzen ausgehen mögen, mit denen der Autor nicht unbedingt freiwillig verbündet ist (man denke etwa an Übersetzer). Vielleicht gelingt es so, den zuweilen vorherrschenden Eindruck zu vermeiden, für den Begriff des Paratextes sei angesichts der defizitären primären Bestimmungen letztlich die pure Aufzählung seiner Elemente konstitutiv.
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Das in der Literatur- und Kulturwissenschaft vorherrschende „Zugleich von Unterscheidung undNicht-Unterscheidungvori Werk und Text, das den Ausgangspunkt der programmatischen Überlegungen von Stanitzek zum Paratext bildet (Stanitzek: „Texte, Paratexte, in Medien", S. 4), wird im folgenden sozusagen unter der Hand einer systematischen Betrachtung unterzogen.
2. Paratextualität: Einheit durch Konfiguration
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2. Paratextualität: Einheit durch Konfiguration Bevor ich auf die werkkonstitutive Funktion von paratextuellen Strukturen zu sprechen komme, ist noch einmal ausführlich auf das Moment der Textkonstitution einzugehen. Wolf hat mehrfach den Vorschlag gemacht, durch eine formale Definition des Paratextes eine größere Klarheit und Offenheit des Konzepts sicherzustellen: „the problem of Genette's notoriously hazy definition of ,paratexts' can be alleviated by qualifying them as verbal and by insisting on a separation of paratexts from the main text on the levels of layout and/or typography as major criteria".41 Auch Wolf kommt allerdings nicht umhin, bei Paratexten, die nicht in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Text stehen, also bei Epitexten, auf die Kategorie des Autors zurückzugreifen.42 41
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Werner Wolf: „Framing Fiction. Reflections on a Narratological Concept and an Example: Bradbury, Mensonge". In: Walter Grünzweig, Andreas Solbach (Hgg.): Grtn^iiberschreitungen: Narratologie im Kontext/Transcending Boundaries: Narratology in Context. Tübingen 1999, S. 9 7 124, S. 108. „Hilfreich erscheint [...] eine engere Definition von P[aratext] als Sonderfall produktionsseitiger literarischer] ,Rahmung', die im Gegensatz zu sonstigen Rahmungsformen verbal ist, werkintern auf Texte außerhalb des (theoretisch) von den P[aratext]en isolierbaren eigentlichen' Werkes und werkextern auf vom Autor autorisierte Texte beschränkt wäre." (Wolf: „Paratexte", S. 414.) Moennighoff geht noch weiter und schließt - wenn auch nur für die speziellen Bedürfnisse einer Studie über Gedichttitel - auch die Epitexte aus dem Bereicht des Paratextuellen aus: „Paratexte sind Texte und stehen in der Umgebung eines Textes beziehungsweise einer Mehrzahl von Texten." (Moennighoff: Goethes Gedichttitel\ S. 23.) Entsprechend behandelt Moennighoff die Epitexte auch nicht in einer Überblicksdarstellung über Paratexte (Moennighoff: „Paratexte"). Das Bedürfnis, das Genettesche Konzept zu vereindeutigen, ist im übrigen relativ weit verbreitet. So werfen auch MacLachlan und Reid Genette vor, er unterscheide nicht hinreichend „between those framing items that strike a reader as prefixed or suffixed to the text [...], which we call circumtextual, and those that seem to disrupt internally the reading process [...], which we call intratextual." (Gale MacLachlan, Ian Reid: Framing and Interpretation. Victoria 1994, S. 104.) Ähnlich definiert Joachim Brand: Der Text %um Bild. Untersuchungen ψ den Erscheinungsformen und paratextuellen Tunkhonen von sprachlichen Bestandteilen deutschen graphischen Tolgen und Zyklen des 19. Jahrhunderts. Marburg 1993, S. 36-39. Jürgensen wiederum schließt Epitexte aus dem Bereich des Paratextuellen aus, um sich „bei der Analyse des Paratextes auf diejenigen Elemente" zu beschränken, „die konstitutiv mit einem Werk verbunden sind" (Jürgensen: „Der Rahmen arbeitet", S. 24). Daß Genette die Epitexte gerade aufgrund ihrer werkkonstitutiven Funktion in die Untersuchung einbezieht, berücksichtigt Jürgensen nicht. Er verzichtet am Ende ganz auf eine „feste Definition des Paratextes" (S. 35). - Demgegenüber ist es mein Anliegen zu zeigen, daß die Schwierigkeit, die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen des Textes, ja auch zwischen dem Epi- und dem Peritext, präzise festzulegen, den Paratext gerade charakterisiert: Er ist, wie auch die Arbeiten von Wirth und Dugast betonen, Parergon im Sinn von Derrida (Dugast: „Parerga und Paratexte", Uwe Wirth: „Performative Rahmung, parergonale Indexikalität. Verknüpfendes Schreiben zwischen Herausgeberschaft und Hypertextualität". In: U. W. (Hg.): Performan^. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. 2002, S. 403-33, hier S. 4 0 9 - 1 4 , Uwe Wirth: „Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung"). Literarische
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Wenn hier im folgenden ein ähnlicher Vorschlag gemacht wird, so geht es dabei nicht darum, die Uneindeutigkeiten, die das Genettesche Konzept mit sich bringt, gänzlich zu beseitigen, wie es offenbar Wolfs Ziel ist, der dem zweckfunktionalen Paradigma verpflichtet bleibt. Vielmehr soll der Genettesche ,zweckintentionale Kurzschluß' vermieden werden. Paratexte werden in ihrer Bedeutung für rekursiv sich ergebende Kommunikations- und Sinnzusammenhänge betrachtet. Dabei wird angenommen, daß ihr paradoxer Status als „Zone des Ubergangs" bzw. Grenzregion ebenso konstitutiv für sie ist wie die in ihnen statthabende Uberlagerung unterschiedlicher Strategien und Pragmatiken, von denen nicht gesagt ist, daß sie sich auf eine Autorintention rückführen lassen. So kann man vielleicht dem Zugleich einer text- und werkkonstitutiven Funktion des Paratextes gerecht werden, ohne dabei den Unterschied zwischen beiden Funktionen zu vernachlässigen. Eine rein formale Definition des Paratextes anhand von Layout und Typographie — mit Bunia könnte man von einer „dispositive [n] Bestimmung von Paratextualität"43 sprechen - ist sicherlich praktikabel, wenn auch Wolfs Beschränkung auf ,verbale' Paratexte als nicht unbedingt notwendige mediale Beschränkung aufgefaßt werden mag. Es kann durchaus einfach von formal ausgezeichneten Texteinheiten ausgegangen werden, ohne daß die Substanz dessen, was hier Text ist, genauer spezifiziert würde. Es gilt allerdings noch deutlicher herauszustellen, welche Implikationen die Rede von der formalen Auszeichnung einer Text-(und eben nicht: Werk-)einheit hat. Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, die die formale Dimension der Textorganisation in historischer Hinsicht untersuchen, wenn sie sich auch nicht des Paratextbegriffs bedienen. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist die Entwicklung des „Schriftbildjs] der Moderne"44 im 12. Jahrhundert entscheidend. Die Forschung hat sich mit der Umstellung, die zu diesem Zeitpunkt stattfindet, immer wieder auseinandergesetzt — als bahnbrechend kann dabei wohl ein Aufsatz von Parkes gelten.45 Am wirk-
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Texte wissen indes nicht nur um die parergonalen Eigenschaften des Paratextes, sie setzen seine ambivalente Situierung zuweilen auch formbildend ein. Bunia: Taltungen, S. 289; siehe im einzelnen S. 284-91. Ivan Iiiich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar Hugos„Didascalicon". Frankfurt/M. 1991. M[alcolm] B. Parkes: „The Influence of the Concepts of Ordinaüo and Compilatio on the Development of the Book". In: J . J . G. Alexander, Μ. T. Gibson (Hgg.): Medieval Learning and Literature. Oxford 1976, S. 115-41. Parkes' Darstellung geht - auch wenn ihre Detailliertheit und Präzision bewundernswert ist — unterschwellig von einer Vorgängigkeit der intellektuellen Entwicklung aus, als deren Reflex sie die Neugestaltung der Buchseite ansieht; diese wird daher zu wenig als Bedingung der Möglichkeit neuer Arten und Weisen zu denken angesehen. — Siehe hierzu außerdem Ernst-Peter Wieckenberg: Zar Geschichte der Kapitelüberschrift im deutschen Roman vom 15. Jahrhundert bis %um Ausgang des barock. Götüngen
2. Paratextualität: Einheit durch Konfiguration
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mächtigsten ist - wohl nicht zuletzt aufgrund der enormen Prägnanz seiner Formulierungen im deutschen Sprachraum indes Illichs Untersuchung über den „Weinberg des Textes", die diese Umstellung anhand einer Lektüre von Hugos von St. Viktor „Didascalicon" beschreibt - laut Illich „das erste Buch, das über die Kunst des Lesens geschrieben wurde".46 Hugos Text nimmt, so Illich, eine Zwischenstellung in der historischen Abfolge zweier Modelle von Text und Lektüre ein und markiert damit eine Transformation, die ebenso große Auswirkungen gezeitigt hat wie die Durchsetzung des Buchdrucks rund dreihundert Jahre später, ja sogar als Vorbedingung dieser Durchsetzung gelten kann.47 Illich unterscheidet zwischen dem monastischen und dem scholastischen Lesen und entsprechend zwischen einem eindimensionalen und einem zweidimensionalen Verständnis von Text. Dabei rekonstruiert er sehr eindrücklich die institutionellen und diskursiven Rahmenbedingungen, die sowohl die ein- als auch die zweidimensionale Schriftgestaltung jeweils prägen. Das Bewußtsein seiner Zweidimensionalität ermöglicht völlig neue Formen des kommunikativen Anschlusses an den Text.48 Umgekehrt
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1969, S. 28 f., M[alcolm] B. Parkes: Pause and Effect. An Introduction to the History of Punctuation in the West. Berkeley — Los Angeles 1993, S. 41 ff., und Paul Saenger: Space Between Words. The Origins of Silent Reading. Stanford 1997; ferner (überblicksartig) Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens. Darmstadt 2006, S. 154-64 sowie die folgenden Arbeiten aus Roger Chartier, Guglielmo Cavallo (Hgg.): A History of Reading in the West. Amherst - Boston 1999 [1995]: Mjalcolm] B. Parkes: „Reading, Copying and Interpreting a Text in the Early Middle Ages", S. 90-103, Jacqueline Hamesse: „The Scholastic Model of Reading", S. 103-19, Paul Saenger: „Reading in the Later Middle Ages", S. 120-48. Zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen der Entwicklung siehe Parkes: „The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio", S. 137 f., Hamesse: „The Scholastic Model of Reading", S. I l l ff., und Stein: Schriftkultur, S. 164ff. Illich: Im Weinberg des Textes, S. 13. So schreibt Illich: „Wenn ich recht habe, war die Erfindung der beweglichen Lettern das auffälligste Ereignis innerhalb einer übergreifenden Epoche, des Zeitalters des biblionomen Textes." (Illich: Im Weinberg des Textes, S. 123.) Der Buchdruck wird insofern eher als Katalysator der Verfestigung paratextueller Unterscheidungen angesehen werden müssen. Für ähnliche Einschätzungen siehe Parkes: „The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio", S. 135, Stein: Schriftkultur, S. 176 ff. Zur Entwicklung und zu den Effekten des Buchdrucks siehe ausführlich Michael Giesecke: Oer Buchdruck in derfrühen Neuheit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1991. Vgl. hingegen eine Äußerung von Grüttemeier: „Paratext", S. 571, der die von Illich in den Blick genommene Transformation nicht berücksichtigt: „Unbeschadet der Tatsache, daß einzelne Aspekte des P[aratextes] wie Autorname, Titel, Zwischentitel, Zueignung [...] und Vorwort Wurzeln haben, die bis in die griechische Antike zurückreichen, beginnt die Geschichte des P[aratextes] mit dem Buchdruck. Das entscheidende Argument für eine solche Chronologie ist die aus der zunehmend mechanisierten Produktion der Bücher resultierende Ausdifferenzierung einzelner P[aratexte], wie etwas des Titels, der erst 1470/80 einen festen Platz im Buch auf einem eigenen Titelblatt erhält." Als eine dieser neuen Anschlußmöglichkeiten macht Camille eine neuartige Form der Buchillustration aus (Michael Camille: „Glossing the Flesh: Scopophilia and the Margins of
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
bedeutet seine Eindimensionalität eine gewichtige Einschränkung möglicher Anschlußformen. So resümiert Illich: „Für Hugos Generation ist das Buch wie ein Korridor, dessen Haupteingang das inäpit ist."49 Der Text wird analog zur Rede als eine lineare Verkettung verstanden.50 Man findet einzelne Stellen nicht auf Anhieb, und das ist auch gar nicht der Sinn der Lektüre. Denn das monastische, dem eindimensionalen Text verpflichtete fromme Lesen ist meditativ und setzt auf die ,Inkorporation' des Gelesenen: Eine andere als lineare Lektüre ist gar nicht möglich, und beim Lesen wird, so Illich, vermittels des Murmeins „die Seite [...] buchstäblich einverleibt".51 Der scholastische Leser hingegen hat kein unmittelbar
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the Medieval Book". In: David C. Greetham (Hg.): The Margins of the Text. Ann Arbor 1997, S. 245-67, S. 251 ff.). Illich: Im Weinberg des Textes, S. 101. Damit fallt das dem ,monastischen Lesen' verpflichtete Textmodell hinter bereits bekannte Techniken zurück: So kennt die lateinische juristische Epigraphik im ersten Jahrhundert nach Christus interpuncta, rubrica, Randnummern usw. (siehe Wolfgang Raible: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionspro^esses. Heidelberg 1991, S. 6 ff.). Saenger weist darauf hin, daß die scriptio continua nur für Alphabete möglich war, die Vokalzeichen kannten, während Alphabete ohne Vokalzeichen - und das sind zunächst alle Alphabete im Mittelmeerraum - immer schon Wortzwischenräume kannten (Saenger: Space Between Words, S. 9 ff.). Die Durchsetzung der smptio continua, die mit der Einführung der Vokalzeichen möglich wurde, könne aber keinesfalls als Rückfall bewertet werden, insofern das Konzept einer leserfreundlichen Schrift und der breiten Ausbreitung der Lesefahigkeit ohnehin nicht gegeben war, sondern vielmehr auf exklusive Leseformen und die .Arbeit' der Lektüre Wert gelegt wurde (S. 11 f.). In der schriftlichen Uberlieferung bleibt daher bis zum Ende des siebten Jahrhunderts die scriptio continua üblich. Allerdings führte bereits die vulgata des Hieronymus aus dem vierten Jahrhundert spatia zwischen den (späteren) Bibelversen ein (Raible: Die Semiotik der Textgestalt, S. 8). Wieder durchgesetzt hat sich der Gebrauch von Wortabständen in englischen und irischen Skriptorien, und von dort aus verbreitete er sich über Europa. (Parkes zufolge dürfte die sprachliche Entfernung zwischen dem Lateinischen und den Volkssprachen auf den britischen Inseln einer der Gründe dafür gewesen sein, daß gerade hier der Gebrauch der Wortzwischenräume wiederentdeckt wurde; siehe Mfalcolm] B. Parkes: „The Contribution of Insular Scribes of the Seventh and Eighth Centuries to the .Grammar of Legibility'". In: Μ. B. P.: Scribes, Scripts and Readers. Studies in the Communication, Presentation and Dissemination of Medieval Texts. London - Rio Grande 1991 [1987], S. 1 - 1 8 , Parkes: Pause and Effect, S. 20 ff., Parkes: „Reading, Copying and Interpreting", S. 96 ff., auch Stein: Schriftkultur, S. 161.) Saenger zeigt ausführlich, daß sich im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Formen der Wortseparierung entwickelten (für eine Ubersicht siehe Saenger: Space Between Words, S. 18 ff., insbesondere die Tabelle auf S. 45; die hier aufgeführten unterschiedlichen Formen der Schriftgestaltung werden dann in einer Reihe von Einzelkapiteln behandelt). Illich: Im Weinberg des Textes, S. 57. Saenger legt sehr differenziert dar, daß die unterschiedlichen Formen der Wortseparierung, die sich zwischen dem siebten und dem zwölften Jahrhundert entwickeln, das stille Lesen überhaupt erst ermöglichten (für den Grundgedanken siehe Saenger: Space Between Words, S. 6 ff.). Neben dem stillen Lesen gestatten sie aber auch neue Verfahren der Textproduktion, weil Autoren nicht mehr auf Schreiber, denen sie diktieren, zurückgreifen, sondern eigenhändig (zweidimensionale) Konzepte entwerfen (Saenger: Space Between Words, S. 249 ff.). Das stille Lesen wiederum ermöglicht neue Formen des Unterrichts (S. 258 ff.) sowie der Bibliotheksarchitektur (S. 261 ff.). Die neuartige private
2. Paratextualität: Einheit durch Konfiguration
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,leibliches' Verhältnis zum Text mehr, für ihn ist das Buch bereits ein „untersuchbare[r] Text". 52 Diese Umstellung des Lektüremodells hat damit zu tun, daß der Text nicht mehr als ,Korridor' angesehen wird: ,,[N]ach Hugo kann das Buch an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen werden, und die Wahrscheinlichkeit, daß der Leser das Gesuchte findet, ist groß." 53 Das bewirken einerseits Absatzstrukturen, das bewirkt andererseits die systematische Kompilation von Wissen in Büchern mit „neuen Verweisungs- und Erschließungsmitteln". 54 Damit gilt: ,,[A]us der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende". 55 Für die Geschichte der Paratextualität ist von einigem Interesse, daß die zweidimensionale Auffassung vom Text paratextuelle Strukturen gewissermaßen verfestigt. Zwar werden auch schon zuvor Marginalien oder interlineare Schrift in die Manuskripte eingefügt. Solange jedoch der Text als ,Korridor' aufgefaßt wird, kann es passieren, daß man diese bei der Abschrift wieder dem eigentlichen' Text zurechnet, so daß die paratextuelle Unterscheidung wieder verloren geht. 56 Die im 12. Jahrhundert entwickelten Textstrukturen, die die Argumentationsstruktur schon anhand des Schriftbilds deutlich machen, bedeuten demgegenüber eine Stabilisierung solcher Unterscheidungen. 57 Mich zählt eine ganze Reihe von Errungenschaften auf, die dank dieser Stabilisierung eine Orientierung im Text und damit eine neue Ordnung ermöglichen: Das neue Seitenbild, die Kapiteleinteilungen, Distinktionen, das konsequente Durchnumerieren von Kapitel und Vers, die neue Inhaltsangabe für das ganze Buch, die Übersichten zu Beginn des Kapitels, die dessen Untertitel benennen, die Einführungen, in denen der Autor erklärt, wie er seine Darstellung aufbauen will, sind alle Ausdruck eines neuen Ordnungswillens. 58
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Lektüre befördert die Ausbreitung von Heräsie (S. 264 f.), Pornographie (S. 275 f.) und intime Formen der Spiritualität (S. 276 f.).— Vgl. zur Geschichte des stillen Lesens auch Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Berlin 1998, S. 55-69. Mich: Im Weinberg des Textes, S. 101. Mich unterscheidet zwischen dem eindimensionalen Text als einer „Partitur für fromme Murmler" und dem „optisch planmäßig gebautefn] Text für logisch Denkende" (Mich: Im Weinberg des Textes, S. 8). Mich: Im Weinberg des Textes, S. 102. Mich: Im Weinberg des Textes, S. 103. Zur compilatio siehe grundlegend Parkes: „The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio", S. 127 ff., und Hamesse: „The Scholastic Model of Reading", 106 ff. Mich: Im Weinberg des Textes, S. 8. „Damals entstanden Texte aus Tangenten zu älteren Texten, die dann langsam von den neuen absorbiert wurden." (Mich: Im Weinberg des Textes, S. 104.) Dieser Effekt einer Stabilisierung wird durch die mit dem Buchdruck gegebene Möglichkeit der massenhaften identischen Reproduktion noch einmal gesteigert. Mich: Im Weinberg des Textes, S. 110. Das saubere Layout, das nun konzipiert wird, ist insbesondere „das Ergebnis eines der Mitte des 12. Jahrhunderts eigenen Kalküls beim
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
Der Gipfelpunkt ist die Entwicklung alphabetischer Indices, die den gezielten punktuellen Zugriff auf Textstellen ermöglichen.59 Wenn aber die Buchseite selbst bzw. das auf ihr eingetragene Schriftbild bereits als Symbol einer Ordnung gilt, dann bedeutet dies, daß nun jeder paratextuelle Unterschied als konstitutiv für die Bedeutung des Textes angesehen werden kann. Das „Schriftbild der Moderne", dessen Entstehung Mich nachgeht und das ihm zufolge zum Katalysator einer gänzlich neuen Vorstellung von Ordnung wird, beruht mithin auf einer sehr basalen, offenbar aber keinesfalls selbstverständlichen Einsicht: Die Rede von der neuen Zweidimensionalität des Textes bedeutet, daß nun mehrere lineare Zusammenhänge als einem Text zugehörig erkannt (und entsprechend in der Abschrift reproduziert) werden können. Die formale Definition des Paratextes läuft mithin darauf hinaus, die Bedingung der Möglichkeit von Paratexten in der Unterbrechung textueller Uneantät zu sehen, und zwar in einer Unterbrechung, die gleichwohl keinen neuen Text erzeugt, sondern in der Einheit des Textes aufgehoben ist.60 Wenn man die formale Auszeichnung eines Textelements mit Wolf als konstitutiv für dessen Bestimmbarkeit als Paratext ansieht, so liegt dieser Auszeichnung ein Schema zugrunde, das es ermöglicht, separierte lineare Texteinheiten in einen nicht-linearen Zusammenhang zu bringen. Dieses Schema möchte ich im folgenden Paratextualität nennen. Die Paratextualität eines Textes besteht dann in der mittels der Zusammenstellung der Gebrauch der Buchstabengröße." (S. 105.) Eingeführt werden die regelgemäße Zitatkennzeichnung, Farbwechsel, Quellenangaben usw. Petrus Lombardus gibt als Herausgeber einem Text von Aristoteles eine eigene Textstruktur. „Die sichtbare Seite ist nun nicht mehr die Aufzeichnung von Äußerungen, sondern die visuelle Darstellung einer durchdachten Beweisführung." (S. 106.) Parkes zufolge führt diese Entwicklung zu einer neuen Begriffsprägung: Das Verfahren, die Ordnung der Argumentation am Schriftbild sichtbar zu machen, heißt von nun an ordinatio (Parkes: „The Influence of the Concepts of Qrdinatio and Compilatio", S. 120 f.). 59
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Am wichtigsten aber ist Ende des 12. Jahrhunderts die Entdeckung, daß man das Alphabet als Mittel zur Ordnung von Begriffen verwenden kann — sie geschieht überraschend spät, wenn man bedenkt, daß die Reihenfolge der Buchstaben sich über Jahrtausende hinweg erhalten hat. Mich spricht geradezu „von einem Prä- und Post-Index-Mittelalter" (Illich: Im Weinberg des Textes, S. 109). Siehe auch Parkes: „The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio", S. 131 f. Zu dieser Konsequenz siehe auch Remigius Bunia: „Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen ,Erzähler' und ,Paratext', angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von Ε. T. A. Hoffmann". In: Poetica 36, 2005, S. 373-92, S. 379: „Dies legt nahe, erstens bei der Abgrenzung von Peritextualität vom funktionalen Paradigma auf ein typographisches umzuschwenken und zweitens dem Peritext eine völlig andere ,Kardinalfunktion' zuzuschreiben als diejenige einer Rezeptionslenkung. Dann ließe sich unter ,Peritext' allgemeiner dasjenige verstehen, was mittels typographischer Dispositive die Linearität eines Buches sprengt." Bunia hat in der Fortsetzung dieser Überlegungen vorgeschlagen, das „Medium Buch" über die Peritexte als „[konstitutive Formen" (Bunia: Faltungen, S. 287) zu beschreiben (siehe den Abschnitt S. 284-91).
2. Paratextualität: Einheit durch Konfiguration
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einzelnen linearen Texteinheiten erzeugten Struktur. Die Komplexität des Phänomens ,Paratext' beruht damit auf der schlichten Tatsache, daß der Text nicht nur aufgrund seiner paratextuellen Struktur als Einheit erfaßt werden kann, sondern zunächst einmal trotΐζ dieser Struktur, die ja die lineare Einheit des Textes zerstört.61 Dieses Zugleich von Unterbrechung und Wiederanbindung erzeugt jene Paradoxien, die für das Paratextuelle konstitutiv sind. Der zweidimensionale Text muß gewissermaßen immer wieder paratextuell zusammengesetzt, konfiguriert werden: Als Konfiguration ist Paratextualität zugleich Ereignis und Ergebnis dieser Zusammensetzung.62 Mittels Paratextualität können Formen des kommunikativen Anschlusses auf eine neue Art und Weise konditioniert werden: Die Unterbrechung des linearen Textes läßt die Auszeichnung einzelner Stellen des Textes als bevorzugten ersten Zugriffspunkten zu. Paratextualität ermöglicht die Emergenz von textuellen, d. h. fixierten Strukturen, die als solche dazu beitragen, den kommunikativen Anschluß an den Text wahrscheinlich zu machen. Unabhängig von der Frage, nach welchen Kriterien sich die in der Genetteschen Zusammenstellung angeführten Elemente des Paratextes auswählen lassen, gilt es daher festzuhalten, daß seit dem 12. Jahrhundert ganz offenkundig eine Ausdifferenzierung derjenigen Elemente stattgefunden hat, an denen in je unterschiedlicher Weise Strategien ansetzen, die nicht nur die Rezeption als solche, sondern eine .optimale' Rezeption des Textes sicherstellen wollen. Die Bestimmung dieser (je unterschiedlichen) Strategien unter zweckfunktionalen Prämissen ist im wesentlichen das Projekt des Buchs von Genette. 61
In diesem Sinn stiftet Paratextualität immer schon eine Struktur, die derjenigen elektronischer Hypertexte ein Stückweit entspricht: Der Zusammenhang, den Paratextualität trotζ der Linearitätsunterbrechung herstellt, wird im elektronischen Hypertext durch den Link gewissermaßen manifest. Diese Parallele deutet sich in einem Beitrag von Mecke an (Mecke: „Randbezirke des Hypertextes", insbesondere S. 55 f.), auch wenn hier die Differenz zwischen elektronischen Hypertexten und ihren Vorläufern in einigen Punkten überschätzt wird. Meckes Beobachtung, daß im elektronischen Hypertext vormals „virtuelle Bezüge", wie sie beispielsweise Fußnotenzeichen und Literaturhinweise herstellen konnten, „manifest werden" (S. 56), verdient allerdings Beachtung. Eine umfassende Bestandaufnahme neuerer Hypertexttheorien leistet Annina Klappert: Die Perspektiven von Link und Lücke. SiAtaeisen aufJean Pauls Texte und Hypertexte. Bielefeld 2006. Klappert legt ihrer Arbeit die Unterscheidung Link/Lücke zugrunde, von der ich annehme, daß sie auch zur Beschreibung von Paratextualität dienlich sein dürfte: Aus der Perspektive des Link lassen sich textuelle Verknüpfungen beschreiben, aus derjenigen der Lücke bloße Verknüpfungspotentiale (siehe einführend S. 20-44). Textualität ist immer beides zugleich - wie bereits die strukturalistische Sprachtheorie lehren kann. Das Zugleich von Unterbrechung und Wiederanbindung, das Paratextualität erzeugt, ist dann nichts anderes als eine Möglichkeit, das Zugleich von Link und Lücke im Text zu konfigurieren. Siehe zum Hypertext auch Uwe Wirth: „Performative Rahmung, parergonale Indexikalität", S. 414—22.
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Zu diesem Begriff von Konfiguration siehe VII. 1.
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
Alles Paratextuelle verweist mithin einerseits auf die gleichsam materielle Einheit des eigentlichen Textes als eines Fixierten und ist insofern dasjenige, was das Bei- und Nebeneinander des Textes als Einheit organisiert. Andererseits ergibt sich eine zweite Bedeutung des Präfixes para, insofern der Paratext in besonderer Weise die kommunikative Anschlußfahigkeit des Textes herstellt.63 Dieser Bezugspunkt des Paratextuellen nämlich ist, wie eingangs betont wurde, jenseits des bloß Textuellen, des Buchstäblichen zu situieren — wenn auch im steten Rückbezug darauf. Und so heißt Paratext als Schwelle auch dasjenige, was jenseits des Textes, jenseits seiner Textualität zu situieren wäre. Der Paratext weist in diesem Sinn über das bloß Textuelle hinaus auf die kommunikative Einbindung des Textes. So gesehen gibt der Paratext, um noch einmal auf Novalis zurückzukommen, den ,Gebrauch' des Textes nicht nur an, sondern er gibt ihn, insofern er eher als etwas in Erscheinung tritt, das bereits kommunikativ eingebunden, mithin ,Gebrauch' ist: Ein Beispiel wäre der Titel eines ungelesenen Buchs.64 Paratexte sind in gewisser Weise definiert über diese doppelte Anschlußmöglichkeit: Insofern Paratextualität als ein Schema zur Stiftung textueller Einheit die Ausdifferenzierung privilegierter erster Zugriffspunkte des Textes ermöglicht, können diese privilegierten Einheiten des Textes, eben die Paratexte, zugleich als (wie auch immer äußerliche) Bestandteile des Textes und als gleichsam bereits in die rekursiven Zusammenhänge der Kommunikation eingebunden begriffen werden.65 63
Im Rahmen einer systemtheoretischen Fragestellung hat Baecker die Differenz von Text und Paratext aufgegriffen (Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!"). Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Paratexte dazu dienen können, schriftliche Kommunikation wahrscheinlich zu machen. Paratexte werden dabei nicht nur auf der Ebene der buchstäblichen' Dimension des Textes als Rahmen begriffen, sondern getreu der Genetteschen Formulierung als „Praktiken und Diskurse": „Diese Praktiken und Diskurse sind kommunikativer Art. Ihnen wäre also bereits gelungen, was dem Text erst noch gelingen muß." (S. 48.) Als „Schwellen des Übergangs zu Phänomenen und Realitäten anderer Art" (S. 49) haben sie kommunikativen Anschluß bereits gefunden.
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Siehe hierzu Horst-Jürgen Gerigk: „Titelträume. Eine Meditation über den literarischen Titel im Anschluß an Werner Bergengruen, Leo H. Hoek und Arnold Rothe". In: Jochen Mecke, Susanne Heiler (Hgg.): Titel - Text - Kontext. Randbe^rke des Textes. Festschriftfür Arnold Rothe %um 65. Geburtstag. Berlin - Cambridge, MA 2000, S. 21-28. Diese (in ihrer Systematik teils etwas unpräzise) Arbeit geht von der Behauptung aus, Titel seien „am lebendigsten, solange man den Text, den sie benennen, noch gar nicht kennt." (S. 21.) Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!", diskutiert diese Doppelung anhand der auf Gregory Bateson und Jürgen Ruesch zurückgehenden Unterscheidung von Kommunikation und Metakommunikation. Baecker beantwortet die Frage, inwiefern bei schriftlicher Kommunikation Metakommunikation, die bei mündlicher Kommunikation immer mitläuft, ebenfalls obligatorisch ist, indem er Paratexte, insofern sie funktionieren, als Metakommunikation beschreibt: „Diese Paratexte sind Metakommunikationen in jenem schwierigen Sinn, daß sie auf Kommunikationen verweisen, die der Text selber gerade nicht leistet, nicht leisten kann und nicht leisten will. [...] [E]s geht bei diesen Metakommunikationen um die Operation der Ausdifferenzierung des Textes selber, die beide Seiten der Diffe-
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2. Paratextualität: Einheit durch Konfiguration
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Sie stellen im Sinne meiner Eingangsbemerkungen eine Grenzregion zwischen dem fixierten Text als dem Innen und kommunikativen Prozessen als dem Außen dar. Die paratextuelle Struktur eines Textes ermöglicht es damit auch, den Text im kommunikativen Anschluß an ihn als Werk zu behandeln, also als fur sich bestehende, abgeschlossene und wiederverwendbare Einheit 66 — womit sich die Form des Werks als eine Art Schnittstelle zwischen Textualität und Kommunikation beschreiben läßt. Nur wenn ich - im Zweifel nach der Lektüre eines Paratextes — weiß, daß es sich bei einem Text um ein mehrbändiges Lexikon handelt, kann ich die qua Paratextualität höchst zerstreuten Texteinheiten zusammenfassend als ein Werk beobachten, dessen interne paratextuelle Differenzierung dann wiederum als Garant dieser Einheit aufgefaßt werden kann. Die Einheit des Werks konstituiert sich also innerhalb eines kommunikativen Zusammenhangs auf der Basis paratextueller Gegebenheiten, die zugleich die Einheit des Textes konstituieren. Die Rede von der Einheit des Textes bzw. des Werkes sollte nun allerdings nicht vergessen lassen, daß der Paratext gleichwohl weiterhin als Ort der Überlagerung vielfältiger Pragmatiken beschreibbar ist. Denn die Einheit des Werks kann sich in unterschiedlichen kommunikativen Zusammenhängen je unterschiedlich konstituieren. Legt man unterschiedliche Systemreferenzen zugrunde, so ergibt sich beispielsweise im Rechtssystem eine andere Auffassung von der Einheit des Textes als Werk (wenn es sich um einen Roman handelt: eine urheberrechtliche) als im Wirtschaftssystem (Buch als Ware). Man wird den einzelnen Elementen des Paratextes vielleicht sogar eine größere funktionale Vielfalt zubilligen müssen als den .eigentlichen' Texten - ist doch eine Reihe von Zusammenhängen denkbar, in denen zwar an Teile des Paratextes, nicht aber an den Text selbst angeschlossen wird (beispielsweise im Buchhandel oder in Bibliotheken). 67 Und schließlich ließe sich fragen, inwiefern sich Texte als
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renz betrifft und auf beiden Seiten der Differenz für Variationen unter streng bestimmten Bedingungen empfänglich ist." (Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!", S. 50.) Dies ist letztlich ein rhetorischer Werkbegriff. Siehe hierzu Heinrich Lausberg; Elemente der literarischen Rhetorik, München 1990 [1949], S. 16 f. Lausberg unterscheidet zwischen der bloßen ,Verbrauchsrede' und der ,Wiedergebrauchsrede', die mithin Werkcharakter hat. Letztere wird in typischen Situationen wiederholt gehalten, weil sie „ihre Brauchbarkeit zur Bewältigung dieser typischen Situationen ein fiir allemal (innerhalb einer als konstant angenommenen sozialen Ordnung) behält." (S. 17.) Auch Stanitzek verweist darauf, daß die Beobachtung des Paratextes zwangsläufig „einen Prozeß der Differenzierung" einleite (Stanitzek: „Texte, Paratexte, in Medien", S. 9). Baecker versucht, diese heterogene Vielfalt, als die der Paratext lesbar wird, im Anschluß an Harrison C. White mit dem Begriff des Netzwerks zu fassen (Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!", S. 49). Weinrich macht für Titel den Vorschlag, von einer Priorität ihrer „memorielle[n\ Funktion" auszugehen (Weinrich: „Titel für Texte", S. 14).
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
Texte konstituieren lassen, ohne jemals als Werk (oder überhaupt) kommunikativ eingebunden zu werden: Sind nicht beispielsweise Spickzettel Texte, die zwar als Texteinheiten funktional sind - die paratextuelle Organisation ist für einen guten Spickzettel entscheidend - , aber gerade nicht dazu gedacht, von anderen gelesen zu werden?68 Zahlreichen Funktionalisierungen von Paratexten ist indes gemeinsam, daß sie Texte als „Kompaktkommunikationen" präsentieren und sozusagen das Angebot machen, sie genauer zu beobachten, d. h. an sie anzuschließen. Mittels ihrer Paratexte suchen Texte kommunikativen Anschluß.69 In begrifflicher Anlehnung an jüngere kultur- und medienwissenschaftlicher Forschungsergebnisse70 kann formuliert werden, daß Paratexte die Funktion der Adressierung von Texten übernehmen. Dabei muß 68
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Die Frage, die dahinter steckt, ist, ob Texten, die nur als Gedächtnisstützen dienen, der Werkcharakter, so wie er hier definiert wurde, abgesprochen werden muß. Laut Luhmanns Beschreibung seines Zettelkastens scheinen solche Texte allerdings sogar zu Kommunikationspartnern avancieren zu können. (Siehe Niklas Luhmann: „Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht". In: N. L.: Universität als Milieu. Kleine Schriften. Hg. v. Andre Kieserling. Bielefeld 1992, S. 53-61.) Damit ist allerdings noch nichts gesagt über das Verhältnis, in das Paratext und Text treten, wenn diese Suche erfolgreich gewesen ist. Baecker weist darauf hin, daß die dem Text zu entnehmende Information in merkwürdiger Weise die vom Paratext geweckte Erwartung zugleich bestätigen und nicht bestätigen muß: „Es muß etwas anderes passieren als das, was die Paratexte bereits sind. Aber das, was da passiert, muß sich von den Paratexten so unterscheiden, daß sie bestätigt werden. Das Konzept, das sich für die Beschreibung dieses intrikaten Verhältnisses einer Verschränkung von Identität und Differenz anbietet, ist das Konzept der ,Selbstähnlichkeit', das heißt des Wiedereintritts der Form in die Form." (Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!", S. 51.) Das damit in den Blick geratende Wechselspiel von Vorwegnahme und Erfüllung zwischen Paratext und Haupttext, das gleichwohl nie in eine dialektische ^Aufhebung' mündet, führt Derridas Lektüre Hegelscher (und anderer) Vorreden detailliert vor (Jacques Derrida: „Buch-Außerhalb. Vorreden/Vorworte". In: J. D.: Dissemination. Wien 1995 [1972], S. 9-68): Dem philosophischen Anspruch, der Text spreche (ebenso wie der Begriff) ,fiir sich', er bedürfe keiner Explikation und keiner Vorrede, steht die Zirkularität wechselseitiger Bedingungsverhältnisse zwischen Vorreden und Haupttexten, ja zwischen Haupttexten, die sich wechselseitig zu Vorreden erklären, entgegen: ,,[D]ie Vorrede wird zwangsläufig und strukturell unabschließbar" (S. 42). Für eine Analyse des (ähnlich intrikaten) Verhältnisses von Titel und Text siehe Jacques Derrida: „Titel (noch zu bestimmen). Titre (ä preciser)". In: Friedrich A. Kitder (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Paderborn — München — Wien u.a. 1980, S. 15-37. Für systemtheoretische Ansätze im engeren Sinn siehe Peter Fuchs: „Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie". In: Sociale Systeme 3, 1997, S. 57—79, Rudolf Stichweh: „Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem". In: Stefan Andriopoulos, Gabriele Schabacher, Eckhard Schumacher (Hgg.): Die Adresse des Mediums. Köln 2001, S. 25-33. Zur Verwendung des Begriffs in der neueren kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung siehe im selben Sammelband: Jürgen Fohrmann: „Medien beschreiben / Medien adressieren: Apostrophe - Bestimmung - Lektüre", S. 9 7 99, Bernhard Dotzler, Erhard Schüttpelz, Georg Stanitzek: „Die Adresse des Mediums. Einleitung", S. 9-15, Bettine Menke: „Adressiert in der Abwesenheit. Zur romantischen Poetik und Akustik der Töne", S. 100-20.
3. Rahmen als Grenzen
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sich die Adressierung nicht notwendigerweise auf Personen beziehen, sondern kann allgemeiner als (erst im Nachhinein lesbarer!) VorgrifP 1 auf den Ort möglicher Anschlußkommunikationen verstanden werden. Diese Definition bedarf in ihren einzelnen Bestandteilen der genaueren Explikation und wird Gegenstand weiterer Ausführungen sein. 72 Festzuhalten ist aber: Ein Text kann auch an das Rechtssystem adressiert sein. Oder an die Moral. Oder eben an die Kunst.
3. Rahmen als Grenzen Auf einer allgemeineren Ebene lassen sich viele der Bestimmungen, die für den Paratext getroffen wurden, auf den Rahmen beziehen, zumindest insofern man ihn — wie im Fall des Bilderrahmens - als Grenzregion ansieht. 73 In diesem Fall läßt er sich als Parergon beschreiben, in dem Sinn, den Derridas Kant-Lektüre 74 dem Terminus gegeben hat; sogar die Doppeldeutigkeit des Präfixes para kann dann in Anschlag gebracht werden. Und schließlich ergibt sich für den Bilderrahmen, ähnlich wie für den Paratext, eine Funktion der Adressierung, wie Duro sie auf der Grundlage neuerer kunsthistorischer und kunsttheoretischer Forschung (auf die zurückzukommen sein wird) feststellen kann, die die Funktion des Bilderrahmens mit Althussers Terminus der interpellation beschreibt. 75 Duros
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Diese vorgreifende Produktivität der Adressierung betont insbesondere Menke: „Adressiert in der Abwesenheit", S. 100 f.: „Der Sprechakt der Adressierung bringt mit der Gegenwart des Geschehens, das er ist, eine fiktive Gegenwärtigkeit hervor. Diese hat die Präsenz des Angesprochenen vorzustellen - und muss umgekehrt die Macht des (An-)Sprechenden, den der Sprechakt ein- und sich voraus-j·«/^, belegen." Sie konstatiert sodann eine metaleptische Struktur des Sprechakts der Adressierung. Siehe II.5 und VII. Entsprechend ist in der Forschung oft von Rahmen die Rede, wenn Paratexte oder ihnen verwandte Textstrukturen behandelt werden — man denke nur an die Rede von ,Rahmenerzählungen'. Allerdings ist die Bandbreite dessen, was als .Rahmen' untersucht wird, erstaunlich breit: So bezeichnet eine Studie von Caws als ,frames' „certain passages [that] stand out in relief from the flow of the prose and create, in so standing, different expectations and different effects" (Mary Ann Caws: Reading Frames in Modern Fiction. Princeton, NJ 1985, S. xi). Kyndrup betitelt eine Studie, die allgemein eine Art Feldtheorie der Literatur entwirft und nur am Rande auf paratextuelle Strukturen eingeht, „Framing and Fiction" (Morten Kyndrup: Framing and Fiction. Studies in the Rhetoric of Novel, Interpretation, and Histoiy. A Composition. Aarhus 1992). Eine gute Ubersicht über die Bandbreite der Rahmenbegriffe, die sich in der Literaturwissenschaft und in ihrem näheren Umfeld finden, bietet MacLachlan, Reid: Framing and Interpretation. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 31 ff. „For Marin, then, it is the frame that positions us at the matrix of a scopic regime. The frame allows us to experience the artwork as unproblematically present. Pursuing this idea further, we might say - borrowing the term Louis Althusser used to describe ideological
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
Äußerung läßt vielleicht darauf schließen, daß die anhand der Unterscheidung von Text und Kommunikation herausgearbeitete Adressierungsfunktion des Paratextes allgemeiner einer Adressierungsfunktion von Rahmen entsprechen könnte. Auf den Begriff des Rahmens als Grenzregion komme ich in 1.4 zurück, um ihn (im Anschluß an die eingangs getroffenen Beobachtungen) genauer zu definieren. Um dies jedoch leisten und anschließend den Zusammenhang zwischen Paratext und Rahmen herstellen zu können, ist es zunächst notwendig, die Grenze zu charakterisieren, die ein Rahmen markiert. Wie rahmensetzende Grenzziehungen funktionieren und was sie implizieren, kann systematisch anhand des bereits angeführten Rahmenbegriffs von Goffman 7 6 verdeutlicht werden. In seiner überaus einflußreichen Arbeit - sie ist für ganze Forschungstraditionen richtungsweisend geworden77 - bestimmt Goffman Rahmen in Anlehnung an Bateson als Organisatoren von Erfahrung: Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse — zumindest für soziale — und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen
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positioning - that the frame interpellates' us and offers us the seemingly unique experience of looking. It is in this sense that we experience the illusory coherence of the artwork — our expectations are confirmed and we see in it the promise of a unity beyond everyday reality." (Paul Duro: „Introduction". In: P. D. (Hg.): The Rhetoric of the Frame. Essays on the Boundaries of the Artwork. Cambridge 1996, S. 1-10, S. 5; Hervorhebung von mir.) Zu Althussers Begriff der interpellation siehe Andrea Allerkamp: Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur. Bielefeld 2005, S. 52 ff. Erving Goffman: Rahmen Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung. Frankfurt/M. 1980 [1974], Siehe Deborah Tannen: „What's in a Frame? Surface Evidence for Underlying Expectations". In: D. T. (Hg.): Framing in Discourse. New York - Oxford 1993 [198η, S. 14-56. Tannen unterscheidet zwei Forschungstraditionen, eine, der es um „interactive ,frames of interpretation'" geht, und eine, die „knowledge structures" rekonstruiert, die auch als .„schema"' (S. 59) bezeichnet werden: „The interactive notion of frame, then refers to a sense of what activity is being engaged in, how speakers mean what they say". Hingegen spricht man von einem ,„knowledge schema' to refer to participants' expectations about people, objects, events and settings in the world, as distinguished from alignments being negotiated in a particular interaction." (S. 60.) Für einen Überblick über die zuerst genannte Forschungstradition siehe Deborah Tannen, Cynthia Wallat: „Interactive Frames and Knowledge Schemas in Interaction: Examples from a Medical Examination/Interview". In: D. T. (Hg.): Framing in Discourse. New York - Oxford 1993 [198η, S. 57-76, für die andere Tradition siehe David A. Snow, E. Burke Rochford Jr., Steven Worden u. a.: „Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation". In: American Sociological Review 51,1986, S. 464-81. — Vgl. zu diesem Forschungsgebiet insgesamt die Ausführungen in MacLachlan, Reid: Framing and Interpretation, S. 40-84, speziell zu Goffman S. 46-60.
3. Rahmen als Grenzen
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Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich ,Rahmen'. 78
Rahmen helfen uns dabei, Situationen zu definieren, in denen wir uns oft ohne unser Zutun - befinden. Das geht so weit, daß mitunter eine Wirkung erzeugt wird, die uns in eine qua Rahmen definierte Situation ,hineinzieht'. Rahmen lassen dann, so Goffman, in ihrem Innern ein „Reich"79 entstehen; sie etablieren mithin eine spezifische Unterscheidung zwischen einem Innen und einen Außen. Man kann — dies ein Beispiel Goffmans - angesichts eines Schachspiels die Frage, was sich gerade ereigne, auf zweierlei Weise beantworten: Man sagt entweder, es finde ein Schachspiel statt und unterscheidet damit das Schachspiel von anderen möglichen Situationen; oder man sagt beispielsweise, die schwarze Dame bedrohe gerade den weißen König. In diesem Fall bezieht man sich nur auf die durch den Rahmen ,Schachspiel' geschaffene Situation, von der damit vorausgesetzt wird, daß sie bereits unterschieden ist von dem, was ansonsten stattfindet.80 Diese rahmenspezifische Unterscheidung von Innen und Außen schränkt, solange man den jeweiligen Rahmen beachtet, im Inneren des Rahmens Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen ein (der Läufer etwa kann sich nur diagonal über das Brett bewegen), regelt aber auch, ob und wie Übergänge zwischen Innen und Außen möglich sind. Einen Großteil seiner Arbeit verwendet Goffman darauf, diese durch Rahmen ins Werk gesetzten Regelungsmöglichkeiten zu beschreiben. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, daß sich der zu Beginn seines Buches eingeführte Begriff des „primären Rahmens"81 mehr und mehr verflüchtigt: Er bezeichnet diejenigen Rahmen, die Situationen als unmittelbar und echt {wirklich) markieren. Davon unterschieden werden solche Situationen, die aufgrund einer Transformation nicht mehr in ähnlicher Weise unmittelbar und echt sind, was beispielsweise in Spielsituationen der Fall ist (hier spricht Goffman von „Modulation"82), aber auch dann, wenn versucht wird, jemanden zu täuschen.83 Im Laufe der Ausführungen 78 79 80 81 82 83
Goffman: Rahmen-Analyse, S. 19. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 58. Vgl. ähnliche Beispiele bei Goffman: Rahmen-Analyse, S. 58 f. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 31 ff. Für die Definition siehe Goffman: Rahmen-Analyse, S. 57. Zur Definition der „Täuschung" siehe Goffman: Rahmen-Analyse, S. 98. Von Modulation ist die Rede, wenn im wechselseitigen Einvernehmen primär gerahmte Handlungssequenzen in neue Handlungssequenzen transformiert werden; Grundbeispiel ist das Spiel. Von Täuschung hingegen ist die Rede, wenn eine solche Transformation nicht für alle Teilnehmer ersichtlich ist, sondern auf eine (böswillige) Verschwörung zurückgeht und damit Effekte hat, die den jeweils Getäuschten nicht im Vorhinein bewußt sein können. Modulation und Täuschung sind die Grundoperation der Transformation von Rahmen: „Es scheint so, daß ein Stück Handlung zweierlei in die Welt setzen kann, daß es als Muster dienen kann,
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Goffmans zeigt sich aber immer mehr - und seine eigenen „Folgerungen"84 legen dies ausdrücklich nahe —, daß die Unterscheidung zwischen primären Rahmen und solchen, die erst aus einer Transformation hervorgehen, in erster Linie eine operative Funktion erfüllt: Oft, so Goffman, rede er „von ,wirklich' lediglich zur Bezeichnung eines Unterschieds".85 Denn auch die „Probe für eine dramatische Auffuhrung", das „Gemälde von der Probe", ja sogar die „Reproduktion dieses Gemäldes" könne „das Original sein, von dem etwas die bloße Nachahmung ist — was den Gedanken nahelegt, das Eigentliche sei die Relation und nicht die Substanz."86 Als jeweils primärer Rahmen gilt - so läßt sich die Überlegung fortsetzen —, was mittels Modulation und/oder Täuschung in einen anderen Rahmen transformiert werden kann. Wichtig ist nicht dessen unmittelbare Gegebenheit, sondern daß er zum Ausgangspunkt einer Transformation werden kann. Goffmans theoretischer Entwurf erhält so einen fast schon kybernetischen Anstrich. Ergebnis der Transformationen ist jeweils die Etablierung einer neuen Innen/Außen-Unterscheidung inklusive neuer Ubergangsregeln. Ein zentrales Beispiel ist für Goffman das Theater,87 wobei er grundsätzlich derart hochspezialisierte Institutionen darum heranzieht, um die Wirksamkeit ähnlich komplexer Transformationen auch auf der Ebene des Alltagslebens nachzuweisen. Goffman zeigt, daß die Unterscheidbarkeit von Geschehen im Drama und in der .Wirklichkeit' auf der Möglichkeit beruht, diese durch die Unterscheidung gezogene Grenze gleichwohl fortwährend zu überschreiten. Ein Beispiel dafür ist der Monolog, aber auch andere Strategien ließen sich anführen, mit denen das Bühnengeschehen auf die Notwendigkeit Rücksicht nimmt, dem Publikum Einblick zu geben (beispielsweise durch Beiseitesprechen) oder auf es zu reagieren (beispielsweise indem man auf das Ende des Zwischenbeifalls wartet).88 In all diesen Fällen sind Ereignisse im Innenraum des Rahmens durch Vorgaben von außen konditioniert, ohne daß die Unterscheidung zwischen Innen und Außen damit schwieriger zu treffen wäre. Vielmehr können die Zuschauer nicht nur alle möglichen Nebensächlichkeiten' konsequent ausblenden (Husten im Publikum, Bühnenarbeiter im Hintergrund), sondern auch alle Rücksicht, die auf der Bühne auf sie genommen wird — ein Ef-
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von dem zwei Arten von Ableitungen hergestellt werden: eine Modulation oder eine Täuschung." (S. 98.) Tatsächlich kann es dann zu sehr komplexen Verschachtelungen dieser Grundformen kommen. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 602 ff. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 602. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 602. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 143 ff., et passim. Goffman: RahmenAnalyse, S. 158 ff. und S. 256 ff.
3. Rahmen als Grenzen
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fekt von Rahmen, dem Goffman immer wieder Bewunderung zollt.89 So kann dasjenige, was auf der Bühne geschieht, als eine vom Geschehen im Zuschauerraum und hinter der Bühne abgekoppelte, in sich geschlossene Ereignisfolge beobachtet werden, weil Innen und Außen auf eine bestimmte Art und Weise interagieren. Es gibt, wie Goffman formuliert, diverse Sorten von ,Nebenkanälen',90 auf denen sozusagen am Rahmen vorbei (aber dennoch nur dank seiner Wirksamkeit) kommuniziert werden kann. Nur so kann jener Sog entstehen, der beispielsweise aus dem Theaterbesucher einen Zuschauer werden läßt.91 Das Ergebnis solcher und anderer Transformationen beschreibt Goffman als Schichtung.92 Bei jedem Rahmen läßt sich unterscheiden zwischen einer inneren Schicht, „in der sich ein dramatisches Geschehen abspielen kann, das den Beteiligten [beispielsweise den Schachspieler] gefangennimmt", und einem „Rand des Rahmens, der uns sagt, welchen Status das ganze eigentlich in der äußeren Welt hat, wie kompliziert auch die Schichtung nach innen sei".93 Zeigt Goffman schon zu Beginn sexner Arbeit, daß primäre Rahmen tendenziell im Zusammenhang kosmologischer Interessen in den Blick geraten,94 so wird im Verlauf seiner Studie immer deutlicher, daß sie auch entsprechenden Ungewißheiten ausgesetzt sind: Die Frage, was eigentlich und wirklich der Fall sei, wird in ihrer Endgültigkeit nur metaphysisch zu beantworten sein. Konkret bedeutet dies, daß sich im Nachhinein jeder für primär gehaltene Rahmen seinerseits als Transformation eines anderen Rahmens erweisen könnte: Das Vorstellungsgespräch etwa war gar keines, weil die Stelle längst vergeben ist. Diese Möglichkeit der Transformation und damit der Transformiertheit des jeweils Gegebenen steht immer im Raum. Es ist möglich, über Rahmen zu verhandeln, so daß etwas, was als Verkaufsgespräch beginnt, später mit einem Heiratsantrag endet. Der „Rand" eines jeden Rahmens kann also seinerseits einen Rand aufweisen, und es kann sich im Nachhi-
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Goffman: Cabmen-Analyse, S. 165 ff. Im Zusammenhang mit dem Theater spricht Goffman von einem ,„Mehr-Kanal-Effekt"' (S. 166). Er erwähnt als Elemente, die die Kommunikation auf Nebenkanälen steuern, übrigens auch Interpunktion (Goffman: Rahmen-Analyse, S. 234 f.) und Paratextualität (Goffman: Rahmen-Analyse, S. 252 ff.); in diesem Zusammenhang verweist er auf Batesons und Rueschs Konzept der ,Metakommunikation' (Goffman: Rahmen-Analyse, S. 234, Fußnote 15). Hier zu siehe das Kapitel über „Verhalten außerhalb des Rahmens" (Goffman: RahmenAnalyse, S. 224 ff.). Goffman: Rahmen-Analyse, S. 96 f. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 96. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 37 ff.
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
nein zeigen, daß man seine Annahmen über den .eigentlichen' Status einer Situation in der Welt wird korrigieren müssen.95 Von Interesse sind diese von Goffman ausgehenden Betrachtungen hier auch deshalb, weil sie darauf aufmerksam machen, daß Rahmungen potentiell immer Veränderungen ausgesetzt sind. Goffman selbst betont, daß beispielsweise die Möglichkeiten, Transformationen anzuwenden (Goffman spricht von „Rahmungsgrenzen"96), historisch bedingt sind.97 Wenn sich in Fortsetzung seines Ansatzes behaupten läßt, daß es sich bei Rahmen immer um Transformationen handelt, dann lassen sich Rahmen auch als fortwährend zu reproduzierende Innen/Außen-Unterscheidungen beschreiben, die jeweils unterschiedliche Arten von Regeln für mögliche Wechselwirkungen zwischen Innen und Außen implizieren (also unterschiedliche ,Nebenkanäle' etablieren). Wenn aber Rahmen fortwährend reproduziert werden müssen, so sind sie (mitsamt des mitgeführten Regelwerks) nicht nur immer der Möglichkeit der weiteren Transformation ausgesetzt. Vielmehr impliziert die Tatsache, daß sich die durch den Rahmen etablierte Grenze durch die Etablierung von ,Nebenkanälen' definiert, eine gewisse Instabilität. Weil sich die Grenze konstituiert, indem man sie kreuzt, kann durch die Kreuzung die Grenze verändert werden: Man gewöhnt sich im Laufe der Zeit ab, vom Zuschauerraum aus das Geschehen auf der Bühne laut zu kommentieren. Damit bleibt zwar der Theaterrahmen erhalten, aber er verändert seinen Effekt. In dieser Pointierung legen Goffmans Überlegungen eine differenztheoretische Fassung des Rahmenbegriffs nahe, die sich mit den hier angestellten kommunikationstheoretischen Überlegungen zum Paratext stimmig verbinden läßt und darüber hinaus eine Reformulierung dieser Überlegungen ermöglicht, die für die Zwecke der Lektüren, die den Hauptteil dieser Arbeit bilden, besonders tauglich erscheint. Vor diesem differenztheoretischen Hintergrund werde ich von nun an von einer Rahmen Unterscheidung sprechen, wenn es darum geht, den Unterschied, den der Rahmen in die Welt setzt, markieren. 95
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Daraus ergibt sich eine fortgesetzte Bewegung der Rahmung und der Modulation von Rahmen, die Wirths Arbeiten sehr genau beschreiben. Wirths Verdienst ist nicht zuletzt, Überlegungen der Performanztheorie, in deren Tradition auch Goffmans Arbeit steht, mit Argumenten der Dekonstruktion und der Peirceschen Zeichentheorie verbunden zu haben. Dies fuhrt insbesondere zur „Entfaltung eines dynamischen Rahmenbegriffs" (Wirth: „Performative Rahmung, parergonale Indexikalität", S. 408), der die performative Dimension jeder Rahmung und zugleich ihre konstitutive Zweideutigkeit betont. Wirth verfolgt das performative Wirken des Rahmens insbesondere am Beispiel der Herausgeberfiktion und des Hypertextes (siehe auch Uwe Wirth: „Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung"). Goffman: Rahmen-Analyse, S. 66 ff. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 70.
3. Rahmen als Grenzen
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Es wurde bereits dargelegt, daß die Luhmannsche Theorie Kommunikation als rekursiven Prozeß beschreibt und sich daher vor allem dafür interessiert, welche Anschlußmöglichkeiten kommunikative Festlegungen jeweils erzeugen. Auf einer allgemeineren Ebene gründet diese Denkfigur auf eine Theorie der Beobachtung, die als Beobachter jedwede Instanz bezeichnet, die mittels Unterscheidung und Bezeichnung operiert.98 Soziale Systeme können dann ebenso als Beobachter beschrieben werden wie das Bewußtsein. Beobachtungen sind Operationen, die eine Unterscheidung treffen, indem sie eine Seite des Unterschiedenen bezeichnen, und ein Beobachter konstituiert sich nur in der Verkettung solcher Operationen. Entscheidend ist dabei, daß ein Beobachter seine jeweiligen Operationen nicht mittels dieser Operationen selbst in den Blick bekommen kann — darin besteht sein blinder Fleck — und daß daher die Verkettung der Beobachtungen eine Grenze produziert. Der Beobachter kann immer nur von der Innenseite jener Unterscheidung ausgehen, die seine eigenen Operationen in die Welt setzen, er kann die damit konstituierte Grenze nie überschreiten. Die entscheidende Frage, die sich im Zusammenhang der Luhmannschen Beobachtungstheorie stellt (und die auch seine Kommunikationstheorie, soweit sie hier rekonstruiert wurde, umtreibt), ist nun, wie Beobachtungen einerseits weitere Beobachtungen ermöglichen und andererseits die Möglichkeit weiterer Beobachtungen einschränken. Für die Untersuchung von Rahmenunterscheidungen ist der zweite Punkt wichtiger. Er impliziert nämlich die Möglichkeit einer Unterscheidung von Unterscheidungen hinsichtlich der Anschlüsse, die sie jeweils ermöglichen. In Goffmans Terminologie und im Bezug auf den ihn interessierenden Gegenstandsbereich entspricht dies der Frage, wie Rahmen nicht nur das Verhalten innerhalb der durch die Rahmung konstituierten Situation, sondern auch weitere Rahmensetzungen und -transformationen konditionieren. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen: Ein Portrait mit grünem Hintergrund hänge vor einer blauen Wand. Eine solche Beschreibung trifft eine Unterscheidung: Sie unterscheidet das Bild von demjenigen, was es umgibt. Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, weitere Beobachtungen zu treffen, die sich auf diese Unterscheidung zurückbeziehen. So läßt sich - beispielsweise in einer Diskussion darüber, ob die Einrichtung des Raumes, in dem das Bild hängt, gelungen ist oder nicht — behaupten, der grüne Hintergrund des Bildes passe nicht zum Blau der Wand. Eben diese Behauptung aber ist deplaziert, wenn über die künstlerische Qualität des 98
Grundlegend siehe Niklas Luhmann: „Die Paradoxie der Form". In: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt/M. 1993, S. 197-212.
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
Bildes diskutiert wird. In diesem Fall wird man die Behauptung als nicht zur Sache gehörig zurückweisen und ihr vorwerfen, das sei für die künstlerische Beurteilung des Bildes irrelevant. Man kann dann höchsten entgegnen, das Blau der Wand sei insofern unangemessen, als es in seinem Kontrast zum Grün des Bildes vom Bild ablenke - eine weiße Wand, ein ,white cube', wäre angemessener." Relevant ist aber auf jeden Fall eine Aussage etwa über das Verhältnis zwischen der Gesichtsfarbe des Porträtierten und dem Grün des Hintergrunds. Und ebenso ist es legitim oder sogar geboten, ein bestimmtes Wissen über die Welt, das nicht durch das Bild vermittelt wird, hinzuzuziehen. Ferner kann es für die künsderische Bewertung des Bildes einen gewichtigen Unterschied machen, daß gegenüber älteren Portraits ein gänzlich anderes Verfahren gewählt wurde. In diesem Fall konstituiert die Bezugnahme auf etwas, was außerhalb des Rahmens liegt, einen Unterschied, obgleich die Rahmenunterscheidung in Kraft bleibt. Die Tatsache aber, daß nur bestimmte Beobachtungen außerhalb des Rahmens innerhalb des Rahmens unterscheidend wirken, ist ein Effekt eben dieses Rahmens. Luhmanns Differenztheorie gibt Instrumente an die Hand, die spezifische Art der Exklusion, die ein Rahmen konstituiert, genauer zu beschreiben. Das Beispiel zeigt zunächst, daß die Rahmenunterscheidung (in diesem Fall markiert durch den Bilderrahmen als Rahmen eines Kunstwerks) auf einer bestimmten Ebene eine Exklusion bewirkt: Die Farbe der Wand kann und muß ignoriert werden.100 Zugleich sind auf anderen Ebenen Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenbeobachtungen erlaubt oder sogar erfordert. (Mit Goffman wäre von einer Unterscheidung zwi99
Siehe hierzu Brian O'Doherty: Inside the White Cube. The Ideology of Gallery Space. Expanded Edition. Berkeley - Los Angeles - London 1999 [1976]. 100 Vgl. Louis Marin: „The Frame of the Painting or the Semiotic Functions of Boundaries in the Representative Process". In: Seymour Chatman, Umberto Eco, Jean-Marie Klinkenberg (Hgg.): A Semiotic Landscape/ Panorana semiotique. Proceedings of the first Congress of the International assodation for semiotic studies (Milan, June 1974). The Hague - Paris - New York 1979, S. 777-82. Die Grenze der Repräsentation, so Marin, ,stülpt' einer einfachen' Unterscheidung, die sie auch markiert (innerhalb eines perzeptuell homogenen Raums), eine zweite Unterscheidung ,über', die als binäre Opposition funktioniert und eine Seite ausschließt. „By its boundary, the painting is excluded from the latter space [in dem Wand und Leinwand auf einer Ebene anzusiedeln sind] and is constituted in its own actuality by this very exclusion, the sign of which is its boundary." (S. 779.) „In effect, the boundary is the operator of this shift from the simple difference to the exclusive opposition. It is not only the place where this shift occurs but the instrument by which it is effected." (S. 780.) — In erstaunlicher Nähe zu dieser Beschreibung des Effekts von Rahmenunterscheidungen bewegt sich die folgende Formulierung von John Frow: „The frame can be anything that acts as a sign of a qualitative difference, a sign of a boundary between a marked and an unmarked space." (John Frow: Marxism and Literary History. Oxford 1986, S. 220). Allerdings betont Frow, daß seiner Arbeit gerade keine systemtheoretischen Konzepte zugrundelägen (S. ix).
3. Rahmen als Grenzen
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sehen Haupt- und Nebenkanälen zu sprechen.) Exklusion findet dabei auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung statt. Ein Beobachter erster Ordnung kann diese Exklusionsregeln nur mißachten, wenn die Rahmenunterscheidung nicht in Kraft getreten ist: wenn er sich etwa darum sorgt, ob das Portrait farblich zu seiner Tapete paßt. Portrait und Tapete treten dann in eine enge Beziehung zueinander. Kommt Beobachtung zweiter Ordnung - also die Beobachtung von Beobachtungen - ins Spiel, ist von anderen Gegebenheiten auszugehen. Insbesondere kann der Beobachter zweiter Ordnung sehen, daß der Beobachter erster Ordnung, der die Rahmenunterscheidung benutzt, Bild und Wand unterscheidet und erst dank dieser Unterscheidung die Wand .ignorieren' kann; so sieht der Beobachter zweiter Ordnung die Einheit der Unterscheidung Bild/Nicht-Bild und berücksichtigt die Wand also mit. Gerade in der Kunst beobachtet man gern die Rahmenunterscheidung: Bei der künsderischen Betrachtung des Portraits macht es einen großen Unterschied, ob und wie ich zugleich andere Portraits berücksichtige - also den Gebrauch der Unterscheidung, die die Form des Portraits definiert, beobachte. All dies spielt aber nur auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung eine Rolle. Eine Beschreibung der spezifischen Unterscheidungen, die Rahmen in die Welt setzen, über die Anschlußmöglichkeiten, die diese eröffnen und konditionieren, macht den Rahmen also als eine Innen/Außen-Unterscheidung definierbar, die bewirkt, daß Anschlußbeobachtungen erster Ordnung, die man ,außen' trifft, für dasjenige, was man ,innen' beobachtet, nur unter ganz bestimmten Bedingungen (durch den Einschluß des eigentlich Ausgeschlossenen) einen Unterschied machen. Eine Rahmenunterscheidung definiert also fiir Beobachtungen erster Ordnung eine Ebene, auf der Wechselwirkungen fischen Innen- und Außenbeobachtungen ausgeschlossen sind. Sowohl mit Luhmann als auch mit Goffman lassen sich Rahmenunterscheidungen bzw. die Operationen, die mit Rahmung zu tun haben, einerseits als historisch invariante Phänomene beschreiben: Wir haben es immer schon mit Rahmen zu tun, wenn wir uns in sozialen Umwelten bewegen. Andererseits heben beide Modelle in zweierlei Hinsicht die Möglichkeit diachroner Entwicklung hervor: Zum einen sind die von Rahmen implizierten Grenzen, Regeln und Restriktionen grundsätzlich der Evolution unterworfen. Insbesondere lassen sich historisch je unterschiedliche Arten und Weisen unterscheiden, die abstrakte Unterscheidung, als die der Rahmen hier definiert wurde, mit Erscheinungen wie beispielsweise dem konkret vorliegenden Bilderrahmen als einer Grenzregion in Verbindung zu bringen. Zum anderen verändert sich die Semantik, mittels derer man sich die Funktionalität von Rahmen vor Augen führt: Wie kann jeweils die rahmenspezifische Unterscheidung beschrie-
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
ben werden, welche Zusatzannahmen werden bei der Beschreibung jeweils getroffen? Beide Punkte beschäftigen die vorliegende Arbeit durchgängig. So bezieht sich die eingangs formulierte These, es ergebe sich spätestens mit der ästhetischen Autonomie die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Rahmung, auf eine historische Umstellung hinsichtlich der Übergangsregeln, die die jeweiligen Rahmenunterscheidungen implizieren.101 Die genauere Ausarbeitung dieser These erfordert allerdings auch die Auseinandersetzung mit den historischen Semantiken des Rahmens. Genauer wird es in allen Teilen dieser Arbeit immer auch darum gehen, zu bestimmen, wie jeweils nachzuweisende Semantiken der Grenze bzw. des Rahmens als Unterscheidung die Funktionalität textueller Grenzregionen beeinflussen und umgekehrt. Die Rekonstruktion dieser Semantiken wird dabei auf philosophische, poetologische und anthropologische Kontexte zurückgreifen. Sehr allgemein läßt sich mit Goffmans Begrifflichkeit sagen, daß sich an der Schwelle zur modernen Gesellschaftsordnung (und im Laufe eines recht langen Zeitraums) der Rekurs auf letztgültig bestimmbare primäre Rahmen mehr und mehr als verzichtbar erwiesen hat. Statt dessen hat sich herausgestellt, daß auch vorläufige und kontingente Grenzziehungen orientierende Funktion übernehmen können. Diese konzeptuelle Verschiebung bringt eine Anerkennung der konstitutiven Funktion von Kontingenz — dem Möglichen, aber nicht Notwendigen 102 — mit sich und geht einher bzw. ergibt sich in enger Wechselwirkung mit der Evolution neuer operativer Modi des Umgangs mit Grenzen.
4. Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion Diese Transformation des Konzepts der Rahmenunterscheidung steht in einer engen Beziehung zu der Unterscheidung zwischen intrinsischer und
101 Siehe hierzu insbesondere Kapitel V. 102 Diese basale Definition übernimmt Luhmann von Aristoteles (siehe Luhmann: Sociale Systeme, S. 152). Zum Kontingenzbegriff siehe auch W. Brugger: „Kontingenz. I. Der Begriff der K[ontingeti5>J in der Philosophie". In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Darmstadt 1976, S. 1027-34 (zu Aristoteles und zur Prägung des Aristotelischen Begriffs ,ένδεχόμενον' mit ,contingens' siehe S. 1028 f.) Zu Aristoteles vgl. auch Gisela Striker: „Notwendigkeit mit Lücken. Aristoteles über die Kontingenz der Naturvorgänge". In: Neue Hefte fir Philosophie 24/25, 1985, S. 146-64.
4. Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion
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extrinsischer Rahmung.103 Zusammenfassend läßt sich beispielsweise für den Bereich der bildlichen Darstellung 104 sagen, daß man angesichts der zunehmenden Reserve gegenüber einem Rekurs auf letztgültig bestimmbare primäre Rahmen von einer metaphysischen Einbettung absieht und statt dessen darauf vertraut, daß die Darstellung selbst eine Ordnung zu stiften und sich als Kunstwerk zu definieren in der Lage ist. Damit wird die intrinsische Rahmung des Kunstwerks von Verfahren der extrinsischen Rahmung unterscheidbar. Zum Zweck der Einführung soll hier kurz skizziert werden, wie im Fall der Rahmung von Bildern diese historische Transformation zu denken ist. Die damit entwickelten Begriffe werden anschließend für die Analyse der literarischen Texte von Nutzen sein. Zugleich bieten die Betrachtungen zur bildenden Kunst die Möglichkeit, den Begriff der Grenzregion als operativen Grundbegriff dieser Arbeit genauer zu definieren. Deutlich wird dann auch, wie sich im (Bilder-) Rahmen die Aspekte von Grenze und Grenzregion miteinander verschränken.105 In der Zeit vor vor der genannten Umstellung ist dasjenige, was sich im Innern der Grenzen einer Darstellung findet, unmittelbar auf metaphysisch oder theologisch fundiertes Wissen bezogen. 106 Der Bilderrahmen, 103 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 84. Die Kant-Analyse, innerhalb derer die Unterscheidung intrinsisch/extrinsisch eingeführt wird, rekonstruiere ich in V.2.b. 104 Theorie und Praxis der (bildlichen) Darstellung stehen in enger Verbindung mit der Geschichte des Rahmens als der Grenze der Darstellung. Zum (historischen) Begriff der Darstellung siehe Winfried Menninghaus: „.Darstellung'. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas". In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt „Darstellen"? Frankfurt/M. 1994, S. 205-26. Menninghaus beleuchtet die poetologische Dimension des Darstellungsbegriffs und sieht einen grundlegenden Wendepunkt der Semantik der Repräsentation bei Klopstock erreicht. Louis Marin: „Die klassische Darstellung". In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt „Darstellen "? Frankfurt/M. 1994 [1992], S. 375-97, rekonstruiert ausgehend von der Logik von Port-Koyal und von Descartes der Ambivalenz der neuzeitlichen Logik der Repräsentation zwischen der (subjektkonstitutiven) Transitivität und Transparenz der Zeichen auf der einen Seite und deren (subjektgefährdenden) Intransparenz und Reflexivität auf der anderen Seite. - Für einen innovativen Darstellungsbegriff, der die konstitutive Funktion von Rahmen mitbedenkt und den Begriff des ,Erlebens' (im Sinne Luhmanns) zentral setzt, siehe Bunia: Faltungen, S. 311-19, auch S. 4 0 - 4 2 , S. 1 1 3 21, S. 226-35. 105 Eine Zusammenfassung der kunsttheoretischen Forschung über den Bildrahmen bieten MacLachlan, Reid: Framing and Interpretation, S. 19—34. Meine Ausführungen setzen im folgenden allerdings andere Akzente. 106 Auch dieses ältere Modell von Rahmung versteht sich indes nicht von selbst. Vgl. die Ausführungen über die scheinbar rahmenlose Höhlenmalerei der Steinzeit bei Meyer Schapiro: „On Some Problems in the Semiotics of Visual Art: Field and Vehicle in Image Signs". In: M. S.: Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Soäety. Selected Papers. New York 1977 [1969], S. 1 - 3 2 , hier S. 1 - 3 . Schapiro betont den Zusammenhang zwischen der Bild-Rahmung und der Erzeugung eines neutralen und gleichmäßigen ,Feldes', auf dem sich das Bild entfalten kann.
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so wie er konkret vorliegt, dient dazu, einen Bereich abzugrenzen und zu organisieren, innerhalb dessen die Bedeutsamkeit der göttlichen Schöpfung oder einer idealen kosmischen Ordnung sichtbar gemacht und repräsentiert werden kann. Er gibt eine Orientierung, die die Erschließung und Darstellung der einen göttlichen Schöpfung durch das Kunstwerk ermöglicht. In diesem Sinn ist der Rahmen unverzichtbar. Eine bildliche Darstellung ergibt ohne ihn keinerlei Sinn — was Kemp in einer pointierten Skizze des historischen Umbruchs in der Umkehrung eines Zitats von Friedrich Schlegel107 zum Ausdruck bringt: For roughly a thousand years, from 400 a.d. until 1400, the inversion of Schlegel's dictum was applicable: [...] ,The frame brings the work of art into existence.' [...] Its task was the organization of the pictorial material. [...] In Christian art of late antiquity and the Middle Ages the frame thus holds the elements together not just in a material sense like a scaffold, but also guarantees their connectedness. Under such conditions of viewing it is inconceivable that the observer might prefer not to see the frame so as to be lost in the picture. The frame is the necessary condition for perception being possible, for any kind of structural perception. 108
Das Argument bezieht sich nicht zuletzt, wie Kemp in einer Reihe von Arbeiten gezeigt hat, auf die interne Organisation des darstellenden Materials, beispielsweise in Kirchenfenstern oder Altarbildern. 109 Hier ist der Rahmen im ,Innern' der Darstellung massiv präsent. Gerade deswegen aber muß von einer ,Rahmung von außen' die Rede sein. Der Rahmen nämlich ist der Darstellung vorgängig - und zwar oft auch zeitlich innerhalb des Produktionsprozesses 110 - und organisiert sowohl die nar-
107 „Jedes Kunstwerk bringt d[en] Rahm[en] mit auf die Welt, muß die Kunst merken lassen" (Friedrich Schlegel: Fragmente %ur Poesie und Uteratur I. Hg. v. Hans Eichner (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 16). Paderborn - München - Wien 1981, S. 92; Fragment Nr. 80 [1797]). Schlegels Diktum zielt auf eine Darstellung, die fir sich eine Welt konstituiert, und zwar vor dem Hintergrund der Annahme, daß der ,großen' Welt ein als vorgegeben gedachter letzter Rahmen fehlt (oder zumindest nicht menschlicher Erkenntnis zugänglich ist). Weltkonstruktion qua Darstellung ist hier einer grundsätzlichen Nachträglichkeit unterworfen, von der aber erkannt wird, daß sie neue Ordnungen konstituieren kann. 108 Wolfgang Kemp: „The Narrativity of the Frame". In: Paul Duro (Hg.): The Uetoric of the Frame. Essays on the boundaries of the Artwork. Cambridge 1996, S. 11—23, S. 14. 109 Siehe ausfuhrlich Wolfgang Kemp: Christliche Kunst: Ihre Anfänge, ihre Strukturen. München 1994. Eine zusammenfassende Darstellung mittelalterlicher Bildsysteme findet sich in Wolfgang Kemp: „Medieval Pictorial Systems". In: Brendan Cassidy (Hg.): Iconography at the Crossroads. Papers from the colloquium sponsored by the index of christian art. Princeton 2}.-24. March 1990. Princeton 1993, S. 121-33. 110 Siehe Jean-Claude Lebensztejn: „Starting out from the frame (Vignettes)". In: Peter Brunette, David Wills (Hgg.): Deconstrudion and the Visual Arts. Cambridge 1994, S. 118-40, S. 122ff. Lebensztejn verweist auf Creighton Gilbert: „Peintres et menuisiers au debut de la Renaissance en Italie". In: Heme de Γ Art 37, 1977, S. 9-28. Dieser Text widmet sich allerdings in erster Linie dem Tafelbild der italienischen Renaissance; hier ist (und bleibt) es üblich, zunächst den Rahmen herzustellen und diesen danach mit einem Bild zu ,füllen'.
4. Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion
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Abbildung 1. Fresko des Panteön de los Reyes, Leon, 12. Jahrhundert. 111 - Für die Darstellung Jesu fuhrt bereits die Rahmung durch die Mandorla eine heilgeschichtliche Symbolik mit sich. Die Mandorla wird hier gleichsam getragen von den vier Evangelisten, die um sie herum abgebildet sind — eine hochkomplexe Konstellation von architektonischen, bildlich-rahmenden und heilsgeschichtlich-symbolischen Strukturen.
rative als auch die symbolische Dimension des Bildes, beispielsweise durch die Vermitdung typologischer Analogien oder die Konstruktion eines ,mehrfachen Bildsinns'. Beide Dimensionen erfahren zudem außerhalb des gerahmten Bildes ihre Fortsetzung, insofern das extrinsisch gerahmte Bild seinerseits in einer religiös deutbaren Architektur — derjenigen der Kirche nämlich — seinen Platz findet (Abbildung l). 1 1 2 Der Übergang über die Grenze der Darstellung verläuft im vormodernen Bildverständnis von einer Welt, die ihrerseits als metaphysisch gerahmt gelten kann, hin zu einer Darstellung, die in ihren Grenzen unmittelbar auf diese metaphysische Rahmung bezogen ist. Diese metaphysische Rahmung ist dem Bild vorgängig und äußerlich, und der Bilderrahmen tritt von außen zu den Darstellungen hinzu, um die Bezugnahme auf sie zu ermöglichen und zu organisieren. Die Entwicklung der Zentralperspektive, der die zumindest teilweise Herauslösung des Tafelbilds aus größeren Bildzusammenhängen vorangeht, 113 verleiht der bildlichen Darstellung demgegenüber deutlich mehr 111 Basilica de San Isidora, Leon. - Die Abbildung ist entnommen aus: John P. O'Neill, Kathleen Howard, Ann M. Lücke (Hgg.): The Art of Medieval Spain a. d. 500-1200. New York 1993, S. 166. 112 Daß sich die mittelalterlichen Verfahren der Bildrahmung insgesamt am architektonischen Paradigma orientierten, zeigt bereits die Arbeit von Henry Heydenryk: The Art History of Frames. An Inquiry into the Enhancement of Paintings. New York 1963, S. 9 - 1 6 , S. 27 f. 113 Diese Entwicklung ist eng mit Fragen der Rahmung verknüpft. Dies betont auch die Arbeit von Heydenryk. Heydenryk zeigt aber, daß die Einbindung in ein architektonisches Paradigma auch für das freistehende Tafelbild lange Zeit bestehen bleibt (Hevdennk: The Art History of Frames, S. 39-42). Wenn die Rahmen für die Tafelbilder der italienischen Re-
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Autonomie, auch wenn ihre alten Funktionen gewahrt bleiben. 114 Sie ermöglicht die Herausbildung eines Bildraums, der vom Innern des Bildes her die Prinzipien der Darstellung zu erkennen gibt. Die auf dem Tableau versammelten Gegenstände werden durch die Perspektive in einen räumlichen Zusammenhang gestellt (wenn auch unter Beschränkung der Darstellung auf einen einzigen Augenblick). Dabei impliziert die perspektivische Darstellung zugleich die vereinheitlichende ,Objektivierung' (bzw. die abstrakte ,Entleerung') des dargestellten Raumes und die Einengung auf einen einzigen subjektiven' Betrachtungspunkt. Die Perspektive produziert Nähe durch Distanz, ermöglicht Teilhabe durch Ausschluß, Grenzüberschreitungen durch Begrenzung. 115 Ist damit einerseits eine Autonomisierung der Darstellung und des Bildes gegeben, 116 so ermöglicht die objektivistische Dimension der Perspektive andererseits weiterhin die Bezugnahme auf grundlegende theologische Theoreme: Der im Unendlichen liegende Fluchtpunkt der perspektivischen Darstellung fallt dieser Deutung zufolge gewissermaßen mit einem göttlichen Standpunkt zusammen, von dem aus die Einheit der Welt garantiert ist.117 In dieser Doppeldeutigkeit liegt — so könnte man schließen — ein evolutionärer Vorteil der Perspektive als Darstellungsform, ermöglicht sie doch als eine Art Kippfigur die Einordnung sowohl in ,alte' als auch in ,neue' Deutungsstrukturen (Abbildung 2).
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naissance vor den Bildern selbst produziert wurden (Gilbert: „Peintres et menuisiers"), so hat das nicht nur rein technische Gründe (insofern die Holztafel mit dem Rahmen zugleich und in einem Stück zum Bemalen vorbereitet wird); vielmehr zeigt sich auch hier, daß sich unter Fortschreibung alter Modelle neuartige Paradigmen etablieren können: Das Tafelbild bleibt dem architektonischen Modell verpflichtet, das es gleichwohl ,νοη innen heraus' aufsprengt. Eine Übersicht über die kunsthistorische Diskussion der Perspektive gibt Markus Dauss: Perspektive als Denkform der Ambivalent ^wischen Madame de Stael und Vilem Flusser. Manuskript, Gießen 2005. Dies ist im Anschluß an Erwin Panofskys Aufsatz „Die Perspektive als symbolische Form" wiederholt dargelegt worden. Hierzu siehe ausführlich die Rekonstruktion in Dauss: Perspektive als Denkform der Ambivalent^ S. 4 ff. Siehe Alfonso Procaccini: „Alberti and the ,Framing' of Perspective". In: journal ofAesthetics and Art Critiasm 40.1, 1981, S. 29—39, insbesondere S. 37. Procaccini untersucht die Funktion des Rahmens für das perspektivische Bild und beschreibt die Kunst der Perspektive als ein paradoxes Zugleich des Zeigens und des Verbergens der Kunst. Darauf hat laut Dauss vor allem eine Studie von Samuel Y. Edgerton aufmerksam gemacht. In der Renaissance, so rekonstruiert Dauss Edgerton, wurde „die mathematische Messbarkeit der Welt im Dienste der geometrisierten Darstellung [...] nicht nur als logozentrische, autonome Abstraktionsleistung, sondern zunächst als eines der hervorragenden göttlichen Gnadengeschenke aufgefasst, die den Raum nur endeerte, damit er die Wirksamkeit der unwandelbaren göttlichen Gesetze um so besser und ohne Hindernisse veranschaulichen konnte." (Dauss: Perspektive als Denkform der Ambivalent S. 14.)
4. Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion
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Abbildung 2. Michelangelo Buonarroti:Deckenfresko Capella Sistina, 1508-1512 [Ausschnitt]. 11H - Die Darstellung der Erschaffung Evas ist im Bezug zum heiligen Text zu lesen und steht dank einer komplexen (in diesem Fall selbst gemalten) Rahmenstruktur im narrativen wie symbolischen Bezug zu den anderen Darstellungen des Deckengemäldes (die ihrerseits teils als Rahmen in Erscheinung treten) und zum Kirchenraum. Die Rahmenstruktur wird so selbst zum Träger heilsgeschichtlicher Bedeutung — und dies bei einer zentralperspektivischen Darstellung.
Im Zuge dieser Autonomisierung des Bildes als eines Kunstwerks erhält die Grenze der Darstellung einen neuen Stellenwert. Die Arbeiten von Louis Marin zeigen, daß weniger der konkret vorliegende Bilderrahmen für die Organisation des perspektivischen Bildraums von Bedeutung ist als vielmehr die abstrakte Grenze. Ihr Effekt ist die Isolation der Darstellung von ihrer Umgebung — ihre intrinsische Rahmung: T h e f r a m e r e n d e r s the w o r k a u t o n o m o u s in visible s p a c e [ . . . ] . [ . . . ] [ T ] h e stuff o f p e r c e p t i v e s y n t h e s e s that the r e c o g n i t i o n o f t h i n g s articulates as d i f f e r e n c e , is t r a n s f o r m e d b y the f r a m e into a n o p p o s i t i o n w h e r e r e p r e s e n t a t i o n i d e n t i f i e s itself as s u c h t h r o u g h an e x c l u s i o n o f a n y o t h e r o b j e c t f r o m the field o f sight. 1 1 9
118 Vatikanische Museen, Rom. — Abbildung ist entnommen: Anonymus: Wiedergeburt der wahren Farben in der sixtinischen Kapelle. Bd. 2: Die Deckenfresken von der Erschaffung Eras bis Propheten Jonas über der Altanrand. Die Eiinetten von O^ias/Jonathan/Acha·^ bis Aminadab. Augsburg 2004, S. 31. 119 Louis Marin: „The Frame of Representation and Some of its Figures". In: Paul Duro (Hg.): The Rhetoric of the Frame. Essays on the Boundaries of the Artwork. Cambridge 1996 [1988], S. 7 9 - 9 5 , S. 82. Vgl. darüber hinaus die Unterscheidung zwischen dem extrinsischem und dem intrinsischem Einschlußeffekt des Rahmens: Einerseits, so Marin, wird das Bild (extrinsisch) „from its perceptual environment" isoliert und damit zu einem „privileged perceptual object" (Marin: „The Frame of the Painting", S. 777). Durch den Einschluß werden also „perceptual marginal interferences" annihiliert. Andererseits wirkt der Rahmen
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Die Grenze der Darstellung konstituiert aber nicht nur den Bildraum, sondern ermöglicht darüber hinaus die intrinsische Definition des Betrachters. Sie legt das Verhältnis zwischen der Darstellung und der Art und Weise fest, wie der Betrachter die Darstellung zu betrachten hat. Marin spricht in diesem Zusammenhang von einer .ideologischen' Bedeutung der Grenze der Darstellung (im Gegensatz eben zu ihrer metarepräsentativen Bedeutung).120 Seine Ausführungen weisen daraufhin, daß erst diese zweite, ideologische Bedeutungsstiftung überhaupt Darstellbarkeit erzeugt. Mit ihrer Hilfe wird der Betrachter aus dem Innern der Darstellung heraus angesprochen. Der Grenze der Darstellung — und damit auch dem Rahmen, der sie markiert - kommt die Aufgabe zu, die Adressierung der Darstellung als Werk zu leisten.121 Marins Überlegungen wenden sich vor dem Hintergrund dieser These Strukturen zu, die den Wiedereintritt des Rahmens in die perspektivische Darstellung vollziehen. Dazu gehören Betrachter- oder Kommentatorfiguren im Bild,122 Ornamente und andere Parerga, schließlich rahmenähnliche Strukturen in der Darstellung wie Fenster oder schlicht der Bildhintergrund.123 Der Effekt dieser ,Figuren des Rahmens' besteht darin, daß sie als Reflexionsfiguren im Bild diejenigen Grenzen repräsentieren, die die Darstellung überhaupt erst ermöglichen. Sie stehen damit für die ihrer transitiv-objektiven Seite immer beigeordnete reflexiv-subjektive Seite der Darstellung.124 Auf einer übergeordneten Ebene machen sie aus dem vormals extrinsisch gerahmten Kultbild, das die metaphysisch gerahmte Weltordnung verdichtet zur Geltung bringt, jenes intrinsisch gerahmte „selbstbewußte Bild", das in der deutschen Übersetzung von Victor Stoichitas Buch „L'instauration du tableau" titelgebend wird.125 Dieses
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(intrinsisch) als ein „structural constraint which acts within the image as a transcendent law of form" (S. 778). Genauer: Die Grenze der Darstellung ist ein „metarepresentative signifier of the representation as a mimesis", indem sie auf die Relation zwischen Darstellung und Dargestelltem (Marin spricht von „spectacle") verweist. Zugleich aber ist sie „signifier of the representability of the representation" - darin besteht ihre ideologische Funktion (Marin: „The Frame of the Painting", S. 781). Siehe auch die eingangs zitierte Behauptung Duros, mit Marin wäre von einem Effekt der interpellation durch den Rahmen auszugehen. Marin: „The Frame of Representation and Some of its Figures", S. 84 ff. In seiner Differenz zu den Gestalten des Vordergrundes kann der Hintergrund als bloße Oberfläche zur Geltung kommen: „The background appears as surface, and thus the picture is presented as a picture; it is presented not so much as representing something than as representation." (Marin: „The Frame of Representation and Some of its Figures", S. 80.) Zu dieser Unterscheidung siehe Marin: „The Frame of Representation and Some of its Figures", S. 79. Victor Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München 1998.
4. Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion
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Abbildung 3. Pieter de Hooch: Binnenhuis met vrouwen bij een linnenkast, 1663. 126 - Das perspektivisch hoch komplexe Bild entfaltet eine ebenso komplexe Struktur von ,Figuren der Rahmung' - mehrere Tür- und Fensteröffnungen, zwei Gemälde (aus einem scheint eine Statue gleichsam hervorzutreten), der Treppenaufgang und der offene Schrank erschließen und organisieren den Bildraum.
Selbstbewußtsein des Bildes ist dabei immer eines, das den kontingenten Bruch zwischen Welt und Darstellung als Grundlage seiner künsüerischen Autonomie kenntlich macht. Darin liegt die Bedeutung der Fenster, Nischen, Türen und Rahmen, denen Stoichitas Buch in Fortsetzung der Marinschen Theorie nachgeht. 127 Ihr Status bleibt 126 Öl auf Leinwand, 72 χ 77,5 cm, Rijksmuseum, Amsterdam. - Die Abbildung ist entnommen aus: Lene Bogh Ronberg, Kasper Monrad, Ragni Linnet: Two Golden Ages. Masterpieces of Dutch and Danish Painting. Amsterdam - Zwolle - Copenhagen 2001, S. 86. 127 Stoichita zeichnet ausgehend von den sogenannten ,umgekehrten Stilleben' eines Pieter Aertsen und mit Seitenblicken auf Stilleben im allgemeinen, auf Landschaftsmalerei, auf trompe-l'cal und ähnliches nach, wie parergonale Bestandteile des Heiligen- oder Historienbildes bildtragende Momente werden - was einhergeht mit einer im Bild sich entfaltenden Selbstreflexivität der Darstellung. So heißt es zusammenfassend über das Werk von Aertsen: „Offenkundig können wir hier beobachten, wie eine neue Art, am Bild und über das Bild zu arbeiten, geboren wird. Es handelt sich um eine Bewußtwerdung der dem Bild eigenen Rolle, der Macht der Bildsprache und ihrer Tragweite." (Stoichita: Das selbstbewußte Bild, S. 22.) Seine Betrachtungen zum Stilleben korreliert Stoichita mit der Figur der Nische (S. 46 ff.), die hier dieselbe Funktion übernimmt wie das Fenster für die Landschaftsmalerei (S. 50 ff.) und die Tür für Interieurs (61 ff.): „Nischen, Fenster und Türen sind Stücke der Wirklichkeit, die sich durch ihre Fähigkeit auszeichnen, ein visuelles Feld abzugrenzen. Alle sind sie zugleich die Negation der Wand und die Affirmation eines anderen Raumes. Die pikturale Darstellung der Nische, des Fensters oder der Tür gehört einem metaartistischen Mechanismus an, der einen Dialog zwischen dem existentiellen und dem imaginären Schnitt herstellt. Die bisher analysierten Bilder hatten [...] einen Zug gemeinsam: sie verbildlichten einen Teil ihres genetischen Kontextes. Dieser Teil war nicht auf gut Glück gewählt; es ist derjenige, der durch die Rahmung die Definition des Bildes ermöglichte." (S. 74.) Demgegenüber verbildlicht die Darstellung von Rahmen den ,^4usj7,e//Wg.r-Kontext des Werks" (S. 75). Schließlich findet sich mit dem in Rembrandts „Heiliger Familie" ins Bild getretenen Vorhang ein ganz ähnliches Mittel zur Verbildlichung des Aussstellungskontextes (S. 79 ff.). - Die Analyse eines Bildes, das (unter anderem mittels der Darstellung von Rahmen, Spiegel, Fenster und Tür) eine sehr komplexe Repräsentation der Bedingungen der Möglichkeit von Repräsentation vorführt, nimmt bekanntlich Foucault vor (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanuissenscbaften.
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allerdings ambivalent (weshalb auch die vorliegende Gegenüberstellung nur als idealtypisch gelten kann und gerade die faszinierenden Ubergangsfiguren nicht hinreichend würdigt): Sie zeugen von Selbstbewußtsein im doppelten Sinn, können aber andererseits auch als Versuch verstanden werden, einen Ordnungsverlust aufzuwiegen, und stehen insofern im Zeichen jener Kippfigur, als die hier auch die Perspektive gedeutet wurde (Abbildung 3).128 Tritt mit den ,Figuren des Rahmens' die Grenze der Darstellung in die Darstellung wieder ein, so erhalten die tatsächlichen' Bilderrahmen angesichts der Möglichkeiten intrinsischer Rahmung einen ambivalenten Status. Lebensztejn hat darauf hingewiesen, daß die klassizistische Kunstauffassung zwar einerseits in ihrer letzten Konsequenz eine Eliminierung des Rahmens erfordert, da das Werk sich selbst als in sich geschlossen und abgerundet präsentieren soll;129 daß andererseits aber der Gefahr einer Auflösung der Grenzen der Darstellung zu ihrer Umgebung durch einen Rahmen entgegengewirkt werden muß. 130 Für den Klassizismus ergibt sich als Lösung die Forderung nach ,dezenten', unauffälligen Rahmen, die ihre isolierende Funktion zwar erfüllen, dann aber vergessen werden können. 131 Konkret zeigt ein solcher Rahmen dann allerdings durchaus etwas an: Denn immerhin ist er gerade in seiner Unauffälligkeit intrinsisch moti-
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Frankfurt/M. 1974 [1966], S. 31-45; in Fortsetzung davon: Svetlana Alpers: „Interpretation ohne Darstellung - oder: Das Sehen von Las Meninas". In: Wolfgang Kemp (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Re^epäonsästhetik. Berlin 1992 [1983], S. 123-41; Stoichita wendet sich anderen Werken von Velasquez zu: Stoichita: Das selbstbewußte Bild, S., 23 ff.). — Zu all diesen „figurative ,frames' within the material frame itself siehe auch Procaccini: „Alberti and the .Framing' of Perspective", S. 36. So deutet Heydenryk die fensterähnlichen Rahmungen, die in der Renaissance auftreten, auch weniger als Anzeichen einer Autonomisierung der Kunst, sondern vielmehr als Fortsetzung des alten, architektonischen Paradigmas der Rahmung (Heydenryk: The Art History of Frames, S. 41). - Die kunstgeschichtliche Forschung zum Motiv des Fensters (und des Bildes als Fenster) referiert Judith Holstein: Fenster-Blicke. Zur Poetik eines Parergons. Tübingen [Diss.] 2004, S. 22—29; siehe insbesondere Schapiro: „On Some Problems", S. 31 f. „A frame always serves as physical evidence that the painting is never self-sufficient, never classical enough. [...] The frame here becomes the shame of art, the perfection of which is denoted, conversely, by the disappearence of the frame" (Jean-Claude Lebensztejn: „Framing Classical Space". In: Art journal 47.1, 1988, S. 37-41, S. 40). Siehe Lebensztejn: „Starting out from the frame", S. 125, und Lebensztejn: „Framing Classical Space", S. 38: „Classicizing theories of art insist on the separateness of the artwork and on the dividing action of the frame. Classicism, therefore, tends to be anti-illusionistic and anti-realistic." Zitiert wird in diesem Zusammenhang mehrfach ein Brief von Poussin (Lebensztejn: „Starting out from the frame", S. 119 f., Lebensztejn: „Framing Classical Space", S. 37 f., Marin: „The Frame of Representation and Some of its Figures", S. 82, Stoichita: Das selbstbewußte Bild, S. 75 f.).
4. Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion
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viert. Er wird in die intrinsische Rahmung der Darstellung als .Minimalrahmen' des Werks einbezogen. 132 Die Abkoppelung der Darstellung von einem metaphysisch-vorgängigen Rahmen, die Vorbedingung dieser Auffassung vom Kunstwerk ist, zeitigt als eine zweite Möglichkeit eine Variante, die Lebensztejn als b a rock' bzw. als romantisch bezeichnet: Ihr geht es um die bewußte Verwirrung, Überschreitung oder Verschleierung der Grenzen der Darstellung. 133 Auch dies ist nur unter der Voraussetzung überhaupt eine Option, daß der Rahmen keine notwendige Struktur zur Organisation metaphysischer Bedeutsamkeit von bildlicher Darstellung mehr ist. Erst damit nämlich kann die Grenze der Darstellung selbst das Interesse auf sich ziehen. Beispiele wie das trompe-l'ail zeigen, daß dabei auch der Versuch gemacht werden kann, diese Grenze zum Verschwinden zu bringen. Daß dies nur vorübergehend der Fall sein darf - ansonsten würde das Bild als Bild nie zur Geltung kommen und könnte seine Wirkung nicht entfalten — zeigt, daß auch hier eine Grenzziehung notwendig ist, die das trompe-l'ail selbst einschließt (Abbildung 4). Auch sind vielfältige Korrespondenzen zwischen Bilderrahmen und Bild denkbar, die über die basale intrinsische Motivierung des klassizistisch-unauffälligen Rahmens hinausgehen. Zu denken wäre hier an Bilder, in denen die Darstellung auf den Rahmen übergreift, oder an Rahmen, in denen sich geometrische Strukturen des Bildes wiederholen (die also als .Figuren des Bildes' zu beschreiben wären) (Abbildung 5).134 Wichtig ist nun zu sehen, daß trotz aller spielerischen Freiheitsgrade gleichwohl immer eine Grenze gezogen werden muß, soll intrinsische Rahmung unterstellt werden. So werden eine Vielzahl von Elementen, die durchaus in irgendeiner Weise Bildern anhängen oder zumindest anhängen können, bei den hier skizzierten Figuren intrinsischer Rahmung nicht berücksichtigt - beispielsweise der Künstlername, der Titel oder die
132 Im einzelnen - und mit all ihren Paradoxien - ausbuchstabiert findet sich diese klassizistische Auffassung des Bilderrahmens bei Georg Simmel: „Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch". In: G. S.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze. Potsdam 1922, S. 46-54. Der Rahmen, so Simmel, solle, anders als das Kunstwerk selbst, „keine Individualität, sondern einen Stil haben." (S. 51.) 133 „If Romanticism means anything, it is perhaps precisely that - effusiveness obliterating the boundaries among the arts, and between art and life." (Lebensztejn: „Starting out from the frame", S. 126.) Siehe auch Lebensztejn: „Framing Classical Space", S. 39 f. 134 Pearson bezeichnet solche Rahmen als „intra-compositional frame[s]" (John H. Pearson: „The Politics of Framing in the Late Nineteenth Century". In: Mocaic 23.1, 1990, S. 15-30, S. 16). Sein Aufsazt behandelt neben der bildenden Kunst aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch literarische Texte (insbesondere Cervantes' „Don Quichote"). Allerdings ist sein Ansatz mit dem hier verfolgten kaum vergleichbar: Ihm geht es um den Nachweis, daß die ,intra-kompositionale' Rahmung der Autoritätssteigerung des Künsders diene.
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Abbildung 4. Cornells Gijsbrechts: The Reverse Side of a Painting, 1670. 1 3 5 - Das Bild entfaltet seine Wirkung erst dann, wenn man erkannt hat, daß es nicht die Rückseite eines Gemäldes ist, sondern ein Gemälde. In diesem Moment hat es seinen Rahmen gewissermaßen selbst hervorgebracht.
Abbildung 5. Caspar David Friedrich: Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar, 1807f.).'*> - In seinen geometrischen sowie in seinen symbolischen und ornamentalen Strukturen weist der Rahmen ein hohes Maß an Korrespondenzen zu der Darstellung innerhalb des Rahmens auf.
135 Ol auf Leinwand, 67 χ 87 cm, Statens Museum for Kunst, Copenhagen. - Abbildung entnommen aus: Martin Battersby: Trompe tCEil. The Eye Deceived. London 1974, S. 156. 136 Ol auf Leinwand, 115 χ 110 cm (ohne Rahmen), Gemäldegalerie „Neue Meister", Dresden. — Abbildung entnommen aus: Anonymus: Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik. Essen - Hamburg - München 2006, S. 207.
4. Intrinsische und extrinsische Rahmung. Der Rahmen als Grenzregion
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Hängung. Die Grenze, die die intrinsische Rahmung erzeugt, schließ diese Elemente implizit aus und fungiert so als Rahmenunterscheidung im obigen Sinne. Bemerkenswert ist aber, daß gleichwohl eine Berücksichtigung auch solcher ausgeschlossener Elemente denkbar bleibt. Mehr noch: Selbst wenn sie sich nicht als Teil des intrinsisch Gerahmten wiederfinden, können sie durchaus an der extrinsischen Rahmung des Bildes beteiligt sein — wenn man sich etwa dazu entscheidet, ein Bild auf die Biographie seines Künstlers zu beziehen und damit vom Autornamen Gebrauch macht. Damit zeichnet sich genauer ab, inwiefern Rahmen nicht nur als Grenzen, sondern auch als Grenzregionen bestimmt werden können. Wie eingangs schon angemerkt, zeichnen sich Grenzregionen dadurch aus, daß sie - als Übergangszonen - hinsichtlich des von der Grenze Eingeschlossenen als intrinsisch und/oder extrinsisch motiviert erscheinen können. Diese Eigenschaft läßt sich als Definitionsmoment in Anschlag bringen. Die Grenzregion ist dann nicht in erster Linie - wie man beispielsweise in Anlehnung an Goffman denken könnte - dasjenige, was das Vorhandensein einer Grenze ,anzeigt', die Rahmenunterscheidung also markiert. Sie ist nicht einfach ein „keying", um Goffmans Terminus zu gebrauchen.137 Eher bietet sich ein Anschluß an die bereits angeführten Überlegungen Derridas zum Parergon an.138 Was Derrida in der Lektüre von Kants „Kritik der Urteilskraft" als Logik des Parergonalen rekon137 In diesem Sinn hat Wolf die Unterscheidung zwischen frame und framing eingeführt. Als frame bezeichnet er kognitive Rahmen, solche Rahmen also, die - wenn man so will .eigentlich' unsichtbar bleiben, dennoch aber Unterscheidungen in die Welt setzen, die für den jeweiligen Beobachter (hier: ein Bewußtsein) die Funktion eines Rahmens übernehmen: ,„Frame' is here generally understood as the sum of various factors that influence and predetermine discursive exchanges, contribute to their coherence and meaningfulness and distinguish specific discursive exchanges from other possible ones." (Wolf: „Framing Fiction", S. 98; vgl. auch Werner Wolf: „Multiperspektivität: Das Konzept und seine Applikationsmöglichkeiten auf Rahmungen in Erzählwerken". In: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hgg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Verspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier 2000, S. 79-109, und Werner Wolf: „Introduction. Frames, Framings and Framing Borders in Literature and Other Media". In: Walter Bernhart, W. W. (Hgg.): Framing Borders in Literature and other Media. Amsterdam 2006, S. 1—40.) Davon unterschieden wird der sichtbare Rahmen, bei Wolf das framing. Framings sind „signallings of, or .keys' to, frames" (S. 99), im Bereich von Kunst und Literatur also diejenigen Partien eines Artefaktes, die signalisieren, daß ein frame benutzt werden muß, will man in angemessener Weise an das Artefakt anschließen. Wolfs Vorschlag bekommt allerdings die Tatsache nicht in den Blick, daß man schon einen frame benutzen muß, um sein framing unterscheiden zu können. 138 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 31 ff. - Rekonstruktionen des Derridaschen Parergon-Konzepts finden sich bei Frow: Marxism and Uterary History, S. 216-24, David Carroll: Paraesthetics. Foucault • Ljotard •Derrida. New York - London 1989 [198η, S. 1 3 1 44, S. 154, MacLachlan, Reid: Framing and Interpretation, S. 15-17, Holstein: Fenster-Blicke, S. 12-22.
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struiert,139 ließe sich als eine Analyse des für Rahmen als Grenzregionen charakteristischen Problems lesen. Rahmen wären dann solche Partien von Artefakten, die ein Ablöseproblem bereiten, von denen also einerseits gesagt werden kann, daß sie keine integralen Bestandteile des Gerahmten sind, daß sie andererseits aber auch nicht vom Gerahmten abgelöst werden können, ohne daß dieses Schaden nimmt.140 Im Umgang mit ihnen muß man sich daher immer für oder gegen einen Einschluß entscheiden, ohne über vorgängige Kriterien zu verfügen, die die Entscheidung bestimmen könnten - eine Entscheidung, die in ihrer unhintergehbaren Kontingenz auf die historisch recht junge Entdeckung des kontingenten Status aller Rahmenunterscheidungen und damit der Möglichkeit intrinsischer und extrinsischer Rahmung zurückgeht. Wählt man eine solche Herangehensweise, dann zeigt eine Grenzregion in der Tat auch an, daß es eine Grenze gibt, daß ein Einschluß und ein Ausschluß erfolgen kann. Genauer gesagt wird die Grenze bzw. die Rahmenunterscheidung durch eine Wiedereintrittsfigur sichtbar. Dies macht die Frage nach der Grenze der Grenzregion deutlich: Daß sich die Frage des Ein- oder Ausschlusses der Grenzregion überhaupt stellt, zeigt allererst an, daß es eine Grenze gibt. Die Grenzregion definiert sich als Wiedereintritt der Rahmenunterscheidung auf der Seite des Gerahmten. Nur durch diesen Wiedereintritt wird die .unsichtbare' Rahmenunterscheidung sichtbar. Nur um den Preis, daß ihr genauer Verlauf gleich wieder in Frage gestellt ist, wird die bloße Grenze handhabbar.141 Damit ergibt sich allerdings auch die Möglichkeit, Grenzregionen zur Konstitution von Werkeinheit zu nutzen — womit die Verbindung zur Thematik des Paratextuellen hergestellt wäre.
5. Programm und Aufbau der Arbeit Eine ähnliche Umstellung auf Verfahren intrinsischer Rahmung, wie sie für die Malerei skizziert wurde, läßt sich auch im Bereich der Literatur beschreiben — auch wenn keinesfalls behauptet werden soll, es handele 139 Zu Derridas Kant-Lektüre siehe V.2.b. 140 Parerga sind Parerga, ,,[n]icht weil sie sich ablösen, sondern weil sie sich schwieriger ablösen lassen und vor allem weil ohne sie, ohne ihre Quasi-Ablösung, der innerliche Mangel des Werkes zum Vorschein käme" (Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 80). - Zum Ablöseproblem siehe auch Bunia: Faltungen, S. 320 f. 141 Siehe hierzu Bunias Beschreibung von „Ende als Faltung" (Bunia: Faltungen, S. 295-347); Bunia zeigt, daß die bloße Grenzlinie (die Rahmenunterscheidung als solche) nur anhand ihrer Effekte zu beschreiben ist (S. 295-97). Die Grenze wird dann zur Stelle. (Genauer gilt für Bunia die „Unterscheidung Stelle/Grenze" als eine sogenannte „Entfaltung" (S. 297) der Faltung ,Ende'. - Zum Begriff der Faltung siehe auch S. 98-104.
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sich um eine .synchronisierte' Parallelentwicklung. Auch hier kommt es im Zuge eines allgemeinen Wandels im Umgang mit Grenzen und Rahmen einerseits zu Neufassungen der ästhetischen Grenze, andererseits zu einer veränderten Funktionalität der textuellen Grenzregionen. Sicherlich müssen in systematischer Hinsicht Unterschiede zwischen Malerei und Literatur festgehalten werden - beispielsweise erzeugen die unterschiedlichen Verbreitungsmedien Differenzen, was die Mobilität des Ergon und der einzelnen Parerga angeht, 142 sind bei ein und demselben literarischen Werk dank seiner Verbreitung im Druck große Veränderungen im paratextuellen Apparat möglich und ergeben sich unterschiedliche Allianzen zwischen dem Autor bzw. Künstler und seinen Verbündeten. 143 Dennoch sind die Parallelen sehr deutlich: Sie bestehen zum einen darin, daß sich die jeweiligen rahmenden Partien des Textes bzw. des Bildes als Ort einer vielfachen Überlagerung von Adressierungen mit unterschiedlichen Systemreferenzen darstellen: Sie funktionieren gleichermaßen in Recht, Wirtschaft und Bibliothek/Museum wie im Zusammenhang von Kunst. Zum anderen läßt sich in der Malerei wie in der Literatur, legt man Kunst als Systemreferenz zugrunde, 144 die Vielfalt der unterschiedlichen Parerga
142 Nur Titel und Autor- bzw. Künsdernamen funktionieren in dieser Hinsicht sehr ähnlich. 143 Die Unterschiede in den Rahmungs verfahren zwischen Malerei und Literatur bedürften einer ausführlicheren Untersuchung. Als vorbildlich für eine solche Analyse kann die Arbeit von Gerald Mast: „On Framing". In: Critical Inquiry 11, 1984, S. 82-109, gelten, die die Spezifik des filmischen ,frame' gegenüber Bilderrahmen, literarischen Rahmen und dem Rahmen des Theaters herausarbeitet. Zum filmischen Rahmen im weiteren Sinn siehe auch MacLachlan, Reid: Framing and Interpretation, S. 34-39. 144 Damit entscheide ich mich anders als eine Reihe von systemtheoretischen Arbeiten, die versuchen, mit systemtheoretischen Mitteln ein eigenes .Literatursystem' zu konzipieren. Für solche Konzeptionen paradigmatisch: Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des So^ialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1989, Niels Werber: Literatur als System. Xur Ausdifferen^erung literarischer Kommunikation. Opladen 1992, Gerhard Plumpe, Niels Werber: „Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoredschen Literaturwissenschaft". In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Opladen 1993, S. 9-43, Gerhard Plumpe: „Literatur als System". In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hgg.): Literaturwissenschaft. München 1995, S. 103-16, Christoph Reinfandt: Der Sinn fiktionaler Wirklichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf %ur Ausdifferewgerung des englischen Remans vom 18. Jahrhundert his %ur Gegenwart. Heidelberg 1997, Christoph Reinfandt: Romantische Kommunikation. 2.ur Kontinuität der Romantik in der Kultur der Moderne. Heidelberg 2003. Siehe dazu meine Argumentation in: Till Dembeck: „Romantische Kommunikation? Eine ,Diskursformation' zwischen Kunst und populärer Kultur". Rez. v. Christoph Reinfandt: Romantische Kommunikation. Zur Kontinuität der Romantik in der Kultur der Moderne. In: lASLonline [6.8.2004], URL.· , 2004. - Für eine kritische Ubersicht zur systemtheoretischen Forschung im Anschluß an S.J. Schmidt siehe Georg Jäger: „Systemtheorie und Literatur. Teil I. Der Systembegriff der Empirischen Literaturwissenschaft". In: IASL 19.1, 1994, S. 95-125, sowie - auch mit Blick auf die Vorschläge von Plumpe, Werber und Reinfandt - Oliver Jahraus, Benjamin Marius Schmidt: „Systemtheorie und Literatur. Teil III. Modelle systemtheoretischer Lite-
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in Anspruch nehmen, wenn es darum geht, eine intrinsische Rahmung von Texten bzw. Bildern in Szene zu setzen. Um diesen letzten Punkt geht es in dieser Arbeit. Das Anliegen besteht also darin, eine Einbindung der Grenzregionen literarischer Texte in Verfahren der intrinsischen Rahmung nachzuweisen.145 Dabei wird immer eine Auswahl paratextueller Elemente als Teil einer intrinsischen Rahmung ausgewiesen werden - die natürlich zugleich in vielfältiger Weise extrinsisch funktional bleiben können. Auf diese Weise kann die komplexe Doppeldeutigkeit der Grenzregion ernstgenommen werden, auch wenn der Schwerpunkt auf der Beschreibung ihrer intrinsischen Einbindung liegt. Denn weil durch die Rahmung einzelne Bereiche des Kunstwerks zugleich abgelöst und eingebunden werden, stehen ihre extrinsische und intrinsische Motivierung in einem engen Wechselverhältnis zueinander. Ein kunstspezifischer Anschluß an einen Text wird also dessen Paratexte nicht (nur) als Überlagerung vielfältiger Strategien und Pragmatiken auffassen - was sie gleichwohl sind —, sondern zugleich als Markierung der einen Unterscheidung, die das Kunstwerk konstituiert. Das Postulat ästhetischer Autonomie146 impliziert dabei, daß der Rahmen zugleich das Kunstwerk aus der Welt herausheben und in seiner Eigengesetzlichkeit ausstellen muß - eine paradoxe Anforderung, denn die Isolation des Kunstwerks erfolgt von außen, es muß aber so scheinen, als sei es das Kunstwerk selbst, das sich den Rahmen gibt. Das bedeutet ja bereits das oben erwähnte Diktum Friedrich Schlegels: „Jedes Kunstwerk bringt d[en] Rahm[en] mit auf die Welt, muß die Kunst merken lassen".147 Die Paradoxie, die in dieser Anforderung steckt, markiert jenen Bruch, der dem ästhetisch autonomen Kunstwerk innewohnt: Dessen Einheit als Werk kann sich nur aufgrund einer kontingenten Grenzziehung konstituieren, und doch muß es so scheinen, als ergäbe sich diese Grenze aus seinen inneren Notwendigkeiten. Das Kunstwerk ruft sich gewissermaßen raturwissenschaft in den 1990ern". In: Internationales Archiv flir So^ialgeschichte der deutschen Literatur 23.1,1998, S. 6 6 - 1 1 1 . 145 Natürlich hat die Forschung in vielen einzelnen Fällen die intrinsische Motivierung von Paratexten immer wieder nachgewiesen (siehe zum Beispiel, unter Verwendung des Paratext- wie der Parergon-Begriffs, Dugast: „Parerga und Paratexte", sowie Andrew Piper: „Rethinking the Print Object: Goethe and the Book of Everything". In: Publications of the Modern Language Assoaation of America 121.1, 2006, S. 124-38, Andrew Piper: „Korpus. Brentano, das Buch und die Mobilisierung eines literarischen und politischen Körpers". In: Matthias Buschmeier, Till Dembeck (Hgg.): Textbewegungen 1800/1900. Würzburg 2007, S. 266-85). Hier geht es indes, wie bereits deutlich geworden ist, um mehr, nämlich um die Entfaltung einer historischen These (ab wann und in welchen Kontexten wird intrinsische Rahmung formbildend eingesetzt?) und um die systematische Beschreibung dieses Verfahrens im Rahmen einer dem Problemniveau angemessenen Kommunikationstheorie. 146 Hierzu ausführlich Kapitel V und VII.3. 147 Schlegel: Fragmente f^ur Poesie und Literatur, S. 92 (Fragment Nr. 80).
5. Programm und Aufbau der Arbeit
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selbst ins Leben und zeigt sich zugleich der Tatsache bewußt, daß es der Beihilfe von außen bedarf. Das Kunstwerk ist nicht als in sich geschlossene Einheit da, sondern muß als solche konstituiert werden, dieser Konstitution aber - so die Zuschreibung - selbst schon vorgreifen. Im Falle der Literatur könnte man auch von einer JV/krtedressierung des literarischen Werks reden, und es gilt im folgenden zu zeigen, inwiefern Paratexte im Sinne einer solchen Selbstadressierung funktional sind.148 Anders gefragt: Als welche Einheit konstituiert das Kunstsystem das Werk, das der Text ist, und welche Funktion haben dabei dessen Paratexte? Die leitende Vermutung besteht darin, daß der paratextuelle Rahmen literarischer Texte ähnlich wie der Rahmen neuzeitlicher Gemälde in die intrinsische Rahmung des Textes als Kunstwerk einbezogen wird und daher von ihm aus motiviert ist. Die historische Grundthese, daß im Zuge der Evolution autonomer Kunst die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Rahmung entdeckt und formbildend eingesetzt wird, erfordert methodische Umsicht. Denn im Grunde ermöglicht diese neue Unterscheidung auch im Nachhinein die Beobachtung älterer Texte auf Strategien intrinsischer Rahmung. Das hat zur Folge, daß sich extrinsische Rahmung als die bevorzugte Strategie vormoderner Literatur in erster Linie anhand von Poetiken untersuchen läßt. Umgekehrt lassen sich Strategien intrinsischer Rahmung in ihrer Abgrenzung von Strategien extrinsischer Rahmung in erster Linie am Einzelfall beschreiben. Ist für die Malerei deutlich geworden, daß sich die neue Form der intrinsischen Rahmung vor allem innerhalb bestimmter Genres etabliert (im Stilleben und im Interieurbild, beispielsweise aber auch in der Landschaftsmalerei), die sich teils in enger Bindung an Funktionen des alten Kultbildes entwickeln, so folgt diese Untersuchung der Intuition, daß neue Formen der Rahmung insbesondere innerhalb einer neuen Gattung zur Geltung kommen bzw. innerhalb einer Gattung, die die traditionellen Grenzen der Gattungsschemata sprengt, nämlich im Roman. 149 Die im Roman zu beobachtende Stabilisierung der jeweiligen Verfahren intrinsischer Rahmung im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lädt dabei ihrerseits immer auch dazu ein, andere Grenzverläufe vorzuschlagen: So wird beispielsweise, wie sich in VI.3.b zeigen wird, bei Jean Paul, anders als bei den im übrigen betrachteten 148 Zu dieser Begrifflichkeit siehe im einzelnen II.5 und VII.3. 149 Vgl. die zentrale Rolle, die etwa Blumenberg dem Roman gerade hinsichtlich seiner weltund wirküchkeitskonstitutiven - und das heißt auch: rahmenbildenden - Funktion zuweist (Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans". In: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Glessen Juni 1963 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. I). München 1991 [1969], S. 9-27, hier S. 19, S. 21 f.). - Damit soll nicht gesagt sein, daß nur hier die genannte Umstellung zu beobachten ist - Seitenblicke auf andere Gattungen werden dies zeigen.
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
Autoren, der Autorname in zentraler Weise für die intrinsische Rahmung der Texte in Anschlag gebracht. Zum Aufbau der Arbeit im einzelnen: Die Kapitel II-IV sind (teils lose) bezogen auf Wielands „Geschichte des Agathon". Kapitel II liefert ausgehend vom „Vorbericht" dieses Romans einen Überblick über vorgängige Entwicklungen paratextueller Gestaltung. Vor dem Hintergrund einer Lektüre der „Critischen Dichtkunst" Gottscheds und unter Rückgriff auf Forschungsarbeiten zur Geschichte einzelner Paratextelemente kann eine Poetik der paratextuellen Gestaltung in der deutschen (Roman-)Literatur um 1700 skizziert werden, die im wesentlichen auf extrinsische Rahmung abzielt. Zugleich läßt sich hier bereits eine Bewegung hin zur Überwindung dieses Modells skizzieren (11.4/5), die nicht mehr auf Fremdadressierung, sondern auf Selbstadressierung setzt. Weil Modellierungen von Grenzregionen immer vor dem Hintergrund des jeweils denkbaren Stellenwerts von Grenzen bzw. Rahmenunterscheidungen zu sehen sind, wird in Kapitel III (erneut ausgehend von einer Wieland-Lektüre) erörtert, wie sich in der rationalistischen Poetik nicht nur Gottscheds, sondern auch Breitingers und Meiers, der Status der Grenze der ästhetischen Darstellung in Verbindung mit philosophischen Konzepten von Kontingenz aus der rationalistischen Tradition bestimmt. Für Wielands Roman sind neben dieser Tradition vor allem empiristische Einflüsse von Bedeutung. Kapitel IV zeigt zunächst anhand einer Lektüre des „Tristram Shandy", welche Konsequenzen Sternes Pointierung der Lockeschen Erkenntnistheorie für die ästhetische Darstellung und ihre Grenzen zeitigt, und formuliert dann in einer detaillierten Lektüre des Wielandschen Romans in seiner ersten (und teils auch in der dritten) Fassung eine These über den komplexen Status, den sich dieser Text mittels seiner paratextuellen Rahmung zuweist. An der „Geschichte des Agathon" zeigt sich, daß Strukturen der intrinsischen Rahmung und der Selbstadressierung lange vor dem expliziten Postulat ästhetischer Autonomie eine tragende Rolle spielen. Im Rahmen expliziter Programme beschrieben werden sie jedoch erst in der Autonomieästhetik gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Diesen Implikationen der Autonomieästhetik geht Kapitel V anhand einer genauen Lektüre von Texten Kants und Moritz' nach. Rückbezüge auf Winckelmann, Baumgarten, Mendelssohn und Lessing ermöglichen hier eine tiefenscharfe Rekonstruktion der Semantik des Rahmens in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Dieser Rekonstruktion einiger autonomieästhetischer Argumentationsfiguren folgt in Kapitel VI eine ausführliche Auseinandersetzung mit Texten Jean Pauls, eines Autors, der für die Zeit um 1800 in wohl einmaliger Weise Gebrauch von paratextuellen Strukturen macht. Die Ausfüh-
5. Programm und Aufbau der Arbeit
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rungen beziehen sich dabei auf eine Reihe kürzerer Erzählungen, die im Umkreis der großen Romane „Hesperpus" und „Siebenkäs" entstanden sind. Es wird gezeigt, daß für Jean Pauls Poetik die Verbindung einer Theorie der Einbildungskraft mit einer Theorie des Buchstabens von entscheidender Bedeutung ist (VI.l). Sie liefert die Grundfigur für die Implementation paratextueller Verfahren in Jean Pauls Texten. Seine Theorie des Buchstabens beruht auf einer Unterscheidung, die hier auch von systematischem Interesse ist, derjenigen von Figur und Ornament. Von dieser Unterscheidung ausgehend und im Rückbezug auf zentrale ästhetische Konzepte Jean Pauls wie Humor und Witz liefert VI.2 eine zusammenfassende Rekonstruktion einer Poetik des Paratextuellen bei Jean Paul. Dem folgt — ausgehend von den „Biographischen Belustigungen" und dem „Jubelsenior" — die Skizze einer (Anti-)Romanpoetik bei Jean Paul, die als Poetik des „Appendix" (so die Gattungsbezeichnung des „Jubelseniors") greifbar wird (VL3): Der Roman definiert sich in demjenigen, was scheinbar lediglich Anhang, Parergon ist, aber die Selbstadressierung des Werks betreibt. Die Lektüren der folgenden Kapitel gehen im wesentlichen von der differenztheoretischen Fassung der Fragestellung aus, die in 1.3 und 1.4 skizziert wurde, und rekurrieren weniger auf den Begriff der Kommunikation als vielmehr auf den der Beobachtung. Kommunikation bleibt als eine Form der Beobachtung gleichwohl einbegriffen. Daher kann Kapitel VT.I der Arbeit, das sich erneut auf systematischer Ebene der Frage nach der Funktionalität von Paratexten für literarische Kommunikation widmet, auf die in den übrigen Teilen erzielten Ergebnisse zurückgreifen. Dieses Kapitel macht, ausgehend von der Jean Paulschen Theorie des Buchstabens, den Versuch, eine Theorie des Textes zu formulieren, die sich mit dem (systemtheoretischen) Konzept von Kommunikation vereinbaren läßt. Der Unterscheidung von Figur und Ornament kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. Tragender Bezugspunkt ist die Theorie des literarischen Textes, die Jurij Lotman vorgelegt hat (VII.2). Im Anschluß daran kann noch einmal die Spezifik der künsderischen Adressierung von Texten beleuchtet werden (VII.3). Insgesamt strebt die Arbeit eine Vervollständigung und Systematisierung der Untersuchungen über den Funktionswandel einzelner paratextueller Elemente in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an. Es rücken damit Phänomene in den Blick, die von Genettes Untersuchung weitgehend ausgeklammert werden, insbesondere Fragen der Historizität von Paratexten. Denn trotz mancher Ansätze und Hypothesen zur Geschichte der Paratexte verschreibt sich Genette dem „Versuch einer allgemeinen Darstellung", dem Versuch also, „die von der Überlieferung geerbten empirischen Objekte (zum Beispiel ,das Vorwort') aufzulösen,
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I. Rahmen, Paratext, Adresse
um sie einerseits in spezifische Objekte aufzuspalten [...] und sie andererseits in größere Zusammenhänge einzugliedern",150 mithin einem im wesentlichen synchronen Vorgehen. Die vorliegende Arbeit verpflichtet sich demgegenüber einer historischen Vorgehensweise,151 kann sich aber gerade deshalb nur einer sehr speziellen Problemstellung widmen, die mit den Anforderungen ästhetischer Autonomie verknüpft ist.152 Sie meint aber, gerade dank dieser Spezifikation der Frage nach dem ,Gebrauch' des Buches, der laut Novalis im Paratext gegeben wird, auf die Spur kommen zu können. Denn wenn die Rezeption des Textes als Kunstwerk die Herstellung von dessen Einheit, die sie selbst im Gebrauch konstituiert, gleichwohl dem Text selbst bzw. insbesondere seinem Paratext zuschreibt, so bedeutet dies, daß dort der Gebrauch des Textes tatsächlich nicht nur angegeben, sondern gegeben wird.
150 Genette: Paratexte, S. 20. 151 In dieser Hinwendung zur Geschichte der Paratextualität ähnelt die vorliegende Arbeit der neuausgerichteten Buchwissenschaft, wie sie jüngst vor allem in den USA gewachsen ist und die sich ideengeschichtlich, soziologisch und ästhetisch verankert. Für einen Überblick zu dieser .Forschungsrichtung' siehe Peter D. McDonald: „Ideas of the Book and Histories of Literature: After Theory?". In: Publications of the Modem Language Assoäation of America 121.1, 2006, S. 214-28). 152 Die ,umfassende' Geschichte der Paratextualität zu schreiben, käme der Aufgabe gleich, eine Geschichte der Schriftlichkeit zu verfassen.Das gilt vielleicht bereits für die Geschichte einzelner Elemente des Paratextes, wie etwa ein .philologischer Roman' über das Projekt einer historisch-systematischen Arbeit zum Titel verdeutlicht: Werner Bergengruen: Titulus. Das ist: Mis^ellen, Kollektaneen und Fragmentarische, mit gelegentlichen Irrtümern durchsetzte Gedanken %ur Naturgeschichte des deutschen Buchtitels oder unbetitelter Lebensroman eines Bibliotheksbeamten. München 1960.
II. Hors d'oeuvre? Paratextuaütät als Einbindungs- und Ablösefigur im 18. Jahrhundert Grenzregionen charakterisiert das Ablöseproblem, das sie bereiten: Sie bieten sich zugleich als eingebunden in das Werk und als abgelöst von ihm dar. Dieser Arbeit liegt die These zugrunde, daß literarische Texte im 18. Jahrhundert beginnen, den ambivalenten Status ihrer Grenzregionen zur Formbildung zu nutzen. Der Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Rahmung kommt dabei eine tragende Funktion zu. Die Entfaltung dieser These am historischen Material sieht sich allerdings vor das Problem gestellt, daß sie nachträglich die Unterscheidung, deren Neuigkeit sie behauptet, auch auf ältere Texte beziehen kann - ähnlich wie es möglich ist, mittelalterliche oder antike Texte im Paradigma der modernen Autonomieästhetik zu lesen. Dieses Problem legt es nahe, zunächst von zeitgenössischen Selbstbeschreibungen auszugehen: Welche Unterscheidungen nutzt man zur Beschreibung textueller Grenzregionen? Inwiefern können dabei Ablöseprobleme in den Blick geraten? Wie wird, mit anderen Worten, das Wesentliche literarischer Werke vom ihnen möglicherweise anhängenden Unwesentlichen unterschieden? Welche Zusatzannahmen sind dabei wirksam? Das folgende Kapitel geht von zwei Beschreibungen literarischer Grenzregionen aus, um diese Fragen zu beantworten. Die jüngere von ihnen, der „Vorbericht" zu Wielands „Geschichte des Agathon" (1766 f.), wird zuerst behandelt (II.l). Da in ihm besonders komplexe und neuartige Ablösefiguren vorgeführt werden, läßt sich im Anschluß leichter sehen, welche Denkmöglichkeiten demgegenüber die ältere Poetik, aus der hier Gottscheds „Versuch einer Critischen Dichtkunst" (1730 ff.) herangezogen wird, vorsieht (II.2). Abschnitte zur Geschichte der paratextuellen Gestaltung literarischer Texte (II.3) und zur aufklärerischen Poetik des Paratextes (II.4) leiten über zu einem systematisch orientierten Abschnitt (II.5), der zusätzlich zur Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Rahmung diejenige zwischen Selbst- und Fremdadressierung einfuhrt.
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II. Hors d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
1. Werk und Beiwerk. Wege einer Unterscheidung im „Vorbericht" zu Wielands „Agathon" Wielands „Geschichte des Agathon" ist mit ihrem „Vorbericht" von der Geschichtsschreibung der Romantheorie an eine prominente Position gesetzt worden.1 Hier werden zentrale Tendenzen der allgemeinen Poetik und der Poetik des Romans gebündelt und dabei zugleich transformiert, so daß der kurze Text als eine Art Schaltstelle der Entwicklung gelesen werden kann. Was Wielands Roman auszeichnet, ist weniger die Tatsache, daß er eine Theorie des Romans im Roman entwickelt. Hat doch die Romantheorie seit dem 17. Jahrhundert gerade in Romanvorrede ihren privilegierten Ort.2 Der Weg zur intrinsischen Rahmung des literarischen Textes, wie ihn Wielands Roman einschlägt, wird insofern von der Romantradition selbst vorbereitet. Allerdings gibt Wielands Roman der intrinsischen Romantheorie eine neue Form: Was im „Vorbericht" entfaltet wird, erfahrt genauere Bestimmungen im Roman selbst, es ergeben sich also vielfältige Wechselwirkungen zwischen (paratextuellem) Rahmen und ,eigentlichem' Text. Dabei werden im Verhältnis zwischen dem ,eigentlichen' literarischen Werk und seinem Beiwerk grundlegende Kontingenzen sichtbar — womit der Text auf eine neuartige Weise umzugehen versucht. Der „Vorbericht" zur zweibändigen Erstausgabe von Wielands „Geschichte des Agathon", die anonym und ohne Angabe des Verlags in Zürich (allerdings unter Angabe von „Frankfurt und Leipzig") bei Orell, Geßner und Comp, erschien (der erste Band 1766, der zweite im Folgejahr), konstruiert keine ,normale' Herausgeberfiktion.3 Von dem „Heraus-
1
2 3
Der Vorbericht findet sich abgedruckt in den gängigen Anthologien zur Romantheorie, ζ. B. in Eberhard Lämmert, Hartmut Eggert, Karl-Heinz Hartmann u. a. (Hgg.): Romantheorie 1620-1880. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. Frankfurt/M. 1988, S. 133-36, Dieter Kimpel, Conrad Wiedemann (Hgg.): Theorie und Technik des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. 1. Tübingen 1970, S. 96-98. Auch einschlägige Untersuchungen zur Romantheorie nehmen Bezug auf ihn (Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitζ bis Friedrich von Blankenburg. Stuttgart 1973, S. 194 f., Matthias Bauer: Romantheorie. Stuttgart 1997, S. 30f.). Um das zu sehen, genügt ein Blick in die genannten Anthologien. Das betont auch Wirth, der behauptet, der Herausgeber operiere „an der Schnittstelle zwischen psychologischem Kausalitätsprinzip und poetologischem Finalitätsprinzip" (Uwe Wirth: Autorschaft als Herausgeberschaft. Theorie und Geschichte der Herausgeberfiktion. Dargestellt an ausgewählten Romanen von Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und Ε. Τ. Λ. Hoffmann. Manuskript, Frankfurt 2004, S. 239 f.). - Die Habilitationsschriften von Wirth (Wirth: Autorschaft als Herausgeberschaft, S. 231—76) und Campe (Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung %wischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002, S. 321-24, S. 331-38) sowie die Arbeit von Michel (Sascha Michel: Ordnungen der Kontingent Figurationen der Unterbrechung
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1. Werk und Beiwerk. Wege einer Unterscheidung i :.f
Abbildung 6. Wieland: „Geschichte des Agathon", Titelblatt der ersten Ausgabe 4
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geber der gegenwärtigen Geschichte" wird in der dritten Person berichtet, er wolle den Versuch, die Leser davon zu überzeugen, die Geschichte sei „aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen", 5 gar nicht erst unternehmen. Daraufhin meldet sich ein ,Wir' zu Wort, das einen Weg aufzeigt, den Wahrheitsgehalt der Erzählung unabhängig von der Frage nach ihrer Faktizität zu bestimmen. Im Text selbst finden sich dann einerseits Rückverweise
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auf die ursprüngliche Autorschaft als " auf eine Tatsache, andererseits spricht der Text offen über die jeweilige ,Erfindung' einer Begebenheit. 6 Dank dieser Verweigerung einer eindeutigen Fesdegung des Status des Erzählten bleibt offen, wie die Rolle derjenigen Instanzen zu bestimmen ist, die der halb zurückgenommenen Herausgeberfiktion zufolge in je unterschiedlicher Weise für den Text der Erzählung verantwortlich wä-
4 5
6
in Er^ähldiskursen um 1800 (Wie/and - Jean Paul - Brentano). Tübingen 2006, S. 77-85) berücksichtigen die paratextuelle Rahmung des Romans bislang am gründlichsten. Ich danke Uwe Wirth für die Überlassung des Manuskripts seines „Agathon"-Kapitels. Anonymus: Geschichte des Agathon. Erster Theil. Frankfurt - Leipzig [eigentlich: Zürich] 1766. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger (= Werke in zwölf Bänden, Bd. 3). Frankfurt/M. 1986 [1766ß\, S. 11. - Michelsen behauptet, Mechanismen wie dieser hätten „keine andere Aufgabe als die Durchbrechung der Fiktion, d. h. das Wachhalten des Bewußtseins, daß wir es mit einer Fiktion zu tun haben." (Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1962, S. 201). Ähnlich Wolfgang Preisendanz: „Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon)". In: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium dessen Juni 1963. (= Poetik und Hermeneutik, Bd. I). München 1991 [1969], S. 72-95, S. 87. Siehe beispielsweise Wieland: Agathon [1766f./1986],
162 ff.
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II. Hors d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
ren.7 Zunächst bleibt unklar, wer der Sprecher des „Vorberichts" ist - ein identifizierbares ,Ich' meldet sich ja nicht zu Wort. Zwar behauptet das ,Wir', es lege „den Liebhabern"8 das Werk vor, doch kann dieses ,Wir' auch die Allianz eines Herausgebers und eines zeitgenössischen Verfassers bezeichnen, von dem im „Vorbericht" ebenfalls die Rede ist. Darüber hinaus bleibt völlig offen, wie gegebenenfalls das Verhältnis zwischen dem griechischen Manuskript und dem vorliegenden Erzähltext zu denken wäre: Was hieße es denn, wenn der vorliegende Text aus einem Originalmanuskript „gezogen" worden wäre? Hätte man es mit einer Art Palimpsest zu tun, wie Klaus Manger im Kommentar der Klassikerausgabe behauptet?9 Wer wäre für die Herstellung des Auszugs verantwortlich? In seinem weiteren Verlauf bringt der „Vorbericht" wenig Klarheit, eher verunklaren sich die Verhältnisse weiter. Beispielsweise wird vom Herausgeber behauptet, er habe, „da er selbst gewiß zu sein wünschte, daß er der Welt keine Hirngespinste für Wahrheit verkaufe", denjenigen Charakter zur Darstellung gebracht, „den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat."10 Mehr noch: Aus diesem Grunde kann er ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind, wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der glaubwürdigsten politischen Geschichtsschreiber, welche wir aufzuweisen haben. 11
Zunächst wird hier der Herausgeber in die Position eines Zeitzeugen versetzt - wobei sich die Behauptung einer Zeitzeugenschaft gleich dadurch wieder relativiert, daß behauptet wird, es habe dergleichen Personen „von je her viele gegeben", ja es gebe sie „in dieser Stunde noch".12 Man muß also fragen, was es bedeuten kann, wenn der Herausgeber behauptet, er habe den Charakter des Agathon „kennen zu lernen Gelegenheit gehabt". 7
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Budde hingegen sieht in dieser Bewegung des „Vorberichts" in erster Linie eine Demonstration der „uneingeschränkten Souveränität" des Erzählers (Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000, S. 48). Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 11. Siehe Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 945. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 12. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 12. Wirth geht davon aus, es sei die Funktion des Herausgebers, „die Modulation des Geschichtsschreibers zum Poeten zu rahmen und dadurch einen neuen Begriff,poetischer Wirklichkeit' und ,poetischer Wahrheit' zu initiieren" (Wirth: Autorschaft als Herausgeberschafi, S. 251). Ausführlich über den Roman als .„wahrscheinliche historische Fiktion'" (auch im Kontext zeitgenössischer Poetiken der Geschichtsschreibung) siehe S. 240—51.
1. Werk und Beiwerk. Wege einer Unterscheidung
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Darüber hinaus wird in der zitierten Passage die Versicherung des Herausgebers relativiert, indem eine Unterscheidung des Zufälligen (der ,Neben-Umstände', des Willkürlichen, der Auszierung) vom ,Wesentlichen dieser Geschichte' getroffen wird. Innerhalb der Erzählung ist demnach zwischen einer im eigentlichen und einer nur im uneigentlichen Sinn historisch wirklichen Dimension zu differenzieren. Zur im eigentlichen Sinn historisch wirklichen Dimension der Erzählung kann dabei auf jeden Fall die Charakterdarstellung zählen. Damit zeichnet sich eine Spannung zwischen der behaupteten (historischen) Wirklichkeit der Charaktere und dem ebenfalls im „Vorbericht" formulierten Postulat einer Wahrhaftigkeit der Fiktion ab. 13 Zwar ist von einer erdichteten Geschichte die Rede, doch wird auch ihr mit einem klassischen Argument Wahrhaftigkeit zugeschrieben: Es heißt, man könne von einer Geschichte wie der Vorliegenden erwarten, daß sie voll und ganz dem „Lauf der Welt" entspreche. 14 Darin liege - trotz ihres Fiktionsstatus — ihre „Wahrheit". 15 Bezieht sich dieses Postulat auf verallgemeinerbare Erkenntnis über dasjenige, was möglich ist und daher Gegenstand der Fiktion werden kann, so appelliert die Behauptung der Wirklichkeit von Charakteren — gerade weil sie auch auf gegenwärtige Wirklichkeit abzielt — eher an eine persönlich gegründete Erfahrbarkeit dessen, was die Geschichte in ihrer wesentlichen Struktur ausmacht. Die beiden Behauptungen stehen in einem Spannungsverhältnis nicht zuletzt deshalb, weil sie auf unterschiedliche Bestimmungen des der Erzählung Wesentlichen abzielen. Offenkundig gelten hier für Charaktere andere Voraussetzungen als für die Ge13
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Dies ist auch der Ausgangspunkt der Interpretation von Campe, der von einer ,,einfache[n] Inkonsistenz" (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 323) bzw. einem ,,glatte[n] Widerspruch" (S. 324) spricht. Hinter diesem „Widerspruch" aber verstecke sich eine „Rechnung mit der großen Zahl", also ein probabilistisches Argument (S. 324). Zur Bedeutung der Statistik im „Agathon" siehe auch IV.2. Diese Inkonsistenz in der „Argumentation des Herausgebers" macht auch Michel namhaft (Michel: Ordnungen der Kontingent S. 81 f.; zur ebenso ambivalenten Argumentation des ,Erzählers' siehe S. 75). Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 11. Hierzu im einzelnen III.l. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 11. Auf die Rekonstruktion der „Wahrheitsbedingungen des Erzählens" liegt der Schwerpunkt von Fricks Deutung des „Vorberichts" (Werner Frick: Provident und Kontingent Untersuchungen %ur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1988, S. 388). Genauer ist von einem ,,empirisüsche[n] Möglichkeitskriterium" die Rede (S. 389). Der Stellenwert der historischen Wirklichkeit der Charaktere gerät dabei nicht in den Blick. Zum Verhältnis dieser Forderung zur Göttinger „pragmatischen Geschichtsschreibung" siehe Horst Thome: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie ?ur Vorgeschichte der deutschen Klassik. Frankfurt/M. 1978, S. 180 ff. - Michel bezieht das Postulat einer Wahrheit der Geschichte auf Aristoteles zurück und deckt in seiner präzisen Lektüre ein höchst ironisches Spiel mit diesem Prätext auf (Michel: Ordnungen der Kontingent S. 81-85). So weist er auf die Rolle des Dichters Agathon in Aristoteles' „Poetik" hin (S. 82) und kann zeigen, daß wesentliche Schlüsse des Vorberichts im Sinne Aristoteles' als ,Trugschlüsse' aufgefaßt werden müssen (S. 84f.).
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II. Hors d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
schichte. Beide Bestimmungen abet sind in ihrem Spannungsverhältnis wichtig für die Herstellung von Bezügen zwischen der Geschichte und der Wirklichkeit, in der der Roman wirken will. Sie sind also von Bedeutung für die aufklärerische Dimension und Wirkungsabsicht des Textes, denn sie zielen einerseits auf seine Allgemeinheitsfähigkeit ab, andererseits auf seinen — situativ verschiedenen - Nutzen.16 Es wird sich zeigen, daß die Unterscheidung zwischen Charakter und Geschichte für die Poetik des Romans insgesamt tragend ist.17 Daß es der Herausgeber ist, der die ad hoc schwierige Unterscheidung zwischen den Nebenumständen und der eigentlichen, historisch wirklichen Geschichte einführt, ist deshalb von Bedeutung, weil sich fragen läßt, inwiefern dann die Spuren des Herausgebers, die dem von ihm Herausgegebenen anhaften, selbst zu dessen unwesentlicher Dimension zu rechnen sind. Darüber hinaus ist in diesem Fall die Frage der Herausgeberschaft selbst unentschieden: Wird bereits im nächsten Absatz mitgeteilt, der „Verfasser" glaube „mit Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe",18 so bleibt unklar, wer damit gemeint ist: Der griechische Autor oder ein zeitgenössischer Verfasser oder vielleicht gar der Herausgeber selbst, der dann zugleich Autor wäre? Die Beteuerung der (teilweisen, auf das Wesentliche bezogenen) Wirklichkeit der Geschichte wird also von Instanzen getroffen, deren Verantwortlichkeit für die folgende Erzählung (und für den „Vorbericht") gar nicht geklärt ist: Hat man es doch zu tun mit einem ,Wir' als Sprecher des „Vorberichts", von dem man nicht weiß, wie es zu dem möglicherweise gegebenen griechischen Originalautor, dem in jedem Fall gegebenen Herausgeber und dem ,Verfasser' steht, und sind dies doch ihrerseits Instanzen, deren Verhältnis zueinander und zur Erzählung alles andere als eindeutig ist.19 16 17
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Auf den Stellenwert dieser doppelten Stoßrichtung aufklärerischer Literatur komme ich zurück. Siehe Kapitel III. Erhart macht bereits im „Vorbericht" ein Schema aus, das er für die gesamte erste Fassung des „Agathon" für zentral hält: Der Text spiele mit durch unterschiedliche Gattungstraditionen, insbesondere den durch den ,pragmatischen Roman' vorgeprägten Lesererwartungen, die er allesamt ironisiere: „So wie Wieland im Vorwort die Lesart eines Erzählschemas zitiert, dessen Einlösung im Verlauf der ,Geschichte' jedoch ständig in Frage steht, so gewinnt der Roman seine ihm eigene Methode erst durch diese permanente Verweigerung und Dekomposition der vom Leser erwarteten Erzählstrukturen." (Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands yAgathon'-Projekt. Tübingen 1991, S. 94.) „Nicht der sich am ,Vorbericht' orientierende .vernünftige', in seinen Erwartungen schließlich getäuschte Leser, sondern der die Widersprüche des Romanexperiments erkennende ,philosophe' ist der antizipierte Adressat des Wielandschen ,conte philosophique'" (S. 97). Wieland: Agathon [1766f./ 1986], S. 13. Thome hingegen identifiziert den Sprecher der Vorberichts schlicht mit dem Erzähler (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 187 ff.). Stang zufolge „tritt der Herausgeber im
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Natürlich ist ein solches Spiel mit der Frage, welche Instanz für die vorliegende erzählerische Fassung der Geschichte zuständig sei, keineswegs eine neue Erscheinung. Sie findet Vorläufer nicht zuletzt bei Wieland selbst, nämlich in dessen erstem Roman „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich, [sie] zugeht" (1764), einem Text, der zu Recht als der Beginn von Wielands Auseinandersetzung mit Sternes „Tristram Shandy" angesehen worden ist,20 vor allem aber mit Cervantes' „Don Quichote" (1605/1615) korrespondiert, innerhalb welcher Geschichte bekanntlich ebenfalls eine schriftliche Fassung eben dieser Geschichte vorkommt. 21 In Wielands „Don Sylvio" wird deutlich, daß das Problem der erzählerischen Verantwortung eines der paratextuellen Rahmung ist. Entscheidend ist in diesem Fall der „Nachbericht des Herausgebers / welcher aus Versehen des Abschreibers zu einem Vorberichte gemacht worden". 22 Wie später im „Agathon" wird auch hier eine Verunklarung der Verantwortlichkeiten betrieben: Eine vom angeblichen Übersetzer eines spanischen Manuskripts dem Herausgeber, nicht aber dem Leser mitgeteilte „umständliche und wohlzusammen hangende Geschichte der besagten Handschrift", die ihrerseits nicht übersetzt wurde, genügt dem Herausgeber, der hier in der ersten Person Singular spricht,
Agathon als Bearbeiter auf, der sich zwar auf die Vorlage einer alten Handschrift stützt, den Inhalt aber in seinen eigenen Worten wiedergibt." (Harald Stang: Einleitung — Fußnote Kommentar. Fingierte Formen wissenschaftlicher Darstellung als Gestaltungsekmente modemer Er^ählkunst. Bielefeld 1992, S. 59.) Laut Wirth „bezeichnet sich der Vorwortverfasser [...] ohne Einschränkung als .Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte'" (Wirth: Autorschaft als Herausgeberschaft, S. 236). Campe unterscheidet zwischen dem Herausgeber, den er mit dem Ich identifiziert, das innerhalb des Haupttextes spricht, dem griechischen Autor und Agathon als Verfasser eines Tagebuchs, das dem griechischen Autor angeblich in Abschrift vorgelegen hat (zum letzten Punkt siehe IV.3), betont aber ähnlich wie ich, daß diese Instanzen in „einem nicht erläuterten Verhältnis" zueinander stehen (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 332). Michel kommt zu dem Ergebnis, daß nicht „erst im weiteren Verlauf des Romans, sondern schon im Vorbericht [...] kein mit sich identisches HerausgeberSubjekt auszumachen" ist (Michel: Ordnungen der Kontingent S. 78); begründet wird diese Behauptung mit der in sich gespaltenen und inkonsistenten Argumentation des „Vorberichts". 20 21
22
So Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 183 ff. Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quijote von la Mancha. Übers, v. Ludwig Tieck. Hg. v. Hans Rheinfelder, Bd. 2. Bad Salzig - Düsseldorf 1951 [1615], S. 26: ,,[D]enn zur Nacht ist der Sohn des Bartolomäus Carrasco angekommen, der in Salamance studiert hat und Bakkalaureus geworden ist, und da ich hinging, um ihm Willkommen zu sagen, hat er mir erzählt, daß Eure Historie schon in Büchern gedruckt wäre, unter dem Titel ,Der scharfsinnige Edle Don Quijote von La Mancha'". Christoph Martin Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Erste Fassung. Hg. v. Sven-Aage Jorgensen. Stuttgart 2001 [1764], S. 7.
60
II. Hors d'oeuvre? Paratextuaütät als Einbindungs- und Ablösefigur
zur Feststellung der (historischen) Wahrhaftigkeit der Geschichte.23 Der Herausgeber bleibt aber seinerseits abhängig von einer vierten Instanz, die einen unabsehbaren Einfluß auf den vorliegenden Text hat, dem ,Abschreiber' nämlich. Und vielleicht auch von einer fünften, der es zuzuschreiben sein dürfte, daß wir (aus dem Untertitel des „Nachberichts") von dem Versehen des Abschreibers überhaupt erst erfahren.24 Im „Agathon" ist das Spiel mit den Verantwortlichkeiten noch komplexer. Die Frage nach der Verantwortung für die vorliegende Fassung der Erzählung ergibt sich nicht nur aus dem „Vorbericht", sondern sie greift über auf andere Paratexte. Schon das Titelblatt stellt sie, insofern es sich der Frage nach dem verantwortlichen Autor entzieht, und auch die verlegerische Verantwortung verunklart (es findet sich ja nur eine im übrigen falsche Angabe des Verlagsorts). Das Spiel mit der Verantwortung wird aber überdies auch in den Text der Erzählung hineingetragen, beispielsweise in der „Apologie des griechischen Autors", die in der ersten Fassung das elfte Buch einleitet: Auf diese Kapitelüberschrift folgt die Rede einer Instanz, die offenkundig nicht mit dem griechischen Autor identisch ist, dessen Existenz man aber für ausgemacht annimmt.25 Schon im „Vorbericht" treten jedoch, ähnlich wie im „Don Sylvio", weitere Instanzen auf, die insbesondere mit der paratextuellen Struktur des Textes in Verbindung gebracht werden. Das sprechende ,Wir' nämlich zeigt sich verärgert über eine von einem „Freunde" in den Text eingefügte erklärende Fußnote: Wir gestehen gerne, daß wir in das Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten eingehüllt, nicht daran gedacht hätten, daß diese Sorgfalt [die der Erklärungen im „Vorbericht"] nötig wäre, wenn uns nicht die Anmerkung stutzen gemacht hätte,
23
Hier das vollständige Zitat: „Ich muß es dem guten Willen der Leser überlassen, ob sie glauben wollen oder nicht, daß dieses Buch den Don Ramiro von Z***, der einige Jahre Gesandtschafts-Secretarius bei einem bekannten Spanischen Minister an einem deutschen Hofe gewesen, zum Verfasser habe. Ich meines Orts gestehe, daß ich die spanische Handschrift nicht selbst in Händen gehabt; allein mein Freund, der Herr Übersetzer, erzählt mir in einem Schreiben, worinn er mir aufträgt, die Ausgabe dieses Werks zu besorgen, eine so umständliche und wohlzusammen hangende Geschichte der besagten Handschrift und ihrer seltsamen Schicksale, der Ursachen warum, ungeachtet des günstigen Urteils, so der Erzbischof von T*** davon gefallt, dieselbe in Spanien niemalen zum Druck gelangen können, und auf was Art sie, vor einigen Jahren in seine Hände gekommen; daß ich mir die Mühe nicht geben mag, an der Wahrheit seiner Erzählung zu zweifeln. Er versichert mich, daß alle diese und noch viele andre sehr merkwürdige Anecdoten, dieses Buch betreffend, in einer weitläuffigen Zuschrift enthalten seyen, welche Don Ramiro an seinen Gönner, den berühmten Minister Don Richard von W*** gerichtet habe, und die er dem Leser nicht mißgönnt haben würde, wenn er nicht durch viele eingefallene Geschäfte an Ubersetzung derselben wäre gehindert worden." (Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, S. 7.)
24
Zur Frage der für die Schrift verantwortlich zeichnenden Instanzen einer Erzählung siehe Bunia: „Die Stimme der Typographie". Genauer hierzu siehe IV.2.
25
1. Werk und Beiwerk. Wege einer Unterscheidung
61
welche einer unsrer Freunde, ohne unser Vorwissen, auf der Seite pag. 58 [eigentlich: 57] unter den Text zu setzen, gut befunden. 26
Auch das Druckfehlerverzeichnis, das dem zweiten Band (1767) anhängt, fuhrt entsprechend an: „deleatur die sehr überflüssige Anmerkung." 27 Die Fußnote, die sich auf Seite 57 der Erstausgabe als Erläuterung der Überschrift zum sechsten Kapitel findet, lautet wie folgt: Zur Verhütung alles Mißverstandes berichtet der Verfasser, daß, was Hippias hier und forthin scheinbares zur Behauptung des Epicureismus vormahlet, im folgenden Theile, worinn eine der wahren Religion und christlichen Tugend vollkommen günstige Philosophie die Oberhand behält, gründlich wird widerlegt werden; so daß dieses Blendwerk, w o die in den Zeiten des Pericles herrschende Philosophie, nach der historischen Wahrheit, in der Hülle einer Geschichte vorgetragen wird, vor der Wahrheit verschwinden soll, wie der Nebel vor der Sonne. 28
Hier zeigen sich die Spuren einer Instanz, die sich in die Tätigkeit des Herausgebers einmischt - was eine weitere Vermehrung des Kreises möglicher verantwortlicher Instanzen zur Folge hat: Im „Vorbericht" spricht ein ,Wir' (das seinen eigenen Status ebenso wie den der beiden ins Spiel gebrachten möglichen Verfasser in ihrem Verhältnis zum Herausgeber in ein gewisses Zwielicht rückt), in der Fußnote spricht eine Instanz, die über einen Bericht ,des Verfassers' (wer immer das sein mag) Auskunft erteilt, und im Druckfehlerverzeichnis spricht eine Stimme, die ihren Korrekturauftrag mit einem ungewöhnlich wertenden Kommentar versieht und sich darin mit der Stimme des „Vorberichts" solidarisiert. Natürlich ist es aufgrund der Quellenlage möglich, die realen Verfasser der jeweiligen Passagen zu bestimmen: Wieland hat sich bereits im Januar 1765 bei den Verlegern über die genannte Anmerkung beklagt und gefordert, man möge ihm die bereits gedruckten Bögen zur Korrektur überlassen, er wolle auch die Kosten dafür tragen. 29 Offenbar aber hat man Wielands Ansinnen ignoriert. Auch mußte er nach dem Erhalt des fertigen ersten Bandes mit Verärgerung feststellen, daß man seiner wiederholt vorgetragenen Bitte um Beseitigung der Druckfehler insgesamt nicht nachgekommen ist. 30 Immerhin aber kann er die am 7.11.1765 brieflich vorgeschlagene Vorrede unterbringen. 31 Aber auch dann, wenn man dahingehend argumentieren kann, daß Wieland den „Vorbericht" und das Druckfehlerverzeichnis, die Verleger aber die Anmerkung zu verantwor26 27 28
29 30 31
Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 14. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 970. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 970. Leider hat sich der Herausgeber der Klassikerausgabe, obgleich er dem Text der Erstausgabe folgt, dagegen entschieden, die Fußnote im Text selbst anzubringen. Sie findet sich nur im Kommentar. Brief vom 12.1.1765; siehe den Kommentar in Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 838. Siehe den Brief vom 4.4.1766 (Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 846). Siehe den Kommentar in Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 844.
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
ten haben, ist Wieland nicht der Verantwortung für die Anmerkung und sind die Verleger nicht der Verantwortung für „Vorbericht" und Druckfehlerverzeichnis vollständig enthoben - weshalb der Konflikt überhaupt erst entsteht. Offenbar müssen die Verleger in der von ihnen eingefügten Anmerkung im Namen des Verfassers sprechen, um die von ihnen intendierte Wirkung (Besänftigung der Zensur32) zu erreichen. Zugleich aber sind sie (auch wenn sie ebenso wie der Autor ungenannt bleiben und lediglich als „Freund" des Vorberichtsschreibers in Erscheinung treten) mitverantwortlich für den Druck des „Vorberichts", dessen Wendung gegen die eigene Anmerkung sie in Kauf nehmen - ebenso wie Wieland selbst den Verbleib der Fußnote im Text letztlich in Kauf nimmt, wenn er den Text überhaupt drucken läßt. Unbeschadet dieser realen Gegebenheiten liest sich der Konflikt um die verlegerische Anmerkung wie die Fortsetzung der innerhalb der Herausgeberfiktion betriebenen Verunsicherung auf einer übergeordneten Ebene. Fast möchte man ihn als Teil der Inszenierung der Herausgeberfiktion ansehen, zumal alle Instanzen, die im „Vorbericht" genannt und an der Erstellung des Erzähltextes beteiligt sind, dank des Titelblattes anonym bleiben. Auf jeden Fall muß man feststellen, daß die einander widerstrebenden Tendenzen der drei Paratextelemente in der gleichzeitigen Verantwortung mindestens zweier, zwar historisch bestimmbarer, im Text, so wie er 1766/67 vorliegt, aber nicht genauer spezifizierter Instanzen liegen, ohne daß Kriterien zur Hand wären, anhand derer man im Einzelfall — also im Hinblick auf den Wordaut einer einzelnen Stelle — entscheiden könnte, wer ihn in letzter Instanz verantwortet. Ähnliche Abgrenzungsprobleme ergeben sich aus den Argumenten, die in der Fußnote im Bezug auf die Erzählung und im „Vorbericht" im Bezug auf die Fußnote angebracht werden. Erst die von fremder Hand eingefügte Anmerkung hat den Sprecher des „Vorberichts" darauf aufmerksam gemacht, daß im Umgang mit den im Text vorgetragenen Meinungen eine gewisse „Sorgfalt" notwendig sein könnte. Im „Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten" hat er noch gedacht, der Text spräche für sich. Wenn nun der Sprecher daran geht, die Überflüssigkeit der Anmerkung zu erweisen, erweitert er allerdings den Paratext noch weiter: Ist die Anmerkung einmal gemacht und folgt der „Freund" dem deleatur nicht, 32
Darin ist auch ein Grund für die falsche Verlagsortangabe zu sehen. Die Angabe des Verlegers ist sehr früh aus Gründen der Zensur verpflichtend geworden (Arnold Rothe: Oer literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt/M. 1986, S. 407 ff., S. 419). Ebenso ist aber gerade im 18. Jahrhundert die Irreführung durch falsche Ortsangaben verbreitet (S. 418). Siehe für England um 1700 James McLaverty: „Questions of Entitlement. Eighteenth-Century Tide Pages". In: David C. Greetham (Hg.): The Margins of the Text. Ann Arbor 1997, S. 173-98, S. 177f.
1. Werk und Beiwerk. Wege einer Unterscheidung
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ist dieses performative Paradox offenbar unumgänglich. Dabei hatte schon die Anmerkung selbst im Grunde ihre eigene Uberflüssigkeit postuliert bzw. sich als bloßen Vorgriff auf etwas, was der Text auch selbst zu erkennen geben werde, dargestellt: Das „Blendwerk", das die Argumentation des Hippias hier entfalte, werde im weiteren Verlauf des Textes „vor der Wahrheit verschwinden [...], wie der Nebel vor der Sonne".33 Die Lehre, die hier „in der Hülle einer Geschichte vorgetragen" werde, werde im Fortgang des Romans (also wiederum in der ,Hülle einer Geschichte') widerlegt. Ebenso formuliert der „Vorbericht": Eine ausführliche Widerlegung dessen, was in seinen Grundsätzen irrig und gefährlich ist: (Denn in der Tat hat er nicht allemal unrecht,) wäre in Absicht unsers Plans ein wahres hors d'oeuvre [sie] gewesen, und schien uns auch in Absicht der Leser überflüssig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm Agathon gibt, das beste enthält, was man dagegen sagen kann; sondern auch das ganze Werk (wie einem jeden in die Augen fallen wird, sobald man das Ganze wird übersehen können) als eine Widerlegung desselben anzusehen ist. 34
Mit dieser Argumentationsfigur wird der Bogen zurückgeschlagen zur eingangs getroffenen Unterscheidung einer wesentlichen und einer unwesentlichen Dimension der Erzählung, die hier allerdings anders gelagert ist: Offenkundig ist das Hippiassche .Blendwerk' gegenüber der Tugendlehre des Agathon - um deren erste Auseinandersetzung es in dem in Frage stehenden Kapitel geht — unwesentlich: Hippias' Lehre wird entfaltet, um durch die Gesamtanlage des Werks widerlegt zu werden, und diese Widerlegung ist kein hors d'auvre, sondern der springende Punkt der Erzählung. Diese Botschaft aber wird zum hors d'oeuvre, wenn sie zur Unzeit explizit gemacht wird — wobei es dann seinerseits im paratextuellen Rahmen der Erzählung ein Eigenleben zu führen beginnt. Die Unterscheidung zwischen demjenigen, was der „Geschichte des Agathon" wesentlich ist, und dem Unwesentlichen', dem hors d'auvre, das ihm nur anhängt, ist mithin schwierig zu treffen. Es scheint so, als lasse sich das Wesentliche nur schwer vom Unwesentlichen trennen. So werden für den Versuch, die Geschichte, insofern sie historisch wirklich ist, von der ihr bloß zufällig anhaftenden ,Auszierung' abzulösen, gar nicht erst die Kriterien genannt. Und die Bedeutung der Geschichte, eine Widerlegung des Hippias zu sein, ist zwar angeblich ohne Explikation der Erzählung zu entnehmen, tatsächlich aber scheint die Sache so eindeudg nicht zu sein; immerhin ist das hors d'auvre, das eine solche Explikation leistet, nicht nur im Paratext angerichtet, sondern erzwingt durch sein dortiges Erscheinen auch seine fortgesetzte Wiederholung.
33 34
Wieland: Agathon [1766fj Wieland: Agathon [1766fj
1986], S. 970. 1986], S. 16.
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II. Hors d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
Bemerkenswert an Wielands „Vorbericht" ist nicht nur, daß mit der (ihrerseits mehrfach bestimmten) Unterscheidung des Wesentlichen der Geschichte (als dem ,Für-Sich-Sprechenden') von ihren bloß zufälligen Anhängen auch für die aufklärerische Poetik zentrale Unterscheidungen wie die zwischen Fabel und Lehre, zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Charakter und Geschichte problematisiert werden. Darüber hinaus wird diese in sich schon spannungsreiche Unterscheidung mit der Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen des Textes verknüpft — und zwar mittels der gleichzeitigen Unterscheidung und Nicht-Unterscheidung von Instanzen, die für die Fassung des Textes verantwortlich zeichnen. (Im Verlauf des Textes gerät zudem die materielle Dimension des Textes in den Blick: Das Originalmanuskript ist stellenweise zerstört.35) Es werden also solche Unterscheidungen, die die Stellung der Erzählung zur Wirklichkeit bzw. zur Wahrheit (oder, allgemeiner: zur Ordnung der Dinge) betreffen, nicht nur verunsichert, sondern zudem mit der ebenso unsicheren Unterscheidung von Haupttext und Paratext in eine spannungsvolle Verbindung gebracht. Der „Vorbericht" betreibt einerseits eine fortgesetzte Differenzierung des paratextuellen Bereichs und eine Problematisierung der auf unterschiedlichen Ebenen getroffenen Unterscheidungen von Innen und Außen, andererseits aber apostrophiert er einen über diesen Rahmen laufenden Bezug zwischen der Geschichte, der Wirklichkeit und der Ordnung der Dinge. Er verweist auf ein konstitutives Moment von Kontingenz in den vielfältigen Innen-Außen-Beziehungen des Textes (ein Moment, das beispielsweise Gottsched auszublenden versucht) und zielt doch auf die Etablierung einer Ordnung ab. Er bringt als Teil der Grenzregion des Textes die textkonstitutive Grenze hervor, reflektiert aber zugleich auf deren kontingenten Status. Damit kann er auch andere Bestandteile des Paratextes, beispielsweise die Titelseite, als integrale Bestandteile des Werks ausweisen: Gerade indem die Titelseite Festlegungen vermeidet, kann sie jene Kontingenzen reflektieren, die die Grenzen der Geschichte konstituieren, so wie der „Vorbericht" sie entwirft.
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a. Die ausgesprochen komplexen Konfigurationen des Wesentlichen und des Zufälligen von Text und Geschichte im „Agathon", die sich anhand von Wielands „Vorbericht" beschreiben lassen, legen die Frage nahe, wie 35
Hierzu vor allem IV.3.
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
65
die Poetiken vor dem Erscheinen des Romans paratextuelle Strukturen in den Blick nehmen. Inwiefern stellen sie Bezüge her zwischen der paratextuellen Rahmung der Dichtung und der jeweils angenommenen Ordnung der Dinge? Welchen Status erhalten damit die Grenzen und die Grenzregionen der Texte? Als Ausgangspunkt kann Gottscheds „Versuch einer Critischen Dichtkunst" dienen. Gottsched hat erst in die vierte Auflage von 1751 einen Abschnitt über den Roman integriert36 und die hybride Gattung wenig geschätzt; seine Ausführungen geben aber wichtige Aufschlüsse über das Gattungssystem, aus dem der Roman herausfallt. Es finden sich mehrere allgemeine Betrachtungen zu einzelnen Paratextelementen — wenn auch mit nur einer, allerdings entscheidenden, Ausnahme an relativ ,entlegenen' Orten des Textes, an Stellen nämlich, an denen der Systematik des Textes zufolge die Formulierung allgemeiner Theoreme nicht zu erwarten ist. In der Randständigkeit der Beobachtungen zu den Paratexten ist keine Besonderheit der Gottschedschen Poetik zu sehen. Vielmehr gilt es festzuhalten, daß eine systematische Beschäftigung mit Paratextelementen im 17. und 18. Jahrhundert außerhalb von Vorreden kaum stattfindet.37 Um so bemerkenswerter sind Gottscheds Betrachtungen: Trotz ihrer Verstreutheit lassen sie sich mit dem systematischen Anliegen
36
37
Es handelt sich um „Des I. Abschnitts V. Hauptstück" des zweiten Teils der Ausgabe von 1751, das überschrieben ist mit: „Von milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen" (Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Zweiter besonderer Theil (= Ausgewählte Werke, Bd. 6.2). Berlin - New York 1973 [1730ff.], S. 453). Die Ausführungen zeichnen sich teils durch eine große Nähe zu Huets „Traite" aus (vgl. Pierre Daniel Huet: Traite de l'origine des romans. Faksimiledrücke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser. Stuttgart 1966; siehe zum Verhältnis zwischen Gottscheds und Huets Romantheorie Fritz Wahrenburg: Funktionswandel des Remans und ästhetische Norm. Die Entwicklung seiner Theorie in Deutschland bis ^ur Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, S. 159-67). Vgl. Genettes Ausführungen über die traditionelle Selbstbezüglichkeit der Vorrede (Genette: Paratexte, S. 209 f.). Demgegenüber findet sich in Poetiken und Rhetoriken wenig über Paratexte. So konstatiert Hans Ehrenzeller: Studien ^ur Remanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul. Bern 1955, S. 14: „Das ist im Grunde alles, was die großen Kompendien der Zeit zum Thema zu sagen haben. Das Ergebnis ist nicht ermutigend: Sulzer erwähnt nichts, Zedier meint die akademische Renaissance-Vorrede, Bayle interessiert sich - an den weit auseinanderliegenden Stellen, wo von ihr überhaupt die Rede ist — nur für jene Partien der Vorrede, in denen sich eine allzu demütige Kopfneigung des Autors brandmarken läßt." Für den Titel wurde ähnliches festgestellt, siehe ζ. B. Rothe: Der literarische Titel.\ S. 150. - Eine Ausnahme bilden wohl Anmerkungen in ihren unterschiedlichen Formen: Da sie fortlaufend als philologisches Instrument von entscheidender Bedeutung gewesen sind, haben sie immer schon ein gewisses .wissenschaftstheoretisches' Interesse erfahren. Das läßt sich schon am Materialreichtum einiger wissenschaftsgeschichtlicher Studien zur Anmerkung ablesen (siehe ζ. B. Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Berlin 1995, Evelyn Eckstein: Fußnoten. Anmerkungen Poesie und Wissenschaft. Münster 2001, S. 22-47).
66
II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
seiner Poetik in Verbindung bringen. Insofern man Gottscheds Poetik das Verdienst einräumen kann, im Zuge ihrer ,Rationalisierung' einige Grundlagen der deutschen Poetik seit Opitz in besonderer Weise transparent zu machen, vermag auch ihre implizite Poetik des Paratextes als Bündelung und Systematisierung der impliziten Poetik des Paratextes um 1700 gelten. Was aber heißt hier ,entlegen'? Gottscheds Poetik geht von einer Reihe systematischer Betrachtungen aus, deren Geltungsbereich, unabhängig von spezifischen Regeln einzelner Gattungen, die gesamte Poesie umfaßt. Diese Überlegungen finden sich im ersten, allgemeinen Teil des Buchs. Der zweite Teil wendet sich dann den einzelnen Gattungen zu. Als .entlegen' können angesichts dieser Konzeption allgemeine, also gattungsunabhängige Überlegungen gelten, die gleichwohl nur im Kontext einer einzelnen Gattung abgehandelt werden. Eben dies ist bei Gottescheds Ausführungen zu einzelnen Elementen des Paratextes fast durchgängig der Fall. Die in diesem Sinn sicherlich ,entlegenste' der Stellen, an denen Gottsched Elemente des Paratextes verhandelt, findet sich im IX. Hauptstück des II. Abschnitts des zweiten Buchs, im Kapitel „Von Wahlsprüchen, Sinnbildern und ihren Ueberschriften". Hier bringt Gottsched eine allgemeine Anmerkung über Titelkupfer an. Sie findet sich in einem Abschnitt, der erst in der vierten Auflage ergänzt bzw. umgeschrieben wurde, ein Textteil also, den Gottsched mehr als zehn Jahre nach dem Erscheinen der dritten Auflage hinzugefügt wurde. Nahezu ebenso entlegen sind die Ausführungen zum Titel im Kapitel über das epische Gedicht, eine Gattung also, die von Gottsched weitaus höher als „Wahlsprüche" und „Sinnbilder" geschätzt wird. Schließlich gibt es einigermaßen ausführliche und ebenfalls als allgemeingültig gekennzeichnete Ausführungen über Titel, ,Vorsatz' und Musenanrufung im Kapitel über das Heldengedicht. Nur an dieser letzten Stelle bezieht sich Gottsched zurück auf explizite Ausführungen zum Titel und zum Musenanruf aus dem ersten, allgemeinen Teil der „Critischen Dichtkunst", nämlich auf die zentralen Kapitel „Von den dreyen Arten der poetischen Nachahmung" und „Von dem Wunderbaren". Dies sind die einzigen Bemerkungen über paratextuelle Strukturen im allgemeinen Teil der Poetik. Ein solches Verfahren ist besonders auffällig in einem Text, der sich durch sein innovatives systematisches Interesse auszeichnet, der sich also bemüht, die Regeln der poetischen Gestaltung strikt aus allgemeinsten Vernunftprinzipien herzuleiten (und in dieser Hinsicht eine stark rhetorikkritische Haltung an den Tag legt).38 Was bedeutet es, wenn Gottsched
38
Das Verhältnis Gottscheds zur rhetorischen Tradition ist in der Forschung immer wieder diskutiert worden. Siehe beispielsweise Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 3 - 5 3 , insbesondere den
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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den Rand des poetischen Textes vor allem an Stellen behandelt, an denen keine allgemeinen Ausführungen zu erwarten sind? Ist die „Critische Dichtkunst" gleichwohl als eine Poetik insbesondere des Paratextes lesbar? Man könnte vermuten, daß sich Funktion und Stellenwert des Paratextes so selbstverständlich aus dem Gottschedschen System ergeben, daß die Thematisierung an einem eigenen Ort überflüssig erschien. Es könnte aber auch sein, daß sich der Paratext nicht in das Gottschedsche System einordnen läßt, hier also ein Problem sichtbar wird, das nur an .entlegener' Stelle markiert, aber nicht wirklich bearbeitet werden kann. Es soll im folgenden gezeigt werden, daß beide Vermutungen ihre Berechtigung haben. Einerseits ergeben sich Gottscheds Anmerkungen zum ,Paratext' bruchlos aus seiner Systematik. Andererseits verweisen sie auf ein Problem, das Gottscheds System insgesamt umtreibt. 39 Ich beginne mit der ersten der genannten Äußerungen. Im Kapitel „Von Wahlsprüchen, Sinnbildern und ihren Ueberschriften" bestimmt Gottsched die Funktionalität von Titelkupfern. Zuvor definiert er das Emblem in Abgrenzung von den Devisen wie folgt: Dieß Emblema [...] kann sich aller Arten der Bilder bedienen, und so wohl die Gestalt eingebildeter, als natürlicher Dinge, so wohl die ungereimten, als die ordentlichen leiden. Es kann auch viele auf einmal, oder gar nur halbe oder verstümmelte brauchen, ja selbige auf unerhörte Art zusammen setzen. Es darf auch [anders als die Devise] nicht eben gewissen Personen eigen seyn, sondern stellt allgemeine Lehrsätze vor: nur soll es allezeit eine gute Lebensregel in sich halten; die, wenn sie in einem Bilde vorgestellet wird, eine bessere Wirkung thut, als wenn man sie mit Beweisen und Vernunftschlüssen begleitet hätte.
Dabei ist zu beachten: „Wenn ein solches Bild nicht von selbst redet, und wenigstens von einem etwas witzigen Kopfe, der es betrachtet, verstanden werden kann: so taugt es nichts." 40 Das Emblem gibt nun das Paradigma ab für die Gestaltung des Titelkupfers. „Ja überhaupt", so schreibt Gottsched, sollen alle Titelkupfer bey unsern Büchern, die keine Bilder ihrer Urheber sind, solche emblematische Gemaeide vorstellen. Dergleichen ist das Kupfer vor dieser Dichtkunst und das vor dem Heldengedichte Hermann, welche sich ohne weitläufige Erklärung verstehen lassen. 41
39
40 41
Überblick zur Forschung S. 8 - 1 0 , Anm. 10. Ich komme auf diesen Punkt weiter unten und in III.4 zurück. Was das Verhältnis zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Teil der „Critischen Dichtkunst" angeht, so ist hinzuzufügen, daß umgekehrt die allgemeinen Grundsätze, die der erste Teil entfaltet, ihrerseits aus der Betrachtung einer einzelnen Gattung gezogen werden, die damit einen paradigmatischen Charakter erhält, nämlich der Fabel. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst II, S. 609. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst II, S. 610.
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
Wenn Gottsched das Emblem nicht nur als ein spezielles poetisches Phänomen unter anderen in den Blick nimmt, sondern ihm zumindest für einen Bestandteil poetischer Werke eine paradigmatische Funktion zukommen läßt, so ist dies deswegen von Bedeutung, weil er damit eine Struktur benennt, die in Poetiken vor ihm als paradigmatisch für Dichtung überhaupt gegolten hatte. So sind beispielsweise für Harsdörffer die Sinnbilder die reinsten Verwirklichungen des Wesens der Dichtung.42 Auf die umfassende Forschung zur Bedeutung des Emblematik im 17. Jahrhundert kann an dieser Stelle nur ausschnitthaft verwiesen werden.43 Wichtig für die hier in Frage stehende Poetik des Paratextes ist allerdings, daß Gottsched auf eine Argumentationsfigur rekurriert, die gerade für die Poetik des Titels von entscheidender Bedeutung ist. Wie Benjamin feststellt, verweist die charakteristische „Doppelung des Titels" in der frühen Neuzeit „auf die gedoppelte Absicht, die im dramatischen Vorgang die handgreifliche Historie einerseits mit deren Auslegung andererseits zusammenschließt",44 mithin auf eine quasi-emblematische Struktur des Werks als solchem. Entsprechend zeigt Schöne am Beispiel von Andreas Gryphius' „CATHARINA von Georgien Oder Bewehrte Beständigkeit" (1657), daß das Schauspiel als eine „dramatische pictura" mitsamt ihrer „significatio" vom Doppeltitel bezeichnet werde, der mithin „die emblematische Struktur des Trauerspiels"45 widerspiegle. Und Bekes demonstriert anhand deutscher Dramen aus dem Zeitraum von 1730 bis 1755, wie sich diese Tradition emblematischer Titelstrukturen beispielsweise in der Benennung der Stücke nach Figuren aus Mythologie und Geschichte oder in Rekurrenz auf die Charaktere der Typenkomödie fortsetzt.46 42
43
44 45
46
So Georg Braungart: „Rhetorik, Poetik, Emblematik". In: Harald Steinhagen (Hg.): Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1572—1740 (= Deutsche Literatur. Eine Soyalgeschichte, Bd. 3). Reinbek bei Hamburg 1985, S. 219-36, S. 224f. - Gottscheds Behandlung des Emblems fällt auch ein wenig aus dem Rahmen seiner eigenen Systematik, wenn auch, wie sich zeigen wird, auf symptomatische Weise. Schon die Tatsache, daß Attribute wie ,eingebildet', ,ungereimt', .verstümmelt', die ansonsten als Verdikt gelten, bezüglich der pidura des Emblems völlig wertungsfrei angewendet werden, ist hier signifikant (vgl. zu diesem Abschnitt Andreas Härter: Digressionen. Quintilian — Opit% — Gottsched- Friedrich Schlegel. München 2000, S. 214 ff.). Einschlägig ist Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1968. Eine Überblicksdarstellung gibt Braungart: „Rhetorik, Poetik, Emblematik", eine umfassende und die vorangehende Forschung an vielen Stellen revidierende neue Darstellung bietet Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M. 1996 [1928], S. 219. Schöne: Emblematik und Drama, S. 191. Zum Doppeltitel auch Arnold Rothe: Der Doppeltitel. Zu Form und Geschichte einer literarischen Konvention. Wiesbaden 1970 (zum emblematischen Doppeltitel siehe S. 29). Peter Bekes: „Poetologie des Titels. Rezeptionstheoretische Überlegungen zu einigen Dramentiteln in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts". In: Poetica 11,1979, S. 394-426.
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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Es wird zu prüfen sein, inwiefern Gottscheds Poetik diesen Vorgaben verhaftet bleibt, die ja deutlich weitergehende Implikationen haben, insofern sie nicht nur das Titelblatt mit dem Emblem vergleichen, sondern Titel und Text zusammen als Emblem lesbar machen. Entsprechend wird der Titel mit den schriftlichen Elementen des Emblems und der Text selbst mit dessen pictura vergleichbar. Bei Harsdörffer findet sich die Anweisung, den „Namen deß Trauerspiels" solle man „hernehmen von der Haubtperson / oder auch von der Lehre auf welche alles gerichtet seyn sol."47 Schöne deutet dieses ,oder' als ein ,oder außerdem' und findet so in Harsdörffers Anweisung die Struktur des Doppeltitels aus inscriptio und subscriptio (,Haubtperson' und ,Lehre4) bereits angelegt. So wie noch bei Scaliger weniger vom titulus als vielmehr von der inscriptio die Rede, aber der Titel gemeint ist,48 ist bei Harsdörffer „Obschrift" zugleich die Bezeichnung für den Titel des Gedichts und für die inscriptio des Sinnbildes. So findet sich beispielsweise im vierten Teil der „Frauenzimmer Gesprächsspiele" (1644) ein umfassender Abschnitt über „Der Sinnbilder Obschrift",49 während im „Poetischen Trichter" die Anweisung gegeben wird, bei schwierigen Gedichten habe der Dichter dreyerley Mittel sich völlig zu erklären: I. Kan er das Gemahl zierlich zu Hülffe nemen / massen man mehr bilden / als schreiben kan. II. Die Obschrifft [sie] / oder den Titel deß Gedichts / dardurch deß Lesers Sinn / auf den Anfangs unbekanten Zweck gerichtet wird / und in wenigen Worten bestehen sol. Ist aber solches nicht genug / kan er II. [sie] die Kurtze Verfassung seiner Gedanken in ungebundener Rede vorfügen / oder selbst zu Ende nach Belieben erklären oder auch etliche Anmerkungen dem Gedichte nachsetzen. 50
Form und Funktion des Titels sind mithin identisch mit derjenigen der inscriptio des Emblems - und werden im folgenden von Harsdörffer auch
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Georg Philipp Harsdoerffer: Poetischer Trichter. Reprograßscher Nachduck der Originalausgabe Nürnberg 1648/F. Darmstadt 1969, 2. Teil, S. 80. 48 Siehe Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg. v. Luc Deitz, Gregor Vogt-Spira. Stuttgart - Bad Cannstatt 1995 [1561], Bd. III, S. 217-31. Scaliger definiert die inscriptio als „Zusammenfassung in einem oder nicht vielen Wörtern von dem Teil des Werks, um dessentwillen alle übrigen Teile vorhanden sind und das Ganze bilden" („uno aut non multo pluribus verbis comprehensio eius partis operis, cuius partis gratia ceterae partes omnes veniunt ad totius constiturionem"; S. 216 f.). Diese Definition steht in bemerkenswerter Nähe zu Gottscheds Poetik des Paratextes. - Auf Scaliger folgende theoretische Texte zum Titel stellen Volkmann zufolge im wesentlichen Sammlungen kurioser Titelbildungen dar und erheben oftmals die „Mahnung, die Buchtitel so abzufassen, daß sie mit dem Inhalt übereinstimmen" (Herbert Volkmann: „Der deutsche Romantitel (1470-1770). Eine buch- und literaturgeschichtliche Untersuchung". In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 8, 1967, S. 1145-323, S. 1147 ff., hier S. 1148). 49 Georg Philipp Harsdoerffer: Frauenzimmer Gesprächsspiele. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1644, Bd. IV. Tübingen 1968, S. 216-34. 50 Harsdoerffer: Poetischer Trichter, 2. Teil, S. 4 f.
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II. Hors d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
ganz ähnlich beschrieben.51 Allerdings ist dabei zu betonen, daß gegenüber Gottscheds Postulat, die pictura eines Emblems müsse bereits aus sich selbst sprechend sein, hier ein explikatives Verhältnis entworfen wird: Illustration, Titel und Kommentar dienen der Erklärung des ,schweren' Gedichts.52 Auf etwas komplexere Weise folgt auch Gottscheds Poetik des Paratextes einer Logik der ,Verdoppelung'. Weitere Auskunft geben seine Ausführungen zum Rahmen des Heldengedichts. Hier kommt Gottsched vergleichsweise ausführlich auf dasjenige zu sprechen, was der Erzählung anhängt, ohne ihr selbst zuzugehören: „Ehe der Poet aber seine Erzählung anfangt, gehen einige Stücke vorher, die man folglich auch muß kennen lernen. Das erste ist der Name des Gedichts; das andere der Vortrag seines Hauptsatzes; das dritte aber die Anrufung der Musen." 53 Es scheint, als seien dies notwendige Bestandteile des Gesamtwerks anderenfalls wäre es Gottsched nicht möglich, im Gegensatz zu diesen drei Elementen des Textes die „Zueignung des Gedichts an einen Mecänaten [sie]"54 für überflüssig zu erklären. Gleichwohl sind sie etwas Uneigentliches, dessen Behandlung der Autor möglichst schnell entfliehen möchte: „Ich eile zur Erzählung selbst. [...] Diese ist der eigentliche Körper des ganzen Gedichtes; und muß also ganz besondre Eigenschaften haben."55 Der Paratext wird so zu etwas, was dem eigentlichen „Körper" des Gedichts äußerlich ist - womit Gottsched die poetologische Metapher der Einkleidung aufruft. Was aber ist die Seele dieses Körpers? In dem Bezug auf die Seele der Erzählung besteht das — so Gottsched - notwendige Band, das den Paratext an die eigentliche Erzählung knüpft. So geht der ,Name' des Heldengedichts aus dessen Fabel, falls sie wohleingerichtet ist, in natürlicher Weise hervor: „Weil das Heldengedicht eine Fabel ist; so taufet es ein Poet nicht anders, als Aesopus die Seinigen getaufet hat. Er nennet sie aber allezeit nach dem Namen der Thiere, die 51
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Beim Titel ergibt sich neben der Möglichkeit der Benennung nach dem Inhalt noch die — allerdings laut Harsdörffer zu verwerfende - Möglichkeit der Benennung nach der Form des Gedichts. Der auf den Inhalt gerichtete Titel wiederum kann den Inhalt entweder „ins gemein" (Harsdoerffer: Poetischer Trichter, 2. Teil, S. 5) oder „absonderlich" (Harsdoerffer: Poetischer Trichter, 2. Teil, S. 6) bezeichnen — eine Unterscheidung, die eine grobe Entsprechung Endet in derjenigen von (immer besonderer) Hauptperson und (allgemeiner) Lehre, (mottoartiger) inscriptio und (explikativer) subscriptio. Laut Scholz ist es für die Struktur des Emblems entscheidend, daß die pictura „den ekphrastischen bzw. epideiktischen Gegenstand wiedergibt", also die erst auszulegende res, und nicht bereits deren Auslegung. Darin sei, so Scholz in Abgrenzung insbesondere zu Schöne, „das für das Emblem entscheidende Merkmal der Priorität des Bildes" angelegt (Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 32). Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst II, S. 299. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst II, S. 299. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst II, S. 301 f.
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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darinn vorkommen: ζ. E. der Wolf und das Schaaf; die Stadtmaus und die Feldmaus u. d. gl." 56 Gottsched überträgt also eine der Harsdörfferschen Regeln für den Titel des Trauerspiels auf das Heldengedicht und verleiht ihr schon dadurch einen gewissen allgemeinen Status. Dabei ist Gottscheds Wahl des Ortes, an dem er mit dem Titel auch die übrigen paratextartigen Bestandteile des Epos thematisiert, wiederum der Tradition geschuldet. Auch Opitz behandelt Musenanruf, Proposition und Dedikation in seinem Abschnitt zum Heldengedicht. 57 Diese Zusammenstellung geht zurück auf einen Vergil-Kommentar des Servius aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert. 58 Daß Gottsched in der Fortschreibung dieser Tradition allgemeingültige Ausführungen zum Paratext gleichwohl nur in der Auseinandersetzung mit einer einzelnen Gattung anfuhrt, läßt nicht nur die Zwischenstellung seiner Poetik zwischen bewahrendem und fortschrittlich-systematisierendem Anspruch deutlich werden, sondern auch den eingangs hervorgehobenen merkwürdigen Stellenwert, den die Poetik des Paratextes für die Systematik der „Critischen Dichtkunst" besitzt. In dem Verweis auf die Eigenschaft des Heldengedichts, eine Fabel zu sein, sich mithin der höchsten der drei Arten der poetischen Nachahmung zu verdanken, steckt aber zugleich ein Rückverweis auf die allgemeinen Ausführungen im vierten Kapitel des ersten Teils der „Critischen Dichtkunst". Es handelt sich also hier um die genauere Bestimmung eines allgemeinen Grundsatzes. Daher ist es auch von keiner geringen Bedeutung, daß der scheinbar so einfache Grundsatz — das Heldengedicht wird nach dem Namen der Hauptfigur(en) benannt — sogleich korrumpiert wird. Beispielsweise habe im Falle der „Odyssee" die Vielfalt der dort vorkommenden Figuren nicht im Titel repräsentiert werden können - während in 56 57
Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst II, S. 299. „Ein Heroisch getichte (das gemeiniglich weitleuffüg ist / vnd von hohem wesen redet) soll man stracks von seinem innhalte vnd der Proposition anheben [...]. [...] Nachmals haben die heiden jhre Götter angeruffen / das sie jhnen zue vollbringung des werckes beystehen wollen: denen wir Christen nicht allein folgen / sondern auch an frömigkeit billich sollen vberlegen sein." (Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1991 [1624], S. 24.) Es folgt ein Beispiel, in dem Opitz den heiligen Geist um Beistand bittet. „Wiewohl etliche auch stracks zue erste die anruffung setzen. [...] Doch ist / wie hier zue sehen / in der anruffung allzeit die proposition zuegleich begrieffen. Auf dieses folget gemeiniglich die dedication" (S. 25 f.). Zu einer von Opitz' Quellen siehe Ernst Rohmer. Das epische Projekt. Poetik und Funktion des ,carmen heroicum' in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1998, S. 68.
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Siehe Dietmar Till: „Invocatio". In: Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmüller u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin - New York 2000, S. 183-85, hier S. 184. - Eine Art propositio als Bestandteil des epischen prooemiums wird auch in der Rhetorik des Aristoteles erwähnt. Als Beispiele dienen interessanterweise Homers Musenanrufe (Aristoteles: Rhetorik. Übers, u. hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, S. 184).
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II. Hots d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
der Fabel gemeinhin mehrere ,Hauptpersonen' im Titel gefuhrt würden. Es gibt also feine Unterschiede im Blick auf dasjenige, was für die Titelgebung jeweils schicklich ist. Grundsätzlicher werden die Probleme, wenn man die „Ilias" betrachtet: „Hat aber Homer seine Ilias nicht eine Achilleis von der Hauptperson, sondern eine Ilias von dem Orte genennet: so ist sonder Zweifel die Ursache, daß Achilles fast in dem ganzen Gedichte müßig ist; und also von ihm sehr wenig zu erzählen vorfällt."59 Die Benennung des Werks bleibt mithin auf Figurationen angewiesen, die sich keinesfalls auf eine Regel zurückführen lassen - ein Problem, das sich allerdings nur in der Behandlung des Sonderfalls artikuliert. Die Stelle im allgemeinen Teil, auf die sich Gottsched hier bezieht, erweckt eher den Eindruck, als gäbe es solche Probleme gar nicht. Dieser Sachverhalt ist keineswegs nebensächlich. Denn es ist ja gerade das Anliegen Gottscheds, das reibungslose und vorhersehbare Funktionieren derartiger Figurationen zu erweisen bzw. die Regeln, die diese Figurationen steuern, so auf Vernunftprinzipien zurückzuführen, daß sich einheitliche Begründungszusammenhänge ergeben. So führt eine ähnliche Figuration weiter zurück auf etwas, was vielleicht die ,Seele' der Erzählung genannt werden könnte. Dieser Rückführung dient das zweite Element des quasi-paratextuellen Vorlaufs: „Der Vortrag ist nichts anderes, als eine kurzgefaßte Anzeigung von demjenigen, was der Poet zu erzählen, willens ist. Da nun die Handlung der Fabel dasjenige ist, was die Materie oder den Inhalt des Gedichtes ausmacht; so muß er dieselbe auch namhaft machen."60 Wenn der Titel den Namen der Hauptperson, einer Gruppe von Hauptpersonen oder eine Örtlichkeit in sich trägt, also ein Element der Fabel, das figurativ für diese einstehen kann, muß die propositio diese Fabel bzw. ihren ,Hauptsatz', wie es weiter oben heißt, .namhaft' machen, wobei hier offenkundig weniger eine figurative, sondern vielmehr eine eigentliche Benennung erwünscht ist: „ich besinge den Zorn des Achills, der so verderblich für die Griechen gewesen".61 Auch wenn sich diese Ausführungen nicht unmittelbar auf eine Definition aus dem allgemeinen Teil zurückbeziehen, gründet das Konzept des Vortrags für das Heldengedicht in den allgemeinen Prinzipien der Gottschedschen Poetik. Denn daß man die Fabel in einen ,Hauptsatz' zusammenfassen können muß, besagt die zentrale Definition dieser höchsten Art der poetischen Nachahmung: „Ich glaube derowegen, eine Fabel am besten zu beschreiben, wenn ich sage: sie sey die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Bege59 60 61
Gottsched: Versuch einer Criüschen Dichtkunst II, S. 300. Gottsched: Versuch einer Criüschen Dichtkunst II, S. 300. Gottsched: Versuch einer Criüschen Dichtkunst II, S. 300.
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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benheit, darunter eine nützliche Wahrheit verborgen liege." 62 Ein im einzelnen hier noch nicht bestimmtes Entsprechungsverhältnis sorgt für die Übersetzbarkeit der ,Geschichte' oder Erzählung in einen Satz, in dem die Fabel ihre Einheit findet. Der moralische Lehrsatz ist die Seele der Fabel - die ihrerseits wiederum mit einem Aristoteles-Zitat als Seele der Dichtkunst bezeichnet wird: „Die Fabel ist hauptsächlich dasjenige, was der Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst ist." 63 Innerhalb des Kapitels über die poetische Nachahmung, das diese zentralen Definitionen enthält, finden sich auch jene Überlegungen zum Titel, auf die oben bereits verwiesen worden ist. Auch hier werden sie nur mit Bezug auf einen Spezialfall angeführt, und zwar in einem Abschnitt über die ,epische Fabel', deren wichtigstes Beispiel wiederum das Heldengedicht ist. Im Kontext des Kapitels wird hier deutlich, daß Gottsched tatsächlich eine fortgesetzte Verdoppelung der Einheit des Gedichts projektiert, die dem Schema des emblematischen Doppeltitels entspricht. Denn nicht nur soll das Titelkupfer aus sich selbst heraus sprechend sein, insofern der „Ueberschrift" gar nicht bedürfen und somit den Titel bloß verdoppeln. Auch ist der Titel seinerseits bereits eine Abbreviatur des Lehrsatzes, dessen Entsprechung die handgreifliche Historie' (Benjamin), die die Fabel ist. Dies läßt sich aus den Verfertigungsregeln ablesen, die Gottsched für die Fabel anführt: Hier ist der Lehrsatz Ausgangspunkt, ihm entspricht aber eine Fabel, dieser wiederum kann ein in der Historie oder der Mythologie zu findender Stoff entsprechen, der den Lehrsatz veranschaulicht, mit diesem also im Grunde schon immer in Korrespondenz steht. Um dieses Verfahren zu demonstrieren, wählt Gottsched einen exemplarischen Lehrsatz aus: „Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit wären abscheuliche Laster." 64 Für eine epische Fabel entwirft er dazu folgende Handlung: Ein junger Prinz, in welchem eine unersättliche Ehrbegierde brennet, suchet sich durch die Macht der W a f f e n einen großen Namen zu machen. Er rüstet derowegen ein gewaltiges Heer aus, überzieht erst die benachbarten kleinen Staaten mit Krieg, bezwingt sie, und wird dadurch immer mächtiger. Durch List und Geld trennet er die Bündnisse seiner stärksten Nachbarn, greift sie darauf einzeln an, und bemeistert sich aller ihrer Länder. Da er nun endlich so groß geworden ist,
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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Cntischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil (= Ausgewählte Werke, Bd. 6.1). Berlin - New York 1973 [1730 ff.], S. 204. Gottsched: Versuch einer Cntischen Dichtkunst /, S. 202. Bei Aristoteles heißt es: „Ursprung und gewissermaßen Seele der Tragödie ist also der Mythos." (Aristoteles: Poetik. Übers, u. hg. v. Olof Gigon. Stuttgart 1961, S. 32.) Gottscheds Gleichsetzung des Aristotelischen Mythos-Begriffs mit dem eigenen, sehr speziellen Fabel-Begriff beruht auf einer eigenwilligen Übersetzung. Gottsched: Versuch einer Cntischen Dichtkunst 7, S. 215.
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II. Hots d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur als es möglich war, aber auch ein Abscheu aller Welt geworden, fällt seine Hoheit auf eine schmähliche Art, und er nimmt ein klägliches Ende. 65
Das weitere, insbesondere der Titel des Werks, ergibt sich dann aus den Umständen, in denen das Gedicht entsteht. Gottsched geht verschiedene Epochen und entsprechend zu wählende Stoffe durch, schließt dann jedoch folgendermaßen: Weil ich aber itzo in Deutschland lebe; so dörfte ich nur Ludewig den XIV. und dessen bey Hochstädt gedämpften Uebermuth in meinem Gedichte beschreiben. Ich würde demselben den Titel des herrschsüchtigen Ludewigs, oder des eingebildeten Universalmonarchen geben: so hätte es in diesem Stücke seine Richtigkeit, und die Nebenfabeln, sammt allen dazu gehörigen Personen müßten, nach Beschaffenheit der Umstände und Geschichte, bequemet, und also aufs wahrscheinlichste eingerichtet werden. 66
Nur Ludwig XIV. ist zu wählen, wenn man ,itzo in Deutschland lebt', und sein Name ist bereits im Titel mit einem Attribut zu versehen, das den Namen des Stückes (dessen inscriptio) ergänzt um eine subscriptio, deren Funktion schon fast die eines ,Vortrage' bzw. die der Abbreviatur des moralischen Lehrsatzes darstellt. Geht man zurück auf die Metaphorik von Körper und Seele, inklusive der implizit mitgeführten Dimension der (Ein-) Kleidung, so stellt sich die Frage, was genau unter den Entsprechungen zu verstehen ist, die zwischen den einzelnen Teilen des Gedichts zu verzeichnen sind. Der Titel, gerade in seiner Doppelung von figurativer Namensgebung und eigentlicher Benennung, ist als ein Bestandteil des Paratextes, mithin als Teil der Kleidung, durch ein notwendiges Band an die Erzählung als den Körper des Gedichts gebunden und unterhält ein besonders intimes Verhältnis zur Seele der Erzählung, dem moralischen Lehrsatz. Zwar sollen sowohl das Titelkupfer als auch die Erzählung als solche schon ,für sich sprechen' können, aber es scheint gleichwohl unerläßlich zu sein, ihnen eine Explikation, als eine Art ,Anzeigung' oder Index, beizugeben. Diese ,Anzeigung' funktioniert in unterschiedlicher Weise, also etwa beim Doppeltitel als ,uneigentliche' (,Ludewig') und als ,eigentliche' (,eingebildeter Universalmonarch1) Bezeichnung des Lehrsatzes, auf den es ankommt. Diese Vervielfältigung des zentralen Anliegens des literarischen Textes in unterschiedliche, aber einander entsprechende und aufeinander bezogene Versionen entfaltet gewissermaßen die poetologische Metapher der Einkleidung, wie sie in der frühen Neuzeit im (wie auch immer eigenwilligen) Anschluß an Aristoteles formuliert wird. Fungiert dieser Begriff ur-
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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst l , S. 219. Gottsched: Versuch einer CriHschen Dichtkunst 1, S. 220.
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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sprünglich schlicht als Übersetzung für elocutio,67 so wird er in der Poetik nun in einen engen Bezug zur Aristotelischen Bestimmung der Dichtkunst als einer Mischform von unmittelbar auf das Allgemeine bezogener (philosophischer) und ausschließlich auf das Besondere gerichteter (historiographischer) Darstellung gesetzt.68 Was Gottsched als Verhältnis von Körper und Seele beschreibt, wird so oft als Verhältnis von Körper und Gewand gefaßt. So heißt es beispielsweise bei le Bossu: „Aristoteles sagt: Die Fabel ist eine Vermischung der Sachen [...]. In der That bestehet sie aus zwey wesentlichen Stücken. Das erste ist die Wahrheit, so zum Grunde lieget; das andere ist die Erdichtung, welche diese Wahrheit in gewisse Bilder einkleidet, und ihr dadurch die Gestalt einer Fabel giebt." 69 Es handelt sich um ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit: Ebenso wie die Seele des poetischen Textes eines Körpers bedarf, kann laut le Bossu die Wahrheit offenbar nur eingekleidet erscheinen. Sie ist auf das ihr anhängende uneigentliche Gewebe angewiesen. Doch auch wenn dieses enge Wechsel- und Entsprechungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Elementen des literarischen Textes grundsätzlich in der aristotelischen Tradition angelegt sein mag, erfährt es bei Gottsched eine charakteristische Ausprägung. Entscheidend ist hierfür Gottscheds Stellung zwischen rhetorischer Tradition und einem rationalistischen Anspruch.70 Das ist bereits angeklungen im Vergleich mit 67
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Dies geht zurück auf Ciceros Anmerkung, man müsse die Rede „vestire atque ornare" (Marcus Tullius Cicero: De Oratore / Über den Redner. 'Lateinisch/Deutsch. Übers, u. hg. v. Harald Merklin. Stuttgart 2003, S. 120, 1.142). In einer ausführlicheren Rekonstruktion der poetologischen Metapher der Einkleidung müßte die mittelalterliche Hermeneutik, die sich durchgängig als eine Theorie des Ent- und Verhüllens (göttlicher) Wahrheit beschreiben läßt, stärker berücksichtigt werden (siehe hierzu ebenso umfassend wie präzise Henning Brinkmann: Die mittelalterliche Hermeneutik. Tübingen 1980, S. 154—276). Mir geht es hier nur um die (früh-)neuzeitliche Aristoteles-Rezeption. Aristoteles: Poetik, S. 36. Le Bossu fahrt fort: „Die Wahrheit liegt verborgen. Dieses ist der Lehrpunct, den der Dichter beybringen will. Die Römer bedienten sich so gar dieses Ausdrucks: Fabeln oder Trauerspiele lehren [...]; an statt zu sagen: sie vorstellen oder spielen. Die Erdichtung ist die Handlung, oder die Reden darunter man die Lehre versteckt." (Rene Le Bossu: Herrn Paters Kenatur le Bossu Abhandlung vom Heldengedicht. Nach der neuesten französischen Ausgabe übersetzt und mit einigen critischen Anmerkungen begleitet von D. Johann Heinrich Z***, Nebst einer Vorrede Hrn. Georg Friedrich Meiers. Halle 1753 [1675], S. 26). Des weiteren heißt es: „Ich habe kurz vorher gesagt, daß man die Sentenzen einkleiden und verbergen müsse; itzo will ich nun aus einigen Beyspielen, aus dem Virgil zeigen, wie er diese Einkleidungen gemacht hat. Diejenige Methode, welche sich fast überall anbringen läßt, ist diese, daß man die moralische Anweisung nicht auf eine allgemeine Art ausdrücke, sondern daß man dieselbe auf die Handlung richte, von welcher die Rede ist." (S. 448.) Der Darstellung von Campe läßt sich entnehmen, daß sowohl Gottsched als auch seine Kontrahenten Bodmer und Breitinger insofern in eine ambivalente Lage gerieten, als einerseits ihre Rhetorikkritik im Namen der rationalistischen Philosophie die Trennung von Wissenschaft und Literatur in ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit beförderte, andererseits
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
Harsdörffers Poetik des literarischen Textes als Emblem: Für Gottsched muß die Fabel als Entsprechung der pictura für sich sprechen können. Das bedeutet nichts anderes, als daß sie eindeutig in die Form eines Hauptsatzes' übersetzbar sein soll. Ein solcher einzelner Satz muß für Gottsched nicht nur jedem poetischen Text zugrundeliegen, sondern auch jeder Rede, wie er dies in seiner „Ausführlichen Redekunst" ausführlich darlegt.71 Daß er mit dieser Forderung über die antike Rhetorik hinausgeht, ist dabei durchaus Programm - will er sie doch auf der Grundlage der Vernunft legitimieren. „Es ist ein Wunder," schreibt Gottsched, daß die Alten unter der Anzahl der Dinge, die man erfinden will, nicht auch die Hauptsätze der Reden gerechnet haben. Denn das dörfte manchem leicht das allernöthigste, und das allerschwerste zu seyn bedünken, wenn er eine Rede machen soll; wovon, oder was er eigentlich reden solle?72
Was die Redner der Antike - so Gottscheds sogleich folgende Erklärung des ,Wunders' - noch gleichsam instinktiv erfaßt haben, wird für ihn zum zentralen Punkt seines Interesses an Rhetorik und Poetik. Immer geht es ihm um die figurative Darstellung eines Satzes, der aus Gründen der Vernunft hergeleitet werden kann, wobei er den Anspruch erhebt, auch ermessen zu können, wann diese Figuration selbst den Regeln der Vernunft entspricht. Dieser doppelte Anspruch ist deswegen entscheidend, weil dank aber die kritische Wissenschaft weiterhin Anleitung der Dichtung sein wollte: Die „Entscheidung für die Rhetorik/Poetik-Kritik", die beide Parteien träfen, habe in beiden Fällen eine gewisse „Naivität der Dichtungsreform" (Campe: Affekt und Ausdruck, S. 6) zur Folge. Der hier anklingenden Frage nach dem ,Ende der Rhetorik' im 18. Jahrhundert hat Till jüngst eine umfassende Studie gewidmet (Dietmar Till: Tranfformationen der Rhetorik. Untersuchungen fum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004). Zur Stellung der Gottschedischen Poetik zwischen rhetorischer Tradition und ,neuer Wissenschaft' siehe auch die folgenden älteren Studien, auf die ich im folgenden und in III .4 teils zurückkomme: Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670-1740. Bad Homburg v.d.H. - Berlin - Zürich 1970, Karl Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1975, Angelika Wetterer: Publikumsbe^ug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch ^wischen rhetorischem Ansät£ und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweibern. Tübingen 1981, Peter Borjans-Heuser: bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie. Strukturmerkmale der poietischen Rationalität im Werk von Johann Christoph Gottsched. Frankfurt/M. — Bern 1981, Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Eeibni^ W o l f f , Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten). München 1982, sowie Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie imfrühen 18. Jahrhundert. Studien Gottsched, Breitingerund G. Fr. Meier. München 1983. 71
„Indessen ist doch gewiß, daß, in allen diesen Gattungen der Reden, die allgemeinen Regeln der Redekunst einerley sind. Man hat allenthalben einen Hauptsatz vor sich, davon man die Zuhörer überzeugen will; es mag nun derselbe sein, von welcher Art er wolle" (Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Theil (= Ausgewählte Werke, Bd. 7.1). Berlin - New York 1975, S. 124). 72 Gottsched: Ausführliche Redekunst I, S. 124. - Zu Gottscheds „Ausführlicher Redekunst" und insbesondere zu diesem Punkt vgl. Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert, S. 28-31.
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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seiner dem poetischen Text eine Allgemeinheit zugesprochen werden kann, die ihn zum Medium der Aufklärung geeignet macht. Das Postulat einer Allgemeinheitsfähigkeit der poetischen Rede manifestiert sich insbesondere darin, daß Gottsched es ablehnt, die Zueignung an einen Mäzen zum notwendigen Bestandteil des Heldengedichts zu machen. Er stellt an den poetischen Text den Anspruch einer gewissen Abstraktion, die ihn aus konkreten situativen Gefügen herauslösen soll. Dies geht einher mit der für ihn charakteristischen Wendung gegen .barocken' Schwulst. Um so interessanter ist es, daß Gottsched demgegenüber den Musenanruf für unerläßlich hält. Der Musenanruf wird verteidigt im Hinblick auf eine Struktur, die nur innerhalb der Fiktion überhaupt relevant werden kann: Nun folgt endlich die Anrufung der Musen. [...] Dem sey nun, wie ihm wolle, die Anrufung muß nicht vergessen werden: wenn in einem solchen Gedichte Dinge vorkommen, die der Dichter wahrscheinlicher Weise, ohne die Eingebung einer Gottheit, nicht wissen könnte. Er setzt sich auch dergestalt durch seine Gottesfurcht bey seinem Leser in ein gutes Ansehen; ja er bringt ihn in eine Verwunderung, und macht ihn begierig, dergleichen hohe Sachen zu vernehmen. 73
Die Musen werden nicht angerufen, weil der Dichter der Inspiration bedürfte, sondern einerseits um der Adressaten willen, andererseits aufgrund eines fiktiven Begründungszusammenhangs - zur Steigerung der Wahrscheinlichkeit, und das heißt: Allgemeinheitsfahigkeit der Dichtung.74 Der Dichter lebt zwar in einer bestimmten Zeit und in bestimmten Umständen und muß deshalb ,Ludewig XIV.' zum Gegenstand einer epischen Fabel machen; diese Umstände haben aber nur einen beschränkten Einfluß auf die Produktion und die Gestaltung der Fabel - eine Dedikation, die sich ja nur aus den persönlichen Verhältnissen des Verfassers herleitete, ist ausgeschlossen. Der Dichter hat nicht als Individuum teil an seinem Gedicht, sondern nur, insofern er von der Kanzel des Aufklärers aus spricht: Gottsched räumt ihm einen privilegierten Platz ein, von dem aus er seine Rede in Absehung von seinen privaten Interessen an die Öffentlichkeit adressiert - die dann allerdings wiederum in ihrer historischen Besonderheit angesprochen werden muß.75 Die situative Einbindung der Adressaten der
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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst II, S. 301. Dieser zweite Begründungszusammenhang ist entscheidend. Beispielsweise ist im Drama ein Musenanruf nicht angemessen, weil hier ein „Poet gar nicht zum Vorschein kömmt", dessen Wissen begründet werden müßte (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 230). Ähnliche Argumentationen finden sich daran anschließend auch zu anderen Gattungen. Zur immer notwendigen Anpassung an die historischen Rahmenbedingungen und der darin liegenden „geschichtsphilosophischen Argumentation" siehe Frick: Providen£ und Kontingent S. 233 f. Siehe auch Kapitel III.
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II. Hors d'oeuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
poetischen Rede muß ebenso berücksichtigt werden wie die Möglichkeit ihrer Verallgemeinerung. In seinem Umgang mit Dedikation und Musenanruf greift Gottsched in einer sehr charakteristischen Weise auf zwei traditionelle Adressierungskonzepte der Poetik bzw. Rhetorik zurück, die das Verhältnis zwischen situativer Spezifik und Allgemeinheit der Rede je unterschiedlich modellieren: die invocatio, der der Musenanruf zuzuordnen ist, und die Adressierungsverfahren, die im prooemium oder exordium zum Tragen kommen. Die invocatio76 wird in der Nachfolge des Aristoteles77 der dichterischen Vorrede zugeordnet. Das prooemium im allgemeinen findet sich bei Aristoteles diskutiert hinsichtlich aller Redegattungen, bei Cicero und Quintilian dann vor allem im Rahmen der Gerichtsrede. In letzterem Zusammenhang muß das prooemium im genauen Bezug auf die gegebene Situation betrachtet werden, also die causa einerseits und die Adressaten andererseits.78 Hinsichtlich des prooemium ergeben sich daher - anders als in der Poetik der invocatio, auf die gleich zurückzukommen ist - eine Reihe zweckfunktionaler Bestimmungen. Diese Bestimmungen finden sich sowohl in der Lehre von der dispositio als auch hinsichtlich der inventio. Erstere bestimmt das prooemium als denjenigen Redeteil, der (im Falle der Gerichtsrede) der narratio causae vorangeht - wobei sich in den entsprechenden Passagen bei Quintilian und Cicero bereits signifikante Wechselwirkungen artikulieren: Einerseits bedarf es aus pragmatischen Gründen des prooemium,79 das zudem durch ein notwendiges Band mit dem Kern der Sache verbunden sein muß, andererseits aber darf es nichts Entscheidendes 76 77
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Zur invocaüo siehe Th. Zinsmeyer: „Invocatio". In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Darmstadt 1998, S. 592-98, und Till: „Invocatio". Siehe die bereits zitierten Äußerung über das epische prooemium. Laut K. Schöpsdau: „Exordium". In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Darmstadt 1996, S. 136—40, gibt es bei Aristoteles eine Unterscheidung zwischen rhetorischem (prooemium) und poetischem Exordium (prologus). Siehe Schöpsdau: „Exordium". Nach Aristoteles ist ,,[d]ie wichtigste Funktion des Prooemions und sein eigentliches Wesen [...], darauf hinzuweisen, welches Ziel die Rede verfolgt" (Aristoteles: Rhetorik, S. 186). Entsprechend kann dieser Redeteil entfallen, falls das Ziel der Rede klar ist. Überdies bedürfte es seiner nicht, gäbe es nicht auch den Typus des „niveaulosen Zuhörer[s]", auf den auch wirke, „wenn er etwas hört, was nicht zum Thema gehört" (S. 187) — dann nämlich reiche die nüchterne Darlegung der Sachlage völlig aus (bei Quintilian ist bezeichnenderweise von der ,nackten' Darstellung die Rede; Marcus Fabius Quintiiianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bächer. Erster Teil. Buch I-VI. Ubers, u. hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1972, S. 415). Cicero argumentiert grundsätzlicher und geht davon aus, es gebe „nichts in aller Welt, das sich mit einem Mal völlig verausgabt und ganz aus sich herausgeht. So schuf bei allem, was geschieht, auch bei den heftigsten Betätigungen, die Natur selbst durch gelindere Anfange eine Vorbereitung." (Cicero: De Oratore, S. 411.)
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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vorwegnehmen, will es seinen Zweck erfüllen.80 Die im Rahmen der inventio insbesondere im Zusammenhang des genus tudicale entwickelte Exordialtopik stellt nun denjenigen Teil der Rhetorik dar, der am unmittelbarsten auf die rhetorische Grundsituation und damit auf Fragen der Adressierung bezogen ist. Im Sinne der Zielsetzung, den Zuhörer ,wohlwollend, gespannt und aufnahmebereit' zu machen, werden die Möglichkeiten der inventio hinsichtlich der Trias von Adressat, Adressant und Sache um so ausführlicher beschrieben, als der Beginn der Rede als richtungsweisend angesehen wird. Diese Topik tradiert sich in vielerlei Abwandlungen und Transformationen, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann,81 in der mittelalterlichen Homiletik und in der ars dictandfi2 bis hin zu den Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts.83 Entsprechend dem
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Laut Cicero muß der .gelindere Anfang' der Rede dennoch „aus dem eigentlichen Kern des Falles selbst" (Cicero: De Oratore, S. 411) entnommen werden: „Die Einleitung soll aber mit der Rede, die ihr folgt, so eng verbunden sein, daß sie [...] als ein Glied erscheint, das mit dem ganzen Leib zusammenhängt." (S. 413.) - Quinülian betont, daß zur Sache auch gehöre, „was zu dem gehört, der die Sache vertritt" (Quintiiianus: Institutionis oratoriae libri XII, Teil /, S. 411) und legt dar, daß nur die „wichtigsten Fragen" (S. 415) des Falls vorwegzunehmen seien — nicht ohne darauf hinzuweisen, daß dies problematisch bleibt, weil die Richter einerseits den Fall noch nicht kennen, ihn andererseits aber auch nicht bereits im prooemium in seiner Gänze kennenlernen sollen.
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Zwei Belegstellen aus dem Mittelalter, die Ehienzeller anfuhrt, mögen an dieser Stelle genügen: „Prooemium est initium dicendi. Sunt enim prooemia principia librorum, quae ante causae narrationem ad instruendas audientium aures coaptantur. Cuius nomen plerique latinitatis periti sine translatione posuerunt. Hoc autem vocabulum apud nos interpretatum praefatio nuncupatur, quaso praelocutio..." (Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originium libri XX, ed. W. M. Lindsey, Oxford u. a., S. 6, S. 8 f.; zit. n. Ehrenzeller: Studien %ur Romanvomde, S. 11). - „\P\rooemium praefacio est opens, prologus quedam ante sermonem prelocutio; sed inter prologum et titulum hoc interest, quod titulus auctorem et unde tractet breuiter innuit, prologus uero docilem facit et intentum et beniuolum reddit lectorem uel auditorem. est autem omnis prologus aut apollogeticus aut commendatiäus-, uel enim se excusat aut commendat. denique titulus libris omnibus, prologus uero comicis prosaicisque prefigitur libris et quid et quomodo uel quare scriptum vel legendum sit explicat." (Conrad de Hirsau: Dialogus super Auetores. Hg. v. R. B. C. Huygens. Brüssel 1955, S. 16 f., siehe auch Ehrenzeller: Studien ^ur Romanvorrede, S. 11).
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Zum mittelalterlichen prooemium siehe Henning Brinkmann: „Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau und Aussage". In: Wirkendes Wort 14, 1964, S. 1 - 2 1 . Hier ermöglicht nicht zuletzt die genaue Verzeichnung möglicher Adressaten und Adressanten sowie möglicher Redeanlässe die Erstellung einer Kombinatorik, die die briefliche Rede unter den Bedingungen einer hochkomplex differenzierten ständischen Gesellschaftsstruktur handhabbar bleiben läßt. (Ein gut zugängliches Beispiel ist Fabian Frangk: Ein Cant^ley und Titel buechlin. Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 1531. Hildesheim — New York 1979.) Dieses Verfahren wird sogar in den Bereich der Intimbeziehungen übertragen, wie einigermaßen kuriose Beispiele aus dem 17. Jahrhundert zeigen (Samuel von Butschkv: 1. U. C. Hochdeutsche VENUS=Kan%ele)i / Darinnen allerhand Schimpfe Emst= und Wahrhafte BRIFE in Libes Sachen. Schweidnitz 1655 [1644]). - Siehe zur Geschichte der Briefsteller Reinhard M. G. O'Doherty, Brian: Die Stilprin^pien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969, Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 76 ff., Bern-
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
Zwang zur genauesten Beachtung des aptum gerade gegenüber höhergestellten Adressaten ist hier insgesamt eine Tendenz zur Reduktion der vielfältigen Funktionalität der Vorrede auf die captatio benevolentiae zu beobachten.84 (In dieser Hinsicht ist Gottscheds Behandlung des Eingangs der Rede deutlich differenzierter.85) Bei Gottsched kommt es nun, wie der Ausschluß der Dedikation aus dem Heldengedichts zeigt, zu einer Differenzierung zwischen Rede und poetischem Text und damit zu einer Umdeutung der ursprünglich am Paradigma der Gerichtsrede entwickelten Regeln für das prooemium.86 In
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hard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur ab Epoche der Post. 1751 - 1913. Berlin 1993, S. 35 ff. So Schöpsdau: „Exordium". — Die antike Exordialtopik schreibt sich bis weit ins 18. Jahrhundert fort. Dazu seien einige Beispiele angeführt. Im Jahr 1724 schreibt Fabricius: „Die neigungen des auditoris, erlauben dem redner gar selten, seinen satz gleich anfangs zu proponieren dannenhero muß er sich vorhero bemühen, die Zuhörers gemüth zu präparieren, und solches geschieht im exordio. Es ist also nöthig, daß er darinn die argumenta conciliantia am stärksten anbringe, es von den general =concepten seines thematis, denen äusserüchen umständen, argumentis illustrandibus und probandibus, auch wohl patheticis hernehme, mit welchen die proposition so ungezwungen verbunden sey, daß sie aus demselben zu fliessen scheine." (Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie, Das ist: Vernünftige Anleitung %ur gelehrten und galanten Beredsamkeit (Faksimile-Nachdruck]. Kronberg Ts. 1974 [1724], S. 403 f.) Etwas anders formuliert Friedrich Andreas Hallbauer: Anleitung %ur Politischen Beredsamkeit. Faksimile-Druck der Ausgabe Jena 1736. Kronberg Ts. 1974, S. 77 ff. Noch bei Sulzer heißt es: „Der Eingang der Rede ist dasjenige, was der Redner gleich im Anfang der Rede zu Vorbereitung des Zuhörers und zu Erwekung der Aufmerksamkeit und eines geneigten Gehörs vorträgt. Es ist eine so natürliche Sache, der Rede einen Eingang vorzusetzen, daß auch diejenigen, welche niemal über die Beredsamkeit nachgedacht haben, einen Eingang machen, so ofte sie etwas vor Gerichte vortragen." (Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. In einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. I. Leipzig 1771, S. 300, siehe auch 300 ff.) Vgl. die Ausführungen in Gottsched: Ausführliche Redekunst 7, S. 141—47. Weniger konsequent scheint mir in dieser Hinsicht Gottscheds Widersacher Georg Friedrich Meier, in dessen „Anfangsgründen" die rhetorische Lehre vom exordium in die neue Wissenschaft der Ästhetik eingeht. In dem Abschnitt „Von der ästhetischen Methode" bestimmt Meier den „Eingang" als denjenigen „Theil einer aesthetischen Abhandlung, in welchem der Leser und Zuhörer vorbereitet wird, um die gehörige Aufmerksamkeit auf die Hauptvorstellung zu richten" (Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Nachdruck der Ausgabe Halle 1759. Bd. III. Hüdesheim - New York 1976 [1750], S. 304) - wobei der Autor „aus der Natur seiner Hauptvorstellung und aus den Umständen seiner Zuhörer und Leser" (S. 305) zu beurteilen habe, ob es zur Überleitung eines Eingangs bedürfe. Interessant an Meiers Ausführungen ist, daß sich im folgenden - ähnlich wie bei Gottsched - die Argumentation vermehrt von den ,Umständen der Zuhörer und Leser' abund der ,Natur der Hauptvorstellung' zuwendet. So betont Meier, der Eingang müsse mit der „Hauptvorstellung in einer sehr nahen, nothwendigen und natürlichen Verbindung" (S. 305) stehen, müsse sich zu ihr ,schicken' (S. 307). Entsprechend ergeben sich für Meier Abwägungsprobleme: Im Eingang kann sowohl die allzu große Abweichung bzw. digressio von der Hauptvorstellung als auch eine zu große Nähe kontraproduktiv sein. Der Eingang sei zwar ein Teil des Ganzen, dürfe aber nichts vorwegnehmen. In diesem Fall nämlich seien die einleitenden Worte „kein Eingang mehr, sondern ein Stück der Abhandlung der
2. Eine Poetik des Paratextes? Gottsched über Fabel, Emblem, Heldengedicht u. a.
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Ergänzung eines Quintilianschen Arguments, das die invocatio im poetischen Text als Strategie der captatio benevolentiae versteht und insofern die Poesie nach der Logik des prooemium vor allem in ihrer situativen Einbettung beschreibt,87 betont Gottsched in seinen Ausführungen zum Musenanruf zugleich die Situationsabstraktheit des poetischen Textes, zu der der Musenanruf als invocatio beiträgt. Damit knüpft er an eine ältere Linie der rhetorisch-poetologischen Tradition an, die sich für diesen Schritt in gewisser Weise immer schon angeboten hatte. Der invocatio ist es ja ursprünglich gerade eigentümlich, daß sich der poetische Redner aus der konkret gegebenen Situation heraus einer höheren Instanz zuwendet, die über diese situative Beschränktheit erhaben ist und gerade deshalb dem Gelingen der Rede bzw. der Erzählung Vorschub leisten kann.88 Trotz der Umdeutung, die Gottsched vornimmt, bleibt diese Funktion des Musenanrufs erhalten: Die invocatio erzeugt Gottsched zufolge eine Wahrscheinlichkeit der Fiktion, die den poetischen Text aus der jeweiligen Kommunikationssituation heraushebt und ihn mit allgemeinen Vernunftprinzipien vereinbar macht.89 Auch hier geht es um die Überschreitung der gegebenen kommunikativen Situation mittels einer Figur der Adressierung. Auf die Frage nach dem Stellenwert des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bei Gottsched und auf dessen Konflikte mit Bodmer und Breitinger wird in III.4 zurückzukommen sein. Zunächst aber gilt es zu resümieren: Bei Gottsched geht das Postulat, daß jede Fabel in eine ihr zugrundeliegende satzförmige Aussage übersetzbar sei, Hand in Hand mit der Forderung
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Hauptvorstellung und sie verrathen einen Kopf, welcher nicht erfindungsreich ist." (S. 308.) Siehe Schöpsdau: „Exordium", S. 139. Siehe Zinsmeyer: „Invocatio". Ehrenzellers Studie zur Romanvorrede beschreibt den Unterschied zwischen prooemium und invocatio mittels der Unterscheidung horizontal/vertikal: „Schematisch ließe sich die Invocatio etwa als vertikale Vorrede bezeichnen. Sie wird mit erhobenen Augen gesprochen und ist allein auf den Himmel ausgerichtet. Das Gegenstück dazu würde die horizontal bezogene Vorrede Jean Pauls bilden, die sich dem Leser-Du begeistert an den Hals wirft." Hingegen scheine die „vollkommene Ignorierung des Publikums im Vorspruch, aber auch im Text, [...] ein Merkmal der frühen Epik zu sein." (Ehrenzeller: Studien %ur Komarivorrede, S. 20.) Ehrenzeller geht davon aus, daß der eigentliche Ursprung der Romanvorrede keinesfalls das prooemium, sondern die invocatio sei: „Hier, wo der Dichter sich der Gottheit naht, liegt das irrationale Moment, das jedem dichterischen Vorspruch eignet, im Keime vorgebildet. Man könnte die Invocatio oder Anrufung als den sakralen Ursprung der Vorrede bezeichnen; ihr profanes Gegenstück wäre dann das Prooemium des antiken Redners." (S. 19.) An anderer Stelle heißt es: „Das Prooemium steuert, wie wir noch sehen werden, wichtige Gebärden bei, bleibt aber doch immer ein Kunstmittel des Rhetors. Nur in der Invocatio erscheint der von Zweifeln freilich immer gefährlicher angebohrte Glaube an den irrationalen Ursprung der Poesie." (S. 28.) Diese Argumentation irritiert insbesondere deshalb, weil Ehrenzeller im weiteren Verlauf die rhetorische Grundsituation zum Maßstab seiner Untersuchung macht und die „drei Dimensionen der Vorrede" (S. 35 ff.) aus der Redesituation ableitet: Sie betreffen Autor, Leser und Werk.
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
nach einer gewissen Situationsabstraktheit der Dichtung. Beide Postulate lassen sich auf ein rationalistisches, aufklärerisches Interesse zurückführen: Gedacht ist an eine Kommunikations situation, innerhalb derer unter Absehen von Partikularitäten insbesondere persönlicher Natur von der nach Prinzipien der Vernunft herzuleitenden Wahrheit die Rede sein kann.90 Grundlegend ist dabei für Gottsched (wie auch für die Schweizer) eine Asymmetrie: Es ist gerade die Unfähigkeit des Publikums, sich am aufgeklärten philosophischen Diskurs zu beteiligen, die die Einkleidung der zu vermittelnden Lehrsätze in die Fabel notwendig macht.91 Genau hier erfolgt also ein Übergang zu genuin rhetorischen Begründungsmustern: Die Forderung, daß der poetische Text situationsabstrakt zu sein habe, ist zu korrelieren mit der Forderung, man müsse diejenige Situation berücksichtigen, in der man die Mehrheit der Menschen anspreche. Trotz der Gottschedschen Wendung hin zu einem Allgemeinen, das sich in einem Rückbezug auf Grundprinzipien der Natur herleiten und situationsabstrakt vermitteln lassen soll, bleiben so rhetorische Kriterien im Spiel. Dabei wird zwar postuliert, daß man die Figurationen, mittels derer aus dem Lehrsatz die Fabel, inklusive ihrer (paratextuellen) Anhänge, produziert wird, auf der Grundlage von Kira^/^prinzipien bestimmen könne; das Konzept gewinnt seine Spannung aber daraus, daß dennoch ein Stückweit unklar bleibt, woher sich die Prinzipien tatsächlich rekrutieren, nach denen der poetische Text einzurichten ist: Sind sie aus den beiden ontologischen Grundprinzipien des Rationalismus in der Tradition Leibniz' und Wolffs, dem Satz vom zureichenden Grunde und dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch sowie einer wissenschaftlichempirischen Naturbeobachtung notwendig herleitbar? Oder legt der vielfältige Rückgriff auf rhetorische Begriffe und die Vervielfältigung der Figurationen, die die moralische Lehre in den einzelnen Paratextelementen erfahrt, nicht vielmehr nahe, daß sie einem rhetorischen Wissen entstammen? Auch auf diese Frage komme ich in Kapitel III.4 zurück. Hier läßt sich jedoch schon festhalten, daß Gottsched zumindest die der Rhetorik und der Poetik immer schon zugrundeliegende Annahme übernimmt, es bedürfe der Einkleidung, wenn man überzeugen wolle, während er zugleich den Geltungsbereicht der Vernunft auszuweiten versucht: Es soll mit rationalen Mitteln überprüft werden können, inwiefern die Figurationen der Kernaussage eines Textes in der Fabel und in den Paratexten ange90 91
Siehe die sehr treffende Beschreibung im ersten Kapitel von Jürgen Fohrmann: Schißbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der ,Kunstperiode'. München 1998, S. 13-26. Vgl. die pointierte Anmerkung von Stahl, bei Gottsched werde die Dichtung als „Philosophieersatz der bildungsschwachen Publikumsschicht" konzipiert (Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik, S. 107, siehe allgemein S. 107 ff.).
3. Paratextuelle Gestaltung literarischer Texte im 18. Jahrhundert und davor
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messen sind. Weil der Anspruch der Rationalität für die poetischen Texte in einem relativ strengen Sinn aufrechterhalten wird, weil also behauptet wird, die Vernunft könne auch unter denjenigen, die für sie zunächst wenig empfänglich scheinen, verlustfrei verbreitet werden, werden die oben rekonstruierten Entsprechungsverhältnisse zwischen den einzelnen Bestandteilen des poetischen Textes postuliert. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß nur die Befürchtung, dem unaufgeklärten Publikum die moralische Lehre in ihrer ,reinen' Form nicht vermitteln zu können, jenes Substitutionsspiel in Gang setzt, das das Verhältnis von Erzählung, Fabel, Lehrsatz, Titel und Vortrag bestimmt. Aus dieser Perspektive wird die zentrale Aussage des poetischen Textes in seinen unterschiedlichen Bestandteilen nicht schlicht verlustfrei vervielfältigt, sondern sie scheint sich in dieser Vervielfältigung erst zu entfalten.92 Auch wenn Gottsched mit Aristoteles davon ausgeht, daß der moralische Wert einer nachgeahmten menschlichen Handlung dieser Handlung immer schon inhärent ist,93 wird ja die eine moralische Aussage in den verschiedenen Teilen des Textes nicht schlicht als identische wiederholt. Insofern hat man es weniger mit einer verlustfreien Vervielfältigung dieser Lehre zu tun als vielmehr mit einer sorgfaltigen Ausbalancierung unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen - womit Gottscheds angeblich sich selbst erklärende Fabel wieder näher an das Emblem rückt, das der subscriptio bedarf, um verstanden zu werden. Dann wäre auch insgesamt die Einheit der Fabel, die ja in einer einzigen Prädikation bestehen soll, entgegen der bekundeten Meinung Gottscheds, nicht vorgegeben, sondern müßte sich in der zwischen den einzelnen Teilen des Gedichts sich entfaltenden Spannung erst konstituieren. Man möchte vermuten, daß die Schwierigkeit, die vielfaltige und in sich spannungsreiche Figuration der einen moralischen Lehre vom Standpunkt der Rhetorik betrachtet als notwendig und zugleich, nämlich vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet, als übeiflüssig ausweisen zu müssen, auch der Grund dafür ist, daß diese Figurationen teilweise in randständigen Partien des Systems behandelt werden.
3. Paratextuelle Gestaltung literarischer Texte im 18. Jahrhundert und davor Wenn Gottsched Elemente des Paratextes im Rückgriff auf Formen der Emblematik, auf rhetorische Konzepte wie die invocatio und auf Argumentationsfiguren der Epentheorie konzeptualisiert, so nimmt er dabei 92 93
Vgl. mit anderem Bezugspunkt Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, Siehe Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 156 f., S. 159, S. 196.
S. 130.
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
eine Überformung der komplexen pragmatischen Dimension der einzelnen Paratextelemente vor, wie sie die Rhetorik des prooemium entfaltet. Diese Überformung ist ein Effekt des Bestrebens, alle Elemente des poetischen Textes, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf seinen zentralen Gesichtspunkt, den der Fabel zugrundeliegenden moralischen Lehrsatz, zu beziehen und zugleich zu bestimmen, wann dieser Rückbezug auf die ,Seele' der Fabel im Sinne der Vernunft legitim ist. Entsprechend erhalten die einzelnen Elemente des Paratextes Funktion und Bedeutung, indem sie zur Entfaltung des zentralen Lehrsatzes beitragen, der allgemein vermittelbar sein muß. Zugleich aber leisten sie eine Anpassung an die konkrete kommunikative Gelegenheit - auf diesen Begriff wird zurückzukommen sein94 —, in die sich ein literarischer Text jeweils einzubetten hat: Man muß Ludwig XIV. als Bezugspunkt wählen, schreibt man in Deutschland im 18. Jahrhundert. Texte lassen sich so, Gottscheds Konzept zufolge, durch ihre Paratexte zugleich spezifisch und allgemein adressieren: Insofern sie sich an ein bestimmtes Publikum richten, entsprechen sie der Logik des prooemiunr, insofern sie sich in ihrer allgemeinen Aussage von dieser Situation lösen, appellieren sie zugleich an eine höhere Ordnung und entsprechen so der Logik der invocatio, die ja ebenfalls eine Abwendung von der konkreten Redesituation vollzieht und höhere Instanzen anspricht. Die Verschränkung dieser beiden Adressierungskonzepte im Namen der Vernunft ist mitsamt den ihr innewohnenden Spannungen und Unklarheiten kennzeichnend für Gottscheds Poetik insgesamt. Allerdings muß diese Adressierungsstruktur vor dem Hintergrund einer medienspezifischen Entwicklung gesehen werden, die für die Geschichte der Paratextualität insgesamt von entscheidender Bedeutung ist.95 Denn die rhetorischen Konzepte, an die sich die von Gottsched entworfene doppelte Adressierungsstruktur anlehnt, sind ja gerade nicht auf die Spezifik paratextueller Organisation ausgerichtet, die, wie in der Einführung herausgestellt, in der Aufoebung von textueller Linearität ihren besonderen Charakter entfaltet. Eine paratextuell markierte Vorrede ist etwas anderes als der Eingang einer Rede, weil sie sich zwar in einen linearen Verlauf eingliedern kann, dabei aber immer die Möglichkeit einer anderen Einordnung signalisiert: Weil man sofort sieht, wo das Vorwort aufhört, kann man es überspringen oder später lesen. Es wurde bereits ausgeführt, daß diese neue, spezifisch textuelle Organisationsform, die für Paratextualität konstitutiv ist, sich erst mit der Entstehung des ,Schriftbilds der Moderne' (Illich) um 1200 durchsetzte, und daß mit ihr auch eine umfassende Neuordnung des Wissens und des Weltverständnisses einherging. 94 95
Siehe Kapitel III. Vgl. die Vermutung Genettes zur Geschichte der Paratextualität (Genette: S. 20f.).
Paratexte,
3. Paratextuelle Gestaltung literarischer Texte im 18. Jahrhundert und davor
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Die Verfestigung der Grenze zwischen dem Text und dem Rand des Textes, zwischen Haupttext und Marginalien, Text und ,Interlinearem' beförderte die Ausdifferenzierung von Paratexten. Der Buchdruck konnte diese Verfestigung forcieren, indem er dem Text die der Handschriftenkultur eigene mouvance96 nahm. Die neue Ordnung der Buchseite, die Mich und andere beschreiben, wird durch die Durchsetzung des Buchdrucks nicht mehr prinzipiell verändert.97 Allerdings ergeben sich mit dem Buchdruck und vor allem mit der Entstehung des Buchmarkts neue Anforderungen, denen man gerade mittels der bereits vorher entwickelten paratextuellen Differenzierungen des Schriftbilds entsprechen kann. Einerseits befördern die technischen Notwendigkeiten eine Normierung der typographischen Dispositive,98 die wiederum wirtschaftlichen Erfordernissen entgegenkommen, indem sie eine schnelle und einfache Vergleichbarkeit der Waren garantieren. Andererseits bringt die Ausweitung der Distribution eine Diversifizie-
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Diesen Begriff prägt Paul Zumthor: Essai de poehque medievale. Paris 1972, S. 65 ff. Zumthor spricht auch von einer „mobilite essentielle du texte medieval" (S. 71), die sich aus den Varianten ergebe, in denen ein handschriftlich überlieferter Text zwangsläufig existiere. Siehe auch Joachim Bumke: „Der unfeste Text. Überlegungen zur Uberlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert". In: Jan-Dirk Müller (Hg.): ^Aufführung' und ,Schrift' in Mittelalter und Früher Neuheit. Stuttgart 1996, S. 118-29. Auch in der Frühzeit des Drucks bleibt den Texten diese ,Beweglichkeit' ein Stückweit erhalten. Hierzu siehe ausfuhrlich McKitterick, der von einer „innate instability of printed texts" spricht (David McKitterick: Print, Manuscript and the Search for Order, 1450-1830. Cambridge 2003, S. 97). Nicht nur interferieren Druck- und Handschrift, beispielsweise wenn im Prozeß der Buchproduktion handschriftliche Korrekturen und Ergänzungen im gedruckten Text angebracht (S. 22 ff.) oder Handschriften und Drucke zusammengebunden werden (S. 50 ff.). Vielmehr unterschieden sich lange Zeit sogar Texte ein- und derselben Auflage voneinander (S. 97 ff.). Von solchen ,Preßvarianten' unterscheidet die Editionsphilologie die bis ins 19. Jahrhundert hinein üblichen ,Doppeldrucke' (Klaus Kanzog: Einführung in die Editionspbilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 72-76).
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Auch Parkes: Pause and Effect, S. 50 ff., geht davon aus, daß der Buchdruck in erster Linie eine stabüsierende bzw. normierende Wirkung auf das Schriftbild (und insbesondere die Interpunktionsregeln) gehabt hat. Siehe auch Bunia: Faltungen, S. 288 f. Im Bezug auf die Typographie hat Chartier diesen Begriff eingeführt (Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuheit. Frankfurt/M. - New York — Paris 1990, S. 12 ff.), systematisch wird er von Wehde gefaßt, die Dispositive definiert als „makrotypographische Kompositionsschemata, die als syntagmatische gestalthafte .Superzeichen' jeweils Textsorten konnotieren. [...] Typographische Disposidve sind einzeltextunabhängige Muster der Textgliederung." (Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine £eichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie %ur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000, S. 119.) Beispiele für solche Dispositive sind „das typographische Dispositiv Zeitung" (S. 122) oder der „Dramensatz" (S. 120). Wehde stellt ausdrücklich einen Bezug zum Paratextuellen her: „Typographische Dispositive fungieren als Para-Text, insofern sie Eigenschaften des Textes unkommentieren'." (S. 125.)
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigut
rung der Situationen mit sich, in denen ein Text rezipiert werden kann." Dies fordert die Pragmatik der Exordialtopik heraus. Denn sicherzustellen, daß der Adressat attentus, benevolens und docilis ist, wenn er die Rezeption beginnt, ist schwieriger, je weniger Rezeptionssituation und Rezeptionsverfahren bereits festgelegt sind. In einer Rede, aber auch bei den Lektüreverfahren des Mittelalters,100 sind hier stärkere Konditionierungen wirksam. Die geringere Konditionierung der Rezeption eröffnet zugleich Freiräume für neue Verfahren, zur Rezeption anzuregen. Zu Zwecken der Werbung ist es von entscheidendem Vorteil, daß qua Paratextualität einzelne Zeichensequenzen aus dem einen linearen Zusammenhang des Textes herausgelöst und auf eine komplexere Art und Weise angeordnet werden konnten. Das Titelblatt kann als herausgelöstes, dem Text aber zugleich anhängendes Element in den Blick geraten, das über das Buch informiert und den Leser neugierig macht.101 Es gibt somit auf der 99
Chartier kommt für Frankreich in der Zeit zwischen 1660 und 1780 zu dem Ergebnis, die „Verbreitung des Buches in einem neuen Ausmaß" habe „möglicherweise widersprüchliche Folgen": „Einerseits ermöglicht sie, die neuen Disziplinen, sei es des Glaubens, der Zivilität oder der Techniken, einzuschärfen; andererseits gestattet sie einen besseren geistigen Austausch, der damit den aufgezwängten Wiederholungen eines engen Alltags durch die Erfassung der Information oder die Erschaffung der Fiktion entgehen kann." (Chartier: Lesewelten, S. 144.) Insgesamt ist also ein Wechselspiel zwischen der zunehmend gleichmäßigen „Verbreitung des Buches" und einer „verstärkte[n] Differenzierung in den Aneignungsformen des typographischen Materials" (S. 145) zu beobachten. Im einzelnen erweist sich die Geschichte des Lesens als äußerst komplex. Wie Chartier gezeigt hat, ist der Einfluß von Gedrucktem in der Zeit des französischen Anden Regime komplex zu beschreiben, weil einerseits einzelne gedruckte Texte durch unterschiedliche Formen des Vorlesens einen sehr weiten Kreis erreichen konnten (siehe S. 63 ff., S. 86 f., S. 127 ff.) und andererseits neben dem Buch eine Vielzahl weitere Formen gedruckten Materials (S. 69 ff.) auf unterschiedliche Art und Weise im Umlauf waren (siehe S. 111 ff.). Zu unterschiedlichen „Lesetechniken" in der frühen Neuzeit siehe auch Helmut Zedelmaier: „Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit". In: Η. Z., Martin Mulsow (Hgg.): Die Praktiken der Geiehrsamkeit in der Frühen Neuheit. Tübingen 2001, S. 11—30.
100 Auch hier sind allerdings Differenzierungen zu beachten - man denke etwa an die Unterscheidung zwischen monastischem und scholastischem Lesen, die ich in 1.2 beschrieben habe. Überdies wären Lektüreverfahren im höfischen Kontext zu berücksichtigen. 101 Zur Entwicklung des Titelblatts siehe Breyl: Pictura loquens - poesis tacens, Margaret M. Smith: Tie Title Page. Iis Early Development 1460-1510. London 2000, Dietrich Rolle: „Titel". In: Jan-Dirk Müller, Georg Braungart, Harald Fricke u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin - New York 2003, S. 642-45, McLaverty: „Questions of Entidement", Hellmut Rosenfeld: „Titel". In: Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr (Hgg.): Reallexikon der deutschen Uteraturgeschichte. Bd. 4. Berlin 1984, S. 439-54, Stein: Schriftkultur, S. 215 f., Helmut Presser: Das Buch vom Buch. Bremen 1962, S. 22, S. 33 f., S. 51, S. 88. - Obgleich Smith ihren (überaus plausiblen) Entwurf eines Verlaufsmodells für die Entwicklung der Titelseite nur sehr vorsichtig vorbringt, scheint sie sich doch sicher, daß der neuartigen Massenproduktion, die der Buchdruck ermöglichte, die entscheidende Rolle für die Entwicklung des Titelblattes zukam (Smith: The Title Page, S. 11-23). Diese nämlich machte einerseits die Kennzeichnung der Ware notwendig (das leistet schon der söge-
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Grundlage der vor dem Buchdruck durchgesetzten Neugestaltung der Buchseite die Möglichkeit, einzelne Paratextelemente auszudifferenzieren, die beispielsweise eine Werbungsfunktion übernehmen können. Diese Paratextelemente des gedruckten Buches lassen sich so in eine Logik des Marktes einbinden - sie machen potentiellen Lesern eine Offerte. Dabei ist — das deutete sich in der Einführung bereits an - davon auszugehen, daß sich andere Paratextelemente vor dem Hintergrund anderer Funktionalitäten ausbilden. Paratextualität aber hilft insgesamt, einer Situationsabstraktheit von Texten gerecht zu werden, die mit dem Buchdruck eine verstärkte Relevanz erhält. Diese historische Differenz wird durch die Kontinuität der rhetorischen Behandlung beispielsweise des prooemium und die Fortschreibung der entsprechenden Anleitungen in der (frühen) Neuzeit überdeckt — wie sich überhaupt auf der Ebene der theoretischen Beschreibung nur wenige Einsichten in die Neuigkeit des Paratextuellen finden.102 Allerdings sind prooemium und Vorrede auch nicht diejenigen Paratextelemente, die in besonderer Weise neuen Funktionsbestimmungen unterliegen. Klarer treten die Möglichkeiten (und vielleicht auch Notwendigkeiten) neuer Funktionsbestimmungen zutage, betrachtet man die Entwicklung von Paratextelementen, die erst nach der Durchsetzung des Buchdrucks ihre heute übliche Form erhalten, wie beispielsweise die Fußnote103 oder der nannte „label-tide"; siehe S. 59-74); andererseits konnte späterhin die voll entwickelte Titelseite der Werbung für das Buch dienen (siehe S. 91 ff.). Die Werbefunktion der Titelseite betonen auch Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1157 ff., und Rothe: Oer liierarische Titel, S. 143; S. 105 ff., S. 131 ff., S. 286 ff.; vgl. Hans Jürgen Wulff: „Zur Geschichte des Buchtitels". In: J. W.: Zur Textsemiotik des Titels. Mit einem beitrag von Ludger Kac^marek. Münster 1985 [1979], S. 129-56). 102 Siehe, wie bereits zitiert, Ehrenzeller: Studien %ur Romanvorrede, S. 14, und Rothe: Der literarische Titel\ S. 150. Wie ebenfalls bereits ausgeführt, trifft diese Behauptung auf die Fußnote wohl nicht zu. 103 An dieser Stelle darf eine ausgedehnte Fußnote über die Fußnote nicht fehlen, da diese ein genuin typographisches Textelement darstellt und erst im 18. Jahrhundert die Randglosse weitgehend ablöst — auch wenn Genette ein Stückweit bezweifelt, ob es sich überhaupt um ein Paratexfclement handelt und nicht vielmehr um eine Form der Digression (Genette: Paratexte, S. 313, vgl. Jacques Derrida: „This Is Not an Oral Footnote". In: Stephen A. Barney (Hg.): Annotations and Its Texts. New York - Oxford 1991, S. 192-205, hier S. 195). Dessen ungeachtet erlaubt die Geschichte der Anmerkung, die in meiner Arbeit beschriebene Entdeckung der Möglichkeit einer intrinsischen Motivierung von Rahmenelementen von einer anderen Warte aus nachzuzeichnen, nämlich aus der Perspektive der ,Gelehrsamkeit', deren „Graphem [...] schlechthin" die Fußnote laut Cahn darstellt (Michael Cahn: „Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie. Zum Beispiel die Fußnote". In: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hgg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung/ Spur. Berlin 1997, S. 91-109, S. 92). Die Ablösung der Randglosse durch die Fußnote ist nämlich keinesfalls nur pragmatischen Zwängen der typographischen Entwicklung geschuldet. Vielmehr war die Randglosse den Existenzbedingungen von Texten in einem metaphysisch geordneten Universum optimal angepaßt,
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Titel, insbesondere in seiner Einbindung in das Titelblatt. Zwar war es immer schon notwendig, Texte zu benennen und auch zu kennzeichnen — wofür sich seit der Antike ganz unterschiedliche Formen entwickelt ha-
geriet aber eben deshalb später in Bedrängnis. So schreibt Lipking: „So long as books kept their sacred ties to the Author of All, so long as the notion that the world was a book to be read by men retained its power, glossing could be regarded as a logical extension of the text: an unfolding of parallel, equally authoritative meanings into infinity." (Lawrence Lipking: „The Marginal Gloss. Notes and Asides on Poe, Valery, ,The Ancient Mariner', The Ordeal of the margin, Storiella as She Is Syung, Versions of Leonardo, and the Plight of Modern Criticism". In: Critical Inquiry 3, 1977, S. 609-55, S. 622.) Glossen dieser Art spielen an auf „einen gemeinsamen Horizont der klassischen Uberlieferung und seine abgekürzt zitierbaren Gemeinplätze" (Cahn: „Die Rhetorik der Wissenschaft", S. 101), sie verbinden den Text also mit extrinsischen Zusammenhängen der Welterschließung (zur Entwicklung im Hochmittelalter siehe Parkes: „The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio", S. 116ff., und Hamesse: „The Scholastic Model of Reading", S. 106 ff.). Einen Wendepunkt macht Lipking demgegenüber bei Pierre Bayle aus: In Bayles Wörterbuch etabliere sich eine Ebenentrennung zwischen eigenem Text und einem Fa/feetozkorpus, das sich der Auseinandersetzung mit einer oftmals korrumpierten Überlieferung widme und mithin dem Haupttext diene (Lipking: „The Marginal Gloss", S. 625 f.). (Diese Einschätzung teilt auch Graftons ausführliche Studie über den Gebrauch der Anmerkung in der Historiographie; siehe Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, S. 189-220; vgl. auch Eckstein: Fußnoten, S. 76-79.) Diese Wende aber hatte zur Voraussetzung, daß man nicht mehr vor einem geschlossenen Traditionszusammenhang her argumentierte, sondern Argumente und Hypothesen vorbrachte, die aufgrund ihrer intrinsischen Stimmigkeit überzeugen mußten - und in solche Motivationszusammenhänge werden die Fußnoten, die nunmehr keine Topoi, sondern bibliographische Angaben enthalten, bis heute eingebunden (Cahn: „Die Rhetorik der Wissenschaft", S. 101; vgl. auch Eckstein: Fußnoten, S. 22-47, die die Entstehung der modernen Naturwissenschaften als Hintergrund dieses Funktionswandels der Anmerkung ausmacht). Indes ging die Umstellung auf den neuzeitlichen Umgang mit gelehrten Anmerkungen keinesfalls reibungslos vonstatten. So ist am Beispiel von Editionen (insbesondere der Bibeledition) gezeigt worden, daß bereits die Randglosse des 17. Jahrhunderts Schauplatz massiver Spannungen war, die das Verhältnis zur Tradition der Autoritäten betrafen (Evelyn B. Tribble: Margins and Marginality. The printed page in early modern England. Charlottesville - London 1993). Diese Spannungen sezten sich beim Übergang zur Fußnote fort (siehe Evelyn B. Tribble: „,Like a Looking-Glas in the Frame': From the Marginal Note to the Footnote". In: David C. Greetham (Hg.): The Margin of the Text. Ann Arbor 1997, S. 229-44). Auch in den Gelehrtensatiren des 18. Jahrhunderts, die mit Vorliebe die Ironisierung der gelehrten Anmerkung betrieben, fand Vergleichbares statt (siehe hierzu Eckstein: Fußnoten, S. 104-13; ein besonders prägnantes Beispiel beschreibt Umberto Eco: „Para Peri Epi, e dintorni in un falso del XVIII seculo". In: Parateste. Rivista Internationale 1, 2004, S. 137-44). Zur Frage von Autorität und Marginalität sowie zum subversiven Potential von Anmerkungen vgl. auch die glänzenden Ausführungen über die marginalen Buchillustrationen des Hoch- und Spätmittelalter mit ihren „lascivious apes, autophagic dragons, pot-bellied heads, harp-playing asses, arse-kissing priests and somersaulting jongleurs" in Michael Camille: Image on the Edge. The Margins of Medieval Art. London 1992, S. 9 - 5 5 (Zitat S. 9), und Camille: „Glossing the Flesh"), ferner die Analyse von Glossen zum „Roman de la Rose" in Stephen G. Nichols: „On the Sociology of Medieval Manuscript Annotation". In: Stephen A. Barney (Hg.): Annotations and Its Texts. New York - Oxford 1991, S. 43-73, sowie die systematischen Überlegungen in Derrida: „This Is Not an Oral Footnote".
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ben. 1 0 4 Doch wird die Normierung eines festen Dispositivs für die Titelseite wahrscheinlicher, sobald sich der Buchdruck durchsetzt. Tendierte der Titel zuvor dazu, innerhalb des Textes zu wandern, so ist es im Buchdruck praktischer, sich ein und desselben Dispositivs immer wieder zu bedienen. So kommt die technische Entwicklung dem Bedürfnis nach neuartigen Vermarktungsmethoden, die gerade die Titelseite verwenden, entgegen. Für andere Paratextelemente ergeben sich - zumindest ad hoc ebenfalls neue Funktionen, die allerdings weniger ins Auge fallen als die neuen Funktionen der Titelseite. So könnte man für die Vorrede zeigt, wie sich eine neue Exordialtopik entwickelt, die sich beispielsweise an dem Problem abarbeitet, zugleich für das Buch werben und übermäßiges Selbstlob vermeiden zu müssen. 105 Sieht man genauer hin, so zeichnet sich eine hochkomplexe Entwicklung ab: Die Erfordernisse, die der Buchdruck an die Vermittlung von Texten stellt, und die Möglichkeiten, die die paratextuelle Differenzierung des Textes eröffnet, haben den Paratext zu jenem Ort der Überschneidung vielfältiger Pragmatiken und Funktionalitäten gemacht, als den Genette ihn beschreibt. Paratexte und Paratextualität erweisen sich als funktional in politisch-repräsentativer Hinsicht (man denke beispielsweise an höfische Anthologien), in wirtschaftlicher Hinsicht (ζ. B. Titel als Werbung), in wissenschaftlicher Hinsicht (Register, Index), schließlich auch in juristischer (Copyright/Urheberrecht) und bibliographischer Hinsicht.
104 Siehe hierzu insbesondere Egidius Schmalzriedt: Pen Physeos. Zur Frühgeschichte der Buchtitel. München 1970. Schmalzriedts akribische Untersuchung, die — grob gesagt — das griechische Schrifttum zwischen den Vorsokrarikern und Aristoteles abdeckt, macht schon in ihrem Verfahren deutlich, daß die Identifizierung einzelner Texte als wesentliche Funktion der frühen Buchtitel zu gelten hat: Weitgehend widmet sie sich der Art und Weise, wie Texte auf andere Text verweisen, und zieht daraus Rückschlüsse auf die Praxis der Titelgebung (vgl. zur Identifizierungsfunktion des Titels Rothe: Der literarische Titel.\ S. 34 ff.). Schmalzriedt beleuchtet insbesondere die Ursprünge der (bis ins Mittelalter bedeutenden) Praxis, einen Quasi-Titel in das indpit einzubinden (S. 32 ff.), und betont, daß erst die Entstehung von Bibliotheken und Buchhandel die Kennzeichnung auf der Außenseite der Buchrollen durch sog. σίλλυβοι funktional werden ließ (S. 53 ff., siehe hierzu auch Horst Blanck: Das Buch in der Antike. München 1992, S. 83, S. 85). - Eine paratextuell vom Haupttext abgesetzte, aber anders als die σίΛΑυβοι auf der Innenseite der Rolle befindliche Vorform des Buchtitels stellte das Kolophon dar, das nachmals auch im Kodex Verwendung fand (Smith: The Title Page, S. 2 5 - 3 4 , Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1154 f.) und auch im frühen Druck oftmals Funktionen der Titelblatts übernahm (Smith: The Title Page, S. 5 9 - 7 4 , Presser: Das Buch vom Buch, S. 51, Rothe: Der literarische Titel, S. 284.). 105 Siehe Ehrenzeller: Studien spr Romanvorrede, S. 15 ff. Ehrenzelllers Argument, das aus dieser Problematik herrührende „Mißtrauen der Autoren" (S. 14) untergrabe „allmählich die alte Konvention" (S. 17), ist aber sicherlich zu kurz gegriffen. - Vgl. die Beispiele von Voltaire, Condillac, La Bruyere und Locke, die Derrida: „Buch-Außerhalb", S. 53 f., Anm. 26 und 27, zitiert.
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Diese Überlagerung partikularer Einschreibungen und Adressierungen prägt jeden Paratext und er2eugt komplexe Interferenzen. Die meisten der vorliegenden und teilweise sehr materialreichen Arbeiten zu einzelnen Paratextelementen versuchen, die Komplexität ihres Gegenstandes in den Griff zu bekommen, indem sie auf der Grundlage eines Kommunikationsmodells wie desjenigen Bühlers oder auch Jakobsons verschiedene Funktionsbereiche des Paratextes unterscheiden. Wie bereits zitiert, geht so beispielsweise schon die Arbeit von Ehrenzeller zur Romanvorrede vor: Unterschieden werden hier „drei Dimensionen der Vorrede";106 sie betreffen Autor, Leser und Werk. Rothes einschlägige Studie zum Titel (1986), Böhms (1975) und Antonsens (1998) Arbeiten zum Motto und Schwitzgebeis Arbeit zur Vorrede (1996) verfahren ähnlich.107 Lediglich eine sehr instruktive kürzere Arbeit von Weinrich zum Titel literarischer und wissenschaftlicher Texte geht zwar von einer Differenzierung nach Bühlers bzw. Jakobsons Sprachfunktionen aus, verweist aber darauf, daß die wichtigsten Eigenarten von Titeln auf die Priorität ihrer „memorielk\n] Funktion" zurückzuführen seien.108 Die in diesen Untersuchungen aufgedeckte Komplexität paratextueller Verfahren ist beeindruckend. Zugleich scheint sie allerdings in der frühen Neuzeit dadurch ,aufgefangen' zu werden, daß die unterschiedlichen Funktionen der Paratexte gleichwohl als einer höheren Ordnung subsumiert vorgestellt werden: Sie gehen in ihrer jeweiligen pragmatischen Funktionalität nicht auf, sondern stehen in einem Bezug zur Ordnung der Dinge (so wie bei Gottsched alle Elemente des Textes auf den zentralen moralischen Lehrsatz 106 Ehrenzeller: Studien %ur Komanvorrede, S. 35 ff. 107 Rothe: Der literarische Titel·, Rudolf Böhm: Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts. München 1975; Jan Erik Antonsen: Text-Inseln. Studien ^um Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhundert. Würzburg 1998; Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachlicher Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwanken des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1996; siehe auch Brand: Der Text %um Bild, S. 46—52. 108 Weinrich: „Titel für Texte", hier S. 14. - Eine Arbeit von Simon nimmt einen ähnlichen Weg, auch wenn sie nicht von Paratextualität ausgeht, sondern von der poetischen Reflexion auf das Medium der Schrift: Beschrieben wird ein doppeltes re-entry der Sprachfunktionen. Die Priorität der poetischen Sprachfunktion erzeugt, so Simon, re-entries der anderen fünf Funktionen, die dabei jeweils poetisch gewendet werden. Ein erneutes re-entry der phatischen Funktion ermöglicht dann die durchgängig Reflexion des poetischen Textes auf seine medialen Bedingungen (Ralf Simon: „Das Universum des Schreibens in Kuhschnappel (Jean Paul, Siebenkäs - Roman Jakobson)". In: Martin Stingelin (Hg.): „Mir ekelt vor diesem hntenklecksenden Säkulum". Schreihs^enen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 140-55, S. 146 ff.; vgl. auch Ralf Simon: „Ein Blick von der strukturalistischen Literaturwissenschaft zurück auf die dekonstruktive". In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 44.3, 1997, S. 64-82). Simons These lautet, daß autonome Literatur um 1800 „alle möglichen re-entry-Kombinationen durchspielt und ihre Entpragmatisierung durch die Hereinnahme der phatischen Pragmatik ausführt" (Simon: „Das Universum des Schreibens", S. 149).
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bezogen sind, der seinerseits dieser Ordnung entspringt). Dies zeigen beispielsweise Volkmanns Arbeit zum Romantitel und vor allem Wieckenbergs Arbeit zur Kapitelüberschrift im Roman 109 sowie Breyls Arbeit zu den „Titelbildern und Rahmenkompositionen der erzählenden Literatur des 17. Jahrhunderts". 110 Die Paratexte stehen nicht nur im Zeichen einer (angesichts der Möglichkeiten und Erfordernisse des Buchdrucks erweiterten) Logik des prooemiums, wie die genannten Arbeiten in ihrer kommunikationstheoretischen Grundlegung überzeugend nachweisen, sondern auch im Zeichen einer Logik der invocatio. Im folgenden soll versucht werden, beide Gesichtspunkte mitzuführen. So wie es im Falle der Vorrede schon lange vor ihrer Ausdifferenzierung als Paratextelement in der Rhetorik eine Theorie und eine Praxis gegeben hat, auf die man sich zurückbeziehen kann, 111 können auch Paratextelemente wie das Motto und die Widmung auf eine längere Geschichte zurückblicken.112 Ich möchte daher zunächst auf den Titel zurückkommen, insofern er als ein Teil der Titelseite ein Ergebnis genuin typographischer (und nicht rhetorischer) Organisation ist. (Bezeichnenderweise ist der Titel darüber hinaus der nicht nur in der Forschung, sondern auch in zeitgenössischen kritischen Diskursen am häufigsten thematisierte Para-
109 Wieckenberg: Zur Geschichte der Kapitelüberschrift. Siehe auch, mit weiteren Literaturhinweisen, Martin Huber: „Kapitel". In: Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmüller u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin - New York 2000, S. 23233. Ausführlich zur Kapiteleinteilung narrativer Texte Philip Stevick: The Chapter in Fiction. Theories of Narrative Division. Syracuse 1970. Nach Stevicks Darstellung lassen sich die modernen Formen der Kapiteleinteilung aus den Modellen herleiten, die im Laufe der Jahrhunderte durch die Homerphilologie, die Bibelphilologie und die klassische Rhetorik entwickelt wurden (S. 162). Er betont ähnlich wie Wieckenberg, daß die Kapiteleinteilung „symbolic values" (S. 87, zusammenfassend S. 96) tragen kann und weist sie insbesondere als Formen zur Erschließung kosmischer Ordnung aus (S. 88 ff.). Systematisch unterschieden werden zwei Formen des Kapitelendes, die „cadence" (zusammenfassend S. 55) und das „open end" (zusammenfassend S. 73). 110 Breyl: Pictura loquens — poesis tacens. 111 Zur Geschichte der Vorrede siehe auch Burkhard Moennighoff: „Vorwort". In: Jan-Dirk Müller, Georg Braungart, Harald Fricke u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschafi. Bd. 3. Berlin - New York 2003, S. 809-12. 112 Zum Motto siehe Böhm: Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Krista Segermann: Das Motto in der Lyrik. Funktion und Form der „epigraphe " vor Gedichten der französischen Romantik sowie der nachromantischen Zeit. München 1977, Antonsen: Text-Inseln, Dietmar Peil: „Motto". In: Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmüller u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin - New York 2000, S. 646-48, sowie - im Zusammenhang mit dem Titel - Rothe: Der literarische Titel\ S. 349. Zur Widmung Chrisdan Wagenknecht: „Widmung". In: Jan-Dirk Müller, Georg Braungart, Harald Fricke u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin - New York 2003, S. 84245 (dort weitere Hinweise, vor allem auf zahlreiche Studien zur Widmungspraxis einzelner Autoren), sowie - ebenfalls im Zusammenhang mit dem Titel - Rothe: Der literarische Titel\ S. 366 ff.
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text.) Daß der Titel als eigenständiger, in das Dispositiv der Titelseite fest eingebundener Paratext (ebenso wie die Kapitelüberschrift) buchgeschichtlich gesehen ein recht junges Phänomen ist, habe ich bereits erwähnt. Ebenso ist bereits deutlich geworden, daß die Ausdifferenzierung der Titelseite einer Werbefunktion Vorschub leistete. Dies kann für den Romantitel genauer beschrieben werden. Der Romantitel ist im 16. Jahrhundert, nicht zuletzt angesichts seiner in erster Linie merkantilen Funktion, meist ein „Verleger-Titel".113 Schnell ergeben sich Differenzierungen, beispielsweise in Haupt- und Nebentitel, sowie Formen des erzählenden (argumentum) und des (emblematischen) Doppeltitels.114 „Anfänge literarischer Stilisierung des Titels", also Autorentitel, sieht Volkmann bei Jörg Wickram, dessen Titel gegenüber den „schabionisiert wirkenden Verlegertiteln" „deutlich individuellere Züge"115 trügen — wobei anhand des von Volkmann vorgestellten Materials im einzelnen zu überprüfen wäre, was beim Autorentitel eine solche individuelle' Stilisierung ausmacht.116 Dazu wären insbesondere traditionsprägende Romane genauer zu beleuchten, die auch hinsichtlich ihrer übrigen Paratextelemente große Aufmerksamkeit erfahren haben, wie beispielsweise die Texte von Grimmelshausen.117 Andererseits wäre zu berücksichtigen, daß — gewissermaßen gegenläufig zu einer solchen ,In-
113 Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1153. Im einzelnen können Volkmanns Ausführungen hier nicht rekonstruiert werden. Verwiesen sei angesichts der Tatsache, daß laut Volkmann schon die „Historia von D. Johann Fausten" von 1587 eine „Zusammenfassung und letzte Steigerung aller bisher bekannten Werbeelemente" (S. 1193) bietet, auf Margit Raders: „Der Titel in der Faust-Tradition. Konventionalität, Originalität und Intertextualität". In: Jochen Mecke, Susanne Heiler (Hgg.): Titel — Text — Kontext. Kandbe^rke des Textes. Festschriftfiir Arnold Rothe fum 65. Geburtstag. Berlin - Cambridge 2000, S. 73—106. 114 Siehe Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1163 ff., und Rothe: Der literarische Titel, S. 264 ff., S. 301 ff. Rothe geht davon aus, daß die zunehmende Strukturierung der Titel in Ober- und Untertitel bzw. Neben- und Haupttitel es ermögliche, ,,[m]aximale Information bei minimalem Wortaufwand" (S. 264) im Titel unterzubringen: „Der Untertitel absorbiert die vielfältigen und standardisierten Ergänzungsinformationen, insbesondere zu Gattung, Zielgruppe und Wirkintention." (S. 265.) In diesem Zusammenhang wird die syntaktische Verbindung der Titelsegmente zunehmend aufgegeben, spätestens seit etwa 1700 (S. 301 ff., 426 f.). 115 Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1197. 116 Volkmann betont, Wickrams Titel setzten ,,[s]tatt der Heldennamen [...] ein dichterisches, symbolhaftes Zeichen, das zugleich einen Hinweis auf die innere Ordnung des Werks gibt" (Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1198). Es wird sich zeigen, daß diese innere Ordnung in der Folgezeit ihrerseits paratextuell apostrophiert und mit der Ordnung der Welt enggefuhrt wird. 117 Zu Grimmelshausen gibt es umfassende Kapitel bei Ehrenzeller: Studien %ur Rümanvorrede, S. 40-80, S. 90-106, bei Wieckenberg: Zur Geschichte der Kapitelüberschrift, S. 131-82, und auch bei Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1269 ff.
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dividualisierung' - die Form der Titelgebung zunehmend zur Gattungskennzeichnung dienen kann.118 Die Leistung des Titelblattes, und hier insbesondere die der schnell üblich werdenden Langtitel, besteht zunächst gerade in der Wiedergabe des Inhalts, so daß die Titelseite auch losgelöst vom Buch ihre Werbefunktion erfüllen kann. In diesem Sinne übernimmt sie Funktionen, die vorher innerhalb des Werkes durch perorationes, Rubriken und lemmata übernommen worden sind. In der Studie von Wieckenberg über die Geschichte der Kapitelüberschrift im Roman ist nachzulesen, wie komplex die Ausdifferenzierung dieses Paratextelements verlaufen ist. In der Handschriftenkultur konnten Rubrizierungen und Inhaltsverzeichnisse dadurch entstehen, daß die nach Maßgabe rhetorischer Regeln im Text anzubringenden perorationes und zusammenfassenden Uberleitungen zur besseren Orientierung vom Text abgehoben und in Inhaltsverzeichnissen zusammengefügt wurden. Umgekehrt war es immer möglich, daß solche Rubrizierungen beim abermaligen Abschreiben ihren privilegierten Platz wieder verloren oder schlicht verrutschten.119 Mit den Bildbeschriftungen verweist Wieckenberg auf eine zweite Vorform der Kapitelüberschrift.120 In den Illustrationen und in ihren Beschriftungen vervielfältigte sich die narratio, so beispielsweise im „Fortunatus", dessen Register mit den folgenden Worten eingeleitet wird: „In disem nachvolgenden Register / werden angezaigt die materien So begriffen seynd in disem büchlin / welche materien auch bedeüt und fürgehalten werden durch die figuren darbey gedruckt."121 Dies ist eine Konstellation, die der im vorangehenden Abschnitt rekonstruierten emblematischen Struktur frühneuzeitlicher Paratextualität gewissermaßen zuarbeitet. Die Emblematik, die dergestalt die paratextuelle Struktur der Texte überformt, ist dabei nicht zuletzt als ein Verfahren anzusehen, das eine geschlossene Weltordnung gegenüber einem (nicht zuletzt dank des Buchdrucks gewonnenen) neuen Wissen verteidigt bzw. dieses Wissen in diese Ordnung einfügt.122
118 Siehe hierzu Rothe: Oer literarische Titel.\ S. 204 ff. 119 Wieckenberg: Zur Geschichte der Kapitelüberschrift, S. 27 ff. 120 Wieckenberg: Zur Geschichte der Kapitelüberschrift, S. 33 ff. Auf die Möglichkeit der Umfunkrionalisierung von Bildbeschriftungen verweist auch Volkmann: „Der deutsche Romanritel", S. 1161. 121 Anonymus: Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps von 1509. Hg. v. Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1996, S. 196. 122 Vgl. Schöne: Emblematik und Drama, S. 47: „Diesem Beschauer der emblematischen Bilder und Leser ihrer Epigramme aber setzt sich das Chaos des Seienden in ein Mosaik von Sinnfiguren um; ihm zeigt sich ein von Bedeutungszusammenhängen durchwirktes Universum, in dem das Vereinzelte bezogen, die Wirklichkeit sinnvoll, der Lauf der Welt begreifbar erscheint und das in Analogien geordnete Sein zum Regulativ des menschlichen Verhaltens werden kann."
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In all diesen Zusammenhängen zeigt sich sehr deutlich, daß im Frühdruck eine neuartige Uberlagerung unterschiedlicher Pragmatiken einsetzt: So bezeugt die Institution des ,Verlegertitels', daß die paratextuelle Präsentation eines Buchs unterschiedlichen Interessenlagen des Autors, des Verlegers und eventueller anderer Interessierter entspringen kann. Die Positionierung von Zwischenüberschriften ist oft mehr drucktechnischen als inhaltlichen Erwägungen geschuldet. 123 Auch hier wäre das Beispiel des „Fortunatas" anzubringen, aber auch noch dasjenige späterer Buchproduktionen wie der berühmten „Historia von D.Johann Fausten". 124 Ist es vor allem in Titeln zu Schelmenromanen des 17. Jahrhunderts üblich, die jeweiligen „Abenteuer in allen Variationen" 125 anzukündigen, ist hier also eine strenge Bezogenheit auf die in den Texten erzählten Geschichten zu beobachten, so läßt sich, wie die umfassende Untersuchung von Schwitzgebel über Vorreden zu Sammlungen von literarischen Kleinformen und von Schwankromanen des 16. Jahrhunderts herausstellt, bei Sammelwerken die Etablierung einer Praxis beobachten, die die Paratexte vom Bezug auf die jeweiligen Haupttexte mehr und mehr löst. 126 Eher geht es diesen Vorreden darum, die Texte, die sie einleiten, durch Einordnung in die Gattungstradition und durch Betonung beispielsweise ihres moralischen und didaktischen Wertes zu legitimieren. 127 Zugleich können dabei spezifische Topoi der Vorredentradition bedient werden: Vorreden sind (was bereits die antike Rhetorik als ein Zeichen von Gewöhnlichkeit ansieht 128 ) oft austauschbar und werden in Neuauflagen ersetzt. 129 In der Kompilationsliteratur ist dabei insbesondere die Legitimation der Herausgabe eine wichtige Funktion. Dabei setzt man „sich weniger mit dem konkret vorliegenden Werk als mit der Textsorte und dem kompilierenden
123 Wieckenberg: Zur Geschichte der Kapitelüberschrift, S. 51 ff. 124 Anonymus: Historia von D. Johann Fausten. Text des Drucks von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Xusat^texten der Wolfenbüttekr Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hg. v. Stephan Füssel, Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 1996. 125 Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1265. 126 Zu den Titeln von Schwankromanen und Schwankromansammlungen siehe auch Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1211 ff. 127 Siehe auch Anne Simon: „Publisher's prefaces - the sixteenth-century Reader's Digest?". In: German Life and Utters 49, 1996, S. 387-404. 128 „Ein Prooemium, das mehreren Reden angepaßt werden kann, heißt gewöhnlich [vulgare]. Es ist an sich weniger eindrucksvoll, läßt sich jedoch gelegentlich ganz nützlich verwenden" (Quintiiianus: Institutionis oratoriae libriXll, Teil 1, S. 433). 129 So argumentiert Schwitzgebel: „Die Übernahme ,alter' Vorreden für ,neue' Werke ist deshalb möglich, weil in den Vorreden der Kompilationsliteratur die werkspezifischen Inhalte in den Hintergrund getreten sind. Die Vorrede ist ein in sich geschlossener Text, der zwar in Zusammenhang mit dem Werk steht, aber nicht ausschließlich an dieses gebunden ist." (Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 192.)
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Charakter auseinander." 130 Vorreden sind daher weniger im Kontext des Textes, den sie begleiten, sondern vielmehr „im Kontext anderer Vorreden derselben Gattung" 131 zu sehen, so wie die Titel im Kontext anderer Titel derselben Gattung: „Von diesen her hat sich ein Erwartungshorizont konstituiert, den die Autoren in der Regel zu erfüllen bestrebt sind", 132 und sei es um den Preis, sich angesichts des eigenen Werks in Widersprüche zu verwickeln. Insbesondere geht es um allgemeine literaturtheoretische Fragen, beispielsweise um die Frage nach der Legitimation der Unterhaltungsliteratur durch die Betonung ihrer didaktischen oder dietätischen Funktion. 133 Ähnlich wie die Widmungsvorrede im Humanismus, von der Schottenloher behauptet, sie sei „dem Ornament oder Bildschmuck eines Buches vergleichbar, der dessen Text selbstlos veranschaulichen oder zieren soll, dabei sich aber völlig eigenwillig und selbstherrlich gebärdet", 134 ähnlich wie später die Paratexte höfischer Anthologien (Ehrenzeller spricht hier von der „barocken Buchfassade" 135 ) und ähnlich wie die Titel höfischer Literatur, innerhalb derer angesichts eines „kulturhistorischen Absinkprozesses, der immer neue Superlative für die oberen Stände nötig machte", 136 eine Steigerung der Attribute für die titelgebenden Helden zu beobachten ist, zeigt das von Schwitzgebel untersuchte Material, daß die paratextuelle Ordnung im Laufe der literarischen Evolution eine Eigendynamik gewinnt, die in nur mehr recht loser Koppelung zu den Entwicklungen auf dem Gebiet der Texte steht. Nicht von ungefähr findet sich, so Volkmann, bereits bei Fischart und im Anschluß an Rabelais die Tradition der fiktiven Titelsammlung, die dergleichen Phänomene aufnimmt und in satirischer Absicht vorführt. 137 Und nicht umsonst entwickeln sich spätestens mit dem galanten Roman um 1700 regelrechte ,Titelmoden'. 138 130 131 132 133
134 135 136 137 138
Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 192. Schwitzgebel: Νοώ nicht genug der Vorrede, S. 192. Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 192. Schwitzgebel resümiert: „Übereinstimmend kann für alle Sammelwerke festgestellt werden, daß eine konkrete Vorstellung des Inhalts gegenüber allgemeinen Betrachtungen weitgehend zurücktritt. Das führt dazu, daß die Vorreden innerhalb einer Gattung von Sammelwerken — anders als etwa die der Schwankromane — austauschbar werden. Während der Autor dort auf den Schwankhelden und seine Geschichte eingeht, konzentrieren sich die Sammlungen stärker auf die äußeren und formalen Elemente." (Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 195.) Karl Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jahrhunderts. Münster 1953, S. 1. Ehrenzeller: Studien %urRomanvorrede, S. 81. Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1251. Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1203 ff. Volkmann resümiert: „Aber erst hier, um die Wende zum 18. Jahrhundert, entsteht durch die bedeutend anwachsende und noch ständig stärker zunehmende Zahl von Romanen und durch ein unsolides Berufsliteratentum der eigentlich modische Titel." (Volkmann:
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II. Hors d'ceuvre? Paratextualität als Einbindungs- und Ablösefigur
Nicht zuletzt solche Mechanismen im Bereich der paratextuellen Gestaltung, die in ihrem „Traditionsverhalten" eher auf Kontinuität setzt,139 hat die Forschung immer wieder zum Anlaß genommen, die Entwicklung einzelner Paratextelemente als eine Art Index sozialhistorischer Entwicklungen zu lesen. So betont Schwitzgebel, von der Untersuchung einer großen Menge von Vorreden könne man sich einen „Rückschluß auf die Erwartungen der Rezipienten" versprechen, denn sie erfüllten die „Funktion volkssprachlicher Poetiken", ja sie seien gewissermaßen als populäres „Medium der Auseinandersetzung mit primär theologischen, moral-didaktischen oder gesellschaftlichen Themen" 140 zu betrachten. Eine ähnliche Grundannahme liegt auch Volkmanns Arbeit zum Romantitel zugrunde.141 Damit geraten hier die Prämissen über die Ordnung der Dinge in den Blick, die der jeweils im Paratext repräsentierten sozialen Konstellation zugrundeliegen. Es wurde schon im vorangehenden Abschnitt deutlich, daß derartige Überformungen die paratextuelle Gestaltung bis ins 18. Jahrhundert hinein steuern. Mittels des Titels wird der Text in bestehende topische Ordnungen eingeschrieben,142 und noch Marginalien versuchen unter Rückgriff auf die Inventare der Topik den Anschluß der Texte an gegebene Deutungszusammenhänge zu sichern: Topik wird zum „Lektüremodell".143 An der Geschichte des frühneuzeitlichen Romans ließe sich ein solcher Zusammenhang zwischen der Einschreibung in soziale Konstellationen, der Apostrophierung einer universalen Ordnung und der paratextuellen Gestaltung im einzelnen nachweisen. Wie die Arbeit von Volkmann deutlich macht, muß für die unterschiedlichen Gattungstraditionen des frühneuzeitlichen Romans, die immer schon an ständische Differenzierungsstrategien gekoppelt waren, auch von unterschiedlichen Pragmatiken der Titelgestaltung ausgegangen werden. Schon ein Mehr oder Weniger an paratextueller Orientierung kann in diesem Sinn gedeutet werden.144 So kann Volkmann zeigen, daß für die ,niederen' Romantypen,
139 140 141 142 143 144
„Der deutsche Romantitel", S. 1258 f.). Neben den ,Titelmoden' des galanten Romans nennt Volkmann als weitere ,,Vorbilde[r] in der Titelgebung" (S. 1277) den politischen Roman in der Folge Christian Weises (S. 1282 ff.), den Geschichtsroman in der Folge Happels (S. 1289 ff.) sowie „deutsche Aventuriers" und Robinsonaden (S. 1293 ff.) Niefanger: „Traditionsverhalten in Paratexten". Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 5. Siehe Volkmann: „Der deutsche Romantitel", S. 1146 ff. Siehe Schöne: Emblematik undDrama, S. 190ff., Bekes: „Poetologie des Titels", S. 398f. So Neuber: „Topik als Lektüremodell", unter Nutzung des Paratextbegriffs. So resümiert Volkmann: „Fassen wir diese Erkenntnisse zusammen, so ergibt sich die allgemeine Relation: Kurzer bzw. sachlich gehaltener Titel, Verzicht auf Reklameworte gleich bekanntes bzw. exklusives Publikum. Sie gilt in modifizierter Form für alle Richtungen des Romans im 17. Jahrhundert, wie sich erweisen wird. Auch für diese Zeit ist der
3. Paratextuelle Gestaltung literarischer Texte im 18. Jahrhundert und davor
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später dann für Grimmelshausen, eine ausführliche Titelgestaltung für Werbezwecke unersetzlich ist. Der Verzicht auf Werbemaßnahmen im Titel hingegen ist den Romanen beispielsweise Anton Ulrichs eigen, wobei hier auch schon eine zunehmende .Arbeitsteilung' zwischen Titelblatt und Vorrede zu beobachten ist. 145 Volkmanns Zuspitzung auf den wirtschaftlichen Zusammenhang mag übertrieben sein,14ur Restauration. Tübingen 1984, S. 42-68, S. 56). Siehe zum Verhältnis Wielands zur Poetik seines früheren Lehrers die Arbeit von Klaus Oettinger: Phantasie und Etfahrung. Studien i(ur Er^ählpoetik Christoph Martin Wielands. München 1970, S. 74 ff. Voßkamp betont Wielands Ablehnung des Bodmerschen Begriffs des Wunderbaren und der Breitingerschen Theorie möglicher Welten. Im Gegenzug gehe es ihm aber gerade „nicht um eine enzyklopädisch ausgebreitete Faktizität des Historischen, vielmehr um das Aufzeigen von .Natur'-Konstanten, denen als allgemeines, verbindliches Rahmen- und Grundgesetz das Kausalitätsprinzip zugrunde liegt" (Voßkamp: Komantheone in Deutschland, S. 194). Siehe hierzu Kapitel IV.
1. Die Umstände der Entwicklung. Bestimmungsprobleme in Wielands „Agathon"
119
dabei sowohl im Bezug zum „Individual-Character" als auch zu den „Umstände^] einer jeden Person". Die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Möglichkeit tritt so ins Innen ein,10 denn hier überlagern sich Effekte der charakterlichen Prägung und solche Effekte, die sich nur aus der internen Repräsentation äußerer Umstände ergeben. (Mit Agathon wäre von .mechanischem Instinkt' zu sprechen. 11 ) Um eine dem „Lauf der Welt" entsprechende ,innere Geschichte' 12 zu erzählen, wird man immer genau darzustellen haben, wie die charakterlich-innere und die äußere Prägung der menschlichen Seele wechselwirkend das Verhalten der Person motivieren. Es sind also feine Unterscheidungen und Begrenzungen in der Darstellung notwendig. Dabei indizieren die Bezeichnungen, daß die internen Repräsentadonen der äußeren Umstände, die die „relative Möglichkeit" der inneren Entwicklung ausmachen, diese nur bedingt beeinflussen können: Im Gegensatz zu den „innere [n]" Möglichkeiten selbst sind sie nur relativ. Wenn diese Unterscheidung sich im folgenden als Grundunterscheidung des erzählerischen Programms erweist, ist die unterschiedliche Wertigkeit ihrer zwei Seiten immer impliziert. Es hängt von dieser Unterscheidung einiges ab, insbesondere das moralische Programm der Geschichte, das ein wichtiges Moment des aufklärerischen Anliegens des Romans ausmacht. Agathons schwärmerische Moralität wird in der Folge vom Roman kritisch beleuchtet - offenbar geht es um die Entwicklung eines alternativen (mit Schings gesprochen: anthropologisch begründbaren 13 ) moralischen Programms. Wie aber stellt sich der „Vorbericht" zu Fragen der Moralität? Unmittelbar nach der soeben zitierten Passage heißt es: Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zuversichtlich, nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist; und wenn jemand hierin andrer Meinung sein sollte, so wünschten wir, daß er uns (wenn es wahr ist, daß derjenige der Beste ist, der die besten Eigenschaften mit den wenigsten Fehlern hat,) denjenigen
10
11 12 13
Diesen Wiedereintritt übergeht Frick, wenn er die Rede von der ,,innere[n]" und der „relative[n]" Möglichkeit des Erzählens übersetzt als Bezugnahme auf die „psychologischen Innen- wie die sozialen Außenbezüge literarischer Figuren" (Frick: Provideund Kontingent^ S. 390). Zu dieser Unterscheidung siehe auch Preisendanz: „Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip", S. 89 f. Siehe IV.2. Vgl. hierzu, mit Bezug auf Wielands „Agathon", Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Stuttgart 1965, S. 305ff. Hans-Jürgen Schings: „Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung". In: Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Rudolf Vierhaus (Hgg.): Deutschlands kulturelle Erfahrung. Die Neubestimmung des Menschen. München 1980, S. 247-75, S. 253 ff.
120
III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz nenne, der unter allen nach dem natürlichen Lauf Gehörnen, in ähnlichen Omständen, alles zusammen genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon. 1 4
und
Die implizite Behauptung ist stark: Unter den gegebenen Umständen werde niemand eine bessere Tugendbilanz („die besten Eigenschaften mit den wenigsten Fehlern") aufweisen können als Agathon. Die „nach dem natürlichen Lauf Gebornen", die Menschen also, die als Charaktere in dieser Welt existieren können, können nicht tugendhafter sein, als es Agathon sein Leben lang gewesen ist. Soll der Roman nicht erweisen, daß die Vorstellung von Tugendhaftigkeit generell eine Illusion ist - auch in diesem Fall könnte niemand tugendhafter sein als Agathon —, wird es unter den gegebenen Voraussetzungen sehr wichtig zu zeigen, daß sich dieser tugendhafte Charakter auch unter den gegebenen widrigen Umständen bewähren konnte: Alles, was wir vorläufig v o n der Entwicklung sagen können, ist dieses: daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens, welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht,) daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist; warum vielleicht viele unter ihnen, weder dieses noch jenes sind; und wie es zugehen müßte, wenn sie es werden sollten. 15
So wird abschließend das Demonstrationsziel des Romans angegeben. Dazu wird transparent zu machen sein, inwiefern und in welchen Grenzen der tugendhafte Charakter unter den jeweiligen Umständen, also innerhalb der Geschichte, zur Geltung kommen kann.16 Es soll also dreierlei gezeigt werden: Der Charakter des Agathon kann sich erstens unter den gegebenen Umständen nicht anders entwickeln. Kein anderer Charakter könnte sich zweitens tugendhafter verhalten. Und Agathon wird drittens am Ende seines Lebens ein (vorbildlicher) tugendhafter und weiser Mann sein - dem Motto gemäß wird hier deutlich werden, „quid Virtus, et quid Sapientia possit".17 Es wird sich also am Ende 14 15 16
Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 13 (Hervorhebung von mir). Wieland: Agathon [1766//1986], S. 16 f. Laut Michelsen geht es in Wielands Romanen in erster Linie um einen Konflikt zwischen dem .„vernünftigen Sonderling'" (Wieland) und der (im Grunde selbst närrischen) Gesellschaft (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Reman im 18. Jahrhundert, S. 204): Der Sonderling stelle „ein Bindeglied zwischen Idee und Wirklichkeit" dar, insofern er „als Weltbürger den idealen Gesetzen der ,Menschheit'" gehorche und so „ein Vorbild für die von den realen Gesetzen und Vorschriften begrenzter Gesellschaften irregeleiteten und verwirrten Staatsbürger" abgebe (S. 217). In gewisser Weise zielt Michelsen damit auf das hier angesprochene schwierige Verhältnis von Charakter und Geschichte ab. In der „Geschichte des Agathon" zeigt sich allerdings, daß die damit anvisierte Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit höchst problematisch ist. Entsprechend geht Michelsen davon aus, die „Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit" werde „in der Figur des Sonderlings zwar nicht aufgehoben, aber doch gemildert" (S. 223).
17
Wieland: Agathon [1766f./1986],
S. 9.
1. Die Umstände der Entwicklung. Bestimmungsprobleme in Wielands „Agathon"
121
der Geschichte gezeigt haben, daß die Tugend des Agathon auch angesichts der widrigen Umständen, in die er im Laufe seines Lebens gerät, nicht grundlegend erschüttert werden kann und daß sich andererseits Umstände angeben lassen, innerhalb derer sich dieser Charakter so wird entfalten können, daß Weisheit und Tugendhaftigkeit sich in bester Weise miteinander verbinden. Es geht um ein Fallbeispiel, das nachvollziehbar ist in dem Sinne, daß die Notwendigkeit der Entwicklung bei den gegebenen (relativen) Umständen einsichtig gemacht werden kann. Dabei soll sich diese Notwendigkeit aus dem Charakter des Protagonisten ergeben, also aus einer Festlegung auf der Seite seiner .inneren Möglichkeiten' resultieren.18 Um diese Behauptung zur Überprüfung freigeben zu können, muß nicht nur vorausgesetzt werden, daß die Entwicklung eines Menschen in einem Wechselspiel zwischen charakterlicher Veranlagung und äußeren Umständen vonstatten geht, sondern vor allem, daß zwischen beidem eindeutig unterschieden werden kann. Denn nur unter dieser Bedingung kann das Gedankenexperiment, sich einen anderen Charakter unter denselben Umständen vorzustellen, funktionieren. Nur dann, wenn demonstriert werden kann, wie die Entwicklung des Agathon angesichts der Wechselfalle des Lebens dennoch aufgrund seines Charakters eine Wendung zum Laster notwendigerweise nicht hat nehmen können, erreicht der Roman sein Ziel. An der Gegebenheit der hier konzipierten Experimentalsituation hängt mithin die moralische Zielsetzung der Erzählung.19 Die oben rekonstruierte Unterscheidung zwischen inneren und relativen Umständen wird also immer wieder getroffen werden müssen. Es wird gezeigt werden müssen, was die jeweiligen äußeren Umstände sind und wie innerhalb des Protagonisten zwischen seinem eigenständigen und eigenverantwortlichen Charakter und der reflexartigen Reaktion auf die Umwelt zu unterscheiden ist. Für die äußeren Umstände wird dabei eine grundlegende Kontingenz konstatiert, beispielsweise wenn der Text mit einer Reihe von Ereignissen einsetzt, die er als besonders unwahrscheinlich markiert. „Etwas ganz Unerwartetes" - so ist bereits das zweite Kapitel überschrieben, das dann einsetzt mit einer Verteidigung des Unwahrscheinlichen als des eigentlich Wahrscheinlichen:
18 19
Zur Darstellung des Charakters vgl. Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 188 ff. Angesichts der späten Romane Wielands konstatiert Jan-Dirk Müller die Bedeutung des Experiments und spricht von der „Laboratoriumswirklichkeit" der Romane - eine Bezeichnung, die auch für die erste Fassung des „Agathon" zutrifft 0an-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen %ur Er^ähliveise und yur erzählten Wirklichkeit. München 1971, S. 139).
122
III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genauesten Begehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein Romanen-Schreiber zu dichten wagen dürfte. Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue Bekräftigung dieser Beobachtung ab.20
Wenn diese Passage eine Auffassung von Welt anführt, nach der alles auf die ,genaueste Beziehung' zwischen allen Dingen zurückführbar ist, so verweist sie damit auf ein operatives Problem: Selbst angesichts einer vollkommenen Ordnung der Welt kann die jeweilige Beziehung zwischen den Dingen immer auch unmerklich sein. Zumindest ist es der menschlichen Erkenntnis fähigkeit aufgrund ihrer Eingeschränktheit nicht ohne weiteres möglich, immer gerade diejenigen Beziehungen zu bemerken, auf die es ankäme, wollte man Vorhersehbarkeiten schaffen. Kausalitätsrelationen lassen sich immer nur teilweise rekonstruieren, denn es ist von einer hochkomplexen Vernetzung kausaler Zusammenhänge auszugehen. Unmerklich sind dann immer diejenigen Zusammenhänge, deren Relevanz für die kausale Entwicklung (noch) nicht erkannt ist — und das Problem besteht darin, daß es immer relevante Kausalzusammenhänge gibt, die man nicht beachtet hat und auch nie beachten wird, ergibt sich nicht aufgrund unvorhergesehener Entwicklungen die Notwendigkeit, nach ihnen zu suchen. Die ,unmerklichen Verbindungen' zwischen den Dingen, die heimlichen Korrespondenzen, erzeugen mithin jene seltsamen und überraschenden äußeren Begebenheiten, die die als folgerichtig vorgestellte (innere) Entwicklung des Charakters Agathons bedingen. Dieser äußeren Kontingenz muß Agathon aber ausgesetzt werden, wenn das Experiment erfolgreich sein will. Sie muß schlicht als gegeben angenommen werden, will man jene Experimentalsituation erzeugen, innerhalb derer über Agathons Charakter geurteilt werden kann. Wenn man allerdings davon ausgeht, daß vollständige Kausalitätsrekonstruktionen unmöglich sind, daß also immer einige Zusammenhänge ,unmerklich' bleiben, so ergibt sich für die Darstellung ein Problem. Denn dann ist es ihr unmöglich, jemals eine Geschichte gan% zu erzählen. Auf dieses Problem hat nicht zuletzt Sternes „Tristram Shandy" aufmerksam gemacht, dessen Erzähler berechnet, daß der noch zu erzählende Stoff während des Erzählens schneller wächst als die Menge des bereits Erzählten.21 Begrenzungen sind notwendig, insofern es immer noch weitere ,unmerkliche Beziehungen' geben mag, die für die Erklärung 20 21
Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 23 (Hervorhebung von mir). Zu dieser Stelle siehe Frick: Promden^ und Kontingent S. 453, und Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 332 f. Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Hg. v. Melvyn New, Joan New. London - New York - Camberwell u. a. 2003 [1759 ff.], S. 256 f.
1. Die Umstände der Entwicklung. Bestimmungsprobleme in Wielands „Agathon"
123
von Sachverhalten hinzuzuziehen wären. Letztlich ist also die Suche nach den Rahmenbedingungen, die als letzte Ursachen fur das jeweilige Geschehen gelten könnten, nicht abschließbar. Dieses Problem ist für sich genommen nicht weiter gravierend, solange die Unterscheidung zwischen den ,inneren' und den ,relativen Möglichkeiten' des Erzählten ohne weiteres zu treffen ist. Dann nämlich kann der Charakter als eine Instanz beschrieben werden, die notwendigerweise auf kontingente äußere Einwirkungen (bzw. deren interne Repräsentationen) reagiert. Was aber, wenn auch hier Erklärungslücken in Kauf genommen werden müssen? 22 Tatsächlich deuten sich bei Wieland Abgrenzungsprobleme an, beispielsweise im „Don Sylvio". An einer entscheidenden Stelle der Erzählung verweist der Erzähler auf eine Unentscheidbarkeit, die auch die Kausalitätsverhältnisse im Innern des Protagonisten betrifft: Allein, vermuthlich wollte die Fee, die sich in das Schicksal des jungen Sylvio mischte, nicht zugeben, daß er seine Bestimmung verfehlen sollte; und da er einst in Abwesenheit seiner Tante, deren Ernsthaftigkeit und ewige Sittenlehren ihm sehr beschwerlich zu werden anfiengen, in der Bücher-Kammer herum stöberte, um sich etwas zur Zeitkürzung auszusuchen, so gerieht er, es sey nun von ungefähr oder durch den geheimen Antrieb der besagten Fee, auf ein starkes Heft von Feen-Märchen. Er steckte es voller Freude zu sich, und zog sich, so geschwind er konnte, in den Garten zurück, um den Werth seines Funds ungestört erkundigen zu können; denn es schwante ihm schon beym Anblick der Titel, daß es sehr angenehme Sachen seyn müßten.23
Auf den ersten Blick scheint die Beschreibung eine eindeutige Differenzierung zwischen ,inneren' und ,relativen' Bestimmungen zu erlauben: Ein äußerer Zufall läßt Don Sylvio das „Heft von Feen-Märchen" in die Hände fallen (relative Bestimmung), und aufgrund seines Charakters ist seine Reaktion auf diesen Zufall notwendig (innere Bestimmung). Doch läßt sich die Trennung keineswegs so strikt durchhalten. Denn die Szene deutet eine gewisse Wechselwirkung an. Don Sylvio ,stöbert' aus eigenem Antrieb in der „Bücher-Kammer herum". Seine Situation ist gekennzeichnet durch das Fehlen jeglicher Fremdbestimmung (markiert durch die Abwesenheit der Tante). Sein Verhalten vor dem Fund dürfte entsprechend von äußeren Einflüssen abgekoppelt sein, er dürfte also den Einflüssen seines ,Individual-Charakters' freien Lauf lassen. Und „sey es nun von 22
Darauf deuten beispielsweise Formulierungen wie die, man strebe an, der „Leidenschaft unsers Helden von der Quelle an in ihrem wiewohl noch geheimen Lauf nachzugehen" (Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 201). - Schings spricht - allerdings mit Bezug auf Blanckenburgs Wieland-Lektüre - von einem ,,empirische[n] Dezifit der Teleologie" und einem ,,teleologische[n] Defizit der Anthropologie", das im „Agathon" „Leerräume der Erklärung" entstehen lasse (Schings: „Der anthropologische Roman", S. 257).
23
Wieland: Die Abenteuer
des Don Sylvio von Rosalva, S. 27 (Hervorhebung von mir).
124
III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
ungefähr oder durch den geheimen Antrieb der besagten Fee", gerät er in dieser Situation an die Märchen. Erst von nun an wird man eine charakterliche Notwendigkeit seiner Reaktion annehmen können - zuvor werden Beweggründe für sein Verhalten gar nicht genannt. Damit stellt sich zumindest die Frage, wie die innere Notwendigkeit dargestellt werden kann: Wird mit dem Verweis auf die Fee nicht eingestanden, daß auch hinsichtlich der inneren Entwicklung des Protagonisten keine eindeutigen, notwendigen Verkettungen rekonstruiert werden können? Wird hier also nicht der kontingente Zusammenfall seines unmotiviert bleibenden Verhaltens und eines ebenso kontingenten äußeren Ereignisses markiert? Ähnliche Stellen finden sich im „Agathon", und zwar insbesondere dann, wenn die Verführbarkeit des Helden thematisiert wird. Hier sei nur eine Stelle aus dem Kapitel mit dem Untertitel „Daß Träume nicht allemal Schäume sind"24 zitiert: Dem sei nun wie ihm wolle, so ist gewiß, daß wir zuweilen Träume haben, in denen so viel Zusammenhang, so viel Beziehung auf unsre vergangne und gegenwärtige Umstände, wiewohl allezeit mit einem kleinen Zusatz von Wunderbarem und Unbegreiflichem, anzutreffen ist; daß wir uns um jener Merkmale der Wahrheit willen geneigt finden, in diesem letztern etwas geheimnisvolles und vorbedeutendes zu suchen. 25
In Träumen, so die tragende Unterscheidung, sind teils äußere Umstände repräsentiert, teils finden sich ,wunderbare' oder unbegreifliche' Zusammenhänge. Jeder Traum ist damit einerseits relativ bestimmt, läßt sich also durch „vergangne und gegenwärtige Umstände" erklären. Andererseits mag in den ,wunderbaren' Zusammenhängen etwas „vorbedeutendes" zu finden sein; sie mögen also heimliche Ursachen zukünftiger Geschehnisse repräsentieren. Der Erzähler selbst mißtraut zwar Methoden der Traumdeutung, ist sich aber sicher, daß der im folgenden erzählte Traum Agathons die Ursachen des folgenden Geschehens offenbart: Agathon hat einen Traum, den wir mit einigem Recht zu den kleinen Ursachen zählen können, durch welche große Begebenheiten hervorgebracht worden sind. Wir wollen ihn erzählen, wie wir ihn in unsrer Urkunde finden, und dem Leser überlassen, was er davon urteilen will. 26
Dem Leser ist damit aufgegeben, zwischen inneren Repräsentationen äußerer Umstände im Traum und dem „kleinen Zusatz von Wunderbarem und Unbegreiflichem", der ihm ebenfalls innewohnt, eigenständig zu unterscheiden. Welche Möglichkeiten aber hat er, anschließend das damit ausgesonderte „Wunderbare" zu deuten? Angesichts der Ausgangsunterscheidung zwischen der ,inneren' und der ,relativen' Bestimmtheit des 24 25 26
Wieland: Agathon [1766//1986], S. 191. Wieland: Agathon [1766fj 1986], S. 192. Wieland: Agathon [1766fj 1986], S. 193.
1. Die Umstände der Entwicklung. Bestimmungsprobleme in Wielands „Agathon"
125
Innern des Protagonisten liegt es nahe, die wunderbaren Elemente mit dessen charakterlichen Prägung in Verbindung zu bringen. Anhand der vom Text vorgegebenen Kriterien aber wird der Leser die Unerklärtheit der inneren Zusammenhänge nicht aufheben können: Der Text verweigert schlicht die Auskunft über die kausale Einbindung der wunderbaren Elemente des Traums. Inwiefern eine notwendige Prägung des inneren Geschehens durch den Charakter des Protagonisten gegeben ist, bleibt also ungewiß. Den Freiheitsgraden der Rezipienten entsprechen die Beschränkungen des Erzählers. Es wird sich noch genauer zeigen, daß in einigen weiteren Fällen die Entscheidung über die inneren und relativen Bestimmungen von Agathons Verhalten schlechthin nicht getroffen werden kann. So hat der Erzähler immer mit einer Art von Kontingenz zu kämpfen, die die Eindeutigkeit der Darstellung gefährdet. Es spielt dabei für die Möglichkeiten des Erzählens keine Rolle, ob eine grundsätzliche Unvorhersehbarkeit der psychischen Phänomene behauptet wird oder nur die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis fähigkeit die Erklärungslücken erzeugt: Wenn in der inneren Geschichte Agathons Erklärungslücken vorliegen, bedeutet dies, daß Vorgänge in seinem Innern nicht eindeutig auf ihre Motivation zurückgeführt werden können, und das heißt, daß nicht mehr zu erweisen ist, in welcher Weise bzw. ob überhaupt der tugendhafte Charakter der Hauptperson ihr Verhalten bedingt. 27 Ist für den Aufklärungsroman im allgemeinen die Zurechnung von Kontingenz ein Problem, 28 so ist dieses Problem im „Agathon" vor allem hinsichtlich der programmatisch notwendigen Innen/Außen-Unterscheidung bzw. der Unterscheidung zwischen charakterlich bestimmter und reflexartiger Motivation des Verhaltens von Bedeutung. Wird im Inneren des Protagonisten Kontingenz beobachtet, bedeutet dies, daß auch hier Erzählbarkeit nur insofern gegeben ist, als bestimmte Einzelheiten schlicht als kontingenterweise gegeben vorausgesetzt werden. Es läßt sich 27 28
Die Probleme der Unterscheidung von (äußerlicher) Kontingenz und (charakterlicher) Notwendigkeit sieht Oettinger nicht (vgl. Oettinger: Phantasie und Erfahrung, S. 87 ff.). Frick geht davon aus, daß im Zuge einer ,,tiefgreifende[n] Säkularisierung des Weltbildes" (Frick: Providing und Kontingent S. 15) und der damit einhergehenden Einschränkung auf immanente Erklärungsverfahren „das aufklärerische Bewußtsein" entdecke, „daß ihm zur Sicherung seiner moralfinalistischen Postulate andere Begründungen als die der überwunden geglaubten Metaphysik der providentiellen Intervention nicht zur Verfugung stehen" (S. 16). Diese These wird im folgenden (vor allem in Kapitel IV) zumindest relativiert. Behrens betont für die Entwicklung in Frankreich, schon um 1700 gerate „die teleologische, vor allem die providentielle Weltdeutung [...] in eine Krise", die allerdings für den Roman „eine herausragende historische Chance" biete, „da er als neu entworfene, amorphe und vielgestaltige Gattung Funktionen der Sinnbildung zur Kontingenzreduküon übernehmen kann" (Rudolf Behrens: Umstrittene Theodi^ee, erzählte Kontingent Die Krise teleologischer WeltdeutungundderfranspsischeRüman(1670—1770).Tübaig^n 1994, S. 1).
126
HI. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
also gar nicht vermeiden, daß das Geschehen im Inneren des Charakters zuzeiten weder auf charakterliche Prägung noch auf mechanischen Instinkt wird zurückgeführt werden können. Es handelt sich um eine (immer vorläufige, nur pragmatisch bedingte, nichtsdestoweniger aber notwendige) Rahmenbildung, um eine notwendige Stillstellung der ,gegebenen Umstände' bzw. um eine Grenzziehung, die weitere Interdependenzen und damit möglicherweise Verschiebungen in der Bestimmung der Kausalverkettungen um der Darstellbarkeit willen unterbindet. Die Entwicklung des Helden kann nur dargestellt werden, wenn auf allen genannten Ebenen Erklärungslücken in Kauf genommen und damit bestimmte Dinge als gegeben angenommen werden. Damit aber wird der erzählerische Erweis schwierig, daß die Entwicklung des Charakters angesichts der äußeren Umstände naturgemäß, und daß zugleich sein Verhalten im wesentlichen auf seinen tugendhaften Charakter zurückzuführen ist. Das Verhältnis zwischen Charakter und Geschichte bedarf also weiterer Klärung.
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700 Die oben zitierte Behauptung der Wielandschen Erzählung, nach der „alle Dinge in der Welt in der genauesten Beziehung auf einander stehen", ist vor dem Hintergrund der rationalistischen Annahme zu lesen, daß innerhalb der Welt ein eindeutiger Verursachungszusammenhang gegeben ist, auch wenn er prinzipiell nicht gänzlich erkannt werden kann: Die rationalistische Kausalitätstheorie, wie sie im folgenden am Beispiel von Christian Wolff rekonstruiert und für den vorliegenden Problemzusammenhang pointiert wird, setzt auf eine eindeutige Bestimmtheit kausaler Verkettungen nach klaren Kriterien wie den Sätzen vom zureichenden Grunde und vom ausgeschlossenen Widerspruch. Wieland bezieht sich damit auf eine langanhaltende philosophische und theologische Diskussion, die zugleich zentrale Argumente des Literaturstreits betrifft. Der Rationalismus richtet sich im Namen der Aufklärung insbesondere gegen eine Erschließung (dargestellter) Wirklichkeit über Gemeinplätze. Die Topik, die beispielsweise von Gottsched als unnütz abgetan wird, 29 ist mithin als negative Folie auch der rationalistischen Poetik 29
„Diese Loca sind nicht ganz zu verwerfen, und in den gerichtlichen Reden der Alten konnten sie zur Erfindung gewisser Beweisgründe viel beytragen. Deswegen hat Cicero ein ganzes Buch geschrieben, welches er Topica betitelt. Doch in unsern heutigen Reden können sie uns nichts helfen." (Johann Christoph Gottsched: Handkxicon oder Kur^gefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und frejen Künste. Zum Gebrauche der Uebhaber derselben he-
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700
1 27
anzusehen. Inwiefern aber hat die Topik, wie sie in der Rhetorik seit Aristoteles entwickelt wird und wie sie noch den polyhistorischen Wissenssystemen der frühen Neuzeit30 oder auch der oben bereits behandelten frühneuzeitlichen Emblematik zugrundeliegt,31 mit Kausalität bzw. Kontingenz zu tun? Lübbe hat darauf hingewiesen, daß es sich laut Aristoteles' Auffassung von der Topik bei den ένδοξα in erster Linie um Sätze handelt, mit denen der allgemeinen Meinung nach auf Wirklichkeit zugegriffen werden kann.32 Gemeinplätze sind sie insofern, als sie als Orte zur Verfügung gehalten werden, von denen aus eine Verständigung über strittige Fälle geleistet werden kann.33 Überprüfbarkeit oder gar Berechenbarkeit sind hier nicht relevant. Vielmehr verständigt man sich im Rekurs auf ein Vorverständnis, das nicht der ,empirischen' Überprüfung anheimgegeben wird. Wie Bubner betont, sind nun die Ausgangspunkte eines jeden Rückgriffs auf das topisch Wahrscheinliche Gelegenheiten, also Gegebenheiten, die nicht als vorhersehbar, sondern als kontingent angesehen werden. Eine Situation, die einem zufällt und zunächst nur schwer beurteilt werden kann, kann mittels der Topoi dennoch einer zustimmungsfähigen Beurteilung unterworfen werden.34 Campe hat in seiner grundlegenden Arbeit zum Begriff der Wahrscheinlichkeit in der frühen Neuzeit mehrere Problemlagen unterschieden, in die die Entwürfe der Topik in der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit eingebettet werden.35 Diese Modelle der Wissensverwaltung leiten sich von antiken Modellen her. Campe rekonstruiert zunächst eine dialektische Fassung des Topikbegriffs, die sich von Aristoteles herschreibt; hier dient die Topik zur Absicherung einzelwissenschaftlicher Grundsätze, die nicht immer mit philosophischer, d. h. wahrheitsfähiger Präzision konstruiert werden können.36 Diese Auffassung von Topik ist zu unterscheiden von
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34 35 36
rausgegeben, von Johann Christoph Gottscheden, der Weltweish. ordentl. Lehrern in Leipzig, der Univ. Decemvir, der königl. Stipend. Ephorus, und verschiedener Akademien der Wissensch. Mitgliede. Leipzig 1760, S. 1572.) Einschlägig hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, oder auch Helmut Zedelmaier: Bibliotheca unversalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuheit. Köln - Weimar - Wien 1992. Siehe II.2. Hermann Lübbe: ,„Topik", ,Sinn' und die Geschichte der Zufallstheorie". In: Gerhard von Graevenitz (Hg.): Kontingent (= Poetik und Hermeneutik, Bd. XVII). München 1998, S. 1 4 1 42. Siehe Rüdiger Bubner: „Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik". In: Gerhard von Graevenitz (Hg.): Kontingent (= Poetik und Hermeneutik, Bd. XVII). München 1998, S. 3 - 2 1 , S. 17 ff. Bubner: „Die aristotelische Lehre vom Zufall", S. 17 ff. Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 135-46. Dort auch weitere Literaturhinweise. Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 136 ff.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
einem juridischen Topikbegriff bei Cicero; hier wird die Szene des Gerichts zum allgemeinen Bezugspunkt, und es geht daher um die performative Wahrscheinlichkeit der narratio, die Glaubwürdigkeit herstellen soll.37 Für die epistemologische Fassung des Topikbegriffs in der frühen Neuzeit ist eine Synthese dieser beiden Modelle die Voraussetzung. Im Ergebnis ist die Topik hier zunächst dafür zuständig, Mittelterme für syllogistische Argumentationsverfahren zur Verfügung zu stellen, die die Empirie (die historian8) betreffen.39 Entscheidend ist dabei, daß die zwei in den ersten beiden Fassungen des Topikbegriffs angeführten Formen der Kohärenz — die logische Kohärenz zwischen topisch erschließbaren Aussagen und die Verwandtschaft zwischen einer topischen Aussage und einem Sachverhalt - [...] eine dritte, beide umgreifende Kongruenz zwischen der topischen Region und den Sachverhalten der Realien 40
voraussetzen. Nicht nur sind also im Bereich der Topik Möglichkeiten gegeben, auf der Grundlage wahrscheinlicher Annahmen kohärente Schlüsse zu ziehen („logische Kohärenz"), und nicht nur geht man davon aus, daß den in diesem Sinne wahrscheinlichen Aussagen tatsächliche Gegebenheiten korrespondieren. Erhebt man die Topik zur epistemischen Grundlage der historischen Wissenschaften, ist es vielmehr notwendig, eine Übereinstimmung zwischen den topischen Schlußverfahren und der Realität anzunehmen. Erst diese umfassende Kongruenz, wie sie in der frühen Neuzeit unterstellt wird, läßt die Topik zu einem Werkzeug werden, das auf die Realien unmittelbar und in systematischer Weise zuzugreifen fähig ist. Topische Wahrscheinlichkeit dient also dazu, Wirklichkeit unmittelbar verfügbar zu halten, auch wenn sie sich wahrheitsfahigen Aussagen entzieht. In der Topik werden dann kondensierte Zugriffsformen auf diejenigen Teile der Wirklichkeit verwaltet und für entsprechende Gelegenheiten bereitgehalten, die sich der Beschreibung mittels eindeutiger Kausalverhältnisse nicht fügen. Allgemeinplätze gelten zwar als immer und jedermann verfügbar, aber sie beziehen sich auf Situationen, in denen gerade nicht sicher vorhergesagt werden kann, was geschehen wird. Sie sind dafür zuständig, Erklärungslücken innerhalb einer angenommenen Kausalkette dennoch handhabbar zu machen, und stellen dauerhafte Formen für die Erklärung gelegentlicher Verursachung bereit. Im Grunde ergibt sich daraus kein Problem der Akkomodation, das erst für die aufklärerische Literatur entscheidend werden wird: Denn die Gemeinplätze 37 38 39 40
Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 139 ff., siehe zu Cicero auch S. 113 f. Zu dieser Engführung von Geschichte und Empirie siehe Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namnsgebenn derfriihneu^eitlichen Empirie. Berlin 1976. Dies rekonstruiert Campe mit Rückgriff auf Boethius' für Mittelalter und frühe Neuzeit einflußreiche Theorie (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 141 ff.). Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 145.
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700
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garantieren ja gerade, daß man von gemeinsamen Standpunkten ausgeht. Eine mögliche Asymmetrie zwischen Autoren und Publikum wird hier noch gar nicht bedacht. Der rationalistischen Aufklärung reicht ein solches Modell von Kausalität und Kontingenz nicht mehr aus. 41 Sie setzt verstärkt auf Wahrheit und bezahlt dies nicht nur mit dem Preis, der unmittelbaren Zugriffsformen auf Wirklichkeit, die die Topik verwaltet, verlustig zu gehen; sie handelt sich vielmehr auch ein Vermittlungsproblem ein: Anders als Gemeinplätze muß sich die Wahrheit immer erst behaupten. Einen Versuch, den Geltungsanspruch von Wahrheit mit der operativen Unmittelbarkeit der Topik zu vereinen, stellt die Modellierung einer mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie dar, die lange Zeit ihre Berechnungen des Kontingenten ebenso unmittelbar auf Wirklichkeit beziehen möchte, wie es die Topik tut. 42 Das gemeinsame, unmittelbar auf die (alltägliche) Wirklichkeit bezogene und anwendbare Vorverständnis soll der empirisch-statistischen Überprüfung unterzogen, dadurch der Tendenz nach auf eine wahrheitsfähige Basis gestellt und damit im Sinne der Aufklärung nützlich werden. 43 Ein anderer Versuch, die Unmittelbarkeit des topischen Weltzugriffs mit den Mitteln der Vernunft aufrechtzuerhalten, liegt in Gestalt der in III.4 in den Blick genommenen Poetiken vor - ein Versuch, der dezidiert das Akkomodationsproblem bearbeitet. Beide Versuche gründen in metaphysischen Überlegungen, wie sie von Leibniz und Wolff zunächst ohne den Anspruch entwickelt werden, die Wirklichkeit im einzelnen und unmittelbar erklärbar zu machen. 44 Exemplarisch möchte ich für diese Zusammenhänge im folgenden Wolffs „Deutsche Metaphysik" (1720), einen zentralen Bezugspunkt aller
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Im einzelnen müßte die Geschichte des Kausalbegriffs differenzierter beschrieben werden. So ließe sich zeigen, daß die Philosophie bereits an der Wende zur frühen Neuzeit beginnt, den ontologischen Status von Kausalität zu problemadsieren (siehe Dedev Pätzold: „Wandlungen des Kausalitätsbegriffs". In: Brigitte Falkenburg, D. P. (Hgg.): Verursachung. Repräsentationen von Kausalität (— DIALEKTIK. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaft, Bd. 1998/2). Hamburg 1998, S. 9 - 2 6 , insbesondere S. 14-19). Diese Problemarisierung kann als Voraussetzung der hier beschriebenen Entwicklung gelten. — Zur Geschichte des Kontingenzbegriffs siehe Brugger: „Kontingenz", Striker: „Notwendigkeit mit Lücken", sowie, teils stark verkürzt, Hoffmann: Zufall und Kontingent in der Geschichtstheorie, S. 19—47, und schließlich Michel: Ordnungen der Kontingent S. 3 5 - 6 7 .
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Dies ist die Grundthese von Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Diese Tendenz der Wahrscheinlichkeitstheorie findet noch im 18. Jahrhundert ihr Ende, als man erkennt, daß die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten immer nur unter der Bedingung möglich ist, daß man das Modell eines begrenzten und von kontingenten Parametern abhängigen Geschehensraums voraussetzt (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 344ff., S. 380 ff.).
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Leibniz wird von Campe recht ausfuhrlich gewürdigt (Campe: Spiel der S. 105 ff., S. 159 ff.).
Wahrscheinlichkeit,
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
Beteiligten des Literaturstreits, und als Kontrast dazu Malebranches „Traite de la nature et de la grace" untersuchen. Es wird sich zeigen, daß die bei Wieland sich abzeichnende Problematik der Bestimmung dessen, was den ,Lauf der Natur' ausmacht, in der Diskussion von Kausalität und Okkasionalität ihren Ursprung hat, die spätestens seit Descartes an einem Gegenstand ihre wichtigsten Ansatzpunkte findet, der nicht zufällig eine zentrale Metapher der zeitgenössischen Poetiken bildet und bereits mehrfach erörtert wurde: An dem Verhältnis von Leib und Seele. In Wolffs Metaphysik geht es an mehreren zentralen Stellen um die Unterscheidung des Notwendigen vom Kontingenten.45 Insbesondere ist das vierte Kapitel „Von der Welt", das sich auf Problemstellungen des Kapitels „Von Gott" bezieht, heranzuziehen — stellt es doch den wichtigsten Bezugspunkt der Schweizer für ihre Lehre von den möglichen Welten dar. Aber auch Teile des fünften Kapitels „Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt" sind von Interesse, denn hier setzt sich Wolff mit zeitgenössischen Modellen von Kausalität auseinander. Bezogen wird die Unterscheidung zwischen dem Notwendigen und dem Kontingenten bei Wolff einerseits auf Bestimmungen des Wesens, andererseits auf Bestimmungen der Wirklichkeit von Dingen.46 Wolff bestimmt die Welt als „eine Reihe veränderlicher Dinge [...], die neben einander sind, und auf einander folgen, insgesamt aber mit einander verknüpfet sind"47 - wobei die Verknüpfung in zureichenden Gründen besteht und der (die zeitliche Dimension einschließende) Gesamtzusammenhang unveränderlich ist. In diesem Zusammenhang der Dinge besteht das Wesen einer Welt.48 Insofern kann die Welt als eine Maschine gelten, d. h. als ein „zusammengesetztes Werck, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung [sie] gegründet sind".49 Unter den gegebenen
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Eine präzise Rekonstruktion der Kontingenzproblematik bei Leibniz findet sich bei Frick: Provider!£ und Kontingent S. 75-80. Die Unterscheidung Wesen/Wirklichkeit ist einer der Ausgangspunkte des gesamten Textes; siehe das kurze erste Kapitel. Ich zitiere Wolff nach: Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Con. Hildesheim — Zürich — New York 1983 [1720], Angegeben werden sowohl die Seitenzahl als auch die Paragraphen. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 332, § 544. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 334, § 552 f. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 337, § 557. Ein von Wolff immer wieder herangezogenes Beispiel ist dasjenige des Uhrwerks: Auch hier kann nicht die kleinste Gegebenheit verändert werden, ohne daß sich der Gesamtablauf des mechanischen Geschehens verändert. — Zur Maschinenmetapher bei Descartes und danach siehe Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 32-78, zu Wolff S. 68 ff. Hier wird insbesondere betont, daß das Modell eines rein immanenten mechanischen Weltzusammenhangs als „Vehikel der Emanzipation" zu lesen ist, das insbesondere die Vorstellung einer (teuflischen) Verwendung von Maschinen als betrü-
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700
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Bedingungen, d. h. innerhalb einer Welt, ist jeder Bestandteil dieser Welt, d. h. jede Gegebenheit und jede Veränderung, notwendig, weil sie sich aus der Zusammensetzung der Welt herleitet. Dies folgt unmittelbar aus dem Satz vom zureichenden Grunde, der besagt, daß für alles, was ist, ein zureichender Grund seiner Existenz angegeben werden kann.50 Es ergeben sich Konsequenzen für den Stellenwert dessen, was dem Menschen in der Welt als kontingent erscheint: Einerseits muß davon ausgegangen werden, daß aufgrund des Satzes vom zureichenden Grunde auch das scheinbar Kontingente eindeutig auf Ursachen zurückgeführt werden kann. Ein universales Kausalitätskontinuum ist gegeben, insofern die jeweilige Welt als Denkmöglichkeit existiert. Gleichwohl kann andererseits mit Recht gesagt werden, daß der Großteil der Gegebenheiten in der wirklichen Welt lediglich als zufällig angesehen werden kann. Es läßt sich in diesem Fall kein Grund dafür angeben, daß nicht eine andere, möglicherweise gegenteilige Gegebenheit an ihre Stelle treten könnte. Allerdings folgt aus dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, daß beide Möglichkeiten nicht zugleich existieren können. Wolff löst das Problem, das sich damit andeutet, indem er behauptet, daß die Wirklichkeit der Welt, also des bestehenden raum-zeitlichen Zusammenhangs, im Gegensatz zu ihren einzelnen Bestandteilen nicht notwendig ist.51 Schlechterdings notwendig sind lediglich ,geometrische' bzw. ,metaphysische' Wahrheiten. Wenn Begebenheiten, die uns kontingent erscheinen, auf andere Begebenheiten verweisen, die an Stelle ihrer auch möglich wären, so müssen diese jeweils nicht gegebenen Möglichkeiten anderen, ihrerseits unveränderlichen möglichen Zusammenhängen der Dinge, anderen möglichen Welten, zugerechnet werden.52 Die Welt in ihrer Wirklichkeit geht somit auf eine kontingente Entscheidung zurück,53
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gerisches ,Blendwerk' ablöst, welches den Menschen terrorisiert (insbesondere S. 22, S. 114 f., S. 128 ff.). Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 16 f., § 30 ff. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 338, § 563. Ausführlich wird die Unterscheidung zwischen demjenigen, was „schlechterdings nothwendig" (S. 352, § 575) ist und demjenigen, was nur bedingt notwendig ist - hier handelt es sich um eine „Nothwendigkeit der Natur" (S. 353, § 575) - in §§ 575-80 behandelt (S. 352-59). Wolff expliziert dies anhand eines Beispiels: Jede Wetterlage muß prinzipiell auf bestimmte Gründe zurückgeführt werden können, auch wenn sich praktisch keine Gründe dafür angeben lassen, daß nicht auch deren Gegenteil der Fall sein könnte. Da aber Widersprüche innerhalb einer Welt ausgeschlossen werden müssen, kann die gegenteilige Wetterlage nur in einer anderen Welt vorkommen (Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 340-44, §§ 565-67). In diesem Zusammenhang spricht Wolff dann auch von den „Romainen" (sie) als einer Konstruktion von möglichen Welten (S. 349, § 571). „Nächst diesem ist zu mercken, daß die Nothwendigkeit der Natur nur auf das Wesen der Dinge gehet, und nicht eigentlich auf die Würcklichkeit: indem die Würcklichkeit der gantzen Welt, als die mit allen ihren Theilen und Begebenheiten als ein Ding anzusehen, zufäl-
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
auch wenn sie ihrem Wesen nach Notwendigkeit erzeugt. In dieser Distinktion gründet die Rede von ,möglichen Welten' und die genauere Bestimmung des Stellenwerts der göttlichen Schöpfung. In der Konsequenz läßt sich alles Zufällige auf eine initiale Einstellung zurückfuhren, die der Schöpfer vorgenommen hat: Nun bekommen wir einen rechten Verstand von dem Zufalligen in der Welt. Nehmlich wir erkennen, daß zufallige Begebenheiten natürlicher Weise nicht anders ihre Würcklichkeit erreichen können, als durch eine Reihe unzähliger anderer Dinge, die vor ihnen vorhergegangen und neben ihnen zugleich sind, dergestalt daß, wenn man ihren Grund anzeigen soll, derselbe immer wieder einen neuen Grund hat ohne Aufhören. Hingegen in dem, was nothwendig ist, kommet man bald zu Ende: denn man findet endlich einen Grund, wo man aufhören kann. Dieses wissen diejenigen, welche die Mathematick gründlich gelernet. [...] Hingegen denjenigen, welche sich auf die Erkäntnis der Natur geleget, kann das andere nicht unbekannt seyn. Denn wenn sie untersuchen, warum dieses geschehen; so finden wir zwar eine Ursache, aber die Ursache hat wieder eine Ursache, und diese wiederum eine fernere, und so weiter fort. Und man bleibet endlich, ja zuweilen gar bald, bey einer Ursache stehen, davon wir keine fernere zu geben wissen, sondern vergnüget sind, daß wir sie in der Natur angetroffen, und daher durch die Erfahrung versichert sind, sie sey da gewesen, und nicht von uns erdichtet worden. Und dieses ist der Grund, daraus man erweisen kan, daß ein Urheber der Natur seyn müsse.54 Die initiale Einstellung der Welt, auf die sich die nicht schlechterdings notwendigen Dinge zurückführen lassen müssen, ist das Privileg göttlicher Tätigkeit. Im sechsten Kapitel der deutschen Metaphysik wird erwiesen, daß nicht zwei (oder mehr) Welten Wirklichkeit erlangt haben können 55 und daß es Gott allein vorbehalten ist, die Gesamtheit aller möglichen Welten augenblicklich zu überschauen, 56 und zwar in vollkommener Klarheit und Deutlichkeit. 57 Dies ist ihm insbesondere deshalb möglich, weil er allein aus der Anfangskonstellation den Gesamtverlauf der jeweiligen Welt erschließen kann. 58 Es ist daher ihm allein überlassen, die Entscheidung darüber zu treffen, welche der möglichen Welten Wirklichkeit erlangen soll. Und mit dieser göttlichen Entscheidung ist zugleich das Wesen der Welt bestimmt.
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lig ist. Was in der Welt geschiehet, das kommet nothwendig, in so weit es mit zu dem Wesen der Welt gehöret, welches nothwendig ist: hingegen in Ansehung seiner Würcklichkeit bleibet es so zufällig als die Würcklichkeit der Welt selber ist." (Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 356, § 578.) Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 357 f., § 579. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 585 f., § 948 f. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 588, § 951 f. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 593 f., § 959. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 596 f., § 968.
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700
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Es ist wichtig zu sehen, daß das Privileg Gottes zugleich eine radikale Einschränkung seines Tätigkeitsbereiches bedeutet. Zwar behält sich Wolff immer wieder vor, eine mögliche Tätigkeit Gottes durch Wunderwirkungen nicht ausschließen zu können. Gleichwohl lehnt er im fünften Kapitel, dem zweiten Kapitel, das von der Seele handelt,59 und in dem ausführlich das Leib-Seele-Problem referiert wird, Positionen ab, die dem göttlichen Eingriff in die Welt einen systematischen Stellenwert zuerkennen. Insbesondere kommt er auf eine Cartesische Überlegung zu sprechen, die er in gewisser Weise zum späteren Okkasionalismus hin verlängert.60 Descartes' (nach Specht noch nicht okkasionalistisch zu nennende61) Auffassung zufolge bewirkt Gott an Stelle der Seele und auf deren Veranlassung hin Veränderungen innerhalb der res extensa, so daß es scheinen könne, als wirke die Seele direkt auf die Körper. Wolff schreibt: Derowegen ist er [Descartes] auf die Gedancken gerathen, daß weder der Leib durch seine Bewegungen die Empfindungen in der Seele, noch diese durch die Kraft ihres Willens Bewegungen in den Leib hervorbringen könne, sondern vielmehr GOTT durch Veranlassung der Bewegungen im Cörper Gedancken in der Seele, und hinwiederum auf Veranlassung der Seele mit ihrem Wollen, Bewegungen in dem Leibe hervorbringe, indem er einmahl ein Gesetze gemacht, daß, so ofte die subtile Materie sich durch die Würckung der äusserlichen Cörper in die Gliedmassen der Sinnen auf eine gewisse Art im Gehirne bewegen würde, so ofte auch eine gewisse Empfindung in der Seele entstehen solte, und hinwiederum, so ofte die Seele würde verlangen, daß gewisse Gliedmassen des Leibes sich bewegen solten, so ofte auch die Bewegung erfolgen solte. Dieser von GOtt einmahl festgesetzte Wille sey so kräftig, daß dadurch in den sich ereignenden Fällen sowohl die Empfindungen in der Seele als auch die Bewegungen in dem Leibe erfolgten. Auf solche Weise ist die Seele eigentlich nicht die Ursache der Bewegungen des Leibes, sondern giebet nur Gelegenheit darzu, und der Leib ist eigentlich nicht Ursache von den Empfindungen der Seele, sondern giebet gleichfals nur Gelegenheit dazu; GOTT aber würcket alles in allen beyden. 62
Hält Wolff eine unmittelbare Einflußnahme der Seele auf den Körper und umgekehrt, wie sie der Influxionismus postuliert, deswegen für unmöglich, weil sich damit die Summe der Bewegung innerhalb der Welt verän-
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Das erste Kapitel, das sich der Seele zuwendet (Kapitel 2) handelt noch ohne die Absicherung einer Theorie der Welt von ihren Vermögen, bietet mithin empirische Psychologie im Gegensatz zur rationalen Psychologie des fünften Kapitels. Descartes ist hinsichtlich dieses Problems eigentlich unentschieden. Wolff bespricht vor allem seine spätere Position. Die erste stimmt weitgehend mit dem von Wolff als influxionistisches Modell behandelten Vorschlag überein. Vgl. Rainer Specht: Commeraum mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus. Stuttgart - Bad Cannstadt 1966, S. 59 ff. Siehe zusammenfassend: R. Specht: „Occasionalismus". In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Darmstadt 1984, S. 1090-91. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 475 f., § 763.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
derten würde (was mechanischen Grundannahmen widerspräche63), so lautet in Descartes' Fall der Einwand, Gottes Eingreifen würde zwar vielleicht nicht die Bewegung an sich, immerhin aber doch deren Richtung in unerlaubter Weise verändern.64 Die Maßgabe, das Geschehen in der Welt der Körper nach immanenten mechanischen Regeln erklären zu wollen, erweist sich somit als entscheidende Grundvoraussetzung seiner Philosophie: Mechanische Bewegungen können in ihrer Stärke und in ihrer Richtung nur von anderen mechanischen Bewegungen beeinflußt werden. Angesichts der aus diesen Annahmen sich ergebenden Probleme der laut Wolff nach wie vor verbreitetsten Theorien des Leib-Seele-Verhältnisses — den Influxionismus erklärt er zur populären, die Cartesischen Vorformen des Okkasionalismus zur philosophischen Legende - schließt sich Wolff dem Leibnizschen Vorschlag der prästabilisierten Harmonie an: Gott habe, da er die Fähigkeit besitze, aus der Anfangskonstellation der Welt heraus den Gesamtablauf der Dinge vorherzusehen, die Welt so einrichten können, daß die Geschehnisse in der Welt der Körper adäquat in der vorstellenden Tätigkeit der Seelen repräsentiert würden, ohne daß es einer unmittelbaren oder mittelbaren Wechselwirkung zwischen beiden Bereichen bedürfe.65 Das von Wolff zurückgewiesene Cartesische Modell, das von Malebranche später radikalisiert wird, stellt dennoch eine wichtige Alternative dar, vor allem weil es einen größere Nähe zu älteren (nämlich: scholastischen) Modellen des Umgangs mit Kontingenz aufweist. Das von Wolff Descartes zugeschriebene Postulat, Gott habe ein Geset^ erlassen, nach dem die gelegentlichen Verursachungsverhältnisse zwischen Körper und Seele zuverlässig statthaben, geht nun allerdings über dasjenige hinaus, was Descartes tatsächlich formuliert hat.66 Es erfaßt aber auch noch nicht die Positionen des eigentlichen Okkasionalismus, wie sie beispielsweise Malebranche repräsentiert. Denn bei Malebranche ist Gott die alleinige Ursache aller wirklichen Dinge, und jede beobachtbare scheinbare Ursache ist nur die okkasionelle Ursache eines von Gott allein mittels allgemeiner Gesetze verursachten Geschehens. 63 64 65
Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 472 ff., § 762. Wolff: Vernünftige Gedancken, S. 476 ff., § 746. Damit wird die Freiheit des Menschen zum Problem. Die Leibnizsche Metapher des Androiden (Körper), der aufgrund seiner Voreinstellung stets die Befehle seines Herrn (Geist) ausführen wird, erklärt besser als die Wolffsche Uhrwerksmetapher, wie gleichwohl Freiheit in zweifacher Hinsicht vorgestellt werden kann: Einerseits bleibt die ,Freiheit' des Herrn erhalten, insofern seine Befehle nur ,vorhergewußt' werden; andererseits bleibt neben der Parallele zwischen Innen und Außen, die hinsichtlich der Willensakte und der Wahrnehmung besteht - in der Apperzeption ein Bereich ausgespart, der der Parallelität enthoben ist (siehe Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 66 f.).
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Siehe Specht: Commercium mentis et corporis, S. 59 ff.
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700
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Hintergrund der theoretischen Bemühungen Malebranches ist das Problem, den qualitativen Unterschied zwischen der Unendlichkeit und Vollkommenheit des Schöpfers und damit auch des Schöpfungsakts einerseits und der endlichen Schöpfung, die im Grunde „Gottes nicht würdig"67 ist, andererseits zu überbrücken.68 Malebranche postuliert, Gott habe die Welt nur zum Zeugnis seines Ruhms erschaffen können und dieses Zeugnis werde letztlich durch seinen Eintritt in die Schöpfung in der Person Jesu Christi und die damit etablierte Gnadenordnung abgelegt, die die Kirche verkörpere. 69 Nur so kann die Überbrückung der qualitativen Kluft von Schöpfer und Schöpfung geleistet werden. Die Unvollkommenheiten der Welt werden erklärt, indem von Gott in seiner Weisheit behauptet wird, er könne nur auf den .einfachsten Wegen' handeln: Daraus muß man schließen, daß Gott, nachdem er in den unendlichen Schätzen seiner Weisheit eine Unendlichkeit von möglichen Welten als notwendige Folge des Gesetzes der Bewegungen entdeckt hat, die er einsetzen konnte, sich entschlossen hat, diejenige zu erschaffen, die sich mit den einfachsten Gesetzen würde erzeugen und erhalten lassen [...]. 70
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Nicolas Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade. Übers, u. hg. v. Stefan Ehrenberg. Hamburg 1993 [1680ff.], S. 11. Eine gute Übersicht über das Werk gibt Stefan Ehrenbergs Einleitung (S. VII-XLI; dort auch weitere Literaturhinweise). Siehe auch Specht: Commeräum mentis et corporis, und Rainer Specht: „Über .occasio' und verwandte Begriffe im Cartesianismus I". In: Archiv fir Begriffsgeschichte 16, 1972, S. 198-226, bzw. Rainer Specht: „Über ,occasio' und verwandte Begriffe im Cartesianismus II". In: Archiv für Begriffsgeschichte 17, 1973, S. 36-65, sowie Dominik Perler, Ulrich Rudolph: Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken. Göttingen 2000, S. 214-44. Ausführlich zu Malebranches Kausalitätstheorie siehe Steven Nadler: „Malebranche on Causation". In: S. N. (Hg.): The Cambridge Companion to Malebranche. Cambridge - New York - Melbourne u. a. 2000, S. 112-38. Nadler betont, daß der Okkasionalismus keineswegs nur vor dem Hintergrund des cartesischen Dualismus entstanden sei: „However, an)' close examination of Malebranche's arguments will easily show that the doctrine is supposed to follow not from some specific problem about interaction in a dualist system, but rather from general philosophical considerations of the nature of causal relations, from an analysis of the Cartesian concept of matter, and the essential ontological relationship between an omnipotent God and the created world that he sustains in existence." (S. 116.) Nadlers Analysen zeigen, wie genau Malebranche die unhintergehbaren Erklärungslücken (vorliegender) Kausalitätsmodelle aufdeckt und nur im Rückgriff auf ein okkasionalistisches Modell .füllen' kann — was letztlich natürlich bedeutet, sie gerade nicht konkret zu füllen. Auch das Buch von Perler und Rudolph zeigt, daß Malebranches Okkasionalismus eine durchaus grundsätzlichere Problemstellung bearbeitet als ,nur' die Leib-Seele-Problematik des Cartesianismus (Perler, Rudolph: Occasionalismus, S. 218-34, sowie pointiert S. 247 f., S. 17 ff.). So heißt es gleich zu Beginn: „Gott, der nur für seinen Ruhm handelt und ihn nur bei sich selbst finden kann, hat auch in der Erschaffung der Welt keine andere Absicht haben können als die Errichtung seiner Kirche." (Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 12.) Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 35.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
Daraus folgt insbesondere, daß es Gottes nicht würdig wäre, in besonderen Willensakten' auf die Welt einzuwirken: „Da Gott alles, was aus den natürlichen Gesetzen der Natur folgen mußte, sogar schon vor deren Einsetzung vorausgesehen hat, hätte er sie nicht einsetzen dürfen, wenn er sie hätte umstürzen müssen. Sie sind allgemein für alle Zeit und für alle Orte."71 Gegenüber Wolff ergibt sich nun aber bei Malebranche ein gänzlich anderes Modell insbesondere der Leib-Seele-Beziehung. Die Immanenz der mechanischen Gesetze wird in seinem Modell unterbrochen durch höhere Gesetzmäßigkeiten, die Ordnung der Natur ergänzt um eine Ordnung der Gnade.72 Neben einem Bereich mechanischer Verursachung, demjenigen Bereich also, der dem Zusammenhang der res externa entspricht, werden Verursachungsverhältnisse innerhalb des Geistes und zwischen Körper und Geist angenommen; hinzu kommen Verursachungen durch die Engel des alten Testaments und vor allem die durch Jesus Christus gezeitigten Gnadenwirkungen.73 Insofern kann gerade dasjenige, was man nicht mechanisch immanent erklären kann, als Anzeichen der göttlichen Gnadenordnung gedeutet werden. Die Metapher des Regenfalls ermöglicht es Malebranche, den Bereich der Ordnung der Natur mit demjenigen der Ordnung der Gnade zusammenzuschließen. So kann die Frage, weshalb der Regen nicht entsprechend den Erfordernissen des Ackerbaus fallt, sondern beispielsweise auch über dem Meer niedergeht, mit dem Verweis auf die notwendige Einfachheit der Naturgesetze erklärt werden.74 Zugleich ist der Regen aber auch Metapher für die Verteilung der Gnadenwirkung über die Menschheit: „Er [Gott] läßt den Regen der Gnade ebenso auf verstockte Herzen fallen wie auf vorbereiteten Bo-
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Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 39. - „Das Verhältnis des Willens zum Körper ist unter diesen Erklärungsbedingungen kein Risiko mehr, denn auf einen Willensschluß folgt, da Gott ,gesetzlich' funktioniert, stets die entsprechende körperliche Reaktion." (Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 44.) „Aber nicht, weil Gott diese Gesetze [die der Natur] ändert oder sich verbessert, sondern weil es zur Ordnung der Gnade gehört, der diejenige der Natur zu dienen hat, geschehen unter gewissen Umständen Wunder" (Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 42 f.). Ehrenberg: „Einleitung", S. XXTVf., unter Verweis auf Malebranches „Entretriens sur la Metaphys. et sur la Religion". Von Jesus Christus als der Gnadenursache handelt ausführlich der erste Teil des zweiten Hauptstücks (Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 81 ff.). Malebranche kommt dort zu dem Schluß, daß „nur Jesus Christus uns die Gnade verdienen kann" (S. 86). Genauer: „Wir haben bewiesen, daß die verschiedenen Wünsche der Seele JESU die occasionellen Ursachen der Gnade sind" (S. 115). Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 36. Siehe auch S. 45 f. Die scheinbare Kontingenz des Regenfalls dient in der ersten Erläuterung dann auch zur Erklärung des Grundsatzes, daß Gott nur durch allgemeine, nicht aber durch besondere Willensakte handeln kann. (S. 181 ff.)
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700
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den."75 Diese Verteilung ist nur scheinbar kontingent, in Wirklichkeit entspricht sie ebenso wie der eigentliche' Regenfall den Vorherbestimmungen der okkasionellen Ursachenordnung. Dabei ist die Tatsache, daß es überhaupt die Möglichkeit des Verfehlens der Gnade gibt, dem Umstand geschuldet, daß Gott, um die endliche Welt dennoch als eine Schöpfung zu seinem Ruhm einrichten zu können, eine Dynamik in Gang setzen mußte, die vom Sündenfall zur (von Gottes Ruhm kündenden) Erlösung durch die Ordnung der Gnade führt. 76 Nach den Gesetzen dieser Ordnung tritt die Göttlichkeit in Form der Gnadenursache Jesus Christus in die endliche Schöpfung wieder ein, und der Sündenfall — und damit die Möglichkeit des menschlichen Abfalls von der göttlichen Ordnung — ist nichts weiter als die Bedingung für diesen Wiedereintritt. Nur auf diese Weise, so Malebranche, habe Gott in seiner Weisheit die Welt zu seinem Ruhm erschaffen können. Die Tatsache, daß Gottes Weisheit seine Macht bindet77 und daß Gott „seine Weisheit mehr liebt als sein Werk", 78 rechtfertigt die scheinbare Unvollkommenheit der Welt. 79
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Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 60. Siehe auch S. 62 f., S. 69 f., S. 86. Hierzu Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S, 53 ff. „Der Grund hierfür [für die Tatsache, daß einige Menschen nicht erlöst werden, auch wenn Gott will, daß alle Menschen erlöst werden] ist, daß seine Weisheit ihn sozusagen machdos macht." (Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 59.) Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 59. Dem Menschen scheint diese Konzeption zunächst wenig Freiheit zu lassen: Kann im Rahmen von Malebranches okkasionalistischem Modell eigentlich noch von Sünde die Rede sein? Malebranche muß die Möglichkeit menschlicher Freiheit schon allein deshalb zugestehen, weil ansonsten Gott selbst die Sünden der Menschen anzulasten wären (vgl. hierzu und zum folgenden Elmar J. Kremer: „Malebranche on Human Freedom". In: Steven Nadler (Hg.): The Cambridge Companion to Makbranche. Cambridge - New York - Melbourne u. a. 2000, S. 190-219). Allerdings fuhrt er die Wahlmöglichkeiten des Menschen sozusagen auf ein Minimum zurück. Die menschliche Seele habe angesichts eines Begehrens immer die Möglichkeit, diesem Begehren zuzustimmen oder es abzulehnen (S. 197 ff.). Die menschliche Entscheidung wird dann zur okkasionellen Ursache göttlichen Wirkens, ohne daß sie ihm selbst zuzurechen wäre — womit sich Malebranche in eine vielleicht heikle Disrinktion rettet: Die Entscheidung des Menschen beinhalte, so betont er in späteren Schriften (S. 210 ff.), keine reale Veränderung seiner Person. (Letztlich ergibt sich auch diese Argumentation aus dem Umstand, daß Malebranche das Mißverhältnis zwischen dem allmächtigen Schöpfer und der unvollkommenen, in diesem Fall insbesondere sündigen Welt erklären muß.) Schließlich ist es für den Menschen entscheidend, daß er kein irdisches Gut als letzten Bezugspunkt seines Begehrens wählt, sondern Gott. Aus der Uneinsehbarkeit der Gnadenordnung ergibt sich für ihn die Konsequenz, sich in Angelegenheiten der Gnade ebenso verhalten zu müssen wie der Landwirt beim Bestellen seiner Felder: Er muß dem Wirken des möglichen Gnadenregens so gut wie möglich zuarbeiten und darf sich gerade nicht auf ein willkürliches Einschreiten Gottes ihm zuliebe verlassen (Malebranche: Abhandlung von der Natur und der Gnade, S. 66 ff.). Das bedeutet, daß die christliche Offenbarung an jeder Stelle zur Orientierung des eigenen Verhaltens dienen muß. Nur so kann letztlich garantiert werden, daß man keinem irdischen Begehren verfällt. Zugleich steht aber dem Menschen ein privilegierter Zugang zu Gott immer schon offen: Denn Gott ist
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
Auch wenn Specht die Nähe dieses Konzepts zum Wölfischen Harmonismus betont,80 sind die Unterschiede hervorzuheben. Die Nähe zwischen dem Konzept der prästabilisierten Harmonie und dem Malebrancheschen Okkasionalismus besteht darin, daß die göttliche Macht auf einen Punkt konzentriert wird, nämlich auf den Moment der Schöpfung. Gott hatte genau einmal die Gelegenheit, dasjenige, was sich aus menschlicher Perspektive der Notwendigkeit entzieht, festzulegen. Seine Allwissenheit und seine Allmacht erzwingen für beide Modelle die Allgemeinheit seiner Gesetze und den Ausschluß der Möglichkeit nachträglicher Korrekturen durch ,besondere Willensakte'. Im Gegensatz zu Leibniz und Wolff aber nimmt Malebranche miteinander interferierende Mechanismen der Verursachung an. Für ihn kann daher der diesseits zu beobachtende mechanische Zusammenhang der Dinge überformt werden durch einen zweiten, Gott gewissermaßen näherstehenden Zusammenhang. Zwar ist wie bei Wolff die göttliche Aktivität auf den initialen Akt beschränkt, doch bleibt im Lauf des weltlichen Geschehens eine der bloß mechanischen Ursachenkette übergeordnete Kausalitätsform präsent, nämlich die der Gnadenordnung. Der Mensch kann bei Malebranche unmittelbarer, als dies bei Leibniz und Wolff denkbar ist, an der göttlichen Vorsehung teilhaben, weil die Gnadenordnung auch in den scheinbar rein mechanischen Zusammenhängen der Welt wirksam ist. Damit bleibt bei Malebranche ein Modell intakt, das in der philosophischen Tradition mit dem Begriff der occasio schon lange verknüpft gewesen ist. Specht hat in seiner Studie über „Kausalvorstellungen im Cartesianis-
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laut Malebranche auch die Ursache aller unserer Gedanken, insofern sie mehr sind als bloße Sinneseindrücke. Für ihre Realisierung bieten wir ihm selbst immer nur die Gelegenheit. Gefaßt wird diese Argumentationsfigur als „Gedanke einer Ideenschau in Gott" (Specht: Commeraum mentis et corporis, S. 175). Hierzu und zu Malebranches Kontroverse mit Arnauld siehe Tad Μ. Schmaltz: „Malebranche on Ideas and the Vision in God". In: Steven Nadler (Hg.): Τhe Cambridge Companion to Malebranche. Cambridge - New York - Melbourne u. a. 2000, S. 59-86. Die Schau in Gott ist ein Konzept, das den Abgrund, der die Schöpfung laut Malebranche von Gott trennt, ebenso überbrückt wie der Wiedereintritt Gottes in die Schöpfung in Person seines Sohnes. Jede Beobachtung kann so zu einer okkasionellen Teilhabe am Göttlichen werden. Immer, wenn Geist erlebt wird, wird Göttlichkeit erlebt. Meditation ist bei Malebranche daher ein zentraler Begriff: Gerade auch das Zufallige kann meditativ als bedeutsam erlebt werden, denn gemäß der Regenmetapher ist gerade auch dasjenige von Bedeutung, was uns zufällt. - Zum Problem der Willensfreiheit bei Malebranche siehe Perler, Rudolph: Occasionalismus, S. 235-41. „Durch die Verbindung der göttlichen Providenz mit den allgemeinen Gesetzen und den occasionellen Ursachen [...] entsteht in Malebranches Philosophie die Auffassung von der Verkettung der Ereignisse, die Ähnlichkeit mit Leibnizens prästabilierter Harmonie besitzt: Gott bedient sich der allgemeinen Gesetze auf die glücklichste Weise; in dem Zusammenspiel aller Ursachen ist über unser Heil bereits entschieden, und alle Wirkungen sind so miteinander verbunden, daß die geringste Bewegung der Materie unzählige Ereignisse mitbestimmt, da jedes von unzähligen subordinierten Ursachen mitabhängig ist." (Specht: Commeraum mentis et corporis, S. 172 f.)
2. Kontingenz und Rahmen. Das Kausalitätsproblem in der Philosophie um 1700
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mus" und in seiner Begriffsgeschichte über die ,„occasio' und verwandte Begriffe" 81 umfassend dargelegt, wie einerseits Descartes eine Reihe von Konzepten, die in irgendeiner Weise defiziente Verursachungsverhältnisse beschreiben, aus der Scholastik übernimmt und wie andererseits eine Problemstellung, die sich aus seinem Dualismus ergibt, schließlich zu einem konsequenten Okkasionalismus führt. Auch wenn die jüngere Forschung dieser einseitigen ,Herleitung' des Malebrancheschen Okkasionalismus zurecht widersprochen hat, 82 ist der Verweis auf die scholastische Tradition wertvoll. Unter den Begriff der occasio werden hier nämlich bestimmte Arten von Quasi- oder Teilursachen subsumiert, d. h. Umstände, aus denen sich eine bestimmte .Wirkung' nicht notwendigerweise, sondern nur gelegentlich ergibt.83 Die Rede von dem gelegentlichen Auftreten von Wirkungen bezeichnet Stellen, an denen in einer angenommenen Kausalkette gleichwohl eine Erklärungslücke vorliegt; sie birgt mithin ein Moment von Kontingenz. Die providentielle Ordnung zeigt sich aber diesem alten Modell zufolge gerade darin, daß auch bei lediglich okkasionellen (Wechsel-)Wirkungen stabile Verhältnisse beobachtet werden, beispielsweise zwischen Körper und Geist. Da die occasio allenfalls eine TW/ursache für die zu beobachtende Wirkung darstellt, kann der ,Rest' des Verursachenden auf göttlichen Ratschluß zurückgeführt werden. Solche Implikationen sind im Wölfischen Modell nicht zu denken, denn hier ergibt sich aus der Eingangskonstellation ein bruchloses Kausalitätskontinuum. Wolff denkt eine Grenze, bis zu der hin sich prinzipiell die lückenlosen Verursachungsketten zurückverfolgen lassen, und abgesehen von dieser Grenze ist keine Unterbrechung der universalen kausalen Interdependenz innerhalb der Welt denkbar. Die Tatsache, daß zwischen Körper und Seele keinerlei Wechselwirkungen statthaben können, wird dem Modell der prästabilisierten Harmonie zufolge nur von der Erfahrung überdeckt, daß man die radikale Trennung bei der Betrachtung des ,Laufs der Welt' kaum bemerkt: Sie sind so gut aufeinander abgestimmt, daß sie unmittelbar zusammenzuhängen scheinen. Demgegenüber werden bei Ma81
Rainer Specht: „Uber ,occasio' und verwandte Begriffe vor Descartes". In: Archiv für Begriffsgeschichte 15, 1971, S. 2 1 5 - 5 5 ; Rainer Specht: „Über ,occasio' und verwandte Begriffe bei Zabarella und Descartes". In: Archivfiir Begriffsgeschichte 16, 1972, S. 1 - 2 7 ; Specht: „Über ,occasio' und verwandte Begriffe im Cartesianismus I"; Specht: „Über ,occasio' und verwandte Begriffe im Cartesianismus I I " .
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Siehe mit allem Nachdruck Perler, Rudolph: Occasionalismus, insbesondere S. 13—20, S. 2 4 5 - 5 8 . Perlers und Rudolphs Verdienst besteht insbesondere darin, die Nähe zwischen der islamisch-arabischen Tradition des okkasionalistischen Denkens, das eine theologische Theorie der Allmacht Gottes entwirft, und der scholastischen und später dann cartesischen Tradition aufzuzeigen.
83
V o n Specht angeführte verwandte Begriffe sind beispielsweise die causa per accidens und andere Formen mittelbarer oder defizienter Kausalität oder Begriffe wie dispositio, conditio, arcumstantia. Für eine Übersicht siehe Specht: Commercium mentis et corporis, S. 29 ff.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
lebranche die Ordnung der Natur und die Ordnung der Gnade gerade deshalb in ihrer Unterschiedenheit beobachtbar, weil das Eingreifen der höheren Ordnung der Gnade in die Ordnung der Natur Unregelmäßigkeiten, eben Sprünge, erzeugt — Gnadenwirkungen lassen sich nicht mechanisch erklären, und im Falle von Wundern wird dieses Erklärungsdefizit auch sichtbar. Daraus ergeben sich unterschiedliche Modellierungen des ,Rahmens', mittels dessen der Schöpfer sein ,Werk', die Welt, konstituiert. Nach Wolff ist der in der Welt befangene menschliche Beobachter dazu gezwungen, die scheinbar kontingenten Ereignisse auf die initiale Einstellung zurückzubeziehen, mit der die Weltmaschine in Gang gesetzt wurde. Diese Einstellung markiert die Grenze der kausalen Interdependenzen innerhalb der Welt - man könnte daher auch von der Schöpfung als einer initialen Rahmenset^ung sprechen. Doch wird der Mensch diese Zusammenhänge nur in sehr begrenztem Maß nachvollziehen können, d. h. er kann sich nur aufgrund einer abstrakt bleibenden Theodizee davon überzeugen, daß die Einrichtung der Welt sinnvoll und er in der bestmöglichen aller Welten aufgehoben ist. Die göttliche Entscheidung, die deren Schöpfung zugrundeliegt, muß für ihn aber kontingent bleiben, und es gibt keine Möglichkeit, der jeweils als kontingent angesehenen Gegebenheit weiteren Sinn abzugewinnen. Mit Malebranches Okkasionalismus hingegen bleibt diese Art der Sinnstiftung weiterhin möglich. Auch wenn Malebranche selbst nicht daran interessiert ist, demjenigen, was aus der Perspektive der Ordnung der Natur kontingent ist, in seinem potentiellen Bezug auf die Ordnung der Gnade konkret einen Sinn zu geben, kommt seine Theorie Bedürfnissen entgegen, einen stärker unmittelbaren Bezug zwischen kontingenter Wirklichkeit und göttlicher Providenz auszumachen, als dies dem Harmonismus möglich ist. Ist es dem harmonistischen Modell zufolge eigentlich gar nicht sinnvoll, das Kontingente, bloß gelegentlich sich Ereignende in Sinnzusammenhänge einzubinden, bewahrt Malebranches Okkasionalismus diese Möglichkeit, die auch die Topik systematisch nutzt. Damit kommt er dem Bedürfnis der (impliziten und expliziten) Poetiken des 18. Jahrhunderts entgegen, denen es darum geht, den Rahmen der literarischen Schöpfung und ihren Stellenwert innerhalb des (kontingenten) Zusammenhangs der Welt zu konstruieren und die gelegentliche Wirksamkeit des literarischen Textes zu modellieren. Er hat gewissermaßen mehr Potential, das Akkomodationsproblem aufklärerischer Literatur zu lösen, weil er dem Begriff der Gelegenheit einen systematischen Stellenwert zuerkennt, der ihm im Harmonismus verlorgengeht.
3. Okkasionelle Literatur um 1700 am Beispiel der Lyrik
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3. Okkasionelle Literatur um 1700 am Beispiel der Lyrik Bevor ich mich den Modellen von Kontingenz und Rahmung zuwende, die die allgemeinen Poetiken Gottscheds und anderer anbieten, sind einige Seitenblicke auf die Gelegenheitslyrik um 1700 und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nötig. Hier nämlich werden einzelne kontingente Vorkommnisse zur göttlichen Ordnung der Dinge in Beziehung gesetzt, und es kommen dadurch basale Mechanismen der literarischen Bezugnahme auf den metaphysischen Rahmen zum Tragen. Wie die Lyrik an der metaphysischen Überformung des Begriffs der Gelegenheit arbeitet, läßt sich einerseits am Beispiel der Gelegenheitsdichtung im klassischen Sinne und andererseits an bestimmten Sorten von Naturlyrik bzw. der occasional meditation zeigen. Ich wähle diese Beispiele aus, weil hier sowohl die Orientierung an der Kommunikations- bzw. Produktionssituation der Texte als auch die Orientierung an der providentiellen Ordnung der Dinge unmittelbar studiert werden können. Es wird sich zeigen, welche Umstellungen die aufklärerische Kritik an der Topik in diesem Bereich erfordert. Die Gattung, an der sich paradigmatisch die Einbindung der Literatur in eine unmittelbare Kommunikationssituation beobachten läßt, ist die Gelegenheitsdichtung. 84 Wenn Gottsched als ihr Namensgeber sie nicht als eigene Gattung fassen mag, 85 so gibt es auch in den ihm vorangehenden Poetiken ausgehend von Opitz nur die Möglichkeit, Gedichte dieser Art gemeinsam mit anderen ,kleinen' Textformen unter dem von Statius herrührenden Begriff der ,Silven' zusammenzufassen, und zwar nach dem von Aristoteles übernommenen Prinzip der Einteilung der Gattungen nach Themen. 86 Entscheidend für die Fragestellung dieser Arbeit ist der Umstand, daß in der Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts der Orientierung der Texte auf den Anlaß und die Umstände der Produktion eine Orientierung auf die Ordnung der Dinge entspricht: Die Anlässe, aus denen die Dichtung hervorgeht, werden überhöht und auf eine Ebene bezogen, die
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Nach wie vor grundlegend hierzu ist die Darstellung von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag ^ur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. Siehe auch Wulf Segebrecht: „Gelegenheitsgedicht". In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschafi. Bd. 1. Berlin - New York 1997, S. 688-91. Siehe II1.4. Siehe ausführlich Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 93 ff. und Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder. Heidelberg 1988, S. 127-31. Bei Opitz' Nachfolgern zeichnet sich eine Tendenz ab, nahezu jede Dichtung der Gelegenheitsliteratur einzugemeinden. Dies zeigt Segebrecht insbesondere anhand der Poetiken von Omeis, Rotth und Weise (Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 108 ff.).
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
den Partikularitäten und Kontingenzen der Welt übergeordnet ist.87 Dies muß die sozialgeschichtliche Analyse der Gelegenheitsdichtung stets berücksichtigen.88 Denn der Orientierung an der sozialen Ordnung ist eine Orientierung an der Ordnung der Dinge implizit - schließlich wird in
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So schreibt Uwe-K. Ketelsen: „Die Krise der Gelegenheitspoesie in der deutschen Frühaufklärung und die Rede von der .wahren Poesie' - Christian Gryphius' ,Uber seiner Schwester / Junger Annä Rosinä Gryphien / Absterben' als Exempel". In: Walter Baumgartner (Hg.): Wahre lyrische Mitte — „Zentrallyrik"? Ein Symposium %um Diskurs über Lyrik in Deutschland und in Skandinavien. Frankfurt/M. - Berlin - Bern u. a. 1993, S. 33-49, hier S. 35 f.: „Die in ihrem Umfang unübersehbare Produktion von Gelegenheitsgedichten hatte ihre poetologische wie ihre soziale Rechtfertigung u. a. in ihrer Repräsentationsfunktion gefunden; diese basierte mittlerweile darauf, mithilfe operationalistisch verkürzter und mechanisierter Inventions-Verfahren ein vorfallendes singuläres Ereignis und die daran beteiligten Personen als .casus' zu generalisieren und d. h. aussagefahig zu machen. Im Prinzip behandelte sie also Einzelnes als die Repräsentation des Allgemeinen." Entsprechend benennt Ketelsen die Gründe der Krise der Gelegenheitsdichtung ab 1700: „Als im Prozeß der Modernisierung Ende des 17. Jahrhunderts die Vorstellungen von einer Ordnung universeller Korrespondenzen zerbrachen, da verloren auch die generalisierenden Verfahren [...] ihre weltanschauliche Ummantelung, und die grenzenlosen Zeichensysteme, die den unbeschränkten Gebrauch der Tropen ermöglicht hatten, wurden endlich zu jenen konventionellen Regelwerken, die sie schon immer gewesen waren." (S. 36.) Die Konsequenz wird dann ausführlich an Christian Gryphius' Gedicht erläutert: „die an der .occasio' Beteiligten fanden (zunächst als Thema, aber schnell auch als Sprechende) keinen legitimen Platz mehr in der Poesie! Und umgekehrt: in der Poesie ließ sich über die Person und ihren Fall nicht mehr sagen, was doch — aus welchen Gründen auch immer - gesagt werden sollte." - Drux betont, „daß weder die Klassische Philologie noch die Mediaevistik mit dem Begriff ,Kasualpoesie' viel anzufangen wissen, deren Voraussetzungen in einer Zeit, die noch keine eigene Lyrik-Theorie entwickelt hat, im wesentlichen für alle Dichtungsarten gelten" (R. Drux: „Gelegenheitsgedicht". In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Darmstadt 1996, S. 653-67, S. 655). Auch Drux konstatiert die Repräsentationsfunktion der Gelegenheitsdichtung im Absolutismus: „Der Dichter repräsentiert den Fürsten und die ihn tragende Ordnung, dafür wird er besoldet, geschützt und gesellschaftlich anerkannt." (S. 656.) Ähnlich wie Segebrecht liefert Drux einen Uberblick über die auf Kategorien der Rhetorik sich stützenden Anleitungen zur Verfertigung eines Gelegenheitsgedichts (S. 656—58), dann eine Geschichte des Gelegenheitsgedichts von seinen antiken Ursprüngen an (S. 658-66). „Dem Wunsch des Adressaten, daß sein Andenken für die Nachwelt bewahrt und sein Ansehen bei der Mitwelt gesteigert werde, kommt das Gelegenheitsgedicht] aufgrund seiner repräsentativen Funktion nach, die Teilhabe des Besungenen an der universellen, dem göttlichen Kosmos analogen Ordnung aufzuzeigen". Aber: „Als die Repräsentativität der exzeptionellen Ereignisse im Leben des einzelnen nicht mehr verstanden wurde, verlor das Gelegenheitsgedicht] seine ideologische Basis." (S. 663.) Zunächst kommt es zu einer Übersteigerung des Schemas, dann zur Kritik im Namen der Emanzipation des Subjekts. - Hierzu siehe auch Rudolf Drux: „Casualpoesie". In: Harald Steinhagen (Hg.): Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, barock. 1572-1740 (= Deutsche Literatur. Eine So^algeschichte, Bd. 3). Reinbek bei Hamburg 1985.
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In diesem Sinn spricht Stanitzek in einem Kapitel über die „Kette der Wesen" von einer „Abbildbarkeit der metaphysischen auf die soziale Hierarchie" (Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Indimduums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989, S. 71; ausführlich zu diesem Zusammenhang S. 67-82).
3. Okkasionelle Literatur um 1700 am Beispiel der Lyrik
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einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft die Gesellschaftsordnung als gottgegeben vorgestellt. Detailstudien wie Schönes Versuch einer „sozialgeschichtlichen Entzifferung" eines Gedichts von Simon Dach, der „Klage über den endlichen Vntergang Vnd ruinirung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens. 13. Jan. 1641", haben beide Seiten dieser Konstellation in vorbildlicher Weise rekonstruiert.89 Die Einbindung in die Wirklichkeit, die insbesondere der Titel des Gedichts markiert, funktioniert zugleich als Bezugnahme auf die göttliche Providenz, für die das Gedicht Zeugnis ablegt.90
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Ausgehend von sehr akribischen Recherchen über den Anlaß des Gedichts (die Zerstörung der von dem Domorganisten Heinrich Albert eingerichteten Kürbishütte anläßlich eines Straßenbaus), die vielschichtig die Königsberger Stadtgeschichte und die Einbindung des Dichters in die Stadtgesellschaft nachzeichnen, zeigt Schöne auf, wie das Gedicht zugleich eine metaphysische Ordnungsfunktion bedient. Es zeigt sich, daß die emblematische Bedeutung des Kürbis (sein schnelles Wachstum, aber ebenso schnelles Vergehen signalisiert die Vergänglichkeit der diesseitigen Dinge) auf eine sehr komplexe Art und Weise vom Text instrumentalisiert wird. Hintergrund dieser Bedeutungszuweisung ist eine Stelle aus dem Buch Jona (Albrecht Schöne: Kiirbishütte und Königsberg. Modellversuch einer so^algeschichtlichen Ent^fferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. München 1975, S. 17 ff.). Schöne betont die alltagsweltliche Relevanz der Emblematik, aufgrund derer sie sich für die Gelegenheitsdichtung als sinnstiftende Struktur anbietet: „Was die Emblemata auf diese Weise bewirkten, kann man wohl als Vermitdung eines Weltverständnisses bezeichnen, welches innerhalb des jeweiligen Erfahrungshorizontes das Seiende als ein Bedeutendes begreift und es als solches auf die eigene Existenz bezieht: als eine Anleitung also zur Sinngebung der Lebenswirklichkeit, die der menschlichen Angst vor der Zusammenhangs- und Sinnlosigkeit des Daseins begegnet." (S. 18.) In seiner umfassenden Untersuchung zur Emblematik der frühen Neuzeit betont auch Scholz, daß das „Funktionieren des [...] emblematischen Symbolsystems [...] das Bestehen einer Interpretationsgemeinschaft" voraussetze (Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 41).
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Zur Diskussion des sozialhistorischen Hintergrundes der Gelegenheitsdichtung begnüge ich mich mit einem Verweis auf die Forschung. Wichtig sind für die sich verstärkende Relevanz der Casualpoesie in der frühen Neuzeit vor allem Entwicklungen im Bereich der höfischen Kultur und der Gelehrsamkeit: „Zwei sozialgeschichtliche Faktoren beeinflussen im wesentlichen die Reaktivierung der Kasualpoesie in der Renaissance und treiben ihre an der Textmenge, Gattungsvielfalt und Multifunktionalität zu erkennende Blütezeit im Barock hervor: die höfische Ausrichtung des Dichters und seine Einbindung in einer sich überregional organisierenden res publica literaria" (Drux: „Gelegenheitsgedicht", S. 661.) Allerdings ergibt sich vor dem Hintergrund einer weiteren sozialgeschichtlichen Transformation eine erneute Schwerpunktverschiebung. So konstatiert Ketelsen für die Zeit um 1700 eine bürgerliche Vereinnahmung der Gelegenheitsdichtung: Auch die Bürger nutzen diese Art der Repräsentation und imitieren so feudale Strukturen, um ihren gesellschaftlichen Anspruch zu untermauern: „wohlhabend gewordene Bürger machen [...] auf diese Weise aus den privaten Ereignissen ihres bürgerlichen Lebens öffentlich-repräsentative" (Uwe-K. Ketelsen: „Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch. Die Kritik an der bürgerlichen Gelegenheitspoesie in der frühbürgerlichen Literaturdiskussion". In: Lessing-Yearbook 13, 1976, S. 89-107, S. 96). (Hierzu auch die sozialhistorische Fallstudie von Jan Drees: Die sociale Funktion der Gelegenheitsdichtung. Studien %ur deutschsprachigen Gelegenheitsdichtung in Stockholm \wischen 1613 und 1719. Stockholm 1986.) Der steigende Bedarf führt zu einer „Mechanisierung des Schreibens" (Ketelsen: „Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch", S. 98)
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
Diesen Zusammenhang veranschaulicht ein Charakteristikum der Gelegenheitsdichtung, auf das oft hingewiesen worden ist: ihre ,Schablonenhaftigkeit', die sich in merkwürdiger Weise von ihrer Selbstbeschreibung als dem Moment geschuldete und vorläufige Schreibweise abhebt.91 Die Betonung der Unmittelbarkeit der poetischen Reaktion auf den Anlaß des Gedichts und die Betonung seiner Unvollkommenheit sind von Segebrecht als Strategien beschrieben worden, zugleich das Lob des Adressaten und das Selbstlob des Dichters zu steigern.92 Folgt man dieser Beschreibung, so steht der Topos der .fliegenden Feder', dem Segebrecht ein Kapitel seiner Arbeit widmet,93 im Dienst einer rhetorischen Strategie, die der unmittelbaren kommunikativen Situationsbindung der Gelegenheitsdichtung geschuldet ist. Bedenkt man allerdings den Stellenwert der occasio in der (nicht nur okkasionalistischen) Philosophie und die Orientierung der Gelegenheitsdichtung an kosmologischen Zusammenhängen, so ergibt sich zugleich eine andere Deutungsmöglichkeit. Denn insofern es der Gelegenheitsdichtung darum ging, den Ort des Adressaten (oder des geschilderten Vorkommnisses) in der Ordnung der Dinge zu bestimmen, bot sich die Semantik der occasio geradezu an, insofern sie es ermöglicht, ein Ereignis auf die Providenz zu beziehen.94 Prinzipiell wird die Gelegenheit als unvorhersehbares Ereignis beschrieben, wie es die Allegorie der immer
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und zur Transformation des Gedichts zur Ware - beide Tendenzen fallen dann aber der bürgerlichen Kritik selbst anheim. Der Repräsentationsgestus gilt als .falsch' und verlogen, die Vermarktung, die interessanterweise zu einer „veränderten Dedikationspraxis" (S. 102) führt (Subskription), koppelt den monetären Wert der poetischen Produktion vom ,eigentlichen', poetischen Wert ab. So entwickeln sich „ex negativo aus einer fundamentalen Kritik der Gelegenheitspoesie vorsichtig Prinzipien einer .echten' Poesie" (S. 100). So schreibt Drux: „Gelegenheitsgedicht", S. 655: „Dabei kann ein Blick auf die kausalpoetische [sie] Praxis nicht darüber hinwegsehen, daß das tatsächliche, also nicht-fiktive Geschehen, das der Text wiedergibt, nur selten als Eilmeldung verbreitet werden muß. Das aufgegriffene Ereignis, das aus dem Lebensalltag herausragt, wird nämlich, weil institutionalisiert, erwartet". Wenn ein überdurchschnittlich gelungenes (weil nach den Regeln der Kunst verfertigtes) Gedicht als unangemessen ausgegeben wird, weil es angeblich in Eile abgefaßt worden ist, so erlaubt dies einen Umkehrschluß, denn dann kann das dem Adressaten eigentlich zukommende Lob als weitaus vollkommener vorgestellt werden; zugleich erscheint der Dichter als jemand, der eigentlich auch dazu fähig wäre, ein dem Adressaten in seiner Vollkommenheit angemessenes Gedicht zu verfassen - hätte er nur die Zeit dazu (Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 207 ff.). Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 207 ff. Dort finden sich auch umfassende Quellenhinweise. Nicht zuletzt ermöglicht die angebliche Spontaneität der Produktion die Zuschreibung göttlicher Inspiration. Vgl. am Beispiel der „Silvae" des Statius die Überlegungen von Adam: Poetische und Kritische Wälder\ S. 34-39.
3. Okkasionelle Literatur um 1700 am Beispiel der Lyrik
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flüchtigen Göttin Gelegenheit verdeutlicht.95 Als Gelegenheit wird etwas immer erst dann mit Sicherheit erkennbar, wenn es kontingenterweise seine Wirkung schon erzielt hat — oder wenn man bereut, die Gelegenheit nicht genutzt zu haben. Dieser Semantik verpflichtet sich auch die Gelegenheitsliteratur: Gerade das gelegentlich Produzierte hat zu erweisen, daß die Gelegenheit, aus der es hervorgegangen ist, ihren Platz in der providentiellen Ordnung hat, und das Gedicht tut dies nicht zuletzt kraft seiner Existenz selbst. Denn das Gelingen des Gelegenheitsgedichts bestätigt, daß es selbst und die Gelegenheit, der es entsprungen ist, an der vorherbestimmten Ordnung teilhaben. Die soziale Ordnung, innerhalb derer sich Gelegenheiten als Sozialreferenzen der Literatur situieren lassen, wird so mit der Heilsordnung verknüpft. Für die Texte bedeutet dies einerseits, daß sie immer in eine vorgegebene Ordnung eingeschrieben werden und ganz im Rahmen der emblematischen Tradition topische Deutungsmuster für ihre Zwecke nutzen können. Andererseits erweisen sich gerade solche Gelegenheiten als tauglich für die Gelegenheitsdichtung, die sozusagen existentielle Schwellensituationen betreffen - was vielleicht die Häufigkeit von Hochzeits- und Bestattungsgedichten erklärt. Angesichts dieser Figuration zählt die Behauptung, in Eile produziert zu haben, ebenso zu den Gelingensbedingungen der Gelegenheitsdichtung wie die Behauptung, der Text sei nicht vollkommen: Nur das in Eile Produzierte kann als dasjenige erkannt werden, was im Moment seines Erscheinens den Blick auf die göttliche Ordnung freigibt, nach der es scheinbar kontingenterweise in der Welt seinen Platz findet. Ob das gelegentlich Produzierte sein Ziel erreicht, beruht dann auf göttlichem Ratschluß. Vollkommenheit kann das Gelegenheitsprodukt nur erlangen, insofern es ,ankommt', d. h. der Ordnung, auf die es sich hinschreibt, auch entspricht. Es konstituiert sich als Vorgriff auf diese Entsprechung, also als Adresse; es bedarf, um vollkommen zu werden, der Ergänzung.96 Dies wird allerdings nicht nur im Topos der ,fliegenden Feder' reflektiert. Exemplarisch mag hier ein Gedicht von Johann Ulrich von König herangezogen werden, das in Breitingers „Critischer Dichtkunst" untersucht wird.97 Es trägt den Titel „Der befriedigte Elbe=Strohm durch die 95
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Hierzu sehr materialreich Horst Rüdiger: „Göttin Gelegenheit. Gestaltwandel einer Allegorie". In: arcadia 1, 1966, S. 121-66. Rüdiger geht der oaasio bzw. ihrem griechischen Vorgänger, dem καιρός, ausgehend von Goethes vierter Römischer Elegie, über zwei Jahrtausende hinweg nach. Vielleicht ist es daher gar nicht so verwunderlich, daß die Gelegenheitsdichtung gerade in pietistischen Kreisen, in denen die Frömmigkeit mit zahlreichen literarischen Gattungen in Konflikt gerät, dennoch Bestand hat. Über diesen Tatbestand wundert sich Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit derfrühen Aufklärung. Tübingen 1989, S. 139 ff. Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Faksimikabdruck nach der Ausgabe von 1740, Bd. 1. Stuttgart 1966, S. 145 ff. — Eine Studie über die höfische Inszenierung des Todes der
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
abermahlige glückliche Geburt eines Chur=Sächs. Printzen, in Pillnitz, 1721 "98 u n c j j s t deswegen aufschlußreich, weil es selbst auf die Produktions- und Wirkungsweise der Gelegenheitsdichtung zu Sprechen kommt. Anläßlich der Geburt des erhofften Thronfolgers gibt das Gedicht einen Rückblick auf die ein Jahr zurückliegende Trauer über den Tod des erstgeborenen Prinzen. Es beginnt mit der Totenklage des Elbgottes: Verblüht es schon so schnell, was hilfts, daß unser Hoffen Daß unser aller Wunsch, so glücklich eingetroffen? So rief der Elbestrohm, als uns vor einem Jahr Ein erstgebohrner Prinz zu schnell entzogen war"
Das Gedicht beschreibt dann, wie dieses Gelegenheitsgedicht im Gelegenheitsgedicht von der „Schickung, welche dieß mideidend angesehen", erhört wird, die wiederum der „allzeugenden Natur Befehl" erteilt, Daß, eh die Sonne noch durch die zwölf Häuser rückt, Man wieder einen Prinz für Sachsenland erblickt. 100
Das Gedicht beschreibt so nicht nur die Produktionssituation von Gelegenheitsdichtung, sondern auch die Bedingungen, unter denen Gelegenheitsdichtung gelingen kann: Sie bedarf der Bestätigung durch eine metaphysische Instanz, die eine kosmische Harmonie repräsentiert. Entsprechend folgt auf den Dialog zwischen dem Elbgott und der Schickung eine ausführliche allegorische Schilderung der „alles bildende[n] selbst= würkende[n] Natur",101 die nun auf den Befehl der Schickung „ihre ganze Kraft in einen Kern zu zwingen"102 versucht, indem sie den zweiten Prinzen mit den besten und edelsten Eigenschaften ausstattet. Der Trauer der Menschen um den Tod des erstgeborenen Prinzen, die dem Elbgott durch jene „Fluth von Tränen" angezeigt wird, die Dresden seinem „Strand" „zugesandt"103 hat, entsprechen dem Entwurf des Gedichts zufolge die Trauer und das Mideid metaphysischer Instanzen. Dem Ausdruck der Klage, den ein ,menschliches' Trauergedicht zu leisten hätte, korrespondiert die Klage des Elbgottes, die wiederum einen Nachhall im
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Preußischen Königin Sophie Charlotte, der Gattin Friedrichs I., die 1705 verstarb, liefert Uwe Steiner: „Triumphale Trauer. Die Trauerfeierlichkeiten aus Anlaß des Todes der ersten preußischen Königin in Berlin im Jahre 1705". In: Forschungen ψ brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge 11.1, 2001, S. 23-52. Der Preußische Zeremonienmeister Johann von Besser, der sich auf dem Gebiet der Gelegenheitsdichtung in ganz besonderer Weise hervorgetan hat, spielt hier eine entscheidende Rolle. Das Gedicht findet sich in Johann Ulrich von König: Oes Herrn von Königs Gedichte aus seinen von ihm selbst verbesserten Manuscripten gesammelt und herausgegeben. Dresden 1745, S. 74—84. König: Des Herrn von Königs Gedichte, S. 74. König: Oes Herrn von Königs Gedichte, S. 75. König: Des Herrn von Königs Gedichte, S. 76. König: Des Herrn von Königs Gedichte, S. 78. König: Des Herrn von Königs Gedichte, S. 74.
3. Okkasionelle Literatur um 1700 am Beispiel der Lyrik
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Handeln der Schickung und der Natur findet. Der Tod des erstgeborenen Prinzen erweist sich so im Nachhinein als Verheißung der kommenden Wiedergutmachung. Indem es beschreibt, wie in der Vergangenheit die Klage des Elbgottes ihre Wirkung erzielt hat, apostrophiert Königs Gedicht eine schicksalhaften Verbindung; es kann so dem Geschehen einen Sinn in der Ordnung der Dinge zuweisen und es als Anzeichen der göttlichen Providenz verstehen. Abschließend versucht es daher, aus der Geburt des Prinzen eine Verheißung des zukünftigen Glücks abzuleiten, das der neue Prinz über das Land bringen wird. Diese Apostrophe allerdings bleibt ihrerseits auf die nachträgliche Bestätigung des Schicksals angewiesen, weshalb die Verheißung wiederum einer metaphysischen Instanz, nämlich dem Elbgott, in den Mund gelegt werden muß.104 Insofern das Gedicht an eine solche Instanz appelliert und gewissermaßen ihre Antwort erwartet, vollzieht es die Figur einer Fremdadressierung. Zeichnet sich die klassische Gelegenheitsdichtung durch eine doppelte Adressierung aus - die soziale Adressierung wird mit einer Adressierung metaphysischer Instanzen verbunden, die Logik des prooemium also, ähnlich wie bei Gottsched, mit einer Logik der invocatio, so entwickelt sich spätestens zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Form der okkasionellen Lyrik, die die soziale Dimension gänzlich ausblendet: Die Gattung der ,Zufälligen Betrachtungen',105 die zurückgeht auf Joseph Halls „Occasional Meditations" (1630).106 Diese im 17. Jahrhundert in England und kurze Zeit später auch in Deutschland höchst einflußreiche Art meditativer Dichtung, in deren Tradition noch Brockes' „Irdisches Vergnügen in Gott" (1721 ff.) steht, überführt überkommene allegorische Deutungsmuster der Natur in eine spezifisch neuzeitliche Form religiöser Dichtung.107 Gerade dasjenige, was dem Individuum zufällt, kommt ihm gelegen, erbauliche Gedanken über Gott zu entfalten. Am Zufälligen, an demjenigen, was gerade nicht in seiner Ursächlichkeit erklärt werden kann, läßt sich der allgemeine Ratschluß Gottes am besten ablesen — man denke an Male104 „Und fing, was er vorhin zu keiner Zeit gethan, / Ganz aus sich selbst entzückt, wie folgt, zu dichten an." (König: Des Herrn von Königs Gedichte, S. 81.) 105 Gerhard Kurz: „Zur Bedeutung der .Betrachtung' in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts". In: Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der frühen Neuheit. Göttingen 2000, S. 219-50, S. 238 ff. 106 Auf Hall hat vor allem die Arbeit von Martz aufmerksam gemacht, der umfassend Schriften zur Meditation, insbesondere erbauliche Anleitungen, untersucht (Louis L. Martz: The Poetry of Meditation. A study in English religious literature of the seventeenth century. New Haven London 1954). Zu den „Occasional Meditations" und ihrer Rezeption in Deutschland siehe auch Udo Sträter: Sontham, Bayly, Dyke und Hall. Studien %ur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 9 6 - 1 0 1 . Sträter hebt insbesondere die emblematische Struktur dieser Textsorte hervor (S. 97 f.). 107 Siehe zum folgenden die Darstellung bei Kurz: „Zur Bedeutung der .Betrachtung'", S. 238 ff.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
branches Regen-Beispiel. Das Gedicht wendet sich an einen zufällig begegnenden Gegenstand, bei dessen Gelegenheit göttliche Wahrheit empfunden wird. Dieses Modell konzipiert eine poetische Teilhabe am Göttlich-Providentiellen: Die göttlich gestifteten Gedanken, die das Gedicht ausdrückt, lassen sich als Ergebnis und Bestätigung der Providenz lesen. Eine ausführliche Darstellung der Gattung der ,Zufälligen Betrachtungen' in Deutschland hätte im einzelnen zu untersuchen, welche Möglichkeiten der Relationierung zwischen welchen Arten von Gelegenheiten und der Ordnung der Dinge sich im Laufe der etwa einhundert Jahre, innerhalb derer die Gattung im Schwange gewesen ist, aktualisiert haben. 108 Es ist davon auszugehen, daß bestehende allegorische Lektüreverfahren des Buchs der Natur übersteigert, universaüsiert und auch auf alltäglichste Gegenstände angewandt wurden, sich gerade darin aber auch auflösen konnten. 109 Die meditative Begegnung mit der Natur verbindet zunehmend — dies leisten bereits Harsdörffer und Scriver — die individuelle Erinnerung und das alltägliche Erlebnis mit einer allgemeinen Deutung. So erhöht sich das identifikatorische Potential der Gattung. 110 Nehmen die „Occasional Meditations" gegenüber der klassischen Gelegenheitsdichtung bereits Abstand von einer unmittelbaren socialen Situierung, so kommt es im Laufe der Entwicklung zudem zur Auflösung der klassischen Formen der Allegorese, die mit dem bereits skizzierten Verlust der Topik an unmittelbarer Wirkmächtigkeit zusammenhängt.111
108 Wie Kurz rekonstruiert, verläuft die Rezeption der Hallschen meditations insbesondere über Harsdoerffer und Christian Scriver. Zu Scrivers erbaulichen Schriften siehe Dietmar Peil: Zur „angewandten FLmblematik " in protestantischen Erbauungsbüchern. Dilherr — Arndt — Franäsd — Scriver. Heidelberg 1978. Siehe hierzu aus protestantisch-theologischer Sicht Straten Sontham, Bayly, Dyke und Hall. 109 Den „Verfall geistlicher Allegorese im frühen 18. Jahrhundert" skizziert Martens: Uteratur und Frömmigkeit, S. 214 ff., ausgehend von dem Beispiel eines Gedichts im Klavierbüchlein von Anna Magdalena Bach, das „Erbauliche Gedanken eine Tobackrauchers" (S. 214) enthält, von der äußeren Form der „erbaulichen Gedanken" aber einen zutiefst ironischen Gebrauch macht, so daß hier, aber eben nicht nur hier, das Geschäft der Auslegung sich „zu einer Art Gesellschaftsspiel" verselbständigt. Martens rekonstruiert eine Tradition der „Tabaks- und Tabakspfeifenpoesie" (S. 220). Seine Darstellung läßt darauf aufmerksam werden, daß im Prinzip der occasional meditation eine solche Trivialisierung ein Stückweit angelegt ist. Andererseits führt sie eben auch zu Projekten wie dem von Brockes. 110 Kurz: „Zur Bedeutung der .Betrachtung'", S. 240. 111 Das liegt daran, daß im Grunde die „Praxis allegorisch-emblematischen Sprechens [...] besonders der Rezeption naturwissenschaftlicher, vor allem empirischer Tendenzen problematisch erscheinen" muß (Uwe-K. Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung: alter Universalismus und neues Weltbild. Stuttgart 1974, S. 61). - Daß der damit bezeichnete Übergang von der Gelegenheitsdichtung zur physikotheologischen Dichtung keinesfalls abrupt war, zeigt beispielsweise Brockes' Tätigkeit als Gelegenheitsdichter, die auch seine spätere und bekanntere Arbeit noch begleitet (siehe Uwe-K. Ketelsen: „Barthold Heinrich Brockes als Gelegenheitsdichter". In: Hans-Dieter
3. Okkasionelle Literatur um 1700 am Beispiel der Lyrik
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Spätformen -wie Brockes' Gedichte stellen sich einer durch die Aufklärung veränderten Situation. Die Allgemeingültigkeit, die vormals durch die Einordnung des zufälligen (Natur-)Erlebens mittels der Topik vorgenommen werden konnte, muß nun durch andere Verfahren hergestellt werden. Brockes' Gedichte orientieren sich in einer sensualisüsch anmutenden Grundlegung112 an Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung — wenn auch, um sie, so Ketelsen, im Interesse einer lutherischen Orthodoxie 113 in ein nicht-mechanistisches Bild der Natur einzufügen: „die Frage nach dem Gesetz in den Dingen wurde immer nur gestellt im Hinblick auf die Frage nach dem Gesetz hinter den Dingen".114 Es wäre im einzelnen nachzuzeichnen, auf welche theologischen Hintergrunddiskussionen, populärwissenschaftlichen, insbesondere physikotheologischen Deutungsfiguren die Texte jeweils bezogen sind.115 Jedenfalls kommt es spätestens bei Brockes zu einer Universalisierung des naturkundlichen Interesses. Diese zieht nur scheinbar eine Abkehr von der symbolischemblemaüschen Erschließung der Natur nach sich,116 auch wenn sie zu einer Abstraktion von konkreten Glaubensinhalten führt. Denn die Betrachtung der Natur bezieht sich nicht mehr auf einzelne konkrete Memorate, sondern dient nur mehr dem abstrakten Erweis der finalen Anordnung der Natur und der Wirkmächtigkeit des Schöpfers mit seinen Attributen der Allmacht {potentia), der Allwissenheit (sapientia) und der allumfassenden Fürsorglichkeit (Providentia).117 Brockes Verfahren hat denn auch
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Loose (Hg.): Barthold Heinrich Brockes (1680— 1747). Dichter und Ratsherr in Hamburg. Neue Forschungen Persönlichkeit und Wirkung. Hamburg 1980, S. 163-89). Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühauflzlärung, S. 140 ff. „Es gilt zu erkennen, daß der Naturbegriff bei Brockes, auch dort, wo es aussieht, als verliere er sich in der Deskription des Sichtbaren, immer [...] ein metaphysischer ist, daß die Hinwendung zum Sichtbaren den spezifischen Gottesbegriff der Orthodoxie immer einschließt" (Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, S. 36). Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühauflzlärung, S. 87. Martens macht im Zusammenhang mit Brockes auf die ungemein vielfältige Differenzierung der Physikotheologie um 1700 aufmerksam (Martens: Literatur und Frömmigkeit, S. 262 f.). Zur Physikotheologie siehe auch Stanitzek: Blödigkeit, S. 67-71, zur Bedeutung der Physikotheologie für Brockes siehe Carsten Zelle: „Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluß der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes' Irdisches Vergnügen in Gotf'. In: arcadia 25.3, 1990, S. 225—40. Ähnlich Martens: Literatur und Frömmigkeit, S. 269 ff. Martens zeigt in diesem Zusammenhang, daß darin die Zweideutigkeit des physikotheologischen Verfahrens liegt: Implizit arbeitet man - trotz gegenteiliger Absichten - einer weiteren Mechanisierung des Weltbilds zu (S. 272). Auch wenn sie nach Zeichen des Göttlichen sucht, ist Martens zufolge diese Hinwendung zur Natur als eine Hinwendung zum Diesseits von einer großen geistesgeschichtlichen Bedeutung (Martens: Literatur und Frömmigkeit, S. 266). Unter den göttlichen Attributen, die auf diese Weise in der Natur ausgewiesen werden, kommen laut Ketelsen in erster Linie die sapientia und die Providentia dem Verfahren Brockes' entgegen: Insbesondere der poetische Erweis der göttlichen sapientia kann unmittelbar an naturwissenschaftliche Erkenntnisse an-
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
durchaus von Seiten der Orthodoxie artikulierte Widerstände zu überwinden, insofern diese die Hinwendung zur sichtbaren Natur traditionellerweise (und offenbar zu Recht) im Widerspruch zu ihren theistischen Ausgangshypothesen sieht.118 Gerade weil Brockes ein apologetisches' Interesse verfolgt, 119 ist es in doppelter Hinsicht ,unzeitgemäß' 120 und verwickelt sich, so Ketelsen, in Widersprüche: Hinsichtlich der Bezugnahme auf die Ergebnisse der Naturwissenschaft ist ein ausgeprägter „Eklektizismus" zu erkennen, der nicht nur dem naturwissenschaftlichen Streben nach „größerer Homogenität" 121 widerstrebt, sondern im Grunde auch dem eigenen Interesse, die göttliche Einheit der Natur zu erweisen. Entsprechend bleibt das Verfahren durchweg traditionell: Es handelt sich um eine „bildhafte Theodizee", 122 Brockes liefert „entemblematisierte Embleme". 123 Im Ergebnis bindet nur „die zentrale Absicht [...], den gebenden Gott' aus allen nur möglichen Erscheinungen zu erweisen, [...] bei ihm das in sich Widersprüchliche zusammen". 124 In ihrem Bezug auf die göttliche Heilsordnung, der den klassischen Gelegenheitsgedichten ebenso innewohnt wie den „occasional meditations" und Brockes' Naturlyrik, machen sich die hier in den Blick genommenen Gedichte — bei allen ihnen innewohnenden Spannungen — zum ,Sprachrohr' metaphysischer Instanzen. Sie fungieren angesichts der Er-
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schließen und im Sinne einer Theodizee darauf verweisen, daß die Natur offenbar nach umfassenden Ordnungskriterien eingerichtet ist (Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, S. 105 ff.). Bei Brockes' sielt die göttliche potentia eine geringere Rolle (S. 102 ff.), bei seinen Nachfolgern hingegen schon (S. 117 ff.). Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, S. 54 ff. Ketelsen faßt zusammen: „Es war das traditionelle spiritualistische Desinteresse an der materiellen Natur zu überwinden, es war das Beharren auf der literalen Interpretation der Offenbarungstexte und zugleich die traditionelle Technik des allegorischen Sprechens zu relativieren, es war schließlich die theologisch-ontologische Erkenntnisresignation der protestantischen Tradition einzuschränken." (S. 84.) „Deswegen eröffneten weder die physikotheologischen Abhandlungen noch gar die von ihnen inspirierte Naturlyrik den Auseinandersetzungen neue Dimensionen, sie waren vielmehr von vornherein dogmatisch festgelegt und ihrem Begriffsarsenal wie ihrem Vorstellungsgefuge nach reproduktiv. Ihrer Tendenz nach waren sie vielmehr apologetisch." (Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, S. 47.) Ketelsen betont denn auch, daß sich die Physikologie der Brockesschen Dichtung gerade nicht als ,auf der Höhe der Zeit' befinde (Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, S. 98). Ein hier nicht rekonstruierter Hintergrund von Ketelsen Lektüren besteht übrigens im sozialhistorischen Hintergrund der norddeutschen Naturlyrik: Brockes liest er als eminent bürgerlichen' Autor (S. 37 ff.). Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Friihaufklärung, S. 97. Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Friihaufklärung, S. 53. Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Friihaufklärung, S. 54. Zum verdeckten Fortbestehen der Allegorese auch S. 158 ff. Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, S. 69.
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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klärungslücken, die sich bei der Beobachtung der Welt auftun, als Medien der Providenz, die sich im Kontingenten zu erkennen gibt. Damit stehen sie im Zeichen einer (komplexen) Fremdadressierung. Die Selbstermächtigung, die sie zugleich in Szene setzen, zeigt allerdings erhebliche Unterschiede an. Wenn Brockes auf die überkommene Allegorik verzichtet und nur die Naturbeobachtung selbst als Mittel zur Erkundung der Providenz nutzt, so müssen seine Texte die Schöpfung selbst gleichsam zum Sprechen bringen. König hingegen nutzt ein ganzes Arsenal traditioneller allegorischer Figurationen, um die Gelegenheit, angesichts derer er schreibt, in die Ordnung der Dinge einzubinden. Beide Verfahren aber unterscheiden sich von späteren Verfahren der Selbstadressierung, wie sie im Aufklärungsroman bei Wieland begegnen: Königs und Brockes' Texte wollen nicht sich selbst als Adresse modellieren, sondern auf eine metaphysische Adresse hin transparent werden. Trotz seiner Hinwendung zur Naturforschung akzeptiert Brockes die Konsequenzen des Wölfischen Harmonismus nicht: Das Kontingente, gelegentlich sich Ergebende soll weiterhin Aufschluß über die göttliche Ordnung geben können, und seine Darstellung will sich in diese Ordnung einreihen. Das Problem der Akkomodation, das sich für die Aufklärung ergibt, sobald sie den Verfahren der Topik nicht mehr traut, löst er durch die Hinwendung zu konkreten Situationen des Naturerlebens. 125
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung, Wahrscheinlichkeit und die Theorie möglicher Welten Die Überlegungen Wolffs und Malebranches sind zwar auf grundlegende Art und Weise auf das Problem der Kontingenz bezogen und fassen es letztlich als ein Problem der eingeschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit, doch bieten sie zunächst wenig Hinweise darauf, wie denn nun konkret mit Kontingenz umgegangen werden kann. Das ist insofern auch 125 Auch wenn Verfahren der Fremdadressierung in der okkasionellen Dichtung um 1700 sicherlich überwiegen, ließe sich das Moment von Selbstermächtigung, das ihr dennoch anhaftet, zumindest als diejenige Systemstelle ausmachen, an der spätere Verfahren der Selbstadressierung ansetzen. Auf eine solche Weise argumentiert beispielsweise Campe, wenn er darlegt, daß die Markierung der „Gelegenheiten des Schreibens" und die Exposition des „Schreiben [s] der Gelegenheit" durch die Datierung von (Gelegenheits-)Gedichten in der frühen Neuzeit eine Selbstbezügüchkeit herstellen, an die später die „klassisch romantischen Konzept[e]" von Lyrik anschließen können (Rüdiger Campe: „Das datierte Gedicht. Gelegenheiten des Schreibens in der Lyrik der Frühmoderne". In: Martin Stingelin (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenkleksenden Säkulum". Schreibs^enen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 54-69, hier S. 55 f.). Campe betont die Funktion von Paratexten für diese Figurationen des Gelegentlichen (S. 61 f.).
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
durchaus folgerichtig, als der Umgang mit Kontingenz in Aristoteles' Sinne in erster Linie Gegenstand der praktischen Philosophie ist.126 Vielmehr deutet sich zumindest fur Wolffs Harmonismus auch an, daß ihm jede unmittelbare und sinnhafte .Füllung' kontingenter Lücken im Grunde zuwiderläuft. In Poetiken des Erzählens muß es darum aber gerade gehen: Innerhalb der literarischen Darstellung muß Kontingenz konkret gehandhabt werden, und zugleich kann auch der Text selbst in einen Bezug gesetzt werden zur kontingenten Wirklichkeit. In beiden Hinsichten liegt der Rückgriff auf die Topik als eine Form der Kontingenzverwaltung nahe. So nutzt die emblematische Tradition der frühen Neuzeit die Topik auf breiter Ebene. Indem sie sich an einer topischen Ordnung der Welt orientiert, kann Literatur nach einem Modell der gleichzeitigen Bestätigung und Teilhabe an der providentiellen Ordnung funktionieren, das, wie gesehen, insbesondere der Gelegenheitsdichtung eignet. Wenn sich literarische Texte in topische Ordnungen einschreiben, sind sie insofern ,Gelegenheitsdichtungen', als sie an und mit Mustern zur Erklärung desjenigen arbeiten, was sich bloß gelegentlich ereignet. Sie sind es aber auch insofern, als sie selbst ihren Platz in der derart konzipierte Wirklichkeit nur gelegentlich finden können. Sie haben keine ,eigene' Notwendigkeit und müssen sich daher an die topische Ordnung adressieren. Die Geltung topischer Sinnstiftung für die literarische Darstellung schwächt sich ab, sobald Kausalität im Sinne des rationalistischen Kausalitätsprinzips auf der einen Seite und empirische Naturbeobachtung auf der anderen Seite zum Geltungsmaßstab literarischer Darstellung werden. Beides läßt sich bei Gottsched beobachten, auch wenn hier zugleich an einem Modell der unmittelbaren Teilhabe an der göttlichen Providenz festgehalten wird. Es sollte bereits deutlich geworden sein, daß Gottscheds Modell der Entsprechungsverhältnisse das Wesentliche der Fabel in ihrem Bezug auf eine als vorgegeben gedachte moralische Wahrheit sieht - eine Wahrheit, zu der prominente Elemente des Paratextes auf unterschiedliche Weise in Beziehung stehen. Diese Wahrheit gilt einerseits als eindeutig und vernunftgemäß übersetzbar in ein konkretes, darzustellendes Geschehen. Sie soll andererseits unmittelbar auf konkrete Situationen, wie sie in der Wirklichkeit gelegentlich vorkommen, zu beziehen sein. Es läßt sich allerdings noch genauer beschreiben, wie in Gottscheds Modell dasjenige, bei dessen Gelegenheit ein poetischer Text in Erscheinung tritt, mit dem Text verbunden wird. In den 1740er Jahren führt Gottsched im Rahmen des großen Literaturstreits insbesondere eine Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Mei-
126 Siehe Bubner: „Die aristotelische Lehre vom Zufall", S. 6 ff.
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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er, in der es um die Gelegenheitsdichtung geht 127 - ein Terminus, den Gottsched im Rahmen dieser Debatte überhaupt erst prägt (in seiner „Untersuchung, ob es einer Nation schimpflich sey, wenn ihre Poeten kleine und sogenannte Gelegenheitsgedichte verfertigen" von 1746). Meier hatte in der „Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen" (1746) den defizitären Geschmack unter anderem auf die übermäßige Produktion und Verbreitung von Gelegenheitsdichtung zurückgeführt: Der breiten Durchsetzung des guten Geschmacks sei es überaus abträglich, daß die Deutschen „bei allen Gelegenheiten ein Glückwunschgedicht [...] verfertigen, oder ein Trostgedicht". 128 Dies erzeuge eine Unangemessenheit der hochstilisierten poetischen Formen gegenüber den meist geringfügigen Anlässen. Nur für wichtigere Anlässe, die im öffentlichen Interesse stehen, billigt Meier die Gelegenheitsdichtung, ,,[i]m entgegengesetzen Falle aber sage ich, daß es eine abgeschmackte Gewohnheit sei, die Musen zu m i ß b r a u c h e n . 2 9 Dies ist im Grunde ein klassisch rhetorisches Argument, und es betrifft das decorum·. „Eine der vornehmsten Regeln eines Gedichts besteht darin, daß dasselbe dem Gegenstande, der besungen wird, proportioniert sei." 130 Es seien aber „die allermeisten Gelegenheiten, bei welchen wir Deutschen Carmina machen, Sachen von so geringer Erheblichkeit, daß es eine Grobheit ist, die Musen deswegen zu ihrer Schändung zu beschäftigen." 131 Darüber hinaus werde man, da die Gelegenheiten vorgegeben seien, zu denen ein Gedicht produziert werden müsse, nur selten die notwendige poetische Begeisterung finden bzw. man werde „unter zehnmalen neun mal zu Unrechter Zeit begeistert" 132 sein — ein Argument, das sich bereits bei Opitz findet. 133 Auch die Rezeptionsbedingungen seien so beschaffen, daß das
127 Siehe hierzu Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 255 ff. Nach Segebrechts Analyse geht es in der Debatte vor allem um die Bewältigung des Phänomens von Lyrik als Massenmedium. 128 Georg Friedrich Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften. Jubiläumsausgabe des Halleschen Verlages anläßlich der 275. Wiederkehr des Geburtstages von G. F. Meier. Nach der 1746 bei Carl Herrmann Hemmerden erschienenen ersten Auflage. Hg. v. Günter Schenk. Halle 1993, S. 11. 129 Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, S. 12. 130 Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, S. 13. 131 Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, S. 13. 132 Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, S. 14. 133 „Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er will / sondern wenn er kann / vnd jhn die regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel herzue kommen vermeinen / treibet. Diese vnbesonnenen Leute aber lassen vns weder die recht zeit noch gelegenheit" (Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 16 f.). Es ist wichtig zu sehen, daß Opitz damit nicht der Gelegenheitsdichtung selbst ihre Berechtigung abspricht, sondern vielmehr darauf besteht, daß dem Poeten auch die Gelegenheit gegeben werden muß, sich seiner
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
„wahre poetische" 134 ohnehin nicht empfunden werden könne. Die aus all diesen Gründen zwangsläufig sich ergebene mindere Qualität der Produkte präge aber gleichwohl den Geschmack der Menschen - gerade weil sie zu einprägsamen Anlässen vorgetragen würden. Meier plädiert daher für einen Ausschluß der „Mietpoeten" 135 und für die Abschaffung der lästigen Gewohnheit. Er propagiert eine Form literarischer Kommunikation, die auf eine Beschränkung des Autorenkreises bei gleichzeitiger uneingeschränkter Adressierung hinausläuft - ein klassisches Modell aufklärerischer Kommunikation. 136 Er setzt sich mithin für eine Literatur ein, die von der konkreten Gegebenheit einer Kommunikationssituation grundsätzlich absieht. Meier schließt seine Untersuchung mit einer Volte gegen Gottsched und einem Plädoyer für die Breitingersche Dichtkunst - was nicht weiter überraschend ist, hat er sich doch in seiner Schrift in vielen Punkten implizit gegen Gottschedsche Positionen gewendet. Merkwürdig ist allerdings, daß Gottscheds Antwort gerade auf Meiers Verurteilung der Gelegenheitsdichtung reagiert. Denn es finden sich in seiner „Critischen Dichtkunst" bis in die Formulierungen hinein sehr starke Parallelen zu Meier. Auch Gottsched verurteilt den von Meier angeprangerten Mißbrauch der Musen in der Gelegenheitsdichtung: Hieraus ist leicht zu schließen, daß die heutigen Poeten, die in allen elenden Hochzeit und Leichenversen der Musen Hülfe haben wollen, die Hoheit dieser Göttinnen schlecht verstehen, wenn sie sich einbilden, daß sie sich um ihrer elenden Kleinigkeiten wegen viel bemühen würden. 137
Und auch Gottsched sieht die wesentliche Ursache des schlechten Geschmacks der Deutschen, so führt er es in seinem Kapitel „Vom guten Geschmacke eines Poeten" aus, in der übermäßigen Verbreitung schlechter Vorbilder. 138 Und schließlich zeigen sich ja gerade bei Gottsched Bestrebungen hin zu einer Ablösung des idealen poetischen Textes von einer unmittelbaren Kommunikationssituation, wie sie bei der Geiegen-
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Aufgabe in angemessener Weise zu widmen. Siehe hierzu auch Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 202 f. Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, S. 16. Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, S. 15. Ahnlich: „Kein göttlicher Dichter vermietet sich auf eine habituelle Art." (S. 15.) Vgl. auch die Ausführungen zur siebten Ursache, die a) die allgemeine Adressiertheit der Poesie fordern - auch wenn Meier nicht die Poesie insgesamt auf die Ebene des ,gemeinen Mannes' herabstimmen möchte - , sowie b) eine potentiell jedem zugängliche Autorschaft und c) eine allgemeine Verständlichkeit der Poesie (Meier: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks unter den Deutschen, S. 24 ff.). - Zur aufklärerischen Kommunikationssituation siehe Fohrmann: Schijfbruch mit Strandrecht, S. 13—26. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 229. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 179, S. 191
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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heitsdichtung nun einmal gegeben ist. Worin liegt also der strittige Punkt?139 Gottsched verweist ausfuhrlich darauf, daß alle großen Nationen Gelegenheitsgedichte produziert hätten, und weist nach, daß ein Großteil der anerkannten und wertgeschätzten Dichtung als Gelegenheitsdichtung zu bezeichnen sei. Er geht nicht nur davon aus, daß „ein guter Dichter, bey Gelegenheit einer Hochzeit, oder Leiche Anlaß nehmen" könne, „einen guten Einfall, oder sonst einige artige Gedanken, auszuführen, darauf er sonst wohl nicht gekommen wäre",140 sondern schließt daraus auch, daß die Verbreitung einzelner solcher gelungener Gedichte den Geschmack mit größerer Wahrscheinlichkeit verbessern werde als die Verbreitung weniger hochwertiger poetischer Texte. Der tiefere Grund für den Streit mit Meier liegt aber in einem anderen Argument. Denn Gottsched konstruiert mittels der Kategorie der Gelegenheit ein Modell der Teilhabe, das sich von Meiers Modell unterscheidet: Und endlich, so leben ja die Poeten in der Welt, und werden eben sowohl, als andere Menschen durch die vorfallenden Umstände [...] in Bewegung gesetzt. Wer will also fordern, daß sie bey allen Glücks- und Unglücksfällen ihrer Freunde, stoisch und unempfindlich seyn sollen? Ein kleines Sinngedicht, eine kurze Ode oder Elegie zu rechter Zeit, ist geschickter sich Freunde zu machen, und Freundschaften zu erhalten, als ein langes Gedichte, welches wenige lesen, und noch wenigere machen können. 141
Weil die Poeten in der Welt leben, kann ihnen die Gelegenheitsdichtung nicht zur Schande gereichen. Dieser Punkt ist deshalb so wichtig, weil eine spezifische Form des Weltbezugs für Gottscheds Begründung poetischer Bedeutsamkeit insgesamt entscheidend ist.
139 Segebrecht zeichnet im einzelnen die Diskussionszusammenhänge nach und kommt teils zu dem Ergebnis, Gottsched und Meier redeten aneinander vorbei (Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 265 f.). Grundsätzlich aber geht er davon aus, daß auch an „Mißverständnissen [...] Positionen deutlich werden, in deren gemeinsamer Grundlage und spezifischer Verschiedenheit wir poetologische Prinzipien von symptomatischer Bedeutung erkennen" (S. 266). Solchen Spezifika gehe ich im folgenden nach. 140 Johann Christoph Gottsched: „Untersuchung, ob es einer Nation schimpflich sey, wenn ihre Poeten kleine und sogenannte Gelegenheitsgedichte verfertigen". In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften undfreyen Künste II.5, 1746, S. 463-80, S. 473. 141 Gottsched: „Untersuchung, ob es einer Nation schimpflich sey", S. 472. Ähnlich schreibt Gottsched im „Handlexicon": „Da die Dichter auch Mitglieder der menschliche Gesellschaft sind, so kann ihnen niemand verbiethen, die Pflichten derselben zu erfüllen, und an Begebenheiten ihrer Freunde Theil zu nehmen, zumal da sie solches auf eine edlere Art thun können, als andere Leute. Was soll sie also hindern bey Leid und Freude, bey Ernst und Scherz ihrer Bekannten empfindlich zu seyn; und solches durch einige poetische Zeilen zu bezeigen? Muß man denn immer von Wein und Liebe singen? Und kann eine lebhafte Muse nicht auch bey andern Gelegenheiten etwas gutes sagen?" (Gottsched: Handlexicon, S. 750 f.)
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
Genauer sieht man dies, wenn man Gottscheds Ausführungen „Vom Ursprünge und Wachstume der Poesie überhaupt" berücksichtigt, die das erste Kapitel der „Critischen Dichtkunst" bilden. Entgegen alternativen Deutungen, die die Poesie aus der Imitation des Vogelgesangs142 oder aus der Religion143 herleiten, behauptet er dort, sie habe „ihren Grund im Menschen selbst":144 „Lehret uns nicht die Natur, alle unsere Gemüthsbewegungen, durch einen gewissen Ton der Sprache, ausdrücken?"145 Gottsched geht davon aus, daß die musikalische Ausdrucksfähigkeit des Menschen auf natürliche Weise die Poesie habe entstehen lassen, indem man nämlich gemerkt habe, daß sich „die natürlich ausgedrückten Leidenschaften"146 auch anderen mitteilen. So läßt sich ihr „Ursprung aus der Natur selbst"147 herleiten.148 In ähnlicher Weise entstehen dann ebenso natürlich unterschiedliche Gattungen der lobenden Dichtung (insbesondere das Heldengedicht) oder „auch die stachlichten Spottgesänge".149 Gottsched setzt an den Ursprung der Poesie mithin Szenen, die von einer gelegentlichen Produktion von Dichtung erzählen. Es wird dann zwar eine Art Ablöseprozeß geschildert, der für eine gewisse Situationsabstraktheit der Poesie sorgt. Doch interessanterweise zieht Gottsched nicht die Möglichkeit in Betracht, daß an dieser Stelle ein Bruch vorliegen könnte. Das wird beispielsweise deutlich, wenn er beschreibt, wie in den einzelnen Gattungen die musikalische Komponente der Dichtung langsam zu einem eher nebensächlichen Phänomen geworden sei. So heißt es etwa: „Die Schäfergedichte des Theokritus und Virgil, mögen wohl auch nie alle seyn gesungen worden: denn da ihre Verfasser nicht wahre, sondern nur poetische Schäfer waren, so wurden sie nur zum bloßen Lesen gemacht."150 Wie läßt sich in einer Herleitung, die nur in der Natur des Menschen den 142 143 144 145 146 147 148
Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 115 f. Gottsched: Versuch einer Critischen DichtkunstJ, S. 130f. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst l , S. 115. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 7, S. 116. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst l , S. 116. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I,S. 130. „Wenn ein muntrer Kopf, von gutem Naturelle, sich bey der Mahlzeit, oder durch einen starken Trunk, das Geblüt erhitzet und die Lebensgeister rege gemacht hatte: so hub er etwa an vor Freuden zu singen, und auch sein Vergnügen durch gewisse dabey ausgesprochene Worte zu bezeigen. [...] Ein verliebter Schäfer, dem bey der langen Weile auf dem Felde, wo er seine Heerde weidete, die Gegenwart einer angenehmen Schäferinn das Herz rührete, und das Geblüt in Wallung setzte, bemühte sich, nach dem Muster der Vögel, ihr etwas vorzusingen, und bey einer lieblichen Melodie, zugleich seine Liebe zu erklären, ihr zu schmeicheln, ihre Schönheit zu loben, ihre Kaltsinnigkeit und Unempfindlichkeit zu beklagen, oder die Liebe selbst zu erheben." (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 131.)
149 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 132. 150 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 133.
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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Ursprung der Poesie sehen möchte, der Übergang zwischen dem von einem inspirierten, verliebten Schäfer spontan hervorgebrachten Gedicht und dem nur schriftlich konzipierten Gedicht eines bloß .poetischen Schäfers' beschreiben? Wie kommt man von einem Modell, das poetische Produktion gelegentlich einer Gefühlsaufwallung beschreibt, deren ebenso gelegentliche Folge die Mitteilung des Gefühls ist, zu einem Modell, innerhalb dessen dieselben beiderseitigen Gefühle nur noch im Raum der Fiktion statthaben? Gottsched verdeckt das Problem, indem er eine weitere natürliche Eigenschaft des Menschen ins Spiel bringt: Es liege auch in der Natur des Menschen, in neuen Situationen Handlungen zu wiederholen, die in anderen Situationen erfolgreich waren. Hat man festgestellt, daß der spontane Gefühlsausdruck einen gewissen Effekt bei anderen erzeugt, so wird man später versuchen, diesen Effekt erneut zu erzeugen - auch wenn der Gefühlsausdruck dann nicht mehr spontan ist. Damit aber vervielfältigen sich die Ursprünge der Poesie: Dem gelegentlichen Gefühlsausdruck wird das Verlangen an die Seite gestellt, andere Menschen zu bewegen. Später kommt die (ebenfalls naturgegebene) Intention hinzu, die Mitmenschen moralisch zu erheben bzw. „ihre Leidenschaften zu reinigen". 151 Immer, wenn in der natürlichen' Herleitung ein Sprung zu verzeichnen ist, wird also eine weitere naturgegebene Eigenschaft des Menschen bemüht. 152 So bleibt die Poesie durchgängig auf die konkrete Lebenswelt des Menschen bezogen: Wenn schließlich das Wesen der Poesie in der Nachahmung der Natur gesehen wird, so ist die höchste Form dieser Naturnachahmung die Fabel: Sie ist die Umsetzung eines moralischen Lehrsatzes, der im Leben bei Gelegenheit entsprechender Situationen anwendbar sein soll. Es ergeben sich bei Gottsched unterschiedliche Varianten der Gelegenheitsbindung poetischer Texte, die aber, ebenso wie ihre Allgemeinheitsfähigkeit, immer vorausgesetzt bleibt. Bei Meier hingegen wird ein Gegensatz zwischen Gelegenheitsbindung und Allgemeinheitsfahigkeit konstatiert. Meiers „Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst", ein radikaler Rundum-Verriß, stößt sich nicht umsonst gerade an deren erstem Kapitel: Die Geschichte des Ursprungs der Dichtkunst, die bei Gottsched die Funktion erfüllt, die Lebensnähe und -bindung der Dichtung zu erweisen, die ihm in theoretischer Hinsicht so wichtig ist, wird als nicht 151 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1, S. 140. 152 Hierzu siehe Härter: Digressionen, S. 121 ff., der ebenfalls betont, daß die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit, mit der die Poesie angeblich auf die Natur bezogen ist, durch verschiedene Brüche im Grunde aufgehoben wird. Vgl. zu diesem Passus bei Gottsched auch Till: Transformationen der Rhetorik, S. 450-53. Till sieht die hier konstatierte Vervielfachung der natürlichen Ursprünge der Poesie nicht, sondern spricht lediglich von einem komplementären Verhältnis von ars und natura.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
zur Sache gehörig verworfen. 153 Meier betont die der Dichtung wesentliche Abgezogenheit von einer unmittelbaren, auf Gelegenheiten bezogenen Einbindung. Daher kann er in seiner Kritik des zweiten Teils der Gottschedschen Dichtkunst den Entwurf einer Gattungstheorie vorlegen, innerhalb deren die Gelegenheitsdichtung (gemeinsam mit der Jubeldichtung, die ebenfalls als Gelegenheitsdichtung fungieren könne) als eine Kategorie aufgeführt wird, die sich aus der Aufteilung der Dichtung nach der Thematik ergibt: 154 Das Gelegenheitsgedicht ist a) ein historisches, kein dogmatisches Gedicht; unter den historischen Gedichten richtet es sich b) auf ,,[e]ine Sache, die würklich in dieser Welt geschehen", 155 ist also keine „Fabel"; 156 diese Sache wiederum wird c) nicht „blos erzählt", sondern „mit verschiedenen Betrachtungen untermengt"; 157 schließlich handelt es sich d) um eine „Privatgelegenheit", nicht um „eine öffentliche Begebenheit": „und da entsteht eine unendliche Anzahl der Gelegenheitsgedichte, als Hochzeitsgedichte, Leichengedichte, u.s.w." 158 Aus der Perspektive dieses Aufrisses stellt es für Meier einen Mangel dar, daß Gottsched die Gelegenheitsdichtung in seiner Gattungstheorie nicht behandelt - und damit trifft er einen entscheidenden Punkt. Denn weil für Gottsched jede Form der Dichtung an eine Gelegenheit gebunden ist, kann er der Gelegenheitsdichtung keinen Gattungsstatus zuerkennen. Daher kann er auch durchgängig Gelegenheitsdichtungen als Exempla für seine Theoreme heranziehen. Die Beharrlichkeit, mit der Gottsched die Welt- und Gelegenheitsbezogenheit der Poesie als ihr zentrales Definiens behauptet, steht in einem Spannungsverhältnis zu seinen Ansätzen, den literarischen Text aus seiner situativen Einbindung zu lösen - man denke nur an seine Rechtfertigung des Musenanrufs. Allerdings gilt es zu betonen, daß es Gottsched gerade darum geht, auch bei einer solchen abstrakteren Situierung der Literatur den Bezug zur konkreten lebensweltlichen Einbindung der Leser zu wahren: Auch wenn in Rücksichtnahme auf ein nicht hinreichend aufgeklärtes Publikum die Wahrheit nur in uneigentlicher Sprache ausgesagt werden kann, darf in diesem Figurationsprozeß nichts verloren gehen. Die Akkomodation darf sozusagen nichts kosten. In diesem Anliegen ist Gott153 Georg Friedrich Meier: Georg Friedrich Meiers der Weltweisheit öffentlichen Lehrers in Halle Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst. Nachdruck der Ausgabe Halle 1747—49. Hildesheim New York 1975, S. 19 f., S. 32. 154 Nach den beiden anderen aristotelischen Differenzierungskriterien (also nach dem „Material" und nach der „Art und Weise" der Nachahmung, Aristoteles: Poetik, S. 23) ergeben sich keine Unterschiede; siehe auch Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 89 f. 155 Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, S. 246. 156 Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, S. 247. 157 Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, S. 246. 158 Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, S. 247.
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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scheds Versuch begründet, die unterschiedlichen poetischen Figurationen des moralischen Lehrsatzes (als der Seele des literarischen Textes) in Geschichte, Titel, Titelkupfer usw. durch die Vernunft zu legitimieren.159 Dieses Anliegen ist der tiefere Grund des Konfliktes mit Meier und - wie sich zeigen wird - mit Bodmer und Breitinger. Damit gerät die oben rekonstruierte Poetik des Paratextuellen bei Gottsched erneut in den Blickpunkt. Sie muß allerdings ergänzt werden durch einen kurzen Blick auf seine Behandlung des Geschmacks, des Wahrscheinlichen und des Wunderbaren: Hier nämlich wird deutlich, welche Konsequenzen die Forderung, die Literatur in der konkreten weltlichen Einbindung ihrer Produzenten wie Rezipienten zu denken, für die Darstellung selbst hat, und zwar jenseits ihrer Verbundenheit mit dem zentralen moralischen Lehrsatz. Denn auch unabhängig von seiner moralischen Wertigkeit hat das Geschehen, so wie es dargestellt wird, demjenigen zu entsprechen, was auch real erlebt werden kann. Es ist dann wahrscheinlich, und das Vermögen zur Feststellung des Wahrscheinlichen ist der Geschmack. In seiner Bestimmung des Geschmacks orientiert sich Gottsched an der Vollkommenheitsästhetik Wolffscher Provenienz. 160 So hat der (gute) Geschmack, dessen Erkenntnis zunächst „zwar sehr klar, aber nur undeutlich"161 ist, seine Grundlage gleichwohl in einem Regelwerk, das sich in Verstandesbegriffen angeben läßt. 162 Insofern die Regeln des Ge159 Siehe II.2. 160 Zu Wolffs ästhetischen Überlegungen siehe Joachim Krueger: Christian Wolff und die Ästhetik. Berlin 1980, insbesondere S. 4 4 - 6 4 ; zum Verhältnis Gottscheds zu Wolffs Ästhetik siehe Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik. Berlin 1966, S. 1 - 4 8 . 161 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 174. 162 „Die Schönheit eines künstlichen Werkes, beruht nicht auf einem lehren Dünkel; sondern sie hat ihren festen und notwendigen Grund in der Natur der Dinge. Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht erschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen. Das genaue Verhältnis, die richtige Ordnung und richtige Abmessung aller Theile, daraus ein Ding besteht, ist die Qvelle aller Schönheit. Die Nachahmung der vollkommenen Natur, kann also einem künsderischen Werke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Verstände gefällig und angenehm wird: und die Abweichung von ihrem Muster, wird allemal etwas ungestaltes und abgeschmacktes zuwege bringen." (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 183 f.) Ähnlich: „Die Regeln nämlich, die auch in freyen Künsten eingefuhret worden, kommen nicht auf den bloßen Eigensinn der Menschen an; sondern sie haben ihren Grund in der unveränderlichen Natur der Dinge selbst; in der Uebereinstimmung des Mannigfaltigen, in der Ordnung und Harmonie. Diese Gesetze nun, die durch langwierige Erfahrung und vieles Nachsinnen untersuchet, entdecket und bestätiget worden, bleiben unverbrüchlich und feste stehen: wenn gleich zuweilen jemand, nach seinem Geschmacke, demjenigen Werke den Vorzug zugestünde, welches mehr oder weniger dawider verstoßen hätte." (S. 174.) Auch wenn diese Zitate darauf schließen lassen könnten, faßt Gottsched die in der Leibniz-Wolffschen Philosophie behauptete Vollkommenheit des Kosmos keineswegs als eine rein statische auf. Ein wichti-
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
schmacks dabei aus der Natur, den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt also, gezogen werden, und sich die Nachahmung der Natur an diesen Gesetzen, diesen Vollkommenheiten163 zu orientieren hat, ist der Bezug auf diese Welt notwendige Voraussetzung der poetischen Nachahmung.164 Hinsichtlich der Intention der moralischen Belehrung, auf die die Dichtung festgelegt bleibt und die sich nun einmal auf diese Welt bezieht, liegt ges dynamisches Element führt er nämlich mit dem bereits behandelten Begriff der Fabel ein. Eine zentrale Voraussetzung für seinen Umgang mit diesem Begriff ist ja, daß die menschlichen Handlungen, die in aristotelischer Tradition als dasjenige gelten, was die Poesie nachzuahmen hat, per se eine moralische Wertigkeit haben. Ihnen wohnt eine gewisse Spannung inne, insofern sie von den moralischen Forderungen, die an sie gerichtet werden, immer abweichen können. Wie Härter zu zeigen versucht, erzeugt diese Abweichungsmöglichkeit überhaupt erst die Notwendigkeit, das Geschehen auf einen moralischen Lehrsatz zu beziehen (Härter: Digressionen, S. 150 ff.): Die Imperfektibilität des menschlichen Handelns, das die Fabel nachahme, erzwinge, um des Erhalts des Vollkommenheitspostulats willen, die Korrektur durch einen auf sie bezogenen moralischen Lehrsatz. Härter geht dabei von einem doppelten Naturbegriff Gottscheds aus (statische Natur vs. menschliche Natur). Anders gewendet könnte man vielleicht aber auch sagen, daß dank der moralischen Wertigkeit jeder nachzuahmenden Handlung die Vollkommenheit des Textes gerade in der Spannung zwischen der Abweichung von einem moralischen Lehrsatz und der gleichzeitigen Affirmation seiner Gültigkeit bestehe — sicherlich ein dynamisches Moment in Gottscheds Vollkommenheitsbegriff. Jedenfalls muß man festhalten, daß die Vollkommenheit einer poetischen Nachahmung bei Gottsched unter anderem in ihrer Rückbezüglichkeit auf inhärente moralische Regeln begründet ist - weshalb für Gottsched die von Bodmer und Breitinger zur Grundlage ihrer Theorie erhobene ,poetische Malerey' ebensowenig wie die Charakterdarstellung als höchste Stufe der Naturnachahmung zu werten ist. Nicht zuletzt dient der moralische Lehrsatz zum Regulativ bei der notwendigerweise zu treffenden Selektion der zu erzählenden Geschehnisse: „Eine ganze Fabel erfordert nicht allemal den völligen Umfang aller Begebenheiten, die einigen Zusammenhang mit einander haben: sondern es ist genug, daß sie alles dasjenige enthält, was zu der Sittenlehre, die man vortragen will, unentbehrlich ist." (Gottsched: Versuch einer Cntischen Dichtkunst I, S. 210.) 163 Siehe ζ. B. Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, S. 242 f. 164 Hierin sieht Borjans-Heuser, der insgesamt versucht, den philosophischen Anspruch Gottscheds stark zu machen, eine konsequente Umsetzung von dessen philosophischer Grundposition, wie sie sich in den naturwissenschaftlich-philosophischen Schriften darstelle: „Der angehende Dichter soll wie jeder Künsder und Handwerker die Bedingung der Möglichkeit aller Dinge und Begebenheiten philosophisch-gründlich erkennen, d. h. die Gesetze, nach denen sie ,gemacht' sind, und sodann den erkannten Produktionsgesetzen der Natur in seiner eigenen Dichtungspraxis folgen. Auf diese Weise wird die Willkürlichkeit der bisher nur autoritativ bzw. konventionell begründeten handwerklichen Regeln verlassen und der Fortschritt der poetischen Kunst als wissenschaftsgebundene Naturerforschung und -nachahmung institutionalisiert." Weiter heißt es: „Dieses Rationalisierungskonzept stellt gleichzeitig eine Rechtfertigungsgrundlage dichterischer Erfindungskunst dar. Durch die strengere Beschränkung der poetischen Einbildungskraft auf,vernünftige' Nachahmung der Natur, also auf Befolgung der erkannten Naturgesetze, sollen die bis dahin traditionell gebundenen und der Willkür verdächtigen dichterischen Produktivkräfte nutzbringend in das aufklärerische Fortschrittskonzept eingepaßt werden. Der poetische Wildwuchs wird eingedämmt und die Phantasie domestiziert, um desto reichere Erträge abzuwerfen." (Borjans-Heuser: bürgerliche "Produktivität und Oichtungstheone, S. 237.)
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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sicher kein wesentlicher Unterschied beispielsweise zu den beiden Schweizern vor. Die Unterschiede bestehen in erster Linie in der Art und Weise der Bezugnahme, die Gottscheds Wahrscheinlichkeitspostulat zumindest auf den ersten Blick deutlich rigider festlegen will. In gewisser Weise hält Gottsched daran fest, daß Dichtung unmittelbare Formen des Zugriffs auf Wirklichkeit zu bieten habe, auch wenn er diese Zugangsformen mittels der Vernunft legitimieren will. Der Unmittelbarkeitsanspruch der Topik bleibt bestehen, ohne daß in der immer nachträglichen und daher mittelbaren Legitimierung dieser Unmittelbarkeit durch die Vernunft ein Problem gesehen würde.165 Gottsched verhandelt in diesem Zusammenhang ebenso wie die Schweizer die Leibniz-Wolffsche Theorie möglicher Welten.166 Allerdings erwähnt er sie nur, um dann doch - und zwar um „unphilosophischen Köpfen"167 keine Schwierigkeiten zu bereiten — anders zu definieren: „Ich verstehe nämlich durch die poetische Wahrscheinlichkeit nichts anders, als die Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen
165 Wieder rückt damit Gottscheds Stellung zwischen rhetorischer Tradition und rationalistischer Philosophie in den Blick, die auch in der Forschung gerade anläßlich seines Wahrscheinlichkeitsbegriffs diskutiert worden ist, der beispielsweise für Herrmann anzeigt, daß Gottscheds Ansatz durch und durch rhetorisch ist: „Wahrscheinlichkeit und Glaublichkeit aber beziehen sich auf die persuasio und damit auf einen konventionellen Regelkanon und nicht auf eine außerhalb des Menschen für sich existierende Natur." (Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, S. 134.) Herrmanns Fazit lautet dann auch, Bodmer und Breitinger, „und nicht Gottsched" seien „die wahren Schüler Wolffs" gewesen (S. 276; vgl. hingegen die Einschätzung bei Birke: Christian Wolffs Metaphysik, S. 19 f.; zur Kritik an Herrmanns Buch siehe Jan Bruck, Eckart Feldmeier, Hans Hiebel u. a.: „Der Mimesisbegriff Gottscheds und der Schweizer. Kritische Überlegungen zu Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740". In: Zeitschrift fir deutsche Philologie 90, 1971, S. 563—78; die Rezensenten weisen darauf hin, daß Herrmanns Gegenüberstellung historisch verfremdend sei und an Gottsched und die Schweizer den Maßstab der ästhetischen Theorie der Klassik und des Sturm und Drang anlege). Wetterers Darstellung versucht zu zeigen - so die titelgebenden Leitbegriffe ihrer Arbeit - , daß der Wahrscheinlichkeitsbegriff Gottscheds den (philosophischen) „Wahrheitsanspruch" der Dichtung mit ihrem (rhetorischen) „Publikumsbezug" vermitde (Wetterer: Publikumsbe^ug und Wahrheitsanspruch). Birke betont, daß gerade die Entwicklung von Gottscheds Wahrscheinlichkeitsbegriff durch Wolff entscheidende Anstöße erfahren habe (S. 13 ff.). Auch Möller zufolge changiert Gottscheds Wahrscheinlichkeitsbegriff zwischen einer rhetorischen und einer philosophischen Begründung (Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert, S. 35 f., S. 39; allgemein zu Gottscheds Stellung zwischen Rhetorik und Philosophie S. 16 f., S. 27 f.). 166 Im Anschluß an seine Fabeldefinition erwähnt Gottsched, auch Wolff habe, „wo mir recht ist, an einem gewissen Orte seiner philosophischen Schriften gesagt, daß ein wohlgeschriebener Roman, das ist ein solcher, der nichts Widersprechendes enthält, für eine Historie aus einer anderen Welt anzusehen sey." (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 204.) Siehe hierzu Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 114-16. 167 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 204.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
pflegt; oder die Übereinstimmung der Fabel mit der Natur." 168 Doch macht er angesichts der äsopischen Fabel (die ja immerhin seinem Begriff der Fabel Modell steht) Zugeständnisse: Er weist darauf hin, es seien auch „andere Verbindungen endlicher Wesen eben sowohl geschickt gewesen, erschaffen zu werden, wenn es Gott gefallen hätte", dem Dichter stünden „alle möglichen Welten zu Diensten", und dies ginge so weit, daß ihn ,,[s]eine Einbildungskraft, [...] auch in das Reich der übrigen Möglichkeiten, die der itzigen Einrichtung nach, für unnatürlich gehalten werden", 169 führen könne. Er unterscheidet nun die „poetische Wahrscheinlichkeit in eine unbedingte und eine bedingte Wahrscheinlichkeit":170 J e n e findet sich freylich in d e n ä s o p i s c h e n F a b e l n nicht, w e n n B ä u m e u n d T h i e r e als vernünftige M e n s c h e n handelnd eingeführet werden. N a c h d e m g e m e i n e n L a u f e der D i n g e p f l e g t solches nicht z u g e s c h e h e n . [ . . . ] D e s h a l b aber k a n n m a n d o c h diesen F a b e l n die hypothetische Wahrscheinlichkeit nicht a b s p r e c h e n , die unter g e w i s s e n U m s t ä n d e n d e n n o c h statt hat, w e n n gleich so schlechterdings keine v o r h a n d e n wäre. 1 7 1
So ist von hypothetischer Wahrscheinlichkeit die Rede, wenn in einer Fabel „die Bäume sich einen König wählen können". 172 Diese Verteidigung der äsopischen Fabel ist zu einem großen Teil der Rücksichtnahme auf ein noch zu wenig aufgeklärtes Publikum geschuldet. 173 Im Abschnitt „Von dem Wunderbaren in der Poesie" wird allerdings ebenso wie in den Ausführungen „Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie" die Freiheit der Erzählung von anderen Welten sehr stark eingeschränkt. So macht Gottsched in seinem Abschnitt über dasjenige Wunderbare, „was von Göttern und Geistern herrühret", 174 hinsichtlich derjenigen „Wunderwerke, die durch ihre unmittelbare Wirkung geschehen", 175 scharfe Auflagen. „Die göttliche Macht erstreckt sich auf alles Mögliche; aber auf nichts Unmögliches: daher muß man sich nicht auf sie berufen, seine ungereimten Einfalle zu rechtfertigen." 176 Insbesondere seine Negativbeispiele 168 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1, S. 255. 169 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 206. 170 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 256. Hierzu siehe Wetterer: Vublikumsbe^ug und Wahrheitsanspruch, S. 104 ff., sowie Möller:~RhetorischeUberlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert, S. 36 f. Zu den Auswirkungen dieser Unterscheidung auf Gottscheds System siehe Härter: Digressionen, S. 166 ff. 171 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 256. 172 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst /, S. 256. 173 „Nun bewundert man nichts Gemeines und Alltägliches, sondern lauter neue, seltsame und vortreffliche Sachen. Daher mußten die Poeten auf etwas Ungemeines denken, dadurch sie die Leute an sich ziehen und gleichsam bezaubern können." (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 225.) 174 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst /, S. 226. 175 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 236. 176 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst I, S. 236.
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(hier: der Schild des Achill in Homers Schilderung) erhellen, daß gleichwohl .wahrscheinlich' so viel bedeutet wie .möglich in dieser Welt'. In der Erörterung der Negativbeispiele, die den größten Teil des Kapitels über das Wahrscheinliche ausmachen, unterbleibt nämlich weitgehend der Nachweis von Widersprüchen in den jeweiligen IFeZ/konstruktionen. Im Grunde also priorisiert Gottsched eine Nachahmung der Natur in der Fabel, die keine ,neuen' Naturgesetze entwirft, sondern lediglich diejenigen bestätigt, nach denen diese Welt eingerichtet ist. Sprechende Bäume werden so ausgeschlossen. Lediglich Umstände, die sich nach diesen Gesetzen ergeben können, stehen der Erfindung des Möglichen zur Verfugung, diejenigen initialen Konstellationen der Welt also, aus denen der Schöpfer bei Beibehaltung der jetzt gegebenen Naturgesetze im Augenblick der Schöpfung wählen konnte. Nur der Rückbezug auf solche Umstände sichert eine Einrichtung der poetischen Welt, die mit den Gesetzen der wirklichen Natur und den der Welt inhärenten moralischen Wertigkeiten konform ist. Der Spielraum, den der Poet in der Erfindung seiner Fabel hat, liegt gerade dort, wo denen unter Festhalten an den bestehenden Naturgesetzen angenommen werden kann, es wäre auch etwas anderes möglich gewesen.177 In der Rechtfertigung nur der Modifizierung dieser Umstände, nicht aber der Gesetze der Natur scheint der Angelpunkt der Gottschedschen Fiktionstheorie zu liegen - eine Tendenz, die er mit der Romantheorie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitgehend teilt.178 Im Bezug auf diese eine Welt beherrscht der Poet schließlich, 177 Auch hier muß er allerdings, wie Gottsched mehrfach betont, Vorsicht walten lassen. Siehe Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1, S. 226, S. 240, S. 249 f. Härter redet von „Rückübersetzbarkeit" als Bedingung für die Gültigkeit des Wunderbaren (Härter: Digressionen, S. 178). Zu diesem Akzent der Gottschedischen Poetik siehe Frick: Providing und Kontingent S. 232. Für einen Überblick zur Forschung (bis 1986) über das Wunderbare, vor allem bei Gottsched und den Schweizern, siehe den Forschungsbericht von Hans Otto Horch, Georg-Michael Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched und die Schweiber. Darmstadt 1988; zum Wunderbaren bei Gottsched bzw. den Schweizern vgl. auch Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert, S. 39-42, S. 66-70, Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 120-24, S. 135-38. 178 Paradigmarisch ist hierfür Huet. Hier findet sich ansatzweise ein Argument, das die Wahrscheinlichkeit des guten Romans in seiner Nähe zur Lebenswirklichkeit begründet sieht (siehe Huet: Tratte de l'origine des romans, S. 107): Weil die Romane nicht von den herausgehobenen Charakteren der Geschichte handelten, falle an ihnen weniger auf, daß sie bloß .erfunden' sind. Zugleich geraten die Romane in Huets Entwurf gerade in ihrer wahrscheinlichen Erfundenheit zur Figuration einer (heilgeschichtlich gedachten) Wahrheit. Laut Voßkamp weist Huets Theorie voraus auf eine Säkularisierung des Romans, insofern er seine „literarästhetische Mediatisierung" (Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 78) projektiert. Hier werde ein neuer .mittlerer' Wahrscheinlichkeitsbegriff etabliert, der sich deutlich von demjenigen beispielsweise Sigmund von Birkens unterscheide und zugleich dem Roman „ästhetische Würde" (Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 80) verleihe. (Zu Huet siehe auch Wahrenburg: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm, S. 14453.) Interessant ist, daß ein Autor wie Gotthard Heidegger, der mit der Behauptung, „wer
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
wenn man so will, lediglich diejenigen Verursachungsverhältnisse, die in irgendeiner Weise defizient sind, den Bereich der occasio und verwandter Begriffe also. So bleibt die Struktur der Schöpfung in ihrer von Gottsched so sehr betonten Vollkommenheit in der Dichtung transparent. Die göttliche Providenz, die die beste aller möglichen Welten zur Erschaffung ausgewählt hat, soll insofern auch in einer Dichtung nach Gottschedschen Maßstäben sichtbar gemacht werden.179 Das gilt nun aber auch für die Poetik der Schweizer.180 Unterschiede ergeben sich allerdings daraus, daß die Schweizer, ähnlich wie Meier, einsehen, daß die Situationsabstraktheit von Dichtung ihrer situativen, gelegentlichen Einbindung wenn nicht widerspricht, so doch zuwiderläuft. Es ist charakteristisch, daß Meier als Parteigänger der Schweizer in seiner Kritik an Gottscheds Begriff der Wahrscheinlichkeit, die ausgesprochen harsch ausfällt (er hält das entsprechende Kapitel für „das allermangelhafteste und unvollständigste Kapitel in dem gantzen ersten Theile der Gottschedischen Dichtkunst"181), vor allem hervorhebt, daß es schwer sein dürfte, Gegebenheiten zu benennen, die nicht unter bestimmten Bedingungen wahrscheinlich scheinen, daß also eine sinnvolle Begrenzung der hypothetischen Wahrscheinlichkeit zusätzliche Kriterien erfordere.182 Meier sieht, daß Gottsched jenseits der Orientierung an den Gegebenheiten der wirklichen Welt keine Wahrscheinlichkeitsbedingungen nennt, daß
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Romans liest, der liest Lügen" (Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans. Faksimileausgabe nach dem Onginaldruck von 1698. Hg. v. Walter Ernst Schäfer. Bad Homburg v.d.H. — Berlin — Zürich 1969, S. 71) bekannt geworden ist, sehr genau die Konsequenzen derartiger Wahrscheinlichkeitspostulate abschätzt: Die Romandichter, so Heidegger, „fälschen und erstücken [...] aus eignem Stör=Kopff die Eventus und Verlauffe / so der Höchste der in dem Himmel ist / [...] auß geheimem Raht=Schluß / zu seiner Ehr / auff seine Weise geordnet." (S. 74.) Heidegger befürchtet also, daß sich die der zeitgenössischen Romane in der Fiktionalität radikal von den Maßgaben einer heilsgeschichtlichen Sinngebung abkoppeln - diese Befürchtung ist so unberechtigt sicherlich nicht gewesen (vgl. Voßkamp: Romantheone in Deutschland., S. 123 ff., sowie Frick: Providernζ und Kontingent S. 216 f.; zum geistlichen Widerstand gegen den Roman siehe sehr materiakeich Wahrenburg: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm, S. 167-82). Darin unterscheidet sich meine Deutung Gottscheds von derjenigen Fricks (Frick: Provider!^ und Kontingent S. 236 f.). Das Verhältnis zwischen den beiden Parteien im ,Literaturstreit' ist durchaus unterschiedlich beschrieben worden. Treffend erscheint mir insgesamt Campes Formulierung, es handele sich beim Literaturstreit um ein „Spiegelgefecht" (Campe: Affekt und Ausdruck, S. 8). Siehe hierzu auch die folgenden Fußnoten. Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, S. 134. „Man kan bey den unglaublichsten Mährlein eine Bedingung ersinnen, unter welcher sie wahrscheinlich sind, wenn man die Bedingung als wahrscheinlich gelten läßt. Ich könnte ja, wenn sich die Thiere in den Fabeln Gevatter nennen, nun voraussetzen, daß sie Christen wären. Folglich kan niemand aus der Gottschedischen Dichtkunst lernen, wie er einen Gedancken auf eine bedingte Art wahrscheinlich machen soll." (Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, S. 140.)
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er also im Prinzip den Bruch mit diesen Bedingungen, der im Falle der hypothetischen Wahrscheinlichkeit vorliegt, nicht handhaben kann. Allerdings sieht er selbst ebenso wie die Schweizer in diesem Bruch kein Problem, sondern vielmehr ein Potential: Er hält die Rückbezüglichkeit des Gottschedschen Wahrscheinlichkeitsbegriffs auf diese Wirklichkeit für eine unnötige Einschränkung.183 Auch Breitinger, der trotz einiger Differenzen zu Meier nicht zuletzt dessen Kronzeuge in der Auseinandersetzung mit Gottsched ist, unterscheidet an dieser Stelle anders als Gottsched. Seine Argumentation gewinnt ihre Charakteristik dabei aus einer Verbindung der Theorie möglicher Welten im Sinne Wolffs mit einer Wirkungsästhetik, die Dichtung (ganz im Sinne Gottscheds) auf eine belehrende Intention verpflichtet und ihre Wirkmächtigkeit im Sinne der platonischen Metapher von der .bitteren Pille' auf die Ausbalancierung des Nützlichen, aber Unangenehmen mit einer angenehmen äußeren Erscheinung zurückführt.184 Dabei ist die Theorie der möglichen Welten wirkungsästhetischen Absichten geschuldet. Denn im Grunde erarbeitet Breitinger in den einschlägigen Kapiteln über das „Neue" bzw. über das „Wahrscheinliche und Wunderbare" eine Theorie ästhetischer Faszination·. Es ist das Zugleich der Ablösung der Dichtung aus dem Bereich des Gewöhnlichen durch das Neue und ihrer 183 „Wenn man alles dasienige, was überhaupt möglich und widersinnisch ist, für poetisch unwahrscheinlich und unglaublich halten wolte, wie viele Gedancken der Dichter würden wohl glaublich bleiben?" (Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, S. 138.) 184 Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 4 ff. - Die gemeinsame Orientierung Gottscheds und der Schweizer an diesem Ziel setzt sich laut Wetterer indes unterschiedlich um: „Entweder, dies die Position Gottscheds, kann der Anspruch auf Wahrheit der Poesie auch auf deren sinnliche Seite bezogen werden, so daß deren potentielle Affinität zum Falschen und Unvernünftigen zumindest neutralisiert wird. Das impliziert [...] einen Begriff .wahrer Poesie' und ,wahrer Schönheit', dem auf der Seite der Publikums allein jene Verständigen entsprechen, die den vernünftigen ,guten Geschmack' bereits haben, während die Ansprüche und Urteile der anderen unberücksichtigt bleiben. [...] Oder, dies die Position Breitingers, Poesie kann um der Wirksamkeit willen vom Wahrheitsanspruch zum Teil, eben was deren sinnliche Seite angeht, entbunden werden: sie kann dann den unter Umständen unvernünftigen und falschen Vorstellungen des ungelehrten Publikums Rechnung tragen und damit zugleich für die wenigen Gelehrten möglicherweise nur mehr .abentheuerlich' und ,verdrüßlich' sein." (Wetterer: Publikumsbe^ug und Wahrheitsanspruch, S. 202.) Zur wirkungsästhetischen Dimension der Schweizer Poetik siehe auch Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik, S. 174 ff., sowie Möller: "Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert, S. 49 f.; Möller sieht die Schweizer in einer ähnlich ambivalenten Stellung zwischen Rhetorik und Philosophie befangen wie Gottsched (S. 46), unterstellt ihnen aber eine größere Nähe zu Wolffs Sprach- und Erkenntnistheorie (S. 49f.). Till zeigt überzeugend, daß aus der wirkungsästhetischen Absicht keinesfalls auf eine genuin rhetorische Grundlegung der Poetik Bodmers und Breitingers geschlossen werden kann (Till: Transformationen der Rhetorik, S. 394—432). Vielmehr, so Till, sei eine Theorie des Affekts und der Selbstaffektation für die Schweizer entscheidend (siehe insbesondere S. 396-424). Zu den Unterschieden zwischen den Schweizern und Gottsched siehe S. 424-26.
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
Rückbindbarkeit an das Gewohnte, das die Dichtung wirkmächtig macht, was es ihr ermöglicht, die Rezipienten zu fesseln — und zwar unabhängig von der moralischen Botschaft, die die Dichtung auch befördern soll. 185 Es soll gleich die Freude der Menschen an der Naturnachahmung und die Freude, die durch die Betrachtung des Neuen erregt wird, der Dichtung zugute kommen. 186 Zwar kann einerseits ein Porträt größeres Gefallen
185 Preisendanz betont, bereits für Gottsched sei ein „Spannungsverhältnis zwischen Natur und Nachahmung" Bedingung poetischer Darstellung (Preisendanz: „Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip", S. 74). Allerdings erarbeite erst Breitinger eine Theorie des Wunderbaren als der „maßgebliche[n] Signatur poetischer Darstellung" (S. 75), wobei auch ihm das Wunderbare als „eine tiefere Dimension des Wirklichen" (S. 76) gelte. Andernorts bestimmt er den Unterschied zwischen Gottsched und Breitinger wie folgt: „Nicht der Witz oder die scherzhafte Allegorie sind für Breitinger Quellen einer wunderbar vermummten Wahrscheinlichkeit" - das nämlich sei Gottscheds Ansatz —, „sondern die verschiedenen Formen subjektiver Spiegelung und Brechung des Wirklichen." (Wolfgang Preisendanz: „Mimesis und Poiesis in der deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts". In: Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen, Klaus Haberkamm (Hgg.): Rezeption und Produktion ^wischen 1570 und 1730. Festschriftfür Günther Wejdt %um 65. Geburtstag. Bern - München 1972, S. 552-37, S. 546.) Das ist immer noch vor dem Hintergrund der Annahme formuliert, daß sich Dichtung für beide aus einer „wunderbar vermummten Wahrscheinlichkeit" heraus konstituiert. Mehr noch als Preisendanz betont Schmidt die Nähe des Gottschedschen Konzepts des Wunderbaren zu demjenigen der Schweizer (Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand., S. 135-38). Im Gegensatz zu Arbeiten, die in der Bodmers und Breitingers Konzept des Wunderbaren und der Phantasie eine zukunftsweisende Innovation sehen - zu nennen wäre etwas Stahls Arbeit, die bei den Schweizern eine „psychologisch fundierte Wirkungspoetik" am Werk sieht, die „ganz im Zeichen des Wunderbaren" steht und auf eine autonomieästhetische Theorie zusteuert (Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik, S. 174) —, betont Schmidt, eine solche Einschätzung beruhe auf einer Rückprojektion klassisch-romantischer Vorstellungen (Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 124-27). 186 „Man hat nemlich wahrgenommen, daß der Mensch für alles, was fremd, seltzam und ungemein ist, so sehr eingenommen ist, daß er seine Aufmercksamkeit demselben nicht entziehen kan; ferner, daß er, wie er selbst von Natur zum Nachahmen gantz aufgeleget ist, eben darum auch in Beschauung dessen, was glücklich nachgeahmet ist, ein besonderes Vergnügen findet; endlich, daß das menschliche Gemüthe gern immer rege und in Bewegung ist, und ihm nichts so sehr zuwider wird, als der Mangel der Empfindung und eine gäntzliche Stille." (Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 7 f.) Später heißt es gar: „Die Nachahmung hat in der That mehr Kraft, die Aufmercksamkeit der Leute zu unterstützen, als die Natur selbst." (S. 72.) Im Abschnitt „Von dem Neuen" wird dann umfassender dargelegt, worin das Neue besteht (in demjenigen, „was nicht durch den täglichen Umgang bekannt und gewohnt, und daher auch in dem Wahne der Menschen gering und verächtlich geworden ist"; S. 111), wie es in besonderer Weise auf den Menschen zu wirken in der Lage und wie es zu ,finden' bzw. zu erzeugen ist. Die „äusserste Staffel des Neuen" (S. 130) ist schließlich das Wunderbare — hiervon handelt das Kapitel „Von dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen": „Sobald ein Ding, das das Zeugnis der Wahrheit oder Möglichkeit hat, mit unsren gewöhnlichen Begriffen zu streiten scheinet" (S. 129), und daher einen „unbetrüglicher Schein der Falschheit" (S. 131) besitzt, ist es wunderbar zu nennen. Allerdings darf das Wunderbare nicht die Grenzen des Wahrscheinlichen überschreiten und ist insofern „ein vermummtes Wahrscheinliches" (S. 132). So wird es rückgebunden an dasje-
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erregen, wenn das Urbild bekannt ist. 187 Andererseits jedoch darf die Ähnlichkeit nicht zu groß werden, denn dann geht die Freude an der Nachahmung als solcher verloren. 188 Es sind mithin einander zuwiderlaufende Anforderungen, denen der literarische Text entsprechen muß. Er muß zugleich eine wahrhafte Nachahmung darstellen und sich vom Gewöhnlichen entfernen: Die eigenthümliche Kunst des Poeten bestehet demnach darinnen, daß er die Sachen, die er durch seine Vorstellung angenehm machen will, von dem Ansehen der Wahrheit bis auf einen gewissen Grad künstlich entferne, jedoch allezeit in dem Maasse, daß man den Schein der Wahrheit auch in ihrer weitesten Entfernung nicht gäntzlich aus dem Gesichte verliert. 189
Die Theorie möglicher Welten wird bei Breitinger dazu eingesetzt, das Ideal der Ausbalancierung, das seine Wirkungsästhetik impliziert, auf den Boden einer rationalistischen Philosophie zu stellen.190 Dabei ist die Ablösebewegung der Theorie von der traditionellen Rhetorik wesentlich deutlicher vollzogen als bei Gottsched. Das Wahrscheinliche bleibt einerseits dasjenige, was aus Gewohnheit und auf der Grundlage des allgemeinen ,Wahnes' über die Wirklichkeit gesagt werden kann.191 Es bleibt mithin ein klassisch topisches Wahrscheinliches. Zugleich aber behauptet Breitinger die Identität des topisch Wahrscheinlichen mit einem Wahr-
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nige, was wir gewohnt sind und was schon aufgrund der bloßen Nachahmung Gefallen erregen kann. Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 73 f. Breitinger verweist auch auf Zeuxis (S. 65 f.) und darauf, daß sogar unangenehme Gegenstände mit Gewinn nachgeahmt werden können: „Daß die blosse Kunst der Nachahmung ohne Absicht auf die Materie eine solche Kraft zu ergetzen habe, zeiget sich unstreitig daraus, weil die künstliche Vorstellung einer Sache, die vor sich ganz unangenehme und widrige Eindrücke verursachen würde, in der Nachahmung belustigt." (S. 68.) Auch die Nachahmung der möglichen Welten aber kann dieses Ergötzen erzeugen, insofern es zum Vergleichen mit dem Bekannten und Gewohnten anregt (S. 74 ff.) Dafür macht Breitinger „die betäubende Gewohnheit" verantwortlich: „Die Macht dieser Gewohnheit ist so groß, daß sie die Sinnen bindet, uns aller Empfindung beraubet, und in eine achdose Dummheit versenket; so gar, daß uns weder das Schöne noch das Grosse, weder das Lehrreiche, noch das Bewegende im geringsten rühren kan, wenn es uns täglich vor Augen schwebet, und wir mit ihm allzu sehr bekannt werden." (Breiringer: Critische Dichtkunst I,S. 107 f.) Breidnger: Critische Dichtkunst I, S. 139. Die erste Definition der möglichen Welten gibt Breitinger im Kapitel „Von der Nachahmung der Natur" (Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 56 ff.). In der Theorie möglicher Welten ist damit keinesfalls das innovative Potential der Poetik der Schweizer zu sehen - und schon gar nicht eine Vorwegnahme autonomieästhetischer Positionen. Vgl. zur Theorie möglicher Welten bei den Schweizern Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 130-39. „Dieses Wahrscheinliche gründet sich demnach auf eine Vergleichung mit unsren Meinungen, Erfahrungen, und angenommenen Sätzen, nach welchen wir unsren Beyfall einzurichten, und die Glaubwürdigkeit einer Vorstellung zu beurtheilen pflegen, und es bestehet in einer Uebereinstimmung mit denselben." (Breitmger: Critische Dichtkunst /, S. 134.)
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
scheinlichen, das aus dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch hergeleitet werden kann: Ich habe an einem andern Orte angemercket, daß in dem weitläufigsten VerStande alles kann wahrscheinlich genennet werden, was durch die unendliche Kraft des Schöpfers der Natur möglich ist, hiemit alles, was mit denen ersten und allgemeinen Grandsätzen, auf welchen alle Erkenntnis der Wahrheit beruhet, in keinem Widerspruch stehet. 192
Dichtung wird deswegen als Nachahmung möglicher Welten gefaßt, weil auf diese Weise der Bezug auf die topische Wahrscheinlichkeit gewahrt und sie zugleich philosophisch gerechtfertigt werden kann. Die Bezugnahme auf mögliche Welten nämlich erlaubt es dem Dichter in der kontrollierten Variation der Gegebenheiten dieser Welt eine Dimension des Neuen bzw. Wunderbaren in seine Dichtung einzuführen, ohne den aus wirkungsästhetischen Bedenken heraus notwendigen Bezug auf die Wirklichkeit zu verlieren. Muß die Dichtung doch zugleich als Nachahmung erkennbar und vom Gewöhnlichen unterschieden sein. Indem Breitinger nun unterschiedliche Arten, das Wunderbare zu erzeugen, anführt, thematisiert er zugleich unterschiedliche Arten und Weise der Erzeugung möglicher Welten.193 Die bei Gottsched implizit bleibende Unterscheidung zwischen solchen poetischen Erfindungen, die die Gesetze der Natur verändern, und solchen, die den bestehenden Zusammenhang der Dinge unter Berücksichtigung dieser Gesetze lediglich umstellen, wird hier klar benannt, aber nicht zur Grundlage weitergehender Postulate. Denn Breitinger sind in Rücksichtnahme auf die Notwendigkeiten, die sich aus der Bequemung auf den Stand des Publikums ergeben, beide Arten der Weiterfindung recht. Dem Dichter bleiben hier, ebenso wie einstmals Gott, letztlich alle Möglichkeiten, und er kann sie je nach seinen Absichten einsetzen.194 Diejenige Welterfindung, die auch die Gesetze der 192 Breitinger: Critische Dichtkunst 134 f. 193 Davon handelt der Abschnitt „Von dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen" — hier wird beispielsweise betont, eine „neue Quelle des Wunderbaren" eröffne sich, wenn man „in die unsichtbare Welt der Geister hinüber" gehe (Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 157). 194 Siehe hierzu das Kapitel „Von der Nachahmung der Natur": „Alle diese möglichen Welten, ob sie gleich nicht würcklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche Wahrheit, die in ihrer Möglichkeit, so von allem Widerspruch frey sey, und in der allesvermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet ist. Nun stehen auch dieselben dem poetischen Mahler zum Gebrauche bereit und offen, und leihen ihm die Muster und die Materie zu seiner Nachahmung; und da er die Natur nicht alleine in dem Würcklichen, sondern auch in dem Möglichen nachzuahmen fähig ist, so erstrecket sich das Vermögen seiner Kunst so weit, als die Kräfte der Natur selbst; folglich muß der Poet nicht alleine die Wercke der Natur, die durch die Kraft der Schöpfung ihre Würcklichkeit erlanget haben, bekannt machen, sondern auch, was in ihren Kräften annoch verborgen lieget, fleissig studiren" (Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 56 f.).
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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Natur verändert, findet zudem ihre eigene Berechtigung, insofern hier nicht nur ein besonderes Potential besteht, die paradoxe Verbindung des Neuen mit dem Gewohnten hervorzubringen, 195 sondern auch die Möglichkeit, das in der Wirklichkeit Unsichtbare als ein Sichtbares einzuführen — dies ist der zentrale Streitpunkt der Auseinandersetzung um Miltons „Paradise Lost". 196 Betroffen sind davon diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, deren Existenz auf der Grundlage der göttlichen Offenbarung angenommen werden muß, die aber gleichwohl der Erschaffung einer möglichen Welt bedürfen, um sichtbar in Erscheinung treten zu können. Während für Gottsched die Bezugnahme auf einen in dieser Welt nützlichen moralischen Lehrsatz und die Übereinstimmung der Welt der Dichtung mit den Gesetzen der Wirklichkeit gegeben sein müssen, damit eine regelgerechte Dichtung vorliegt, kann also für Breitinger die Dichtung ihre didaktische Funktion auch erfüllen, wenn keine solche Übereinstimmung gegeben ist und in der Erschaffung der möglichen Welt auch die Regeln der Natur verändert wurden. 197 Maßstab des Gelingens ist vielmehr, ob die Gewohnheiten des Publikums überanstrengt werden oder nicht. 198 Die bei Gottsched nur unter dem Zwang, die äsopische Fabel zu verteidigen, eingeführte Unterscheidung in bedingte und unbedingte Wahrscheinlichkeit wird hier zur Grundlage einer neuen Anschlußmöglichkeit: Gerade indem der Dichter von der Forderung der unbe-
195 Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 74 ff. 196 Vgl. hierzu Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 174-76. 197 Dieser Unterschied zwischen Gottsched und den Schweizern muß übrigens keinesfalls als der entscheidende angesehen werden. Er ist hier insofern von Bedeutung, als er auf zwar unterschiedliche, in ihrem Problembezug aber sehr ähnliche Arten und Weisen der Rahmung des literarischen Textes verweist, wie sich sogleich zeigen wird. Indes ließe sich — hierin folge ich der These Schmidts — der hier markierte Unterschied zwischen Gottsched und den Schweizern auf einen tieferliegenden Unterschied auf der Ebene des Grundansatzes beziehen: Schmidt zeigt, daß die Schweizer einen Schwerpunkt auf die Erarbeitung von „Verfahren, mit deren Hilfe die künsderischen Botschaften vermittelt werden sollen", legen, während es Gottsched mehr um eine „vernünftige Begründung ihrer Inhalte" gehe (Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 84; ähnlich S. 127, S. 150 f.). Die Schweizer versuchen, „aus der Logik des sinnlichen Scheins Kriterien für poetische Darstellungsverfahren zu gewinnen" (S. 148), während Gottsched einer „Logik der Inhalte" (S. 127) verhaftet bleibt. Es ist klar, daß daraus ein unterschiedlich großes Engagement erwächst, die Bedingungen des Wahrscheinlichen zu bestimmen. 198 „Was die Erdichtung und Aufstellung gantz neuer Wesen und neuer Gesetze anbelanget, so hat der Poet grosse Vorsicht und Behutsamkeit zu gebrauchen, daß das Wunderbare nicht unglaublich werde und allen Schein der Wahrheit verliehre." (Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 137.) — Die andere, Gottsched sicherlich genehmere Art der Erschaffung „möglicher Welten, die aus einer blossen Aenderung der gegenwärtigen Zusammenordnung der erschaffenen Dinge nach anderen Absichten entstehen würden", behandelt ausführlich das Kapitel „Von der Verwandlung des Würcklichen ins Mögliche".
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III. Gelegenheiten: Konstellationen von Kausalität und Kontingenz
dingten Wahrscheinlichkeit absieht, kann er der Wirklichkeit, insofern sie unsichtbare Dinge beinhaltet, näher kommen.199 Es geht also auch hier um Fragen der Providenz und der Kontingenz. Gottsched und Breitinger regeln in unterschiedlicher Weise die Bezugnahme der Dichtung auf die göttliche Vorhersehung, den göttlichen Heilsplan. Die Uberzeugung, auch für den Bereich des Wahrscheinlichen eindeutige Regeln angeben zu können, kann Gottsched nur haben, wenn er Wahrscheinlichkeit letztlich doch im Sinne der von ihm abgelehnten Topik denkt — zumindest, was den Anspruch des unmittelbaren und allgemeinen Zugriffs auf die Wirklichkeit angeht. Zwar erscheint Gottsched die Topik nur als eine regellose Versammlung möglicher Argumentationsformen, doch stellt sich die Frage, wieviel mehr er selbst bietet. Denn alle Elemente eines poetischen Textes gewinnen für ihn nur aus ihrem Bezug auf die eine Wirklichkeit, den providentiell geordneten und prästablisierten Kosmos ihre Bedeutung - aus einem Wirklichkeitsbezug, den sich die frühneuzeitliche Topik als unmittelbar möglich vorstellt. Gleichwohl denkt er eine Dichtung, die situationsabstrakt ist in dem Sinne, daß ihre Wirkmächtigkeit nicht mehr von dem gemeinsamen Zugriff auf einen topisch geordneten Vorrat an Weltwissen abhängt, sondern von einem wissenschaftlich organisierten Wissen, das über eine aufgeklärte Öffentlichkeit vermittelt wird. Breitinger hingegen geht es um ein radikalisiertes Experimentieren mit genau diesen kontingenten Rahmenstiftungen. Hier wird die Tatsache ausgenutzt, daß das Kriterium der Widerspruchsfreiheit, nimmt man es ernst, wesentlich mehr Spielraum läßt als die Orientierung an der wirklichen Welt. Gerade in der Erschaffung einer möglichen Welt, die in ihrer Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit zuwiderläuft und damit für Gottsched unzulässig wäre, weil sie sich nicht auf die göttlich präferierte Weltordnung zurückbeziehen läßt, kann für Breitinger die göttliche Ordnung sichtbar werden. Gleichzeitig mag hier die Gefahr bestehen — und darin 199 Die Unterscheidung der Schöpfung in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil wird im Kapitel „Von der Nachahmung der Natur" eingeführt (Breitinger: Critische Dichtkunst I, S. 54ff.). Es heißt dort: „Diese, die unsichtbare Welt, fasset in ihrem Inbegriffe Gott, die Engel, die Seelen der Menschen; ihre Gedancken, Meinungen, Zuneigungen, Handlungen, Tugenden, Kräfte. Alle diese Sachen haben, weil sie würcklich sind, eine eigentliche und festgesetzte Wahrheit, die in dem Zeugnis der Sinnen, das damit übereinstimmet, dem Zeugnis des Gewissens, und der göttlichen Offenbarung gegründet ist." (S. 55.) Weiterhin: „allein weil sie [die unsichtbare Welt] vor den groben Sinnen gantz verschlossen ist, so hat sie vor die Einbildung nicht mehrere Wahrheit als die möglichen Dinge, und der Poet muß diese unsichtbaren Wesen in sichtbare Cörper, hiemit in eine gantz fremde Natur einkleiden, woferne sie der Phantasie vernehmlich und fühlbar vorstellen will [...]." (S. 56.) Daß der Dichter „nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet" läßt ihm den Status eines ,,Ποιητοϋ, eines Schöpfers" zukommen (S. 60).
4. Gottsched u. a.: Gelegenheitsdichtung
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scheinen Gottscheds Befürchtungen angesichts dieses Modells tatsächlich begründet zu sein daß dieser Bezug aufgrund der Beliebigkeit der Setzungen verloren geht. Hierin mag man die Nähe dieses Konzeptes zur späteren Autonomieästhetik sehen, die den Bezug der Dichtung auf die göttliche Schöpfung in viel radikalerer Weise abschneidet und eine Sinngebung nach Maßstäben projektiert, die von der Kunst als einem partikularen kommunikativen Zusammenhang organisiert werden. Beide Modelle stehen mithin zwischen den philosophischen Modellen von Kausalität und Rahmensetzung, die ich anhand der Lektüre von Wolff und Malebranche rekonstruiert habe. Sie sehen einerseits in der Erschaffung möglicher Welten eine Reinszenierung des Schöpfungsaktes, die indirekt auf die abstrakte Aufhebung der innerweltlichen Kontingenz in der Theodizee verweist. Andererseits aber geben sie sich damit nicht zufrieden und sind durchaus darauf aus, das innerweltlich Kontingente mittels der Dichtung auf die konkreten Maßgaben des göttlichen Heilsplans zu beziehen: Gottsched, indem er eine unmittelbare Rückbeziehbarkeit des Wahrscheinlichen auf die wirkliche Welt und die ihr inhärente moralische Ordnung einfordert; Breitinger, indem er der Dichtung auch das Sichtbarmachen unsichtbarer göttlicher Mächte ermöglichen will. In beiden Fällen muß die kontingente Rahmensetzung, auf der die dichterische Erfindung beruht, mit der Providenz der gegebenen Welt in Verbindung gebracht, ja in ihr aufgehoben werden. Und in beiden Fällen wird das Kontingente, bloß gelegentlich Verursachte, auf eine quasi-göttliche Rahmen- und Weltstiftung zurückgeführt. Diese Rückbeziehbarkeit auf die göttlich-providentielle Ordnung ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit für Poetik und Praxis der paratextuellen Gestaltung. Sowohl Gottsched als auch Breitinger nehmen dabei auf der philosophischen Ebene ihrer Argumentation recht genaue Definitionen dessen vor, was in einem neuen Sinne Geschichte heißen kann, während sie zugleich, wenn auch in unterschiedlicher Weise, den Bezug auf die göttliche Ordnung, auf eine aufklärerisch aufbereitete Heilsgeschichte, wahren. Die Konsequenzen für eine Poetik des Paratextes bei Gottsched sind oben bereits aufgezeigt worden. Für die Adressierung der Texte und die Lösung des Problems der Akkomodation ist in beiden Fällen entscheidend, daß die literarische Darstellung einerseits an kontingentem Geschehen die Ordnung der Schöpfung sichtbar macht - sei es als Vernunftordnung, wie bei Gottsched, sei es als Heilsordnung wie bei Breitinger — und andererseits diese Erkenntnis auf die wirkliche Welt überträgt. Die Rezipienten sollen so in die Lage versetzt werden, mittels des Textes und ausgehend von der eigenen Situation — darin besteht das Moment der Akkomodation — die allgemeine Ordnung der Dinge zu erkennen.
IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon": Aufklärung als Selbstadressierung Der Roman eignet sich vielleicht gerade deshalb für die Umsetzung der aufklärerischen Programmatik, weil er als Gattung in vielerlei Hinsicht hybrid ist und aus dem traditionellen Gattungsschema herausfällt. Dies gibt Freiheitsgrade an die Hand, die man nutzen kann, um die beschriebene komplexe Figur gleichzeitiger situativer Anbindung und Ablösung zu vollziehen. Gerade weil sich der Roman dem Gattungsschema nicht einfügt, ist ihm nicht von Vornherein ein Modell des Bezugs zwischen der Ordnung der Dinge und seiner (situativen) Besonderheit eingeschrieben. Es gibt also Möglichkeiten, mittels der Rahmung ein solches Verhältnis neu zu programmieren. Diese Möglichkeiten bleiben dem Roman erhalten, auch wenn die frühe Neuzeit eigene Gattungsschemata anbietet, die auf ihre Weise eine Bezugnahme auf die feststehende Ordnung der Dinge organisieren und der Forschung in Begriffen wie ,höfisch-historischer' oder ,Pikaroroman' geläufig sind: Einerseits bleiben gerade in den niederen Romanformen auch diese Schemata nur lose verbindlich. Andererseits sorgt die aufklärerische Kritik am ,Barockroman' im 18. Jahrhundert dafür, daß sich wiederum neue Freiheitsgrade ergeben. Der deutsche Roman hat dabei insbesondere durch die britische Entwicklung neue Impulse erhalten, beispielsweise durch Sternes „Tristram Shandy". Auf diesem Weg macht sich auch der Einfluß des britischen Empirismus geltend. Dieser Entwicklung gilt es Rechnung zu tragen, bevor gezeigt wird, daß Wielands „Geschichte des Agathon" mit den bislang rekonstruierten Verfahren, die situative Anbindung und Ablösung des Erzählens zu programmieren, bricht: Sternes und Wielands Romane inszenieren sich nicht mehr als .Sprachrohr' der Ordnung der Dinge, sondern konstituieren sich vielmehr bewußt in einer kontingenten Abkoppelung von der Wirklichkeit. Die Romane setzen mit dieser Abkoppelung zugleich ihr eigenes Potential, Ordnung zu stiften, in Szene. Das hat Konsequenzen für den Stellenwert ihrer (paratextuellen) Rahmung.
1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter Eine der bis heute fesselndsten Konstellationen von Erzählen und Paratext bzw. Paratextualität läßt sich an Sternes „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gendeman" (1759 ff.) beobachten.1 Die Sternes Roman inhärente Poetik, die nicht nur Wieland, sondern auch eine Vielzahl weiterer deutscher Romanautoren des 18. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat,2 steht dabei vor einem gänzlich anderen philosophischen Hintergrund als die bislang betrachteten rationalistischen Poetiken. Diskutiert wird (nicht zuletzt im Roman selbst) als philosophische Folie vor allem Lockes „An Essay concerning Human Understanding" (1690) - wobei sowohl die Anknüpfungspunkte an diesen Text als auch Divergenzen zu ihm zu betonen sind.3 Diesem Zusammenhang muß im vorliegenden Abschnitt zumindest so weit nachgegangen werden, daß entscheidende Argumente der empiristischen Erkenntnistheorie in ihrer Relevanz für die Romanpoetik beschrieben werden können. Damit läßt sich bei Sterne eine neuartige, gerade auch vermittels der paratextuellen Struktur entfaltete Problematik der narrativen Integration von Kontingenz und gelegentlicher Ver1
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In den Zitaten aus Sternes Roman bemühe ich mich, die typographischen Details, wie sie die hier genutzte Ausgabe den Originalausgaben entsprechend reproduziert (siehe Sterne: Tristram Shandy [17'59ff./2003], S. lvi f.), meinerseits möglichst genau wiederzugeben. Das betrifft insbesondere die Sterneschen ,dashes'. Hierzu Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert. Jean Paul berichtet, Wieland habe seinen „Tristram Shandy - wie ich in seiner Bibliothek selber gesehen bis zum Abgreifen eines Buchstabierbuchs wieder[ge]lesen." (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit". In: J. P.: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 1.5. Darmstadt 2000 [1804], S. 7 - 5 1 4 , S. 469 f.) Den engen Bezug des Romans zu Lockes Philosophie betonen beispielsweise Helene Moglen: The Philosophical Irony ofLaunnce Sterne. Gainesville 1975, insbesondere S. 9 - 3 0 , und Wolfgang Iser: Laurence Sternes ,Tristram Shandy'. Inszenierte Subjektivität. München 1987, S. 23-49. Dagegen hat Day anhand genauer Vergleiche des Wortlauts einzelner Argumente, die Sterne bei Locke entlehnt, nachzuweisen versucht, daß es Sterne eher um eine satirische Parodie geht, und auf die große Menge anderer Quellen Sternes verwiesen (W. G. Day: „Tristram Shandj. Locke May Not Be the Key". In: Valerie Grosvenor Myer (Hg.): ,Tristram Shandy': Riddles and Mysteries. London - Tatowa 1984, S. 75-83). Das Argument ist insofern nicht ganz treffend, als für Sternes Romane ohnehin immer schon eine zumindest ironisch gefärbte Locke-Rezeption angenommen wurde, beispielsweise von Moglen und Iser. Vgl. auch David E. Wellbery: „Der Zufall der Geburt. Sternes Poetik der Kontingenz". In: Gerhard von Graevenitz (Hg.): Kontingent ( - Poetik und Hermeneutik, Bd. XVII). München 1998, S. 291—317. Anderson schlägt als Bezugspunkt fur „Sterne's associationism" eher „such Renaissance writers as Montaigne" vor (Howard Anderson: „Associationism and Wit in ,Tristram Shandy'". In: Gerd Rohmann (Hg.): Laurence Steme. Darmstadt 1980 [1969], S. 96-112, S. 96), Lamb, neben vielen anderen, insbesondere Addison (Jonathan Lamb: Sterne's Fiction and the Double Prindple. Cambridge - New York - Port Chester u.a. 1989, S. 23-30).
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
ursachung beschreiben. Es soll vorgeführt werden, wie einerseits das Gelegentliche auf der Handlungsebene eine überaus zentrale Rolle erhält und wie andererseits Probleme der Kontingenz sowohl implizit in den erzählerischen Verfahren als auch explizit verhandelt werden. Daraus ergeben sich bemerkenswerte Konsequenzen für die Möglichkeit narrativer und paratextueller Rahmung. Lockes „Essay" setzt mit einer umfassenden Verabschiedung der für den Rationalismus grundlegenden Auffassung ein, der menschliche Geist sei von Beginn an mit „innate Principles"4 ausgestattet, die als Grundlagen jeder Erkenntnis dienen und entsprechend von allen Menschen als unbezweifelbar angenommen werden - Grundlagen, wie sie beispielsweise für die Leibnizsche oder Wolffsche Philosophie im Satz vom zureichenden Grunde und im Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch vorliegen.5 Natürlich schließt Locke mit dieser Wendung nicht die Möglichkeit aus, daß gleichwohl dem menschlichen Bewußtsein bestimmte Operationsmodi gemein sind. Auch diese aber können für Locke nicht die Gestalt vorgängig gegebener Erkenntnis annehmen, sie sind also nicht von vornherein als ideas gegeben, um den zentralen Begriff bei Locke zu zitieren.6 Vielmehr gelangt der Mensch erst durch Beobachtung zur Erkenntnis, und zwar teilweise auch auf dem Wege der Selbstbeobachtung. Dieses Argument ist in Lockes Auffassung begründet, daß der menschliche Geist, der ursprünglich einem unbeschriebenen weißen Blatt gleiche, Erkenntnis nur auf dem Wege der Erfahrung erlangen könne: Let us suppose the Mind to be, as w e say, white Paper, void o f all Characters, without any Ideas·, H o w comes it to be furnished? W h e n c e comes it by that vast store, which the busy and boundless Fancy o f Man has painted o n it, with an alm o s t endless variety? W h e n c e has it all the materials o f Reason and K n o w l e d g e ? T o this I answer, in one w o r d , f r o m Experience·. In that, all our K n o w l e d g e is founded; and f r o m that it ultimately derives it self. O u r Observation employ'd either about external, sensible Objects; or about the internal Operations of our Minds, perceived and reflected on by our selves, is that, which supplies our Understanding with all the
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John Locke: An Essay concerning Human Unterstanding. Hg. v. Peter H. Nidditch. Oxford 1984 [1690 ff.], S. 48. Dies ist der Titel des ersten Kapitels im ersten Buch. Lockes empiristische Philosophie geht auch hinsichtlich der Frage des commemum andere Wege als der Rationalismus. Zwar übernimmt er von Descartes die Annahme eines Dualismus körperlicher und geistiger Eigenschaften, leitet daraus aber keine substantielle Trennung ab (siehe Jonathan Bennett: „Locke's philosophy of mind". In: Vere Chappell (Hg.): Τ'he Cambridge Companion to Locke. Cambridge — New York — Melbourne 1994, S. 8 9 - 1 1 4 , S. 89 ff.). Entsprechend wird die Frage nach der Bewußtseinsfähigkeit von Materie anders diskutiert (vgl. Bennett: „Locke's philosophy of mind", S. 98 ff.). Zu Lockes Begriff der idea siehe Vere Chappell: „Locke's theory of ideas". In: Vere Chappell (Hg.): The Cambridge Companion to Locke. Cambridge - New York - Melbourne 1994, S. 2 6 - 5 5 .
1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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materials of thinking. These two are the Fountains of Knowledge, from whence all the Ideas we have, or can naturally have, do spring.7
Locke nennt also zwei Wege, die qua Erfahrung zur Erkenntnis führen, einmal sensations, Sinneswahrnehmungen, und zum zweiten reflections, Beobachtungen, die die Operationen des Erkenntnisapparates selbst betreffen.8 Vorausgesetzt wird dabei also nur, daß diese operations innerhalb des menschlichen Geistes stattfinden und (bis zu einem gewissen Grad) vom menschlichen Geist selbst beobachtet werden können. Der Aufwand, den Locke betreibt, um die Grade der Gewißheit zu bestimmen, mit der die unterschiedlichen Mechanismen des menschlichen Geistes die Welt erkennen können, ist beträchtlich. Locke arbeitet sich hier an den Konsequenzen ab, die sich aus der Verabschiedung der „innate principles" ergeben: Der Mensch erweist sich schlicht als angewiesen auf ein Funktionieren seiner Erkenntniskräfte, das er nicht notwendig aus vorgängigen Prinzipien (beispielsweise der Logik) herleiten kann. Der Ausweg besteht für Locke darin, daß er gleichwohl Formen der Erkenntnis postuliert, die unmittelbar auf die Wirklichkeit bezogen sind und daher sicher sein müssen — eine grundlegende Notwendigkeit wird so durch die Hintertür wieder eingeführt. 9 Locke hält die Wirklichkeit als solche beispielsweise insofern für zugänglich, als sie unmittelbar durch Sinnesdaten gegeben ist. Aber die sichere intuitive Erkenntnis umfaßt auch ein Wissen, das ausschließlich aus der Beobachtung der Operationsweise des Geistes gewonnen wird — hierzu zählt mathematisches Wissen. Die Sicherheit der Erkenntnis ist daher zu gewährleisten, indem in systematischer Weise weitergehende Erkenntnisse an diese basalen Formen der Erkenntnis rückgebunden werden. Allerdings impliziert Lockes empiristische Grundlegung der Erkenntnistheorie, daß er aus der Koexistenz von Phänomenen nicht mehr auf eine dieser Koexistenz zugrundeliegende Substanz schließen kann. 10 Damit entkoppeln sich die jeweils beobachtbaren Zusammenhänge der Phänomene von möglichen Zusammenhängen, die als jenseits dieser Beobachtung substantiell gegeben vorgestellt werden könnten. Eine weitergehende Entkoppelung des menschlichen Bewußtseins von der Wirklichkeit beschreibt Locke unter dem Stichwort der unregel7 8 9
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Locke: An Essay concerning Human Unterstanding, S. 104. Siehe Locke: An Essay concerning Human Unterstanding, S. 104 ff. Der wichtigste Begriff ist hier intuition. Siehe Locke: An Essay concerning Human Unterstanding, S. 530f. Vgl. Roger Woolhouse: „Locke's theory of knowledge". In: Vere Chappell (Hg.): The Cambridge Companion to Locke. Cambridge — New York - Melbourne 1994, S. 146—71. Vgl. die berühmte Erläuterung dieses Arguments anhand der Auffassung, die Erde ruhe auf einem Elefanten, der auf einer großen Schildkröte ruhe (Locke: An Essay concerning Human Unterstanding, S. 175, S. 295 f.).
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rV· Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
mäßigen succession of ideas, auf die er gewisse Merkwürdigkeiten in den Meinungen und Urteilen einzelner Menschen zurückfuhrt. Mitunter hinterlasse das kontingente Zusammentreffen zweier Außenereignisse einen derart bleibenden Eindruck im menschlichen Geist, daß die entsprechenden Ideen fortan als notwendig einander zugehörig angesehen würden. Die eine Idee rufe dann die andere auf den Plan und umgekehrt, ohne daß dieser gewohnheitsmäßigen Verbindung ein reales Substrat entspreche. Locke zufolge ist diese Entkoppelung der succession of ideas von der realen Verkettung der Dinge ein Ausnahmefall. Gleichwohl weiß er um ihre Gefährlichkeit und fordert, sie müsse in ihrem Einfluß zurückgedrängt werden.11 Demgegenüber ist gerade die Erzeugung und Inszenierung einer abgekoppelten succession of ideas Sternes Projekt.12 Der Roman zitiert Locke an prominenter Stelle und initiiert ein Erzählen, das nicht nur die - aus Lockes Sicht irreguläre — succession of ideas an seinen Protagonisten beobachtet, sondern sich auch selbst nach ihrem Prinzip vollzieht. Allerdings wird der assoziativ-kontingenten Ideenbeziehung eine gänzlich andere Bedeutung zugemessen: Gerade in ihrer scheinbaren Bezugslosigkeit zur Realität, gerade in ihrer Kontingenz erzeugt sie Ordnung.13 Kontingenz erhält so einen anderen Stellenwert.
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Zu Rezeption dieser Theorie Lockes insbesondere durch Hume siehe Hans Aarsleff: „Locke's influence". In: Vere Chappell (Hg.): The Cambridge Companion to Locke. Cambridge - New York - Melbourne 1994, S. 252-89. Vgl. hierzu die Studie von Iser: Laurence Sfemes , Tristram Shandy'. Iser zufolge entdeckt Sternes Roman „das auf sich selbst bezogene Subjekt" (S. 15) und als Folge dessen die „unaufhebbare Differenz, die sich zwischen einer Gegebenheit und ihrer Wiedergabe ausspannt": „Deshalb ist alles Erzählen für Sterne Inszenierung, nicht aber Mimesis." (S. 22.) Das soll wohl heißen, daß das Erzählen Zusammenhänge stiftet und nicht reproduziert (darauf komme ich später zurück). Diese Einsicht Sternes sowie das daraus folgende Erzählprogramm gehen laut Iser auf Lockes Theorie zurück, stellen jedoch keineswegs eine Kritik an dieser Theorie dar, sondern vielmehr deren „Wörtlichnehmen" (S. 26 ff., hier zitiert S. 31). Ähnlich, aber etwas vorsichtiger, argumentiert Moglen (Moglen: The Philosophical Irony of Laurence Sterne, S. 14ff.). Ihr zufolge macht Sternes Roman in erster Linie eine grundlegende Ambivalenz des Lockeschen Konzepts sichtbar: Diese nämlich lasse die unregelmäßige succession of ideas als mehr oder weniger unvermeidlich erscheinen und behaupte zugleich ihre Unzulässigkeit. Moglen leitet daraus ab, daß Sterne einen stärkeren Skeptizismus vertreten habe als Locke (siehe z. B. S. 24). Moglens These einer philosophischen Ironie Sternes, die in der Akzeptanz und dem Spiel mit der grundlegenden Ambivalenz der Lockeschen Philosophie bestehe, wird in den Lektüren nicht nur durch einen teils recht unpräzisen Gebrauch der Begriffe ,Ironie' und ,Paradoxie' ein wenig entwertet. Vielmehr geht sie außerdem auf eine vereindeutigende Ebenentrennung zurück: Ironisch ist Sternes Darstellung, so Moglen, weil Sterne als Autor sich von seinen Charakteren und insbesondere von seinem Erzähler unterscheidet (siehe z. B. S. 23). Mir scheint eine solche Unterscheidung indes vom Roman selbst unterlaufen zu werden; dafür sorgen nicht zuletzt, wie sich zeigen wird, seine paratextuellen Strategien. Wellbery: „Der Zufall der Geburt", S. 306 ff.
1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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Ein Schwerpunkt des Sterneschen Erzählens liegt auf demjenigen, was sich gelegentlich ergibt — was nicht zuletzt die auffallend häufige Verwendung des Wortes occasion sowohl als Substantiv als auch als Verb signalisiert.14 Zufälle und gelegentliche Verursachungen spielen auf allen Ebenen der Erzählung eine herausragende Rolle. Auf der Ebene der Handlung sind es einerseits äußere Zufalle, andererseits merkwürdige, in den originellen Charakteren gegründete Reaktionen, die für Überraschungen sorgen. Der Beginn des Romans zeigt sehr eindringlich, worum es geht, wird doch — ein Topos, der fortan immer wieder zitiert wird - das Schicksal der Hauptfigur (und damit dasjenige seiner Familie) auf eine ungünstige initiale Konstellation zurückgeführt. Seine Eltern, so beschwert sich der Erzähler eingangs, hätten sich über die Konsequenzen ihres Tuns klarer sein müssen, als sie ihn zeugten, sie hätten vor allem bedenken müssen that possibly the happy formation and temperature of his [Tristrams] body, perhaps his genius and very cast of mind;-and, for aught they know to the contrary, even the fortunes of his whole house might take their turn from the humours and dispositions which were then uppermost. 1 5
Wichtig erscheint an diesem Modell der Prägung des Charakters und seines Schicksals in einem initialen Moment16 die ihm inhärente paradoxe Konstruktion von Fatalität: Denn diese konüngente Prägung des Individuums erzeugt eine Eigendynamik seiner Entwicklung, der nicht gegenzusteuern ist: when they [die animal spirits] are once set a-going, whether right or wrong, 'tis not a halfjpenny matter,—away they go cluttering like hey-go-mad; and by treading the same steps over and over again, they presently make a road of it, as plain and smooth as garden-walk, which, when they are once used to it, the Devil himself sometimes shall not be able to drive them off it. 17
Entsprechend bewertet Walter Shandy die Geschichte von Tristrams Zeugung und Geburt als „chapter of chances"18 - als eine Verkettung von Zufallen, die seinen (Walters) Absichten fortwährend zuwiderlaufen und die Dinge davon abhalten, den Weg zu nehmen, den Walter ihnen als ihre Bestimmung zuweisen möchte.19 Statt dessen bahnen sich die animal spirits ihren eigenen Weg, „as plain and smooth as garden-walk", auf dem sie sich fortan bewegen. Wie ironisch auch immer der Rückgriff auf die ange14 15 16 17 18 19
Das Verb „to occasion" findet sich an zahllosen Stellen, ζ. B. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 95, S. 230, S. 516. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 5. Vgl. die Selbstcharateristik als „sport of small accidents" (Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 149). Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 6. Sterne: Tristram Shandy [1759ff/2003], S. 252. Wellbery sieht in der Inszenierung des väterlichen Scheiterns die zentrale narrative Struktur des Textes (Wellbery: „Der Zufall der Geburt", S. 207).
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
führten Vorstellungen über die Zeugung zu verstehen ist, in jedem Fall prägt das quasi-fatalistische Modell, das hinter Walters Auffassung steht, durchaus den Roman als ganzen. Dieses merkwürdige Ineinandergreifen von Kontingenz und Fatalität wäre undenkbar, würden die Grundlagen der rationalistischen Philosophie in Leibnizscher Tradition zugrundegelegt. Denn Sterne konzipiert eine Form der Eigengesetzlichkeit, die gerade auf der innerweltlichen Unterbrechung des Kausalitätskontinuums beruht. Diese Eigengesetzlichkeit wird mit Locke assoziationstheoretisch beschrieben: from an unhappy association of ideas which have no connection in nature, it so fell out at length, that my poor mother could never hear the said clock wound up,—but the thoughts of some other things unavoidably popp'd into her h e a d , - ^ vice versa:.—which strange combination of ideas, the sagatious Locke, who certainly understood the nature of these things better than most men, affirms to have produced more wry actions than all other sources of prejudice whatsoever. 20
Die Lockesche Vorstellung wird im folgenden immer wieder als Modell zur Erklärung der merkwürdigen Ereignisse herangezogen.21 Es dient als Formel zur Bezeichnung eines Mechanismus, der ansonsten prinzipiell unerklärlich bleibt. Denn die im empiristischen Ansatz gegründete Aufmerksamkeit für die Regularitäten der Verarbeitung von Sinnesdaten läßt eine kontingente Eigendynamik des Bewußtseins zum Vorschein kommen, die Grundbedingung allen Handelns und aller sozialen Ereignisse ist. So gipfelt die Originalität der Charaktere in ihrer völligen Unberechenbarkeit - insbesondere bei Walter Shandy: As many pictures as have been given of my father, how like him soever in different airs and attitudes-not one, or all of them, can ever help the reader to any kind of preconception of how my father would think, speak, or act, upon any untried occasion or occurrence of life-There was this infinitude of oddities in him, and of chances along with it, by which handle he would take a thing,—it baffled, Sir, all calculations.—The truth was, his road lay so far on one side, from wherein most men travelled,—that every object before him presented a face and section of itself to the eye, altogether different from the plan and elevation of it seen by the rest of mankind. 22
Unberechenbar ist Walter Shandy angesichts jeder ihrerseits neuartigen, mithin ebenfalls kontingenten und unvorhersehbaren „occasion or occurrence of life", weil er aufgrund seines abseitigen Charakters eine ebenso abseitige Perspektive auf die Dinge hat, weil der Weg, den seine animal spirits sich bereitet haben, so weit ab von demjenigen liegt, „wherein most
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Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 9. Ζ. B. Sterne: Tristram Shandy [1759ff.12003], S. 77, S. 174, S. 234. Sterne: Tristram Shandy [1759ff!2003], S. 344.
1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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men travelled".23 ,Charakter' ist dabei zwar etwas, was mit Prägung zu tun hat.24 Doch beruht diese Prägung mehr auf Gewohnheiten und auf durch Wiederholung und Affirmation erzeugter Kondensation von Verhaltensmustern, als daß sie von Regeln ableitbar wäre. .Charakter' entfaltet sich nur im Prozeß, in der succession of ideas, ohne daß letztere vorhersehbar wäre. Gründet sie doch in einer kontingenten Abkoppelung von den Abläufen in der Welt - eine Abkoppelung, die für Tristram in den fatalen Ereignissen anläßlich seiner Zeugung greifbar wird. Die charakteristische succession of ideas, der Weg, auf dem die Charaktere sich bewegen, bleibt mithin auch für die betroffenen Personen selbst kontingent und also unabwendbar — ansonsten könnte der Eindruck einer Fatalität, wie ihn der Erzähler zu Beginn des Romans auf den Plan ruft, ja gar nicht entstehen. Entsprechend läßt sich bei allen Protagonisten zwar aus der scheinbaren Kenntnis ihres Charakters so manche eigentümliche Reaktion erklären. Dennoch aber ist der Charakter selbst der Beschreibung letztlich nicht zugänglich - weshalb Onkel Toby nur vermittels der ausführlichen Vorstellung seines HOBBY-HORSE charakterisiert werden kann.25 Auch diese Beschreibungsmöglichkeit ist nicht vollständig treffend, ermöglicht aber immerhin die Erfassung eines Verhältnisses von Innen und Außen, das der Eigengesetzlichkeit des Charakters Rechnung trägt: A man and his HOBBY-HORSE, tho' I cannot say they act and react exactly after the same manner in which the soul and body do u p o n each other: Y e t doubdess, there is a communication between them o f some kind, and my opinion rather is, that there is something in it m o r e o f the manner o f electrified bodies,—and that by means o f the heated parts o f the rider, which c o m e immediately into contact with the back o f the HOBBY-HORSE. 26
Mit dem Verhältnis von Körper und Geist wird - wie oben deutlich geworden ist — eines der im 18. Jahrhundert besonders komplex diskutierten Momente von Kausalität aufgerufen und zum (wenn auch nicht ganz treffenden) Modell der Beschreibung erklärt. Die Beziehung zwischen Cha23
Dies ist übrigens ein Moment von Charakterisierung, das im „Don Sylvio" ebenfalls zu finden ist: „Don Sylvio dachte und that nichts wie gewöhnliche Menschen. Die Gedanken, die sich uns andern am ersten darbieten, fielen ihm allemal am letzten und gemeiniglich gar nicht ein; und wenn ihm ein sonderbarer Zufall begegnete, so rieth er augenblicklich diejenige Ursache dazu, die es nach dem Lauf der Natur am wenigsten seyn konnte." (Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, S. 40 f.)
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Zum Begriff des Charakters bei Sterne siehe Rainer Warning: „Fiktion und Wirklichkeit in Sternes Tristram Shandy und Diderots jacques le Fataliste". In: Hans Robert J a u ß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium dessen Juni 1963 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. I). München 1991 [1969], S. 9 6 - 1 1 2 , S. 96 ff. C. Maria Laudando: Parody, Paratext, Palimpsest. A Study of Intertextual Strategies in the Writings of Laurence Steme. Napoli 1995, S. 2 6 0 - 8 2 , bezieht Sternes Darstellung auf Hogarth' Unterscheidung zwischen Charakter und Karikatur. Sterne: Tristram Shandy [1759ff.12003], S. 64 ff. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 67.
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
rakter und HOBBY-HORSE wird als wechselseitige Beeinflussung gedacht, ohne daß die Eindeutigkeit einer Kausalbeziehung gegeben wäre.27 Auch hier kann Vorhersehbarkeit nicht gewährleistet werden, denn letztlich erschließen sich die Abläufe in ihrer Eigengesetzlichkeit keinem Beobachter.28 Das Zusammenspiel unterschiedlicher, auf diese Art parallel laufender Zusammenhänge erzeugt dann die spannungsvollen (und komischen) Ereignisse im Erzählzusammenhang, beispielsweise die eigentümliche Reaktion Tobys auf Walters Ausführungen zur richtigen Balance von radical moisture und radical beat29 Walters physiologischer Theorie gewinnt Toby in der Erinnerung an die Belagerung von Limerick eine sehr konkrete, in der militärischen Praxis relevante Bedeutung ab. Dies kann selbstverständlich auf Tobys Steckenpferd zurückgeführt werden. Eine solche Erklärung aber hat nur einen allgemeinen — und vor allem: nachträglichen - Stellenwert und kann das Auftreten dieser spezifischen Reaktion in dieser spezifischen Situation gerade nicht vorhersagen. Die Gesetzmäßigkeiten der Charaktere bleiben ebenso unergründlich wie wirkmächtig. Sternes Roman hat den (nicht nur erzählerischen) Umgang mit Kontingenz, wie er sich in Romanen der folgenden Jahrzehnte abzeichnet, in vielerlei Hinsicht beeinflußt.30 Eine unmittelbare Reaktion auf „Tristram Shandy" liegt mit Diderots „Jacques le Fataliste" vor: Schon der Titel führt mit dem von Jacques gepflegten Fatalismus ein Konzept ein, das sich als Konsequenz eines absoluten Kontingenzbewußtseins lesen läßt. Der Gleichmut, mit dem von Jacques angenommen wird, daß alles ,da oben schon geschrieben' stehe, führt ja gerade nicht dazu, daß Verfahren erprobt würden, den weiteren Verlauf des Geschehens vorherzubestimmen, dem man ausgesetzt ist. Aus der Perspektive des einzelnen bedeutet die (materialistisch konzipierte) Vorherbestimmtheit dasselbe wie unaufhebbare Kontingenz: Man weiß nie im Vorhinein, welche Konsequenzen das eigene Handeln zeitigen wird, weil dem fatalistisch-materialistischen Weltbild zufolge an die Stelle von Teleologien uneinsehbare Kausalme27
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In dieser Modellierung folgt die Erzählung ein Stückweit Locke, der dasjenige, was die Einheit des einzelnen insbesondere und die Einheit von Körper und Seele garantiert, im ungewissen läßt. Vgl. die Äußerungen über das Leib-Seele-Problem (Locke: An Essay concerning Human Unterstanding, S. 309 ff., S. 559 f.). Letztlich rettet sich Locke in einen Rückbezug auf die göttliche Macht - auch eine Figur, die die Kontingenz der Ausgangsbedingungen bezeichnet, welche das Operieren des Erkenntnisapparats bedingen. Ein weiteres wichtiges Beispiel für eine solche Beschreibung sind Tobys perplexities (Sterne: Tnstram Shandy [1759ff./2003], S. 73, S. 78). Auch die Unberechenbarkeit von Toby wird hervorgehoben (gegenüber dem ,Normalmaß' der „serpentine tracks"; S. 411). Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 355 ff. Umfassend hierzu für die deutsche Literatur siehe Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Kornan im 18. Jahrhundert.
1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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chanismen treten.31 Mehr noch, man weiß nicht einmal im einzelnen, wie die eigenen Handlungen in diesem Sinne jeweils kausal motiviert sind. Seine Handlungsfähigkeit kann sich Jacques gleichwohl bewahren, weil er weiß, daß sein eigenes Verhalten mitunter von nicht kontrollierbaren Mechanismen abhängt (auch wenn er seine Vorsorge im Nachhinein immer als kontingent, d. h. als ,dort oben vorgeschrieben' ausgibt).32 Ein radikales Kontingenzbewußtsein prägt auch das Erzählverhalten: Weil der Erzähler vorgibt, keinen Roman zu erzählen, werden Geschichten abgebrochen und alle Annahmen fortwährend enttäuscht, die der Leser über die Motiviertheit des Erzählens trifft - was nicht heißt, daß die Erzählung nicht auf einer anderen Ebene sehr genau teleologisch durchkonstruiert wäre.33 So werden einerseits die Erwartungen, die der Leser (und der Herr) hinsichtlich der von Jacques erzählten Liebesgeschichte hegen, gerade nicht erfüllt — statt dessen werden ganz andere Geschichten von ganz anderen Leuten erzählt. Andererseits ist der Roman insgesamt so angelegt, daß der Freiheitsglaube des Herrn letztlich als illusorisch vorgeführt wird. Die paradoxe Pointe des Romans liegt dann darin, daß seine erzählerisch-teleologische Ordnung die fatale Kontingenz des Weltgeschehens offenbart.
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Wie Behrens betont, ist man daher „in Bezug auf den Verlauf des kontingent erscheinenden Lebens immer zur Nachträglichkeit verurteilt, es sei denn, man ist als Erzähler der Urheber von künstlichen Kausalitäts- und Finalitätsverhältnissen" (Behrens: Umstrittene Theodi^ee, erzählte Kontingent S. 347). Hierzu siehe Warning: „Fiktion und Wirklichkeit", S. 103-12. Warning zufolge tritt in Diderots Roman „an die Stelle eines idealischen Geschehens die prästabilierte Harmonie einer kontingenten Wirklichkeit, die menschlichem Verhalten keine Normen mehr liefert" (S. 106). Diderots „Illusionsbegriff' sei „wirkungsästhetisch orientiert, der Sternes autonom-ästhetisch" (S. 111). Behrens betont, daß auch Jacques Vorsorge determiniert ist, „nämlich seinem Sensorium für das jeweils Vernünftige gemäß" (Behrens: Umstrittene Theodi^ee, erzählte Kontingent S. 352). Allerdings, so hebt Behrens hevor, dient die teleologische Konstruktion der Erzählung gerade dem Beweis des auf Kausalität setzenden Fatalismus: „Ein besonderer Reiz liegt eben darin, daß er [der Roman] das pointiert antiprovidentielle Sinnsystem des materialistischen Determinismus als dominierendes Motivationsmuster für den Handlungsaufbau benutzt und experimentell bestätigt, aber meist im Rahmen gegenläufiger erzählerischer Teleologie. Die damit einhergehende Ironie ist nicht entwertend, sondern macht durch die Illusionsbildung hindurch deutlich, daß der Roman als benutzte Gattung nur in beschränkter Hinsicht dazu taugt, die Konsistenz und Kontingenz der Lebenswelt zu simulieren." (Behrens: Umstrittene Theodi^ee, erzählte Kontingent S. 364.) Damit wird ein prekäres Wechselverhältnis zwischen dem ,,menschliche[n] Bedürfnis nach einer schon vorgeordneten Welt" (S. 358), das Diderot anerkenne, und der Einsicht des materialistischen Determinismus inszeniert: „Die konkrete Diskrepanz zwischen dem Bedürfnis nach vorgeordneten und gefugten Zusammenhängen und der faktisch bloßen Kausalität in der empirischen Wirklichkeit wird folglich nicht etwa zuungunsten der erzählerischen Ordnung entschieden, sondern in unaufgelöstem Spannungsverhältnis belassen." (S. 360.) Vgl. auch Frick: Provident und Kontingent S. 501 f.
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Wenn nun Jacques, im Gegensatz zu seinem Herrn, der dessen absolutes Kontingenzbewußtsein nicht teilt, in die unmöglichsten Situationen geraten kann, ohne dies als Scheitern seines Lebensweges erleben zu müssen, so hat ein Charakter wie Walter Shandy genau diese Möglichkeit nicht. Das hat zu tun mit der Reichweite, die Walter seinen Projekten zuschreibt.34 Wellbery hat in einem Beitrag zur Kontingenzproblematik im „Tristram Shandy" ausführlich dargelegt, daß gerade die Brüder Shandy, die oben als Exempel für die unvorhersehbare Komplexität der Charaktere gedient haben, jedenfalls keine konsequente Einsicht in die unaufhebbare Kontingenz des Geschehens haben, mit der sie leben müssen. Sowohl Walters Projekt der Ermächtigung des Shandyschen Geschlechts als auch Tobys Bewältigungsversuch der eigenen Verwundung, der bobbyhorsical ausfallen muß, lenken von dieser Kontingenz ab bzw. verdecken sie, anstatt sich ihr zu stellen und zu versuchen, ihr als solcher einen Sinn abzugewinnen. Walter Shandy versucht, jeden Eindruck von Kontingenz mit den Mitteln einer universalen Gelehrsamkeit aufzuheben. Daher geben sich Walters Theorien beispielsweise von der Magie der Namen oder von der Bedeutung der Nasen als Annahmen, die die Welt in all ihren Ausmaßen erschließen wollen. Gerade weil Walter an der kontingenten Widerständigkeit der Dinge leidet, möchte er sie in ihrer Gesamtheit erfassen. Die Erzählung selbst liefert demgegenüber gleich zu Beginn eine Unterscheidung, die dem Weltbegriff zuwiderläuft, der Walters Ambitionen implizit ist.35 Sie unterscheidet %wei Begriffe von Welt. Wenn gesagt wird,
34 35
Siehe hierzu Iser: Laurence Sternes,Tristram Shandy', S. 51—54. Entsprechend ist die succession of ideas, die das Erzählen selbst entfaltet, auch anders zu bewerten als diejenige Walters und Tobys. Genau hier liegt der Punkt, an dem Sterne sich von Locke entfernt. So schreibt Anderson, Sternes „associationism" sei „not Locke's. Toby and Walter, still more the learned lawyers and theologians, embody something very close to the isolated madness which appalls Locke - though even in them we come to see, thanks to Tristram's insight, the links in the chain of association. But in Tristram above all we have a mind which makes non-rational connections and which we come, nevertheless, to understand. We can understand it because Tristram shows us that while associations may appear to be random, they are in fact connected." (Anderson: „Associationism and Wit in ,Tristram Shandy'", S. 102; Anderson kommt allerdings zu einem Schluß, dem die folgenden Ausführungen nicht folgen: „Tristram's own associations are never merely with the accidental part of being: they are common associations of the human mind; embodied as they necessarily are in Tristram's unique experience, they are nonetheless comprehensible"; S. 106.) Auch Iser hebt Walters und Tobys Charakter deutlich von demjenigen des Erzählers ab, indem er ihnen „Besessenheit" attestiert (Iser: haurence Sternes ,Tristram Shandy', S. 35-49, zitiert S. 37). Den Erzähler hingegen präge der (notwendig scheiternde) Versuch, das Leben schreibend einzuholen (siehe z. B. S. 42 f.). Moglen kann auf der Grundlage ihres Ironiekonzeptes keine derartigen Unterschiede zwischen den Charakteren ausmachen:
1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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die örtliche Hebamme habe sich ,in der Welt' einen guten Ruf erarbeitet, so muß präzisiert werden, was hier unter Welt zu verstehen sein soll: by which word understood no great world, of where the good
world, need I in this place inform your worship, that I would be more of it, than a small circle described upon the circle of the four English miles diameter, or thereabouts, of which the cottage old woman lived, is supposed to be the centre. 36
Sternes Humor ist in diesem Punkt sehr ernst zu nehmen, denn die Unterscheidung zwischen der „great world" und einer - hier recht willkürlich als „circle of four English miles diameter" definierten - .kleinen Welt' ist grundlegend für den gesamten Roman. Der Witz der Begriffsbestimmung liegt nicht nur darin, daß sie auf die Eingeschränktheit desjenigen hinweist, was unsere Aufmerksamkeit erfassen kann — und was wir komischerweise gleichwohl für die Welt zu halten gewillt sind (in deren Zentrum wir uns selbst setzen). Vielmehr erweist die Erzählung, daß die Welt in der Welt begrenzt werden muß, will man überhaupt konsistente Beobachtungen anstellen - eine Begrenzung, die ihrerseits nicht auf notwendige Kriterien zurückgreifen kann und die mithin kontingent ist (darauf verweist schon die willkürliche Meilenangabe). Die .kleine' Welt ist die einzige Zugangsmöglichkeit zur ,großen' Welt. 37 Die Welt ist in Sternes Erzählung also nicht als universales Kausalkontinuum zu erfassen. An die Stelle einer solchen Beschreibung tritt die Erfassung kontingenter Prozesse, die in der Welt ablaufen - beispielsweise innerhalb des Bewußtseins der Charaktere - und auf der Ebene sozialer Begebenheiten merkwürdige Wechselwirkungen zeitigen, die ihrerseits nur innerhalb des beschränkten Rahmens einer überschaubaren Gruppe studiert werden können. 38 Allerdings handelt es sich nicht nur um ein
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38
ihr zufolge kann sich nur der ironische Autor von deren exzentrischer Befangenheit distanzieren (siehe Moglen: The Philosophical Irony of Laurence Sterne, S. 65-96). Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2005•], S. 12. Zur Unterscheidung zwischen der kleinen und der großen Welt siehe Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 39. Hier wird insbesondere eine Beziehung zum Sterneschen Humorbegriff hergestellt: „Der Sternesche Humor [...] ist das Bewußtsein davon, daß jeder Weltbezug den Gegenständen gegenüber zu kurz kommt." (S. 40.) Wichtig ist - vor allem für meine Ausführungen zu Jean Paul in VI.2.b - die Versöhnung von Satire und Empfindsamkeit, zwischen Verstand und Gefühl im Sterneschen Humor (S. 29 ff., S. 40). Zum Humorkonzept bei Sterne siehe auch Iser: Laurence Sternes ,Tristram Shandy', S. 136-50; Iser sieht bei Sterne bereits das Jean Paulsche Humorkonzept verwirklicht (siehe dazu VI.2.b). Steht innerhalb des geschilderten Geschehens die von solchen Wechselwirkungen geprägte Interaktion zwischen Charakteren im Zentrum, die jeweils einer unterschiedlichen succession of ideas unterliegen, so inszeniert der Erzähler eine solche Interaktion angesichts der eigenen succession of ideas mit fiktiven Lesern. Das Schreiben des Buches wird zu einem Dialog, insofern der Erzähler mögliche Reaktionen seiner Leser einzubeziehen versucht (vgl. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 96). Diesen Umstand nimmt Michelsen zum Ausgangspunkt seiner Analyse des Romans (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Reman im
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quantitatives' Argument: Denn die ihm zugrundeliegende Einsicht ist auch, daß jede Beobachtung der Welt einen Bereich schafft, den sie nicht zu beobachten vermag, daß sie also eine Grenze zieht, die sie nicht überschreiten kann. Das wird schon daran deutlich, daß den Charakteren die Prinzipien, nach denen ihre succession of ideas abläuft, nicht einsichtig sind. Die große Welt wird so zu einem Zusammenhang, innerhalb dessen Grenzen gezogen sind, an denen sich kontingente Ordnungen aufbauen können. So wie sich die Figuren in ihrer Charakteristik einer vollständigen und allgemeinen Beschreibung entziehen, kann sich die Erzählung nicht mehr auf das Ganze der Welt beziehen. Diese Konsequenz des Sterneschen Weltbildes für das Erzählverfahren steht im Zentrum meines Interesses.39 Die in die Erzählung eingezogene Ebene der Reflexion auf die Möglichkeiten erzählerischer Konsistenzstiftung kommt also, indem sie sich gerade nicht rationalistischer Prämissen, sondern des Lockeschen Empirismus bedient und diesen radikalisiert, zu einer vollkommen anderen Bewertung von Kontingenz: Konstitutiv für das Verhalten und die Wahrnehmung der Einzelpersonen ist eine Form der Ordnung, die sich nur auf der Grundlage einer Entkoppelung von der Umwelt einstellt und die in 18. Jahrhundert, S. 12ff.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Metaphorik des Tanzes (S. 24 f.). Hunter zeigt ausgehend von der von Trim verlesenen Predigt Yoricks, wie eine mögliche didaktische Wirkung des Romans im Rahmen einer solchen dialogischen Konzeption vorgestellt werden kann. Entscheidend ist dabei, daß einer Eingemeindung des Textes entsprechend der jeweiligen hobby horses der Rezipienten vorgebeugt werden muß: „While a reader may puzzle and tie himself in knots over Tristram Shandy, he can hardly use the book for his own purposes, or fall asleep where its words assert their authority. If he finds it (like life) too complicated, too difficult, too infuriating, he can abandon it; but if he stays with it he will [...] leave a wiser man." (J. Paul Hunter: „Response as Reformation: ,Tristram Shandy' and the Art of Interruption". In: Gerd Rohmann (Hg.): Laurence Sterne. Darmstadt 1980 [1970], S. 178-97, S. 196; zum fiktiven Leser vgl. auch - im selben Sammelband: Mary S. Wagoner: „Satire on the Reader in ,Tristram Shandy'" [1966], S. 155-63. Sehr ähnlich argumentiert Iser: Laurence Sternes,Tristram Shandy', S. 84 f.). Zum dialogischen Verfahren Sternes siehe Laudando: Parody, Paratext, Palimpsest, programmatisch S. 13 ff. Laudando hebt immer wieder den Zusammenhang zwischen Dialogizität, Intertextualität und Paratextualität hervor. Implizit nutzt sie dabei ein Konzept von Adressierung, wenn sie beispielsweise Intertextualität als „interpellation" beschreibt (S. 23). Zu den Techniken der Unterbrechung und der Vielstimmigkeit siehe auch Iser: Laurence Sternes ,Tristram Shandy', S. 78—90, zu Sternes Kommunikationsmodeü S. 56—60. 39
Warning liefert — allerdings ausgehend von der Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit - eine ähnliche Beschreibung der ,Welten', die die Charaktere jeweils konstituieren: „Wie bei allen Shandys, so stiftet auch Tristrams Hobby-Horse einen imaginären Raum, in dem er seine Existenz fiktionalisiert: die Welt des Romans." (Warning: „Fiktion und Wirklichkeit", S. 101.) Auszugehen sei daher von „einer ontologischen Differenzierung zwischen der realen Welt der Shandys und der ever-balanced world des Romans, zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Sein und Schein" (S. 103). Insbesondere der Erzählerkommentar lenke „die Aufmerksamkeit des Lesers auf die sich vom Stoff lösende Darstellung" (S. 101). Auch Iser betont, die Charaktere erzeugten sich ihre eigene Welt (Iser: Laurence Sternes,Tristram Shandy', S. 33).
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Umkehrung des rationalistischen Modells ihrerseits zur Gelegenheitsursache der entscheidenden Vorgänge in der erzählten Welt wird. Der Erzählprozeß selbst nimmt so die Gestalt einer kontingenten succession of ideas an, die nur teilweise vom Erzähler kontrolliert werden kann - weshalb das Buch als Maschine bezeichnet40 und in seinem Verlauf nur noch durch recht merkwürdig verlaufende, verschlungene Linien rekonstruiert werden kann.41 Die Digression wird zum tragenden Prinzip der Erzählung - und das Gelegentliche zu einem ihrer wichtigsten Themen: Alles kann hier zur Gelegenheit für einen Sprung aus dem gegebenen Zusammenhang heraus werden. Denn als occasion konstruieren die handelnden Personen und der Erzähler fortwährend Anlässe, von etwas anderem zu handeln.42 In diesem Sinne behauptet der Erzähler, die Feder regiere ihn, nicht er die Feder.43 Er sieht sich dazu gezwungen, viele Erzählstränge zugleich offen zu halten,44 er stößt auf Kreuzwege und sieht sich zu Entscheidungen gezwungen, für die er keine Kriterien angeben kann.45 Die oft hervorgehobene merkwürdige zeitliche Struktur der Erzählung46 ergibt 40 41 42
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46
Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 431. Dies stellt eine eigenwillige Verkehrung der rationalistischen Weltmetapher dar. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 425 ff. Als eine der Strukturen, die dieses Verlassen und gleichzeitige Fortsetzen des Zusammenhangs im einzelnen ermöglichen, macht Lamb das (in Anlehnung an Addison so benannte) „double principle" aus (Lamb: Sterne's Fiction and the Double Prinaple, S. 23-30): Indem die Erzählung an ein und derselben Gegebenheit aufweist, daß sie - einem Kippbild ähnlich zwei unterschiedliche, ja einander mitunter widersprechende, Dinge verkörpert, kann sie die Erzählzusammenhänge verdoppeln und sie doch zugleich miteinander verbinden. Zu Sternes programmatisch äquivoker Schreibweise siehe auch Iser: Laurence Sternes ,Tristram Shandy', S. 104-15. Sterne: Tristram Shandy [1759ff.12003], S. 375. Siehe auch Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Reman im 18. Jahrhundert, S. 14: „Gerade nicht das ,Ich', sondern die ,Feder' regiert den Stil. Das heißt aber: es ist das Schreiben selbst, von dem Sterne ergriffen wird." „I have a hundred difficulties which I have promised to clear up, and a thousand distresses and domestic misadventures crouding in upon me thick and three-fold, one upon the neck of another" (Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 212). Der Erzähler entscheidet sich gegen einen verfrühten Bericht von Tobys Liebschaft (Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 187); er unterbricht willkürlich Trims Erzählung der Geschichte von le Fever (S. 331) und nimmt sie später an ebenso willkürlicher Stelle wieder auf (S. 375). Siehe ausführlich Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 19 ff. Michelsen zeigt sehr überzeugend, daß die Vervielfältigung der ,kleinen Welten' im Roman insbesondere die Etablierung „mehrerer Zeitsysteme" (S. 21) nach sich zieht. Er weist darauf hin, daß die subjektive Zeitwahrnehmung Vorteile für die Realitätskonstruktion hat: „Zugleich aber gestaltet er [Sterne] die Zeit, die als Wirklichkeit im subjektiven Erleben existiert. Die Schwäche der Relativität, die dieser Zeit eigen ist, ist zugleich ihre Stärke. Denn das Subjekt, das ebenso das vor fünfzig Jahren wie das vor einer Minute Erlebte in sein Bewußtsein heben kann, vermag durch eine dem Nebeneinander gemessener Zeit nicht entsprechende Reproduktion des Erlebten in der Einbildungskraft eine durchaus willkürliche Aufeinanderfolge von Vorstellungen zu schaffen, die tatsächlich die Zeit nur als
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sich aus dieser Komplexität: Weil die succession of ideas der einzelnen Protagonisten und die dadurch auf der Ebene des Sozialen sich erzeugten Wechselwirkungen immer nur im Verweis auf weitere, ihrerseits sehr komplexe Verläufe erläutert werden können, muß sich der zu erklärende Zusammenhang vervielfältigen. Die eingangs getroffene Entscheidung des Erzählers, seine Geschichte ab ovo zu erzählen,47 subvertiert sich mithin selbst, denn sie wird so ernst genommen, daß der Erzähler an jeder Stelle so viele kontingente Umstände in den Blick nehmen muß, daß sich seiner eigenen Rechnung zufolge im Prozeß des Schreibens die Menge des noch zu Schreibenden immer weiter vergrößert.48 Damit wird aber ex negative deutlich, daß nicht nur bei Sterne, sondern auch in jeder ,konventionellen' Erzählung die Ordnung der Darstellung sich nicht aus einer Ordnung herleitet, die den Ereignissen bereits innewohnte. Vielmehr stiftet erst das Erzählen diese Ordnung, und zwar, wie Sternes Roman ebenfalls deutlich macht, durch kontingente Operationen. Bestimmt man die Digression als Abwendung vom eigentlichen Gegenstand der Erzählung,49 so ist ein Moment von Digressivität damit unvermeidlich. Denn in diesem Sinn entsteht die ,eigentliche' Geschichte immer erst aus einer Abwendung von den eigentlichen' Ereignissen. Trotz seiner hohen Digressivität stiftet auch Sternes Roman ein hohes Maß an Konsistenz, und er ist sich dessen auch bewußt. Das liegt zunächst an der schlichten Tatsache, daß jede Beobachtung, die die Erzählung trifft, die Möglichkeiten weiterer Beobachtung limitiert. Ein Sprung aus dem jeweiligen erzählerischen Zusammenhang heraus kann daher auch neue Ordnungsmuster erzeugen (und nicht nur alte zerstören).50 Als Bildsukzession des Subjekts kennt. [...] Nur imaginativ geschieht das Reale dem Subjekt, ist es für es .wirklich'." (S. 27.) Michelsen konzipiert ein Wechselverhältnis zwischen der Einschränkung und der E r ö f f n u n g neuer Beobachtungsmöglichkeiten, das auch hier als zentrales Strukturmoment des Romans hervorgehoben wird. - Mayoux' Untersuchung über ,,[e]rlebte und erzählte Zeit" in Sternes Roman zielt ebenfalls auf die „Vielfalt der Mikrokosmen" ab, die das Zeiterleben der einzelnen Figuren erzeugt (Jean-Jacques Mayoux: „Erlebte und erzählte Zeit in ,Tristram Shandy"'. In: G e r d Rohmann (Hg.): Laurence Sterne. Darmstadt 1 9 8 0 [1970], S. 3 7 5 - 9 3 , S. 379). Z w a r sei dem Geschehen, das sich aus den Wechselwirkungen zwischen diesen Mikrokosmen ergibt, die organisatorische Tätigkeit des Erzählers übergeordnet — er „richtet sich in der Gegenwart ein und jongliert dort überlegen mit der ganzen Vergangenheit" - , doch liege seinem Erzählen das „Angstgefühl" zugrunde, der Zeit letztlich doch hilflos ausgeliefert zu sein (S. 392). Zur Zeitstruktur des Romans siehe auch Iser: Laurence Sternes,Tristram Shandy', S. 9 7 - 1 0 4 . 47
Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003],
S. 8.
48
Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003],
S. 2 5 6 f.
49
Das ist durchaus eine Bestimmung im Sinne der antiken Rhetorik. Hierzu siehe VI.3.a.
50
S o folgt man auch im Falle v o n „Jacques le Fataliste" bereitwillig jedem neuen Erzählstrang, der abzweigt: Die bisherigen Erzählzusammenhänge werden hier deshalb nicht beeinträchtigt, weil sich die neuen v o n ihnen abkoppeln und in sich selbst wieder Ordnung saften.
1. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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Bezeichnung für die Konsistenz, die sich auf diese Weise im Vollzug des Erzählens etabliert, fungiert im Roman der Begriff des Charakters. Dabei ist der oben zitierten Passage über das Verhältnis zwischen Charakter und hobby horse zu entnehmen, daß der Charakter der Erzählung nur aus ihrer Dynamik wird hergeleitet werden können. Ahnlich wie man sich der Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele bis zu einem bestimmten Grad gewiß sein kann, ohne doch ihre ersten Grundsätze angeben zu können, soll der Charakter nicht nur der handelnden Personen, sondern auch der Erzählung selbst in der Erzählung greifbar werden, ohne daß man die Prinzipien benennen könnte, mittels deren man ihn aus dem Verlauf der Erzählung ableiten kann. 51 Ihre Digressivität impliziert gerade nicht, daß sich mittels der Erzählung gar keine Ordnung mehr etablieren ließe, im Gegenteil: die Sterne-Forschung arbeitet sich nicht zuletzt daran ab, Ordnungsmuster im Roman zu rekonstruieren. 52 Die zentrale Hinsicht, die der Roman vermittelt, besteht vielmehr darin, daß Ordnung ohne die Annahme einer globalen und kontinuierlichen Kausalität und auf der Basis kontingenter Grenzziehungen denkbar ist. Deshalb kann er seinen digressiven Stil, den er mehrfach thematisiert, 53 dennoch für progressiv erklären: 54 Er ist es, indem er zur Fortsetzung des Erzählens beiträgt und damit die Konsistenz und Ordnung des Erzählens erzeugt. 55
51
52
53 54 55
Vgl. eine ähnliche These Isers über das hobby-horse·, „als Mythologie signalisiert es die Unzugänglichkeit, und als Schema die Vorstellbarkeit der Subjektivität", ja es wird so insgesamt zur „Metapher für die Lesbarkeit der Subjektivität" (S. 71). Des weiteren zum hobby-horse siehe S. 66-71, S. 32. Ein .klassischer' Beitrag zu dieser Diskussion ist Wayne C. Booth: „Did Sterne Complete Tristram Shandy?". In: Modem Philology XLVII, 1951, S. 172-83; vgl. auch Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961, S. 231 f. Siehe hierzu die Angaben in Wellbery: „Der Zufall der Geburt". Vgl. auch Martin Schulze: „Do you know the meaning of ***•*? Die markierte Auslassung als Indiz fur die planvolle Konzeption des Tristram Shandy". In: Gerd Rohmann (Hg.): Taurence Sterne. Darmstadt 1980 [1977], S. 394—436, sowie mit einer ausführlichen Rekonstruktion des Handlungsablaufs und dem Nachweis der durchgängigen Stimmigkeit der Datumsangaben im selben Sammelband Theodore Baird: „The TimeScheme of,Tristram Shandy' and a Source" [1936], S. 317—41. Beispielsweise Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 34 f., S. 559. Die Rede ist von einer „progressive digression" (Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 63). Zum Verhältnis von Digression und Narration allgemein und insbesondere bei Sterne ist sehr instruktiv J. Hillis Miller: Reading Narrative. Norman 1998, S. 61-83. Miller geht von den bereits erwähnten Zeichnungen des Erzählverlaufs aus, die Sterne am Ende des sechsten Buches seines Romans abdruckt (siehe Sterne: Tristram Shandy [1759ff.)2003], S. 425 ff.) und zeigt, wie Sternes Roman die Metapher der Linearität des Erzählens auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit transparent macht: „The interest of a narrative line lies in its digressions, in episodes that might be diagrammed as loops, knots, interruptions, or detours making a visible figure. [...] The strangeness of any narrative line lies in the impossibility of distinguishing irrelevance from relevance, digression from the straight and narrow. Tristram Shandy as a whole is a magnificent demonstration of this." (Miller: Reading
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Interessanterweise wird der Zusammenhang zwischen der intrinsischen Kontingenz und Unvorhersehbarkeit des Erzählverlaufs auf der einen und der Etablierung der erzählerischen Ordnung (des Charakters der Erzählung) auf der anderen Seite insbesondere an den Rändern des Textes namhaft. So schließt gleich das erste Buch mit dem Postulat, das eigene Schreiben müsse für den Leser unvorhersehbar bleiben: What these perplexities of my uncle Toby were,—'tis impossible for you to guess;—if you could,-I should blush; not as a relation,—not as a man,-nor even as a woman,-but I should blush as an author; inasmuch as I set no smaller store by myself upon this very account, that my reader has never yet been able to guess any thing. And in this, Sir, I am of so nice and singular a humour, that if I thought you was able to form the least judgement or probable conjecture to yourself, of what was to come in the next page,—I would tear it out of my book. 56
Ähnliche Beteuerungen kehren am Ende des zweiten 57 und des vierten Buchs wieder. 58 Das siebte Buch endet mit „I begun thus—", und zu Beginn des achten Buchs heißt es dann: The thing is this. That of all the several ways of beginning a book which are now in practice throughout the known world, I am confident my own way of doing it is the best— —I'm sure it is the most religious—for I begin with wridng the first sentence— and trusting to Almighty God for the second. 59
Tristrams Gottvertrauen ähnelt in gewisser Weise Lockes Vertrauen darauf, daß das Bewußtsein eben so funktioniert, wie es funktioniert, so daß man Erkenntnis nicht durch die Annahme vorgängiger Prinzipien (der innate ideas) legitimieren muß. Entscheidend aber ist, daß die Unvorhersehbarkeit des Erzählverlaufs sich auch für den Erzähler insbesondere im
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Narrative, S. 68 f.) Gerade die zeichnerische Repräsentation der Linien des Erzählens „disarticulates the line, dissolves it, reduces it to fragmentary bits. It does this by showing its arbitrary or figurative quality and by showing the comic inability of this figure to account for or to plot the various regions of experience it is supposed to represent. The straighter the line, the more Archimedean it is, the less significance it has as a representation of anything human, the less susceptible it is to being repeated again as a recognizable sign, since all straight lines are the same, and the less it invites, unlike the line of beauty, to reproduction. On the other hand, the more information the line carries, the more curved, knotted, or hieroglyphic it is, the less it can any longer be called a line, and the closer it approaches toward the almost completely disordered state of broken yarn strands compacted in a ball or of a dust cloud in Brownian movement, impossible to graph by a line." (S. 70.) - Isers These, bei Sterne fungiere die „Digression als Möglichkeit, fixierte Lebenserwartungen zu durchbrechen, Realität in Ereigniserwartungen aufzuheben und unauslotbare Subjektivität übersetzbar zu machen" (Isen Lawrence Sternes ,Tristram Shandy', S. 97), scheint mir die ordnungsstiftende Funktion des digressiven Erzählens zu unterschätzen. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 69 f. Sterne: Tristram Shandy [1759ff,/2003], S. 136 f. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 304. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S.490.
t. „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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Modus der Unterbrechung des Erzählens artikuliert. Auch wenn er nach eigener Aussage nicht gerne bei einer Erzählung unterbrochen wird,60 ist er stets selbst bereit, seine Erzählung abzubrechen. Ein solcher Abbruch aber erfolgt immer mehr oder weniger kontingenterweise und mitunter ohne eine willentliche Entscheidung des Erzählers. Mittels der Abschnitte, die so entstehen, mag sich dann wiederum, im Vertrauen auf Gott bzw. das Medium des Erzählens, Ordnung herstellen. Die Paratexte dienen mithin im Rahmen der Erzählfiktion gerade nicht der Einschreibung des Textes in ein Gefüge vorgegebener Gelegenheiten, sondern unterbrechen soeben gestiftete Zusammenhänge und bringen in nicht vorhersehbarer Weise etwas Neues ins Spiel. Sie erweisen sich in dieser Hinsicht als äquivalent zu anderen Gelegenheiten in der erzählten Welt, ohne daß sie dadurch ihre Funktion verlören, die Erzählung, so wie sie in der realen und in der erzählten Welt vorliegt, zu strukturieren. Wenn sich das Erzählen vollzieht und dabei selbst beobachtet darin der Lockeschen Dualität von sensation und reflection folgend —, so werden auf beiden Seiten dieser Unterscheidung paratextuelle Strukturen in entscheidender Weise einbezogen. Die paratextuellen Grenzen stellen sich so zugleich als Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens und als Produkte erzählerischer Vollzüge dar. Das betrifft zum einen die Erscheinungsweise des Romans in jährlich publizierten Einzelbänden und zum anderen ein basales paratextuelles Mittel, das zum zentralen Instrument der Erzählersteuerung wird, nämlich die Kapiteleinteilung.61 Der Erzähler kann auf die Erörterung gelegentlich sich ergebender Gedanken verzichten, indem er ein Kapitel zu diesem Thema ankündigt - zahllos sind die Verweise auf Kapitel über Knopflöcher, Zimmermädchen, etc.62 Diese teilweise recht absonderlichen Kapitel 60 61
62
Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S.432. Siehe hierzu allgemein Stevick: The Chapter in Fiction, zu Sterne siehe S. 28 ff., S. 64 f., S. 81. Stevick betont, Sternes Roman distanziere sich schon in seiner Kapiteleinteilung von der Vorstellung, daß man in Kapiteln schreibe, „because experience itself can be viewed as if it consisted of chapters" (S. 28): „Life, in Tristram Shandy, is not lived in episodes." (S. 29.) Sternes Verfahren der Kapiteldarstellung sei daher eine „parodic demolition" (S. 169) der (im Grunde noch sehr jungen) Verfahren des britischen Romans im 18. Jahrhundert. Zur Kapiteleinteilung bei Sterne siehe Laudando: Parody, Paratext, Palimpsest, S. 256-58; J. Paul Hunter: „From Typology to Type: Agents of Change in Eighteenth-Century English Texts". In: Margaret J. M. Ezell, Katherine O'Brian O'Keeffe (Hgg.): Cultural Artifacts and the Production of Meaning. The Page, the Image, and the Body. Ann Arbor 1994, S. 41-69, hier S. 50-53. Die Rede ist beispielsweise von einem „chapter of wishes" (Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 142), von einem „chapter on button holes" (S. 259), von einem „chapter of things" (S. 302 ff.), von einem Kapitel „Upon Whiskers" (S. 310), von einem „chapter upon chamber maids" (S. 327), einem „chapter of Pishef, einem „chapter of Knots" (beide S. 562) und der „occasion" fur ein „chapter upon sleep" (S. 259) - von Nasen ganz zu schweigen. Der Erzähler liefert sogar eine Aufzählung der versprochenen Kapitel (S. 252).
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über die merkwürdigsten Partikularitäten lassen, wenn man so will, die für die occasional meditaüon konstitutive Hinwendung zum scheinbar Unbedeutenden zum Gegenstand der Satire werden. Denn die Sterneschen meditations werden gerade nicht unmittelbar gelegentlich der Begebenheit produziert, aus der sie scheinbar hervorgehen, sondern immer nur angekündigt. Tatsächlich erfolgen sie entweder gar nicht oder zu einer Gelegenheit, die dem Schreiber nicht von außen und als Anzeichen der Providenz zufällt, sondern die sich im Laufe des Schreibens aus der Eigengesetzlichkeit des Erzählvorgangs ergibt. Die Funktion der Kapitel wird im „chapter upon chapters", das der Erzähler als das „best chapter in my whole work" 63 bezeichnet, präzise reflektiert: Is it not a shame to make two chapters of what passed in going down one pair of stairs? for we are got no farther yet than to the first landing, and there are fifteen more steps down to the bottom; and for aught I know, as my father and my uncle Toly are in a talking humour, there may be as many chapters as steps;—let that be as it will, Sir, I can no more help it than my destiny:—A sudden impulse comes across me—drop the curtain, Shandy—I drop it—Strike a line across the paper, Tristram-1 strike it-and hey for a new chapter!64
Die Kapiteleinteilung sorgt für eine Dissoziation zwischen scheinbar natürlichen Einheiten der Handlung und der erzählerischen Einheitsstiftung durch den Paratext; die succession of ideas erzeugt eine einfache, eigendynamische Rhythmisierung des Erzählflusses. Die Erzählung gibt sich selbst — über den Kopf ihres Erzählers hinweg - sozusagen ihren Takt vor. Zwar entspringt auch die Unterbrechung durch das neue Kapitel einem Impuls, der sich der auktorialen Kontrolle entzieht, doch wird damit gleichwohl eine zweite Ebene der Organisation gebildet. Denn die paratextuellen Unterbrechungen bedingen die Möglichkeit des Erzählens selbst: Sie stiften kontingente Rahmen, innerhalb deren erzählerische Ordnung sich bilden kann. Damit wird ein Verfahren umgekehrt, von dem man meinen könnte, es sei von entscheidender Bedeutung: Nicht die Ereignisse (hier: der Gang der Brüder Shandy die Treppe hinunter) geben die Ordnung vor, nach der sie erzählt werden müssen, sondern die eigendynamisch sich ergebenden paratextuellen Rahmungen sind es, die die (wiederum in einer gewissen Eigendynamik sich entfaltende) Ordnung des Erzählens überhaupt erst ermöglichen. Die kontingente, aber gleichwohl ordnungskon-
63
64
Auch ist die Rede davon, Walter habe in seine „Tristraepedia" ein „chapter upon sash-windows" einfügen wollen (S. 346). Sterne: Tristram Shandj [1759ff./2003], S. 254. Zander dagegen hält dieses Kapitel für „ein besonders nichtssagendes Kapitel" (Zander: „Überlegungen zum Paratext in Tristram Shandj", S. 148). Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 253. Zu dieser Stelle siehe Stevick: The Chapter in Fiction, S. 64 f.
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stitutive Abkoppelung der erzählerischen succession of ideas vom Ablauf der Ereignisse selbst wird so in der paratextuellen Gestaltung sinnfällig.65 Die damit skizzierte Technik der paratextuellen Willkür wird im gesamten Buch fortwährend reflektiert. Es finden sich Hinweise darauf, daß ein Kapitel unterbrochen werden muß oder daß ein neues Kapitel beginnt, damit etwas Neues erzählt werden kann.66 Ein Kapitel wird mit der Begründung weggelassen, es sei zu gut gewesen für das gesamte Werk (besser also als das chapter upon chapters).67 Der Beginn eines Kapitels wird wiederholt,68 ein Kapitel vermeldet lediglich, daß es existiert,69 ein Kapitelwechsel erfolgt mitten im Satz.70 Schließlich werden das 18. und das 19. Kapitel des neunten Buches zunächst ausgelassen,71 um dann nach dem 65
Für einen systematischen Abriß der paratextuellen Strukturen des Romans siehe Zander: „Überlegungen zum Paratext in Tristram Shandy". Bereits das Titelblatt, so Zander, arbeite an einer Subversion gängiger paratextueller Verfahren (S. 137 ff.). Die Kapiteleinteilung, um die es hier in erster Linie geht, diene in Sternes Roman gerade nicht dazu, „einen Text sinnvoll zu gliedern", sondern ziele „primär darauf ab, Sinnzusammenhänge zu destruieren" (S. 149). - In einer umfassenden Untersuchung zeichnet Schulze die Bedeutung der typographisch markierten Auslassungen nach, wobei das Ergebnis immer wieder lautet, „daß wir es bei diesen Aussparungen in keinem Falle mit stilistischen Produkten einer geistig unkontrollierten Assoziationsweise des Textschöpfers zu tun haben". So kann er zeigen, „daß alle zu diskutierenden Aussparungen keine Textlücken hinterlassen" (Schulze: „Die markierte Aussparung", S. 428). Dieser Nachweis kann natürlich nicht erklären, welche Funktion die Auslassungen tatsächlich haben. Wenn in der vorliegenden Arbeit von ,Willkür' die Rede ist, so ist damit impliziert, daß man es mit einer ,planvollen 1 Inszenierung von Willkür zu tun hat, nach deren Bedeutung gefragt werden muß. In diese Richtung geht ein Beitrag von Fanning, der die Funktion der typographischen Dispositive bei Sterne untersucht. „Sterne's page demands a lively eye that apprehends meaning not ,straight forwards', line by line from left to right, top to bottom, but in a dance that perceives the structure of the space, actively moving back and forth, in essence creating meaning by performing these actions." (Christopher Fanning: „On Sterne's Page: Spatial Layout, Spatial Form, and Social Spaces in Tristram Shandy". In: Marcus Walsh (Hg.): Laurence Sterne. London - New York - Toronto u. a. 2002, S. 178-200, S. 187.) Dadurch erhalte der gedruckte Text eine „living presence of the kind formerly thought only available within the intimate space of the lived world" (S. 188). Vgl. hierzu (und insbesondere zum Sterneschen .dash*) auch Hunter: „From Typology to Type", S. 4 4 - 5 6 . Laudando beschreibt die typographischen Besonderheiten der Sterneschen Bücher vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Typographie und betont die Multilinearität, die sie erzeugen (Laudando: Parody, Paratext, Palimpsest, S. 260), kommt aber über die These, Sterne mache die Abhängigkeit des Textes von typographischen Rahmenbedingungen sichtbar, im Grunde nicht hinaus (S. 215, S. 238-40).
66
Siehe folgende Beispiele: Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 11, S. 33, S. 64, S. 73, S. 81, S. 83, S. 91, S. 93, S. 96, S. 101, S. 102, S. 128, S. 163, S. 218, S. 268, S. 286, S. 316f., S. 344, S. 362 f., S. 491, S. 500, S. 565 ff. Sterne: Tristram Shandy [1759ff.,/2003], S. 282. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 417. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 563. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 104 f. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 565 f.
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
25. Kapitel zu erscheinen - an dieser Stelle spricht der Erzähler sogar von der Notwendigkeit, dies so zu handhaben, ohne zu erklären, worin diese Notwendigkeit besteht.72 Und interessanterweise werden dann Informationen, die für das Verständnis des 20. Kapitels des neunten Buches entscheidend sind, erst im 26. Kapitel, also im Anschluß an den Nachtrag der ausgelassenen Kapitel (deren Uberschriften dann übrigens typographisch anders gekennzeichnet sind) erwähnt.73 Der Erzähler situiert weitere Paratextelemente an ungewöhnlichen Orten, beispielsweise eine Dedication an den Leser im achten Kapitel des ersten Buchs74 und eine Invocation15 kurz vor dem Ende des Buches. „The Author's Preface" findet sich mitten im dritten Buch, motiviert durch eine Pause im erzählten Geschehen, während der der Erzähler das Licht der Welt erblickt.76 Anläßlich der Erzählung von Yoricks Tod inseriert der Erzähler eine schwarze Seite,77 später, in Anspielung auf die unverstandene schwarze, eine marmorierte Seite,78 und schließlich eine freie Seite, auf die der Leser sein Bild der Witwe Wadman eintragen soll.79 Besonders die letzten Beispiele erlauben erneut einen Rückbezug auf Lockes Theorie der Erkenntnis. Das Spiel mit dem unbedruckten Blatt erinnert nicht zufällig an Lockes Behauptung, das menschliche Bewußtsein sei ursprünglich ein unbeschriebenes Blatt. Sternes Roman weist darauf hin, daß das weiße Papier nicht nur der Grund der Schrift ist, sondern vor allem auch dasjenige, was im basalen Akt erzählerischer Rhythmisierung mit einer Grenze versehen wird, die im Strich unter dem Kapitel sinnfällig wird. Das Papier ist nicht als solches Medium des Erzählens; dieses Medium etabliert sich vielmehr erst, wenn auf dem Papier eine Unterscheidung sichtbar wird, wenn sich nämlich die Unterscheidung zwischen Buchstabe und Grund abzeichnet.80 Nicht das weiße Papier, sondern seine Verletzung durch eine solche Grenzziehung ist Bedingung der Möglichkeit einer Beobachtung von Schrift. Das Papier als solches ist, mit Locke zu sprechen „void of all character", und dieser, der character im doppelten Sinne, etabliert sich erst als Grenze. 72 73 74 75 76 77 78 79 80
Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 575. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 580. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 15. Hierzu siehe Zander: „Überlegungen zum Paratext in Tristram Shandy", S. 144. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 571. Hierzu siehe Zander: „Überlegungen zum Paratext in Tristram Shandy, S. 143 f. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 174ff. Zum Vorwort siehe Zander: „Überlegungen zum Paratext in Tristram Shandy", S. 144 ff. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 30 ff. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 204 ff. Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 423. Genauer hierzu siehe VT.l.b und VII. 1.
1, „Tristram Shandy": Charaktere, Gelegenheiten und unbeschriebene Blätter
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Das Bewußtsein kann, ebenso wie die Erzählung, nur dann etwas beobachten, wenn es solche Grenzen zieht. Damit aber etabliert sich auch eine Grenze zwischen demjenigen, was mit den jeweiligen Mitteln der Beobachtung erfaßt werden kann, und demjenigen, was ausgeschlossen bleibt. Es etabliert sich, mit anderen Worten, jene Unterscheidung, die oben im Anschluß an den Roman als diejenigen zwischen der ,kleinen' und der ,großen' Welt bezeichnet worden ist. In die große Welt schreibt sich diese Unterscheidung schon allein deshalb ein, weil die eigendeterminierten Prozesse, mittels derer allein Beobachtung statthaben kann, sich gegenüber anderen ,realen' Abläufen als kontingent erweisen: Insofern weder die Charaktere noch der Erzähler in Sternes Roman sich Rechenschaft über die Prinzipien geben können, nach denen sie beobachten, zeichnet sich ein Bereich dessen ab, was für sie unbeobachtbar bleibt: Es mag andere Beobachter geben, die anderes beobachten als die örtliche Hebamme — diese bleibt dennoch zwangsläufig auf jenen Horizont eingeschränkt, der durch den „circle [...] of four Unglish miles diameter" um ihr Haus herum abgesteckt ist. In der .großen', unbeobachtbaren Welt etabliert sich so als Horizont eine ,kleine', beobachtbare Welt, um die allein bzw. um deren Unterschiedenheit von der unbeobachtbaren Welt es in Sternes Erzählung geht. Auf diese Unterscheidung läuft schlußendlich jene Abkoppelung zwischen der (erzählerischen) succession of ideas und dem Ablauf der Ereignisse selbst hinaus.81 Poetologische Modelle wie diejenigen Gottscheds und Breitingers sind mit diesem Verfahren nicht in Einklang zu bringen. Die Willkür, mit der in Sternes Roman Gelegenheiten geschaffen werden, läßt insbesondere die Konzeption einer gelegentlichen Einordnung literarischer Texte in die providentiell geordnete Wirklichkeit, wie sie in diesen Poetiken noch nachhallt, fragwürdig werden. Gerade Breitingers Theorie möglicher Welten wird bei Sterne an ihre Grenzen getrieben. Denn aufgrund der Notwendigkeit, innerhalb der erzählten Welt kontingente Grenzen einzuführen und an diesen Stellen das universale Kausalitätskontinuum aufzuheben, läßt sich auf eine mögliche Welt gar nicht bezugnehmen und damit auch kein providentieller Zusammenhang entwerfen. Bei Sterne wird deutlich, daß die Ereignisse um der erzählerischen Konsistenz willen nicht eindeutig kausal hergeleitet werden dürfen. Die Konsistenzkriterien sind offenbar andere. Gelegenheit dient in diesem Sinne der Schaffung eines 81
Damit wird Sternes Roman „Weltkunst" im Sinne Luhmanns: „Wir verstehen unter Weltkunst' nicht eine Kunst, die Welt auf überlegene Weise repräsentiert, sondern eine Kunst, die die Welt beim Beobachtetwerden beobachtet und dabei auf Unterscheidungen achtet, von denen abhängt, was gesehen und was nicht gesehen werden kann." (Niklas Luhmann: „Weltkunst". In: N. L., Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990, S. 7 - 4 5 , S. 40). Siehe hierzu VII.3.
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
narrativen Kohärenzraumes. Es wird bei Sterne innerhalb der Fiktion vorgeführt, daß Konsistenz nur durch eine kontingente Grenzziehung erzeugt und Ordnung nur auf der Basis vorgängiger Kontingenz im Nachhinein bestimmt werden kann. Nur vermittels kontingenter Rahmenssetzungen und aufgrund einer damit erst erzeugten Gelegenheit läßt sich überhaupt etwas erzählen. Es gibt bei Sterne keine vorgegebene innere Logik des Geschehens, aus der sich die Einheit der Erzählung ergeben könnte. Auch Paratexte und paratextuelle Strukturen — das zeigt Sterne insbesondere — sind nichts anderes als solche kontingenten Grenzziehungen. Die gelegentliche Verursachung dessen, was innerhalb eines paratextuellen Rahmens erzählt wird, kann auf keine Providenz mehr bezogen werden. Damit aber können Paratexte als Rahmen nicht mehr dazu dienen, einen für sich bestehenden Geschehenszusammenhang auf die providentielle Ordnung der Welt zu beziehen. Die Grenzen, die bei Sterne zu Rahmen des Erzählens werden, stehen mithin nicht mehr in einem Bezug zu jenen Grenzen, die die Welt als einen Gesamtzusammenhang konstituieren und erzeugen. Mögliche Welten, wie sie der Rationalismus beschreibt, erhalten vielmehr den Status unbeschriebener Blätter - es kommt nun darauf an, auf diesen Blättern Unterscheidungen und Grenzen zu markieren, aus denen sich (konsistente) Beobachtungen überhaupt erst ergeben können. Eine Konsequenz dieser Transformation besteht darin, daß die Markierung solcher Grenzen nicht mehr explizit erfolgen kann - sie treten vielmehr als .blinde Flecken' in Erscheinung. Darauf ist in der Analyse des Sterneschen Romans mehrfach hingewiesen worden: ,Charakter' und die Grenzen beobachtbarer Welten lassen sich nicht in allgemeinen Termini explizieren, sondern lediglich evozieren. Die Erzählung ist damit nicht mehr nur eine ,einfache' Darstellung, und sie ist auch nicht mehr nur eine Darstellung, die zusätzlich eine Selbstbeschreibung beinhaltet. Sie vollzieht vielmehr zusätzlich eine neue Figur der Selbstadressierung: Die für sie bzw. die von ihr etablierte beobachtbare Welt konstitutive Grenze kann nicht konkret Gegenstand der Beschreibung werden, sondern wird lediglich apostrophiert und ist damit Ziel einer Adresse, die der Text erst entwirft. Der Text inszeniert sich so als eine Bewegung, die diese Grenze konstituiert und damit eine neue Unterscheidungsmöglichkeit in die Welt setzt. Damit inszeniert er nicht zuletzt sich selbst als Adresse, der diese Unterscheidungsmöglichkeit zugerechnet werden kann. Eine Rezeption, die den Charakter der Erzählung erfassen und die Konstitution ihrer beobachtbaren Welt nachvollziehen möchte, vermag dafür keine vorgegebenen, allgemeinen Kriterien zu benutzen, sondern muß sich der Leitung des digressiven Textes anver-
2. Die Stimme der Natur und die Stimme der Tugend in Wielands „Agathon"
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trauen. 82 Der Text strebt danach, seinen Rahmen intrinsisch zu erzeugen. Dies macht der Text nicht zuletzt dadurch deutlich, daß seine paratextuelle Gestaltung sowohl extrinsisch (als Mittel der äußerlichen Strukturierung und Einheitsstiftung) als auch intrinsisch (aus dem Erzählprozeß heraus) motiviert ist. Wenn man von diesem zunächst äußerlichen Rahmen ausgehend den Roman liest, dann wird einem von diesem Roman vorgeführt, wie sich der Rahmen auch und gerade intrinsisch motivieren läßt. Damit wird die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Rahmung formbildend eingesetzt
2. Die Stimme der Natur und die Stimme der Tugend in Wielands „Agathon" Bei Sterne wird der Status, der dem Charakter (sowohl der Figuren als auch der Erzählung selbst) zukommt, relativ genau bestimmt: Charaktere sind dem Roman zufolge nie nach allgemeinen Grundsätzen zu beschreiben, sondern sie zeichnen sich lediglich in unvorhersehbaren Prozessen ab. Dennoch weist der Roman dem Charakter eine bestimmte Funktion zu: Er bezeichnet die Konsistenz, die der Leser in der Erzählung finden kann, obgleich sie sich in einer Abkoppelung vom Zusammenhang der ,großen Welt' und als gewohnheitsmäßige, also kontingente succession of ideas konstituiert. Demgegenüber haben meine Ausführungen zu Wielands „Agathon" bislang nur eine Unklarheit namhaft gemacht, die der hier vorliegende Gebrauch des Charakterbegriffs mit sich bringt. Einerseits impliziert das erzählerische Programm des Romans, daß immer genau bestimmt werden muß, wie das Verhalten der Hauptperson angesichts der jeweils gegebenen Umstände motiviert und inwiefern es insbesondere auf seinen tugendhaf82
Damit wird hier - wie auch im Kapitel über Jean Paul (insbesondere in VI.3) - die Digression als ein autonomieästhetisches Phänomen behandelt. Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie ,alte' Traditionen degressiven Schreibens — etwa bei Ovid oder Montaigne - , gewertet werden müssen: Stellen sie sogenannte preadapüve advances dar, also vereinzelt vorkommende Strukturen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt eine systembildende Funktion übernehmen, so aber immerhin den Übergang zu einer neuen Systemstruktur befördern? Oder stellt eine solche Wertung lediglich eine Rückprojektion dar? Eindeutig wird sich diese Frage sicherlich nicht entscheiden lassen, da ein gewisses Moment von Rückprojektion ohnehin nie ausgeschlossen werden kann. Für die konkreten Beispiele könnte aber immerhin anhand der Rezeptionsgeschichte untersucht werden, zu welchem Zeitpunkt diejenigen Werkstrukturen, die auf ein autonomieästhetisches Bewußtsein schließen lassen, ihrerseits traditionsbildend geworden sind bzw. bis zu welchem Zeitpunkt sie umgekehrt keine Berücksichtigung in der Rezeption erfahren haben. - Die Problemlage ist derjenigen vergleichbar, die sich bei einer historischen Beschreibung der Ornamentik in der bildenden Kunst ergibt (siehe V.2.c).
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rV· Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
ten Charakter zurückzuführen ist. Andererseits erweist sich diese Unterscheidung als schwierig, weil auch die .innere Geschichte' des Protagonisten von Kontingenzen geprägt ist und Erklärungslücken aufweist. Daher fragt sich, wie sich das aufklärerische Programm des Romans umsetzen läßt, dem „Lauf der Welt" gemäß zu erzählen und zugleich die Wirklichkeit von Agathons Charakter zu erweisen, also den Rahmen für eine allgemeinheitsfähige Darstellung abzustecken. Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst genauer zu beschreiben, wie der Roman die innere Entwicklung des Protagonisten darstellt. Impliziert das Gedankenexperiment des Wielandschen Romans, daß Agathons Verhalten stets auf seine Motivation hin befragt werden muß, so stellt sich auch für diesen Charakter selbst immer wieder die Aufgabe, in sich die ,Stimme seiner Tugend' von möglichem ,Geräusch' zu unterscheiden. „Ich mache nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen Instinkt, der nicht gänzlich von mir abhängt, und dem Willen meiner Seele",83 behauptet Agathon. Dem „mechanischen Instinkt" stattzugeben, bedeutete nämlich, die äußeren Umstände das eigene Verhalten bestimmen zu lassen, also den eigenen (tugendhaften) Charakter zu entmachten. Doch zeigt sich, daß die Stimme der Tugend und das Geräusch des Instinkts einander immer überlagern. Die Schwierigkeit ihrer Unterscheidung macht die Verführbarkeit des Helden evident. Anhand der Auseinandersetzung zwischen Hippias und Agathon läßt sich erhellen, wie Agathon die Unterscheidung im einzelnen bestimmt und wie Hippias' Gegenmodell aussieht.84 Beginnen läßt sich mit dem Kapitel, dessen Überschrift von Wielands Verlegern mit jener Fußnote versehen wurde, die Anlaß der Unterscheidung von Werk und Beiwerk im „Vorbericht" wird.85 Es findet sich hier ein Dialog, an den Hippias im folgenden einen großen Diskurs anschließt, der seine Lehre zusammenfassend darstellt. Nachdem Agathon seinen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und die Vorfreude auf den „Zustand der Geister" kundgetan hat, „die den groben tierischen Leib abgelegt haben, und im Anschauen des wesentlichen Schönen, des Unvergänglichen, Ewigen und Göttlichen"86 begriffen sind, erkundigt sich Hippias, worauf Agathon seine „Hoffnung" gründe, „daß dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zerstört sein wird?" 83 84
85 86
Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 107. Laut Thome verkörpern Hippias und Agathon „Positionen, die der Autor hinter sich gelassen hat, und gegen die er nun ein Drittes entwickelt." (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 129.) Wie diese Entwicklung eines ,Dritten' funktioniert, wird noch genauer zu klären sein. Zum philosophischen Konflikt zwischen Agathon und Hippias vgl. Erhart: Entzweiung und Selbstauflzlärung, S. 104 ff. Siehe 1.1. Wieland: Agathon [1766fj 1986], S. 58 f.
2. Die Stimme der Natur und die Stimme der Tugend in Wielands „Agathon"
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Er selbst lehnt die Auffassung ab, daß das Denkvermögen „als ein Geist [...] wesentlich" v o m „Körper unterschieden" sei. 87 Agathon antwortet: „Weil ich mir unmöglich vorstellen kann, daß der Oberste Geist, dessen Geschöpfe oder Ausflüsse die übrigen Geister sind, ein Wesen zerstören werde, das er fähig gemacht hat, so glücklich zu sein, als ich es schon gewesen bin." HIPPIAS „Ein neues Vielleicht? Woher kennst du diesen obersten Geist?" AGATHON „Woher kennst du den Phidias, der diesen Amor gemacht hat?" HIPPIAS „Weil ich ihm zusah wie er ihn machte; denn vielleicht könnt eine Bildsäule auch entstehn, ohne daß sie von einem Künsder gemacht würde." AGATHON „Wie so?" HIPPIAS „Eine ungefähre Bewegung ihrer kleinsten Elemente könnte diese Form endlich hervorbringen." AGATHON „Eine regellose Bewegung ein regelmäßiges Werk?" HIPPIAS „Warum das nicht? Du kannst im Würfelspiel von ungefähr alle drei werfen. So gut als dieses möglich ist, könntest du auch unter etlichen Billionen von Würfen einen werfen, wodurch eine gewisse Anzahl Sandkörner in eine zirkelrunde Figur fallen würde. Die Anwendung ist leicht zu machen." AGATHON „Ich verstehe dich. Aber es bleibt allemal unendlich unwahrscheinlich, daß die ungefähre Bewegung der Elemente nur eine Muschel, deren so unzählich viele an jenem Ufer liegen, hervorbringen; und die Ewigkeit selbst scheint nicht lange genug zu sein, nur diese Erdkugel, diesen kleinen Atomen des ganzen Weltalls auf solche Weise entstehen zu machen." HIPPIAS „Es ist genug, daß unter unendlich vielen ungefähren Bewegungen, die nichts regelmäßiges und dauerhaftes hervorbringen, eine möglich ist, die eine Welt hervorbringen kann. Dieses setzt der Wahrscheinlichkeit deiner Meinung ein Vielleicht entgegen, wodurch sie auf einmal entkräftet wird." AGATHON „So viel als das Gewicht einer unendlichen Last, durch die Hinwegnahme eines einzigen Sandkorns." HIPPIAS „Du hast vergessen, daß eine unendliche Zeit in die andere Wagschale gelegt werden muß."88 Die Auffassung des Hippias hat den Vorteil, eine rein immanente Erklärung für die Existenz regelmäßiger Formen wie der Statue zu bieten. Das Skandalon dieser Auffassung liegt darin, daß sie aus Regellosigkeit Ordnung hervorgehen läßt. Aus einem kontingenten Geschehen kann, so Hippias, stellt man genügend Zeit zur Verfügung, durchaus ein geordneter Zusammenhang hervorgehen, der dann - und darin besteht die Pointe durchaus als beständig gelten kann: Auch das Chaos kann eine Statue er87 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 60. 88
Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 60f. (Hervorhebung von mir).
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
zeugen. Während Agathon sich nicht vorstellen kann, daß Materie ohne die Wirksamkeit einer übergeordneten Instanz umgeordnet zu werden vermag, zielt Hippias gerade auf die Möglichkeit ab, daß sich Ordnungsformen zufällig bilden und dann nicht-zufällig erhalten. Diese Möglichkeit erstreckt sich explizit auch darauf, daß eine .ungefähre Bewegung' „eine Welt hervorbringen kann". Die Annahmen der materialistischen Philosophie, auf die sich die Argumentation des Hippias stützt — verweisen kann man beispielsweise auf Julien Offray de La Mattries „L'homme machine"89 von 1748 — sind in ihrer Radikalität kaum zu unterschätzen.90 Wichtig ist dabei zunächst, daß Hippias in Anlehnung an die atomistische Tradition von einer ,ungefähren Bewegung' kleinster Teilchen ausgeht.91 Diese Bewegung läuft nach rein immanenten Bestimmungsgründen ab; aus der Sicht eines Beobachters wäre das insofern eine ungefähre Bewegung, als den einzelnen Teilchen beispielsweise kein anderes Telos innewohnt als die geradlinige Fortsetzung ihres Weges. Eine solche Auffassung von Materie ist konform mit derjenigen des Wölfischen Dualismus.92 Wenn man davon ausgeht, daß sich die Bestandteile der Materie nach rein mechanischen Gesetzen bewegen, so ist ja ebenfalls keine der Materie äußerliche Steuerung impliziert. Entscheidender ist daher der zweite Ansatzpunkt der Theorie des Hippias. Der Behauptung, daß sich die Materie ohne Einwirkung einer ihr transzendenten Instanz (sei es schlicht die Seele im Sinne des Influxionismus, sei es Gott, der eine prästabilisierte Harmonie stiftet, sei es eine höhere verursachende Ordnung der Gnade im Sinne des Okkasionalismus) selbständig ordnen kann, ist eine neue Auffassung von Kontingenz inhärent. Denn zumindest die Stabilität der ,νοη ungefähr' auftretenden Ordnungen, ihre selbsterhaltende Kraft läßt sich nur als eine Unterbrechung des universalen Kausalitätskontinuums erklären, das der Harmonismus ebenso voraussetzt wie der Okkasionalismus. Die aufgrund der rein immanent determinierten, ,ungefähren' Bewegung sich ergebende Ordnung kann sich nur erhalten, wenn sie das Verhalten der Teilchen verändert, aus denen 89
90 91
92
Laut Thome handelt es sich um den „wohl konsequentesten Versuch, den Materialismus zum umfassenden Erklärungsmodell für alle Phänomene der Anthropologie auszubauen" (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 138 f.) Siehe hierzu Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 130 ff. Zu den Ursprüngen der Atomtheorie bei den Vorsokratikern siehe A. G. M. van Meisen: „Atomtheorie". In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Darmstadt 1971, S. 6 0 6 - 1 1 , S. 607 f. Vgl. auch das harmonistisch inspirierte Lemma „Menschliche Maschine" in Zedlers Lexikon, das - was die körperliche Seite angeht - genau La Mettries Vorschlag entspricht, aber der Körpermaschine nicht auch noch die Aufgabe überantwortet, die Seele zu determinieren, und entsprechend als völlig unskandalös empfunden wurde (siehe Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 85).
2. Die Stimme der Natur und die Stimme der Tugend in Wielands, Agathon"
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sie sich zusammensetzt - ansonsten handelte es sich immer nur um momentan aufblitzende Ordnungsmuster. Die Unterbrechung des Kausalitätskontinuums ist konstitutiv für die Denkmöglichkeit einer Art ,Selbstorganisation' von Materie, die am Horizont des materialistischen Denkens auftaucht.93 Die so postulierte Kontingenz läßt sich nicht mehr auf eine (vorgängige) Gesetzmäßigkeit oder auf eine transzendente Instanz zurückfuhren. Grundsätzlich läßt sie sich auch innerhalb der Welt beobachten und scheint hier sogar konstitutiv zu sein für den Aufbau neuer Ordnungen.94 Auch in seiner folgenden Beschreibung dessen, was in der Welt geschieht, verzichtet Hippias strikt auf dualistische Erklärungsmodelle. Vielmehr beschreibt er in seinem ausfuhrlichen Diskurs, der nahezu das gesamte dritte Buch der ersten Ausgabe umfaßt, die Natur als einen in sich selbst bestehenden, materiellen Zusammenhang, als ein, wie Frick schreibt, ,,selbstgesteuerte[s] und selbstreproduktive[s] System von Zwek-
93
Thome betont, La Mattrie führe auch „organische Prozesse auf primäre Eigenschaften der Materie" zurück.; diese sei „befähigt, organische Gebilde aus eigener Kraft und ohne einen Schöpfungsakt hervorzubringen" (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 141). 94 Dieser Befund scheint der von Hippias und dem Materialismus verwendeten mechanistischen Metaphorik zu widersprechen, jedenfalls wenn man sie mit der mechanistischen Auffassung des Rationalismus in Verbindung bringt. Wenn La Mettrie versucht, mit teils recht waghalsigen Analogieschlüssen seine Vorstellung vom Menschen als Maschine zu belegen, so läuft dies auch bei ihm in weiten Teilen darauf hinaus, der Einbildungskraft ein quasi-mechanisches Funktionieren nachzuweisen. Er geht davon aus, daß sich der menschliche Geist weder als eigenständige Substanz noch vermittels der Orientierung an oder Einwirkung von transzendenten Prinzipien, sondern ausschließlich in den Mechanismen der Einbildungskraft angesichts letztlich kontingenter Umweltereignisse konstituiere (siehe pointiert Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch eine Maschine. Übers, v. Theodor Lücke. Nürnberg 2001 [1748], S. 43 ff.). Rein mechanistisch aber läßt sich diese Modell nicht umsetzen, denn dann ließe sich nicht erklären, wie die Mechanismen der Einbildungskraft sich in der Abkoppelung von ihrer Umwelt konstituieren können - wie also aus der .ungefähren Bewegung' Stabilität hervorgehen kann. (Nicht umsonst benötigt der rationalistische Mechanismus hierzu eine dualistische Grundlegung.) Auch wenn sich weder bei Hippias noch bei La Mettrie eine ausformulierte Theorie der Selbstorganisation findet, bauen ihre Modelle damit eine Spannung auf zwischen ihrer mechanistischen Metaphorik und Konzepten, die ein mechanistisches Weltbild unterlaufen. Entsprechend wird von La Mettrie ausdrücklich betont, der Mensch sei „eine so komplizierte Maschine", daß sie keinerlei apriorischer Erklärung zugänglich sei (S. 21). Die produktive Kraft ihrer Provokation liegt weniger in einer Mechanisierung des Bewußtseins als vielmehr in dem ebenfalls eröffneten Weg, Selbstorganisation zu konzipieren - ein Weg, der später zu organologischen Theorien führt. - Eine ähnliche Richtung schlägt die Interpretation von Vartanian ein (Aram Vartanian: „Interpretation of /'Homme Machine". In: Julien Offray de La Mettrie: La Mettrie's L'Homme Machine. Λ Study in the Origins of an Idea. Critical Edition with an Introdudory Monograph and Notes by Aram Vartanian. Princeton 1960, S. 13—39, hier vor allem 14-24), insbesondere, was die „inherent powers of purposive motions" (S. 18) angeht, die La Mattrie zufolge der Körper-Maschine eigen sein sollen. Siehe auch seine Ausführungen zur Irritabilität (S. 18 ff.).
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
ken".95 Nach Hippias ist die Konsequenz dieser Überlegungen, daß allgemeine Begriffe, die die Natur beschreiben, statistisch gewonnen werden müssen - denn sie lassen sich nicht auf transzendente Prinzipien, beispielsweise auf Platonische Ideen, zurückfuhren. Die „Stimme der Natur"96 wird hörbar in den Regelmäßigkeiten, die die Erfahrung feststellen und mit anderen Regelmäßigkeiten in Verbindung setzen kann. In der statistischen Erklärung von Phänomenen wie Schönheit und Sittlichkeit — laut Zwischenüberschrift ein „Anti-Platonismus in Nuce" - kann Kultur als Vergleichsmoment herangezogen und die Verschiedenheit der Kulturen auf eine externe Multikausalität zurückgeführt werden.97 Dabei ist die „Stimme der Natur" zunächst reines Geräusch: Dieses selbst muß in den Blick genommen und auf mögliche Regelmäßigkeiten hin überprüft werden, es ist nicht von vornherein als Stimme unterscheidbar. Im Unterschied zu den Rationalisten (und darin auch der empiristischen Tradition nahestehend98) setzt Hippias keine vorgängigen Prinzipien fest, nach denen sich diese Unterscheidung treffen läßt. Hippias radikalisiert damit eine aufklärerische Programmatik bis zu dem Punkt, an dem eine natuigemäße Übereinstimmung zwischen unseren Erkenntnisvermögen und der Wirklichkeit nicht mehr aufgrund transzendenter Grundsätze angenommen werden kann. Im einzelnen führt er jede menschliche Erkenntnis auf die mechanistisch aufgefaßte Einbildungskraft zurück. (Hier bewegt sich seine Argumentation in großer Nähe zu La Mettrie.) Diese wird beschrieben als ein Vermögen, das Sinnesdaten prozessieren und in eine Ordnung bringen, d. h. erfassen, speichern und (re-) kombinieren kann. Hier wird eine Form der Selbstorganisation projektiert, die zwar irgendwie in der Sphäre des Geistigen situiert ist, aber unmittelbar an Sinnlichkeit gebundenen bleibt. Nur mittels der Selbstorganisation der Einbildungskraft kann laut Hippias die „Stimme der Natur" für uns hörbar werden. Das aber heißt, daß eine Abkoppelung der menschlichen Vorstellungs- und Erkenntnisvermögen von den Dingen der Welt konstitutiv dafür ist, daß überhaupt Konsistenz in der Welt beobachtet werden kann — eine Erkenntnis, die auch in Sternes Roman angelegt ist.
95
96 97 98
Frick: Providern^ und Kontingent S. 427. Thome zufolge handelt es sich hingegen um ein „statisches System von Materie und Naturgesetz", in dem „finale Abläufe keinen Platz" haben (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 149). Wieland: Agathon [1766ff1986], S. 76. Grundlage dafür ist die „extreme Milieutheorie" der Materialisten (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 135). Siehe Oettinger: Phantasie und Erfahrung, S. 68 ff. Oettinger rekonstruiert recht umfassend empiristische Einflüsse auf die Romanpoetik (S. 52 ff., S. 141 ff.), berücksichtigt den materialistischen Einfluß hingegen weniger.
2. Die Stimme der Natur und die Stimme der Tugend in Wielands „Agathon"
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In der Auseinandersetzung mit Agathon ist entscheidend, daß Hippias aus all dem folgert, ,Moral' könne nur in Leitsätzen für ein Verhalten bestehen, das sich ausschließlich auf die Annehmlichkeiten richtet, die die Natur dem Menschen ermöglicht. Derjenige, der mit den Mitteln der statistischen Erkenntnis dazu fähig ist, die Wirkmechanismen des menschlichen Verhaltens einzusehen, muß, der „Stimme der Natur" folgend, diese Einsichten dazu nutzen, seine eigene Glückseligkeit auch auf Kosten der anderen zu befördern." Lediglich aus pragmatischen Gründen kann diese allgemeine Richtlinie relativiert und im Sinne einer Mäßigung modifiziert werden. Entsprechend muß Hippias Agathons Idealismus vorwerfen, er suche die Glückseligkeit nur in seiner Einbildungskraft und erkenne daher nicht das „wahre Vergnügen".100 Wie nun verteidigt sich die angegriffene Tugend gegen derartige Zumutungen einer neuen, anthropologisch begründeten Denkweise? Agathon bemüht in erster Linie eine „mystische Evidenz":101 „Ich brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen so weitläufigen Weg. Ich sehe die Sonne, sie ist also; ich empfinde mich selbst, ich bin also; ich empfinde, ich sehe diesen obersten Geist, er ist also."102 Oder: „Und was hast du gegen mein System einzuwenden?" fragte er [Hippias]. „Daß es mich nicht überzeugt", erwiderte Agathon. „Und warum nicht?" „Weil meine Erfahrung und Empfindung deinen Schlüssen widerspricht." „Ich möchte wohl wissen, was dieses für Erfahrungen und Empfindungen sind, die demjenigen widersprechen, was alle Welt erfährt und empfindet." „Du würdest beweisen, daß es Schimären sind." „Und wenn ich es bewiesen hätte?" „Du würdest es nur dir beweisen, Hippias; du würdest nichts beweisen, als daß du nicht Callias bist." 103
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„Die Kunst über die Einbildungskraft der Menschen zu herrschen, die geheimen, ihnen selbst verborgnen Triebfedern ihrer Bewegungen nach unserm Gefallen zu lenken, und sie zu Werkzeugen unsrer Absichten zu machen, indem wir sie in der Meinung erhalten, daß wir es von den ihrigen sind, ist also, ohne Zweifel, diejenige, die ihrem Besitzer am nützlichsten ist" (Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 120.) - Angesichts dieser ethischen Konsequenzen der Hippiasschen Theorie formuliert Horst Thome: „Menschliche Natur und Allegorie sozialer Verhältnisse. Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands ,Geschichte des Agathon'". In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaß 22, 1978, S. 205—34, S. 214: „Das Dilemma des Erzählers läßt sich pointiert so formulieren, daß die richtige Theorie zur falschen Praxis führt (Hippias), während sich eine zumindest der Intention nach prinzipiell berechtigte Praxis auf eine falsche Theorie stützt." Thome zeigt, daß die Hippiassche Theorie emanzipatorisches Gedankengut der radikalen französischen Aufklärung verwendet, um Formen der absolutistischen Herrschaft zu legitimieren. Siehe auch Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 155 f. Dies relativiert Frick: Providern^ und Kontingent S. 429, allgemein zu Hippias' Morallehre S. 425 ff.
100 101 102 103
Wieland: Agathon [1766f.l 1986], S. Thome: Roman und Naturwissenschaft, Wieland: Agathon [1766f./1986], S. Wieland: Agathon [1766f./1986], S.
75. S. 159. 62. 106.
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
In seinem Charakter also gründet für Callias alias Agathon die Gewißheit hinsichtlich der transzendenten Grundsätze seines Glaubens und Handelns - Hippias statistische Argumentation104 kann also nur zeigen, daß er nicht Agathons Charakter hat. Gleichwohl ist die Einsicht in die kosmische, vom „obersten Geist" sich herleitende Ordnung für Agathon allgemeinheitsf^hig. Er kann sich Hippias nur widersetzen, indem er einen qualitativ verschiedenen Zugang zur Ordnung der Dinge reklamiert. Einen Zugang, der die „Stimme der Gottheit", von der Hippias behauptet, sie sei identisch mit der „Stimme der Natur", unmittelbar hören läßt und der allen Menschen gegeben wäre, gäben sie sich nicht mit dem bloßen Geräusch zufrieden. Agathon konzipiert also ein Modell universeller Teilhabe: D u spottest der Tugend und Religion? Wisse, nur den unauslöschlichen Zügen, womit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist, nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahrheit, Ordnung und Güte zieht, und den Gesetzen besser zu statten kommt, als alle Belohnungen und Strafen, ist es zuzuschreiben, daß es noch Menschen auf dem Erdboden gibt, und daß unter diesen Menschen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Güte zu finden ist. D u erklärst die Ideen von Tugend und sittlicher Vollkommenheit für Phantasien. Siehe mich hier, Hippias, so wie ich hier bin, biete ich den Verführungen aller deiner Cyanen, den scheinbarsten Überredungen deiner Weisheit, und allen Vorteilen, die mir deine Grundsätze und dein Beispiel versprechen, trotz. Eine einzige von diesen Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberei aller dieser Blendwerke zu zerstreuen. 105
Entgegen seiner Intention unterstützt Agathon hier Hippias' Behauptung, transzendente Begriffe seien auf die metaphorische Implementierung sinnlicher Vorbilder zurückzuführen,106 indem er den ,inneren Sinn', den man benötigt, um den ,obersten Geist' zu erkennen, in Analogie zu den ,äußeren Sinnen' beschreibt. Das rein sinnliche Blendwerk ist eben nicht so einfach zu unterscheiden von denjenigen sinnlichen Phänomenen, die einen Zugang zur ,Wahrheit' geben - weshalb sich bereits im „Vorbericht" ein Streit artikuliert, der die Notwendigkeit einer expliziten Widerlegung des Hippiasschen „Blendwerks" betrifft. Auch von dieser Rekonstruktion her läßt sich Agathons Geschichte als eine Versuchsreihe beschreiben; ihr Ziel ist, herauszufinden, ob der tugendhafte Charakter einen Weg finden wird, jene Unterscheidungsfahigkeit, von der er behauptet, sie gründe in metaphysisch gegebenen Un104 „Wenn zehen Millionen Menschen urteilen, daß zween oder drei aus ihrem Mittel Narren sind, so sind sie es" (Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 106.) 105 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 110. 106 „Kurz, man verbiete den Schöpfern der überirdischen Welten sich keiner irdischen und sinnlichen Materialien zu bedienen, so werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdrücke zu bedienen, plötzlich wieder in den Schoß des Nichts zurückfallen, woraus sie gezogen worden." (Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 87).
2. Die Stimme der Natur und die S u m m e der T u g e n d in Wielands „ A g a t h o n "
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terschieden, so einzusetzen, daß die Wirkmächtigkeit der Tugend gerade auch angesichts widriger Umstände einsichtig wird. Das Strukturproblem des Erzählens, nämlich fortwährend zwischen Wirkungen, die auf den Charakter des Agathon zurückgehen, und solchen, die in der instinktiven Reaktion auf kontingente Umstände ihren Grund haben, unterscheiden zu müssen, wiederholt sich so auf der Ebene der Handlung als ein Problem, mit dem sich der Protagonist selbst ständig konfrontiert sieht. Dies ist deshalb besonders prekär, weil die Erzählung durchaus eine Motiviertheit des Geschehens nahelegt, die eher mit der anthropologischen Theorie des Hippias als mit der des Agathon konsistent ist - wie es ja auch Hippias ist, der sich in einer gewissen Nähe zum „Vorbericht" auf den „Lauf der Welt" als das Maß der Wahrheit beruft. 107 Denn behauptet Agathon seine ,Teilhabe' am Wesen des ,obersten Geists' und damit seine privilegierte innere Lesefähigkeit, die ihn zum moralischen Ideal werden läßt, so spricht die Erzählung im Zusammenhang mit der Verfiührung des Agathon von dessen „verschönernde[r] Einbildungskraft": W e n n eine lebhafte E i n b i l d u n g s k r a f t i h r e m Besitzer eine unendliche M e n g e v o n V e r g n ü g e n g e w ä h r t , d i e d e n ü b r i g e n S t e r b l i c h e n v e r s a g t s i n d [ . . . ] : S o m ü s s e n wir a u f d e r a n d e r n S e i t e g e s t e h e n , d a ß sie n i c h t w e n i g e r e i n e Q u e l l e v o n I r r t ü m e r n , v o n A u s s c h w e i f u n g e n u n d v o n Q u a l e n f ü r ihn ist, w o v o n er, s e l b s t m i t B e i h ü l f e d e r W e i s h e i t u n d m i t d e r f e u r i g s t e n L i e b e z u r T u g e n d , s i c h nicht e h e r l o s m a c h e n k a n n , b i s er, a u f w e l c h e A r t es n u n s e i n m a g , s o w e i t g e k o m m e n ist, die allzugroße Lebhaftigkeit derselben zu mäßigen.108
Die Einbildungskraft erscheint hier - genau wie in Hippias' Theorie - als eine eigenwillige Instanz, die auch den erklärten Willen eines Agathon überwältigen kann. Danae versteht es schließlich, Agathon nicht nur einem überflutenden Sinnenreiz auszusetzen (was Hippias versucht hatte), sondern seine Einbildungskraft selbst anzugreifen. 109 In diesem Moment wird seine verschönernde Einbildungskraft für Agathon (vorübergehend?) zur Falle, denn sie ermöglicht seine Verführung: Ihm wird Sinnliches als Ideales vorgespiegelt; seine Liebe zu Danae wächst unter der Maske der Freundschaft und bleibt ihm selbst verborgen. 110 All das ist den Aussagen des Erzählers zufolge nicht in den Umständen, sondern im inneren Charakter 107 Frick betont, daß für diese Erzählweise die Vorstellung einer ,,distinkte[n], kohärente[n] und zugleich bestmöglich [n] universitas rerum" (Frick: Providen^und Kontingent S. 402) desolat werde. A n ihre Stelle trete eine „Pluralität als möglich beschriebener und in ihren lebenspraktischen Folgen illustrierter Philosophien", die mit des Erzählers ,,normaüve[r] Präferenz [...] für Agathons Streben nach verwirklichter T u g e n d " in Konflikt trete (Frick: Promden% und Kontingent S. 407). 108 Wieland: Agathon [1766f./1986],
S. 125 f.
109 Wieland: Agathon [1766//1986],
S. 126.
110 Zur Verführung des Agathon siehe T h o m e : Raman und Naturwissenschaft, S. 21 Off.
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
des Agathon begründet. Bereits mit dem Eintritt in Danaes Haus sind die Weichen eindeutig gestellt: „Agathon, auf den alles lebhaftere Eindrücke machte, als es nötig war, um nach dem Maßstab der Moralisten genug zu sein, wurde durch alles was er sah, so sehr bezaubert, daß er sich in eine von seinen idealischen Welten versetzt glaubte."111 Entsprechend wirkt die Pantomime 112 der Danae auf ihn: „Ihr ganzes Spiel drückte die eigenste Idee des Agathon aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm seine Phantasie keine Idee gegeben hatte."113 Mit „unwiderstehliche [r] Gewalt" 114 zieht sie ihn an. Danae verwandelt sich in ihrer Pantomime in ein Ideal, und zwar in eines, das ihrem Wesen ganz und gar nicht zu entsprechen scheint, nämlich in einen „Charakter der Unschuld".115 Der Erzähler geht in einem Abschnitt, der mit „Geheime Nachrichten"116 überschrieben ist, den Mechanismen im einzelnen nach, die zu dieser Verzückung des Agathon fuhren. Er macht eine doppelte Substitutionsfigur aus, durch die Danae sich selbst an die Stelle von Agathons Jugendliebe Psyche setzt.117 Mittelglied dieser Substitutionsfigur ist die gleichnamige Tänzerin Psyche (deren Namen Agathon allerdings erst nach dem Tanz erfährt 118 ): Allein als die junge Tänzerin zum Vorschein kam, welche die Person der Daphne spielte, so stellte einige Ähnlichkeit, die sie würklich in der Gesichtsbildung und Figur mit Psyche [der Jugendliebe Agathons] hatte, ihm auf einmal, wiewohl ohne 111 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 127. 112 Hierzu siehe Kurt Wölfel: „Daphnes Verwandlungen. Zu einem Kapitel in Wielands Agathon'". In: Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Darmstadt 1981 [1964], S. 232—50. Wölfeis Fazit zu der komplexen Verfiihrungsgeschichte: „Für jeden scheint das Geschehen anders als es ist, jeder sieht sich selbst anders, als er ist, jeder hat eine andere Rolle gespielt, als er zu spielen die Absicht hatte, eine Rolle, mit der etwas von einer neuen Wahrheit über sein Wesen zutage trat." (S. 249 f.) Interessant ist Wölfeis Deutung der Pantomime als Metapher für das Erzählverfahren selbst: „Und ,pantomimisch' ist alles gegenwärtig·. als anmutigste Bewegung, [...] mit dem Reiz der verfließenden Farben und der gebrochenen Linien. Eine Kunst der Übergänge, die im versatilen Spiel mit versteckten Korrespondenzen, heimlichen Spiegelungen, vertauschten Standorten, wechselnden Perspektiven und dem witzigen Gegeneinander-Ausspielen der Positionen nicht frivol sein will, sondern lebensgerecht." (S. 250.) Bemerkenswert ist dies nicht zuletzt deshalb, weil die Pantomime als eine zentrale Metapher der Autonomieästhetik von weitreichender Bedeutung ist (zur Pantomime bei Jean Paul siehe Kapitel VI.3.a). 113 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 131 f. 114 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 132. 115 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 132. 116 Wieland: Agathon [1766//1986], S. 133. 117 Umgekehrt läßt sich später formulieren, Agathon habe „den übrigen Teil der Nacht in ununterbrochenem Anschauen dieser idealen Vollkommenheit" zugebracht, „die seine Einbildungskraft mit einer ihr gewöhnlichen Kunst, und ohne daß er den Betrug merkte, an die Stelle der schönen Danae geschoben hatte." (Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 138.) 118 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 130.
2. Die Stimme der Natur und die Stimme der Tugend in Wielands „Agathon"
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daß er sich dessen deutlich bewußt war, das Bild seiner abwesenden Geliebten vor die Augen; seine Einbildungskraft setzte durch eine gewöhnliche mechanische Wirkung Psyche an die Stelle dieser Daphne, und wenn er so vieles an der Tänzerin auszusetzen fand, so war es im Grunde nur darum, weil die Vergleichung den Betrug des ersten Anblicks entdeckte, oder weil sie nicht Psyche war. So gewöhnlich dergleichen Spiele der Einbildung sind, so selten ist es, daß man den Einfluß deutlich unterscheidet, den sie auf unsre Urteile und Neigungen haben pflegen.119
Die Verzückung wiederum, in die Agathon geraten ist, kann Danae nutzen: 0]a wir wissen nicht, ob eine so lebhafte Erinnerung nicht endlich der schönen Danae selbst Abbruch getan hätte, wenn diese, gleich als ob sie durch eine Art von Divination erraten hätte was in seiner Seele vorging, nicht auf den glücklichen Einfall gekommen wäre, sich an den Vlat\ der kleinen Tänzerin setzen, um die Vorstellung auszufuhren, welche sich Agathon von einer idealischen Daphne gemacht, und deren die Geschmeidigkeit ihres Geistes sich so schnell und so glücklich zu bemächtigen gewußt hatte.120
Ein glückliches Zusammentreffen ermöglicht also die Verfuhrung des Agathon: Einerseits ist von einem mechanischen Effekt der Einbildungskraft die Rede, dank dessen ein sinnlicher Eindruck als ein Ideales behandelt werden kann — wobei bezeichnenderweise betont wird, daß solche Mechanismen im Normalfall gerade nicht deutlich unterschieden werden können. Explizit handelt es sich um eine Herausforderung der Unterscheidungsfähigkeit Agathons. Andererseits hat Danae aus ungeklärten Gründen (vielleicht qua „Divination") erraten, in welchem Seelenzustand sich Agathon befindet, und kann deshalb strategisch handeln. Die Beschreibung bezieht sich so recht genau auf die Vorgaben, die der „Vorbericht" für die Erzählung gibt: Es wird versucht zu erklären, wie im Zusammenspiel von Charakter und Umständen (bzw. deren interner Repräsentation) Agathons Seelenzustand zustande kommt. Gleichwohl schleichen sich einige Ungenauigkeiten ein. Schon die Unerklärtheit der Reaktion Danaes zeigt, daß die Verfolgung jener .heimlichen Verbindungen', die die Ereignisse bedingen, Schwierigkeiten ausgesetzt ist. Dennoch kann der Erzähler den Charakter des Agathon als eine Vorgabe bezeichnen, die es ihm unmöglich macht, anders zu reagieren: „Er müßte nicht Agathon gewesen sein, wenn diese Erscheinung [die Schönheit Danaes] sich nicht seiner ganzen Seele so sehr bemeistert hätte, wie wir gesehen haben." 121 Es ist gerade seine über das Normalmaß hinausgehende Empfindlichkeit, die Agathon verführbar macht, und zwar mit Notwendigkeit. Auch wenn diese Notwendigkeit Agathon von dem ihm
119 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 134 f. (Hervorhebung von mir.) 120 Wieland: Agathon [1766J./1986], S. 135 (Hervorhebung von mir). 121 Wieland: Agathott [1766f.j 1986], S. 134 (Hervorhebung von mir).
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von der Programmatik der Geschichte zugedachten Ziel entfernt, scheint damit ein Grundanspruch des Erzählens erfüllt - und das Erreichen des Ziels der Erzählung lediglich aufgeschoben. Interessanterweise aber verbleibt an dieser zentralen Schaltstelle der Erzählung dennoch ein Rest von Unklarheit. Agathon selbst sei sich trotz seiner Übung darin, „den geheimen Triebfedern seiner innerlichen Bewegungen nachzuspüren",122 nicht darüber im klaren, was mit ihm geschehen ist. Und der Erzähler schränkt die Gewißheit seiner Interpolationen über die Begebenheiten in Agathons Seele explizit ein: Agathon habe selbst die „Verwirrung" seiner Seele „zu beschreiben Mühe gehabt [...]; wenn wir anders hievon nach der besondern Dunkelheit, die in unsrer Urkunde über diese Stelle liegt, urteilen dürfen".123 Obgleich es sich um eines der ganz zentralen Ereignisse der Geschichte handelt und obgleich der Erzähler durchaus den Eindruck zu erwecken versucht, es sei im Sinne der erzählerischen Programmatik möglich, die einzelnen hier relevanten Wirkursachen genau zu unterscheiden, bleibt die Erzählung auf die Konjektur angewiesen. Doch auch wenn Agathon im Verlauf der Geschichte die Fähigkeit verloren geht, die bloß mechanischen Motivationen seines Handelns von den tugendhaften zu unterscheiden, wird er weiterhin als vorbildlicher Charakter verteidigt. Die Erzählung wird weiterhin als sowohl der Wahrheit der Natur als auch der historischen Wirklichkeit verpflichtet dargestellt. Der Geschichtsschreiber habe eben auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußstapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegenstand so groß oder so klein, so schön oder so häßlich, wie er ihn würklich findet, abzumalen; die Würkungen so anzugeben, wie sie vermöge der unveränderlichen Gesetze der Natur aus ihren Ursachen herfließen [...]. 124
Die idealen Charaktere, solche also, die von ihren Erzählern als in ihrer Tugendhaftigkeit unfehlbar geschildert werden (so also, wie sich Agathon selbst sieht), werden daraufhin sogar als grotesk beschrieben.125 Daher 122 123 124 125
Wieland: Agathon [1766f./1986],?,. 135. Wieland: Agathon [1766fj 1986], S. 135. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 159. „Der Himmel verhüte, daß unsre Absicht jemals sei, in schönen Seelen diese liebenswürdige Schwärmerei für die Tugend abzuschrecken, welche ihnen so natürlich und öfters die Quelle der lobenswürdigsten Handlungen ist. Alles was wir mit diesen Bemerkungen abzielen, ist allein, daß die romanhaften Helden, von denen die Rede ist, noch weniger in dem Bezirke der Natur zu suchen seien als die geflügelten Löwen und die Fische mit Mädchenleibern; daß es moralische Grotesken seien, welche eine müßige Einbildungskraft ausbrütet, und ein verdorbner moralischer Sinn, nach Art gewisser Indianer, destomehr vergöttert, je weiter ihre verhältniswürdige Mißgestalt von der menschlichen Natur sich entfernet, welche doch, mit allen ihren Mängeln, das beste, liebenswürdigste und vollkommenste Wesen ist, das wir würklich kennen - und daß also der Held unsrer Geschichte, durch die Veränderungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen sehen, zwar allerdings, wir geste-
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habe man die poetische Freiheit nicht nutzen wollen, Agathon mittels eines deus ex machina aus der Gefahr zu erretten — dann nämlich wäre die Geschichte zur Legende geworden. Spätestens mit der (an eine Formulierung Shaftesburys angelehnten126) Behauptung, die idealen Helden der Tugend seien „moralische Grotesken", von denen der hier geschilderte tugendhafte Charakter aufgrund seiner Natürlichkeit zu unterscheiden sei, wird klar, daß sich Agathons Moralität gerade nicht erweisen kann, wenn man vorgegebene moralische Maßstäbe zugrundelegt. Als vorgegeben wird im „Agathon" nicht die moralische Ordnung gesetzt, sondern die Ordnung der Natur, die ihrerseits allerdings auch nur mit den Mitteln der Statistik bestimmt werden kann. (In dieser Ermächtigung der Natur gegenüber der ,Schwärmerei' knüpft Wieland unmittelbar an den „Don Sylvio" an, dessen eigentlicher Haupttitel ja lautet: „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey".127) Damit wird es schwieriger, die innere Motivation von Agathons Verhalten auf seinen moralischen Charakter zurückzuführen. Wenn nämlich Moral als vorgängige, allgemeingültige und über die Empirie erhabene Motivationsstruktur angesehen wird, wird sie zur ,Schwärmerey'.128 Relativieren sich hen es, weniger ein Held, aber destomehr ein Mensch, und also desto geschickter sei, uns durch seine Erfahrungen, und selbst durch seine Fehler zu belehren." (Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 162 f.; Hervorhebung von mir.) 126 Siehe Blanckenburg: Versuch über den Raman, S. 46 f. 127 Michelsen behauptet, diese empiristische Wendung werde im „Don Sylvio" dennoch nur im Rahmen einer Ermächtigung der Phantasie durchgeführt: „Wieland stellt den ihn beherrschenden Konflikt zwischen Realität und Phantasie selbst als Produkt der Phantasie dar, in welchem das Phantastischere dem bloß Phantastischen weichen muß." (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 195.) „Wieland parodiert das Phantastische, weil er es liebt." (S. 191.) Ähnlich Schings: „Der anthropologische Roman", S. 254: „Die Satire auf die Phantasie mündet, paradoxerweise, ein in eine durch und durch phantastische (oder poetische) Utopie." Gegen Michelsens Deutung verwahrt sich Oedingen Phantasie und Erfahrung, S. 94 f. Er sieht in der Schwärmerei der Wielandschen Protagonisten einen Anklang an Lockes Theorie der „association of ideas" (S. 144 f.). 128 Laut Preisendanz ist Don Sylvios Schwärmerei „nichts anderes als jener bei ihm zum System gewordene Wahn, in dem für Breitinger das Wunderbare gründen muß, wenn es wahrscheinlich sein soll" (Preisendanz: „Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip", S. 82). Genau dies sei auch im „Agathon" der Fall: „Auch in diesem zweiten Roman macht allein die Funktion der Einbildungskraft als Vermittlerin von innerer und äußerer Wirklichkeit den Helden problematisch und seine Geschichte erzählenswert." (S. 84.) Die Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven Wirklichkeit falle schließlich aber zurück auf die Darstellung selbst: ,,[D]as Spannungsverhältnis zwischen zweierlei Wirklichkeiten" sei „nicht bloß [...] Gegenstand der Darstellung, sondern [...] die Darstellung" stehe „selbst im Zeichen dieser zweifachen Art von Wirklichkeit" (S. 85). Diese reflexive Dimension des Erzählens führe dazu, daß das Verhältnis „des Erzählers zu seiner Fiktion wie zum Leser integrierender Teil der dargestellten Wirklichkeit" werde (S. 90). Nur so könne das Ziel einer Vermittlung des Allgemeinen („Lauf der Welt") im Besonderen, das hier an die Stelle der von Breitinger geforderten Vermittlung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen trete, erreicht werden. Zur Figur des
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also die Zielsetzungen des erzählerischen Programms gegenseitig, unterwandert das Erzählen nach dem „Lauf der Welt" die moralische Darstellung?129 Welche Art moralischer Integrität des Protagonisten kann aber erwiesen werden, wenn der Welt, in der Agathon lebt, die moralische Ordnung nicht vorgängig eingeschrieben ist und wenn er zugleich nicht als Schwärmer dastehen soll130? fiktiven Lesers vgl. Μ. H. Würzner: „Die Figur des Lesers in Wielands .Geschichte des Agathon'". In: Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Darmstadt 1981 [1972], S. 399-406. Kritik an Preisendanz' ,modernistischer' Argumentation (eine Kritik, die meinen Überlegungen an einigen Stellen sehr nahe kommt) äußern Müller: Wielands späte Romane, S. 20, und Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 222 f. 129 Vgl. Schings: „Der anthropologische Roman", S. 254: „Daß die methodische Reduktion der Metaphysik auf Anthropologie nicht so leicht zu haben ist, [...] zeigt die großangelegte ,Geschichte des Agathon'". „Die Anthropologie mit ihren Influxus-Kausalitäten stellt sich quer zur Moralität, zur postulierten Teleologie des Weltlaufs." (S. 255.) Vgl. auch Frick, der behauptet, der „Agathon" sei aus einer „spannungsvollen Kontamination deskriptiver und normativer, kausaler u n d teleologischer Motive und Tendenzen" heraus zu verstehen (Frick: Promden^undKontingent S. 392). 130 Entsprechend fragt Schings, „ob und wie die Moralität, ,die Tugend', nach dem Einsturz ihrer epistemologischen Grundlage überleben kann." (Schings: „Agathon - Anton Reiser — Wilhelm Meister", S. 47.) Frick schließt sich dem an: „Läßt sich zur inneren und äußeren Natur als Grundlage von Leben und Erkenntnis ein zugleich realitätsgerechtes und nichtegoistisches Verhältnis gewinnen, sind also Tugend und Natur prinzipiell harmonisierbar? Und, literarisch gewendet: Ist es möglich, einen Entwicklungsroman zu schreiben, dessen Held den Gewinn theoretischer Einsicht und eines realistischeren Selbst- und Weltverhältnisses nicht mit der Enttäuschung und schließlich mit der Preisgabe seiner moralisch-normativen Intentionen bezahlen muß?" (Frick: Providern^ und Kontingent S. 432.) Vgl. dagegen Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 109: „Wenn schließlich beide Positionen, Agathon und Hippias, recht und unrecht zugleich haben, [...] so werden im Romanprojekt selbst die Geltungen der Systeme nur deshalb relativiert, um die Auswirkungen ihres Widerspruchs auf die Existenz des Subjekts durchzuspielen. Die ,Geschichte' Agathons wäre demnach keine - letztlich mißlungene - Demonstration einer darzustellenden Synthese zweier Systeme, sondern die Applikation einer in der Systemkonfrontation entstandenen Aporie auf die Erfahrung sowohl des Helden als auch der sein Schicksal verfolgenden und um die ,Synthese' vermeintlich betrogenen Romanleser." Erhart kommt zu diesem Ergebnis, da er bereit ist, jede Erzähleräußerung (teils in einem strikten Sinn) ironisch zu lesen. Die Stärke seiner Arbeit liegt in dem Aufweis der vielfältigen Aufnahmen literarischer Gattungstraditionen und Darstellungsmodi, die in Wielands Roman verarbeitet sind. Erhart zufolge werden allerdings alle diese Traditionen, die die Lesererwartungen steuern, zugleich Rekonstruiert'. Dabei legt Erhart - und das ist eine Schwäche seiner Arbeit - allerdings einen merkwürdigen Begriff von Dekonstruktion zugrunde: „Statt in jeder Lektüre sich unterschiedslos auf die Kritik des Logozentrismus zu verlegen, gewinnt das Verfahren der Dekonstruktion Bedeutung durch seine literaturkritische Strategie, Widersprüche im semantischen Potential von Texten zu beschreiben und mit der Rhetorizität sprachlicher Mittel zu erklären." (S. 125.) Für Wielands Roman heißt das: „Auch Wieland setzt rhetorische Konventionen und sich widersprechende Deutungsebenen ein, um den Leser die Schwierigkeiten spüren zu lassen bei dem Versuch, ,die Wahrheit zu erzählen': Der ,Agathon'Roman provoziert selbst eine Form der Lektüre, die sich in die Widersprüche der ihm gleichsam inkorporierten Literaturformen verstrickt. [...] Dieses ,dekonstruktivistische' Verfahren steht allerdings im Dienste einer philosophischen [...] Intention." (S. 126.) Spä-
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Ist noch bei Gottsched klar, daß die Übereinstimmung der Fabel mit dem Lauf der Natur immer schon deren Rückbeziehbarkeit auf einen moralischen Lehrsatz impliziert, so bricht Wieland mit dieser Voraussetzung (ebenso, wie er der Breitingerschen Theorie eine Absage erteilt, die Dichtung könne und solle das Unsichtbare als ein Sichtbares einkleiden und zugänglich machen). Das empirisch-anthropologisch orientierte Erzählen garantiert gerade keine moralische Dimension des Erzählten mehr. Daraus ergibt sich ein anderer Blick auf den im „Vorbericht" ausgetragenen Konflikt über den Status der anthropologischen Lehre des Hippias. Bedenkt man, daß sich dessen Lehre „nicht auf abstrakte Ideen, sondern auf die Natur und würkliche Beschaffenheit der Dinge gründet",131 so wäre ihre gründliche Widerlegung schon deshalb ein hors d'ceuvre gewesen, weil sie der Erzählstruktur des Werks selbst entspricht. Dieses bringt eben nicht zuletzt eine ,Schwärmerkur' zur Darstellung. Der strukturellen Ermächtigung der Position des Hippias wird aber das Postulat entgegengesetzt, daß sich ein tugendhaft motiviertes Verhalten gleichwohl unterscheiden läßt von jenem nach den Gesetzen der Einbildungskraft gesteuerten Verhalten, das Hippias auf der Basis seiner Statistik beschreibt. Der Charakter des Agathon soll in seiner Tugendhaftigkeit vorgeführt werden - und insofern stellt der Roman nicht nur eine ,Schwärmerkur' dar. Vielmehr wird mit dem Charakter eine Größe eingeführt, von der ebensowenig wie von der Moral geklärt ist, wie sie im „Lauf der Welt" zur Wirkung kommt. Es bedarf angesichts der anthropologischen Herausforderung, die Hippias im Roman formuliert, einer neuen Legitimation der Moral.132 Beide Hinsichten müssen, nimmt man das erzählerische Programm ernst, überblendet werden. Sowohl die Erkenntnis der Natur als auch die moralische Auseinandersetzung mit der Welt werden dabei von Beginn an in ihrem Stellenwert relativiert: So wie der „Lauf der Welt" immer nur durch statistische Rekonstruktionen bestimmt werden kann, die ohne Rekurs auf transzendente Prinzipien im Geräusch der Welt die Stimme der Natur hören lassen, kann auch tugendhaftes Verhalten nicht aus vorgängigen Grundsätzen heraus expliziert werden. Es geht dem Roman um die Etablierung einer doppelten Sichtweise auf das Geschehen bzw. getestens die Unterstellung einer ,dekonstruktivistischen' Intention auf Seiten Wielands zeigt die Differenzen zu gängigen Verfahren der Dekonstruktion an. Im Grunde funktioniert Erharts Lektüre nämlich in der Tat nur durch die eindeutige Festlegung angeblich ironischer Textverfahren. 131 Wieland: Agathon [1766fj 1986], S. 101. 132 Budde charakterisiert die Situation in seiner Studie über dialogische Erzählverfahren bei Wieland wie folgt: „Die erste Fassung der ,Geschichte des Agathon' bietet eine Entfaltung unauflösbarer Widersprüche, einen unabschließbaren und zu keinem sicheren Ergebnis führenden Diskurs zur Ermittlung der Wahrheit über die Natur des Menschen und die Möglichkeiten seiner moralischen Existenz." (Budde: Aufklärung als Dialog, S. 34.)
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nauer: um die Synthese zweier unterschiedlicher, einander womöglich zuwiderlaufender Weisen der Beobachtung.133 Damit erschließt sich nun auch die Funktion der doppelten Bestimmung des Bezugs zwischen der Darstellung und der wirklichen Welt, die der „Vorbericht" vornimmt: Der „Lauf der Welt" ist als Wahrheit der Fiktion in dieser Darstellung repräsentiert. Aus dieser Perspektive liegt das Wesentliche der Erzählung darin, daß sie mit verallgemeinerungsfähigen statistischen Beschreibungen der Wirklichkeit kongruent ist; die Erzählung ist im wesentlichen eine wahrscheinliche Geschichte. In moralischer Hinsicht jedoch kann das Ziel der Erzählung zumindest nicht ad hoc aus dieser Dimension der Darstellung abgeleitet werden: Es wird eben nicht eindeutig geklärt, inwiefern die Tugend als ein Moment des Charakters Agathons dessen Verhalten bestimmt. Wird daher im „Vorbericht" weiter behauptet, daß „Agathon und die meisten übrigen Personen [...] wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt", so hat diese Versicherung der Wirklichkeit der Charaktere eine andere, für das Programm des Romans aber ebenso wichtige Funktion. Ein überzeugendes Fallbeispiel aus der Wirklichkeit ist offenbar nötig, weil die Möglichkeit eines moralischen Charakters nicht a prion als 133 Auch Thome spricht von dem Erfordernis einer „synthetisierenden Lösung" (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 164), bzw. von der ,,letzte[n] großefn] Synthese der Aufklärung" (S. 227), betont aber letztlich deren „Gebrechlichkeit" (S. 243). Frick beschreibt für den Agathon eine durchgängige „strukturelle Doppeldeutigkeit" (Frick: Providen^ und Kontingent S. 433), nämlich einerseits eine .„fallende Linie"' der Desillusionierung des ,Schwärmers' Agathon (und entsprechend des Erzählens nach dem „Lauf der Welt"), andererseits eine „.steigende Linie'" hin zum Zielpunkt der Handlung in Tarent (S. 434). Diesen beiden Linien entsprechen zwei unterschiedliche Ordnungsbegriffe (S. 452 f.) Frick rekonstruiert ausführlich die durchgängige (ironisch gebrochene) Referenz auf eine „hinter der Wirklichkeit der Erscheinungen" liegende „Dimension verborgenen teleologischen Sinns" (S. 460). Insbesondere dem ,literarisch-artifiziellen' Charakter dieser Referenzen gilt sein Augenmerk (siehe z. B. S. 464). Ausdrücklich spricht er in diesem Zusammenhang von einem ,„Doppelschluß"' des Romans (S. 434). Zum Prinzip der vom Leser zu vollziehenden Synthese bei Wieland siehe Klaus Schaefer: „Der Schluß von Ch. M. Wielands Geschichte des Agathon - ein Werk in der Wandlung". In: Wieland-Studien, 1991, S. 4 3 - 5 7 , S. 45. Etwas anders argumentiert Campe. Auch er geht von einer Spannung aus: Der Herausgeber (den er mit dem sprechenden Ich des Haupttextes gleichsetzt), argumentiere „sensualistisch", Agathon hingegen „rationalistisch" (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 333). Im einzelnen: „Für den Herausgeber ist es das Unverbundene einzelner Geschehnisse, was sich in der Wirklichkeit der Dinge bemerkbar macht" - dasjenige also, was hier Geräusch genannt wurde: „Die Ordnung des Ganzen bleibt unsichtbar und ist nur als Dichtung, als Poetologie des Erzählens, zu haben. Für Agathon dagegen ist [...] das unverbundene einzelne Geschehen [ . . . ] Kennzeichen des Traums und des Poetischen. Die Ordnung, die Kohärenz der Dinge, ist dagegen das Kennzeichen der wahren Wirklichkeit, die sich dem ruhigen Nachdenken offenbart." (S. 333.) Beide Sichtweisen machen aber, so Campe, ihren Einfluß auf die Darstellung geltend: Der „Text der Erzählung [...] läßt sich nicht auf die Emphase des gewußten Ganzen [...] reduzieren, aber auch nicht auf das trockene Wissen vom einzelnen, für das der Zusammenhang nur der narrative Zug in der Fiktion ist." (S. 334.)
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konform mit den Gegebenheiten der Natur gesetzt werden kann, in deren Namen die allgemeine Nachvollziehbarkeit der Darstellung postuliert wird. Das wird im „Vorbericht" in einem etwas anderen Zusammenhang deutlich, wenn — mittels einer unmittelbaren Entlehnung aus „Tristram Shandy"134 — beschrieben wird, wie Agathon den Hippias widerlegt habe, was ja angeblich ebenfalls einen wesentlichen Bestandteil der Erzählung ausmacht: Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes den Sophisten, welcher leugnete, daß eine Bewegung sei: Diogenes ließ den Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen. Dieses war unstreitig die einzige Widerlegung, die er verdiente. 135
Seine Beständigkeit und Durchsetzungsfahigkeit muß Agathons tugendhafter Charakter erst unter Beweis stellen — damit aber soll die Tugend überhaupt als ein möglicher Grund menschlichen Handelns ausgewiesen werden. In dem Appell an die persönliche Wirklichkeit tugendhafter Handlungsmotivation liegt so vielleicht ein Ausweg des Romans, der es ihm erlaubt, beide Darstellungsziele zu erreichen, also nicht nur den Nachweis des allgemein bestimmbaren naturgemäßen Ablaufs, sondern auch denjenigen der Wirksamkeit moralischer Motivation. Der Roman bestimmt sich dann für eine Rezeption, die um die Möglichkeit tugendhaften Handelns weiß, ohne daß sie diese Möglichkeit aus allgemeinen Grundsätzen herleiten könnte, und die so die Motivationslücken in der Darstellung dem Programm entsprechend füllen kann. Nur dann kann Agathons Fallbeispiel überzeugen. Damit aber ergibt sich eine gewisse Nähe zu dem Charakterkonzept, das in Sternes „Tristram Shandy" entfaltet wird. Denn sowohl die strikt empiristische Grundlegung der Hippiasschen Anthropologie als auch der Entwurf des moralischen Charakters sind nur möglich, wenn man die bei Sterne herausgearbeitete Abkoppelung des Ablaufs erzählerischer Beobachtung von den Abläufen des eigentlichen' Geschehens voraussetzt: Hippias' Entwurf zufolge sind die Ereignisse in der ,großen' Welt für sich genommen nur Geräusch. Erst ihre Beobachtung erzeugt auf dem Weg 134 Dort heißt es, und zwar an zentraler Stelle, nämlich in dem Kapitel, in dem der Begriff des hobby-horse eingeführt wird: „the Philosopher would use no other argument to the sceptic, who disputed with him against the reality of motion, save of rising up upon his legs, and walking a-cross the room" (Sterne: Tristram Shandy [1759ff./2003], S. 68). 135 Wieland: Agathon [1766ff1986], S. 16. Hierzu siehe Frick: Promden^und Kontingents. 397 ff. Frick betont den in diesem Beispiel anklingenden „Anspruch, Literatur könne auf eine ihr spezifisch eigene, nicht-diskursive Weise zur Klärung weltanschaulicher Kontroversen [...] beitragen" (S. 399), und schließt, der Roman werde so zu einem ,,anschauliche[n] Korrektiv" (S. 400). Siehe hierzu auch Thome: Reman und Naturwissenschaft, S. 192 ff., vgl. Budde: Aufklärung als Dialog, S. 74.
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statistischer Konstruktion die „Stimme der Natur" — wobei über die Prinzipien, nach denen dies vonstatten geht, letztlich keine Auskunft erteilt wird. Die Art und Weise, me im Geräusch die Stimme hörbar wird, bleibt für den Beobachter selbst kontingent, und dennoch ist man bereit, sich auf die eigenen Rekonstruktionen zu verlassen (ähnlich wie sich Tristram der Eigendynamik seines Erzählens bereitwillig überläßt). Konsistenz wird erzeugt, ohne daß Prinzipien anzugeben wären, aus denen sich das Verfahren der Konsistenzerzeugung ableiten ließe. Ähnliches läßt sich für das Erzählen nach moralischen Gesichtspunkten behaupten. Auch die Möglichkeit des moralischen Charakters kann nicht aus vorgängigen Prinzipien hergeleitet werden. Entgegen der Auffassung des Protagonisten sondert sich auch die „Stimme der Tugend" nicht aufgrund transzendenter Prinzipien vom Geräusch der Welt ab, sondern ist Ergebnis einer Beobachtung mittels eines letztlich kontingent verbleibenden Beobachtungsmodus. Der moralische Charakter wird damit - auch wenn er dem Postulat des Romans zufolge notwendigerweise das Verhalten seines Protagonisten bestimmt - selbst zu einer Formation, die durch eine kontingente Unterbrechung entsteht. Entsprechend muß sein Wirken sowohl für ihn selbst als auch für seinen Erzähler ein Stückweit unklar bleiben. Charakterliche Notwendigkeit kann nicht allgemeinheitsfähig dargestellt werden. Wie bei Sterne läßt sie sich nur evozieren.136 Der Unterschied zwischen dem Erzählen nach dem „Lauf der Welt" und dem Erzählen, das auf die moralische Motiviertheit des Geschehens abzielt, liegt dann letztlich in der Art und Weise, wie sich die Erzählung auf ,Realität' bezieht. Zwar ist Agathons Charakter innerhalb der (ihrerseits nur nachträglich und kontingenterweise erkannten) Ordnung der Dinge unwahrscheinlich. Dennoch soll mit seinem Beispiel zugleich von der moralischen Ordnung der Welt gezeugt werden, die Hippias' Modell verneint. Wenn dem Erzählen, das sich nach den anthropologischen Grundsätzen des Hippias richtet, Allgemeinheitsfähigkeit zugesprochen wird, bedeutet das also lediglich, daß davon ausgegangen wird, der entsprechende Beobachtungsmodus sei (in der Realität) etabliert - der Beobachtungsmodus des moralischen Erzählens hingegen weniger. Eine mögliche Ordnung der Moral kann nicht statistisch erwiesen werden, sondern ist offenbar nur einem anderen Modus der Beobachtung zugäng-
136 Vgl. zum Begriff des Charakters bei Wieland Michel: Ordnungen der Kontingent S. 95—107. Michel geht von Leibniz' Fassung des Charakterbegriffs aus (S. 97) und zeigt, wie dieser im Roman problematisiert wird: Stellt der Charakter bei Leibniz eine apriorische Prägung des Subjekts dar, so wird der Zugriff auf diese Struktur schwierig, wenn sich herausstellt, daß wir „als Ausgangspunkt unserer Urteile nur diese Erfahrung zur Verfügung haben" (S. 99). Es ergibt sich ein Beobachtungsproblem, das demjenigen zumindest ähnelt, das ich in meiner Argumentation herausgearbeitet habe.
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lieh, nämlich d e r ü b e r z e u g e n d e n Bestätigung a m Einzelfall. 1 3 7 D a h e r m u ß der R o m a n , i n s o f e r n er in seiner m o r a l i s c h e n M o t i v a t i o n s s t r u k t u r ernstg e n o m m e n w e r d e n will, die E x i s t e n z v o n Charakteren, die d e m A g a t h o n ähnlich sind, f ü r die G e g e n w a r t schlichtweg postulieren. I n s o f e r n Charakter w i e in Sternes R o m a n eine B e z e i c h n u n g f ü r jene K o n s i s t e n z ist, die an der A b f o l g e der B e o b a c h t u n g e n eines B e o b a c h t e r s gesehen w e r d e n kann, impliziert dies, daß in der Tat ein spezifischer B e o b a c h t u n g s m o d u s anges p r o c h e n w i r d , auch w e n n e b e n s o w e n i g w i e b e i m E r z ä h l e n nach d e m „ L a u f der W e l t " expliziert w e r d e n kann, in w e l c h e n Prinzipien dieser M o dus gründet. B e z e i c h n e n d ist d a m i t f ü r W i e l a n d s R o m a n i m G e g e n s a t z zu demjenigen Sternes, d a ß er zwei unterschiedliche B e o b a c h t u n g s m o d i e v o ziert, die sich angeblich beide in i h m u m s e t z e n , auch w e n n sie sich w e c h selseitig zu u n t e r l a u f e n scheinen u n d letztlich nicht eindeutig geklärt w i r d , w i e das V e r h ä l t n i s z w i s c h e n diesen beiden M o d i zu sehen ist. 1 3 8 D i e S y n these dieser beiden B e o b a c h t u n g s m o d i ist das Ziel der Erzählung. D a r i n aber liegt eine starke A u f w e r t u n g o d e r gar A u t o n o m i s i e r u n g des ästhetischen M e d i u m s , innerhalb dessen diese S y n t h e s e w i r d statthaben m ü s -
137 Thome betont, auch die Möglichkeit des moralischen Charakters sei für den Erzähler ein empirisches Faktum: „Eine vorurteilsfreie Beobachtung menschlichen Verhaltens zeigt, und Agathon ist dafür selbst das Beispiel, daß Menschen aus überpersönlichen Interessen zu handeln fähig sind." (Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 192.) „Die Möglichkeit ethischen Handelns ist eine feststellbare Eigenschaft des empirischen Menschen" (S. 193). Entsprechend konturiere sich die Ethik im Roman als ,,autonome[s] Gebilde" (S. 194). Thome unterschätzt damit die Spannung, die gleichwohl zwischen den beiden unterschiedlichen Spielarten empirischer Beobachtung besteht, die der Roman entfaltet. Allerdings kommt er letztlich auch zu dem Schluß, daß die Synthese der wissenschaftlichen Empirie und der empirischen Gegebenheit moralischer Charaktere nur im Medium der Literatur statthaben könne (siehe S. 240). 138 Michelsen zufolge wird die „Spannung zwischen Phantasie und Realität", die „bei Sterne polar und zur Bildung einer die Subjektivitäten überwölbenden ,Welt' konstituierend" sei, bei Wieland „kontradiktorisch" gefaßt (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 189): „beide Pole möchten einander ausschließen, ohne daß das doch möglich wäre, so daß sie in dauerndem Kampf miteinander stehen. Während es also für Sterne gar keinen Sinn haben würde, nach der Lösung einer Spannung zu verlangen, die gerade die menschliche Existenz ausmacht, ist es Wieland einzig um diese Lösung zu tun" (S. 189 f.). Entsprechend spiele für Wieland „das ethische Problem", also die Problematik der Realisierung der moralischen Idee oder Phantasie, „eine ungleich größere Rolle als bei Sterne" (S. 179). — In meiner Sterne-Lektüre ist indes deutlich geworden, daß auch die „die Subjektivitäten überwölbende ,Welt"' nur eine ,kleine Welt' im Sinne des Romans ist. 139 Auch Thomes Deutung des Romans zeigt, daß die Synthese zwischen Hippias' naturwissenschaftlich fundierter Weltdeutung und dem ethischen Anspruch des Romans letztlich im literarischen Medium statthat, nicht im wissenschaftlichen. Dem entspricht seine Rede von der „Schwebe des artistischen Spiels" (Thome: Reman und Naturwissenschaft, S. 213), das der Text beispielsweise in seiner „Quellenfiktion" (S. 214) vollziehe. Insgesamt nehme der Roman letztlich doch „jene Eindeutigkeiten zurück, die die Wissenschaft fordert" (S. 221): „Gerade weil sich der Roman auf das wissenschaftliche Denken eingelassen
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3. Apologetik als Apostrophe: Die erste Fassung des „Agathon" von 1766/67 Angesichts dieser Konstellation bleibt zu fragen, welche Funktion jene Unklarheiten haben, die — wie in II. 1 ausgeführt — die Textverantwortlichkeit betreffen und die sich letztlich bis auf die Titelseite erstrecken. Die teilweise zurückgenommene Herausgeberfiktion, die der „Vorbericht" inszeniert, verweist nicht zuletzt darauf, daß sich im folgenden Roman das Erzählen - dank der doppelten Programmatik des Romans - vom Geräusch der eigentlichen' Ereignisse abkoppelt. Mit dem angeblichen Originaltext wird eine Fassung der Erzählung ins Spiel gebracht, die näher ans Geschehen heranrückt und unmittelbarer aus ihm hervorzugehen scheint als der vorliegende Romantext. In der ersten Fassung des Romans von 1766/67 wird diese Differenz zwischen dem Originaltext und der vorliegenden Erzählung immer wieder (und, wie schon gezeigt wurde, auch an durchaus entscheidenden Stellen) herausgestellt. 140 Dabei wird die Vervielfachung der für die Erzählung verantwortlichen Instanzen sogar noch gesteigert. Denn als sich der Erzähler dazu gezwungen sieht, zu erklären, warum er ein Selbstgespräch des Agathon wiedergeben kann, wie also der Wordaut der Erzählung auf die originalen Ereignisse bezogen ist, kommen auf einmal zwei weitere ,Originaltexte' ins Spiel: Da wir uns zum unverbrüchlichen Gesetze gemacht haben, in dieser Geschichte alles sorgfaltig zu vermeiden, was gegen die historische Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht erwecken könnte; so würden wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, welches wir hier in unserm Manuskript vor uns finden, mitzuteilen, wenn nicht der ungenannte Verfasser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch gründe, welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon sei, und wovon er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten. Dieser Umstand macht begreiflich, wie der Geschichtschreiber habe wissen können, was Agathon bei dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gesprochen; und schützet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbstgespräche machen kann, worin die Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Musen berufen zu können. Unsre Urkunde meldet also [...]. 141
hat, sind dessen Grenzen sichtbar geworden. Die Folge ist die neue Emanzipation des Literarischen." (S. 240.) 140 Neben den bereits erwähnten Stellen wären noch zwei Zwischenrufe des griechischen Autors zu nennen: „.Welch ein Zustand, wenn er dauern könnte!' - ruft hier der griechische Autor aus." (Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 173, ähnlich S. 176). 141 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 37 f.
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Genau genommen handelt es sich also um eine Erzählung, die (vielleicht) ein unbekannter zeitgenössischer Verfasser aus dem Manuskript eines unbekannten griechischen Autors .gezogen' hat, der sich seinerseits auf die Abschrift eines unbekannten Freundes stützt, die einen Text beinhaltet, dessen Original „sichern Anzeigen nach" vom Protagonisten selbst niedergeschrieben worden ist. Damit wird eine Überlieferungsgeschichte konstruiert, die die vorliegende Erzählung aus den geschilderten Ereignissen selbst hervorgehen läßt: Der Wortlaut der Selbstgespräche Agathons läßt sich so als der originale ausweisen. Allerdings wird zugleich deutlich, daß die Berufung auf die Genese der Erzählung keinesfalls ihre Originalität garantieren kann. So bleibt nicht nur das Verhältnis der vorliegenden Erzählung zum griechischen Original über weite Strecken des Romans unklar, weil die im „Vorbericht" implementierte Vervielfachung der für die Erzählung verantwortlichen Instanzen im Erzähltext keinesfalls dazu führt, daß die jeweiligen Textpassagen diesen Instanzen zugerechnet würden. Die Frage der Textverantwortlichkeit bleibt so meist in der Schwebe. Darüber hinaus geht auch das griechische Manuskript nur „sicheren Anzeigen nach" auf Agathons angebliches Tagebuch zurück. Daß nicht expliziert wird, worin diese „sicheren Anzeigen" bestehen, ist höchst bezeichnend. Die Erzählung macht ihre Genese eben nicht transparent, postuliert aber dennoch einen sichern Zusammenhang zwischen ihrem Wortlaut und dem eigentlichen' Geschehen. 142 Das hat auch mit dem medialen Unterschied zwischen Handschrift und Druck zu tun. Der Text ist eben kein Palimpsest, wie Manger annimmt: 143 Zwar wird die (vielleicht existente) griechische Handschrift in gewisser Weise ,überschrieben' von den Schriften des (zeitgenössischen) Verfassers, des Herausgebers, der „Freunde"; zwar wird, genauer gesagt, der aus den Ereignissen selbst hervorgehende Wordaut der Erzählung in einem mehrstufigen Verfahren, das die Erstellung mehrerer Handschriften beinhaltet, in den gedruckt vorliegenden Text überführt. Doch dabei wird meist gerade nicht geklärt, wie das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Versionen der Geschichte jeweils zu denken ist. An der vorliegenden Fassung der Erzählung läßt sich nicht ablesen, in welchem Verhältnis der jeweils vorliegende Wordaut zu den unterschiedlichen handschriftlichen 142 Nach Campes Rekonstruktion überkreuzen sich ,,[i]n der Handschrift des griechischen Verfassers, in der Erzählung, [...] die Linien von Agathons Tagebuch und herausgegebenem Romantext" (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 334). Hier fielen die unterschiedlichen Sichtweisen dieser beiden Instanzen - Campe spricht von einer sensualistischen Argumentation auf Seiten des Herausgebers und einer rationalistischen auf Seiten Agathons (S. 333) - gleichsam zusammen bzw. seien noch gar nicht unterscheidbar (S. 334). 143 Klaus Manger: „Struktur und Gehalt". In: Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1986, S. 943-56, S. 945.
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,Originalen' steht. Ist es in einem ,echten', handschriftlichen Palimpsest oftmals möglich, Schichten, Schriften und Schreiber zu unterscheiden, so besteht diese Unterscheidungsmöglichkeit, die letztlich auf einer paratextuellen Ordnung beruht, im Druck nicht. Indem die Übertragung der Manuskripte in den Druck erfolgt, werden die einzelnen Schichten des Textes, die unterschiedlichen Stufen seiner Genese, ununterscheidbar — es sei denn, man trifft entsprechende Vorkehrungen, was im „Agathon" nur stellenweise geschieht, wenn etwa das griechische Original explizit zitiert wird. Die Textstruktur des gedruckten Romans inklusive ihrer paratextuellen Dimension ist mithin eine sekundäre, und das Verhältnis zwischen dieser sekundären Textstruktur und den Originaltexten kann nur in Einzelfällen näher bestimmt werden. 144 Damit thematisiert die Erzählung selbst ihre Möglichkeiten, auf das Geschehen zuzugreifen. Deutlich wird dabei, daß nur der konkret vorliegende Text diesen Zugriff ermöglicht. Nur die erzählerische Konstruktion selbst, die auf der Grundlage der zwei angeführten Beobachtungsmodi erfolgt, produziert die Konsistenz dessen, was sie beobachtbar macht. Genauer gesagt erweist sich, daß die vorliegende Fassung der Erzählung, ähnlich wie bei Sterne, in einem kontingenten Verhältnis zur Originalfassung und damit erst recht zum eigentlichen Geschehen steht und daß man dennoch auf sie angewiesen ist. Nur sie macht aus dem Geräusch der eigentlichen Ereignisse ein beobachtbares und nachvollziehbares Geschehen. Nur durch sie können die Geschichte und der Charakter Agathons greifbar gemacht werden. 145
144 Demgegenüber geht Wirth von klareren Bestimmungen aus und kann deshalb eindeutig ,performative Widersprüche' konstatieren: Es werde „mit dem Versuch, Poet und Geschichtsschreiber in ein widerspruchsfreies Verhältnis zu bringen, ein doppelter performativer Widerspruch in Szene gesetzt. Der erste performative Widerspruch folgt aus der Selbstbeschreibung des Vorredenverfassers als .Herausgeber', der zugleich die Fiktionalität des Haupttextes eingesteht. Der zweite performative Widerspruch folgt daraus, daß das im Vorbericht entworfene Konzept eines poetischen Geschichtsschreibers im Haupttext nicht eingelöst wird, sondern der Herausgeber versucht, die Ebenen des Geschichtsschreibers und des Poeten sauber zu trennen." (Wirth: Autorschaft als Herausgeberschaft, S. 274 f.) Das Ergebnis sei eine doppelte Rahmung: „Die Darstellung der .inneren Geschichte' Agathons ist [...] das Resultat einer Doppelrahmung, wobei die editoriale Tätigkeit des deutschen Herausgeber-Übersetzers eine Spiegelung der auktorialen Tätigkeit des griechischen Autors ist: Die editoriale Tätigkeit des deutschen Herausgebers propft sich in Form der Transkriptions- und Kommentarfunktion der auktorialen Tätigkeit des griechischen Autors auf, die ihrerseits der Abschrift von Agathons Tagebuch eine finalisierende Tendenz aufpropft." (S. 269.) 145 Michelsen folgert aus derartigen Beobachtungen, Wielands Poetik gründe „nicht mehr auf dem Prinzip der Nachahmung" (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 197). (Vgl. dagegen Oettinger: Phantasie und Erfahrung, S. 84 ff.) Allerdings geschehe „die Etablierung eines [...] Raums, in dem die Dichtung ein Eigenleben zu führen scheint, nicht um der ästhetischen Autonomie willen", sondern dieser biete eher „eine Zu-
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Ähnlich wie die im vorigen Abschnitt angeführten, der Erzählung zwischengeschalteten Verweise auf Lücken im möglichen ,Originaltext' markiert das Ende des zehnten Buches einen Bruch. Die in diesem Buch geschilderten Ereignisse um Agathon am Hof des Dionys münden im vierten und fünften Kapitel in allgemeine Reflexionen über den Seelenzustand des Protagonisten. Ausgangspunkt dieser Reflexionen ist ein ausführliches wörtliches Zitat des Original-Manuskripts, in dem sich der griechische Autor darüber erleichtert zeigt, daß Agathon dank der Initiative des Archytas „aus dem gefährlichsten aller schlimmen Orte, wohin ein ehrlicher Mann verirren kann, unversehrt, und was beinahe unglaublich ist, mit seiner ganzen Tugend"146 heraus gekommen sei. Die auf das Zitat folgende „ein wenig milzsüchtige Deklamation gegen diejenige Klasse der Sterblichen, welche man große Herren nennt",147 die „eines von den merkwürdigsten, und sonderbarsten" Kapitel „in dem ganzen Werke"148 ausmache, ist allerdings nicht erhalten: Aber unglücklicher Weise, befindet sich das Manuskript an diesem Ort halb von Ratten aufgegessen; und die andre Hälfte ist von Feuchtigkeit so übel zugerichtet worden, daß es leichter wäre, aus den Blättern der Cumäischen Sibylle, als aus den Bruchstücken von Wörtern, Sätzen und Perioden, welche noch übrig sind, etwas Zusammenhängendes herauszubringen. 149
An die Stelle der fehlenden Textabschnitte setzt der Erzähler seine eigene, von derjenigen des griechischen Autors abweichende Einschätzung des ,,Moralische[n] Zustandjs] unsers Helden".150 Ausführlich wird hier die Problemlage dieses Charakters, wie sie oben bereits rekonstruiert wurde, auseinandergesetzt. Konstatiert wird zunächst die Schwierigkeit, kleinere Veränderungen der eigenen Seele überhaupt festzustellen — eine Schwierigkeit, die auch „allen andern Sterblichen"151 bereitet ist. Wenn aber die Veränderung des Selbst ebenso unmerklich wie folgenreich ist — wieder wird hier eine Logik der ,unmerklichen Verbindung' bemüht —, dann ist es grundsätzlich schlecht bestellt um die Fähigkeit, die unterschiedlichen Motivationen des eigenen Verhaltens auseinanderzuhalten. Der tugendhafte Charakter ist damit einer starken Gefahr ausgesetzt, ja es kann, wie es bei Agathon zuzeiten der Fall ist, zu einer Pervertierung des Vermögens
146 147 148 149 150 151
flucht aus dem Zwiespalt seiner [des Menschen] Existenz" (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Raman im 18. Jahrhundert, S. 198). Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 492. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 493. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 493. Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 493. Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 494ff. Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 495.
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kommen, die Stimme der Tugend in sich zu unterscheiden. Manchmal nämlich gerät Agathon in Versuchung [...], gegen die Stimme seines Herzens (welche eben so wohl, dachte er, die Summe der Eigenliebe oder des Vorurteils sein könnte,) alles, was der göttliche Plato erhabenes und herrliches davon [von der „Würde der menschlichen Natur"] gesagt und geschrieben hatte, für Märchen aus einer andern Welt zu halten.152
Agathon selbst kommt der Verdacht, dasjenige, was sich aus dem Geräusch' seiner Vorstellungen als „Stimme des Herzens" abhebe, könne ebensogut jeglicher moralischer Grundlagen ermangeln. In diesen Momenten erscheint Agathon sogar die Lehre des Hippias nicht mehr befremdlich. Allerdings behauptet der Erzähler dennoch, daß das innere Gefühl dieses Charakters, das ihn zwischen der tugend- und der triebhaften Motivation des Handelns unterscheiden läßt, nicht korrumpierbar sei: Die Begriffe des wesentlichen Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, und die Ideen des sittlichen Schönen, hatten zu tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, waren zu genau mit den zartesten Fibern derselben verflochten und zusammengewachsen, als daß es möglich gewesen wäre, daß irgend eine zufällige Ursache, so stark sie immer auf seine Einbildung und auf seine Leidenschaften würken mochte, sie hätte ausreuten können.153
Geht Agathon auf dem Höhepunkt seiner Krise davon aus, die Stimme der Tugend könne auch ein (kontingenter) Effekt von außermoralischen Mechanismen sein, behauptet der Erzähler hier einmal mehr ihre Authentizität. Das Vermögen, diese Unterscheidung zu erkennen, sei Agathon substantiell eingeschrieben - eine Behauptung, die Agathon, wie gesehen, vormals selbst aufstellt und auf alle Menschen bezieht. Die Bildlichkeit ist dabei bezeichnend: Das Wesentliche der Unterscheidungsfähigkeit des Agathon liegt gerade darin, daß sie aus der natürlichen Einrichtung seiner Seele hervorgeht. Es handelt sich gerade nicht um übersinnliche Gaben der Transzendenz, sondern um Strukturen, die in die „Fibern" der Seele selbst eingeschrieben sind, in die (quasi-)materiellen Grundlagen der Erkenntnisvermögen also. Die Instanz, die Agathon befähigt, in einem wesentlichen Sinne moralisch zu erkennen, ist mit der Einbildungskraft verwachsen, wie sie Hippias beschreibt. Diese moralische Instanz zeichnet es aber gerade aus, daß sie nicht durch bloß zufällige äußere Gegebenheiten bzw. deren interne Reproduktionen — durch das Geräusch des bloßen Instinkts also — zu beeinflussen ist. Die grundsätzliche Gewißheit des Erzählers findet allerdings ihr Widerspiel. Es schalten sich nämlich in die Erzählerrede einige Stimmen ein, die die jeweilige Motivation von Agathons Verhalten in den prägenden 152 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 497. 153 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 499 (Hervorhebung von mir).
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Momenten seiner Laufbahn noch einmal hinterfragen.154 Seine scheinbar von der Reinheit der Tugend bedingten Handlungen werden in einem Gedankenexperiment auf gänzlich andere Quellen zurückgeführt: Seine Widerständigkeit gegenüber der Priesterin in Delphi auf „schamhafte Unschuld" und die Liebe zu Psyche, sein Engagement in Athen auf „Ehrgeiz" und die „Ruhmbegierde eines Jünglings von zwanzig Jahren", seine Akzeptanz des Verbannungsurteils auf „Enthusiasmus" und „Stolz".155 Die Stimme, die diese alternativen Lesarten unterbreitet, entfaltet letztlich eine Art Verlaufsmodell individueller Tugendhaftigkeit: Ausgangspunkt dieses anthropologischen Exkurses ist die Behauptung, daß wir „so lange groß von der menschlichen Natur" denken, „als wir groß von uns selbst denken".156 Der Schritt weg von „jenem tugendhaften Schwulst, welchen die Einfalt übereilter Weise für die Tugend selbst hält", und hin zu „den notwendigsten und liebenswürdigsten Tugenden, [...] Geselligkeit und Mäßigung"157 werde getan, sobald klar sei, „daß die Torheiten, die Laster derjenigen, unter denen wir leben, Gebrechen der Natur selbst sind, denen (mehr oder weniger, auf diese oder eine andre Art, je nachdem Zeit, Umstände, Temperament und Gewohnheit es mit sich bringen) ein jeder unterworfen ist".158 An Sternes Roman erinnert die Einsicht, daß der Mensch „in dem besondern System seiner eignen Ideen", in „dieser kleinen Welt [...], er wolle oder wolle nicht, der Mittelpunkt — der Held des Stückes" sei, „auf den alles sich bezieht, und dessen Glück oder Fall alles entscheidet". Entsprechend könne, „wenn Scapin oder Harlekin der Held ist", das Stück wenig anderes sein als „als eine Farce".159 Genau dies aber scheint bei Agathon nunmehr der Fall zu sein, denn der Erzähler macht anschließend darauf aufmerksam, daß Agathon eine sozusagen satirische Denkungsart angenommen habe. Er achte nur noch auf die „ungereimte und lächerliche Seite der menschlichen Meinungen, Leidenschaften, und Gewohnheiten".160 Diese Situation gibt dem Erzähler Anlaß zur tiefsten Sorge, ja er hält sogar eine mögliche Wendung des Geschehens für denkbar, die Agathons privilegierte Stellung innerhalb des erzählerischen Experiments gefährdet: Aber wenn er [Agathon] dadurch weniger rechtschaffen, weniger ein Liebhaber der Wahrheit, weniger empfindlich für das Beste des menschlichen Geschlechts, weniger edelgesinnt, und wohltätig, weniger zur vorzüglichen Teilnehmung an
154 155 156 157 158 159 160
Vgl. zu dieser Stelle Budde: Aufklärung als Dialog, S. 70 f. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 502. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 503. Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 504. Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 503. Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 505. Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 506.
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon" der Glückseligkeit irgend einer besondern Gesellschaft [...] und zur Freundschaft, diesem Lieblings-Phantom schöner Seelen, weniger aufgelegt würde [...][,] wenn dieser schöne, herzerhöhende, wohltätige, und der Tugend so vorteilhafte Gedanke — für eine größere Sphäre als dieses animalische Leben, für eine edlere Art von Existenz, für vollkommnere Gegenstände, und zu einer vollkommneren Art von Aktivität, als unsre dermalige bestimmt zu sein — und die begeisternden, wiewohl träumerischen Aussichten, die uns dieser beste aller Gedanken gibt — wenn er keinen Reiz, keine Macht auf seine Seele mehr hätte - O! Agathon, Agathon! dann würdest du, nicht unsern Haß, nicht eine lieblose Beurteilung, nicht eine triumphierende Freude über deinen Fall, aber - unser Mitleiden verdienen.161
Es steht also für den Roman an diesem Punkt alles auf dem Spiel. Denn wäre Agathon zu bemideiden, würden alle bisherigen Bemühungen des Erzählers gegenstandslos. Einerseits möchte er die Unerschütterlichkeit der Anlage zum tugendhaften Charakter, d. h. insbesondere die damit gegebene Unterscheidungsfähigkeit weiterhin behaupten. Andererseits aber sieht er sich mit einer derartig unklaren Motiviertheit des Verhaltens Agathons konfrontiert, daß es schwerfällt, diese Behauptung aufrechtzuerhalten. So heißt es schon wenige Zeilen nach der soeben zitierten Stelle: Es ist eine so unbeständige Sache um die Begriffe, Meinungen und Urteile eines Menschen! Die Umstände, der besondere Gesichts-Punct, in den sie uns stellen, die Gesellschaft worin wir leben, tausend kleine Einflüsse, die wir einzeln nicht gewahr werden, haben soviel Gewalt über dieses unerklärbare, launische, widersinnische Ding, unsre Seele! - daß wir nicht Bürge dafür sein wollten, was aus unserm Helden hätte werden können, wofern er mit solchen Dispositionen in eine Gesellschaft von Hippiassen und Alcibiaden, oder zurück in die schöne Welt zu Smyrna versetzt worden wäre.162
Angesichts dieser Vorstellungen fällt der Erzähler nun doch dem griechischen Autor bei, wenn er sich glücklich über die Tatsache erklärt, daß Agathon nun einer günstigeren Umgebung zugeführt werde. Und wenn er abschließend ausführlich darlegt, daß Agathon seinen „eingewurzelten Hang zu dem idealischen Schönen" durchaus nicht verloren habe,163 daß es durchaus Anzeichen dafür gebe, „daß er noch Agathon ist",164 und daß das Ziel der Erzählung also durchaus noch erreicht werden könne, so scheint er mit dieser Beteuerung lediglich darüber hinwegzutäuschen, daß die Beständigkeit seines Charakters weder erwiesen noch widerlegt worden ist.165 161 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 508 f. 162 Wieland: Agathon [1766f./ 1986], S. 509. 163 Frick sieht darin die „gedankliche Voraussetzung des Tarent-Finales" (Frick: Providern^ und Kontingent S. 441). 164 Wieland: Agathon [1766/./1986], S. 510. 165 Schings spricht - wenn auch mit Bezug auf eine frühere Stelle - von einer „nahezu vollständigen Entmächtigung des Subjekts" (Schings: „Agathon — Anton Reiser — Wilhelm
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Dieser einigermaßen turbulente Schluß des zehnten Buches, an dem sich zum zweiten Male im Moment der (für den Protagonisten wie für den Roman) existenziellen Krise die interpolierende Stimme des Erzählers explizit über die mögliche Ur-Schrift des griechischen Autors legt, folgt mit der bereits erwähnten „Apologie des griechischen Autors" 166 ein nicht minder bemerkenswerter Beginn des abschließenden elften Buchs.167 Auf des griechischen Autors erste Entmündigung angesichts des zerstörten Manuskripts und einer aus der Sicht des Erzählers fehlgeleiteten Beurteilung der Situation folgt eine zweite: Der physische Schaden am Manuskript entspricht einem Bruch in dessen Erzählung selbst, einem Bruch aber, der zumindest teilweise verteidigt werden kann. Dieser Bruch entsteht aus einer unzulässigen Interpolation von Seiten des griechischen Autors — in der Anwendung eines Verfahrens also, dessen sich der Erzähler selbst gegenüber seiner Vorgabe mehrfach an entscheidender Stelle bedient hat. Das Kapitel setzt wie folgt ein:168 Bis hieher scheint die Geschichte unsers Helden, wenigsten in den hauptsächlichsten Stücken, dem ordentlichen Lauf der Natur, und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so gemäß zu sein, daß wir keinen Grund haben, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Aber in diesem eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer Welt, welche, unparteiisch von der Sache zu reden, zu allen Zeiten nichts bessers als eine Werkel-Tags-Welt (wie Meister", S. 57). Budde konstatiert allgemein: „Obwohl der Erzähler sich im allgemeinen den Anschein gibt, die Überlegungen und Handlungen Agathons überlegen kommentieren zu können, ist er an keiner Stelle des Romans in der Lage, den umfassenden Vanitas-Verdacht des Protagonisten auszuräumen." (Budde: Aufklärung als Dialog, S. 56.) Zwar geht Budde nicht unbedingt von der Möglichkeit einer Korrumpierbarkeit der moralischen Unterscheidungsfähigkeit Agathons aus: Agathon verkörpert fur ihn immerhin „die am wenigsten von der Realität korrumpierte, daher zu permanentem praktischen Scheitern verurteilte Möglichkeit des Menschen" (S. 59). Doch bedeutete ein Abfall des Protagonisten von dem Glauben, seine Tugend in dieser Welt umsetzen zu können, gleichwohl ein Scheitern des moralischen Programms denn „Tugend und Weisheit genügen nicht einmal gedanklich sich selbst, sie sind nur intersubjektiv erfahr- und vermittelbar" (S. 88). An anderer Stelle sagt Budde allerdings, daß „die Souveränität des Erzählers [...] in der ersten Fassung des Romans nicht so weit" reiche, „daß er dem Rezipienten Gewißheit über die eigentliche Identität des Protagonisten verschaffen oder ihm auch nur dessen Lernfähigkeit und Entwicklung bestätigen könnte" (S. 65). 166 Wieland: Agathon [1766f.! 1986], S. 512. 167 Hierzu vgl. Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 235 ff. 168 Vgl. hierzu Budde: Aufklärung als Dialog, S. 72 f. Budde betont, daß der Roman bislang eigentlich eher die „Voraussetzungen für einen .tragischen Romanschluß' geschaffen habe: „Weil der Charakter des Protagonisten in allen Nöten rein erhalten wird, weil die vielen negativen Erlebnisse Agathon nicht substantiell verändern und weil er .Bildung' eigentlich nur insofern erwirbt, als er seine Seele von den äußeren Einwirkungen und den durch sie ausgelösten inneren Gefährdungen zu bewahren vermag, kann das noch in seinen Unzulänglichkeiten und Widersprüchen integre Individuum zum Maßstab der Verhältnisse werden, denen es äußerlich unterliegt." (S. 94.)
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IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon" Shakespear sie irgendwo nennt) gewesen ist, ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu sein. Es stehet bei den Lesern, ihm hierin soviel Glauben beizumessen, als sie gerne wollen; wir an unserm Teil nehmen uns der Sache weiter nicht an; unsere Absichten sind bereits erreicht, und die glücklichen oder unglücklichen Umstände, welche dem Agathon noch bevorstehen mögen, haben nichts damit zu tun. 169
Angesichts der unmittelbar vorangehenden Ausführungen des Erzählers, die fast schon die völlige Demontage des Helden zu einem Objekt des Mitleids kommen sehen und nur in einer evokativen Wendung behaupten können, daß die Tugend gleichwohl in der Natur des Agathon gründe, ist diese neuerliche Wendung zunächst einmal frappierend - zumal sie ein paar Seiten später noch einmal wiederholt wird. 170 Wenn der Erzähler dem im „Vorbericht" formulierten Ziel verpflichtet ist — was ja nicht sein muß dann bedeutete diese Aussage nämlich, daß Agathon schon vor seiner Ankunft in Tarent „ein eben so weiser als tugendhafter Mann" 1 7 1 geworden ist. Die Verirrung des griechischen Autors „in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken" stellt also zumindest einen Sprung dar. Ohne daß die natürliche Folgerichtigkeit des Geschehens weiterhin demonstriert werden könnte, wird das Ziel des Erzählens erreicht. Der griechische Autor schummelt sozusagen ein wenig. Der zentrale Punkt der Apologie liegt nun in der Formulierung des Grundes, den er hierfür gehabt haben mag: Unser Verfasser wollte dem Vorwurf ausweichen, welchen Horaz gleichnisweise in dem bekannten Verse — Amphora coepit Institut — currente rotä cur urceus exit? — denjenigen Dichtern macht, in deren Werken sich das Ende nicht zu dem Anfang schickt. E r wollte in seinem Helden, dessen Jugend und erste Auftritte in der Welt so große Hoffnungen erweckt hatten, nachdem er ihn durch so viele verschiedene Umstände geführt, als er für nötig hielt seine Tugend zu prüfen, zu läutern und zu der gehörigen Konsistenz zu bringen, am Ende einen so weisen und tugendhaften Mann darstellen, als man nur immer unter der Sonne zu sehen wünschen, oder nach Gestalt der Sachen, erwarten könnte. 172
Zunächst ist bemerkenswert, daß dem griechischen Autor eben jenes Programm untergeschoben wird, das im „Vorbericht" (von wem auch immer) 169 170 171 172
Wieland: Agathon [1766f./1986], Wieland: Agathon [1766//1986], Wieland: Agathon [1766/./1986], Wieland: Agathon [1766/./1986],
S. S. S. S.
512. 517. 16. 513f.
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artikuliert wird. Daß er tatsächlich dieses Programm verfolgt hat, wird man dem Erzähler an dieser Stelle glauben müssen. Des weiteren wird mit Hilfe der Horazischen Metapher ein fatales Dilemma formuliert: Die Geschlossenheit der Erzählung wäre in Gefahr gewesen, hätte sich der Held nicht am ihm zugedachten Ziel zeigen lassen - statt einer Amphore wäre ein Krug entstanden. Aber was ist diese Einheit wert, wenn ihr zuliebe das ,Antrittsprogramm' des Romans verändert werden muß? Wird nicht in jedem Fall ein Krug aus der Erzählung, die eine Amphore werden sollte? Offenkundig sieht der Erzähler keinen Ausweg aus dem Dilemma, evoziert aber dennoch ein weiteres Mal ausführlich das Programm des Erzählens nach dem „Lauf der Welt", das angeblich auch dasjenige des griechischen Autors gewesen ist.173 Anschließend wird dessen Rechtfertigung präzisiert: Da, sage ich, dieses seine Absicht war, so blieb ihm freilich kein anderer W e g übrig, als seinen Helden in diesen Zusammenhang glücklicher Umstände zu setzen, in welchem er sich nun bald, zu seinem eigenen Erstaunen, befinden wird. Freilich ist ein solcher Zusammenfluß glücklicher Umstände allzuselten, u m wahrscheinlich zu sein. A b e r wie soll sich ein armer A u t o r helfen, der (alles w o h l überlegt) nur ein einziges Mittel v o r sich sieht, aus der Sache zu kommen, und dies ein gewagtes? Man hilft sich wie man kann, und w e n n es auch durch einen Sprung aus dem Fenster sein sollte. 174
Dieser ,Sprung' besteht nicht so sehr darin, daß die Zustände in Tarent allzu unwahrscheinlich sind, daß der Autor also den Helden in eine „utopische Republik" entführt. 175 Das Problem ist vielmehr, daß die neuen, zufällig sich ergebenden Umstände die Rettung der Tugendhaftigkeit des Agathon zumindest stark begünstigen, die doch dazu fähig sein sollte, sich gänzlich unabhängig von den Umständen zu behaupten. Darin mag einerseits eine gewisse Zurücknahme des Programms liegen: Offenkundig läßt sich nicht erweisen, daß der tugendhafte Charakter auch unter den gegebenen schlimmen Umständen nicht zu korrumpieren ist. Andererseits ist aber ebensowenig erwiesen, daß nur die Versetzung in andere Umstände die Tugend des Agathon gerettet hat - die Frage bleibt schlicht ungeklärt. Das aber ist ein Problem, das sich zuvor auch schon ergeben hat. So ist weiter oben gezeigt worden, daß in Momenten der Krise die Fähigkeit sowohl des Protagonisten als auch des Erzählers schwindet, die Motivationslage des Helden genau einzuschätzen. An eben diesen Stellen wird 173 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 515f. - Schings zufolge „kommt die Auflistung des Agathon-Erzählers einer anthropologischen Kategorientafel gleich" (Schings: „Der anthropologische Roman", S. 256). 174 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 516. 175 Vgl. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 160.
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regelmäßig ein Mangel des griechischen Manuskripts konstatiert und zum Anlaß genommen, um der Einheit der Geschichte willen Interpolationen vorzunehmen. Zugleich aber wird immer die jeweils vorliegende Lücke markiert, indem auf,materieller' Ebene ein Bruch exponiert wird: Immer dann, wenn auf der Ebene der Handlung wichtige Unterscheidungen nicht getroffen werden können, wird der unzuverlässige Originaltext aufgerufen und damit der Status der entsprechenden Passagen ins Zwielicht gerückt.176 Angesichts der Tatsache, daß es im elften Buch um den Abschluß der gesamten Erzählung geht, reicht ein Aufschub einer eindeutigen Erklärung, wie er vorher mehrfach vollzogen worden ist, allerdings nicht mehr aus:177 Nun muß demonstriert werden können, daß Natur und Moral konvergieren, daß der moralische Charakter Agathons mit dem „Lauf der Welt", wie ihn empirisch-anthropologische Beobachtung rekonstruieren kann, nicht nur harmoniert, sondern auch eine gewisse Eigenständigkeit und Autorität erlangen kann. Angesichts dieser Verschärfung der Problemlage ist es um so bemerkenswerter, daß der Roman gerade an dieser Stelle einen Bruch inszeniert. Ein Abschluß im Sinne des Programms wird insofern verweigert, als er nur mittels eines Sprungs erreicht wird. Bleibt im Moment des Übergangs nach Tarent eine Motivationslücke bestehen, so fällt die nachfolgende utopische Darstellung als Abschluß aus dem Erzählzusammenhang heraus. Damit wird der Abschluß sowohl gegeben als auch aufgeschoben. Das Ende der Erzählung wird desjenigen Status beraubt, der ihm dem Programm zufolge eigentlich zukommen sollte: Es fixiert gerade keine eindeutige Motivationsstruktur, sondern inszeniert die scheinbare Fixierung als nach wie vor unruhige und vorläufige Fesdegung.178 Allerdings weist der genannte ,Sprung' noch eine weitere Facette auf, denn die beiden grundlegenden erzählerischen Motivationszusammenhänge sind in unterschiedlicher Weise betroffen. Immerhin stellt sich die utopische Republik in Tarent als Ideal tugendhafter Vergesellschaftung 176 Vgl. hingegen Frick: Providern^ und Kontingent S. 488: „Bis zum Ende der Syrakus-Partien bleib diese mit ironischer Akribie rekonstruierte Fiüationsgeschichte des Textes ungenutzt". 177 Vgl. Frick: Providern^ und Kontingent S. 484: „Der Ort, an dem das Problem der teleologischen Synthesis von Held und Welt unabweisbar aufbricht, ist naturgemäß der Schluß des Romans." 178 Dies betont auch Campe, der schreibt, der Roman überführe „unentwegt, aber unabgeschlossen das Paradoxon aus Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit in die hierarchische Figur der Rahmung" (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 338) — womit die Problematik, daß die einzelnen Ereignisse immer zugleich wahrscheinlich und unwahrscheinlich seien, fortwährend durch die Fesdegung unwahrscheinlicher Rahmenumstände, die das Ereignis wahrscheinlich machen, gelöst, aber zugleich wieder erzeugt werde. Diese Figur bringt Campe mit der von ihm konstatierten Überkreuzung der Welthaltungen des Herausgebers und Agathons im Erzählen des griechischen Verfassers in Verbindung.
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dar. Im Schlußteil ist daher das Erzählen nach dem „Lauf der Welt" zumindest teilweise außer Kraft gesetzt.179 Das zeigt sich beispielsweise daran, daß gerade Archytas, dessen Charakter Agathon als Paradigma der Verbindung von Weisheit und Tugend gelten wird, keine Geschichte hat. Seine Einführung in das Geschehen gleicht einer Epiphanie: Agathon hatte nichts nötig, als ihn anzusehen, um überzeugt zu sein, daß er endlich gefunden habe, was er so oft gewünscht, aber noch nie zu finden geglaubt hatte, ohne daß er in der Folge auf eine oder die andere Art seines Irrtums überführt worden wäre - einen wahrhaftig weisen Mann, einen Mann, der nichts zu sein scheinen wollte, als was er würklich war, und an welchem das scharfsinnigste Auge nichts entdecken konnte, das man anders hätte wünschen sollen. 180
Archytas ist ein Bild — nicht umsonst bereut der Erzähler, es gebe keinen van Dyck mehr, ihn in angemessener Weise zu porträtieren.181 Seine Tugend besitzt jene unmittelbare Evidenz, die dem jungen Agathon zufolge der Stimme der Tugend zukommen müßte. Diese Evidenz gründet gerade in einer Verwachsung seiner Natur und seiner Tugend. An ihm, so heißt es, habe die Natur beweisen wollen, daß es ihr allein zukomme, diese glückliche Temperatur aller Elemente, woraus der Mensch zusammengesetzt ist, hervorzubringen, welche, unter einem Zusammenfluß eben so glücklicher Umstände, endlich zu dieser vollkommenen Harmonie aller Kräfte und Bewegungen des Menschen, worin Weisheit und Tugend in Einem Punkt zusammenfließen, erhöht werden kann. 182
Diese Harmonie des vorbildlichen moralischen Charakters wird zwar wortreich apostrophiert, doch bleibt sie abstrakt; Archytas' Leben erscheint als ausgesprochen ereignisarm, und wenig Konkretes wird über sein philosophisches System gesagt. Es ist kein Zufall, daß gerade Archytas im Gegensatz zu Agathon einen Charakter ohne Geschichte darstellt: Hier erfüllt sich in erster Linie das Programm einer moralischen Darstellung, nicht dasjenige einer Darstellung nach dem „Lauf der Welt". Auch der in der „Abdankung"183 angekündigte Abriß des Systems kann den Eindruck einer gewissen Leere des Charakters nicht tilgen: Indem der Roman Fortsetzungen ankündigt, bestärkt er vielmehr den Impetus, mit dem er sich 179 Thome kommt zu dem Schluß, das „Ende" des Romans sei „eine autonome Leistung des poetischen Bewußtseins" (Thome: Reman und Naturwissenschaft, S. 236). Ähnlich schreibt Budde, die Leser bedürften einer „wahrhaft wirklichkeitstranszendierenden Imaginationskraft" (Budde: Aufklärung als Dialog, S. 96), um es zu erfassen. Entsprechend ist er der Ansicht, der Roman verliere am Ende „an analytischer Kompetenz" (S. 94). Es bedürfe eben ,,[z]um Gelingen" des Romans „bereits vorgegebener idealer, nicht realer Umstände" (S. 109). Vgl. auch Stang: Einleitung- Fußnote - Kommentar, S. 63 f., und Michel: Ordnungen der Kontingenz S· 105-14. 180 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 523 (Hervorhebung von mir). 181 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 523. 182 Wieland: Agathon [1766f.,11986], S. 523. 183 Wieland: Agathon [1766f./1986], S. 554 ff.
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dem eindeutigen Abschluß und der Darstellung einer Synthese seiner beiden Darstellungsmodi verweigert. Der Gestus des Aufschubs, der in allen Krisensituationen zu beobachten war, wiederholt sich am Ende und verweist darauf, daß das moralische Programm bislang nur als Sprung heraus aus dem Erzählen nach dem „Lauf der Welt" realisiert worden ist. Der moralische Charakter konstituiert sich eben - so wie nach Sterne jeder Charakter - mittels einer kontingenten Abkoppelung. Im Erzählen markiert sich so die Erfüllung des Antrittsprogramms lediglich als Leerstelle. Eine Synthese der zwei für die Erzählung grundlegenden Beobachtungsmodi hat zumindest nicht in der erzählerischen Darstellung selbst statt. Denn wenn der Roman die jeweiligen Motivationslagen des Protagonisten nicht mit einer solchen Trennschärfe beschreibt, die klar erkennen ließe, was sich dem tugendhaften Charakter und was sich den zufälligen Umständen verdankt, dann wird durch die Erzählung die Vereinbarkeit von Natur und Moral gerade nicht erwiesen. Die moralische Theodizee,184 der sich der Roman verschreibt, wird nicht explizit darstellerisch eingeholt. Vielmehr geriert sich der Roman als ihre Apostrophe.185 Diese Apostrophe — und darauf kommt es hier an — vollzieht sich mittels der paratextuellen Rahmung, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: Zunächst finden sich die prägenden poetologischen Selbstbeschreibungen in einem Paratext, dem „Vorbericht" nämlich. Auch wenn er sich als Teil der (halb zurückgenommenen Herausgeber-)Fiktion erweist, thematisiert er das (paratextuelle) Erscheinungsbild des real vorliegenden Romantextes (durch die Auseinandersetzung über die verlegerische Fuß184 Zum Problem der Theodizee in Wielands Roman vgl. Oettinger: Phantasie und Erfahrung, S. 97 ff. 185 Dies läßt sich in Relativierung der Deutung von Vogl sagen, der davon ausgeht, die Erzählung laufe am Ende auf einen Standpunkt zu, von dem aus ein quasi-göttlicher Blick auf das zurückliegende Geschehen und die Auflösung der moralischen Unklarheiten möglich werde (Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002, S. 208-22). Vogl hat recht, wenn er konstatiert, das Erzählen werde in der Schlußpartie des Romans „an eine Grenze" (S. 210) getrieben und verwandle sich in eine Ubersichtsdarstellung. Wenn er darlegt, schließlich werde „mit Archytas der Fluchtpunkt eines ebenso seelischen wie politischen Entwicklungsganges und zugleich das Modell universaler Regulation und Zusammenschau vorgestellt" (S. 217), so ist dem gewiß zuzustimmen. Allerdings müßte die Lücke, die der Sprung aus dem Erzählen heraus öffnet, stärker akzentuiert werden, denn gerade sie macht deutlich, daß dieser Fluchtpunkt nur apostrophiert werden kann, und zwar bis hin zur letzten Fassung des Romans (siehe IV.4). Ähnlich wie Vogl argumentiert bereits Campe, der in der Schlußperspektive (allerdings der dritten Fassung!) das programmatische Ziel des Romans verwirklicht sieht (Joachim Campe: Oer programmatische Roman. Von Wielands ^Agathon' Jean Pauls ,Hesperus'. Bonn 1979, S. 33 ff., S. 45). Entsprechend entnimmt er dem Schluß das ,,[e]xplizite Programm" (S. 98) des Romans. Brüche und Lücken konstatiert er dennoch, vor allem im politisch-ökonomischen Bereich (S. 101 ff.) und zwischen Moral und Erotik (S. 106 ff.). Diese erscheinen in seiner Darstellung allerdings eher als blinde Flecken des Autors, nicht als Momente der Inszenierung.
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note). Damit, aber nicht nur damit, betreibt der „Vorbericht" eine Verunklarung der Textverantwortlichkeit: Er macht unterschiedliche schreibende Instanzen namhaft, ohne deren Zusammenwirken im einzelnen trennscharf darzustellen. Er verweist auf den handschriftlichen Originaltext der Erzählung, auf den sich der gedruckte Text bezieht, läßt aber zugleich im dunkeln, wie die vorliegende Fassung der Geschichte zustandegekommen ist. Darin arbeitet er auf einer übergeordneten Ebene mit dem Titelblatt zusammen. Gerade die Fassung des Textes, das Zustandekommen der vorliegenden Schrift, stellt sich gegenüber den Ereignissen als kontingent dar, auf die er sich bezieht und aus denen er hervorgeht. Das heißt: Selbst wenn in der Erzählung die durchgängige doppelte Motivation der Geschichte nach den zwei durch den „Vorbericht" evozierten Beobachtungsmodi überzeugend erwiesen werden könnte, so geschähe dies nur aufgrund einer kontingenten Rahmung. Wenn letztlich die paratextuelle Struktur des vorliegenden, gedruckten Romantextes den Ubergang vom zehnten zum elften Buch als „Sprung" markiert, verweist sie damit auch auf den Sprung, der vollzogen werden muß, will man das Ziel der Erzählung erreicht sehen. Wenn die bereits zitierte Kapitelüberschrift „Welches bei einigen den Verdacht erregen wird, daß diese Geschichte erdichtet sei" darauf hinweist, daß die historische Wirklichkeit der Erzählung ihre Unwahrscheinlichkeiten mit sich bringt, dann verweist sie zugleich auf das von Hippias skizzierte Konzept des Erhalts einer unwahrscheinlichen Ordnung aus einer kontingenten Bewegung heraus. Soll dem dargestellten Geschehen eine durchgängige Motivation im Sinne des Romanprogramms zukommen, muß es als wahrscheinlich erscheinen, daß im „Lauf der Welt" eine unwahrscheinliche alternative Motivationsordnung, nämlich eine moralische, erkennbar ist:186 Eine emergente Ordnung, die sich weder kausal auf den „Lauf der Welt", so wie er immanent-statistisch zu bestimmen ist, zurückführen läßt, noch dessen Gesetzmäßigkeiten widerspricht. Eine Ordnung mithin, die eben nicht vorgängig bestimmt ist, aber am Einzelfall aufgespürt werden kann. Der Roman apostrophiert so die Synthese der zwei die Erzählung tragenden Beobachtungsmodi, die allein diese Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen konstatieren kann. 187 186 Die Figur der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen nimmt Campe zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung des „Agathon" (Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 321-24, S. 331-38). 187 Siehe demgegenüber Frick, für den der Roman auf den Aufweis eines unlösbaren Problems hinausläuft. Die „Aufspaltung der narrativen Funktionen in einen durch den griechischen Autor des ursprünglichen Manuskripts verantworteten literarischen ,Urtext' [...] und einen modernen Editorenkommentar dient dann einzig dem Ziel, die beiden zentralen Erzählpostulate der ,Vorrede': empirische Plausibilität und normadv-teleologische Exemplarität, in der Konstruktion des Finales gleicherweise zur Geltung zu bringen." (Frick: Providern^ und
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Ausgehend von seiner paratextuellen Rahmung durch den „Vorbericht" und das Motto, die sich als poetologische Selbstbeschreibungen auffassen lassen, aber auch mittels der innerhalb dieser Selbstbeschreibungen erzeugten Unsicherheiten über die Schriftverantwortlichkeit, in der Fortsetzung dieser Verunsicherung durch den Streit um die Anmerkung auf Seite 57 und die teils fehlenden, teils falschen Angaben auf der Titelseite und schließlich durch die Entsprechungen all dieser Unklarheiten auf Seiten der Erzählung - durch all diese zusammenwirkenden Strukturmomente, die in der paratextuellen Struktur ihren Anfang nehmen, konstruiert der Text damit eine Adresse, an der sich die Konstitution der Einheit des Romans vollenden soll. Der Paratext erweist sich als Ausgangspunkt dieser Bewegung des Textes: Noch die Unklarheiten, die die Titelseite hinsichtlich der Textverantwortlichkeit schafft, stehen im Dienst einer Strategie, die den Text als Apostrophe eines noch zu findenden synthetischen Beobachtungsmodus lesbar werden läßt. Bis hin zur Titelseite wird der Paratext in dieses textimmanente Spiel einbezogen - und so Teil der intrinsischen Rahmung des Romans.
Kontingent^ S. 489.) Diese Verdoppelung aber führe in eine Aporie: „Das Finale der ,Geschichte des Agathon' bleibt [...], was der ganze Roman gewesen war: Problemanzeige, Gedankenspiel, Umkreisung einer verstörenden Aporie. Lösungen sind nicht in Sicht." (S. 495.) Zu diesem Ergebnis kommt Frick, weil er - wie bereits zitiert - davon ausgeht, daß dem Bewußtsein der Aufklärung „zur Sicherung seiner moralfinalistischen Postulate andere Begründungen als die der überwunden geglaubten Metaphysik der providentiellen Intervention nicht zur Verfügung stehen" (S. 16). Entsprechend heißt es vom „Agathon": „Wenn subjektive Moralität Aussicht auf objektives Glück haben soll, muß eine Überinstanz des Geschehens angenommen werden dürfen, die zwischen Subjekt und Welt vermittelt und beider Synthese garantiert." (S. 466.) - Ähnlich formuliert Erhart: „Nach dem Verlust metaphysischer Ordnungen kann nämlich auch die Moralphilosophie keine Garantie mehr dafür übernehmen, den Fiktionen eine Einheit zu unterlegen, in der sich die Projekte der Einbildungskraft noch mit der Sinnstiftung durch verbindliche Normen verknüpfen ließen." (Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 172.) Entsprechend kommt er zu einem ähnlichen Ergebnis wie Frick, wenn auch auf einem anderen Weg. Ihm zufolge wird in der ersten Fassung des „Agathon" jegliches Verfahren der ästhetischen Kompensation ironisiert bzw. dekonstruiert: „Wielands Roman [...] dekomponiert die literarischen Projektionen — nicht um die Epoche ihrer uneingestandenen nihilistischen Quintessenzen zu überfuhren, sondern um eine ästhetische Kompensationstechnik freizulegen, der das Zeitalter erst die Aufwertung der poetischen Imaginationskraft verdankt." (S. 162.) Es handele sich dabei aber um „ein der Epoche eingeschriebenes Ideal, dessen Dekonstruktion" Wieland betreibe (S. 163). Daher intendiere „Wielands Happy-End [...] keine Rettung des vom Scheitern bedrohten Romans", sondern wolle „umgekehrt das Scheitern einer literarischen - und philosophischen - Denkform dokumentieren" (S. 175). „Damit ist jedoch eine Wirkung der Literatur blockiert, die im 18. Jahrhundert eben erst etabliert worden war. Gerade die ästhetische Erfahrung war aufgerufen, die Diskrepanz von ,Sein' und ,Sollen' durch den Appell an ein ,empirisch' geltendes ,moralisches Gefühl' aufzuheben." (S. 179.) Meine Untersuchung kommt zu einem anderen Ergebnis, weil sie Wielands Rückbezug auf vorgeprägte literarische Formen nicht eine strikt ironische Intention unterstellt.
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Darin wendet sich der Roman — ähnlich wie derjenige Sternes — gegen jene Poetiken, die in der Dichtung die Erschaffung möglicher Welten sehen. Ähnlich wie bei Gottsched empfiehlt sich die Konzentration auf den „Lauf der Welt". Anders als Gottsched macht Wieland in seinem Roman aber deutlich, daß kontingente Grenzziehungen notwendig sind, will man überhaupt etwas beobachten. Diese kontingenten Grenzen aber verweisen wiederum nicht auf die nach dem rationalistischen Modell einzige Grenze, an der der monistische Universalzusammenhang der Dinge unterbrochen wird: die initiale Rahmensetzung fur die Weltmaschine. 188 Vielmehr verweisen sie auf einen noch zu findenden Beobachtungsmodus, der einen moralischen Motivationszusammenhang sichtbar machen wird, der sich zwar nicht aus dem „Lauf der Welt" ableitet, sich in ihm aber unwahrscheinlicherweise etablieren kann. Damit radikalisiert bzw. transformiert der Roman das aufklärerische Unternehmen: Jene Allgemeinheitsfahigkeit der Darstellung, die der Aufklärungsroman anstrebt, setzt sich bei Wieland in einen letztlich kontingenten, keinesfalls also apriorisch zu bestimmenden Beobachtungsmodus um. Allgemeinheitsfähig ist die Darstellung nicht, insofern sie beispielsweise mit logischen Grundsätzen kompatibel ist. Vielmehr gewinnt sie ihre Konsistenz mittels kontingenter Beobachtungsmodi, die als ,real' wirksam vorausgesetzt werden. 189 Jede Beobachtung der Welt, so die Voraussetzung, beruht in ihrer Prozessualität auf einer Abkoppelung vom Ablauf der ,eigentlichen' Ereignisse, kann jedoch aus sich selbst heraus mehr oder weniger konsistent sein. Die situative Einbindung der allgemeinheitsfähigen Darstellung gerät in den Blick, wenn die letztlich bloß gelegentliche, kontingente Verfaßtheit jeder Beobachtung von Welt herausgestellt wird. Solange Welt auf die Arten und Weisen beobachtet werden kann, welche das Erzählen konstituieren, kann der Roman seine Bestimmung erreichen. So mag sich das grundlegende Problem aufklärerischer Literatur, eine Akkomodation 190 allgemeiner Grundsätze an situative Gegebenheiten leisten zu müssen, lösen, indem die immer schon situative Verfaßtheit dieser allgemeinen Grundsätze nachgewiesen und zugleich die
188 Siehe hierzu III.2. 189 Vgl. Michelsen, der behauptet, Wieland bringe den Konflikt zwischen (moralischer) Phantasie und Realität „wenigstens in der Darstellung zur Versöhnung", wolle aber zusätzlich garanderen, daß diese Versöhnung „auch außerhalb seiner Darstellung [...] Gültigkeit beanspruchen" könne (Michelsen: haurence Sterne und der deutsche Reman im 18. Jahrhundert, S. 190). Die hier rekonstruierte Grundlegung der beiden für die Darstellung konstitutiven Beobachtungsmodi in unterschiedlichen Arten und Weisen der Bezugnahme auf die wirkliche Welt (Wahrheit der Fiktion vs. historische Wirklichkeit) entfaltet dieses doppelte Anliegen. 190 Zur Akkomodation in Wielands Roman vgl. Thome: Roman und Naturwissenschaft, S. 218 f.
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dieser situativen Verfaßtheit implizite Abkoppelung vom eigentlichen „Lauf der Welt" vollzogen wird. Damit erhält bei Wieland die Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Rahmung bzw. von Fremd- und Selbstadressierung eine tragende Funktion. Stehen bei Gottsched und anderen Figuren der Rahmung immer im Dienst der extrinsischen Rahmung bzw. der Fremdadressierung, so wird damit weiterhin eine (gott-)gegebene Ordnung als Ziel der Adresse des Textes angenommen. Bei Wieland wird hingegen deutlich, daß Ordnung und Konsistenz sich erst aufgrund einer Abkoppelung der Beobachtung vom ,Geräusch' der Ereignisse ergeben, daß also auch kein substantiell gefüllter metaphysischer Rahmen mehr angenommen werden muß. Der literarische Text muß vielmehr selbst die Apostrophe jener Ordnung übernehmen, die ihm erst seine (Werk-)Einheit geben wird. Der Roman selbst inszeniert sich als ein Arrangement, das unter Mithilfe einer geeigneten Rezeption diese Ordnung herstellen kann. Er inszeniert sich als eine Instanz, die in einer Art Rückkopplungsschleife im Zuge einer solchen Rezeption jene Unterscheidung, die die apostrophierte beobachtbare Welt bestimmt, in die Welt setzt. Er präsentiert sich selbst in seiner Abkoppelung von der wirklichen Welt als jene Adresse, der die Stiftung dieser Unterscheidung zugerechnet werden soll. Der paratextuelle Rahmen initiiert diese Selbstadressierung und betreibt so die intrinsische Rahmung des Romans. Der Roman legt dem Leser nahe, die bemerkenswerte Inszenierung der textuellen Verfaßtheit der Erzählung, die dieser selbst zunächst nur kontingenterweise anzuhängen scheint, als intrinsisch motiviert anzuerkennen: Die Lücken in der textuellen Überlieferung sind ebenso wie die Lücken, die sich in der Motivationsstruktur der Darstellung abzeichnen, notwendige Ansatzpunkte für eine Rezeption, in der sich das Antrittsprogramm des Romans erfüllen kann. Einbegriffen sind dabei alle hier angeführten paratextuellen Elemente, bis hin zur Angabe des Verlagsorts. Der Titel des Romans schließlich bezeichnet die Einheit, die aus dieser Rahmung hervorgehen soll: Die „Geschichte des Agathon" als in ihrer komplexen Motivationsstruktur geschlossene Darstellung. Damit erhält der (paratextuelle) Rahmen des Romans einen zentralen Stellenwert: Er steht als Inszenierung kontingenter Lückenhaftigkeit im Dienste einer ästhetischen Erfüllung des moralischen Programms des Romans.
4. Abschluß mit Supplement: Die dritte Fassung des „Agathon" von 1794 In der dritten Fassung des „Agathon", die 1794 in vier verschiedenen Formaten als Teil der „Sämmtlichen Werke" bei Göschen erschienen
4. Abschluß mit Supplement: Die dritte Fassung des „Agathon" von 1794
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ist,191 verkündet der „Vorbericht zu dieser neuen Ausgabe" die endgültige Vollendung des Projekts, das mit der ersten Fassung von 1766/67 auf den Weg gebracht, aber damals und auch in der zweiten Fassung nur unbefriedigend erfüllt worden sei. Wird in der „Apologie" der ersten Fassung, die in der dritten Fassung getilgt ist, der griechische Autor, der die Geschichte mit einem Sprung ins Wunderbare zu Ende gebracht hat, mit einem Horaz-Zitat gerechtfertigt, so wird hier dasselbe Zitat gegen die eigene damalige Entscheidung ins Spiel gebracht, die Geschichte trotz des ihr inhärenten Sprungs vorzulegen: — A m p h o r a coepit Institui, currente rota cur urceus exit? 1 9 2
Um die Frage, warum damals nur ein Krug entstanden sei, obwohl doch eine Amphore begonnen wurde, zu beantworten, verweist der Vorberichtschreiber auf äußerliche Zufalle — und greift damit Unterscheidungen wieder auf, die für den gesamten Roman von entscheidender Bedeutung sind: Der inneren Einheitlichkeit der Geschichte, die ihr Wesentliches ausmache, habe die unzureichende Form, in die sie die erste Fassung gegossen habe, nichts anhaben können, sei sie doch ihrerseits nur kontingenten Umständen geschuldet gewesen. Man könnte vermuten, daß diese Argumentation auf eine Aufhebung der Struktur der Apostrophe ziele, die die erste Fassung in ihrer Lückenhaftigkeit entfaltet. Träfe diese Vermutung zu, so würde damit die der ersten Fassung zugrundeliegende Einsicht widerrufen, daß Kontingenzen für die Werkeinheit konstitutiv sind, und die dritte Fassung fiele hinter das Reflexionsniveau zurück, das in der ersten Fassung insofern gegeben ist, als die Erzählung sich genau über die Grenzen dessen, was sie leisten kann, Rechenschaft ablegt und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreift. Vergißt also der neue „Vorbericht", daß sich die Motivationseinheit der Geschichte angesichts der doppelten Programmatik des Romans nur apostrophieren, nicht aber explizit darstellen läßt? Betrachtet man die Änderungen, die die dritte Fassung gegenüber der ersten auszeichnen, so fallt auf, daß die zentrale Lücke, die diese aufweist, nicht mehr deutlich markiert ist. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie verschwunden ist. Vielmehr sind Ergänzungen hinzugetreten, die zwar einen glatteren Übergang zwischen Agathons Gefangenschaft und dem utopischen Entwurf der bürgerlichen Gesellschaft in Tarent erzeugen, aber keinesfalls das Problem auflösen können, daß die Standhaftigkeit 191 Siehe hierzu aus buchgeschichtlicher Perspektive Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999, S. 388-99. 192 Christoph Martin Wieland: Agathon. Hg. v. Wilhelm Kurrelmeyer (= Wielands Gesammelte Schriften, Bd. 1.6). Berlin 1937 [1794], S. 8. Zu dieser Steüe vgl. Michel: Ordnungen der Kontingents. 115.
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Agathons als eines tugendhaften Charakters höchstens postuliert werden kann. 193 Denn wenn in der dritten Fassung ein Besuch des Hippias im Gefängnis Agathon zu seinen alten Grundsätzen zurückkehren läßt, 194 so ist auch dies ein Eingriff von außen, der den Charaktertest gerade nicht entscheidet: Wir können nicht läugnen, diese und ähnliche Gedanken waren in einer trübsinnigen Stunde in unserm Helden aufgestiegen: und wofern sie mehr als bloße Mißklänge einer durch gereizte Empfindlichkeit und gerechten Unwillen verstimmten Seele gewesen, wofern sie gar in G e s i n n u n g e n übergegangen wären; so schwebte er am äußersten Rande des Abgrunds, der zwischen W e i s h e i t und T u g e n d und dem S y s t e m des H i p p i a s liegt, und seine Feinde hätten einen allzu fürchterlichen Sieg über ihn erhalten, wenn sie ihn nicht bloß vom Gipfel seines Glücks in Syrakus, sondern sogar von der m o r a l i s c h e n H ö h e , auf der er so weit über sie erhaben stand, hätten herab stürzen können. Aber dieser Triumf sollte ihnen nicht zu Theil werden; denn der Genius seiner Tugend führte in eben dieser Stunde, da sein Gemütszustand eine neue Probe seiner bis in ihren Grund erschütterten Rechtschaffenheit gefährlicher als jemahls zu machen schien, einen Zufall herbey, der gerade das, was ihren Fall beschleunigen konnte, zum Mittel machte, ihr das Ubergewicht wieder zu geben, welches sie unter allen seinen Schwachheiten und Verirrungen bisher noch immer glücklich behauptet hatte.195 Wenn dergestalt der „Genius seiner Tugend" und der Zufall bemüht werden müssen, wird deutlich, daß nach wie vor nur ein „Sprung aus dem Fenster" ins rettende Tarent fuhren kann. Hippias verkörpert die Position, der Agathon zuzuneigen beginnt; er sieht eine Chance, Agathon nun voll ends zu überzeugen. Das aber gelingt nicht, vielmehr funktioniert der alte Gegner als Reflexionsfigur, angesichts derer Agathon zu seinem eigentlichen Charakter zurückfindet. 196 Das mag psychologisch noch so plausibel sein: Letztlich bestätigt sich erst dank eines äußeren Zufalls die Charakterfestigkeit Agathons.
193 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Frick: Providing und Kontingent^ S. 485. Schaefer zufolge tritt in der dritten Fassung ,,[a]n die Leerstelle der angezielten krönenden Synthese [...] die nun ernstgenommene und theoretisch noch ausgebaute Bescheidung mit der geistig-moralischen Verantwortlichkeit des Individuums" (Schaefer: „Der Schluß von Ch. M. Wielands Geschichte des Agathon", S. 53). Damit werde hier die Problemlösung aufgeschoben: „[A]uf These und Antithese folgte keine Synthese — und die entsprechende Leerstelle wurde im Prinzip wieder mit der These besetzt." (S. 54.) „Des Dichters Versuch, in der Endfassung seines Romans die Spannung zwischen Ideal und Realitätserfahrung aufzuheben, [...] kulminiert in einer neuen Fixierung des für Wieland unlösbaren Widerspruchs." (S. 55.) 194 Hierzu siehe im einzelnen Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands Agathon'-Projekt. Tübingen 1991, S. 334-50. 195 Wieland: Agathon [1794/19i7], S. 378 (meine Kursivierung). 196 Schaefer zufolge erhält er darin „geradezu mephistophelische Züge im goetheschen Sinne" (Schaefer: „Der Schluß von Ch. M. Wielands Geschichte des Agathon", S. 46).
4. Abschluß mit Supplement: Die dritte Fassung des „Agathon" von 1794
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Angesichts dieser Tatsache muten die Wiederaufnahme des HorazZitats und die Tilgung der „Apologie" in der dritten Fassung nicht nur als Anzeichen einer Abwendung von den Strategien der ersten Fassung an. Fast scheint es vielmehr so, als indizierten sie ein nur mehr verstecktes Scheitern des Romans. Doch auch eine solche Interpretation ist keinesfalls zwingend. Denn in gewisser Hinsicht sind die ursprünglichen Strategien des Romans lediglich subtiler geworden. 197 Auch in der dritten Fassung nämlich geht es um intrinsische Rahmung und um eine Art der Selbstadressierung. Dies wird insbesondere an der gänzlich neuen paratextuellen Rahmung deutlich (siehe die Tabelle). Als Eröffnungsbänden der „Sämmtlichen Werke" kommt den drei Bänden des „Agathon" schon in der Architektonik der Ausgabe eine besondere Rolle zu. Entsprechend tritt neben den „Vorbericht zur ersten Ausgabe" nicht nur der oben bereits zitierte „Vorbericht zu dieser neuen Ausgabe", sondern auch ein „Vorbericht" zu den „Sämmtlichen Werken",
(Para-)Textelement Frontispiz: („H. Ramberg, invenit et delin. 1793 J. J. Klauber, Sculp. Aug. // HIPPIAS" erstes Titelblatt (siehe Abbildung 7) [Subskribentenliste] „Vorbericht" zweites Titelblatt (siehe Abbildung 8) „Vorbericht zur ersten Ausgabe" „Vorbericht zu dieser neuen Ausgabe" „Inhalt des ersten Theils" drittes Titelblatt (siehe Abbildung 9) „Über das Historische im Agathon"
Paginierung
Ο) (10 Seiten, arabisch paginiert) III-VI VII IX-XVI XVII-XX XXI-XXV1 (1) (3-16)
Tabelle: Paratextueller Apparat, „Geschichte des Agathon", 1794, Bd. 1 („Fürstenausgabe" in Oktav mit Illustrationen)
197 Abgesehen von den nahezu vollständig ersetzten Kapiteln am Ende des 10. und am Beginn des 11. Buchs der ersten Fassung sind die entscheidenden hier angeführten Stellen der ersten Fassung in der dritten Fassung weitgehend erhalten geblieben. So ist im Kapitel „Geheime Nachrichten" weiterhin von einer „besondern Dunkelheit, die in unsrer Urkunde über dieser Stelle Hegt" (Wieland: Agathon [1794/1937], S. 112), die Rede. Auch der Verweis auf Agathons Tagebuch bleibt erhalten (S. 35 f.), ebenso die Zwischenrufe des griechischen Autors (S. 139, S. 142). Es fehlt allerdings die Rede von den vollkommenen Charakteren als .moralischen Grotesken' (siehe S. 132).
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der insbesondere verkündet, der Autor erkenne „nichts für sein [...], was keinen Platz in dieser Sammlung erhalten hat" 199 — womit wohl auch die erste Fassung des Agathon ausdrücklich aus dem Gesamtwerk verbannt ist. In der sogenannten „Fürstenausgabe" in Oktav und mit Illustrationen ist der erste Band mit drei Titelblättern versehen: Das erste - links von ihm befindet sich ein Frontispiz, das Hippias zeigt - kündigt „C. M. W I E L A N D S / SÄMMTLICHE W E R K E / ERSTER B A N D " an, genauer: „ G E S C H I C H T E DES A G A T H O N / ERSTER T H E I L " . E s folgt (nach
einer Subskribentenliste, die zumindest dem Exemplar der Kölner Universitätsbibliothek beigebunden ist) der bereits zitierte „Vorbericht" zur
198 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erster Theil (= Sämmtliche Werke, Bd. 1). Leipzig 1794, S. I. 199 Wieland: Geschichte des Agathon I [1 794], S. V.
4. Abschluß mit Supplement: Die drine Fassung des „Agathon" von 1794
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A b b i l d u n g 8. YC'ieland: „ G e s c h i c h t e des A g a t h o n " , zweites Titelblatt der dritten Ausgabe v o n 1794 („Pürstenausgabe" in O k t a v mit Illustrationen) 2 ""
Gesamtausgabe. Danach folgt das zweite Titelblatt, welches die „GESCHICHTE DES AGATHON" ankündigt, und zwar inklusive eines erweiterten Mottos („Quid Virtus et quid Sapientia possit / Utile proposuit nobis exemplum"), einer Vignette und dem Hinweis „IN DREY BANDEN". Sowohl dieses als auch das erste Titelblatt sind mit der Verlegerangabe versehen. Nun folgen der „Vorbericht zur ersten Ausgabe", der „Vorbericht zu dieser neuen Ausgabe" und schließlich der „Inhalt des ersten Theils" — ebenfalls eine Neuerung, denn weder die erste noch die zweite Ausgabe von 1774 waren mit einem Inhaltsverzeichnis versehen. Erst danach beginnt mit dem dritten Titelblatt, das schlicht die „GESCHICHTE
DES AGATHON.
200 Wieland: Geschichte des Agathon 1 1794 \S.
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VII.
236
IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
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Abbildung 9. Wieland: „Geschichte des Agathon", drittes Titelblatt der dritten Ausgabe von 1794 („Fürstenausgabe" in Oktav mit Illustrationen) 201
arabische Paginierung, und es folgt zunächst der (in der zweiten Fassung von 1774 hinzugekommene) Bericht „Über das Historische im Agathon", bevor der ,eigentliche' Romantext beginnt. Bemerkenswert ist dieser komplexe paratextuelle Apparat, weil er einigermaßen diffuse Grenzziehungen vornimmt. Während die erste Titelseite zwar die „Sämmtlichen Werke", aber nur den „Ersten Theil" des Romans ankündigt, hat die zweite als Titelseite des gesamten Romans „in drey Theilen" zu gelten. Setzt die erste den Autornamen an eine prominente Stelle, so taucht er auf der zweiten nicht mehr auf - und auch danach nicht mehr. Innerhalb der Gesamtausgabe wird so die Einheit des gesamten, dreibändigen Romans markiert, aus der der Name des Autors damit ausgegrenzt wird (man denke an die ursprüngliche Anonymität des Romans). Allerdings wird die Einheit des Romans mit dem Beginn des
201 Wieland: Geschichte des Agathon I [1794],S. 1.
4. Abschluß mit Supplement: Die dritte Fassung des „Agathon" von 1794
237
zweiten Bandes insofern wieder unterbrochen, als dessen erstes Titelblatt wieder auf die Gesamtausgabe und damit auf den Autor verweist. (Hier gibt es dementsprechend auch kein weiteres Titelblatt, das den Roman als ganzen ankündigte.) Das dritte Titelblatt schließlich entspricht (fast) dem Titelblatt der Erstausgabe, es fehlt nur das Motto, das auf dem zweiten Titelblatt angebracht ist. Uberschneiden sich so schon zwei unterschiedliche Ordnungsprinzipien im paratextuellen Apparat, nämlich dasjenige der Gesamtausgabe und dasjenige des Romans, so wird die Sache deutlich komplexer, berücksichtigt man nun die „Vorberichte" sowie die übrigen genannten Elemente des Paratextes. Auch in der dritten Fassung ändert sich nichts an der Tatsache, daß der ursprüngliche „Vorbericht", der hier als „Vorbericht zu ersten Ausgabe" abgedruckt ist, als fiktiver - also ,innerhalb' der Fiktion befindlicher - Bestandteil des Romans zu gelten hat. (Das betrifft insbesondere die halb zurückgenommene Herausgeberfiktion.) Er ist bis auf wenige Eingriffe unverändert geblieben — es fehlt lediglich der polemische Hinweis auf die nunmehr getilgte Verlegerfußnote 202 sowie der Schluß, in dem in der ersten Fassung für den zweiten Band angekündigt wurde, Agathon werde „in der letzten Periode seines Lebens [...] ein ebenso weiser als tugendhafter Mann seyn". 203 Der auf ihn folgende „Vorbericht zu dieser neuen Ausgabe" erläutert dann, wie bereits zitiert, die Unvollkommenheiten der ersten Ausgabe. So steht der „Vorbericht zur ersten Ausgabe" zwischen dem „Vorbericht" zur Gesamtausgabe und diesem neuen „Vorbericht" als ein Relikt der ersten Fassung, deren Gültigkeit von letzteren bestritten wird. Gleichwohl signalisiert die Tatsache, daß er weiterhin reproduziert wird, daß das hier formulierte komplexe Programm beibehalten wird. Insofern sich der erste und der dritte „Vorbericht" dergestalt solidarisieren, rahmen sie den „Vorbericht zur ersten Ausgabe" zwar ein; dieser ,alte' „Vorbericht" eröffnet aber seinerseits den Rahmen der (Herausgeber-)Fiktion und des in der Fiktion entfalteten Darstellungsprogramms. Man hat es also mit einer weiteren Überkreuzung zweier Rahmenunterscheidungen zu tun. Der auf die dritte Titelseite folgende Text ist durch die neu beginnende arabische Paginierung als eigentlicher' Text gekennzeichnet. Was allerdings folgt, ist eine quasi-wissenschaftliche Abhandlung, in der es um 202 Der Hinweis auf die Fußnote, die ja nun getilgt ist, wird ersetzt durch folgende Formulierung: „Dies Beyspiel führt uns auf eine Erläuterung, wodurch wir der Schwachheit gewisser Leute, deren Wille besser ist als ihre Einsichten, zu Hülfe zu kommen, und sie vor unzeitig genommenem Ärgernis oder ungerechten Urtheilen zu verwahren, uns verbunden fühlen." (Wieland: Agathon [1794/1957], S. 5.) 203 Siehe Wieland: Agathon [1794/1937], S. 7. Der Vorbericht endet mit dem Diogenes-Beispiel.
238
IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
die Bezüge zwischen der fiktionalen Erzählung und den historiographischen Quellen geht. Gegenüber ihrer ersten Fassung aus der zweiten Ausgabe von 1774 ist diese Abhandlung um zwei Anmerkungen erweitert, die mit „d. H." (wohl: der Herausgeber) unterzeichnet sind. Signalisiert die neue Paginierung den Eintritt in die fiktionale Erzählung, als deren Teil allerdings in gewisser Hinsicht bereits der „Vorbericht zur ersten Ausgabe" gelten darf, so wird diese Differenzierung damit einerseits gleich wieder aufgehoben; andererseits setzt sich die programmatische Doppelung, die dieser ursprüngliche „Vorbericht" betreibt, fort: Innerhalb eines Bereichs des Textes, von dem man meinen sollte, er müsse der fiktionalen Darstellung vorbehalten sein, wird darüber informiert, wie die fiktionale „Geschichte des Agathon" auf die Fakten der griechischen Historie bezogen ist. Schließlich wird der Status der wissenschaftlichen Abhandlung selbst in ein fragwürdiges Licht gerückt, wenn sich ein weiterer Herausgeber ins Spiel bringt, der offenkundig gegenüber dem Verfasser der Abhandlung eine übergeordnete Instanz darstellt - als setze sich die nie wirklich eindeutig explizierte Herausgeberfiktion unter der Hand auch in der Abhandlung fort. Insgesamt ist also eine sehr komplexe Verunsicherung konstitutiver Innen/Außen-Unterscheidungen zu beobachten. Die Unterscheidungen zwischen Gesamtausgabe und Roman sowie zwischen dem Innen und dem Außen der Fiktion durchkreuzen die durch paratextuelle Vorgaben wie Titelseiten und Paginierung gegebenen Innen/Außen-Unterscheidungen. Damit einhergehend wird einerseits die vormalige Strategie des Romans widerrufen, vermittels der Markierung seiner Lücken seine Einheit zu apostrophieren, andererseits schreiben sich im (allerdings seinerseits neu gerahmten) „Vorbericht zur ersten Ausgabe" wesentliche Momente der vormaligen Rahmungsverfahren fort. Erneut wird die Abkoppelung des Erzählens von den erzählten Ereignissen markiert (wenn auch schwächer — Agathon tritt explizit als Autobiograph auf 204 ); wieder werden zwei unterschiedliche, keinesfalls miteinander kongruente Beobachtungsmodi als konstitutiv für die Erzählung erklärt. Auch jetzt bleibt also die Apostrophe eines dritten, als Synthese zu verstehenden Beobachtungsmodus vom Rahmen her impliziert. Wenn allerdings der Bruch, den in der ersten Fassung die „Apologie des griechischen Autors" markierte, in der Darstellung gleichsam /versteckt', wenn also die zu füllende Lückenhaftigkeit' der Darstellung im Haupttext des Romans nicht mehr ausgestellt wird, so muß der paratextuelle Rahmen die Funktion dieser Markierung übernehmen. So verweisen
204 Siehe Wieland: Agathon S. 736 ff.
[1794/1937],
S. 482ff. bzw. Wieland: Agathon
[1766f./1986],
4. Abschluß mit Supplement: Die dritte Fassung des „Agathon" von 1794
239
der „Vorbericht" zur Gesamtausgabe und der „Vorbericht zu dieser neuen Ausgabe" auf die vormals in der Darstellung markierte Lücke. Dieser Verweis geht mit einer Vervielfältigung und damit einer Verunklarung der Grenze zwischen dem Innen und dem Außen der Darstellung innerhalb des paratextuellen Apparats einher. Hat vormals die Lücke in der Darstellung einen Beobachtungsmodus apostrophiert, der die Synthese von Natur und Moral konstituieren sollte, so dient nun diese Verunklarung im Zusammenspiel mit dem Verweis auf die Lücken der ersten Fassung dazu, die Notwendigkeit eines ebensolchen Beobachtungsmodus zu markieren. Einmal mehr soll also die Rezeption in der Auseinandersetzung mit dem Text eine neue Art der Beobachtung, also eine neue Unterscheidung,, etablieren und dem Text eine intrinsische Rahmung entnehmen, durch die allein die Erfüllung des nach wie vor identischen Romanziels geleistet werden kann. Sie soll also ebenso wie in der ersten Fassung den Roman im Sinne seines Programms zum Sprechen bringen und damit als Adresse konstituieren. Der Text verweist lediglich auf sich selbst als eine solche Adresse — das leisten nicht zuletzt die zu Beginn eines jeden der drei Teile abgedruckten Inhaltsverzeichnisse, in denen sich als eine Art Prospekt die Zwischenüberschriften zusammengestellt finden, die jeweils die Ereignisse in Grundzügen vorwegnehmen und die insbesondere zum problematischen Ende hin deutlich erweitert worden sind. Die Einheit des Romans bleibt — allen Prospekten zum Trotz — abhängig von der Etablierung eines Beobachtungsmodus, der in der Erzählung weiterhin nicht explizierbar ist.205
205 Vgl. hingegen die Deutung Erharts, für den in der dritten Fassung des „Agathon" zwar ebenso wie in der ersten eine „unauflösbare moralphilosophische Dissonanz" (Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 392) zum Ausdruck kommt, der allerdings eine veränderte Strategie ausmacht, mit dieser Dissonanz umzugehen: „Setzte die erste Fassung noch alles daran, diese Dissonanz gegen die literarischen Sinnangebote der Epoche zur Geltung zu bringen [...], so schildern die Romangespräche in Syrakus und Tarent [...] Anstrengungen, die Aufklärung über den Weltzustand in therapeutische Maßnahmen individueller Krisenstrategien zu verwandeln." (S. 392.) Die „Dialoge und Autobiographien", aus denen die dritte Fassung weitgehend besteht, lassen sich Erhart zufolge als „,kontrafaktische Anstrengungen', die gegen die Ergebnisse der vorausliegenden Geschichten aufgeboten werden" (S. 384), verstehen. Auch wenn meine Deutung zu einem anderen Ergebnis kommt, ist Erharts Hinweis darauf, daß der Roman in seiner dritten Fassung mit dem Übergang nach Tarent auf einen anderen Darstellungsmodus umschaltet, sehr wichtig: Schließlich zeigt sich auch daran, daß der Roman weiterhin auf ein- und dieselbe ungelöste Problemlage bezogen bleibt. Auch Michel geht in seiner Deutung von dem Befund aus, daß „das Ende der dritten Fassung vom Register des Erzählens radikal ins .philosophische' Register einer vermeintlich weisen Selbstverständigung" wechsle (Michel: Ordnungen der Kontingent S. 118), und spricht von einer „konstruktivistischen Gewalt der dritten Fassung, die ihren eigenen Konstruktivismus zu verdecken versucht" (S. 121): Der Sprung aus dem Erzählen heraus könne die „Er^Äprobleme" (S. 122) ja gerade nicht lösen.
240
IV. Sternes „Tristram Shandy" und Wielands „Geschichte des Agathon"
In gewisser Weise demonstriert die dritte Fassung damit auch, daß sie auf das Vorliegen der ersten, angeblich mißlungenen Fassung als eine Art Supplement angewiesen bleibt - oder mehr noch: von ihr als einer Art Supplement Gebrauch macht.206 Der Verweis auf die erste Fassung ist nämlich auch ein Verweis auf das dort zuerst entfaltete Programm, das der Rezeption aufbürdet, die intrinsische Rahmung zu etablieren, die der Darstellung erst ihre Geschlossenheit geben kann. Das Spiel mit den Fassungen der Geschichte, das die erste Fassung auch im eigentlichen Text, insbesondere in der „Apologie", entfaltet, wird so zum Spiel mit den unterschiedlichen Fassungen des Wielandschen Romans. Inszenierten sich in der ersten Fassung sowohl die Erzählung des griechischen Autors als auch der vorliegende Roman selbst als lückenhaft, so wird nun allerdings die dritte Romanfassung gegenüber der ersten als gelungen bezeichnet. Doch obwohl die dritte Fassung vor der Folie vormals mißlungener Installationen angeblich als gelungen gelten kann, erweist sich ihr Erfolg als ebenso kontingenten Rahmensetzungen geschuldet wie es der angeblich nicht eingetretene Erfolg der ersten Fassung gewesen wäre. Die dritte Fassung kann sich als gelungen erweisen, gerade weil sie dieselbe Problematik mit denselben, nur subtiler gewordenen Mitteln bearbeitet. Für Goethe ist dieser Entwicklung eine „Lehre des Geschmacks" implizit: [Es] ist [...] nicht zuviel gesagt, wenn wir behaupten, daß ein verständiger, fleißiger Literator durch Vergleichung der sämtlichen Ausgaben unsres Wielands, eines Mannes, dessen wir uns, trotz dem Knurren aller Smelfungen, mit stolzer Freude rühmen dürfen, allein aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können. 207
Als entfernter Alliierter wendet sich Goethe gegen Wielands Absage an die nicht in die Gesamtausgabe aufgenommenen Werke, hier die älteren Fassungen. Es ist nicht ganz klar, ob für Goethe die „Lehre des Geschmacks" wirklich in der Überlegenheit der letzten Ausgaben des „unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers" ihre höchste Anschauung gewinnen würde. In jedem Fall aber erkennt Goethe, daß die unterschiedlichen Fassungen der Wielandschen Werke aufeinander bezogen bleiben und in ihrem Zusammenhang zum Gegenstand einer Geschmackslehre werden können. Nicht zuletzt dieser Zusammenhang arti206 Vgl. Michel: Ordnungen der Kontingent S. 126, der ebenfalls zeigt, daß die dritte Fassung auf ihren angeblich defizienten Vorläufer angewiesen bleibt. 207 Johann Wolfgang von Goethe: „Literarischer Sanscoulottismus". In: J. W. G.: Schriften %ur Kunst, Schriften %ur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz, Hans Joachim Schrimpf (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 12). München 1981 [1795], S. 239-44, S. 242 f.
4. Abschluß mit Supplement: Die dritte Fassung des „Agathon" von 1794
241
kuliert sich ja auch im paratextuellen Apparat der dritten Fassung, die ihre angeblich defizienten Vorläufer nicht loswerden kann oder sogar nicht loswerden möchte. Der paratextuelle Rahmen der dritten Fassung macht schließlich etwas deutlich, was im Kapitel I bereits allgemein angesprochen worden ist: Die Grenzregion dieses Textes erweist sich hier in der Tat als eine Zone, innerhalb derer man dazu gezwungen ist bzw. vom Text gezwungen wird, eine Grenze zu ziehen, um die Einheit des Textes zu konstituieren. Als Grenzregion macht der komplexe paratextuelle Apparat die Beantwortung der Frage unumgänglich, was als integraler Bestandteil des Romans zu gelten hat und was nicht. Umgekehrt verweist das Problem, das diese Entscheidung gerade angesichts der komplexen Überkreuzungsfiguren darstellt, die soeben analysiert worden sind, überhaupt erst auf die mögliche Existenz dieser Grenze. Damit zeichnet sich eine zentrale Funktion von Grenzregionen für das ästhetische Medium ab, dem der „Agathon" seine Einheitsstiftung anvertraut - mit Folgen für die ästhetische Theorie am Ende des 18. Jahrhunderts.
V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks Spätestens im letzten Drittel des 18. Jahrhundert erhält der Rahmen von Kunstwerken einen veränderten Stellenwert. Sobald die ästhetische Autonomie von Kunst proklamiert wird, wird die Begrenztheit des schönen Gegenstandes zu einem zentralen Bestimmungsmoment des ästhetischen Urteils. Auch wenn Rahmen zumindest ad hoc nicht als ein wichtiges Thema der ästhetischen Theorie erscheinen mögen, ist die Diskussion über die Autonomie des Kunstwerks daher von Problemen der Rahmung bestimmt. Das folgende Kapitel widmet sich dieser Diskussion am Beispiel der ästhetischen Theorien Moritz' und Kants. Zunächst werde ich Entwicklungslinien rekonstruieren, in die sich deren Analysen des ästhetischen Urteils einordnen lassen (V.l). Dabei soll gefragt werden, inwiefern in den jeweiligen Theorien die Begrenzung des ästhetischen Gegenstandes für seine Konstitution eine Rolle spielt. Danach gehe ich solchen Denkfiguren Moritz' und Kants nach, die die Problematik des Rahmens beschreiben, wie sie sich dann für autonome Kunst stellt (V.2). Entscheidend sind dabei drei Fragen: Wie kann sich das Kunstwerk aus seiner Umgebung herauslösen, ,isolieren' und als Einheit ,anzeigen? Welche Bestandteile des Kunstwerks dienen dieser Isolierung? Inwiefern lassen sich die rahmenden Partien eines Artefaktes von dessen innerem Bereich unterscheiden und ablösen?
1. Der Kontur als Grenze. Die Einheit des schönen Gegenstandes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Karl Philipp Moritz' kunsttheoretische Schriften markieren als radikale Formulierungen einer Theorie ästhetischer Autonomie zweifellos einen Umbruchpunkt; gleichwohl konstituieren sie sich nicht nur im Dissens mit den ästhetischen Semantiken des 18. Jahrhunderts. Insbesondere die Frage nach der Einheit des schönen Gegenstandes hat vor Moritz ausgiebige und differenzierte Bearbeitungen erfahren. In vielerlei Hinsicht liegen
1. Der Kontur als Grenze
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damit Vorentwicklungen zum Konzept des ästhetisch autonomen Gegenstands vor. Exemplarisch sollen hier zwei Schwerpunkte der Diskussion um 1750 grob umrissen werden: Einerseits geht es um die Konstitution der rationalistischen Ästhetik bei Baumgarten und anderen, andererseits um die klassizistische Kunsttheorie seit Winckelmann. Die Rekonstruktion vollzieht sich in drei Schritten und geht jeweils von zentralen Moritzschen Formulierungen aus.
a) Die Kunst der Beschreibung: Moritz und Winckelmann Im Jahr 1788 diskutiert Karl Philipp Moritz die Frage, ,,[i]nwiefern Kunstwerke beschrieben werden können?" - so der Titel des später als „Die Signatur des Schönen" bekannt gewordenen Textes in der Erstausgabe. 1 Sein Ergebnis ist klar: Nein, Kunstwerke können in ihrer Beschreibung nur verlieren, da „die Werke der bildenden Künste selbst schon die vollkommenste Beschreibung ihrer selbst sind, welche nicht noch einmal beschrieben werden kann." 2 Moritz' Feststellung konturiert eine Form der Selbstbezüglichkeit und der intrinsischen Schließung des schönen Kunstwerks, die letztlich auf eine neue Bestimmung ästhetischer Einheit hinausläuft. In ihrer Pointe richtet sie sich dezidiert gegen jede Theorie, die sich in der Wolffschen Tradition um die zweckrationale Einordnung des Schönen bemüht. Zugleich bezieht sich Moritz explizit auf Winckelmann, dessen Beschreibung des Apollo von Belvedere er in der ersten Fassung der „Signatur des Schönen" kritisiert. Moritz' Kritik, „Winckelmanns Beschreibung vom Apollo in Belvedere" zerreiße „das Ganze dieses Kunstwerks, sobald sie unmittelbar darauf angewandt" 3 werde, ist zwar die Pointe des Textes, doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade Winckelmanns Projekt einer adäquaten Beschreibung des im klassizistischen Sinne gelungenen Kunstwerks die Probleme bereits aufwirft, an denen
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Die Ausgabe von Günther, nach der ich weitgehend zitiere, druckt den Text „Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können" unter dem Titel der zweiten Ausgabe ab. Karl Philipp Moritz: „Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können?". In: Κ. P. M.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Bd. 2. Frankfurt/M. 1981 [1788], S. 579-88, S. 587. Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 588. Zu Moritz' Winckelmann-Kritik siehe Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2. Frankfurt/M. 1974, S. 86 ff., und Bernhard Fischer: „Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von ,Allegorie' und ,Symbol' in Winckelmanns, Moritz' und Goethes Kunsttheorie". In: DVjs 64.2, 1990, S. 247-77, S. 264 ff.
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V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
auch Moritz arbeitet. Denn Winckelmann ist sich in seiner Beschreibungsmethode keinesfalls sicher.4 Für Winckelmanns Anliegen ist die ,lebendige' Beschreibung der griechischen Kunstwerke zentral.5 Seine Beschreibungen haben auch durchaus prägende Spuren hinterlassen, wie die Reaktionen deutscher Literaten und auch Moritz' auf,Italien' später zeigen. Erwiesen werden soll bereits in den „Gedanken von der Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst" (1755) die Einmaligkeit und damit die Vorbildlichkeit des der .nordischen' Neuzeit im Grunde Fremden der griechischen Kunst - eine Einmaligkeit, die mit .Natürlichkeit' enggefuhrt wird. 6 Die griechischen Kunstwerke sind Vorbilder einer am Ideal der Natur orientierten spannungsvollen7 ästhetischen Einheit, die sich im ,Kontur' der schönen Statue konstituiert. Vom unschätzbaren Wert dieses formalen Charakteristikums der antiken Plastik hat die Beschreibung zu überzeugen. Ungeachtet dieser Wertschätzung des rein Formalen thematisiert Winckelmanns Schrift auch die zeichenhafte Qualität der bildenden Kunst, und zwar in den abschließenden Anmerkungen der „Gedanken" über die Malerei:8 Erstreckt sich die „Malerey [...] auch auf Dinge, die nicht 4
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Vgl. Helmut Pfotenhauer: „Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert oder die Geburt der neuen Kunstgeschichte". In: Gottfried Boehm, Η. P. (Hgg.): Beschreibungskunst - Kxnstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis ψΓ Gegenwart. München 1995, S. 313-40. Siehe Gert Ueding: „Von der Rhetorik zur Ästhetik - Winckelmanns Begriff des Schönen". In: Gerard Raulet (Hg.): Von derUetorik %ur Ästhetik. Studien %ur Entstehung der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert. Rennes 1992, S. 38-63, S. 52 ff. Ueding unterscheidet zwei Entwicklungslinien der ästhetischen Diskussion, eine rationalistische, die zwischen Baumgarten und Kant verläuft, und eine, die von Winckelmann ausgeht und sich gegen eine durchgängige Systematisierung der Ästhetik wendet: „Denn wenn die Schönheit nur aus dem einzelnen Kunstwerk überzeugend redet, also niemals in Begriffen außer ihm greifbar ist, dann bleiben allgemeine Regeln immer nur unzureichende Annäherungen, die durch die konkrete Kommunikation mit dem Werk zumindest ergänzt werden müssen." (S. 65.) Uedings Arbeit liefert insgesamt eine Ubersicht über Winckelmanns Stellung zwischen rationalistischer und platonischer Philosophie auf der einen und der Rhetorik auf der anderen Seite. Vgl. Wilfried Barner: „Das ,Fremde' des .griechischen Geschmacks'. Zu Winckelmanns ,Gedanken über die Nachahmung'". In: Eijiro Iwasaki (Hg.): Begegnungen mit dem „Fremden". Grenzen — Traditionen - Vergleiche. Bd. 7. München 1991, S. 122—28. Szondi betont, daß die Formel von der „edlen Einfalt" und ,,stille[n] Größe" der griechischen Kunst keinesfalls auf harmonische Vorstellungen abzielt, sondern vielmehr auf die maximale Spannung zwischen innerer Bewegtheit und äußerer Ruhe (Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie 1, S. 42 ff.). Der scheinbare Widerspruch, der darin liegt, hat dazu geführt, daß von diesem Teil der Schrift behauptet wurde, Winckelmann habe ihn weniger aus eigenem Antrieb als vielmehr in Rücksichtnahme auf Adam Friedrich Oeser verfaßt (siehe das Nachwort in Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in Malerei und Bildhauerkunst - Sendschreiben — Erläuterung Hg. v. Ludwig Uhlig. Stuttgart 1995 [1756], S. 152). Zum Stellenwert des Allegoriebegriffs bei Winckelmann siehe auch Ueding: „Von der Rhetorik zur Ästhetik", S. 62 ff.
1. Der Kontur als Grenze
245
sinnlich sind", so ist ihr dies „nur allein durch den Weg der Allegorie" möglich, d. h. „durch Bilder, die allgemeine Begriffe bedeuten".9 Aber: „Der Künsder befindet sich hier wie in einer Einöde" - es fehlt ihm ein ,,gelehrte[r] Vorrath [...], wohin er gehen, und bedeutende und sinnlich gemachte Zeichen von Dingen, die nicht sinnlich sind, nehmen könnte".10 Was hier artikuliert wird, ist die Schwierigkeit einer angemessenen Transformation bedeutsamer Strukturen aus der begrifflichen Beschreibung ins Sinnliche. Der ,gelehrte Vorrat', anhand dessen sich das Nicht-Sinnliche gleichwohl in verbindlicher Weise sinnlich einkleiden ließe, fehlt aber nicht nur dem Künstier, sondern auch demjenigen, der versucht, das gelungene Kunstwerk zu beschreiben. Winckelmanns Begründung einer systematischen Kunstgeschichte hat in diesem Problembewußtsein ihren Ursprung.11 Damit ist allerdings noch nichts gesagt über die Gründe, die die nach dem Programm der „Gedanken" zu leistende Beschreibung problematisch werden lassen. Winckelmann scheint denn auch — zumindest ein Stückweit - der Auffassung zu sein, mittels einer bloßen Sammlung und Klassifizierung vorliegender allegorischer Strukturen ließe sich das Problem lösen. 12 Doch dient die Applikation mythologischer Semantiken keinesfalls nur der beschreibenden ,Zergliederung' des Kunstwerks, sondern zugleich der Evokation einer Bedeutsamkeit, die das Kunstwerk über das Alltägliche
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Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Makrey und Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auflage. Neudruck der Ausgabe Dresden — Leipzig 1756. Baden Baden - Strasbourg 1962, S. 40. Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung, S. 16. Pfotenhauer kann ausgehend von Winckelmanns ersten Beschreibungen von Bildern der Dresdner Galerie sehr genau zeigen, welch unterschiedliche Verfahren Winckelmann austestet, um diesem Problem gerecht zu werden. Zum Vergleich zieht er dabei das Beschreibungsverfahren Heinses hinzu. Entscheidend ist der bei Winckelmann vollzogene Schritt von der „Kunstbeschreibung" zur „Beschreibungskunst" (Pfotenhauer: „Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert", S. 313). „Der Künsder hat ein Werk vonnöthen, welches aus der ganzen Mythologie, aus den besten Dichtern alter und neuerer Zeiten, aus der geheimen Weltweisheit vieler Völker, aus den Denkmalen des Althertums, auf Steinen, Münzen und Geräthen, diejenige sinnliche Figuren und Bilder enthält, wodurch allgemeine Begriffe dichterisch gebildet worden. Dieser reiche Stoff würde in gewisse bequeme Classen zu bringen, und durch eine besondere Anwendung und Deutung auf mögliche einzelne Fälle, zum Unterricht der Künsder, einzurichten seyn." (Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung, S. 42.) - Dieses Projekt verfolgt Winckelmann tatsächlich im „Versuch einer Allegorie" - wobei allerdings das sich selbst erklärende allegorische Zeichen präferiert wird (also im Grunde ein Zeichen, das nach der Goetheschen Begriffsverwendung eher als Symbol zu bezeichnen wäre). Wenn Winckelmanns ^Archäologie' dieser Zeichen gleichwohl Zuflucht bei der Bezugnahme auf die Mythologie sucht, zeichnet sich auch darin sehr genau seine zwiespältige historische Stellung ab. Hierzu und zu Winckelmanns Kunsttheorie vor dem Hintergrund des .Endes der Ikonographie'siehe Fischer: „Kunstautonomie und Ende der Ikonographie", S. 249 ff.
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V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
hinaushebt.13 Was also beschrieben werden will, ist diejenige Struktur, die das schöne Kunstwerk von seiner Umwelt abgrenzt. Insofern zeigt sich der Klassizismus bereits in der Problematik der Winckelmannschen Kunstbeschreibungen als „Grenzziehungskunst".14 Genau hierfür steht in Winckelmanns Schrift der bereits angeführte Begriff des Konturs: „Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle Theile der schönsten Natur und der idealischen Schönheiten in den Figuren der Griechen; oder er ist vielmehr der höchste Begrif in beyden."15 Explizit gründet laut Winckelmann die Einheit des schönen Gegenstandes in seinem Umriß, seiner Grenze — wobei interessanterweise genau darin der Begriff natürlicher und idealischer Schönheit liegen soll.
13 14
So Pfotenhauer: „Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert", S. 322 ff. Günter Oesterle: .„Vorgriffe zu einer Theorie der Ornamente'. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske". In: Herbert Beck, Peter C. Bol, Eva Maek-Gerard (Hgg.): Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Berlin 1984, S. 119-39, S. 119. Ausführlicher zu Kontur bzw. Umriß Günter Oesterle: „Die folgenreiche und strittige Konjunktur des Umrisses in der Romantik". In: Gerhard Neumann, G. O. (Hgg.): Bild und Schrift in der Romantik. Würzburg 1999, S. 2 7 - 5 8 , zusammenfassend S. 38. - Winckelmanns Hinwendung zur Allegorie ist von Raulet als der Versuch aufgefaßt worden, „die Allegorie zu reinigen" (Gerard Raulet: „Von der Allegorie zur Geschichte. Säkularisierung und Ornament im 18. Jahrhundert". In: G. R., Burghart Schmidt (Hgg.): Kritische Theorie des Ornaments. Wien - Köln - Weimar 1993, S. 55-68, hier S. 156; zu Winckelmann siehe S. 156—65, sowie Gerard Raulet: „Ornament und Geschichte. Strukturwandel der repräsentativen Öffentlichkeit und Statuswandel des Ornaments in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts". In: Ursula Franke, Heinz Paetzold (Hgg.): Ornament und Geschichte. Studien %um Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Bonn 1996, S. 19-43, hier S. 34-38). Raulet sieht eine unmittelbare Beziehung zwischen der (von rationalistischer Philosophie und klassizistischer Ästhetik motivierten) Allegoriekritik und der Kritik am überladenen Ornament. Er konstatiert für das 17. Jahrhundert geradezu eine Synonymie der Begriffe Allegorie, Fabel und Ornament, die sich über den Begriff der ,Einkleidung' (ornatus\) herstellt (Raulet: „Ornament und Geschichte", S. 26). Den OrnamentKritikern des 18. Jahrhunderts werde die Einkleidung indes zur „Verkleidung" (Raulet: „Von der Allegorie zur Geschichte", S. 164; siehe für diese These auch Gerard Raulet, Frank-Lothar Kroll: „Ornament". In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u.a. (Hgg.): Ästhetische Grundhegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4. Stuttgart Weimar 2002, S. 656—83, hier S. 668—73). Deutlich präziser und auf einer breiteren Quellenbasis beschreiben die Ornamentkritik des Klassizismus Frank-Lothar Kroll: „Zur Problematik des Ornaments im 18. Jahrhundert". In: Ursula Franke, Heinz Paetzold (Hgg.): Ornament und Geschichte. Studien spm Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Bonn 1996, S. 63-88, Helmut Pfotenhauer: „Klassizismus und Ornament. Die italienische Verzierung in der deutschen Kunstdiskussion des 18. Jahrhunderts". In: Rutger Hausmann (Hg.): Italien in Germanien. Deutsche Italien-Rezeption von 1750—1850. Tübingen 1996, S. 37-63, und Sabine M. Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne. Die Omamentdebatte um 1800 und die Autonomisierung des Ornaments". In: Zeitschriftfiir Kunstgeschichte 63.3, 2000, S. 339-57. Darauf komme ich in den Anmerkungen zu V.2.c zurück.
15
Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung, S. 16.
1. Der Kontur als Grenze
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Das Problem besteht aber darin, den Kontur seinerseits auf den Begriff zu bringen. Denn: Die Linie, welche das Völlige der Natur von dem Ueberflüssigen derselben scheidet, ist sehr klein, und die größten neueren Meister sind über diese nicht allezeit greifliche Grenze auf beyden Seiten zu sehr abgewichen. Derjenige, welcher einen ausgehungerten Contour vermeiden wollen, ist in die Schwulst verfallen; der diese vermeiden wollen, in das Magere. 16
Auch wenn die Problematik des angemessenen Konturs anhand der antiken Plastiken diskutiert wird und sich entsprechend auf die menschliche Gestalt und die Unterscheidung von ,Magerkeit' und .Schwulst' beschränkt - wie später bei Herder und Kant stellen Gewänder ein weiteres Problem dar —, bleibt festzuhalten: Es handelt sich bei demjenigen, was die Einheit des schönen Gegenstandes konstituiert, um eine „nicht allezeit greifliche Grenze". In der Winckelmannschen Beschreibung wird die „nicht allezeit greiflichen Grenze" nicht selbst zum Gegenstand der Erklärung. Vielmehr verlegt sich Winckelmann auf die Rekonstruktion der Rahmenbedingungen, unter denen die griechischen Vorbilder des schönen Konturs entstanden sind, insbesondere in den an Montesquieu erinnernden klimatheoretischen Konstruktionen.17 Die griechische Natur habe es ermöglicht, in einem Prozeß der Auswahl ein allgemeines Schönes' zu konturieren: Die Nachahmung des Schönen der Natur ist entweder auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sie sammlet die Bemerkungen aus verschiedenen einzelnen, und bringet sie in eins. Jenes heißt eine ähnliche Kopie, ein Portrait machen [...]. Dieses aber ist der Weg zum allgemeinen Schönen und zu idealischen Bildern desselben; und derselbe ist es, den die Griechen genommen haben. [...] Die Griechen erlangeten diese Bilder, wären auch dieselben nicht von schönern Körpern genommen gewesen, durch die tägliche Gelegenheit zur Beobachtung des Schönen der Natur, die sich uns hingegen nicht alle Tage zeiget, und selten so, wie sie der Künstler wünschet. 18
Durch die Erläuterung des durch die Natur begünstigten eklektischen Verfahrens der Griechen sowie an anderer Stelle durch die ausführliche Rekonstruktion eines angeblich von Michelangelo entwickelten Verfahrens zur Arbeit nach Modellen wird hier die genaue Beschreibung dessen ersetzt, was den ,edlen Kontur' im einzelnen ausmacht. Spätestens für 16 Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung, S. 16 f. 17 Szondi verweist sehr eindringlich auf die Zwiespältigkeit des Winckelmannschen Ansatzes, der in der Rekonstruktion der Rahmenbedingungen griechischer Kunst eine historische Relativität konstruiert, die der Normativität der griechischen Kunst, die eben diese Konstruktion erweisen soll, im Grunde widerspricht (Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I, S. 22ff.). 18 Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung, S. 13 f.
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V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
Moritz wird demgegenüber fraglich, ob dieser Kontur vermittels Auswahl und Zusammenstellung erzeugt werden kann. Doch ist allein die Tatsache, daß für Winckelmann die Grenze des ästhetischen Gegenstandes ins Zentrum der Problematik rückt, zukunftsweisend.19 b) Das schöne Ganze und seine Teile: Moritz und Baumgarten Winckelmanns Bemerkung, die Grenze des schönen Gegenstandes sei ,nicht allezeit' faßbar, läßt sich auch (aber nicht nur) als Hinweis auf die zeitliche Konstituiertheit menschlichen Erkennens und mithin auf die Endlichkeit der menschlichen Vermögen verstehen, wie sie insbesondere der Erkenntnistheorie in der Nachfolge Wolffs und der in diesem Zusammenhang entwickelten Ästhetik zum Ausgangspunkt dient. Hier soll im folgenden interessieren, inwiefern sich aus dieser Ausgangslage Probleme fur die Bestimmung der Grenze des schönen Gegenstandes ergeben. Dazu ist es notwendig, einige Strukturen insbesondere der Baumgartenschen Ästhetik zu skizzieren. Wieder kann dazu mit einer Definition von Moritz eingesetzt werden, die die Vorgaben der Vollkommenheitsästhetik aufgreift.20 Moritz definiert den schönen Gegenstand als einen solchen, bei dem „ein Teil immer durch den anderen und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend"21 werde. Diese Definition enthält zwei Momente, deren wechselseitige Bedingtheit weitreichende Konsequenzen hat: Das Schöne konstituiert sich a) aus einer inneren Verweisstruktur heraus und b), indem es als Ganges seine Bedeutsamkeit nicht aus seiner Umwelt bezieht, sondern selbst Bedeutsamkeit konstituiert. Seine innere Abgeschlossenheit geht also einher mit der Isolation des schönen Gegenstandes von seiner Umwelt, ja dessen Isolation ist ein Effekt seiner inneren Verweisstruktur: Entscheidend ist für mich als Betrachter des Schönen, daß ich „in den einzelnen Teilen desselben so viel Zweckmäßigkeit'' finde, „daß ich vergesse ψ fragen, wo%u nun eigentlich das Gan^e soll?'22 Das Schöne isoliert sich im Auge des 19
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21 22
Szondi macht insbesondere anhand einer Analyse des „Sendschreibens" deutlich, wie die Winckelmannschen Bemühungen immer auf spezifisch ,moderne', anti-klassizistische Bewegungen bezogen sind, vor deren Hintergrund die ideale Einheit des klassizistischen Schönen verteidigt werde (Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I, S. 34 ff.). Zu Moritz' Verhältnis zur Schulphilosophie des Rationalismus siehe Thomas P. Saine: Die ästhetische Theodi^ee. Karl Philipp Mont^ und die Philosophie des 18. Jahrhunderts. München 1971, S. 1 5 1 - 6 1 . Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 580 f. Die Bestimmung findet sich in Moritz' „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten", der in der Ausgabe von Günther abgedruckt ist unter dem Titel „Über den Begriff des in sich Vollendeten"
1. Der Kontur als Grenze
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Betrachters von seiner Umgebung und gibt sich einen intrinsischen Rahmen, indem es eine derart verdichtete innere Verweisstruktur aufweist, daß etwaige Zweckbeziehungen zur Umgebung irrelevant werden. Zwar ist auch das Schöne grundsätzlich in den Zusammenhang der Dinge eingebunden, aber davon kann (und muß) der Rezipient absehen.23 Moritz bedient sich in diesen Formulierungen zwar einerseits der traditionellen ästhetischen Begrifflichkeiten, wenn er das Schöne in seiner Organisation als ein irgendwie zweckmäßiges Ganzes beschreibt; andererseits aber unterwirft er sie einer Umdeutung. Dies trifft ebenfalls auf seine frühere Bestimmung des Schönen als „in sich Vollendetes" zu: Denn wenn Moritz in seinem an Moses Mendelssohn gerichteten „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten" die bisherigen Versuche zur Bestimmung der Kunst (oder eher: der Künste) kritisiert, so richtet er sich nicht nur gegen die Profilierung des Vergnügens als erstem Zweck der ,schönen Künste und Wissenschaften',24 sondern gegen jeden Versuch, die Vollkommenheit des schönen Gegenstandes vermittels eines außerhalb seiner selbst liegenden (und begrifflich bestimmbaren) Zwecks zu begründen. Die Ausgangsdefinition in Mendelssohns Text „Uber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften" (1757), der wesentliche Argumente Wölfischer und Baumgartenscher Metaphysik und Ästhetik rekapituliert, kann als Einstieg in die Rekonstruktion der rationalistischen Ästhetik dienen, von der sich Moritz abzugrenzen versucht. Mendelssohn geht von der Frage aus, durch welches „allgemeine Mittel [...] man unserer Seele gefallen kann".25 Über seinen Ansatz zur Beantwortung dieser Frage — so zeigen beispielsweise die Einträge in den
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(Karl Philipp Moritz: „Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten. An Herrn Moses Mendelssohn". In: Κ. P. M.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Bd. 2. Frankfurt/M. 1981 [1785], S. 543-48, S. 546). Dies macht die Bindung des schönen Kunstwerks an Gegenständlichkeit im Grunde optional. Zu dieser Eigenschaft des Moritzschen künsderischen Zeichens vgl. Fischer: „Kunstautonomie und Ende der Ikonographie", S. 256 ff. Damit wendet sich Moritz nicht nur gegen Mendelssohn, sondern ebenso gegen dessen Kritik an Batteuxs Abhandlung „Les beaux arts reduits ä un meme principe" (1746), die in der Nachahmung das einheitliche Grundprinzip aller Künste sieht (vgl. auch Moses Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften". In: Μ. M.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best. Darmstadt 1974 [175η, S. 173— 97, hier S. 174 ff.). In diesem Kontext wichtig ist auch die Auseinandersetzung Baumgartens und Meiers mit Batteux. Hierzu siehe Friedrich Vollhardt: „Die Grundregel des Geschmacks - Zur Theorie der Naturnachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier". In: Theodor Verweyen (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Yrühaufklärung. Tübingen 1995, S. 26-36. Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 177.
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einschlägigen zeitgenössischen Lexika26 — herrscht um 1750 weitgehend Einigkeit: „Ein jeder Begriff der Vollkommenheit, der Uebereinstimmung, und des Unfehlerhaften, wird von unserer Seele dem Mangelhaften, dem Unvollkommenen und Mißhelligen vorgezogen."27 Daraus ergibt sich Mendelssohns Definition des Schönen: „Ist nun die Erkenntniß dieser Vollkommenheit sinnlich; so wird sie Schönheit genannt."28 Es folgt: „Das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in einer k ü n s t l i c h e n s i n n l i c h - v o l l k o m m e n e n Vorstellung, oder in einer d u r c h die K u n s t v o r g e s t e l l t e n s i n n l i c h e n V o l l k o m m e n h e i t . " 2 9 Diese Definition bewegt sich im Rahmen des in der rationalistischen Schulphilosophie um 1750 Üblichen: Das Schöne erscheint als ein Ganzes, dessen Teile (dessen interne Mannigfaltigkeit) in ihrer Zusammenstimmung30 erfaßt, aber nicht jeweils für sich wahrgenommen werden — mit Leibniz und Wolff wäre von einer klaren, aber verworrenen Vorstellung zu sprechen. Dabei bedeutet ,Klarheit', daß die Vorstellung bewußt und nicht ,dunkel' ist. Verworren ist sie, insofern sie nicht deutlich ist, d. h. in ihren Bestandteilen nicht unterschieden werden kann.31
26
So beispielsweise der Beitrag im Zedier: „Man kan die Schönheit auf zweyfache Art betrachten: einmahl, wie sie von der Empfindung und Vorstellung eines Menschen dependiret, wenn er an einer Sache etwas anzutreffen vermeinet, das schön ist und vergnüget. [...] Vors andere hat man die Schönheit anzusehen, wie sie sich würcküch an einer Sachen befindet und darinnen die Vorstellungen und Neigungen der Menschen übereinstimmen, daß also ein gewisser Grund vorhanden seyn muß, daher solche Übereinstimmung rühret. Es muß sich etwas an der Sache befinden, welches macht, daß alle, die sie betrachten, ein Vergnügen und Wohlgefallen daran haben. Unserer Seelen gefällt nichts mehr als Veränderung. Sie wird verdrüßlich, wenn sie immer einerley vor sich hat. Die vielfältigen Veränderungen aber an sich würden uns Verwirrung machen, und daher muß eine Gleichförmigkeit da seyn, woraus die Ordnung und Proportion entspringet; diese Stücke machen das Schöne aus. Es wird eine Abwechslung, Ordnung und Proportion erfordert. Die Abwechslung begreiffet die verschiedene und von einander abweichende Theile, welche die Ordnung zusammen hänget, so, daß sich eines zu dem andern schicket, und überall die gehörige Harmonie zu sehen. Auf solche Weise muß man sagen, daß die Schönheit keine Chimäre, kein Ding sey, das nur in der Einbildung bestehet, sondern daß sie etwas wahrhafftiges sey, eine aus vielfältigen Stücken zusammen hangende Ordnung und Harmonie." (Anonymus: „Schönheit". In: Grosses vollständiges UNIVERSAL-LEXIKON Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 35. Halle - Leipzig 1743, S. 320-21.)
27 28 29 30
Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 176. Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 176. Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 177. Vollkommenheit definiert sich etwa bei Wolff als die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen (Wolff: Vernünfftige Gedaticken, S. 65). Siehe G. Gabriel: „Klar und deutlich". In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Darmstadt 1976, S. 846-48. - Zur Wölfischen Vollkommenheitsästhetik siehe Birke: Christian Wolffs Metaphysik, S. 3 - 1 1 , S. 16-19, Krueger: Christian Wolff und die Ästhetik, S. 4 5 - 6 4 .
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Um die Konsequenzen darzustellen, die sich bei Baumgarten (und dann auch bei Mendelssohn) aus den Umwertungen ergeben, die die neubegründete Disziplin der Ästhetik vornimmt, ist zunächst der erkenntnistheoretische Anspruch dieser Theorie zu bestimmen. Auch wenn diese Rekonstruktion ein wenig von der Frage nach der Einheit des ästhetischen Gegenstandes wegführt, ist sie notwendig, will man erkennen, an welcher Systemstelle die Moritzsche Argumentation einsetzt. Baumgartens „Aesthetica" (1750/58) ist einerseits bezogen auf die Grundlagen der Leibnizschen und Wölfischen Erkenntnislehre,32 andererseits auf die Rhetorik und Poetik des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts. Das Interesse, das Baumgarten gegenüber der rationalistischen Erkenntnislehre vertritt, liegt darin, eine Theorie zu entwickeln, mittels derer man nicht nur klaren und deutlichen Vorstellungen, sondern auch klaren, aber verworrenen Vorstellungen einen eigenen Erkenntniswert und -bereich zusprechen kann.33 Dieses Interesse formuliert er vor dem Hintergrund der Leibnizschen Monadologie:34 Die Monaden als in vorstellender Tätigkeit begriffene Einheiten35 gelten je für sich als Widerspieglungen des Universums,36 das sich in der Synchronisation, der prästabilisierten Harmonie
32
Zu Baumgartens Ästhetik siehe vor allem die Arbeiten von Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Pralle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972, Hans Rudolf Schweizer: Ästhetik als Philosophie des Sinnlichen. Eine Interpretation der ^Aesthetica' A. G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergahe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung. Basel - Stuttgart 1973, Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, und Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990. Einen Überblick über jüngere Arbeiten aus dem Bereich der philosophischen Ästhetik, die sich auf Baumgarten zurückbeziehen, gibt Eberhard Ortland: „Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis. Ansätze zur Wiedergewinnung von Baumgartens uneingelöstem Projekt". In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49.2, 2001, S. 257-74, und Anselm Haverkamp: „Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaft in Frankfurt an der Oder". In: DVjs 76.1, 2002, S. 3 - 2 6 . Von Interesse sind auch weitere Beiträge aus dem Heft der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie", das Ortlands Beitrag einleitet, insbesondere Howard Caygill: „Über Erfindung und Neuerfindung der Ästhetik". In: Deutsche Zeitschriftfür Philosophie 49.2, 2001, S. 233-41, und Rüdiger Campe: „Bella Evidentia. Begriff und Figur in Baumgartens Ästhetik". In: Deutsche Zeitschriftfür Philosophie 49.2, 2001, S. 243-55.
33
Grundsätzlich hierzu Schweizer: Ästhetik als Philosophie des Sinnlichen, S. 18 ff. Im Interesse Baumgartens liege es, die „ungebrochene Erscheinungshaftigkeit der Dinge [...] zur Geltung" (S. 18) zu bringen: „In dieser .Materie der Erscheinung' entdeckt Baumgarten sein metaphysisches Wahrheitsprinzip, auf das alle ästhetische und logische Erkenntnis ausgerichtet ist. Die extensive und intensive Fülle der Erscheinung ist es, die von ihm, statt wie bei Kant als vorgegebenes ,Mannigfaltiges' stets nur vorausgesetzt zu werden, vielmehr als dynamisches Prinzip der Erkenntnis und der Gestaltung zugleich erkannt wird." (S. 24 f.) Siehe hierzu Solms: Disdplina aesthetica, S. 46—50. Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Französisch/Deutsch. Übers, u. hg. v. Hartmut Hecht. Stuttgart 1998 [1714], S. 18/19 (§ 17). Siehe Leibniz: Monadologie, S.46/47 (§ 62).
34 35 36
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aller Monaden, konstituiert.37 Prinzipiell ist daher der Vorstellungskraft der Monaden die Welt zugänglich, allerdings sind ihre Vorstellungen in unterschiedlicher Weise vollkommen. Als verläßlich können angesichts der mit Descartes als ,verworren' gedachten Sinnlichkeit für Wolff und einige seiner Nachfolger ausschließlich die klaren und deutlichen Vorstellungen gelten (also bewußte Vorstellungen eines Ganzen, insofern auch dessen Teile unterschieden werden können). Dabei lassen sich mit den Grundsätzen der Logik Verfahrensregeln angeben, deren Einhaltung diese Verläßlichkeit der Erkenntnis garantiert: Beispielsweise läßt sich, wenn ein Verstoß gegen den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch nachzuweisen ist, der entsprechenden Vorstellung ihre Verläßlichkeit absprechen.38 Damit aber - und das ist hier entscheidend - ist es das Verfahren, vermittels dessen man allein die Verläßlichkeit einer Erkenntnis überprüfen kann. Daß sich die Regeln, nach denen dieses Verfahren vorzugehen hat, angeben lassen, ermöglicht erst die Vollkommenheit der Erkenntnis und eröffnet einen zuverlässigen Zugang zur Welt. Eine ähnliche Argumentationsfigur wendet Baumgarten nun auf die klare und verworrene Erkenntnis an.39 Damit nutzt er im Grunde einen Freiraum, den Leibniz in seiner Monadologie gegenüber Descartes geschaffen hatte: Denn wenn Leibniz die Monaden als Widerspiegelungen des Universums begreift, so impliziert dies - das ist zumindest eine Denkmöglichkeit - , daß Verworrenheit und Deutlichkeit lediglich die Pole eines Kontinuums darstellen, daß zwischen Verworrenheit und Deutlichkeit also unendlich viele weitere graduelle Abstufungen zu denken sind.40 Hatte schon Wolff die Schönheit als Vollkommenheit, soweit sie sinnlich erkannt werden kann, definiert, damit aber eine gewisse Unsicherheit dieser Erkenntnisart impliziert und sie nur dann für verläßlich erklärt, wenn sie sich in eine vernunftgemäße Erkenntnis transformieren läßt, richtet 37 38 39
Siehe Leibniz: Monadologie, S. 54f./55f. (§ 78). Hierzu siehe III.4. Baumgarten geht in Anlehnung an Leibniz davon aus, die Seele sei „eine das Universum repräsentierende Kraft": sie „vergegenwärtigt jeweils Teilaspekte des einen Universums, die bestimmt sind durch die Lage, die der Körper einnimmt." (Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 56.) Dabei ist insbesondere garantiert, daß „die in ihr gegebene Vorstellungsfolge eine von sich aus geordnete ist, insoweit sie der inneren Gesetzmäßigkeit des Ablaufs der Weltzustände korrespondiert." (S. 58 f.) Nun ist aber die Vollkommenheit, und das heißt: Schönheit der Welt durch die Theodizee garantiert. Diese stellt sicher, „daß Gott alles gemäß der größtmöglichen Harmonie und Schönheit geschaffen hat. Diese Schönheit des Universums drückt jede Seele aus. [...] Wenn aber der Geschmack über Vollkommenheit und Unvollkommenheit entscheiden soll, dann übernimmt er damit eine dem Verstandesurteil [...] analoge Funktion." (S. 60.)
40
Siehe Wolfram Hogrebe: „Erkenntnistheorie ohne Erkenntnis". In: W. H.: Metaphysik und Semantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Systeme orphique de lena). Frankfurt/M. 1992, S. 6 2 85, S. 67 ff.
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sich die von Baumgarten begründete Disziplin auf die „Vollkommenheit [...] der sinnlichen Erkenntnis [perfectio cognitionis sensitivae] als solche. Damit ist aber die Schönheit gemeint."41 So wie sich die Verläßlichkeit logischer Erkenntnis aus ihrer Klarheit und Deutlichkeit ergibt, möchte Baumgarten die Regeln für die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis bestimmen, deren Verläßlichkeit in ihrem eigenen Bereich sich damit ebenfalls erweisen ließe. Auf der Grundlage dieser Gedankenfigur kann Baumgarten die Existenz eines analogon rationis und damit einen von der Vernunft unabhängigen Erkenntnisbereich postulieren.42 Wenn man sagen kann, nach welchen Regeln das analogon rationis etwas für schön erkennt, hat man dieser Konstruktion zufolge schon formuliert, wann eine sinnliche Erkenntnis auf ihre Weise verläßlich ist.43 Sobald es nun darum geht, die Mechanismen genauer zu beschreiben, die schöne Erkenntnis strukturieren, kommt der zweite feste Bezugspunkt der Baumgartenschen Ästhetik ins Spiel, die rhetorisch-poetische Tradition (von der Baumgarten sein Projekt gleichwohl absetzt, auf seine allgemeinere Ausrichtung verweisend). Das zeigt beispielsweise die gleich im Anschluß an die Definition der schönen Erkenntnis vorgenommene Einteilung der vollkommenen sinnlichen Erkenntnis in drei Komponenten, die den Stufen der Verfertigung einer Rede entsprechen.44 Dieses dreistu41
42 43
44
Ich zitiere nach: Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die Grundlegenden Abschnitte aus der „Aeslhetica" (1750/58). Übers, u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1988, S. 11. Den lateinischen Text gebe ich in den Fußnoten wieder. Hier: )r Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis, [...] haec autem est pulchritudo." (Baumgarten: Aesthetica, S. 10.) Die im Erscheinen begriffene neue vollständige Ausgabe und Übersetzung der „Aesthetica" von Dagmar Mirbach ist mir zur Zeit der Drucklegung noch nicht zugänglich; sie ist angekündigt für September 2007 (Meiner Verlag Hamburg). Zum Begriff des analogon rationis siehe Solms: Disäplina aesthetica, S. 42-49. In diesem Sinn kann auch die (schöne) „Übereinstimmung der Gedanken" schon „die Erscheinung" genannt werden („consensus cogitationum (...] inter se ad unum, qui phenomenon sit"; Baumgarten: Aesthetica, S. 12). Anders Schweizer: Ästhetik als Philosophie des Sinnlichen, S. 38 f. Man könnte auch mit Solms argumentieren, der zu dem Schluß kommt, jenes ,phaenomenon', auf das sich die sinnliche Erkenntnis richte, kenne „den Gegensatz von Subjekt und Objekt noch nicht' (Solms: Disciplina aesthetica, S. 57; zu dieser Frage ausfuhrlicher S. 52-57). Zu berücksichtigen sind „die Schönheit der Sachen und Gedanken" („PULCHRITUDO RERUM ET COGITATIONUM"), „die Übereinstimmung der Ordnung, in der wir die schön gedachten Sachen überdenken" („consensus ordinis [...], quo res pulchre cogitatas meditemur") und „die Übereinstimmung der Zeichen (Ausdrucksmittel) unter sich und mit der Ordnung und den Sachen" („consensus signorum internus et cum ordine et cum rebus"), und zwar, und das gilt für alle drei Arten der Übereinstimmung, „soweit sie in Erscheinung tritt" („phenomenon"; Baumgarten: Aesthetica, S. 12). - Auch weitere Einteilungen dieser Art spielen eine zentrale Rolle für die Entfaltung der .neuen' philosophischen Disziplin. Eine Übersicht gibt Marie-Luise Linn: „A. G. Baumgartens ^Aesthetica' und die antike Rhetorik". In: Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorik. Zweiter Band: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt 1991 [1967], S. 81-106; die dahinter steckenden konzeptionellen
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fige Verfertigungsverfahren gibt dann auch die Struktur der Argumentation ab, die nacheinander inventio, dispositio und elocutio behandelt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Baumgarten auf allen Ebenen auf rhetorische Grundbegriffe zurückgreift, gibt dabei einen Hinweis auf den systematischen Stellenwert, den die Rhetorik innerhalb seiner Argumentation hat: Baumgarten benutzt die rhetorisch-poetische Beschreibung angemessener (bzw. vollkommener) Darstellung und ihrer Verfahren als eine Beschreibung des Verfahrens vollkommener sinnlicher Erkenntnis.45 Die vollkommene sinnliche Erkenntnis muß dann dieselben Merkmale aufweisen wie eine gelungene Rede, beispielsweise Reichtum, Größe, Klarheit, Gewißheit, Lebendigkeit. In diesem Sinn läßt sich in der Tat festhalten: „Die poetisch-rhetorische Überlieferung ist für ihn [Baumgarten] stellvertretend für die sprachliche Wirklichkeit überhaupt."46 Ganz problemlos aber funktioniert die Etablierung eines zweiten Verfahrens zur Erzeugung verläßlicher Erkenntnis nicht. Baumgarten handelt sich vielmehr ein Folgeproblem ein, das die rationalistischen Grundlagen seines Unternehmens gefährdet, auch wenn er selbst sie nicht in Zweifel zieht. Um dies zu sehen, gilt es, das Verhältnis von sinnlicher und vernunftgemäßer Erkenntnis bei Baumgarten genauer zu bestimmen. Schon auf der Grundlage der Wölfischen Philosophie können Geschmacksurteile als zutreffend ausgewiesen werden. Dazu ist zu zeigen, daß sich die vollkommene sinnliche Erkenntnis in eine vollkommene Erkenntnis im Parallelen betont Wolfgang Bender: „Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99.4, 1980, S. 481—506. Für eine Darstellung der rhetorikkritischen Elemente der Baumgartenschen Ästhetik siehe Heinz Paetzold: „Rhetorik-Kritik und Theorie des Künste in der philosophischen Ästhetik von Baumgarten bis Kant". In: Gerard Raulet, Burghart Schmidt (Hgg.): Kritische Theorie des Ornaments. Wien - Köln - Weimar 1993, S. 2 9 - 4 4 , S. 30-32. Vgl. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen Begründung von Erfahrung und Orteil in der deutschen Aufklärung (Leibni% W o l f f , Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten), S. 210-12, S. 218-25. 45
46
In diesem Sinn aktualisiert sich „die ,sinnliche' Erkenntnis' [...] im intuitiven Erkennen und Gestalten zugleich." (Schweizer: Ästhetik als Philosophie des Sinnlichen, S. 27; Hervorhebung von mir.) Aus diesem Argumentationsschritt erklärt sich auch, daß die Künste einen zentralen Stellenwert in der Baumgartenschen Argumentation einnehmen: Sie gelten als „eigentliche [r] Ort des ästhetisch Schönen", als der Ort, wo sich das „Schöne als Resultat der künstlerischen Erkenntnis" zeigt (Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 77), und werden deswegen zum favorisierten Objekt der Schulung der sinnlichen Erkenntnis. Hans Rudolf Schweizer: „Einführung: Begründung der Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis". In: Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die Grundlegenden Abschnitte aus der ,A^esthetica" (1750/58). Ubers, u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983/1988, S. VII-XVI, S. XII. - Eine Pointe dieses Verfahrens kann man darin sehen, daß Baumgarten auf diese Weise eine rhetorische Verfaßtheit ästhetischer ,Erfahrung' und Kommunikation voraussetzt, die Theorien des 20. Jahrhunderts erst wieder zu erweisen versuchen (hierzu Haverkamp: „Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag").
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Sinne der Vernunft überführen läßt. So kann erwiesen werden, daß wirklich Vollkommenheit gegeben ist, wo die sinnliche Erkenntnis sie erahnt. Ist umgekehrt ein solcher Erweis nicht möglich, kann der sinnlichen Erkenntnis auch keine Verläßlichkeit zugesprochen werden. 47 Diese Konsequenz möchte Baumgarten nicht ziehen und statt dessen die Regeln für eine sinnlich vollkommene Erkenntnis mit anderen Mitteln einsichtig machen. Dabei geht er weiterhin davon aus, daß der sinnlich erkannten Vollkommenheit eine Vollkommenheit entspricht, die auch mittels klarer und deutlicher Erkenntnis bestimmt werden könnte. Dieses rationalistische Postulat, auf dessen Fortbestehen auch Kant sein Urteil über Baumgarten stützt, 48 wird aber zugleich (wenn auch nur implizit) in seinem Ansatz subvertiert, wenn mittels der rhetorisch-poetischen Verfahren ein alternativer Weg zur Absicherung der Verläßlichkeit sinnlich vollkommenen Erkennens gewiesen wird. Denn die Legitimation der sinnlichen Erkenntnis relativiert zugleich den Anspruch der vernünftigen Erkenntnis. Deutlich macht dies ein prominentes Beispiel aus der Aesthetica, das den Unterschied zwischen formaler (durch klare und deutliche Vorstellungen zu erschließender) und materialer (sinnlich zu erschließender) Vollkommenheit vor Augen führen soll: D e n n was bedeutet Abstraktion anderes als einen Verlust? Man kann, um einen Vergleich heranzuziehen, aus einem Marmorblock von unregelmäßiger Gestalt nur dann eine Marmorkugel herausarbeiten, w e n n man einen Verlust an materieller Substanz in Kauf nimmt, der zum mindesten d e m höheren Wert der regelmäßigen runden Gestalt entspricht. 49
Der Vergleich der unterschiedlichen Erkenntnisarten mit den unterschiedlichen Arten der Gestaltung des Marmorblocks soll nicht nur die eigenständige Berechtigung sinnlicher Erkenntnis vor Augen fuhren. Ebenso läßt sich aus ihm folgern, was innerhalb des Abschnittes, in dem er angeführt wird und der vom „unbedingten Streben nach der Wahrheit" 50 handelt, durchgängig Thema ist: Die Zusammengesetr^tbeit der Urteile über das Vollkommene (bzw., was dasselbe bedeutet, die Zusammengesetztheit der Vollkommenheiten selbst), hier die Zusammengesetztheit der Urteile nach formellen und materiellen Gesichtspunkten, die eine Unter-
47 48 49
50
Siehe hierzu Krueger: Christian Wolff und die Ästhetik, S. 58-64. Manfred Frank: Einfiihrung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M. 1989, S. 40. „Quid enim est abstractio, si iactura non est? Pari ratione ex marmore irregularis figurae non efficias globum marmoreum nisi cum tanto saltim materiae detrimento, quantum postulabit maius rotunditatis pretium." (Baumgarten: Aesthetica, S. 144.) Baumgarten: Aesthetica, S. 137.
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schiedenheit der Wahrheit nach verschiedenen Aspekten bedeutet.51 Im Verfahren vollkommener Erkenntnis nämlich erweisen sich die Anteile der Vernunft und des analogen rationis als untrennbar miteinander verbunden: Einerseits besteht auch die in der Abstraktion entstehende Kugel aus Marmor - die Erkenntnis formaler Vollkommenheit ist also auf Momente des materialen Erkennens angewiesen. Andererseits besteht auch auf Seiten der sinnlichen Erkenntnis ein gewisses Abstraktionsbedürfnis. Auch dann, wenn man sich um materiale Vollkommenheit bemüht, geht es über menschliches Vermögen hinaus, den weiten Umkreis der Bestimmungen aller Art mit Zeichen vollständig auszudrücken. Man gibt sich nicht absichtlich Mühe, dasjenige von vornherein abzutrennen, was über die Bedeutung unsrer Erkenntnis hinausgeht, und doch ist der menschliche Geist nicht fähig, in jedem Fall das Gewicht der im Einzelnen bestimmten und beinahe oder ganz wirklichen Dinge zu erfassen und mit Hilfe von angemessenen Beweggründen zu verstehen. 52
Auch die sinnlich vollkommene Erkenntnis kann sich nicht unmittelbar auf das Weltganze beziehen, muß also ,Materialverluste' hinnehmen — letztlich eine Konsequenz der Beschränktheit der endlichen, der Zeit unterworfenen menschlichen Erkenntnisfähigkeiten. Wolff möchte angesichts dieser Beschränktheit die Zugänglichkeit der Welt und ihrer vernunftgemäßen Ordnung durch die klare und deutliche Erkenntnis garantieren: Als Einheiten unterscheidbare Gegenstände können in ihren Teilen und damit klar und deutlich erkannt und beschrieben werden, gerade indem man von jenem unermeßlichen „Umkreis der Bestimmungen" absieht. Die menschliche Beschränktheit erlaubt dann in dieser Hinsicht zuverlässige Erkenntnis. Behauptet Baumgarten demgegenüber die Verläßlichkeit auch der klaren und verworrenen sinnlichen Erkenntnis, so impliziert dies eine doppelte Grundlegung der menschlichen Erkenntnisvermögen, weshalb Baumgarten von ,ästhetikologischer' Erkenntnis sprechen kann.53 51
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Siehe Ortlands Einschätzung der Folgen der Baumgartenschen Konzeption: „Die Anerkennung der eigenen Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis erweist darüber hinaus das Verhältnis von mundus sensibilis und mundus inlelligibilis in einem Maß als fragwürdig, das eine neue Begründung der Verstandesbegriffe und eine neue Bestimmung ihrer Rolle im Vollzug der empirischen Erkenntnis - somit letztlich eine Kritik der reinen Vernunft - nötig machen wird." (Ortland: „Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis", S. 258.) „neque [...] est opis humanae determinationis omnimodae latissimum ambitium sibi complete signare; data opera non praescinduntur magnitudinem intellectionis nostrae superantia, neque tarnen omnia determinatarum rerum et paene vel omnino actualium pondera assequi et iustis momentis exaequare mens humana potest." (Baumgarten: Aesthetica, S. 144.) Zur Differenz zwischen logischer und ästhetischer Wahrheit bei Baumgarten siehe sehr luzide Dagmar Mirbach: „Das Denken der Einheit in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens". In: Jean-Marc Narbonne, Alfons Reckermann (Hgg.): Pensees de t\Jn dans thistoire de la philosophic. Etudes en hommage au professeur Werner Beiern/altes. Sainte-Foy (Kanada)
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Um das Wechselspiel zwischen logischer und ästhetischer Erkenntnis genauer zu beschreiben, lohnt es sich zu fragen, auf welche gegenständliche' Vollkommenheit die vollkommene sinnliche Erkenntnis eigentlich abzielt. Die Berechtigung einer solchen Frage mag mit dem Hinweis darauf abgewiesen werden, daß es Baumgarten ja gar nicht um die Beschreibung ästhetischer Gegenstände gehe, sondern um die Beschreibung des schönen Denkens. Doch impliziert die Tatsache, daß Baumgarten neben der klaren und deutlichen auch die klare und verworrene Erkenntnis rechtfertigen möchte, daß auch die sinnlichen Erkenntnisvermögen irgendeine Art der zuverlässigen Erkenntnis über die Welt zu vermitteln in der Lage sind. Worin diese Erkenntnis bestehen soll, wird klar, wenn man beachtet, daß Baumgartens Bemühungen um eine Wissenschaft von der vollkommenen sinnlichen Erkenntnis die Defizite der rationalen Erkenntnis auszugleichen hofft. Die sinnlich vollkommene Erkenntnis versucht der oben zitierten Bemerkung zufolge, von jenem „weiten Umkreis der Bestimmungen" jedweder Gegebenheit dieser Welt gerade nicht abzusehen, wie es die logische Erkenntnis dem Verfahren gemäß tun muß. Damit aber richtet sie sich gewissermaßen (und sofern das möglich ist) auf die Einheit und die Vollkommenheit der Welt als ganze54 — was Baum2004, S. 376-402, S. 389-97. Mirbach zeigt, daß diesen beiden Wahrheiten unterschiedliche Verfahren der Einheitsbestimmung zugrundeliegen: „In dieser Konstellation verweist die logisch bestimmte Einheit auf die ontologisch unbestimmte Einheit ihres Gegenstandes, die ästhetisch unbestimmte Einheit hingegen auf die ontologisch bestimmte Einheit ihres Gegenstandes zurück." (S. 392.) Von diesem „chiastischen Beziehungsgefüge" (S. 391) ist auszugehen, wenn Baumgarten mit der ,ästhetikologischen' Wahrheit eine Engführung der logischen und der ästhetischen Erkenntnis entwirft: In der „ästhetikologischen Wahrheit" werde „sowohl die Unbestimmtheit der logischen Wahrheit [...] als auch die Unbestimmtheit der ästhetischen Wahrheit [...] in Bestimmtheit überführt." (S. 397.) Caygill geht davon aus, Baumgarten schlage „zunächst eine Analogie und später eine Kontinuität zwischen Sinnlichkeit und Vernunft vor" (Caygill: „Über Erfindung und Neuerfindung der Ästhetik", S. 237). Zu dieser Konsequenz der Baumgartenschen Anverwandlung des Wölfischen Rationalismus siehe auch Schweizer: Ästhetik als Philosophie des Sinnlichen, S. 34 ff. Zum Verhältnis von logischer und ästhetischer Wahrheit vgl. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 184-89, S. 195-99, Solms: Oisciplina aesthetica, S. 29-42, S. 6 7 77. Solms zeichnet im einzelnen nach, wie Baumgarten Logik und Ästhetik der Struktur nach parallel entwickelt und wechselseitig aneinander anpaßt; wichtig ist hier insbesondere die Interpretation der Baumgartenschen „Metaphysica" (S. 33 ff.). 54
„Soll die Sinnlichkeit das Fundament für die Ästhetik als neue philosophische Disziplin mit eigenem Wahrheitsbereich abgeben, dann muß sie als ein dem Verstand gegenüber eigenständiges Organon der Erkenntnis ausgewiesen werden. Diese Forderung erfüllt Baumgarten mit dem Nachweis, daß sie dazu befähigt ist, in einer ihr eigentümlichen Weise den Zusammenhang der Dinge zu vergegenwärtigen. [...] Der Tradition der abendländischen Metaphysik und Erkenntnislehre folgend, besteht für den Begründer der Ästhetik kein Zweifel daran, daß der Mensch als solcher darauf angelegt ist, Einsicht in die immer schon vorgegebene Ordnung der Dinge zu gewinnen. Geht die Verstandeserkenntnis [...] mit den Mitteln des begrifflichen Denkens auf das Allgemeine, sucht sie durch Distinktion die Ordnung der Dinge zu ergründen, so hält die empfindende Vergegenwärtigung [...] das
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garten in den zentralen Abschnitten über die ästhetische Wahrheit' auch deutlich macht: Die sinnlich vollkommene Darstellung muß sich, so Baumgarten, auf eine Welt beziehen lassen, entweder unmittelbar auf die wirkliche Welt oder - im Falle heterokosmischer Schönheiten - auf eine Welt, die zumindest mit der wirklichen Welt im Einklang steht.55 Gleichwohl - das zeigt das obige Beispiel sehr deutlich - bleibt die sinnlich vollkommene Erkenntnis auf Abstraktion angewiesen - der ,weite Umkreis der Bestimmungen' der Gegebenheiten, auf die sie sich richtet, gerät auch ihr nicht unmittelbar in den Blick. Auch hier muß — um im Bild zu bleiben - der Marmorblock begrenzt sein, damit es überhaupt zur Erkenntnis kommen kann. Wie das funktioniert, wird klar, wenn man sich das Wechselspiel von logischer und ästhetischer Erkenntnis an einem Gegenstand vor Augen führt, der die sinnliche Erkenntnis gleichsam materialisiert: Am literarischen Text, der das schöne Denken in fixierter Form darbieten kann und damit zum wichtigsten Bezugspunkt nicht nur der Baumgartenschen Theorie wird - entsprechend hat Baumgartens akademische Laufbahn auch in den „Meditationes philosophicae de nonnullis poema pertinentibus" (1735) ihren Ausgang genommen, und entsprechend fungieren Rhetorik und Poetik als erste Bezugspunkte in der Bestimmung der Verfahrensregeln der sinnlich vollkommenen Erkenntnis 56 —, sondern auch zum privilegierten Übungsobjekt der von ihm angestrebten ästhetischen Erziehung. Der literarische Text kommt also für Baumgarten nicht als ästhetischer Gegenstand ins Spiel, sondern als Schauplatz sinnlichen Denkens. Als solcher aber verkörpert er das Wechselspiel von Abstraktion und sinnlicher Verwirrung: Einerseits benutzt er Begriffe, andererseits aber soll er intern eine Bedeutungsfülle (ubertas) erzeugen, die der materiellen Seite der Erkenntnis entspricht. Im einzelnen ist die Er-
Besondere in der Komplexität seiner vielfältigen Verknüpfungen fest. Sie verweilt bei den Erscheinungen." (Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 37 f.) Franke betont ausdrücklich, daß die Ästhetik nicht nur „die [...] Untersuchung der Disposition einer künsderischen Erkenntnis leistet, sondern überdies die Regeln angibt, denen sie genügen muß, um Erkenntnis im Sinne einer ästhetischen Repräsentation der Vollkommenheit des ordo rerum, von Schönem, zu sein." (S. 75, Hervorhebung von mir.) Siehe auch die Formulierungen von Solms: Das analogon raüonis stelle „stets den Zusammenhang der Dinge als solchen dar", die „empfindende Vergegenwärtigung", die es leiste, mache „jeweils die Gesamtheit des Universums als Zusammenhang seiner Teilaspekte präsent" (Solms: Disäplina aesthetica, S. 48). 55 56
Hierzu siehe Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 95 ff. Vgl. auch meine Ausführungen in III.4. Zum Verhältnis zwischen der Dissertation und der „Aesthetica" siehe Werner Strube: „Baumgartens Ästhetik als Transformation seiner Theorie des Gedichts". In: Ernst Rohmer, Werner Wilhelm Schnabel, Gunther Witting (Hgg.): Texte, Bilder, Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge Uteratur, Kunst und Ästhetik der Neuheit. Heidelberg 2000, S. 21-42, Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 212—25.
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füllung dieser doppelten Aufgabe dann eine Frage des Maßhaltens, des
apt um.57
Dennoch bleibt die Frage nach der Begrenzung dessen, was die sinnlich vollkommene Erkenntnis gegenständlich umfassen mag, von geringem Interesse - jedenfalls, wenn man Baumgartens Überlegungen mit denjenigen vergleicht, die Moritz anstellt. Das liegt daran, daß Baumgartens rationalistische Grundannahmen die Korrespondenz zwischen sinnlich erkannter Vollkommenheit und metaphysisch gegründeter Vollkommenheit der Welt sicherstellen. Das sinnlich vollkommene Denken, das sich im literarischen Text manifestiert, richtet sich in seinen Vorstellungen auf Gegebenheiten, die an der metaphysisch begründeten Vollkommenheit der Welt teilhaben. Sie haben ohnehin ihren Platz in dieser Welt, und es kommt weniger darauf an, sie aus dieser Ordnung herauszulösen, als vielmehr darauf, sie innerhalb dieser Ordnung auf sinnlich vollkommene Weise zur Geltung zu bringen. Ihre notwendige Begrenztheit wird zwar als Folge der menschlichen Endlichkeit namhaft gemacht, aber sie ist weniger das, worauf es ankommt, sondern vielmehr ein Umstand, mit dem man leben muß. 58 Es ist daher nicht, wie bei Winckelmann, ihr
57
Ganz ähnlich ist auch die von Baumgartens Schüler Meier im Zuge seiner Vorschläge zur .ästhetischen Erziehung' vorgebrachte Theorie der Aufmerksamkeit zu verstehen: Auch hier geht es gerade darum, das rechte Maß für die sinnliche Erkenntnis zu finden, eine Grenze zu ziehen, um einzelne Dinge hervorheben und zum Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis machen zu können (siehe Barbara Thums: „Aufmerksamkeit: Zur Ästherisierung eines anthropologischen Paradigmas im 18. Jahrhundert". In: Jörn Steigerwald, Daniela Watzke (Hgg.): Rei^ - Imagination - Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Würzburg 2003, S. 55-74). Das Programm der Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis, für die der einzelne der ,ästhetischen Übung' und vor allem der Selbstkontrolle bedarf, greift genau hier auf die rhetorische Tradition sowie andere alte und neue Theorien vom (nunmehr ganzen) Menschen zurück, die allesamt gemeinsam haben, daß sie sich am Konzept der Mäßigung als zentralem Begriff orientieren (siehe auch Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, ζ. B. für Meier S. 285 ff.). Gleichwohl lassen sich schon bei Baumgarten Anzeichen dafür finden, daß die Rhetorik in ihrer alten Form der Verantwortung, die ihr damit zugemutet wird, nicht gerecht werden kann. Darauf deutet beispielsweise hin, daß Baumgarten (genau wie Gottsched) die Topik ablehnt (siehe Linn: „A. G. Baumgartens ,Aesthetica"', S. 83).
58
Das zeigt sich beispielsweise auch bei Mendelssohn. Dieser thematisiert die Begrenztheit des ästhetischen Gegenstandes, aber sie ist auch hier lediglich eine Folge der menschlichen Beschränktheit (wobei das Argument interessanterweise an Breitinger, aber auch an Winckelmann erinnert): „Der menschliche Künsder hingegen wählt sich einen Umfang, der seinen Kräften angemessen ist. [...] Sein ganzer Endzweck ist, die Schönheiten, die in die menschlichen Sinne fallen, in einem eingeschränkten Bereich vorzustellen. Er wird also den idealischen Schönheiten näher kommen, als die Natur in diesem oder jenem Theile gekommen ist, weil ihn keine höheren Absichten zu Abweichungen veranlassen. Was sie in verschiedenen Gegenständen verstreuet hat, versammelt er in einem einzigen Gesichtspunkte, bildet sich ein Ganzes daraus, und bemühet sich, es so vorzustellen, wie es die
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Kontur als solcher.; der ihre Bedeutsamkeit ausmacht. Vielmehr kann sich Baumgartens Untersuchung darauf konzentrieren, durch Verfahren der Rhetorik sicherzustellen, daß die sinnlichen Qualitäten einer Rede zur Geltung kommen: Die abstrakte, durch den Gebrauch von Begriffen immer schon gegebene Seite der Rede muß mit ihrer sinnlichen Seite ins Gleichgewicht gebracht werden. Die Baumgartensche Transformation der Wolffschen Erkenntnistheorie läßt so die Frage nach der Bestimmung jener ,sehr kleinen' Linie, die laut Winckelmann den schönen Gegenstand bestimmt, allenfalls am Horizont erscheinen. Aber seine Theorie läßt es immerhin denkbar werden, daß sich die %wei Spielarten der Wahrheitsfindung, die begriffliche und die sinnliche, als aufeinander irreduzibel erweisen könnten. Insofern macht Baumgarten einen wichtigen Schritt hin zur Verabschiedung jenes metaphysischen Rahmens, von dem er selbst noch ausgeht. Zu einem Problem wird die Bestimmbarkeit der Begrenzung ästhetischer Vorstellungen oder Gegenstände allerdings erst, wenn der Status der Grenzen, die in der Welt zu beobachten sind, sich grundsätzlich verändert, wenn also nicht mehr vorausgesetzt wird, daß die Welt ein universales, qua Kausalität begründetes Kontinuum darstellt, wenn also jene Transformation des Verhältnisses von Grenze, Kausalität und Kontingenz zu wirken beginnt, die unter anderem Gegenstand der Kapitel III und IV dieser Arbeit gewesen ist. Erst auf der Grundlage dieser Transformation können /««^/weltliche Grenzen in ihrer Kontingenz als konstitutiv für logische wie ästhetische Erkenntnis angesehen werden.59 Dies ist ein Schritt, den spätestens Moritz vollzieht: Für ihn ist nicht ohne weiteres klar, wie der ästhetische Gegenstand als ein Ganzes auf den Zusammenhang der Dinge, in den er eingebettet ist, verweisen und wie sich darin seine Vollkommenheit konstituieren kann. Damit ist also die metaphysisch eindeutige Weltbeschreibung aus der Vernunft heraus nicht mehr herzuleiten. Wenn der schöne Gegenstand als „durch sich selber, redend und bedeutend" und ,in sich vollendet' beschrieben wird, dann repräsentiert er den Gesamtzusammenhang der Dinge auf eine gegenüber Baumgartens Ästhetik gänzlich veränderte, ja, auf eine privilegierte Weise. Damit aber erhält die Problematik der Begrenzung des ästhetischen Ge-
59
Natur vorgestellt haben würde, wenn die Schönheit dieses begrenzten Gegenstandes ihre einzige Absicht gewesen wäre." (Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 180 f.) Entsprechend kann sich die Studie von Mirbach über den Begriff der Einheit bei Baumgarten auch nicht auf die Begrenzung des ästhetischen Gegenstandes beziehen - hier geht es vielmehr um unterschiedliche Strukturen und Grade der Bestimmtheit bereits begrenzter Gegenstände (vgl. Mirbach: „Das Denken der Einheit in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens").
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genstandes, die sich bei Baumgarten nur als Auswahlproblem andeutet, eine veränderte Bedeutung. c) Nebeneinander/Nacheinander: Moritz und Lessing Im Anschluß an seine Definition des Schönen erarbeitet Moritz eine mediale Unterscheidung, die im engen Zusammenhang mit der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit des schönen Gegenstandes steht. Insbesondere für das Schöne nämlich leitet Moritz eine besondere Affinität zum Visuellen her: Nur das Auge sei in der Lage, die interne Verweisstruktur des Kunstwerks und sein Ganzes simultan zu erfassen - eben augenblicklich'.60 Demgegenüber sei jede verbale Beschreibung auf ein Nacheinander angewiesen, das zur Erfassung des Schönen offenbar nicht dienlich ist. Denn das Schöne hat nach Moritz nur statt, wenn es auf einer Oberfläche entfaltet, klar sichtbar gemacht wird: ,,[D]as erste Erfordernis des Schönen ist eben seine Klarhat, wodurch es sich dem Auge entfaltet". Das „in die Hülle der Existenz [...] verborgne Schöne", das „die Kunst [...] auf der Oberfläche darstellen" will, muß sie daher „notwendig gan% entwickeln, und [...] gleichsam selbst aus sich enthüllen",61 es muß sie an die Oberfläche bringen. Gleichwohl können auch sprachliche Kunstwerke mittelbar das Schöne umfassen [...]; insofern nämlich die mit jedem Worte erweckten und nie ganz wieder verlöschenden Bilder, zuletzt eine Spur auf dem Grunde der Einbildungskraft zurücklassen, die mit ihrem vollendeten Umriß dasselbe Schöne umschreibt, welches von der Hand des bildenden Künsders dargestellt, auf einmal vors Auge tritt.62
Daher rührt es, daß „das vollkommenste Gedicht [...], seinem Urheber unbewußt, zugleich die vollkommenste Beschreibung des höchsten Meisterstücks der bildenden Kunst"63 darstellt. Dasjenige, was derart um-
60
Diese Bestimmung steht einerseits vor dem Hintergrund der ästhetisch-anthropologischen Überlegungen, wie sie hier am Beispiel Mendelssohns vorgestellt wurden; andererseits sind anthropologisch-humanwissenschaftlich fundierte Beschreibungen der Rezeption des Schönen für klassizistisch orientierte Konzepte zentral, wie beispielsweise für Hemsterhuis' „Lettre sur la sculpture" (1769) (siehe Oesterle: .„Vorgriffe zu einer Theorie der Ornamente'", S. 123 f., Oesterle: „Die folgenreiche und strittige Konjunktur des Umrisses in der Romantik", S. 36 ff.).
61
Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 581. Damit ist das „echte Schöne" „eine deutliche Beschreibung dessen, was unsrer Sterblichkeit nur dunkel ahndet" (S. 581). Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 584. Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 585.
62 63
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schrieben, „auseinander gehüllt^*· wird, ergibt insgesamt dennoch ein Bild, scheint simultan erfaßbar, dann nämlich, wenn man ,,[b]ei der Beschreibung des Schönen durch Worte [...] die Worte, mit der Spur, die sie in der Einbildungskraft zurücklassen, zusammengenommen, selbst"65 als das Schöne nimmt. Indem sich die Sprache in die Einbildungskraft einschreibt, wird es möglich, daß in der Verquickung der Worte und der Spur, die diese hinterlassen, ein Schönes gleichsam ,erblickt' wird.66 Die Einheit des ästhetischen Gegenstands wird so als Ergebnis einer Abfolge von Operationen der Einbildungskraft beschrieben: derjenigen der Einschreibung, dann derjenigen, die das Eingeschriebene augenblicklich in ein Nebeneinander zu überführt, und schließlich derjenigen, die dieses Nebeneinander mit den Worten %us'ammen^unehmen vermag. Im Moment der Überführung in ein Nebeneinander wird dabei der innere Abdruck, den die Lektürearbeit hinterlassen hat, isoliert. Diese Operation aber wird dem Text selbst zugerechnet, mit ihm zusammengenommen, und der Text erhält damit einen Rahmen, der den simultanen Zugriff auf ihn als auf ein Ganzes ermöglicht. Mit dieser Überlegung knüpft Moritz in eigenwilliger Weise an eine Argumentationsfigur an, wie sie beispielsweise schon in Lessings „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie" (1766) verhandelt wird. Auch dort nämlich wird die Unterscheidung des Nacheinander und des Nebeneinander zur Bestimmung der „Grenzen der Malerei und Poesie" genutzt — wobei es mit dem Begriff der Grenze auch hier eine besondere Bewandtnis hat.67 Wenn das Anliegen Lessings die Ausarbeitung derjenigen medialen Spezifika von Malerei und Dichtung ist, aus denen sich deren allgemeine Regelhaftigkeit ableiten läßt,68 so ist dabei (mindestens) zweierlei vorausgesetzt: Beide Künste, so Lessing, „stellen uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider 64 65 66
67
68
Karl Philipp Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen". In: K. P. W.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Bd. 2. Frankfurt/M. 1981 [1788], S. 549-78, S. 576. Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 585 (Hervorhebung von mir). Zum Begriff der Spur bei Moritz siehe Georg Braungart: „,Intransitive Zeichen': ,Die Signatur des Schönen' im menschlichen Körper bei Karl Philipp Moritz". In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 13, 1994, S. 3 - 1 6 . Hier wird weniger die Differenz zwischen den beiden Künsten, um deren strikte Einhaltung es der erklärten Intention des Textes nach geht, im Mittelpunkt des Interesses stehen, als vielmehr die Ineinanderschachtelung der zwei Seiten der für konstitutiv erklärten Unterscheidung. Zur Fortsetzung der Debatte um die Grenzen der Künste siehe Oesterle: „Die folgenreiche und strittige Konjunktur des Umrisses in der Romantik", S. 38 ff. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu Winckelmann, der von einem historisch einmaligen Befund ausgeht und daraus allgemeine Regelhaftigkeiten abzuleiten versucht. Lessing erklärt umgekehrt die historische Besonderheit aus einer medialen Gesetzmäßigkeit.
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Täuschung gefällt." 69 Zweitens müssen in beiden Fällen, damit dieses Ziel erreicht werden kann, „unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben". 70 Daraus folgt: „So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen." 71 So weit die Basis der Lessingschen Argumentation. Es ist nun allerdings keineswegs so, daß es mit der Konsequenz getan wäre, die Dichtung habe sich mit der Repräsentation von Handlungen, die Malerei hingegen mit der Repräsentation von Körpern zu begnügen. Daraus allein würden sich entscheidende Behauptungen Lessings nicht herleiten lassen, beispielsweise diejenige, Gegenstand des Malerei könne (oder dürfe) nur das Schöne sein. Es gilt daher genauer zu überprüfen, wie es um die Möglichkeiten der Täuschung bestellt ist, die Lessing zum Zweck der Kunst erklärt. In Fortsetzung der bereits zitierten ,,trockene[n] Schlußkette", 72 die Lessing als Herleitung der „Sache aus ihren ersten Gründen" 73 einführt, wird die Entgegensetzung der medialen Orientierung von Malerei und Dichtung relativiert: Es sei nun einmal so, daß „alle Körper [...] nicht allein in dem Räume, sondern auch in der Zeit" 74 existieren und daß umgekehrt „Handlungen nicht für sich selbst bestehen" können, „sondern [...] gewissen Wesen anhängen" 75 müssen. Da alle „augenblicklichen Erscheinungen [...] die Wirkung einer vorhergehenden" sind, und jede wie69
Gotthold Ephraim Lessing: „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie". In: G. E. L.: Werke 1766-1769. Hg. v. Wilfried Barner (= Werke und Briefe in yvölf Bänden, Bd. 5.2). Frankfurt/M. 1990 [1766], S. 1 1 - 3 2 1 ; hier S. 13. - Auf die Konsequenzen und Mechanismen der im Text entfalteten Logik der Repräsentation (im Sinne der entsprechenden Foucaultschen episteme) untersucht den Text (David E. Wellbery: „Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation". In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt „Darstellen"? Frankfurt 1994, S. 175—204). - Zum Grundsatz des Täuschens vgl. Mendelssohn: „Uber die Hauptgrundsätze", S. 177 f.
70
Lessing: „Laokoon", S. 116. - Im Begriff des .bequemen Verhältnisses' manifestiert sich laut Stierle Lessings „Entdeckung des ästhetischen Mediums"; Karlheinz Stierle: „Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums". In: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Stuttgart 1984, S. 23-58. Todorov sieht in der Behauptung, in der Kunst müßten die Zeichen ein ,bequemes Verhältnis' haben, das revolutionäre Moment der Lessingschen Konzeption: Hier werde in aller Klarheit gefordert, in der Kunst müßten die Zeichen allesamt .motiviert' sein (im selben Sammelband: Tzvetan Todorov: „Ästhetik und Semiotik im 18. Jahrhundert. G. E. Lessing: Laokoon", S. 9-22). Lessing: „Laokoon", S. 116. Lessing: „Laokoon", S. 117. Lessing: „Laokoon", S. 116. Lessing: „Laokoon", S. 116. Lessing: „Laokoon", S. 117.
71 72 73 74 75
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derum „die Ursache einer folgenden, und sonach gleichsam das Zentrum einer Handlung sein"76 kann, ergibt sich ein komplexer raumzeitlicher Zusammenhang, den Malerei und Poesie, wollen sie entsprechende Vorstellungen erwecken, ihrer Struktur nach bedienen müssen.77 Die raumzeitliche Verfaßtheit der Welt, die immer auf der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Strukturen, also dem Nacheinander des Nebeneinander beruht, erzeugt die Notwendigkeit, in der Dichtung in wenigen „Zügen"78 für die Einbildungskraft ,Spuren' eines körperlichen, gleichzeitigen Geschehens zu legen und in der Malerei durch die Wahl des „prägnantesten" Augenblicks, „aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird",79 den Anlaß (oder die Gelegenheit) zur Vorstellung einer Bewegung bzw. Handlung zu bieten. Doch erschöpft sich Lessings illusionistisches Programm nicht in diesem Argument. Entscheidend ist vielmehr, daß auch die Organisation der menschlichen Empfindungsfahigkeit eine ganz ähnliche (unergründliche?) Komplexität aufweist: Nichts ist betrüglicher als allgemeine Geset2e für unsere Empfindungen. Ihr Gewebe ist so fein und verwickelt, daß es auch der behutsamsten Spekulation kaum möglich ist, einen einzeln Faden rein aufzufassen und durch alle Kreutfäden ψ verfolgen. Gelingt es ihr aber auch schon, was für Nutzen hat es? Es giebt in der Natur keine einzelne reine Empfindung, mit einer jeden entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die Grundempfindung gänzlich verändert, so daß Ausnahmen über Ausnahmen erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesetz endlich selbst auf eine bloße Erfahrung in wenig einzeln Fällen einschränken.80 76 77 78
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Lessing: „Laokoon", S. 116 f. Hierzu siehe Stierle: „Das bequeme Verhältnis", S. 39 ff. „Gesetzt nun also auch, der Dichter führe uns in der schönsten Ordnung von einem Teile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns die Verbindung dieser Teile auch noch so klar zu machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was das Auge mit einmal übersiehet, zählt er uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben. Jedennoch sollen wir uns aus diesen Zügen ein Ganzes bilden." (Lessing: „Laokoon", S. 124, Hervorhebung von mir.) Damit ist ziemlich genau jenes Problem bezeichnet, dem sich die eingangs zitierte Passage bei Moritz widmet. Lessing: „Laokoon", S. 117. Lessing: „Laokoon", S. 43 (Hervorhebung von mir). Auf diese Stelle macht Binczek aufmerksam (Natalie Binczek: „Das veränderliche Gewebe. Zur Empfindungstheorie in Lessings Laokoon". In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 49.2, 2004, S. 219—35). Sie untersucht die Gewebemetapher im Kontext zeitgenössischer (nerven-)physiologischer Überlegungen und arbeitet ihren Stellenwert für das wirkungsästhetische Programm Lessings heraus, wobei ein besonderer Stellenwert dem Mideid zukommt: „Entscheidend ist an dieser Kommunikationsstruktur, daß sie nicht als Übertragung oder Wiederholung emotiver Zustände gedacht wird, sondern im Gegenteil eine Differenz zwischen dargestellter Figur und Rezipient setzt. So wird zwischen beiden eine Wechselwirkung präsumiert, wie sie die vereinzelten Kontakte innerhalb des Gewebes vollziehen. Durch die Berührung der zwei Empfindungspunkte nämlich, desjenigen des Rezipienten
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Sind Malerei und Poesie gleichermaßen der Repräsentation menschlicher Empfindungen verbunden - mit dem Ziel, insbesondere Mitleid zu erzeugen —, so müssen sie sich deren komplexer gewebeartiger Struktur anbequemen. Dabei impliziert die soeben zitierte Formulierung, daß die menschlichen Empfindungen kein statisches Gewebe darstellen, sondern ein in sich bewegtes. Jede Veränderung kann Folgen auf das gesamte Gewebe haben, und es ist nicht einmal möglich, einzelne Empfindungen (Fäden) „rein" zu isolieren. In dieser Radikalität verfolgt Lessing das Bild nicht weiter. Gleichwohl folgt aus dem Entwurf, daß nur eine komplexe Verknüpfung von Strukturen des Neben- und des Nacheinander die illusionistische Repräsentation menschlicher Empfindung wird leisten können. Für die Einheit des ästhetischen Gegenstandes ist an der Lessingschen Konstruktion insbesondere die Art und Weise von Interesse, wie die Grenzen der Malerei und der Poesie ins Spiel kommen.81 Denn es geht augenscheinlich darum, trotz der medialen Begrenztheit der jeweils zu verfertigenden Artefakte und im Sinne der Anbequemung an die Struktur der menschlichen Empfindungen einen Effekt zu erzeugen, der diese Begrenztheit aufhebt. Dabei ist die rationalistische Auffassung von den Zeichen und von der Illusionsleistung der Kunst Ausgangspunkt der Argumentation: Die Zeichen sollen in ihrer Materialität ,unsichtbar' werden, so daß der Betrachter nur noch die repräsentierte Welt zu sehen vermeint und in diesem Sinn getäuscht wird.82 Wellbery folgert aus diesem Zeichen-
81
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und desjenigen der Figur, entsteht auch hier eine neue Empfindung: das Mideid." (S. 234.) Ausfuhrlicher untersucht Binczek Lessings „Laokoon" - mit einem Ausblick auf „Emilia Galotri" - in Natalie Binczek: Kontakt: Der Tastsinn in Texten der Aufklärung, Tübingen 2007, S. 227-64, zum Mideid S. 235-45. Srierle verweist auf die Bedeutung eines „medienspezifischen ästhetischen Ganzen" bei Lessing (Stierle: „Das bequeme Verhältnis", S. 42 ff.). Unter Rückgriff auf die „Hamburgische Dramaturgie" kommt er zu Ergebnissen, die den aus dem obigen Zitat über die ,gewebeartige' Konstitution der menschlichen Empfindungsfähigkeit abgeleiteten recht nahe kommen. Das Ganze des Kunstwerks bestimme Lessing „als Äquivalent einer Aufmerksamkeit" (S. 44): „Unsere Aufmerksamkeit grenzt aus der gegebenen Welt eine Welt der Relevanz aus. In der Kunst aber ist diese Ausgrenzung selbst schon thematisch." Und schließlich, analog zu meinem Argument: „So wie zwischen Werk und Medium ein ,bequemes Verhältnis' walten soll, so muß auch, denkt man Lessings Ansatz weiter, das Verhältnis von Aufmerksamkeit und seiner Realisierung im medienbezogenen Werk ein .bequemes Verhältnis' sein." (S. 45.) Wellben' vertritt die Auffassung, daß Lessings Entwurf von dieser Grundforderung ausgehe (Wellbery: „Das Gesetz der Schönheit", S. 188 ff.; David E. Wellbery: Lessing's Laokoon. Semiotics and Aestetics in the Age of Reason. Cambridge — New York 1984, S. 161-67). Die Überlegenheit der Literatur sei für Lessing letztlich darin begründet, daß sie Repräsentation in Reinform sei: Die einfache und vollständige Ersetzung des Realen durch Zeichen, die Repräsentation der Welt im Medium Sinn. Die Literatur allein, so versteht Wellben,1 Lessing, könne so differenzierte und zugleich distanzierte Vorstellungen menschlichen Lebens geben, daß das Ziel aller Kunst erreicht werden könne, die Erzeu-
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modell, es gehe Lessing um eine ,Entsinnlichung' der Malerei: Nur dann, wenn die Struktur des Bildes es erlaube, von seiner Materialität abzusehen — und das sei der Fall, wenn es schön ist —, könne die geforderte illusionäre Wirkung erzielt werden. Nur dann könne die Transparenz seiner Zeichen sichergestellt und die Annäherung der Malerei an die von Lessing bevorzugte Dichtung betrieben werden. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, warum es dann der bildlichen Darstellung eines ,,fruchtbare[n] Momentfs]" überhaupt bedarf. Zudem ist insofern von einer „Diskrepanz zwischen der natürlichen Seinsweise der Körper und den bildnerischen Zeichen"83 auszugehen, als der „fruchtbare Moment" in die natürlichen Zeichen der Malerei durch „Stellung und Ausdruck" hineingetragen werden muß. Die bildlichen Zeichen unterscheiden sich also ihrer Struktur nach von den Gegenständen, deren Illusion sie erregen sollen. Damit aber bieten sie gerade Anlaß zu einer imaginativen Überschreitung, die die Illusion, auf die es ankommt, erst erzeugt. Die Rezeption gelingt, so Mülder-Bach, wenn man am Bild als „einem vorstrukturierten Feld der Sinnlichkeit" die Spannung, die den bildlichen Zeichen innewohnt, nachvollzieht; die Einbildungskraft ,spielt' dann gewissermaßen über diesem „vorstrukturierten Feld", „das sich mit jedem ihrer Züge verwandelt, bis Imaginiertes und Gesehenes [...] ununterscheidbar werden."84 Illusion kann erzeugt werden, gerade weil das Bild die Gegenstände nicht ganz so darstellt, wie sie sind, sondern in seiner Figuration - in seinem Kontur85 — eine Spannung aufweist, die zur Entfaltung in eine Bewegung einlädt. So betrachtet funktioniert die von Lessing geforderte Beschränkung der Malerei auf schöne Gegenstände nicht nur als ein Exklusionsmechanismus, der all jenes von der Repräsentation ausschließt, bei dessen Wiedergabe die Vorstellung nicht von der materiellen Zeichenhaftigkeit der Repräsentation würde absehen können, beispielsweise alles Ekelerregende.86 Vielmehr kommt es darauf an, daß sowohl die Dichtung als auch die Malerei nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn bei ihrer Rezep-
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gung von Mitleid. Der Malerei, da sie sich natürlicher Zeichen bediene, hafte hingegen immer ein Realitätsrest an, weswegen sie sich dem „Gesetz der Schönheit" (Wellbery: „Das Gesetz der Schönheit", S. 192) zu unterwerfen habe, um als Repräsentation noch funktionieren zu können. Noch pointierter formuliert: „Beauty is the supreme value in the plastic arts not because it is intrinsically of great worth, but because it is the only form of the sensuously present that does not overwhelm us on the existential level of sensation." (Wellbery: Lessitig's Laokoon, S. 166.) Inka Mülder-Bach: „Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings Laokoon". In: DVjs 66, 1992, S. 1 - 3 0 , hier S. 18. Mülder-Bach: „Bild und Bewegung", S. 28. Zum Zusammenhang zwischen den Begriffen des Konturs und des prägnanten Augenblicks siehe Oesterle: „Die folgenreiche und strittige Konjunktur des Umrisses in der Romantik", S. 34 ff. So in Fortsetzung des oben zitierten Arguments Wellbery: „Das Gesetz der Schönheit".
1. Der Kontur als Grenze
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tion eine ihrer medialen Konstituiertheit widersprechende Struktur supplementiert wird: Man hätte dann dem im Nebeneinander vorliegenden Gemälde eine Bewegtheit zuzuschreiben, würde also die sozusagen im eigenen Kopf statthabende imaginative Bewegung auf das Gemälde zurückprojizieren. Umgekehrt müßte im Nacheinander der dichterischen Darstellung Körperlichkeit gesehen, also eine ähnliche Supplementierung oder Projektion vorgenommen werden. 87 Die Frage, ob diese Projektion Rückwirkungen auf das Konzept des ästhetischen Gegenstandes selbst hat, ob also der Rezipient die Ergebnisse seiner supplementierenden Tätigkeit dem ästhetischen Gegenstand selbst zurechnen muß, läßt Lessing unentschieden. Wenn Schönheit „aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen", entspringt, so daß zunächst nur die bildende Kunst „allein, körperliche Schönheit nachahmen" 88 kann, so gilt doch zugleich für alle Werke der bildenden Kunst, daß sie Schönheit mit Fruchtbarkeit zu verbinden haben: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt." 89 Sowohl der Begriff des ,prägnanten Augenblicks' als auch der des ,Zugs' projizieren dabei immerhin eine Form von Gerichtetheit in den Gegenstand hinein, die als der Anlaß der Bewegung zu gelten hat. 90 Lessings Interesse, das sich eher auf die Möglichkeiten der Bewegungserzeugung auf Seiten des Rezipienten und auf deren Indienststellung im Namen der Aufklärung richtet — insbesondere soll Mideid erzeugt werden - , macht es auch gar nicht nötig, im ästhetischen Gegenstand mehr zu sehen als eben einen solchen Anlaß, eine solche Gelegenheit. Zentral bleibt die transitive Dimension des Zeichens, seine reflexiven Momente sind weniger wichtig. 87
88 89 90
So auch Wellbery: Lessing's Laokoon, S. 167-70. Sein Fazit: „By selecting the pregnant moment, the artist transcends the material limits of his semiotic medium and approaches the type of representation possible in language." (S. 170.) Umgekehrt gilt fur die Poesie, daß sie sich den Repräsentationsformen der bildenden Kunst angeglichen muß (siehe pointiert S. 183). Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 144. Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 32. Vgl. die folgende Entgegnung eines Vorwurfs von Mengs an Raffael: „Es ist unstreitig, daß der Künsder in diesem Falle zwei verschiedene Augenblicke in einen einzigen zusammen bringt. Denn da dem Fuße, welcher hinten gestanden und sich vor bewegt, der Teil des Gewands, welcher auf ihm liegt, unmittelbar folget, das Gewand wäre denn von sehr steifem Zeuge, der aber eben darum zur Malerei ganz unbequem ist: so giebt es keinen Augenblick, in welchem das Gewand im geringsten eine andere Falte machte, als es der itzige Stand des Gliedes erfodert; sondern läßt man es eine andere Falte machen, so ist es der vorige Augenblick des Gewandes und der itzige des Gliedes. Dem ohngeachtet, wer wird es mit dem Artisten so genau nehmen, der seinen Vorteil dabei findet, uns diese beiden Augenblicke zugleich ψ geigen? Wer wird ihn nicht vielmehr rühmen, daß er den Verstand und das Herz gehabt hat, einen solchen geringen Fehler zu begehen, um eine größere Vollkommenheit des Ausdruckes zu erreichen?" (Lessing: „Laokoon", S. 131, Hervorhebung von mir.)
268
V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
Doch deutet sich durchaus ein Konzept von ,motivierter' Zeichenhaftigkeit an, als dessen Fortsetzung sich Klopstocks Begriff der Darstellung sehen läßt,91 ein Konzept also, demzufolge die Zeichen auch in ihrer .materiellen' Struktur relevant werden. Motivierte Zeichenhaftigkeit liegt vor, wenn die Zeichen nicht nur etwas anderes repräsentieren, sondern sich zugleich in ihrer Struktur dem Repräsentierten angleichen. Auch darin wäre ein ,bequemes Verhältnis' zu sehen. Selbst wenn dies nicht Lessings Anliegen ist, eröffnet seine Argumentation die Möglichkeit, die Forderung nach einem ,bequemen Verhältnis' der Zeichen zum Bezeichneten auch als Forderung nach Zeichen anzusehen, die sich dem Bezeichneten darstellerisch anbequemen.92 Zu einer solchen Auffassung kann man vor allem dann kommen, wenn man Lessings Beschreibung der menschlichen Empfindungsfähigkeit ernst nimmt: Geht man davon aus, daß ein ,bequemes Verhältnis' nicht nur zwischen den dargestellten Gegenständen und ihrer Darstellung, sondern auch zwischen der Darstellung und dem Empfindungsvermögen des Rezipienten bestehen muß — was angesichts der wirkungsästhetischen Ausrichtung des Entwurfs durchaus naheliegt —, so müßte sich die Struktur der Illusion, die im Rezipienten erzeugt werden soll, auch in der Struktur der Darstellung wiederfinden lassen.
91
Siehe hierzu Menninghaus: „,Darstellung'". Todorov verzeichnet bei Lessing eine Tendenz hin zu einer solchen Zeichenauffassung, allerdings mehr auf der Grundlage von dessen Nachlaß (Todorov: „Ästhetik und Semiotik im 18. Jahrhundert", S. 17 ff.). Karlheinz Stierle greift dies auf und macht in einem grundlegenden Aufsatz über Lessings Text ausführlich die Vorläufer einer an ästhetischer Erfahrung interessierten Medienanalyse namhaft. Als eine frühe Beschreibung motivierter Zeichenhaftigkeit nennt er Diderots Konzept der Hieroglyphe - ein Konzept, hinter dessen Einbettung in eine differenzierte Sprachtheorie Lessing seiner Ansicht nach zurückfällt und das als wichtige Ergänzung des Klopstockschen Ansatzes angesehen werden muß (Stierle: „Das bequeme Verhältnis", hier S. 33 ff.).
92
Damit wäre die Unterscheidung in natürliche und willkürliche Zeichen, die Mendelssohn noch als Ausgangspunkt seiner Differenzierung zwischen schönen Künsten und Wissenschaften dient (Mendelssohn: „Über die Hauptgrundsätze", S. 182 f.), hier der Ausgangsunterscheidung von .einfachen' Zeichen und solchen, die das von ihnen Bezeichnete auch darstellen, nachgeschaltet. Vielleicht schließt Mendelssohns Text daher nicht umsonst mit einem Verweis auf das im Entstehen begriffene Lessingsche Projekt (S. 197). Der Tatsache, daß die Unterscheidung von natürlichen und willkürlichen Zeichen bei Lessing keine tragende Rolle mehr habe, mißt Mülder-Bach konstitutive Bedeutung zu: „Diese terminologische Lücke ist kein Zufall, sondern theoretisch begründet." (Mülder-Bach: „Bild und Bewegung", S. 17.) Bereits Wellbery hat gezeigt, daß die Lessingsche Ästhetik letztlich nicht nur auf eine Überwindung der Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen hinausläuft (Wellbery: Lessing's Laokoon, S. 191-227), sondern daß damit auch die theoretischen Grundlagen des Lessingschen Projekts insgesamt unterlaufen werden. Es kann auch Wellbery zufolge von motivierten Zeichen die Rede sein: „Perfected mimesis is not the imitation of an object or action, it is the action itself. [...] At that point where the difference between sign and referent is overcome, the referent disappears, and the poet is left the task of dramatizing language itself, or setting it into action." (S. 227.)
2. „Fingerzeige des Schönen". Der Rahmen des Kunstwerks bei Moritz und Kant
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Genau das ist aber der Punkt, an dem die Moritzsche Beschreibung einsetzt. Moritz entscheidet - zumindest für den literarischen Text - die Frage, die sich bei Lessing andeutet: Wenn „die Worte, mit der Spur, die sie in der Einbildungskraft zurücklassen, zusammengenommen", die Schönheit des literarischen Textes ausmachen, dann vollzieht das .Zusammennehmen' der Worte mit der ,Spur', die sie im Rezipienten zurückgelassen haben, die Rückprojektion eines Rezeptionseffekts in den ästhetischen Gegenstand: Der literarische Text kann schön genannt werden, wenn das ,in sich Vollendete', das er im Innern des Lesers erzeugt hat, von der Einbildungskraft überschaut und auf den Text übertragen wird, der in diesem Augenblick kein lineares Gebilde mehr darstellt, sondern eine Art tableau vivant.
2. „Fingerzeige des Schönen". Der Rahmen des Kunstwerks bei Moritz und Kant Die drei angeführten Einsatzpunkte der Moritzschen ästhetischen Theorie haben einige Aspekte seiner Konzeption der Einheit des ästhetischen Gegenstandes deutlich werden lassen und ihre Beziehung zu ihr vorgängigen Theorien aufgezeigt: So greift Moritz das bei Winckelmann virulent werdende Problem der adäquaten Beschreibung des Kunstschönen auf und radikalisiert es, indem er darauf verweist, der schöne Gegenstand stelle immer schon eine Beschreibung seiner selbst dar. Die dem schönen Gegenstand derart eingeschriebene zirkuläre Struktur überfuhrt er dann in seiner Auseinandersetzung mit der Vollkommenheitsästhetik, die ich insbesondere anhand der Texte von Mendelssohn und Baumgarten zu rekonstruieren versucht habe, in eine zirkuläre Struktur der Zweckbestimmtheit des schönen Gegenstandes. Die Rekonstruktion der Moritzschen Beschreibung des schönen literarischen Textes hat vor dem Hintergrund der Lektüre von Lessings „Laokoon" gezeigt, daß Schönheit in diesem speziellen Fall Effekt einer ,paradoxen' Zuschreibung ist: Zwar zeigt sich die Schönheit des Textes nur in der Einbildungskraft des Rezipienten, dieser aber rechnet sie dem Text selbst zu. Dieser letzte Punkt mag zum Anlaß dienen, die Frage zu formulieren, die die genauere Untersuchung der Moritzschen (und in diesem Zusammenhang auch der Kantischen) Theorie des Schönen leiten soll, nämlich inwiefern die paradoxe Zuschreibungsstruktur, die Moritz für die Rezeption literarischer Werke in Anschlag bringt, vielleicht auch von allgemeiner ästhetischer Relevanz ist.
270
V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
a) Moritz' Produktionsästhetik: Aufhebung der Vermögenstheorie? Die Unterscheidung verschiedener Operationsmodi der Einbildungskraft ist grundlegend nicht nur für die Moritzschen Überlegungen zur literarischen Rezeption, sondern für die Rezeption des Schönen insgesamt. Denn nicht nur das literarische Kunstwerk hinterläßt seine Spuren im Rezipienten. Das zeigt schon die Anspielung auf die Signaturenlehre93 in dem Titel „Die Signatur des Schönen": Schönheit ist - das läßt sich dem Titel entnehmen - als Signatur des Kosmos dem Menschen eingeschrieben. Weiterhin legen auch die ausführlichen anthropologischen Konstruktionen in Moritz' Schrift „Über die bildende Nachahmung des Schönen" die Unterscheidung des Nach-, Neben- und Übereinander zugrunde. Alle drei Ordnungen werden dabei mit je unterschiedlichen Möglichkeiten der Rahmung in Verbindung gebracht. In „Über die bildende Nachahmung des Schönen" findet sich eine Differenzierung unterschiedlicher Erkenntnisvermögen. Moritz formuliert, als er die .Tatkraft' einführt: In der Tatkraft liegen nämlich stets die Anlässe und Anfänge zu so vielen Begriffen, als die Denkkraft nicht auf einmal einander unterordnen, die Einbildungskraft nicht auf einmal nebeneinander stellen und der äußere Sinn noch weniger auf einmal in der Wirklichkeit außer sich fassen kann. 94
Die anthropologische Konstruktion, die im Hintergrund dieser Aussage steht, faßt die Tatkraft als ein in einer unendlich feinen geweblichen Organisation gegründetes basales Vermögen auf, in das die Natur „den Sinn für das höchste Schöne"95 gepflanzt habe: Diese „Organisation" ist „in allen ihren Berührungspunkten von den Verhältnissen des großen Ganzen der Natur ein vollständiger oder doch fast vollständiger Abdruck".96 Aufgrund ihrer bloß „dunkelahnenderi' 9V Operationsweise aber kann die bloße Tatkraft lediglich „Anlässe und Anfänge" - sprich: Gelegenheiten - zu weiteren Operationen liefern. Und obgleich nun in dieser von der Tatkraft gegebenen Menge von „Anlässen" ein ganzheitlicher Naturbezug zur Verfügung steht,98 sind die beiden Operationen, die dem Menschen über 93 94 95 96 97 98
Vgl. S. Meier-Oeser: „Signatur, Signaturenlehre". In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Darmstadt 1995, S. 750-54. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 561. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 561. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 568. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 562. Vgl. Georg Mein: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs ^wischen Aufklärung und Komanük: Kant - Morit^-Hölderlin - Schiller. Bielefeld 2000, S. 79: „Durch diese dunkle Unmittelbarkeit [der Tatkraft] wird die Objektivität des Schönen vor aller Willkür bewahrt, denn die Tatkraft verkörpert den unmittelbaren Nexus zwischen Mensch und Natur, der auch durch die Entfremdung des Menschen von der Natur, als Folge aufklärerischen Den-
2. „Fingerzeige des Schönen". Der Rahmen des Kunstwerks bei Moritz und Kant
271
dieser Menge möglich sind, stark eingeschränkt: Die Denkkraft, so Moritz, ordnet Dinge einander unter, die Einbildungskraft stellt sie in ihrer Simultaneität nebeneinander geordnet zur Verfügung. Beide Operationen sind dabei als Mechanismen des Sich-Bemächtigens zu verstehen, doch haben sie ein beschränktes Wirkungsfeld. Moritz sieht sich daher gezwungen, weitere Kräfte, die Bildungs- und Empfindungskraft, zu postulieren, die an der Aufhebung dieser Beschränktheit arbeiten. Beiden ist es als aus der Tatkraft ,abgeleiteten' Vermögen darum zu tun, die in der Tiefe geahnten und nicht unmittelbar qua Denk- oder Einbildungskraft erfaßbaren Dinge an eine Oberfläche zu bringen: „\H\ervorbringend" (Bildungskraft) oder der „Hervorbringung sich entgegen neigend"m (Empfindungskraft) zielen beide Kräfte auf eine an der Oberfläche zu entfaltende tiefere Struktur, die, mit dem „Zusammenhang der ganzen Natur, welcher zu sich selbst, als dem größten uns denkbaren Ganzen, die meisten Beziehungen in sich faßt", identifiziert werden kann und daher die Struktur des „höchste [n] Schöne [n]"101 ist. Allerdings unterliegen beide Kräfte selbst wiederum Beschränkungen. Indem sie an der (ästhetischen) Bewältigung der Natur arbeiten, vollziehen auch sie Operationen, die zu denen der Denk- und der Einbildungskraft in gewisser Weise kongruent sind. Denn auch sie müssen das unbegrenzte Feld der Gelegenheiten, „Anlässe und Anfange", die das feine Gewebe der Tatkraft vermittelt, erst rahmen, damit die Dinge simultan nebeneinander erscheinen können. Nur so kann sich der Mensch als erkennendes Wesen ihnen überordnen, Bildung erlangen. Und letztlich bleibt doch die Einbildungskraft dasjenige Vermögen, dem das Schöne sich bemerkbar macht. Denn dieses ist ein „für sich bestehendes Ganze [s]", das „von unserer Einbildungskraft umfaßt werden"102 können muß, und „insofern schreiben unsere Empfindungswerkzeuge dem Schönen wieder sein Maß vor".103 In gewisser Weise verschiebt Moritz' anthropologische Konstruktion das Ausgangsproblem also lediglich: Das unbegrenzte, fortwährenden kens, nicht prinzipiell zerstört werden kann." - Siehe zur Tatkraft auch Saine: Die ästhetische Theodi^ee, S. 143 f., S. 147 (zu Moritz' .Genielehre' insgesamt S. 138-50), Alo Allkemper: Ästhetische Losungen. Studien Karl Philipp Moritζ. München 1990, S. 273-75, und Jürgen Fohrmann: „.Bildende Nachahmung'. Über die Bedeutung von .Bildung' und .Ordnung' als Prinzipien der Moritzschen Ästhetik.". In: Martin Fontius, Anneliese Klingenberg (Hgg.): Karl Philipp Morit% und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen - Korrekturen - Neuansät^e. Internationale Fachtagung vom 25.-25. September 1993 in Berlin. Tübingen 1995, S. 177-86, S. 1 8 1 83. 99 100 101 102 103
Für eine dezidierte Definition des Schönen als Phänomen der Oberfläche siehe Moritz: „Ober die bildende Nachahmung des Schönen", S. 553 f. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 568. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 560. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 558. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 559.
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V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
A s s o z i a t i o n e n u n d V e r b i n d u n g e n sich d a r b i e t e n d e Feld der N a t u r findet s i c h als , f e i n e s G e w e b e ' i m M e n s c h e n w i e d e r , d a s d i e a l l u m f a s s e n d e T a t k r a f t lediglich a h n e n k a n n . A u c h die ,Signatur', die dieses G e w e b e ist, m u ß daher begrenzt werden, u m gelesen w e r d e n zu können. W a s diese prinzipiellen E i n s c h r ä n k u n g e n angeht, so differenziert M o ritz allerdings: Z u n ä c h s t scheint sich das P r o b l e m n u r b e i m D i l e t t a n t e n z u stellen, b e i d e m „ d a s O r g a n n i c h t f e i n g e n u g g e w e b t ist, u m d e m e i n s t r ö menden
G a n z e n der N a t u r so viele B e r ü h r u n g s p u n k t e d a r z u b i e t e n ,
als
n ö t i g s i n d , u m alle i h r e g r o ß e n V e r h ä l t n i s s e v o l l s t ä n d i g i m K l e i n e n a b z u spiegeln."104 I m Falle des „ b i l d e n d e n G e n i e [ s ] " h i n g e g e n m u ß d e r „ H o r i z o n t d e r t ä t i g e n K r a f t [ . . . ] so weit, wie die Natur „ n a c h sich selber, aus sich selber"
106
selber, s e i n " , 1 0 5 e s k a n n
das S c h ö n e bilden. D i e i m Falle des
D i l e t t a n t e n b e s t e h e n d e L ü c k e z w i s c h e n d e m d u r c h die E m p f i n d u n g s k r a f t geweckten Bildungsverlangen u n d d e m tatsächlichen V e r m ö g e n k a n n hier m o m e n t h a f t geschlossen werden: I n d e m E m p f i n d u n g s v e r m ö g e n bleibt also stets die Lücke, welche nur durch das Resultat der Bildungskraft sich ausfüllt. — Bildungskraft u n d E m p f i n d u n g s k r a f t verhalten sich zu einander, wie M a n n u n d Weib. D e n n auch die Bildungskraft ist bei der ersten E n t s t e h u n g ihres Werks, im M o m e n t des höchsten Genusses, zugleich Empfindungsfähigkeit, u n d erzeugt, wie die N a t u r , den A b d r u c k ihres W e sens aus sich selbst. 107 A u f die a u s g e s p r o c h e n m e r k w ü r d i g e nur verwiesen.
108
Geschlechterkonstellation
sei h i e r
E n t s c h e i d e n d ist f ü r die hier a n g e s t r e b t e A r g u m e n t a t i o n
die F o k u s s i e r u n g des Augenblicks:
104 Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 565. - Die Bildungskraft kann dann der Empfindungskraft nicht nachkommen, was dazu führt, daß der Dilettant in dennoch unternommenen Versuchen der bildenden Tätigkeit „durch tausend mißlungne Versuche, seinen Frieden mit sich selbst" (S. 565) stört: Seine „zu lebhaft gerührte Empfindung [...] haßt ihr eigenes Werk, verwirft es, verleidet sich zugleich den Genuß all des Schönen, das außer ihr schon da ist" (S. 566), und das Ergebnis sind „tausend falsche, angemaßte Abdrücke des höchsten Schönen" (S. 567). Die Empfehlung an die Adresse des Dilettanten ist daher die Bescheidung mit der Betrachterrolle: ,,[z]um Lohne für sein bescheidnes Zurücktreten in seine Grenzen" eröffnet sich sein Empfindungsvermögen dem „reinsten Genuß von allem Schönen, der mit der Natur seines Wesens bestehen kann" (S. 567). - Zum Dilettanten siehe auch Saine: Die ästhetische Theodi^ee, S. 146 f., Allkemper: Ästhetische Losungen, S. 276-78. 105 106 107 108
Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 562. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 563. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 568. Wenn die männliche Bildungskraft die Lücke der weiblichen Empfindungskraft „im Moment höchsten Genusses" füllt, ist sie zugleich Empfindung, also weiblich, und erzeugt einen „Abdruck ihres Wesens aus sich selbst", um daraufhin, wie sich noch zeigen wird, mit dem Ergebnis dieses Genusses schwanger zu gehen. - Von dieser eigentümlichen Beschreibung geht Campes Interpretation des Moritzschen Textes aus (Rüdiger Campe: „Zeugen und Fortzeugen in Karl Philipp Moritz' Über die bildende Nachahmung des Schönen".
2. „Fingerzeige des Schönen". Der Rahmen des Kunstwerks bei Moritz und Kant
273
[S]o kann auch der lebendige Begriff von der bildenden Nachahmung des Schönen, nur im Gefühl der tätigen Kraft, die es hervorbringt, im ersten Augenblick der Entstehung stattfinden, wo das Werk, als schon vollendet, durch alle Grade seines allmählichen Werdens, in dunkler Ahndung, auf einmal vor die Seele tritt, und in diesem Moment der ersten Erzeugung gleichsam vor seinem wirklichen Dasein da ist.109
Nur im Medium der Augenblicklichkeit, des momentanen Nebeneinander, so könnte man sagen, ist der höchste Genuß möglich. Das den menschlichen Vermögen ansonsten Unerreichbare, die Anschauung des Schönen, wird als Erscheinung dennoch greifbar. Das Medium des ästhetischen Scheins, in dem die „Realität [...] unter der Hand des bildenden Künstlers zur Erscheinung"110 wird, erweist sich als eines des momenthaften Aufscheinens. In diesem Augenblick verwandelt sich „das innre Wesen erst in die Erscheinung", ehe es dann „zu einem für sich bestehenden Ganzen gebildet werden, und ungehindert die Verhältnisse des großen Ganzen der Natur, in ihrem vollen Umfange spiegeln kann".111 Dem bildenden Genie wird im Medium momentanen ästhetischen Scheins die Simultaneität der Anschauung eines Gegenstandes möglich, der der Einbildungskraft normalerweise unzugänglich bleibt.112 In: Christian Begemann, David E. Wellbery (Hgg.): Kunst — Zeugung - Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuheit. Freiburg i. Brsg. 2002, S. 225-49): „Moritz verbindet wirklich — in der Fuge des höchsten Genusses - die beiden Seiten der Metaphorik mit einem ,denn'; und das heißt: Er sieht auf die Differenz der Geschlechter und die Einheit der sich selbst fortzeugenden Naturinstanz von einem einheitlichen, in seiner Einheit allerdings nicht aus formulierten Punkt aus. Das ,denn' impliziert diese Einheit im Moment des höchsten Genusses, ohne von ihr Rechenschaft zu geben." (S. 236.) Diese Paradoxic spiegelt Campe zufolge genau die Anforderungen an das autonome Kunstwerk: Auch hier schließen sich „Sinnlichkeit der ästhetischen Wahrnehmung und Totalität des ästhetischen Gegenstandes" aus, obgleich sie einander „gegenseitig voraussetzen" (S. 236). Beides gibt es, so Campe, „nur als Vorgang der Übertragung sinnlicher Wahrnehmungskomplexe in das institutionelle Verhältnis der Genealogie" (S. 238). 109 110 111 112
Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 563. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 560. Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 563. Mein hebt in seiner Beschreibung des Prozesses der „Schöpfung des Schönen" (Mein: Die Konzeption des Schönen, S. 79) hervor, daß dessen Objektivität durch unvermögende subjektive Bemühungen unantastbar bleibt (selbst beim Genie). Dennoch aber kann er schließen: „Erst in der Kunst kommt die Natur zu sich selbst." (S. 81.) Genauer: „Die Kunst spiegelt eben nicht nur akzidentiell, sondern substantiell die vollendete und d. h. prästabilierte Harmonie der Natur. Das Schöne kann das Wesenhafte der Wirklichkeit erfassen und wiedergeben als ein Vermögen, das sich selbst allen rationalen Beschreibungsversuchen entzieht. Dadurch wird das Schöne und mit ihm das Kunstwerk hypostasiert und steht außerhalb aller diskursiven Falsifizierungsbemühungen. Und umgekehrt ist wesentlicher Bestandteil der Faszination des Schönen die Schwierigkeit, die es dem Denken bereitet. Rational nicht faßbar, vielleicht sogar logisch gebrochen, weckt es das hermeneutische Interesse und garantiert deshalb stetige Begeisterung, weil der letzte Grund der Schönheit nicht vollständig ge- oder erklärt werden kann." (S. 89.)
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V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
Im Rahmen der den Nachahmungs-Aufsatz abschließenden zugleich onto- und phylogenetischen Rekonstruktion eines Bildungsprozesses (einer Art ,Kette der Wesen' 113 ) liefert Moritz nun allerdings eine zweite Beschreibung dieses Schöpfungsaktes, die zeigt, inwiefern auch das Genie einer Beschränkung unterliegt. In einem fruchtbaren Moment, so heißt es dort, könne der Mensch dank „stille [r] Beschauung" die „spiegelnde Oberfläche seines Wesens" glätten, um jenes schöpferische, darstellende Bilden zu beginnen, das ihn als Menschen über die restliche Schöpfung erhebt: D a s bildende G e n i e will, w o möglich, alle die in i h m s c h l u m m e r n d e n Verhältnisse jener g r o ß e n H a r m o n i e , deren U m f a n g größer, als seine eigene Individualität ist, selbst u m f a s s e n : das k a n n es n u n nicht anders, als in v e r s c h i e d e n e n M o m e n t e n , schaffend, bildend, aus seiner eigenen eingeschränkten Individualität g l e i c h s a m h e r a u s in ein W e r k das außer i h m sich darstellt, hinüberschreitend, u n d mit d i e s e m W e r k e n u n das u m f a s s e n d , w a s seine Ichheit selbst v o r h e r nicht fassen konnte. Allein der A n b l i c k v o n d e m reinsten A b d r u c k des h ö c h s t e n S c h ö n e n in d e m v o l l k o m m e n s t e n K u n s t w e r k e , m u ß t e d e m Bildungstriebe d e n ersten A n s t o ß geben, bloß d u r c h G e f ü h l der Möglichkeit, sich in e i n e m K u n s t w e r k e außer sich selbst zu stellen, u n d das in einer Folge von Momenten bildend u n d s c h a f f e n d zu u m f a s s e n , w a s eine E m p f i n d u n g auffaßt, w o f ü r d a s Selbstgefühl zu b e s c h r ä n k t ist, u n d die Ichheit k e i n e n R a u m hat. 1 1 4
Erst im Rahmen eines übergeordneten Prozesses — nämlich nach der Betrachtung „vollkommenster Kunstwerke", die „dem Bildungstriebe den ersten Anstoß geben", also in der Rezeption vergangener Kunst — kommt es zur Entfaltung des Schöpfungsprozesses in die Zeit. Was gleichzeitig geahnt wird und erscheint, kann nun im Nach einander Eingang in das Kunstwerk finden, in dem es «^«einander gestellt eine Konfiguration eingeht, die das eigentliche Fassungsvermögen auch und gerade des Künstlers und seiner „Ichheit" übersteigt.115 Auch das Genie hat sich dann schließlich von seinem Werk vollständig abgelöst und muß sich dem 113 Zu diesem Begriff siehe Stanitzek: Blödigkeit, S. 61-82. 114 Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 570 f. 115 Vgl. Allkemper: Ästhetische hösungen, S. 264: „Der künsderische Akt ist eine epoche der Wirklichkeit und der Subjektivität des Künsders." Oder, noch pointierter: „[D]as bildende Genie ist eine Vortäuschung menschlicher Originalität und Freiheit" (S. 282). Allkempers Studie arbeitet die Paradoxien, die sich aus der Moritz durchaus auch eigenen Instrumentalisierung des Schönen als Mittel zur Lösung von L^OTxproblemen immer wieder ergeben, sehr präzise heraus. Seiner Arbeit läßt sich entnehmen, daß diese ästhetischen Lösungen, nimmt man sie als solche ernst, im Grunde die Gestalt einer Ideologie annehmen müssen: „die radikale Trennung der Kunst vom Leben, die Moritz vornehmen muß, bestätigt das Leben, wie es ist, dem die Kunst an sich demonstriert, wie das Leben sein sollte." (S. 290.) Damit aber scheitert das Projekt in Allkempers Augen ein Stückweit: „Die ästhetische Konzeption Moritz' zeigt daher an sich selbst, daß ästhetische Lösungen keine sind: sie können die Widersprüche zwischen Ich und Wirklichkeit, Sein und Sollen nur lösen, indem sie sie bestätigen." (S. 291.)
2. „Fingerzeige des Schönen". Der Rahmen des Kunstwerks bei Moritz und Kant
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Dilettanten ähnlich mit der Anschauung des von ihm Geschaffenen bescheiden. Die von ihm geleistete Zusammenstellung entfaltet eine Eigendynamik, in der das Werk - darauf wird erläuternd zurückzukommen sein — im Grunde seine eigene Rahmung übernimmt und sich damit auch gegenübe seinem Schöpfer isoliert. 116
b) Reine Einschnitte. Die Zweckfreiheit des Schönen bei Kant Daß Kants Ästhetik vor allem eine Ästhetik des Naturschönen ist und nicht des Kunstschönen, hat bereits einige seiner unmittelbaren Anhänger nicht zufriedengestellt. So lesen sich beispielsweise Schillers ästhetische Schriften als ein Versuch, dem Kantischen Entwurf dennoch für die künsderische Praxis Bedeutsames abzugewinnen. 117 Gleichwohl läuft auch Schillers Definition des Schönen als „Freiheit in der Erscheinung'™ auf ein Modell hinaus, das als Gelingensbedingungen des Kunstwerks nur die Auslöschung aller Spuren seiner Produziertheit angeben kann: Frei und siegend m u ß das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorscheinen und trotz allen Fesseln der Sprache in seiner ganzen Wahrheit, Lebendigkeit und Persönlichkeit vor der Einbildungskraft dastehen. Mit einem Wort: Die Schönheit der poetischen Darstellung ist freie Selbsthandlung der Natur in den Fesseln der Sprache.119
In Kants Darstellung selbst ist die Bestimmung des schönen Kunstwerks zwar auch ein Thema, doch treten die bei Schiller namhaft gemachten paradoxalen Bindungen der künstlerischen Produktion, die auch für Moritz von entscheidender Bedeutung sind, hier nicht in dieser Radikalität zutage. Das Interesse Kants liegt weniger auf der Kunst als vielmehr auf 116 Todorov beschreibt diese Figur als zeichentheorerische Innovation (Tzvetan Todorov: Symboltheonen. Tübingen 1995 [1977], insbes. S. 148-59): Die wechselseitige Bedingtheit von ,,innere[r] Kohärenζ" und „äusserer Intransitivitäf (S. 153) erzeugt das schöne Ganze als .intransitives Zeichen'. Todorov zufolge ist die Errungenschaft der Moritzschen Ästhetik die Zusammenführung dieser beiden bereits zuvor gängigen Auffassungen vom Schönen: daß es ein Ganzes sei, insofern es sich dem äußerlichen Nutzen verschließe, und daß es „aus der harmonischen Beziehung der Teile hervorgeht, aus denen der [schöne] Gegenstand zusammengesetzt ist" (S. 152). Daraus wird bei Moritz: „Gerade weil der schöne Gegenstand in keiner Weise nützlich ist, müssen seine Teile untereinander und in bezug auf das Ganze, das sie bilden, nützlich sein." (S. 153.) In Fortsetzung dieser Argumentation geht Braungart der Moritzschen Beschreibung des menschlichen Körpers als intransitives Zeichen' nach (Braungart: ,„Intransitive Zeichen'"). - Zu der in dieser Wendung implizierten Entmächtigung des Autors siehe Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie /, S. 89. 117 Siehe hierzu Frank: Einfiihrungin die frühromantische Ästhetik, S. 131 ff. 118 Friedrich Schiller: „Kallias oder Über die Schönheit. Briefe am Gottfried Körner". In: F. S.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert. Bd. 5. Darmstadt 1993 [1793], S. 394-433, S. 400. 119 Schiller: „Kallias oder Über die Schönheit", S. 433.
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der Beschreibung eines Modus der Auseinandersetzung mit der Welt, der es ermöglicht, daß wir uns der Angemessenheit unserer Erkenntnisvermögen fiür die Erkenntnis der Welt vergewissern, die die Erkenntnistheorie selbst nicht erweisen kann.120 Dabei findet das ästhetische Urteil seine Legitimation darin, daß es die gleichartige Beschaffenheit der menschlichen Erkenntnisvermögen voraussetzen darf.121 (Es rekurriert also auf ein für die Transzendentalphilosophie charakteristisches Modell von Intersubjektivität.) Die Unzufriedenheit mit dieser Interessenlage der Kantischen Ästhetik prägt noch - so möchte ich unterstellen - die Auseinandersetzung Jacques Derridas mit der „Kritik der Urteilskraft". Das mag es rechtfertigen, daß im folgenden dessen bestechende Lektüre insbesondere der „Analytik des Schönen" als Zugang zu Kants Text genutzt wird.122 Die von Moritz eingeforderte Zweckfreiheit des Schönen läßt sich zusammen mit der Kantischen Prägung der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" lesen, die Derrida im Zusammenhang mit der Problematik des Parergon bei Kant diskutiert. Kant zufolge mangelt es dem Geschmacksurteil an Objektivität: Der schöne Gegenstand kann vom menschlichen Bewußtsein gerade nicht als ein Objekt konstituiert werden, und daher geht in Kants Ästhetik das Geschmacksurteil aus einem subjektiv gegründeten interesselosen Wohlgefallen hervor; dennoch aber erhebt das Geschmacksurteil ohne Begriff Anspruch auf Allgemeingültigkeit und zielt dabei auf eine rein ,formale' Zweckmäßigkeit seiner Gegenstände ab. Damit stellt sich, wie Derrida betont, von Beginn an ein Rahmungsproblem: Jede Analytik des ästhetischen Urteils setzt ständig voraus, daß man streng zwischen dem Intrinsischen und dem Extrinsischen unterscheiden kann. Das ästhetische Urteil muß sich im eigentlichen Sinne auf die intrinsische Schönheit erstrecken, nicht auf den Schmuck und die Umgebung [...]. Man muß folglich wissen [...], wie das Intrinsische - das Eingerahmte - zu bestimmen ist, und wissen, was man als Rahmen und aus dem Rahmen herausfallend [...] ausschließt. 123
Wenn Derrida von der Kantischen Begriffsbestimmung des Schönen handelt, so legt er sein Augenmerk daher gerade auf dieses Postulat einer ,reinen' Abgrenzung des ästhetischen Gegenstandes. Bei einem reinen Geschmacksurteil muß der Einschnitt, der den schönen Gegenstand kon-
120 Siehe Wolfram Hogrebe: Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik. Freiburg München 1974. 121 Vgl. Christian Iber: „Warum bedürfen Geschmacksurteile nach Kant einer Deduktion?". Vortrag, Gießen 2005. 122 Eine sehr gute historische Einordnung und Interpretation der „Kritik der Urteilskraft" findet sich in Frank: Einßihrung in die frühromantische Ästhetik, S. 41—103. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf eine sehr spezielle Problemlage innerhalb der Kantischen Ästhetik. 123 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 84.
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stituiert, jegliches „Anhaften"124 eines Zwecks unterbinden. Für freie Schönheit zählt somit das ,ohne' in der Formulierung von der .Zweckmäßigkeit ohne Zweck'. „Über diese Spur des ohne in der Tulpe hat das Wissen nichts zu sagen",125 formuliert Derrida mit Bezug auf ein zentrales Kantisches Beispiel für freie Naturschönheit. Das ohne darf nicht einmal als Mangel erscheinen, es handelt sich um ein ohne ohne Mangel, ein „Ohne des reinen Einschnitts".126 „Die vage [d. i.: freie] Schönheit ist diejenige, die allein Anlaß zu einer Zuschreibung reiner Schönheit gibt, ist ein unbestimmtes Umherirren ohne Begrenzung, das sich zwar seinem Orientierungspunkt zuwendet, sich aber eher davon absolut abtrennt als sich seiner beraubt."127 Die Rahmung, die das reine ästhetische Urteil vornimmt, bevorzugt daher nicht nur Gegenstände des Naturschönen, sondern etwas allgemeiner Gegenstände wie „Blumen, freie Zeichnungen, ohne Absicht in einander geschlungene Züge, unter dem Namen des Laubwerks", die „nichts" bedeuten und „von keinem bestimmten Begriffe" 128 abhängen. Andere Beispiele wären „Zeichnungen ä la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen, oder auf Papiertapeten".129 Dieser auch Gegenstände des Kunstschönen einschließenden Sammlung möglicher Gegenstände reiner Schönheit wäre beispielsweise das Pferd, mit dessen Anschauung sich sogleich der Gedanke an seinen Zweck verbindet, nicht zuzuordnen. Es geht, kann man zugespitzt formulieren, an dieser Stelle um das Schöne, insofern es Ornament ist.130 Der reine Einschnitt, der den schönen Gegenstand konstituiert, ermöglicht hier ein „Umherirren ohne Begrenzung", mithin eine Bewegung der Grenzüberschreitung oder Entgrenzung. Und nur dieses Umherirren gibt Anlaß (oder Gelegenheit) zum reinen ästhetischen Urteil. Derridas untergründiges Interesse an den Konsequenzen der Kantischen Ästhetik für die Beschreibung von Kunstwerken offenbart sich im Einsatzpunkt seiner Lektüre der „Kritik der Urteilskraft". Derrida geht aus von Überlegungen zur Kantischen Prägung des Parergonbegriffs. Im 124 Derrida: Die Wahrbat in der Malerei, S. 110. 125 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 113. 126 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 105. - Im französischen Original spielt Derrida mit der Homonymie von saus (ohne) und sang (Blut). Das „Ohne des reinen Einschnitts" ist also auch das „Blut des reinen Einschnitts". Für diesen Hinweis danke ich Remigius Bunia. 127 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 115. 128 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1995 [1790]; ich zitiere Kant unter zusätzlicher Angabe der Seitenzahlen der zweiten Ausgabe von 1793 (B). Hier: S. 120 (B 11 f.). 129 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 146 (B 49). 130 Menninghaus redet von einer „ästhetischen Privilegierung der ungenannt bleibenden Arabeske" (Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. Über font, Tieck und Blaubart. Frankfurt/M. 1995, S. 101).
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Gegensatz zum Ergon selbst ist das Parergon bei Kant dasjenige, „was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks vergrößert".131 Beispiele für solche Parerga sind „Einfassungen der Gemälde, oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude".132 Derridas Lektüre zeigt, wie sich bei Kant diese äußerliche Zugehörigkeit des Parergon gleichwohl als eine dem Kunstwerk innerliche erweist.133 Das Parergon, so Derrida, ergänzt einen Mangel auf der Seite des Ergon. Das legen insbesondere die Beispiele nahe, die Kant für mögliche Parerga gibt. Sie lassen fragen, inwiefern sich dasjenige, was als Parergon „äußerlich als Zutat" dem eigentlichen Ergon beigegeben ist, überhaupt von diesem ablösen läßt.134 Offenbar nämlich wird mit dem Parergon „die Problematik der Einschreibung in einem Umfeld" verhandelt, die Problematik „des Heraustrennens des Werkes aus einem Feld [...], bei dem immer schwer zu entscheiden ist, ob es natürlich oder künstlich ist und, in letzterem Fall, ob es Parergon oder Ergon ist".135 Ein bloßes Umfeld ist kein Parergon, daher ist offenbar für ein Parergon gerade nicht seine problemlose Ablösbarkeit, sondern die Schwierigkeit des Ablösens konstitutiv. Parerga sind Parerga, ,,[n]icht weil sie sich ablösen, sondern weil sie sich schwieriger ablösen lassen und vor allem weil ohne sie, ohne ihre Quasi-Ablösung, der innerliche Mangel des Werkes zum Vorschein käme".136 Das hat Konsequenzen für die Verortbarkeit des Rahmens: Das Parergon ist zugleich vom Ergon (dem Werk) und vom Umfeld abgelöst, es hebt sich zunächst ab wie eine Gestalt vor einem Hintergrund. Aber es hebt sich davon nicht ab wie das Werk. Dieses hebt sich ebenfalls vor einem Hintergrund ab. Der parergonale Rahmen hebt sich seinerseits vor zwei Hintergründen ab, aber in bezug auf jeden dieser Hintergründe; er geht im anderen auf. Im Bezug
131 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 142 (B 43). 132 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 142 (B 43). 133 Dazu zieht er zunächst eine Parallelstelle aus Kants Schrift „Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft" heran: Kant redet dort von „1. Gnadenwirkungen, 2. Wundern, 3. Geheimnissen, 4. Gnadenmitteln" als den „Parerga der Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft": „sie gehören nicht innerhalb dieselben, aber stoßen doch an sie an." Sie sind funktional, insofern sich die Vernunft, „im Bewußtsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfnis ein Genüge zu tun" bis hin zu ihnen als „überschwänglichen Ideen" ausdehnt, „die jenen Mangel ergänzen könnten" (zit. nach Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 75). Diese Verunreinigung kann durchaus auch eine Gefährdung der „Religion in den Grenzen der reinen Vernunft" darstellen, wenn sich beispielsweise an Stelle der bloßen „vorgeblichen[n] innere[n] Erfahrung (Wirkungen der Gnade)" „Fanatismus" einstellt (zit. n. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 76). 134 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 77 ff. 135 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 78. 136 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 80.
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auf das Werk, das seinerseits als Hintergrund dienen kann, geht er in der Mauer auf, dann, nach und nach, im allgemeinen Text. Im Bezug auf den Hintergrund, den der allgemeine Text darstellt, geht es im Werk auf, das sich vor dem allgemeinen Hintergrund abhebt. 137
Weder kann das Parergon dem Umfeld zugerechnet werden, noch könnte das Innere, das Ergon, seiner entbehren: „Das Parergon tritt dem ergon [...] zur Seite und ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Außen her, im Innern des Verfahrens mit".138 Das Parergon emanzipiert sich mithin in zweierlei Hinsicht vom Ergon: Einerseits erhält es gerade aufgrund seiner Randständigkeit eine zentrale Funktion für dessen Konstitution, andererseits avanciert es, was den Bereich des Kunstschönen angeht, zum privilegierten Bezugspunkt reiner ästhetischer Urteile. Gerade weil es ein schwer zu verortendes Dazwischen markiert, kann das Parergon (als Grenzregion) ein Gegenstand von freier Schönheit sein. Hier ist also jene Rahmensetzung möglich, die Derrida in Zuspitzung des Kantischen Arguments als das „Ohne des reinen Einschnitts" bezeichnet. Wenn „alle zweckmäßige Organisation schön" ist, „die nichts bedeutet, nichts zeigt, nichts vorstellt, die ohne Thema und Text [...] ist", dann bezeichnet „das Parergon den Ort und die Struktur der freien Schönheit".139 Insofern beispielsweise „Laubwerk an Einfassungen" in diesem Sinn bedeutungslos ist, kann die Einfassung als Parergon „an der Befriedigung des reinen Geschmacks teilhaben".140 Das Parergon wird damit, so Menninghaus in Fortsetzung des Derridasehen Arguments, zum „Nutznießer einer negativ-parasitären Ökonomie". Denn die Parerga beziehen ihre Freiheit nicht positiv von den ,eigentlichen' Werken, wohl aber daraus, daß diese ihnen die Bindung an einen Zweck und eine Absicht ersparen [...]. [...] Die Parerga sind [...] in dem doppelten Sinne parasitär, daß sie räumlich daneben, neben dem Werk gelegen sind und zugleich funktional von dieser Para-Lage profitieren [...]. Nur als Parergon, als Zutat zu sich selbst vermag Kunst auf eine „reine" Weise schön zu sein, ohne täuschen zu müssen. Das freie Spiel der Gemütskräfte wird möglich, indem das Schöne [...] aus dem Werk in seine Rahmungen exiliert. Das arabeske „Laubwerk zu Einfassungen" und seine Analoga verweisen bei Kant daher in ihrem Nichts-Bedeuten, ihrer Begriffslosigkeit und ihrer Differenz zur Vorstellung - ja als die Bedingung der Möglichkeit dieser Α-Signifikanz und begriffslosen Nicht-Repräsentativität - zugleich auf eine radikale Aufwertung der Ränder, Rahmungen und Abschweifungen von den eigentlichen Werken. 141
137 138 139 140 141
Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 82. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 74. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 120. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 121. Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 106 f.
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Für sich betrachtet kann das Parergon in einem reinen Sinn als schön beurteilt werden, gerade weil es nicht für sich, sondern für das Ergon da ist, diese Beziehung aber unsichtbar bleibt, insofern das Werk (scheinbar) auch ohne das Parergon bestehen kann.142 Was aber leistet das Parergon, wenn es nicht in seiner merkwürdigen Freigestelltheit beobachtet wird, sondern eben doch in seiner Beziehung zum Ergon? Kant selbst stellt fest, daß diese Beziehung bestimmten Restriktionen unterworfen ist: „Besteht aber der Zierat nicht selbst in der schönen Form, ist er, wie der goldene Rahmen, bloß um durch seinen Reiz das Gemälde dem Beifall zu empfehlen angebracht: so heißt er alsdann Schmuck, und tut der echten Schönheit Abbruch."143 In ihrer Nähe zu der in 1.4 angeführten Äußerung Poussins zeugt diese Stelle von der äußerst komplexen und fragilen Eigenständigkeit des schönen Kunstwerks, die sich in der schwierigen Bestimmbarkeit seines Rahmens niederschlägt. Was aber bedeutet die von Menninghaus konstatierte Aufwertung des Rahmens in seiner „begriffslosen Nicht-Repräsentativität" umgekehrt für das Werk? Worin besteht, mit Derrida zu sprechen, der innere Mangel des Ergon, an dessen Kompensation das Parergon offenbar beteiligt ist? Zur Beantwortung dieser Fragen muß genauer untersucht werden, ob und wie dem Kunstwerk Kant zufolge jene parergonale Dimension innewohnen kann, an der das reine Geschmacksurteil ansetzt. Kant beschäftigt sich mit dem Kunstschönen vor allem in der „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile": „Eine Natur Schönheit ist ein schönes Ding, die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge."144 Dabei muß immer „zuerst ein Begriff von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding sein soll".145 Der bereits in der „Analytik des Schönen" entfaltete Begriff der „anhängende [n] Schönheit (pulchritudo adhaerens)"146 greift auf diese Konstruktion bereits vor: Kant verweist darauf, daß das Schöne an einem nur anhängend schönen Gegenstand in einer dem Parergon funktional äquivalenten Struktur zu suchen sein dürfte - die Schönheit ,hängt an'. Anhängende Schönheit „setzt einen Begriff vom Zwecke voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll, mithin einen Begriff seiner Vollkommenheit",147 heißt es mit Bezug auf die Schönheit beispielsweise
142 In diesem Sinn ist, wie wiederum Menninghaus formuliert, „Kants Einsicht in die Autonomie des Ästherischen [...] wesentlich eine Einsicht in die Para-Heteronomie dieses zentralen Phantoms der modernen Ästhetik." (Menninghaus: Leb des Unsinns, S. 108.) 143 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 142 (B 43). Hierzu vgl. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 86. 144 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 246 (B 188). 145 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 247 (B 188). 146 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 146 (B 48). 147 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 146 (B 48).
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eines Menschen, Pferdes oder Gebäudes. Jene Struktur also, die auch beim darstellenden Kunstwerk oder allgemein im Falle anhängender Schönheit dennoch ein Geschmacksurteil ermöglicht, mithin ein „Umherirren ohne Begrenzung", ist unmittelbar verknüpft mit der begrifflichen Bestimmung des dargestellten Gegenstandes. Nur dem der eigentlichen' Darstellung (einer Art Ergon?) ^Anhängenden' (also einer Art parergonaler Struktur?) kann Schönheit zugeschrieben werden; in diesem Sinn ergänzt es in der Tat einen der Darstellung innewohnenden Mangel. 148 Kant selbst stellt keinen expliziten Zusammenhang her zwischen dem Parergonalen und der Struktur anhängender Schönheit: Das Parergon wird separat und nicht in seinem möglichen Bezug auf das und im Vergleich zum Ergon analysiert, wie auch Derrida anmerkt: Das Laubwerk wird hier an sich selbst betrachtet, als Gegenstand und nicht als Zubehör. Wenn es der Bedeutung und der Vorstellung enträt, so hat das überhaupt nicht mehr den Stellenwert wie beim Rahmen. Der Rahmen bedeutet nicht, und damit Schluß, scheint Kant zu denken. Es läßt sich bei ihm keine Bedeutung absehen, nichts am Rahmen ist zweckgerichtet oder läßt sich auf einen Zweck richten. 149
Die „Analytik des Schönen" hat den Rahmen vom Werk abgetrennt, ohne zu fragen, inwiefern er vielleicht auch eine „Bewegung der Bedeutung und der Vorstellung eröffnet" 150 und damit in das Ergon als einen Gegenstand anhängender Schönheit eingebunden ist.151 Die spärlichen Andeutungen über das Verhältnis von Rahmen und Gerahmtem beschränken sich dann auch auf die Forderung der Angemessenheit im rhetorischen Sinn. So werden beispielsweise eventuell vorhandene ,Zusätze' an Gegenständen von anhängender Schönheit, wie Kant sie behandelt, als dem Begriff des 148 Es ergibt sich damit, wie Derrida formuliert, im Vergleich zwischen den Kantischen Bestimmungen der freien und der anhängenden Schönheit ein „Chiasmus": Der Tulpe als einem Gegenstand von freier Schönheit mangelt es „an nichts, weil es ihr an Zweck mangelt", sie sei zugleich absolut vollkommen und „absolut unvollständig", insofern absolut von ihrem „Zweck abgeschnitten". Demgegenüber läßt sich ein Gegenstand von anhängender Schönheit, hier ein Gerät, „in dem Maße, wie es unvollständig ist, [...] unter dem Begriff seiner Vollkommenheit ergreifen". Will sagen: Ein unvollständiges Gerät wird dennoch immer auf den Begriff seiner Vollkommenheit bezogen bleiben, ein reiner Einschnitt, wie er den Gegenstand von freier Schönheit erzeugt, ist hier nicht möglich. „Das durchlöcherte Gerät ist vollständig, weil unvollständig, die Tulpe ist unvollständig weil vollständig. Aber das Gerät bleibt unvollständig, weil ein Begriff es erfüllen kann. Diese Tulpe ist zuvor vollständig, weil der Begriff sie nicht ausfüllen kann." (Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 117.) Ähnliches, so wäre zu folgern, gilt für Ergon und Parergon als Gegenständen von anhängender bzw. freier Schönheit. 149 Derrida: Die Wahrheit in der Malern, S. 121. 150 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 121. 151 Vgl. auch Menninghaus: Kant „interessiert sich überhaupt nicht mehr für die Rückwirkungen des Rahmens auf das Gerahmte" (Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 107).
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Gegenstandes nicht angemessen abgelehnt: „Man würde vieles unmittelbar in der Anschauung gefallende an einem Gebäude anbringen können, wenn es nur nicht eine Kirche sein sollte".152 Der quasi-parergonale Anteil eines jeden Kunstwerks als eines Gegenstandes von anhängender Schönheit bleibt noch unbestimmter als immerhin benennbare Parerga wie das „Laubwerk von Einfassungen". Weil nämlich das Kunstwerk bzw. jeder Gegenstand von anhängender Schönheit auf die Darstellung eines Begriffs ausgerichtet ist153 - auch das ist ein Moment von Rahmung kann das Parergonale als Träger desjenigen Moments freier Schönheit, das im Gegenstand der anhängenden Schönheit verortet werden kann, überhaupt nicht mehr separat beobachtet werden. Darüber hinaus wird beispielsweise in Kants Beschreibung eines möglichen ,,Ideal[s] des Schönen", d. h. eines fixierten ,,Urbild[s] des Geschmacks [...] in einzelner Darstellung",154 zur Voraussetzung gemacht, daß diesem seinerseits kein weiteres Parergon anhängen darf: Als „Ideal des Schönen", so Kant, kann nur die Darstellung eines Menschen dienen, des einzigen Wesens also, das „den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat".155 In diesem Fall aber würde sich jedes sichtbare Parergon, beispielsweise also jedes Gewand, verbieten.156 Im schönen Kunstwerk, das zugleich als Kunst und als Natur angesehen werden muß — „die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht"157 - , ist also ein parergonales Moment wirksam, das in den Kantischen Beispielen der Parerga nicht vorkommt und mit dem ,äußeren' Rahmen der Kunstwerke nichts zu tun hat. Es entfaltet sich vielmehr - in einem „paradoxefn] Modus der Steigerung qua Verunreinigung"158 — gerade mit und in der Vorstellung,159 nicht im Nichts-Bedeutenden. Um dieses im Innern des Kunstwerks wirksame parergonale Moment zu fassen, führt Kant den Begriff der „ästhetische [n] Idee"160 ein. Diese eignet zwar Kant zufolge 152 153 154 155 156 157 158 159 160
Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 147 (B 50). Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 148 (B 51). Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 150 (B 55). Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 151 (B 55). Zur Frage der Gewänder an Statuen, damit aber zur Frage des Parergons in Herders Ästhetik siehe die sehr aufschlußreichen Ausführungen in Binczek: Kontakt, S. 378-406. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 214 (B 180). Vgl. die oben zitierte Formulierung Schillers. Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 106. Vgl. die bereits zitierte Definition der „Kunstschönheit" als einer „schönen Vorstellung von einem Dinge". ,,[D]ie ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigegebene Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einem Begriff viel Unnennbares hinzu den-
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jedem schönen Gegenstand. Die bloße Tatsache aber, daß Kant erst in der Diskussion des Kunstschönen auf sie zu sprechen kommt, verweist darauf, daß der Begriff hier gebraucht wird, um das über den dargestellten Begriff Hinausreichende des Kunstwerks zu benennen. (Umgekehrt ließe sich daraus folgern, daß dann auch das nichts-bedeutende Parergon als Gegenstand eines reinen Geschmacksurteils eine ästhetische Idee entfalten muß. 161 ) Diese ästhetische Idee ist nun im Falle des Kunstschönen mit einer Vorstellung verbunden, d. h. der Begriff des Dargestellten ist selbst Anlaß jener Bewegung, jenes ,freien Spiels' der Erkenntniskräfte, das das Geschmacksurteil ausmacht. 162 Dabei leistet paradoxerweise der Begriff, dem nach Kant das Dargestellte zu entsprechen hat, die Isolation, also die äußere Rahmung desjenigen, auf das sich das Geschmacksurteil zu beziehen hat. Er sorgt für die Unterscheidbarkeit dessen, dem dasjenige anhängt, was die eigentliche Schönheit dann ausmacht. Gleichwohl ist mit dem Begriff die zu treffende Unterscheidung zwischen dem Intrinsischen und dem Extrinsischen des schönen Gegenstandes noch nicht gegeben, sondern sie wird ins Innere des qua Begriff isolierten Gegenstandes verlegt. Die „ästhetische Idee", auf die es ankommt, ist eben nicht aus dem Begriff des Dargestellten abzuleiten. Handelt es sich doch — im Gegensatz zu einer Vernunftidee, die ein Begriff ist, der nicht anschaulich gemacht werden kann - um eine Anschauung, die nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Die intrinsische Rahmung des schönen Kunstwerks wird (anders als die durch den Begriff gegebene extrinsische Rahmung) von der ästhetischen Idee geleistet und von der parergonalen Struktur, die dem Kunstwerk innewohnt, veranlaßt werden müssen. Die Differenz von Ergon und Parergon ist insofern auch im Inneren dieses (unreinen) Geschmacksurteils wirksam. 163
ken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belegt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet." (Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 253; Β 197.) 161 Vgl. dagegen Menninghaus: „Zwar werden beide Kunstschönheiten [...] gleichermaßen auf unbestimmte Begriffe bezogen, aber diese Unbestimmtheit neigt jeweils zu entgegengesetzten Seiten: im Fall der .eigentlichen' künstlerischen Hervorbringungen des Genies eröffnet sie gerade die unendliche Bedeutsamkeit der ästhetischen Idee; im Fall der Parerga und nur bei ihnen — spricht Kant dagegen explizit von einem ,Nichts-Bedeuten'." (Menninghaus: hob des Unsinns, S. 107.) 162 „Man kann überhaupt Schönheit (sie mag Natur- oder Kunstschönheit sein) den Ausdruck ästhetischer Ideen nennen: nur daß in der schönen Kunst diese Idee durch einen Begriff vom Objekt veranlaßt werden muß, in der schönen Natur aber die bloße Reflexion über eine gegebene Anschauung, ohne Begriff von dem was der Gegenstand sein soll, zur Erweckung und Mitteilung der Idee, von welcher jenes Objekt als der Ausdruck betrachtet wird, hinreichend ist." (Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 257 f.; Β 204; Hervorhebung von mir.) 163 Weshalb gerade auch „Nebenvorstellungen der Einbildungskraft" (Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 251; Β 195), nämlich die „ästhetischen Attribute der Gegenstände [...], welche den
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c) „Vom Isoliren". Der doppelte Rahmen der Kunst Moritz' Ästhetik läßt sich auf Kants Ausführungen zum Kunstschönen beziehen.164 Beide beschreiben in sehr radikaler Weise — wenn auch mit unterschiedlicher gegenständlicher Orientierung - die Isolierung des ästhetischen Gegenstands.165 Allerdings interessieren Moritz gerade auch mögliche Wechselwirkungen zwischen Rahmen und Werk, insbesondere zwischen dem Parergon und jenem von Kant als „ästhetische Idee" beschriebenen quasi-parergonalen Anteil des Ergon selbst.166 Das wird besonders deutlich an Moritz' ausfuhrlicher und ausgesprochen innovativer Auseinandersetzung mit der Ornamentik,167 die er einerlogischen zur Seite gehen" (S. 252; Β195 f.) eine „ästhetische Idee" geben und damit einer undarstellbaren „Vernunftidee statt logischer Darstellung" (S. 146; Β 195) dienen können. 164 Szondi geht davon aus, Moritz sei „auf dem Gebiet der ,reinen' Ästhetik [...] in genialer Weise zum Vorläufer Kants" geworden (Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I, S. 85 f.). In den folgenden Betrachtungen kommt seine Theorie weniger als Präfiguration der Kantischen Ästhetik in den Blick als vielmehr als deren Ergänzung in einem von Kant weniger beachteten Punkt - was durchaus im Sinne Szondis ist, der Moritz abschließend als Wegbereiter einer „Realästhetik" würdigt: „Einen wichtigen Unterschied [zwischen Kant und Moritz] wird man darin erblicken dürfen, daß Kants Zweckmäßigkeit ohne Zweck ein Phänomen der Empfindung, nämlich das freie Spiel der Erkenntniskräfte meint, also im Rahmen der Wirkungsästhetik verbleibt, während die innere Zweckmäßigkeit, von der Moritz spricht, eine des Kunstwerks ist, die gerade in ihrer Objektivität, ohne Bezugnahme auf das aufnehmende Subjekt, wenngleich nur durch dieses festgestellt werden kann." (S. 97.) 165 Siehe hierzu sehr ausführlich den zweiten Teil der Dissertation von Sabine M. Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritζ' und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. Würzburg 1998, S. 172—267, sowie auch Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne", S. 353—56. Schneider zieht vielfältige Verbindungen zur Anthropologie und zu den Humanwissenschaften des letzten Drittels des Jahrhunderts. 166 Zum Verhältnis zwischen der Kantischen und der Moritzschen Ästhetik in diesem Punkt siehe Pfotenhauer: „Klassizismus und Ornament", S. 59 f. 167 Es gilt indes zu würdigen, daß schon Moritz' vorbehaltlose Auseinandersetzung mit dem Ornament den ornamentkritischen Diskussionen des Klassizismus seit 1750 gegenüber eine enorme Aufwertung des Ornamentalen bedeutet: Moritz „Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente" markiert mithin geradezu einen Umbruchpunkt (Pfotenhauer: „Klassizismus und Ornament", S. 56-59, Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne"). Das kann der Vergleich mit den Beiträgen beispielsweise von Friedrich August Krubsacius zeigen (hierzu Kroll: „Zur Problematik des Ornaments im 18. Jahrhundert", S. 68-75, Pfotenhauer: „Klassizismus und Ornament", S. 43-47). Pfotenhauer und Schneider haben dargelegt, daß das Ornament für den Klassizismus insofern zum Problem wird, als es die in sich geschlossene Form, den schönen Kontur eben, stört (siehe hierzu Pfotenhauer: „Klassizismus und Ornament", Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne"); es steht einer klassizistisch motivierten Kunstautonomie in diesem Sinn geradezu im Weg. Zugleich aber wird das Ornament im 18. Jahrhundert - und entsprechend deutet Kant schließlich das Parergon - zum Übungsplatz einer autonomen Einbildungskraft (vgl. hierzu auch Raulet: „Ornament und Geschichte", S. 26, S. 37 f.). Auch der Klassizismus muß, nicht nur aufgrund der Tatsache, daß auch die antiken Vorbilder Ornamentik aufweisen, sondern schlicht deshalb, weil es zunehmend schwer fallt, die autonome schöne Form ohne Rückgriff auf die Begrifflich-
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seits in der Eigenständigkeit ihrer Formensprache ernstnimmt, der er andererseits aber zunächst eine untergeordnete Funktion zuweist: Sie habe eine nur dienenden Funktion, da sie ja nichts bedeute.168 Worin aber besteht diese dienende Funktion? Insbesondere Zierat übernimmt Moritz zufolge die Aufgabe, schöne Gegenstände von der Umwelt zu isolieren,169 eine Aufgabe, die grundlegend für Bildung überhaupt ist, wie es unter der Überschrift „Vom Isoliren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt"170 heißt: In dem Begriff des Isolirens, des Aussonderns aus der Masse, beruhet alle Bildung, und unterscheidet dadurch allein sich von der Zufälligkeit. Je mehr etwas sich selber isoliert, seinen eigenen Umriß um sich zieht und seinen Schwerpunkt in sich selber hat, desto weniger ist es zufällig, desto weniger fällt es zu etwas anderm und vermischt sich damit. - 1 7 1
Aller Ornamentik, allem Zierat kommt eine solche rahmende Funktion zu. „Aus dem Grundsatze des Isolirens, des Heraushebens aus der Masse, las-
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keiten des Ornamentalen zu beschreiben, dem Ornament eine gewisse Berechtigung zuschreiben. Vor diesem theoretischen Hintergrund entwickeln sich heftige Kontroveren über den zeitgenössischen Hang zur Ornamentik (siehe ausführlich Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne", Kroll: „Zur Problematik des Ornaments im 18. Jahrhundert"). Oesterle sieht im Ornament, insbesondere in der Arabeske, eine Struktur, die gleichsam als eine ,Kippfigur' den Ubergang von Klassizismus zu Romantik ermöglicht. Hier werden, so Oesterle, „die Spielregeln klassizistischer Ästhetik und die Notwendigkeit oder wenigstens Möglichkeit des Übertritts zur Romantik plausibel" (Oesterle: .„Vorgriffe zu einer Theorie der Ornamente'", S. 124). Die zentrale Stellung, die das Ornamentale in der ästhetischen Diskussion zwischen Klassizismus und Romantik einnehme, erkläre sich daraus, daß hier die diesen Bewegungen gemeinsame Ausgangssituation verhandelt werde, nämlich das Postulat ästhetisch autonomer Kunst, das sich insbesondere im Nachweis der Grenze des ästhetischen Gegenstandes zu bewähren habe. Dies mag zwar als Nachwirkung des alten Nachahmungsgebots verstanden werden demzufolge nur dasjenige, was etwas in der Natur Gegebenes darstellt, etwas bedeutet und daher .zählt' —, doch wird sich zeigen, daß Moritz die Ornamente in ihrer .dienenden' Funktion gleichwohl in ein radikal autonomieästhetisches Konzept einbindet. So betont schon Menninghaus, daß bei Moritz das Ornament die Funktion des Rahmens des autonomen Kunstwerks hat, aber zugleich an dessen Autonomie partizipiert. Nur darf es nicht Hauptsache werden, denn die klassizistische Einheit des Mannigfaltigen muß gewahrt bleiben. „Als Kunst der Grenze soll der arabeske Rahmen die Identität des Kunstwerks, das Feld seiner Autonomie bestätigen und bestärken." (Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 100.) Oesterle sieht daher einen engen „Funktionszusammenhang" mit dem Begriff des Umrisses bzw. des Konturs (Oesterle: „,Vorgriffe zu einer Theorie der Ornamente'", S. 121). Karl Philipp Moritz: „Zufälligkeit und Bildung. Vom Isolieren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt". In: Κ. P. M.: Schriften ^ur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962 [1789], S. 116-17. Der oben angeführte Titel ist der Titel der ersten Fassung, die 1789 erschien, dies derjenige der zweiten Fassung von 1793. Moritz: „Zufälligkeit und Bildung", S. 116.
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sen sich die Ornamente am natürlichsten erklären."172 Sie sollen „unsre Aufmerksamkeit mehr auf die Sache selbst"173 hinheften, „so daß wir bei ihrem bloße Anblick gern verweilen", 174 und, so lautet eine der „Anwendungen] des Begriffs vom Isoliren auf die Verzierungen":175 „Der Rahmen ziert ein Gemälde, weil er es isolirt, es aus der umgebenden Masse der übrigen Dinge heraushebt, und es als einen vorzüglichen Gegenstand der Aufmerksamkeit uns darstellt."176 Damit hat der Rahmen als Ornament diesem gegenüber eine dienende Funktion, ist als „Zierrat" das „gleichsam überflüssige an einer Sache".177 Moritz beharrt auf dieser Einschränkung und redet von einer Art Schwellen- oder auch Stufenfunktion des Rahmens: Die Schönheit des Rahmens und die Schönheit des Bildes fließen aus ein und demselben Grundsatze. — Das Bild stellt etwas in sich Vollendetes dar; der Rahmen umgrenzt wieder das in sich Vollendete. Er erweitert sich nach außen zu, so daß wir gleichsam stufenweise in das innere Heiligthum blicken, welches durch die Umgrenzung schimmert. 178
Auch wenn ,eigentlich' das Bild bereits „etwas in sich Vollendetes" darstellt, kann der Rahmen als Grenzregion zwischen ihm und der staunenden Umwelt vermitteln, indem er seine Schönheit ,durchschimmern' läßt. Wirklich notwendig aber wäre der Rahmen eigentlich nicht, wie das Beispiel eines mißlungenen Exemplars zeigt: „Durch den Werth und Umfang des Gemähides zeichnet die Grenzlinie sich von selber, wo der Rahmen ein plumpes, überladenes Ansehen erhalten und das Ganze dadurch wie erdrückt scheinen würde." 179 172 Karl Philipp Moritz: „Verzierungen. Der Rahmen". In: Κ. P. M.: Schriften ^ur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962 [1792 f.], S. 209-10, S. 209. Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Verzierungen" (1792 f.), dann unter dem Titel „Der Rahmen" (1793). 173 Karl Philipp Moritz: „Die Säule. Sind die architektonischen Zierrathen in den verschiedenen Säulenordnungen willkührlich oder wesentlich?". In: Κ. P. M.: Schriften ^ur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962 [1789], S. 109-12, S. 109 f. Dieser Text erschien zuerst 1789 unter dem Untertitel. Der Obertitel gehört zu einer weiteren Fassung aus dem Jahre 1793. 174 Moritz: „Zufälligkeit und Bildung", S. 110. 175 Moritz: „Zufälligkeit und Bildung", S. 117. 176 Moritz: „Zufälligkeit und Bildung", S. 117. 177 Moritz: „Zufälligkeit und Bildung", S. 109. 178 Moritz: „Verzierungen", S. 210. 179 Moritz: „Verzierungen", S. 210. - Vgl. hingegen Franke: „Das moderne Ornament konterkariert so gesehen das Wechselspiel von Begriff, Form und Funktion, das die antike Ornamentik auszeichnet und das, wie ich dargelegt habe, in den Augen von Moritz ihre Schönheit und ästhetische Autonomie ausmacht. Der für die Autonomie des Ornaments ebenfalls maßgebliche Grundsatz des Isolierens aber ist auf die moderne Ornamentik so anzuwenden, daß solche Formen isoliert, herausgehoben werden, deren Mannigfaltigkeit durch keinen Einheitspunkt gebunden erscheint. [...] Die .Gesetze der Schönheit', die an
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Diese Spezifizierungen der Funktion des Rahmens betreffen auch mögliche Wechselwirkungen zwischen Ergon und Parergon. Um dies zu sehen, gilt es, die in der Zusammenstellung der Zitate sinnfällig werdende komplexe Örtlichkeit des Rahmens, die derjenigen des Kantischen Parergons vergleichbar ist, zu beschreiben: Der Rahmen isoliert das Bild, hebt es hervor, markiert eine Schwelle — zugleich aber wird angedeutet, daß das Bild sich durchaus auch selbst von seiner Umgebung abschließen kann, falls der Rahmen „das Ganze" durch seine Plumpheit erdrückt. Ist es doch ein Gegenstand von Bildung, von dem man annehmen darf, daß es „seinen eigenen Umriß um sich zieht". Es stellen sich also dieselben Fragen wie beim Parergon: Ist der Rahmen Teil des Ganzen oder nicht? Wer zieht wann die Grenze? Das Bild oder der Rahmen? Welchen Status hat die vom Bild selbst gezogene Grenzlinie? Auch gilt es, auf die Formulierung, durch den Rahmen schimmere die Schönheit des Gerahmten hindurch, ein genaueres Augenmerk zu legen: Denn ist nicht Schönheit gerade als dasjenige definiert, was klar an der Oberfläche zutage liegt? Liegt im bloßen Durchschimmern demgegenüber nicht schon eine Depotenzierung des Schönen? Festzuhalten ist zur zweiten Frage, daß jenes Durchschimmern der im Ergon entfalteten Schönheit durch den Rahmen hindurch im Grunde nur etwas wiederholt, was sich im Kunstschönen immer schon vollzieht, das ja ebenfalls das höchste Schöne, das unverfiigbare Naturganze nie vollständig entfalten kann und sich daher selbst in gewisser Weise immer nur im Durchschimmern konstituiert. So heißt es beispielsweise in „Die Signatur des Schönen", die „Schönheit der menschlichen Gestalt" lasse „die innewohnende Vollkommenheit der Natur [...] durch ihre zarte Oberfläche schimmern". 180 Der ästhetische Schein, dessen Autonomie in Moritz' Texten begründet wird, ist ja gerade einer, der sich auf ein Durchschimmern beschränkt. So ermöglicht vielleicht die äußere Isolation des Kunstwerks durch Ornamentik jenes Durchschimmern des .großen Ganzen' im Kunstwerk. 181
den griechischen Kunstwerken orientiert sind, reichen daher für die Beschreibung der modernen Ornamentik nicht mehr aus." (Ursula Franke: „Bausteine fur eine Theorie ornamentaler Kunst. Zur Autonomisierung des Ornaments bei Karl Philipp Moritz". In: U. F., Heinz Paetzold (Hgg.): Ornament und Geschichte. Studien s>um Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Bonn 1996, S. 89-106, S. 104 f.) 180 Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 581. 181 Allkemper bringt den paradoxalen Status, den das Kunstwerk in seiner metaphysischen Bedeutung erlangt, sehr pointiert zum Ausdruck: „Das eingeschränkt schöne Ganze [das Kunstwerk] muß zugleich als Teil des übergeordneten Ganzen [des Universums] und als Ganzes bestimmt werden, wenn es eine Letztbegründung erfahren soll." (Allkemper. Ästhetische Lösungen, S. 271., vgl. auch S. 272 f.)
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Wie aber verhält sich diese Struktur eines im Kunstwerk durchschimmernden' Naturganzen zu derjenigen, die im Rückgang auf Kants Text als interne parergonale Struktur des Kunstwerks beschrieben wurde? Vielleicht könnte man sagen, daß die durch den Begriff vermittelte Unterscheidung, die nach Kants Modell im Kunstwerk als einem Gegenstand von anhängender Schönheit strukturbildend ist, in der Moritzschen Konstruktion durch die äußere Rahmung des Kunstwerks geleistet wird. Wenn bei Kant die Differenz von Ergon und Parergon, Rahmen und Gerahmtem dank der begrifflichen Rahmung in das Kunstwerk eintritt, ist vielleicht also Menninghaus' zusammenfassende Aussage zu Kant, ,,[s]treng formal betrachtet" beruhe „die Möglichkeit einer rein ästhetischen Schönheit der Kunst [...] auf nichts anderem als [der] Etablierung und dem Prozessieren der Differentζ von Ergon und Parergon",182 auch für Moritz gültig. Angesichts der Tatsache, daß bei Moritz die Funktion der Parerga für die Isolation des Ergon anders als bei Kant explizit erörtert wird, ist zumindest zu erwarten, daß sich anhand seiner ästhetischen Theorie deutlicher sagen läßt, wie die „Etablierung" und das „Prozessieren der Differenz von Ergon und Parergon" am Kunstwerk vollzogen werden können. Moritz unterscheidet drei Stufen der Rezeption des Kunstwerks: Erstens die äußere Rahmung des Kunstwerks, wie sie beispielsweise rahmende Ornamente bereitstellen können (bei Kant der Begriff des Dargestellten), zweitens eine Bewegung fortgesetzter Unterscheidungen am Kunstwerk, wie sie Menninghaus für Kant als „Prozessieren der Differenz von Ergon und Parergon" beschreibt, und drittens die Etablierung jener emergenten Differenz zwischen Rahmen und Gerahmtem, die den Durchblick auf die Vollkommenheit der Natur ermöglicht. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung wird deutlich, wenn man die oben rekonstruierten, auf literarische Kunstwerke bezogenen rezeptionstheoretischen Überlegungen mit denen zur genialischen Produktion des Kunstwerks zusammendenkt. Denn im sequentiellen Eintragen und Nebeneinanderstellen emergiert im einen -wie im anderen Fall das Schöne als etwas, das der Quelle, von der die Eintragung ausging, /zugeordnet ist. Dies ist der Punkt, an dem die Moritzsche Produktionsästhetik in eine Rezeptionsästhetik umschlägt und erkennbar wird, daß die zeitliche Struktur, die dem Schaffensprozeß eignet, auch für die Rezeption autonomer Kunst entscheidend ist.183 Der materielle Rahmen, jenes Parergon also, dessen Bei182 Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 107 (Hervorhebung von mir). 183 In der Konturierung der Moritzschen Ästhetik als Rezeptionsästhetik folge ich dem Anliegen von Friedrich Vollhardt: „Das Kunstwerk als ein ,in sich selbst Vollendetes'. Zur Entstehung und Wirkung der Autonomieästhetik in Deutschland". In: Konrad Adam (Hg.): Kongnß Junge Kulturwissenschaft und Praxis: Kreativität und Leistung — Wege und Irrwege der Selbstverwirklichung. Köln 1986, S. 79-85.
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spiel bei Kant das „Laubwerk von Einfassungen" ist, wirkt - solange die Betrachtung (bzw. Produktion) eines Kunstwerks noch nicht im Moment des Erscheinens der Schönheit kulminiert ist — als ein Moment äußerer Isolation, d. h. extrinsischer Rahmung. Er stellt sicher, daß der Beobachter des Kunstwerks seinen Blick so wendet, daß er auf der Oberfläche des Kunstwerks jene innere Verweisstruktur entdeckt, die die innere Schließung des Kunstwerks, d. h. seine intrinsische Rahmung, überhaupt erst bewirken kann. Er gibt, ähnlich wie im Produktionsprozeß die Tatkraft, Anlässe und Gelegenheiten dazu, das Schöne aus dem Kunstwerk heraus zu entfalten, er entspricht als jenem „bloß andeutenden Fingerzeige auf den Inhalt", über den hinaus — wie zu Beginn bereits ausgeführt wurde — das Schöne als Ganzes „keiner weiteren Erklärung und Beschreibung mehr bedarf'. 184 Im fortgesetzten Verfolgen der im Kunstwerk arrangierten Verweise, deren Bestandteile jeweils für sich so beobachtet werden, als erhielten sie ihre Bedeutung aus den übrigen Bestandteilen, kann es dann zum „höchsten Genuß", zur Emergenz ästhetischer Ganzheit, innerer Schließung und intrinsischer Rahmung kommen - und damit emergiert letztlich die Möglichkeit eines ästhetischen Urteils, das zwar eigentlich nur im Kopf des Rezipienten statthat, aber immer auf das materielle Kunstwerk zurückprojiziert wird. So präzise ist die Moritzsche Formulierung hinsichtlich literarischer Rezeption zu verstehen, daß „die Worte, mit der Spur, die sie in der Einbildungskraft zurücklassen, zusammengenommen" das Schöne ausmachten.185 Will man das Schöne im literarischen Kunstwerk bemerken, ist also eine Art ,Überblendung' der eigentlich nur im Nacheinander möglichen Abfolge von Beobachtungen in ein gleichsam virtuelles Nebeneinander notwendig. In diesem Sinn läßt sich die Konstruktion des genialen Schaf184 Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 581. 185 Übrigens entspricht diese Art der Rezeption ziemlich genau der Art und Weise, wie Prokne das Gewand ihrer Schwester Philomene ,liest': „Als Philomene ihrer Zunge beraubt war, webte sie die Geschichte ihrer Leiden in ein Gewand, und schickte es ihrer Schwester, welche es auseinander hüllend, mit furchtbarem Stillschweigen, die gräßliche Erzählung las. Die stummen Charaktere sprachen lauter als Töne, weil schon ihr bloßes Dasein von dem schändlichen Frevel zeugte, der sie veranlaßt hatte." (Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 579.) — Dieses Beispiel ist zentral für die Interpretationen von Helmut Pfotenhauer: ,„Die Signatur des Schönen' oder ,In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?' Zu Karl Philipp Moritz und seiner italienischen Ästhetik". In: Η. P. (Hg.): Kunstliteratur als Italienerfahrung. Tübingen 1991, S. 67—83, Irmela Marei Krüger-Fürhoff: „,Die abgelöste Zunge sprach durch das redende Gewebe.' Kunstautonomie, Gewalt und der Ursprung der Dichtung in Karl Philipp Moritz' Die Signatur des Schönen oder In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?'. In: Stephan Jaeger, Stefan Willer (Hgg.): Das Denken der Sprache und die Peiforman% der Literatur um 1800. Würzburg 2000, S. 95—112, und Campe: „Zeugen und Fortzeugen" (siehe auch VII.3).
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fensprozesses, die zu jener (latent selbstzerstörerischen) Unterordnung unter das Schöne führt, als Beschreibung der Struktur jeglicher adäquaten Beobachtung von Kunst lesen. Sie zielt ab auf einen fruchtbaren Moment, in dem Empfindungskraft und Bildungskraft einander augenblicklich ergänzen und der Betrachter des Kunstwerks die in seine Einbildungskraft eingeschriebenen Spuren als in sich geschlossene Verweisstruktur überblickt. In diesem Moment emergiert die Zuschreibung einer Rahmung, die von dem ,materiellen' (und als solcher in der Tat eventuell entbehrlichen) Rahmen in gewisser Hinsicht absehen muß: Diese Rahmung nämlich muß vom Beobachter zugleich selbst konstruiert und dem Kunstwerk als Eigenleistung zugerechnet werden. Im Nacheinander der Beobachtungen, wie sie insbesondere sprachlich bzw. in der Kommunikation vollzogen werden können, zeichnet sich allenfalls die Möglichkeit einer inneren Schließung ab — in dieser Orientierung wäre gewissermaßen die Kantische „ästhetische Idee" zu sehen die dann aber dem Kunstwerk als innerer Rahmen nur momenthaft zugeschrieben werden kann, ohne daß sie anhand einer Beschreibung, die ja wiederum sequentiell sein müßte, jemals erfaßt werden könnte. Ganz in diesem Sinn formuliert Moritz schon in „Über das Schöne als in sich Vollendetes": „Bei der Betrachtung des Schönen aber wälze ich", anders als bei derjenigen des Nützlichen, „den Zweck aus mir in den Gegenstand zurück: ich betrachte ihn, als etwas, nicht in mir, sondern in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht, und mir um sein selbst willen Vergnügen gewährt."186 Während das Nützliche angesichts einer Beziehung nützlich ist, die es auf den Betrachter hat, in dem somit der Zweck des nützlichen Gegenstands liegt, also auf etwas außerhalb seiner selbst, wird beim Schönen der Zweck ,zurück' in den Gegenstand gewälzt. Die zirkuläre Geschlossenheit des schönen Gegenstands, der sich selbst Zweck genug ist, kann ihrerseits nur erkannt werden, wenn dem eine Handlung des Zuschauers vorausgeht. Sie hängt in gewisser Weise ab vom Blick der Betrachters: „Wir bedürfen des Schönen nicht so sehr, um dadurch ergötzt zu werden, als das Schöne unserer bedarf, um erkannt zu werden",187 „ja wir empfinden sogar eine Art Mitleid beim Anblick eines schönen Kunstwerks, das in den Staub darniedergetreten, von den Vorübergehenden mit gleichgültigem Blick betrachtet wird."188 Darin liegt zwar eine Aufwertung des Betrachters, der sich die Entdeckung des Schönen zugute halten mag; diese Aufwertung aber wird zugleich gebrochen: „Wir bedürfen des Schönen bloß, weil wir Gelegenheit zu haben wün-
186 Moritz: „Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten", S. 543. 187 Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 544. 188 Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 545.
2. „Fingerzeige des Schönen". Der Rahmen des Kunstwerks bei Moritz und Kant
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sehen, ihm durch Anerkennung seiner Schönheit zu huldigen."189 Der Betrachter tut also so, als spreche das Kunstwerk unabhängig von seiner Initiative zu ihm. So begeben sich das Schöne und sein Betrachter in ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Daß darin auch eine Entmächtigung des Betrachters liegt, kommt in der den Nachahmungs-Aufsatz abschließenden Ästhetik der Zerstörung zum Ausdruck: Denn in der Setzung des Rahmens, die das im Augenblick und letztlich ohne die Möglichkeit prozessualer Kontrolle vollzogene positive Urteil über das Kunstwerk fällt, übergibt der Beobachter die Autorität vollends dem Kunstwerk. 190 189 Moritz: „Die Signatur des Schönen", S. 545. - Vgl. hierzu Saine: Die ästhetische Theodi^ee, S. 125 f., 129. 190 Insofern der anthropologischen Konstruktion Moritz' zufolge der ästhetische Schein die einzige Möglichkeit für den Menschen ist, eine dem Naturganzen entsprechende Einheit zu erfassen, handelt es sich immer auch um ein Medium der Kompensation. Daher schließen die Ausführungen des Textes über die „bildende Nachahmung" auch mit einer Perspektive auf die Geschichte einer fortwährenden Unzufriedenheit. Moritz erweitert hier die Perspektive auf die Menschheit und stellt so das augenblickliche Geschehen der künsderischen Rezeption und Produktion in einen prozessualen Zusammenhang. Projektiert wird eine Entwicklung von einem zerstörerischen Zeitalter hin zu einem solchen, das das Kunstwerk erhebt und sich ihm unterordnet, in diesem Sinn also Bildung zu seinem obersten Wert erhebt. Eingebettet sind diese Überlegungen in einen Überblick über das Gesamtgeschehen der Naturgeschichte: „Daher ergreift jede höhere Organisation, ihrer Natur nach, die ihr untergeordnete, und trägt sie in ihr Wesen über. Die Pflanze den unorganisierten Stoff, durch bloßes Werden und Wachsen - das Tier die Pflanzen durch Werden, Wachsen und Genuß - der Mensch verwandelt nicht nur Tier und Pflanze, durch Werden, Wachsen und Genuß in sein innres Wesen; sondern faßt zugleich alles, was seiner Organisation sich unterordnet, durch die unter allen am hellsten geschliffne, spiegelnde Oberfläche seines Wesens, in den Umfang seines Daseins auf, und stellt es, wenn sein Organ sich bildend in sich selbst vollendet, verschönert außer sich wieder dar." (Moritz: „Über die bildende Nachahmung des Schönen", S. 569.) Dabei gilt Moritz die menschliche Gattung, nicht das Individuum, als höchste Stufe der Bildung, so daß er fordern kann, auf dem Weg zu einer höheren Ordnung der Menschengattung im Namen des Schönen müsse das Individuum „dulden, wenn die Gattung sich erheben soll" (S. 573). Wenn es das Bestreben aller organischen Bildung ist, „alles, was seiner Organisation sich unterordnet, durch die unter allen am hellsten geschliffne, spiegelnde Oberfläche seines Wesen, in den Umfang seines Daseins" (S. 569) aufzunehmen, und es, „wenn sein Organ sich bildend in sich selbst vollendet, verschönert außer sich wieder" darzustellen, dann bedeutet dies im Falle der Kunstproduktion, daß die künsderische Organisation als höchste menschheitliche Bildung eben dasjenige auf ihre Oberfläche bringt, was sich ihr unterordnet. Es mag oder muß also im Falle des Kunstwerks insbesondere das Individuum des Künstlers in seinem Leiden an der Unzulänglichkeit des eigenen Fassungsfähigkeit auf der Oberfläche des Kunstwerks erscheinen. (Auch in diesem Sinn hat das Gewebe der Philomene, das Moritz in „Die Signatur des Schönen" als Beispiel für das selbstreferentiell geschlossene Kunstwerk gibt, paradigmatische Bedeutung.) Das Leiden der Individuen wird zu einem privilegierten Thema künsderischen Schaffens, so daß auch Mideid bei Moritz ganz anders konzipiert wird als beispielsweise bei Lessing. Im Kunstwerk kommt so der Blick der Gattung auf die Individuen zur Erscheinung, die sich ihr unterordnen: Hier sieht der einzelne (auch der Künsder) den Blick der Gattung auf sein Leiden. Das Leiden erhält so in der Erscheinung, im ästheti-
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Das Parergon als .tatsächlicher',,äußerer' Rahmen des Kunstwerks liefert hierfür lediglich einen Fingerzeig - es zeigt eine Adresse an und verweist auf das Kunstwerk als auf eine Instanz, die zum Rezipienten sprechen wird. Und auch dieser Fingerzeig muß, geht man mit Goethe davon aus, jedes Kunstwerk müsse „sich als ein solches anzeigen",191 letztlich dem Kunstwerk selbst zugerechnet, ihm inkorporiert werden - weshalb Goethes Konzept zufolge die Laokoon-Gruppe dieses ,Titels' und des durch ihn bezeichneten mythologischen Hintergrunds eigentlich gar nicht bedarf.192 Das Parergon stellt den Anlaß, die Gelegenheit193 dar, das Kunstwerk mit dem Ziel der Entdeckung seines ,inneren' Rahmens seiner Autonomie zu überantworten;194 den Anlaß, der allein, wie Derrida in sehen Schein, seine Rechtfertigung. Die Forschung hat diese Beschränktheit der kompensatorischen Funktion von Kunst immer wieder hervorgehoben. So schreibt Mein: „Die Kunst ist nicht in der Lage die Welt heil zu machen, sie stellt kein Allzweckmittel gegen das menschliche Elend dar. Was sie vermag, ist in einem schöpferischen Akt eine Sinntotalität zu erreichen, in der auch und gerade das Elend funktional bestimmbar wird. Durch die Ästhetisierung der Kunst wird - unter Theodizeedruck - aber mit Versatzstücken theodizeeischer Argumentation ein Beitrag geleistet, die Mißstände der Welt wenigstens intellektuell zu bewältigen: Die Übel werden zu verkannten Bonitäten, die, anstatt sie resignativ zu tolerieren, rehabilitiert werden müssen. Ästhetik ist in der Lage, die vordergründig kontingente und damit für den Menschen immer auch zugleich leidvolle Wirklichkeit final zu bestimmen, ohne selbst die Leiden aufheben zu können." (Mein: Die Konzeption des Schönen, S. 95.) Fohrmann hebt die «»//aufklärerische Schlagrichtung der Moritzschen Ästhetik hervor, und zwar in doppelter Hinsicht: Nicht nur begründe Moritz' Beschreibung der Art und Weise, wie im Kunstwerk das „,Prinzip Ordnung' zur Erscheinung" komme (Fohrmann: .„Bildende Nachahmung'", S. 182), „die nun neue Tradition des Ästhetizismus" (S. 183). Vielmehr dürfe auch der abschließend entworfene ,Bildungsprozeß' nicht als zielorientiert begriffen werden: „in der gelungenen Selbstbespiegelung der Gattung als Natur liegt das telos einer ohne telos verlaufenden Gattungsgeschichte. [...] [N]ur das Werk ist das schöne So-Sein der Gattung" (S. 186). Die darin implizite Legitimierung des Leidens der Individuen markiert für Fohrmann „das Ende von Aufklärung" (S. 186). Ähnlich läuft die Argumentation in Fohrmann: Schiffbruch mit Strandrecht, S. 71-92. Für Saines These, Moritz' Ästhetik betreibe eine „ästhetische Theodizee" ist dieser Schlußteil des Nachahmungs-Aufsatzes natürlich von entscheidender Bedeutung (siehe Saine: Die ästhetische Theodizee, S. 149 f., S. 161-73; speziell zum Mideid pointiert S. 172 f.). Siehe auch Allkemper: Ästhetische Losungen, S. 279-86. 191 Johann Wolfgang von Goethe: „Über Laokoon". In: J. W. G.: Schriften %ur Kunst, Schriften t(ur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz, Hans Joachim Schrimpf (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 12). München 1981 [1795], S. 56-66, S. 57. 192 Fischer: „Kunstautonomie und Ende der Ikonographie", S. 269 ff., besonders S. 271. 193 Damit vollzieht sich eine Transformation des Gelegenheitsbegriffs, die derjenigen sehr ähnlich ist, die bei Sterne zu beobachten war (siehe IV.l). 194 Etwas anders Menninghaus zu Kant: „Eine klare Unterscheidung von - systemtheoretisch gesprochen - Code und Funktion ästhetischer Selbstreferenz würde es erlauben, hier von einer durchaus widerspruchsfreien Konstruktion zu sprechen. Aber Kants Theorie des eigentlichen' Kunstprodukts verwischt diese Grenze in mancher Hinsicht. Denn sie baut Merkmale der idealistisch konzipierten Kunstfunktion bereits in den Code der Werke ein" (Menninghaus: Lob des Unsinns, S. 109).
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Bezug auf Kant formuliert, zum reinen ästhetischen Urteil fuhren kann.195 Das Parergon wirkt so, gelingt das Kunstwerk, in zentraler Weise bei dessen Selbstadressierung als autonomes Kunstwerk mit: Das Kunstwerk spricht, insofern es den Rezipienten zwingt, sein Parergon in seine intrinsische Rahmung einzubeziehen, und wird damit adressabel. Die vom Parergon markierte Grenze, die das Kunstwerk konstituiert und die ihm als Eigenleistung zugeschrieben wird, muß daher nicht mehr - wie beispielsweise bei Baumgarten - zur ergänzenden Überschreitung auf die wirkliche Welt offenbleiben: Es ist die Grenze, deren Setzung im Innern des Gerahmten eine Welt erzeugt, die allenfalls als Abbildung im verjüngten Maßstab noch auf den ganzen Zusammenhang der Welt bezogen werden kann. Sie ist funktional, indem sie den Zusammenhang der Welt zertrennt und eine Unterscheidung in ihn einführt, die sich nicht aus ihm herleiten läßt - mit der Konsequenz, daß das Kunstwerk sozusagen aus dem Zusammenhang der Welt herausfällt, den es repräsentieren soll.196 Das Parergon markiert dabei den Übergang in die autonome Welt des Kunstwerks, indem es als Grenzregion ins Innere des Kunstwerks einbezogen wird, obwohl es zugleich dem Zusammenhang der heteronomen Umwelt des Kunstwerks anhängig bleibt und von dort auch - als ein Ornament, das ,nichts bedeutet' - die erste Isolierung des Kunstwerks bewirkt. Nur wenn von der Kontingenz und Nicht-Herleitbarkeit der Grenzziehungen, die das Kunstwerk auf unterschiedlichen Ebenen konstituieren, zugleich abgesehen wird, kann das Kunstwerk als Medium zur Er195 Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 84. 196 Das darin liegende Moment von Gewalt macht das bereits zitierte Beispiel der Philomene sehr gut deutlich: Nur auf der Grundlage eines kontingenten Bruchs mit der Ordnung der Dinge kann jene Selbstbezüglichkeit beobachtet werden, die für das autonome Kunstwerk laut Moritz charakteristisch ist. Dies betont auch Campe: „Zeugen und Fortzeugen", S. 242: „Moritz entdeckt in den Exempeln der Vergewaltigung die Stummheit der Opfer als den Punkt, von dem die Selbstbeschreibung der Form ausgeht und der ihre Signatur ist. [...] In Moritz' ästhetischer Kritik wird die Stummheit zum Moment und zur Signatur, von der aus die Form des Schönen sich zur Totalität der Schönen schließt, um nun umgekehrt das erotische Verlangen und die Repräsentation aus sich auszuschließen." Siehe auch Pfotenhauer: „,Die Signatur des Schönen'", der ebenfalls von diesem Beispiel ausgeht: „Die Harmonie des schönen Ganzen enthält immer als ihre Kehrseite das leidvoll Disharmonische mit. [...] Moritz kommt immer wieder darauf zu sprechen, wie doch das Schöne und das in der Schönheit Bleibende abgeschnitten sei von den normalen Lebensvollzügen des einzelnen." (S. 77.) Krüger-Fürhoff: „,Die abgelöste Zunge sprach durch das redende Gewebe'", konstatiert einen Widerspruch zwischen dieser Selbstreflexivität des Kunstwerks und seiner Einbindung in einen übergeordneten Zusammenhang, wie ihn der Schluß des Nachahmungs-Aufsatzes entwirft: „Während die erste Lesart betont, daß autonome Kunstwerke ihren Ursprung an Körperverletzungen sichtbar halten, rechtfertigt die zweite Lesart solche Verletzungen durch den Hinweis auf die naturliche Hierarchie verschiedener Lebewesen und damit letztlich durch das Projekt der ästhetischen Theodizee." (S. 112.)
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V. „Es ist!" Über Rahmen und Einheit des autonomen Kunstwerks
Schließung der wirklichen Welt angesehen werden. Die metaphysische Rückversicherung, die das Kunstwerk auch für Moritz leisten soll, kann also nur als höchst unwahrscheinlicher Sprung vollzogen werden.197 Der Schluß auf die reale Existenz des Schönen als einer Repräsentation des Weltganzen im ,verjüngten Maßstab' bleibt also eigentlich — Kantisch formuliert - im Status des ,als ob'. Daher können an das Kunstwerk, sieht man es als eine solche Repräsentation, auch keine objektiven Aussagen über das Weltganze angeschlossen werden. Es kann dann nichts weiter über das Schöne gesagt werden als: „es ist?'m
197 Die Unwahrscheinlichkeit der Konstellation, in der das Schöne erlebt werden kann, betont auch Campe: „Zeugen und Fortzeugen" (S. 225 ff.), der in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam macht, daß Moritz keinesfalls die .ästhetische Ideologie' einer „selbstevident" dem Betrachter „in den Blick" (S. 225) fallenden ästhetischen Form vertritt. 198 Moritz: „Uber die bildende Nachahmung des Schönen", S. 578. Siehe hierzu Allkemper: Ästhetische Lösungen, S. 286-88, sowie Fohrmann: .„Bildende Nachahmung'", S. 186.
VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul Mit Jean Paul findet sich am Ende des 18. Jahrhunderts ein Autor, dessen Texte in wohl einmaliger Weise Paratextualität gestalten und diskutieren. Die Jean-Paul-Forschung hat sich dieser Dimension seiner Texte immer wieder angenommen. So liegen Untersuchungen zu einzelnen paratextuellen Elementen vor, beispielsweise zu den Vorreden, 1 zur Fußnote,2 zu den Kapitelüberschriften3 oder allgemeiner zur Thematisierung der Mate rialität von Schrift.4 Darüber hinaus existiert eine Vielzahl von Arbeiten zu allgemeinen Text- und Schreibverfahren,5 die teils auch Überlegungen zum Stellenwert von Paratextualität für Jean Paul bieten. Sie konstatieren einerseits eine .Freisetzung' der Paratexte aus vormaligen funktionalen
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Andreas Erb: Schreib-Arbeit. Jean Pauls Erzählen ab Inszenierung freier' Autorschaft. Wiesbaden 1996, hier S. 64-106, Ehrenzeller: Studien %ur Remanvorrede, S. 17 f., zu Jean Paul S. 151-58 und S. 178-84. Walter Rehm: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser". In: W. R.: Späte Studien. Bern - München 1964, S. 7 - 9 6 . Diese Arbeit berücksichtigt auch viele andere paratextuelle Strukturen. Vgl. auch die Arbeit von Mainberger: „Die zweite Stimme", die das Beispiel Jean Pauls mehrfach anfuhrt. Gustav Lohmann: Jean Pauls ,Flegeljahre' gesehen im Kähmen ihrer Kapitelüberschriften. Würzburg 1990. Die Arbeit funktioniert in weiten Teilen als ausführlicher Stellenkommentar. Monika Schmitz-Emans: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher. Das Buch als Objekt bei Jean Paul". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 28, 1993, S. 17-46; Günther Soffke: „Jean Pauls Verhältnis zum Buch". In: Otto Wenig (Hg.): Wege %ur Buchwissenschaft. Bonn 1966, S. 3 3 3 - 9 7 (zum Buch als Objekt siehe insbesondere S. 368-91). Soffkes Beitrag ist in weiten Teilen eher in einem erzählenden als in einem analytischen Duktus gehalten. Ζ. B. Heinrich Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul. § 74 der, Vorschule der Ästhetik' und Jean Pauls erzählerische Technik, besonders im ,Titan'. Bonn 1970, Götz Müller: „Jean Pauls Privatenzyklopädie. Eine Untersuchung der Exzerpte und Register aus Jean Pauls unveröffentlichtem Nachlaß". In: IASL 11, 1986, S. 73-114, Götz Müller: Jean Pauls Exzerpte. Würzburg 1988, Dorothea Böck: „Satirische Raffinerien für Menschenkinder aus allen Ständen. Überlegungen zur Genesis von Jean Pauls Kunstmodell". In: Greifer Studien, 1989, S. 149-87, Hans Esselborn: „Die Vielfalt der Redeweisen und Stimmen. Jean Pauls erzählerische Modernität". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 26/27, 1991 f., S. 32-66, Caroline Pross: Falschnamenmün%er. Zur Figuration von Autorschaft und Textualität im Blickfeld der Ökonomie bei Jean Paul. Frankfurt/M. - Berlin - Bern u. a. 1997, Armin Schäfer: „Jean Pauls monströses Schreiben". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschrft 36, 2001, S. 2 1 6 - 3 4 , HansWalter Schmidt-Hannisa: „Lesarten. Autorschaft und Leserschaft bei Jean Paul". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 37, 2002, S. 35-52.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
Zusammenhängen und den Übergang ins .Spielerische'6 und betonen andererseits, daß gerade diese spielerischen Elemente an der Einheitsstiftung der Texte teilhaben.7 Die vorliegenden Analysen haben beide Tendenzen bereits an anderen Texten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfolgt und dabei ihren Zusammenhang herausgestellt: Aus extrinsischen funktionalen Zusammenhängen werden textuelle Grenzregionen herausgelöst, wenn sie Teil der intrinsischen Rahmung eines Textes werden und so - wie im Anschluß an die Moritz-Lektüre gesagt werden kann — der ästhetischen Autonomie des Textes zuarbeiten. In der Tat ist auch Jean Pauls erzählerisches Werk in diese Entwicklung einzuordnen. Allerdings stellt es einen Spezialfall dar: Die einheitsstiftende Funktion der spielerischen' Jean Paulschen Paratexte ist insbesondere deshalb von Interesse, weil dessen Werke in ihrer Digressivität einen Abschluß gerade zu verweigern scheinen. Die einzelnen Texte sind, wie es in den „Biographischen Belustigungen" heißt, allesamt miteinander verbunden8 — was insbesondere, aber nicht nur, darauf anspielt, daß sie der Erzählfiktion nach alle von ein und demselben, an der erzählten Geschichte teilhabenden Verfasser (einem gewissen Jean Paul) geschrieben worden sind. Das legt es nahe, von vornherein von ,einem' Text auszugehen. Die Frage ist dann aber erst recht, ob und wie dieser Text als Werk aufgefaßt werden kann. Insofern die einzelnen Texte Jean Pauls von Vornherein auf eine Überschreitung ihrer Grenzen hin angelegt sind, stellt sich für die Analyse insbesondere das Problem der Textauswahl. Die Begrenzung des Korpus, 6
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So für die Vorrede Ende des 18. Jahrhunderts allgemein Ehrenzeller: Studien %ur Romanvorrede, S. 17 f. - Ehrenzeliers Studie bietet in ihren bereits angeführten Kapiteln zu Jean Paul eher eine nacherzählende Bestandaufnahme denn eine analytische Auseinandersetzung. Die These vom .spielerischen' Charakter des Jean Paulschen Umgangs mit der Vorrede greift sicherlich insgesamt zu kurz (siehe insbesondere die These von der Unverbindlichkeit dieses Spiels S. 184). „Alle jene Dinge, auch die Anmerkungen, haben sich der epischen Textur und ihrer ,humoristischen Totalität' assimiliert (auch sprachlich-syntaktisch), sind weder von ihr abzulösen noch aus ihr auszuschneiden [...]. Auf alle Fälle liegen die Anmerkungen innerhalb, nicht etwa außerhalb des Spiel- und Erzählraums. [...] Vom Bühnenraum der Erzählung gesehen, spricht er [der Erzähler] keineswegs von außen nach innen, sondern höchstens vom Rand, von der Kulisse oder vom Souffleurskasten her in den Spielraum. Gerade dieses Sprechen oder Einblasen von unten nach oben oder von der Seite bedingt wesentlich mit Form und Bau des humoristischen oder ironischen Erzählstils." (Rehm: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben", S. 23.) Rehms materialreiche Arbeit ist bis heute die umfassendste Würdigung der Jean Paulschen paratextuellen Verfahren. Seiner These von der Assimilation der paratextuellen Rahmung an die humoristische Totalität' der Texte schließe ich mich an. Jean Paul: „Jean Pauls biographische Belustigungen unter der Hirnschale einer Riesin". In: J. P.: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 1.4. Darmstadt 2000 [1796], S. 261-407, S. 362.
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die hier vorgenommen werden muß, ist sich ihrer Kontingenz bewußt — ebenso wie sich Jean Pauls Texte der Tatsache bewußt sind, daß sie nur in ihren Grenzen deren Überschreitung betreiben können. Meine Wahl ist auf eine Gruppe von kürzeren Texten gefallen, die sich um Jean Pauls ersten großen Erfolgsroman, den „Hesperus" (1795), ranken und ebenso wie dieser Roman ein eigentümliches Spiel mit (para-)textuellen Einheiten treiben: Die Idylle vom „Schulmeisterlein Wutz" (1793), der „Quintus Fixlein" (1795), die „Biographischen Belustigungen" (1796), „Der Jubelsenior" (1797) und „Das Kampaner Tal" (1797). Diese Texte sind gewissermaßen das Experimentierfeld, auf dem jene paratextuellen Strukturen erprobt werden, die dann auch die ,großen' Romane prägen. Insofern eignen sie sich besonders gut für eine überblicksartige Darstellung Jean Paulscher Schreibverfahren überhaupt. Einbezogen werden auch zentrale Passagen aus der „Vorschule der Ästhetik" (1804). Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, ausgehend von dieser begrenzten Textauswahl den Umriß einer prekären Werkeinheit zu skizzieren. Es geht daher nicht um eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung des Jean Paulschen Schreibens, sondern vielmehr um eine Fallstudie, die eine Option des Umgangs mit Paratextualität und Werkeinheit rekonstruiert, die um 1800 bestanden hat, aber gleichwohl einmalig geblieben ist. Entgegen dem anti-systematischen Zug des Jean Paulschen Schreibens wähle ich dabei einen durchaus systematischen Zugang. Mich interessiert zunächst, wie bei Jean Paul auf unterschiedlichen Ebenen Mechanismen der Textkonstitution beschrieben werden. Als Ausgangspunkt dient dabei Jean Pauls Theorie des Buchstabens (VI.l); danach wende ich mich Beschreibungen des Umgangs mit Paratexten zu (VI.2), um schließlich Fragen der Werkeinheit zu diskutieren (VI.3). Damit geraten dann die paratextuellen Verfahren des Jean Paulschen Schreibens in ihrer ,performativen' Dimension in den Blick.
1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie a) Begrenzung/Entgrenzung. Phantasie und Einbildungskraft Jean Pauls Theorie der Einbildungskraft als eines zentralen Vermögens des menschlichen Bewußtseins impliziert, wie ich zeigen werde, eine Theorie des Buchstabens bzw. der Lektüre. Im Grunde nämlich wird der Buchstabe zum Modell der Produkte der Einbildungskraft. Ein Moment der ,Materialität von Schrift', das eng mit Phänomenen des Paratextellen
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
verbunden ist,9 spielt insofern eine zentrale Rolle in Jean Pauls ästhetischer Theorie.10 Der Text, in dem Jean Paul seine Theorie der Einbildungskraft am konsequentesten entfaltet, ist der im „Quintus Fixlein" im Jahre 1795 (unter Angabe des Jahres 1796) erschienene Aufsatz „Uber die natürliche Magie der Einbildungskraft". Diese frühe Formulierung seines Verständnisses von Phantasie und Einbildungskraft läßt sich als ein Programm der Texte lesen, die im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen. Es finden sich allerdings auch in vielen anderen Texten Passagen, die für die Problemstellung relevant sind, insbesondere in der „Vorschule der Ästhetik" (in der allerdings auf diesen älteren Aufsatz verwiesen wird11). Vorab ist der Stellenwert der unterschiedlichen geistigen Vermögen des Menschen, die in der Diskussion der Einbildungskraft in den Blick geraten, in ihrem Verhältnis zueinander zu rekonstruieren. Jean Pauls Text beginnt mit einem Vergleich von Empfindung, Einbildungskraft und Phantasie. Er bestimmt das „Gedächtnis" als „eine eingeschränktere Phantasie" und stellt fest, daß „sich die Erinnerung über die Verhältnisse der Zeit und des Ortes und also über Reih und Folge"12 ausbreite. Damit stellt er einen Unterschied heraus zwischen der Phantasie bzw. ihrer ,eingeschränkten' Schwester, dem Gedächtnis, auf der einen Seite und dem „bloßen Ein- und Vorbilden"13 auf der anderen.14 Dieses nämlich stelle, so Jean Paul, „einen Gegenstand nur abgerissen dar".15 Phantasie und Gedächtnis hingegen seien auch für die Organisation von Erscheinungen in der Zeit zuständig.
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Vgl. Genette: Paratexte, S. 38 ff. Für die Jean Paulsche Poetik insgesamt sind nach wie vor die Arbeiten von Müller und Proß maßgeblich (Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983; Wolfgang Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung. Tübingen 1975). Beide Studien geben einen breiten einflußgeschichtlichen Überblick, der viele weitere entscheidende Quellen Jean Pauls ausmacht. Proß erläutert das Anliegen seiner Arbeit zusammenfassend so: „Unter den vier Aspekten der Physiologie/Philosophie, der Religion, des Naturrechts und des Ästhetischen, das alle diese Sachbereiche aufgreift, läßt sich ein Überblick über Jean Pauls gesamtes Werk gewinnen, um die Grundgedanken der ,poetischen Enzyklopädie' zu demonstrieren." (S. 213.) Schließlich ist auch Michelsen Kapitel über Jean Paul weiterhin sehr lesenswert (Michelsen: luiurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 311 — 394. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 49. Jean Paul: „Leben des Quintus Fixlein aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußteil und einigen Jus de tablette". In: J. P.: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 1.4. Darmstadt 2000 [1795], S. 7-259, S. 195. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 195. Für eine andere Deutung dieser Stelle siehe Ralf Berhorst: Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie. Tübingen 2002, S. 74 f. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 195.
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Die Unterscheidung von Empfindung und Phantasie beschreibt Jean Paul zunächst hinsichtlich der Bereiche, auf die sich diese Vermögen beziehen: „Die fünf Sinne heben mir außerhalb, die Phantasie innerhalb meines Kopfes einen Blumengarten vor die Seele", heißt es.16 Diese Unterscheidung bezieht sich auf gängige schulphilosophische Bestimmungen der Einbildungskraft.17 Zugleich aber beruht sie auf einer veränderten erkenntnistheoretischen Grundlegung. Das wird deutlich, betrachtet man etwa Christian Wolffs Definition der Einbildungskraft: „Die Vorstellungen [sie] solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungs-Kraft."18 Die Einbildungskraft ist für abwesende Dinge zuständig, während der Empfindung die Dinge unmittelbar gegenwärtig sind. Bei Jean Paul hingegen ergibt sich die Annahme, daß die Phantasie für die Produktion innerer Bilder von abwesenden und die Empfindung für die Produktion äußerer Bilder von anwesenden Dingen zuständig ist, aus der transzendentalen Unterscheidung verschiedener Operationsmodi des Bewußtseins. Hierin explizit Kant folgend,19 verweist Jean Paul darauf, daß das Bewußtsein die Empfindungen nicht schlicht empfangt, sondern produziert. Unsere Empfindungen, so Jean Paul, müssen wir, auch wenn wir sie bloß „zu empfangen glauben [...], ebensogut (nach und mit einer unbegreiflichen plastischen Form in uns) erzeugen als innere Bilder"; ja er behauptet, daß „wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen".20 Die Operationen beider Vermögen, des Empfindens und der Phantasie, sind für das Bewußtsein unhintergehbare Tätigkeiten, ja sie erweisen sich als bewußtseinskonstitutiv.21 16 17
Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 195. Diese Bestimmung geht auf Aristoteles zurück. Siehe Jochen Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination". In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2. Stuttgart 2001, S. 8 8 120, S. 93. - Zur Geschichte der Einbildungskraft siehe außerdem J. H. Trede, K. Homann: „Einbildung, Einbildungskraft". In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Darmstadt 1972, S. 346-58; Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination"; Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung, sowie - von Jean Paul ausgehend Götz Müller: „Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse. Annotationen zu Adam Bernd, Karl Philipp Moritz und Jean Paul". In: G. M.: Jean Paul im Kontext. Hg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1996 [1994], S. 140-64, und Ulrike Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens. Jean Paul und die Aporien der Idylle. Würzburg 2003, S. 33-36.
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Wolff: Vernünfftige Gedancken, S. 190 (§ 235). Zu Wolffs Begriff der Einbildungskraft siehe Krueger: Christian Wolff und die Ästhetik, S. 36-40, Birke: Christian Wolffs Metaphysik, S. 12 f. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 195. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 195. Zur darin liegenden Aufwertung der Einbildungskraft siehe Müller: „Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse", S. 159 ff., und Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination", S. 89: „In der jahrtausendelang dominanten Denkfigur eines vertikalen Gegensatzes von (immaterieller) Transzendenz und Materialität wurde die Einbildungskraft als materiell und
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Die auf Shaftesbury zurückgehende Rede von der „unbegreiflichen plastischen Form in uns"22 benennt ein der Empfindung ebenso wie der Phantasie zugrundeliegendes Prinzip, dessen Funktionsweise sich allerdings mit den Mitteln des Verstandes nicht explizieren läßt. Jean Pauls expliziter Verweis auf Kant läßt an dessen Konzept der „produktiven Einbildungskraft" denken: Kant zufolge ist die Einbildungskraft für eine „figürliche Synthesis"23 der mannigfaltigen Sinnesdaten zuständig, die diese überhaupt erst für die weitere Verarbeitung mittels des Verstandes geeignet werden läßt.24 Sie synthetisiert all das, was, mit Jean Paul zu sprechen, die „Fühlfäden der Sinnesnerven" zur Verfügung stellen. Jene innere ,plastische Form', von der Jean Paul spricht, ist also als eine Art ,Werkzeug' der produktiven Einbildungskraft aufzufassen, als ein .Förmchen'. Als Produkte der Einbildungskraft aber haben die Empfindungen dann denselben ,abgerissenen', momenthaften Status wie die Produkte des .bloßen Einbildens'.25 Wenn Jean Paul nun betont, „daß unser bekanntes Ich die Sukzession in der Phantasie (wie das Simultaneum in der Empfindung) ordnet und regelt",26 so setzt er damit implizit Empfindungen und einfache Einbildungen von der Phantasie ab, denn das ,bloße Einbilden' synthetisiert Sinnesdaten genau so, wie jene Kraft, die unsere Empfindungen erzeugt, nämlich indem es simultan Figurationen zur Verfügung stellt. Was aber bedeutet es, wenn im Modus der Phantasie die Einbildungskraft nicht (nur) das „Simultaneum" der Vorstellungen ordnet, sondern (auch) deren Abfolge? Jean Paul führt einige Beispiele dafür an, wie „die Phantasie uns in ihren Ländereien mit Zauberspiegeln und Zauberflöten so süß betören und so magisch blenden könne".27 Interessant ist beispielsweise, wie die
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damit als unzuverlässiges, deshalb rationaler Kontrolle zu unterwerfendes psychisches Vermögen gedeutet. Nach dem Wandel wurde es ein unentbehrliches Vermögen, mit dem sich der Mensch kreativ auf Objekte in Raum und Zeit bezieht." — Siehe auch Monika Schmitz-Emans: Die "Literatur; die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis %um 20. Jahrhundert. Würzburg 1999, S. 181 ff. Siehe Christina Dongowski: „Plastisch". In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in äeben Bänden. Bd. 4. Stuttgart 2002, S. 814-32, S. 817 f., vgl. auch Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffsund Problemgeschichte. Stuttgart - Weimar 2001, S. 64-72. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 1. Frankfurt/M. 1995 [1781], S. 148 (B 151). Siehe Trede, Homann: „Einbildung, Einbildungskraft", S. 347 f., sowie Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination", S. 114 f. Berhorst betont demgegenüber, daß Jean Paul der Einbildungskraft gerade keine bewußtseinskonstitutive Bedeutung zuschreibe: „Die Einbildungskraft hat für ihn keinen transzendentalen Charakter, da sie nicht schlechthin Bedingung für die Möglichkeiten von Erfahrung ist." (Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 66.) Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 196. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 196.
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1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie
P h a n t a s i e a u c h die g e g e n w ä r t i g e W i r k l i c h k e i t , v o n d e r m a n m e i n e n s o l l t e , sie sei n u r i m M o d u s d e r S i m u l t a n e i t ä t z u g ä n g l i c h , a u s s c h m ü c k e n k a n n : Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht. Ich will mehr als ein Beispiel geben. Das erste ist nicht das deutlichste: bei rauschenden Freudenfesten, auf Bällen, auf nächtlichen Freudengelagen schmückt sich jeder Augenblick mit dem Widerschein des nächsten künftigen; und solange dieses dauert, vermengen wir den süßen Durst des Herzens mit dem Trank, — denn der Mensch hat so wenig, daß er nur froh ist, wenn er stark begehren kann, und daß er die Stärke seiner Wünsche zu ihren Befriedigungen rechnet. — A b e r es kommt eine trunknere Stunde, w o im langen Freudengelage unsere Phantasien unsere Sinnen übertönen, w o die Gegenwart mehr zum Traume, die Musik mehr zum Echo ermattet und w o wir im wirbelnden bunten Rausche um uns schwindeln und dann im Schwindel unsere Umkreisungen für fremde nehmen; dann sind wir gesättigt und voll, ach! fast v o r Ermüdung! —28 A u c h w e n n e s s i c h a n g e b l i c h u m ein w e n i g d e u t l i c h e s B e i s p i e l h a n d e l t , w i r d d e n n o c h e i n e s klar: D i e W i r k u n g d e r P h a n t a s i e k a n n sich n u r i n d e r Überschreitung des Augenblicks entfalten, dann nämlich, w e n n jeder A u g e n b l i c k b e r e i t s d e n „ W i d e r s c h e i n d e s n ä c h s t e n k ü n f t i g e n " i n sich trägt. D i e Phantasie ü b e r d e c k t die V e r k e t t u n g der m o m e n t a n e n E m p f i n d u n g e n m i t e i n e r z w e i t e n ( p h a n t a s t i s c h e n ) K e t t e . D a b e i ist d i e e r s t e K e t t e
dem
A n s c h e i n n a c h v o n äußerlichen G e g e b e n h e i t e n v o r g e p r ä g t . Sie besteht aus j e n e n a b g e r i s s e n e n e i n z e l n e n V o r s t e l l u n g e n , w i e sie d i e E i n b i l d u n g s k r a f t a u s S i n n e s d a t e n s y n t h e t i s i e r t . D i e z w e i t e V e r k e t t u n g h i n g e g e n ist a u c h als K e t t e allein n a c h G e s e t z e n d e r E i n b i l d u n g s k r a f t o r g a n i s i e r t . D i e
Fähig-
keit, d i e s e z w e i V e r k e t t u n g e n in i h r e r V e r b i n d u n g z u g l e i c h z u p r o z e s s i e ren, m a c h t das zentrale B e s t i m m u n g s m o m e n t der Phantasie aus.29
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Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 197 f. Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens, S. 36-50, schlägt ebenfalls vor, die Sonderleistung der Phantasie hinsichtlich ihrer Funktion für das Erleben von Zeitlichkeit zu bestimmen. Allerdings wird sie der hier herausgestellten operativen Unterscheidung nur bedingt gerecht. So heißt es zunächst, „die spezifische Leistung der Phantasie" bestehe „in der Vergegenwärtigung von Nicht-Gegenwärtigem" (S. 36). Später wird präzisiert: „Das Vermögen der Phantasie oder Einbildungskraft auf der höchsten Stufe ihrer Entfaltung umgreift Vergangenheit und Zukunft und schafft so den Zeitraum, in dem die inneren Bilder [...] projiziert werden und auf magische Weise wie gegenwärtig wirken können. Gleichwohl werden die phantastischen Vergegenwärtigungen auf dieser Stufe auch als solche erkannt." (S. 50.) - Siehe auch Dorothea Böck: ,„Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch' (Novalis). Zwischen realer und imaginärer Geselligkeit - Jean Pauls Epistelsalon". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 37, 2002, S. 146-75, S. 164, S. 167-69, Dorothea Böck: „Phantastische Epistel-Experimente. Poetische Biographik im Umfeld Jean Pauls". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 41, 2006, S. 131-51, S. 134 f., Anm. 8, Götz Müller: „Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen Idealismus". In: G. M.: Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1996, S. 63—76, S. 67—69, Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Müller zufolge „transzendiert" die Phantasie „die Endlichkeit des Hier und Jetzt und totalisiert Vergangenheit, Gegenwart
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Damit aber geht der Phantasie zuweilen ihre Nachvollziehbarkeit verloren. Dies wird deutlich, fuhrt man sich beispielsweise vor Augen, was die Phantasie in der Liebe bewirkt: In der Uebe ist das Amalgama der Gegenwart mit der Phantasie n o c h inniger. Schaue die Gestalt an, die du einmal geliebt hattest und die nun mit allen ihren Reizen nicht einmal den idealischen Zauber einer Bildsäule für dich hat! Warum sonst ist sie jetzt ein lackierter Blumenstab für dich, als bloß weil alle Rosen, die deine Phantasie an diesem Stabe hinaufgezogen, nun ausgerissen sind? —30
Die Metapher von Blume und Blumenstab, die uns an anderer Stelle wieder begegnen wird,31 signalisiert, daß die Phantasie, indem sie über die Kette der Empfindung eine zweite Verkettung von Vorstellungen legt, eine alternative Realitätsbeschreibung liefert: Wo die bloße Empfindungskraft nur einen Blumenstab wahrnimmt, kann die Phantasie die Blumen supplementieren. Diese Supplementierung ist aber unter Umständen im Nachhinein nicht mehr überzeugend - so wie sie im Zweifelsfall auch nicht von anderen nachvollzogen werden kann. Entsprechendes gilt für den Humoristen, auf den zurückzukommen sein wird,32 und für jene ,,[b]elesene[n] Mädchen, die im Sommer aufs Land gehen" und „aus den Landleuten wandelnde Geßnerische Idyllen-Ideale" machen — welche „ihrerseits wieder die Mädchen zu Prinzessinnen der Marionetten und der Historienbücher" 33 idealisieren. Auch hier supplementiert die Phantasie Vorstellungen, die nur bedingt nachvollziehbar sind - und die man daher als bloße Einbildungen im alten Sinn zu denunzieren geneigt sein mag. Daß sich diese Probleme der Nachvollziehbarkeit ergeben, liegt daran, daß die Phantasie die Irritationsiihigkeit des Bewußtseins einschränkt und insofern den Bezug zum tatsächlichen' Ablauf der Dinge eventuell missen läßt. Die phantastische Verkettung von Vorstellungen koppelt sich von diesem Ablauf ab, indem sie auf der Grundlage eigener Operationen und nicht auf der Grundlage von äußeren Irritationen zukünftige Vorstellungen generiert. Wenn die ,belesenen Mädchen' die Landleute für Geßnersche Idyllen halten, so verbinden sie das momentan Wahrgenommene mit und Zukunftserwartung zur Wirklichkeit des Menschen." (Müller: Jean Vauls Ästhetik und .'Naturphilosophie, S. 82.) Auch Müller liefert jedoch keine präzise Rekonstruktion des temporalen Operationsmodus der Phantasie, wie sie hier angestrebt wird (vgl. S. 113 ff.). Klappert liefert eine umfassende Rekonstruktion des Jean Paulschen Phantasie-Konzepts im unmittelbaren Vergleich mit modernen Theorien des Hypertextes (Klappert: Die Perspektiven von Unk und Lücke, S. 168-236). Das hier entworfene Modell der phantastischen Verkettung beschreibt sie mit Hilfe der bereits angeführten Unterscheidung von Link und Lücke, die sie mit den Unterscheidungen sichtbar/unsichtbar sowie endlich/unendlich in Verbindung bringt. 30 31 32 33
Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 198. Siehe VI.3.a. Siehe VI.2.b. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 199.
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vergangenen, ihrerseits von der Phantasie erzeugten Bewußtseinsinhalten. Diese Verbindung stellen sie nicht mittels des Verstandes her, sondern aufgrund bildlicher Ähnlichkeiten.34 Sie überlassen sich nicht Moment für Moment den jeweiligen .abgerissenen' Empfindungen, sondern erzeugen mittels der Phantasie eine alternative Verkettung von Vorstellungen. Damit stellt sich die Frage, wie (und um welchen Preis) Nachvollziehbarkeit zu sichern wäre. Es ist zu vermuten, daß nur die Unterbrechung potentieller von der Phantasie initiierter ,Selbstläufer' die Irritabilität des Bewußtseins sichern kann und so die Bedingung der Möglichkeit objektiven Erkennens darstellt. Ein Objektivität garantierendes Verfahren hätte demnach darauf zu verzichten, solche Verkettungen herzustellen, und müßte nur Verbindungen rekonstruieren, die sich mit Verstandeskategorien erklären lassen. Es hätte die jeweiligen abgerissenen' Bilder, die sich dem Bewußtsein darbieten, auf Konsistenzen zu prüfen und könnte so bloße Einbildungen aussortieren. Damit aber lieferte sich das Bewußtsein fortwährend nur der bloßen Gegenwärtigkeit der Dinge aus, was Jean Paul als eine wenig wünschenswerte Einschränkung empfindet.35 Jean Paul beharrt nun aber auf der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, einer solchen konsequenten Unterscheidung zwischen der bloßen Rekonstruktion und der Produktion von Vorstellungen. Explizit postuliert er ja für Empfindung und Phantasie gleichermaßen eine bewußtseinskonstitutive Funktion. Behauptet er, daß wir, wie bereits zitiert, „ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen",36 so weist er auch dem Operationsmodus der Phantasie einen Einfluß auf jede scheinbar objektive Erkenntnis zu: Ohne die Mithilfe der Phantasie wäre es nicht einmal möglich, die Identität von Erscheinungen in der Zeit zu konstatieren und beispielsweise ein Gesicht wiederzuerkennen. 34 35
Zur Unterscheidung von Bildlichkeit und Unbildlichkeit bei Jean Paul siehe V1.2.d. So heißt es im „Hesperus", „jede Gegenwart" schränke „ihre [der Phantasie] Schöpfung ein" (Jean Paul: „Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung". In: J. P.: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 1.1. Darmstadt 2000 [1795], S. 471-1236, S. 1046). Berhorst diskutiert diese Stelle im Zusammenhang mit seiner These, für Jean Paul sei die Einbildungskraft kein transzendentales Vermögen (Berhorst: Atiamorphosen der Zeit, S. 66). Meine Rekonstruktion differenziert hier anders, kommt aber zu einem ähnlichen Ergebnis, was den temporalen Charakter der Phantasie bei Jean Paul angeht. Hierzu Berhorst: „Die Gegenwart lahmt und suspendiert die Phantasie, daher erscheint die Wirklichkeit auch immer in prosaischer Gestalt und öder Defizienz, sie kann nicht ins Unendliche erweitert werden, sondern bleibt ein substanzloses und fliehendes Etwas." (S. 73.) Berhorst faßt die Leistung der Phantasie in seinem Titel als ,Anamorphose der Zeit' auf (hierzu S. 76) und behauptet, in Jean Pauls Texten ginge es um „Überlistungen der Gegenwart, die deren Resistenz gegen die Einbildungskraft außer Kraft setzen möchten" (S. 80). Ahnlich wird hier argumentiert, die Phantasie vollziehe eine Abkoppelung der durch sie konstituierten Verkettungen von den Verkettungen, die anhand einer Überprüfung an der Realität' rekonstruiert werden könnten.
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Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 195.
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Die Phantasie bleibt also unverzichtbar. Entsprechend interessiert sich Jean Paul weniger für mögliche auf Objektivität abzielende Verfahren der Erkenntnis als für die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Phantasie, ihre anthropologischen Grundlagen und ihre metaphysische Bedeutsamkeit. Zwar bleibt die Unterschiedenheit der Operationsmodi von Empfindung und Phantasie ebenso fortwährend im Hintergrund seiner poetologischen Überlegungen wie die Systematik der menschlichen Erkenntnisvermögen und die Unterscheidung ,objektiver' und phantastischer Vorstellungen. Offenkundig handelt es sich um Unterscheidungen, die fortwährend von uns getroffen werden. Jean Paul insistiert allerdings darauf, daß diese Unterscheidung sich letztlich nicht aus festen Grundsätzen herleiten läßt und zieht daraus metaphysischen Gewinn. Dieses Engagement für die Phantasie läßt sich auch auf die Einsicht in eine Unzulänglichkeit der bloßen Verstandestätigkeit zurückführen, die so Jean Pauls Kritik an Kants Philosophie — immer nur die mechanistische Erklärung körperlicher Vorgänge leisten kann.37 Jean Paul aber geht es darum, den Zusammenhang von Körper und Geist in den Blick zu nehmen. Körper und Materie sollen als Ausdrucksformen des Geistes vorgestellt und so soll die Unabhängigkeit der Seele von ihrem Körper erwiesen werden.38 Dazu ist seinem Verständnis nach die Poesie in besonderer Weise geeignet. So betont seine Definition der „schönen Nachahmung der Natur"39 als dem Ziel der Poesie in der „Vorschule", in der Dichtung werde „eine doppelte Natur zugleich nachgeahmt [...], die äußere und die innere, beide ihre Wechselspiegel".40 Die Seele muß sich dabei als bedingende Kraft auch des Körpers erweisen: Die äußere Natur wird in jeder innern eine andere, und diese Brotverwandlung ins Göttliche ist der geistige poetische Stoff, welcher, wenn er echt poetisch ist, wie eine anima Stahlii seinen Körper (die Form) selber bauet, und ihn nicht erst angemessen und zugeschnitten bekommt. 41
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Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 73 ff., et passim. Proß beschreibt Jean Pauls Verfahren auch als eine „Idealisierung des Sensualismus" (Proß: ]ean Pauls geschichtliche Stellung, S. 193; siehe auch S. 158ff.). Müllers Arbeit nimmt das Problem des commeräum zum Leitfaden der Untersuchung der Jean Paulschen Poetik. Dargestellt werden insbesondere Jean Pauls Bezugnahmen auf Leibniz' Harmonismus (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 17 ff.), auf Jacobis Instinkttheorie (S. 28 ff., S. 62 ff., S. 122 ff.) und auf Stahl (S. 38 ff.). Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 40. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 43. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 43. — Schings stellt Äußerungen wie diese in einen Zusammenhang mit Jean Pauls poetischen Verfahren: „Die Sprunghaftigkeit dieses Erzählens, der systematisch ,gestörte Nex', die .totale Witz-Sündflut', die Kombinatorik des Heterogenen, ihre Unverständlichkeit, Dunkelheit, .Originalität' (Goethe) — das hat Methode. Darin artikuliert sich ein stets wachsamer und ingeniöser, ein geradezu subversiver Formwille, der Versuch nämlich, das beunruhigende Problem der Kohäsion von Geist und
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Die Einbildungskraft erhält ihren Stellenwert vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung, gilt sie doch immer schon als ein Vermögen, das zwischen Körper und Geist tätig ist.42 In ihrer gesteigerten Form als Phantasie wird sie bei Jean Paul zur Grundlage dichterischer Verfahren. Die Dichtung steht damit nicht zuletzt ein für eine Vergewisserung über metaphysische Rahmenbedingungen, die sich mittels des Verstandes nicht leisten läßt. In diesem Sinn muß die Phantasie in ihrer Legitimität verteidigt werden: Die metaphysischen Vorstellungen, die sie unter anderem liefert, sind deswegen nicht zu verwerfen, weil sie auf der Grundlage eines Operationsmodus zustande kommen, der an der Konstitution jeder Erkenntnis seinen Anteil hat. Worauf es in Jean Pauls Verteidigung der Phantasie im einzelnen ankommt, läßt sich anhand der Unterschiede zwischen seiner Theorie der Einbildungskraft und der Influxus-Theorie Platners erläutern, eines Autors, dessen funktionale Beschreibung der Einbildungskraft für Jean Paul entscheidend gewesen ist.43 Platners „Anthropologie für Aertzte und Materie auf die Form des Romans zu übertragen und die inkommensurable Kraft des Geistes bis in die Mikrostrukturen des Erzählens auszuprägen." (Schings: „Der anthropologische Roman", S. 268.) Müller zufolge stellt Jean Paul „ein ähnliches Verhältnis zwischen Organismus und Mechanismus, zwischen Geist und Körper und zwischen der Poesie und der nachgeahmten Wirklichkeit fest" (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 60). In allen drei Fällen soll die Unabhängigkeit bzw. die prägende Kraft der erstgenannten Instanz auf die zweitgenannte erwiesen werden. Insgesamt geht es, so Müller, um eine „Physiognomik des Geistes in der Natur" (S. 59). Auch Proß betont, daß im Erweis der Freiheit des Geistes ein zentrales Anliegen der Jean Paulschen Poetik liegt (Proß: ]ean Pauls geschichtliche Stellung ζ. B. S. 47 ff.). Schon die ältere Studie von Michelsen arbeitet sehr ausführlich und präzise heraus, daß im commemum das wichtigste Bezugsproblem der Jean Paulschen Texte liegt (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 312 f., zusammenfassend S. 3 9 1 - 9 4 et passim). Michelsen zufolge soll Jean Pauls Dichtung „dem Ich nicht in der Welt, sondern gegen sie einen Raum (...) verschaffen" (S. 314). — Siehe schließlich auch Alexander Kosenina: Emst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Ar%t' und seine Wirkung auf Johann Kar! We^el und Jean Paul Würzburg 1989, S. 107 ff., der behauptet, Jean Paul gelinge „eine Vereinigung des Harmonismus mit dem Influxionismus im Reiche der Poesie" (S. 129). 42
43
Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination", S. 93: „Von der Antike bis in die frühe Moderne werden in der Diskussion von Phantasie, Imagination und Einbildungskraft Aspekte [...] körperlicher Sensibilität mitdiskutiert." Schon bei Piaton stehe die phantasia „erkenntnistheoretisch und vermögenspsychologisch zwischen Sinneseindrücken und Verstand". Siehe hierfür Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 73 ff. - Proß faßt zusammen: „Jean Pauls Einbildungskraft ist ein Vermögen, das nicht unter der von Kant festgelegten Herrschaft der Vernunft (ratio) über die geistigen und sinnlichen Vermögen des Verstandes (mens), darunter auch der Einbildungskraft (phantasia), steht. Dieser Begriff ist vielmehr auf die physiologische Theorie Ernst Platners zu beziehen, der die Einbildungskraft entgegen dem Anspruch der Kantischen Vernunft zum Primat innerhalb der seelischen Vermögen erhebt." (S. 112.) Allgemein zum Einfluß Platners auf Jean Paul siehe Kosenina: Emst Platners Anthropologie und Philosophie, S. 42 ff., S. 70 ff., S. 86 ff., S. 107 ff.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
Weltweise" (1772) beschäftigt sich ihrem Programm gemäß mit den Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist.44 Zwar behauptet auch Plainer, grundsätzlich würde es „die größte Unwissenheit verrathen, [...] wenn man sich Hoffnung machen wollte, dieses Geheimnis", nämlich das der „Gemeinschaft der Seele mit dem Körper", „zu entdecken, oder sich gar einzubilden, es schon entdeckt zu haben."45 Deshalb würden auch „alle Untersuchungen über die Natur der geistigen und materiellen Substanzen, und über die Gemeinschaft beyder Arten, niemals zu einem festen Lehrgebäude gerathen".46 Gleichwohl aber bedeutet dies Plainer zufolge nicht, daß man „denn nun von den gegenseitigen Verhältnissen der Seele und des Körpers gar nichts beobachten und aufzeichnen" könne. Aus diesen beiden Annahmen ergibt sich die Struktur der Argumentation: Auf Seiten des Körpers und auf Seiten der Seele werden Regelmäßigkeiten und Strukturen aufgezeigt, denen die wechselseitige Einflußnahme zwischen Körper und Geist folgt. Dabei stößt die Untersuchung immer wieder an eine Grenze der Erklärbarkeit, die sie nur verschieben, nicht aber aufheben kann. Letztlich trägt daher, so könnte man mit Jean Paul ergänzen, eine „natürliche Magie" für die Einheit von Körper und Seele Sorge.47 Was die Anthropologie also beschreiben kann, sind die Arten und Weisen, auf die der Körper der Seele und die Seele dem Körper zuarbeitet'. In dieser ,Arbeitsbeziehung' erblickt Platner die „Absicht und [...] 44
Siehe Platners Bestimmung der Anthropologie als Wissenschaft in der Einleitung (Ernst Platner: Anthropologiefir Ar^te und Weltweise. Erster Teil. 2. Nachdruck der Ausgabe Halle 1772. Hüdesheim - Zürich - New York 2000 [1772], S. XVff.). Zu Platners Anthropologie siehe Alexander Kosenina: „Nachwort". In: Ernst Platner: Anthropologie fir Ar^te und Weltweise. Hg. v. Alexander Kosenina. Hildesheim - Zürich - New York 2000, S. 3 0 3 - 1 3 (dort auch weitere Verweise), sowie Mareta Linden: Untersuchungen %um Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts. Bern - Frankfurt/M. 1976, S. 42 ff. Platner legte 1790 eine „Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise" vor. Zu den Differenzen zwischen den beiden .Anthropologien' siehe Kosenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie, S. 29, Kosenina: „Nachwort", S. 313, Linden: Untersuchungen %um Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, S. 54-61. Zu Platners Konzept der Einbildungskraft siehe Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 85 ff. — Einen Überblick über die Forschung zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts gibt Wolfgang Riedel: „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufkärung. Skizze einer Forschungslandschaft". In: IASL 6. Sonderheft, 1994, S. 93—157.
45 46 47
Platner: Anthropologie fir Arge und Weltweise, S. X. Platner: AnthropologiefirÄr^te und Weltweise, S. XIV. Zur natürlichen Magie' siehe Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 70 ff. Proß bemerkt im Zusammenhang mit Platner, diesem (und Jean Paul) habe, um sich gegenüber der Kantischen Schule durchzusetzen, insbesondere die Möglichkeit einer Beschreibung des Körpers „als autonomes System der Selbststeuerung" (Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 53) im Sinne der Kybernetik gefehlt. An die Stelle einer solchen Beschreibung trete beispielsweise bei Platner die Vorstellung eines animus (S. 54) oder eben die Magie der Einbildungskraft.
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Natur der Vereinigung des Körpers mit der Seele". 48 Platners Interesse am .ganzen Menschen' stellt dabei den Körper in den Dienst der Seele, auch wenn von einer „gegenseitige[n] Abhängigkeit" 49 die Rede ist: Die Seele braucht um ihres doppelten, in Erkennen und Wollen gegründeten Weltverhältnisses willen den Körper. Trotz ihrer Angewiesenheit auf den Körper aber behandelt Platner die Seele als dasjenige, auf das sich die „Absicht" der seelisch-körperlichen „Vereinigung" richtet. Zwar habe die Seele ihren „Sitz" im Körper, nämlich im „Gehirnmark", doch ist Platner von einer materialistischen Grundlegung seiner Theorie weit entfernt: Als „Sitz" der Seele gilt ihm „ [derjenige Ort im menschlichen Körper in welchem die Grenzen des gegenseitigen Verhältnisses zwischen Seele und Körper sind". 50 Diese Grenzen aber implizieren, angesichts der Grundannahme einer Uneinsehbarkeit der letzten Gründe für die körperlich-seelische Einheit, eine operative Unabhängigkeit der Seele vom Körper. Sie regulieren zugleich die Wechselwirkung zwischen dem damit ausgeschlossenen Außen (dem Körper) und dem Inneren (der Seele). Es handelt sich also um eine Rahmenunterscheidung. Wie aber beschreibt Platner nun die an dieser Grenze zu beobachtenden Transaktionen? Die ,Verfeinerung' der Gegenstände der Welt durch die Organe des Körpers, insbesondere durch das Gehirn 51 als „Sitz der Seele", 52 geschieht in mehreren Stufen und wird schließlich durch eine Handlung des Bewußtseins ergänzt. Einerseits geht Platner dabei davon aus, daß unterschiedliche Gegenstände die Aufmerksamkeit der Seele schon aufgrund von physiologischen Mechanismen in unterschiedlicher Weise auf sich ziehen können — die Rede ist hier von der Bewegung von ,Lebensgeistern'. Andererseits aber wirkt diese physiologische Form der Aufmerksamkeitserzeugung Platner zufolge ihrerseits nicht determinierend auf die Seele: Wenn nun die innere Impression [...] des Objekts, einen gewissen von der Natur bestimmten Grad der Lebendigkeit hat; d. h. wenn die innere Bewegung der Lebensgeister [...] die aus der Impression entsteht, einen gewissen Grad der Stärke hat, so entsteht dadurch in der Seele das Bewußtsein und die Ueberzeugung von der Wirklichkeit eines außer ihr existierenden Dinges. Dies ist die geistige Idee. [...] Das Bewußtseyn ist kein Leiden der Seele, welches etwan aus dem neuen Eindruke eines Bildes in der Seele entstünde, sondern es ist eine Handlung. Ist die geistige Idee nichts als eine tode Vorstellung, ein Eindruk in der Seele, so kann
48 49 50 51 52
Platner: AnthropologiefirAr^te Platner: AnthropologiefirAr^te Platner: AnthropologiefirAr^te Siehe Platner: Anthropologie fir Platner: Anthropologie firAr^te
und Weltweise, S. 35. und Weltweise, S. 37. und Weltweise, S. 38 (Hervorhebung von mir). Arge und Weltweise, S. 36 (§ 131). und Weltweise, S. 44
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul daraus kein Gedanke, kein Bewußtseyn entstehen. Denn dies setzt allezeit etwas voraus, was diesen Eindruk wahrnähme. 53
Zwar ist die Seele selbst zur Beobachtung ihrer eigenen Operationen darauf angewiesen, daß diese einen Eindruck im Gehirn hinterlassen. Sie ist also in jedem Fall von physiologischen Gegebenheiten abhängig. Doch geht die „Ueberzeugung" der Seele von der Existenz eines Dings nicht automatisch aus „einem gewissen Grade des Stoßes der Lebensgeister"54 hervor, auch wenn letzterer notwendig ist, um Uberzeugungen zu produzieren. Diese sind vielmehr Ergebnis eines ,,gewisse[n] innern Zwangfs], vermöge dessen unsere Seele gedrungen ist, etwas wirkliches außer sich anzunehmen", ein Zwang, der, so Plainer, „sich durch nichts anders erklären läßt als aus der Einrichtung unserer Natur".55 In mehrfacher Hinsicht stehen diese Ausführungen der Jean Paulschen Theorie der Einbildungskraft, so wie sie bislang rekonstruiert wurde, nahe: Jean Pauls Annahme, auch die Empfindungen würden vom Bewußtsein ,erzeugt' und nicht schlicht ,empfangen', ist nicht nur ein Stückweit konform mit der Kantischen Theorie der „figürlichen Synthesis" als Basisleistung der Einbildungskraft, sondern sie läßt sich auch mit Platners Theorie stützen. Anders als Kant jedoch geht es Platner darum, so weit wie möglich auch die physischen Prozesse zu beschreiben, mit denen seiner Auffassung nach die psychischen Prozesse in irritativer Wechselwirkung stehen.56 Wichtig für Jean Pauls Theorie ist Platners sehr genaue Markierung der Grenze zwischen physischem und psychischem Operationsbereich, einer Grenze, deren Durchlässigkeit ihrerseits eine Grenze des Erklärbaren darstellt. Denn Jean Paul findet zwar auch keine Erklärung, aber doch ein Modell für die Transaktionen, die an dieser Grenze getätigt werden: Den Buchstaben, der auf einer anderen Ebene eine ähnliche Rahmenunterscheidung bereitstellt. Jean Paul nimmt aber eine entscheidende Modifikation der von Platner aus dem bislang Rekonstruierten gefolgerten Annahmen über Verstand und Phantasie vor, die zuerst behandelt werden muß, soll der Stellenwert der Jean Paulschen Theorie des Buchstabens deutlich werden. Platner unterscheidet wie Jean Paul Phantasie, Einbildungskraft und weitere verwandte Vermögen wie das Gedächtnis und die Erfindung.57 All diese Vermögen unterscheiden sich darin von der Empfindung, daß sie 53 54 55 56 57
Platner: Anthropologe fir Arge und Weltweise, S. 84. Platner: Anthropologe firArsfe und Weltweise, S. 87. Platner: AnthropologefirArsge und Weltweise, S. 87. Vgl. dagegen auch Kants Projekt einer pragmatischen Anthropologie (siehe Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination", S. 106 f.). Zu Platners Unterscheidung von Phantasie und Einbildungskraft siehe Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination", S. 112 ff.
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abwesende Dinge vorstellen. Wichtig sind allerdings die Unterschiede in der Verläßlichkeit dieser Vermögen, die im Zusammenhang stehen mit der jeweils angenommenen Verteilung der Beiträge von Körper und Seele zu ihren Erzeugnissen. Laut Platner sind Verfahren der „Prüfung" notwendig, wenn unseren Vorstellungen eine „Beziehung auf die Wirklichkeit"58 eingeräumt werden soll. Platner entwirft dann eine Art operativen Kreislauf zwischen den menschlichen Erkenntnisvermögen: Verläßliche Erkenntnis wird produziert, indem die Empfindungen fortwährend nachträglich durch die Vernunft mit bereits vorliegenden Empfindungen verglichen werden: „Die Einsicht der Ähnlichkeit und Verschiedenheit ist die Vernunft. Also gehört zur sinnlichen Empfindung Vernunft."59 Gerade dieser Kontrollkreislauf ist aber laut Platner bei der Phantasie ausgeschaltet. Ein Ubergewicht rein körperlicher Aktivität induziert hier Unzuverlässigkeit.60 Es kann nämlich vorkommen, daß nur durch ein „mechanische[s] Ungefähr" im Geist „Impressionen" erweckt werden; die „daraus erzeugten Vorstellungen" aber sind „keine Wirkung vorhergegangener Vorstellungen, sondern allein der mechanischen Phantasie."61 Die weitgehend von einem „mechanischen Ungefähr" gesteuerte Phantasie vermag so eine Abfolge von Vorstellungen zu erzeugen, die sich aus bestehenden „Gedächtnisimpressionen" und mechanischen Effekten zusammensetzt und „Misgeburten"62 hervorbringt. Dieser Abwertung der Phantasie folgt Jean Paul, wie bereits gesehen, nicht. Wenn er die Platnerscher Wertungen umkehrt, so hat das zur Folge, daß die Einbildungskraft, die Platner im Gegensatz zur Phantasie hochschätzt,63 später in der „Vorschule" nur noch wenig Beachtung findet: „Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt",64 heißt es in dem sehr kurzen Paragraphen, der ihr gewidmet ist. Das „bloße Ein- und Vorbilden", von dem im Einbildungskraft-Aufsatz die Rede ist, hat aus dieser Perspektive nur die „Abblätterungen" der Wirklichkeit zu bieten - und damit wohl weniger als die Empfindung. In einem Punkt allerdings übernimmt Jean Paul auch Platners Überlegungen über die ,Folge der Ideen', wie sie die Phantasie hervorbringt. Er zieht nämlich ebenso wie Platner die Folgerung, die Phantasie erweitere den „Gesichtskreis der Seele".65 58 59 60 61 62 63 64 65
Platner. Anthropologie für Arge und Weltweise, S. 159. Platner: Anthropologie für Arge und Weltweise, S. 86. Platner: Anthropologie für Arge und Weltweise, S. 159 f. Platner: AnthropologießrAr^te und Weltweise, S. 164. Platner: Anthropologie für Arge und Weltweise, S. 166 (irrtümlich als S. 466 ausgezeichnet). Siehe Platner: Anthropologie fürAr^te und Weltweise, S. 262 ff. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 47. Platner: AnthropologiefürAnfe und Weltweise, S. 161 f.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
Platner zufolge ist dieser normalerweise durch die jeweiligen Gesichtskreise der einzelnen Sinne eingeschränkt, mittels der Phantasie aber kann er sowohl „ins Unendliche", also ins unendlich Große gehen, als auch in „kleinste mögliche Vorstellungen" und „in unzählbare willkürliche Theile". Dies ist zwar nicht „in einem Augenblicke gleichzeitig" möglich, aber immerhin „aufeinander folgend".66 Während die Erweiterung des „Gesichtskreises der Seele" bei Platner kein weiteres Interesse findet, kann sie für Jean Paul Bedeutung erlangen, weil er die Phantasie anders als Platner nicht in erster Linie mechanisch erklärt. So heißt es an der bereits zitierten Stelle, an der Empfindung und Phantasie unterschieden werden: Allerdings ist noch ein Unterschied und ein größerer - [...] es ist nämlich der, daß unser bekanntes Ich die Sukzession in der Phantasie (wie das Simultaneum in der Empfindung) ordnet und regelt, sogar im Chaos des Traums, da die drei Gesetze der Ideenassoziadon bloß vom Körper auf keine Weise beobachtet werden könnten. 67
Nicht der Körper, sondern „unser bekanntes Ich [...] ordnet und regelt" die Abfolge der Vorstellungen der Phantasie. Keinesfalls bestreitet Jean Paul die Mitwirkung des Körpers. Allerdings macht es sein Programm der Legitimierung der Phantasie notwendig, die Akzente anders zu setzen als Platner, dem es, sofern er erkenntnistheoretische Interessen verfolgt, eher um die Rechtfertigung objektiver Erkenntnis und die Einheit der Vernunft geht. Die Erweiterung des „Gesichtskreises der Seele" durch die Phantasie ist, so Jean Paul, die wichtigste Ursache dafür, daß sie „uns in ihren Ländereien mit Zauberspiegeln und Zauberflöten so süß betören und so magisch blenden könne".68 Sie kommt damit dem menschlichen „Sinne des Grenzenlosen"69 entgegen: Die Arme des Menschen strecken sich nach der Unendlichkeit aus: alle unsere Begierden sind nur Abteilungen eines großen unendlichen Wunsches. [...] Alle unsere Affekten führen ein unvertilgbares Gefühl ihrer Ewigkeit und Überschwengüchkeit bei sich — jede Liebe und jeder Haß, jeder Schmerz und jede Freude fühlen sich ewig und unendlich. [...] Wir sind unvermögend, uns nur eine Glückseligkeit vorzuträumen, die uns ausfüllte und ewig befriedigte. [...] Was nun unserem Sinne des Grenzenlosen [...] die scharfabgeteilten Felder der Natur verweigern, das vergönnen ihm die schwimmenden nebligen elysischen der Phantasie. 70 66 Platner: Anthropologie firAr^te und Weltweise, S. 162. 67 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 196. 68 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 196, 69 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 200. - Siehe hierzu Proß, der die Einbildungskraft bei Jean Paul als das „Bewußtsein eines ,Grenzenlosen'" beschreibt, das weder als platonische Idee, noch als angeborener oder synthetisch-apriorischer Begriff gilt, aber „jeder sinnlichen Erfahrung beigegeben ist" (Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 201). 70 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 200 f.
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Bemerkenswert ist, daß von der sinnlichen Natur behauptet wird, sie zeige sich nur in „scharfabgeteilten Felder[n]", wohingegen mittels der Phantasie eine Entgrenzung der Sinnlichkeit erreicht werde. Damit stellt sich also die Frage, wie sich das Verhältnis von (sinnlicher) Begrenzung und (phantastischer) Entgrenzung beschreiben läßt. Diese Frage ist für Jean Pauls Ästhetik und Poetik insgesamt von großer Bedeutung und erfährt sehr differenzierte Bearbeitungen. Daß für diese Verbindung bzw. für das gleichzeitige Prozessieren körperlicher und geistiger Zusammenhänge die Phantasie zuständig ist, bleibt dabei immer der Ausgangspunkt. An dieser Stelle möge es genügen, ein Beispiel anzuführen, das erste Hinweise auf Jean Pauls Behandlung der Frage gibt. Im EinbildungskraftAufsatz geht Jean Paul insbesondere dem Erlebnis des Erhabenen nach, das er zwar nicht wie Kant und Schiller 71 an ein Moment der Überwältigung der Sinnesvermögen (und damit der Einbildungskraft) bindet, aber gleichfalls als ein Wechselspiel von Grenzziehung und -Überschreitung beschreibt: 72 Die Natur zwar selber als Sinnengegenstand ist nicht erhaben, d. h. unendlich, weil sie alle ihre Massen wenigstens mit optischen Grenzen scharf abschneidet, das unabsehliche Meer mit Nebel oder Morgenrot, den unergründlichen Himmel mit Blau, die Abgründe mit Schwarz. Gleichwohl sind das Meer, der Himmel, der Abgrund erhaben; aber nicht durch die Gabe der Sinne, sondern der Phantasie, die sich an die optischen Grenzen, an jene scheinbare Grenzenlosigkeit hinstellet, um in eine wahre hinüberzuschauen. 73
Die Phantasie vermag es, gerade ausgehend von Gegenständen der Natur, die eigentlich „mit optischen Grenzen scharf umrissen sind, also von einer bloß ,,scheinbare[n] Grenzenlosigkeit" aus, „in eine wahre hinüberzuschauen". 74 Diese Ausweitung des „Gesichtskreises der Seele" nimmt vom Begrenzten der sinnlichen Empfindung ihren Ausgang. Jean Paul fährt fort: Man könnte fragen: warum tut sie es nicht bei jedem Blau, bei jedem Schwarz? — Man könnte antworten: weil nicht jedes Blau einen so großen Gegenstand umschließet. Man könnte wieder fragen: warum denn eine dem Meere an Größe gleiche Blumenebene sich mit Nebeln schließe, ohne so erhaben zu sein wie das Meer. Die letzte Antwort aber bleibt: weil alles Große einfärbig sein muß, da jede neue Farbe einen neuen Gegenstand anfängt. Im einfachen Blau des Himmels
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73 74
Siehe Müller: Jean 'Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 130 ff. Müller konstatiert: „Das Erhabene ist das auf Grenzempfindungen der Sinnesorgane angewandte Unendliche der Phantasie." (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 132.) Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 201 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 201.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul wiegt die Seele ihre Flügel auf und nieder — und aus dem letzten Stern stürzt sie sich mit ausgebreiteten Schwingen in die Unermeßlichkeit. 75
Die „letzte Antwort" gibt den entscheidenden Hinweis: die „scheinbare Grenzenlosigkeit", von der die Phantasie ausgeht, um einen Blick in die „wahre" zu werfen, besteht in einer Begrenzung, innerhalb derer keine weitere Grenze zu erkennen ist: Auch das Einfarbige muß ja, insofern es der sinnlich erfaßbaren Natur zugehört, seine scharfen Grenzen haben.76 In sich allerdings weist es keinerlei optische Merkmale auf, anhand derer weitere Unterscheidungen getroffen werden könnten: Der Effekt, um den es Jean Paul geht, ergibt sich ja erst, wenn man den „letzten Stern" gewissermaßen hinter sich gelassen hat. Dann rückt der einfarbige Hintergrund, auf dem sich zuvor dieser Stern abgezeichnet hat, selbst in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Die eigentliche Begrenztheit des Einfarbigen — hier markiert durch den ,letzten Stern' - gerät dabei aus dem Blick. Die Phantasie kann so von der Grenze absehen, die auch die Einfarbigkeit beschränkt, und sich eine Einfarbigkeit vorstellen, die grenzenlos ist. Die in den Vordergrund geratene Einfarbigkeit wird zugleich als Vordergrund und Hintergrund angesehen bzw. die Unterscheidung zwischen Vorderund Hintergrund wird aufgehoben. Wenn sich die Seele „mit ausgebreiteten Schwingen in die Unermeßlichkeit" stürzt, so vergißt sie gleichsam die äußere Grenze des einfarbigen Himmels, und während sie sich nur in diesen Grenzen bewegt, trifft sie auf keine andere Grenze. Damit entwickelt Jean Paul den Übergang vom Begrenzten zur Entgrenzung als Prozeß und rekurriert so auf die zentrale Eigenschaft der Phantasie, Vorstellungen in der Zeit organisieren zu können - wobei sich in diesem Fall die Verkettung auf der Seite des materiell Gegebenen in der Wiederholung ein und desselben (und dazu noch ,leeren') Elements leerläuft.77 Gleichzeitig konturiert die ,formale' Behandlung der Frage nach dem Erhabenen eine Figur, die für das folgende entscheidend ist: Die Figur der (einfarbigen) ,Leerstelle', von der die Phantasie bei ihrer Bewegung ausgeht. Als .Spatium' bildet diese Leerstelle die Grenzfigur des Buchstabens, der, wie bereits angekündigt, die zentrale Metapher der Jean Paulschen Theorie der Einbildungskraft darstellt. Als Grenzfigur des Buchstabens steht das Spatium dabei in einem engen Zusammenhang zu 75 76
77
Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 201 Auch Hagel betont - unter Benutzung einer geometrischen Metaphorik - , daß das Erleben des Erhabenen von einem begrenzten Gegenstand ausgehen muß und mittels der zeitlichen Qualitäten der Phantasie überhaupt erst erzeugt wird (Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens, S. 79 ff.). Vgl. die Beschreibung in der „Vorschule": „das Auge wiederholet bis zum Schwindel dieselbe Farbe, und dieses ewige Wiederkommen des Nämlichen wird das unendliche Bild" (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 108).
1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie
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jener Rahmenunterscheidung, die der Buchstabe darstellt. Darum geht es im folgenden. b) Der Buchstabe als Kippfigur: Schrift als Figur und Ornament Die unterschiedlichen Grenzziehungen, die damit in den Blick geraten sind, erfaßt Jean Pauls Beschreibung der Einbildungskraft sehr präzise mit dem Modell des Buchstabens. Aus dieser Perspektive stellt das Einfarbige, das durch die Phantasie erhaben wirken kann, einen Extremfall dessen dar, was Empfindungs- und Einbildungskraft vorstellen können. In allen anderen Fällen nämlich wird man davon ausgehen müssen, daß mindestens zwei Grenzziehungen konstitutiv sind für ihre Erzeugnisse: Eine äußere und (mindestens) eine innere. Genau diese beiden Grenzziehungen aber sind auch für Buchstaben konstitutiv. 78 Zweimal kommt der frühe Text über die Einbildungskraft auf Buchstaben zu sprechen. „Wir denken das ganze Jahr über weniger mit Bildern als mit Zeichen, d. h. zwar mit Bildern, aber nur mit dunklern kleinern, mit Klängen und Lettern" 79 — so heißt es zunächst. Der Buchstabe erscheint als Basiselement unseres Denkens und mag metonymisch für unseren Umgang mit sprachlichen Zeichen überhaupt stehen. Das ist aber nicht alles. Denn an späterer Stelle entwirft Jean Paul das menschliche Verhältnis zur Natur als eine Art von Kommunikation und stellt eine Analogie her zwischen den Buchstaben der Sprache und denen der Natur: „Unsere Seele schreibt mit vierundzwanzig Zeichen der Zeichen (d. h. mit vierundzwanzig Buchstaben der Wörter) an Seelen; die Natur mit Millionen." 80 Auf die Frage der Lesbarkeit der Natur wird zurückzukommen sein. Entscheidend ist zunächst die Übertragung, die Jean Paul vornimmt. Er rekurriert an dieser Stelle auf die Differenz zwischen willkürlichen und natürlichen Zeichen — wobei die natürlichen Zeichen in gewisser Weise zum Äquivalent der von der Empfindungskraft vorgestellten inneren Bilder werden. Diese unterscheiden sich zunächst einmal in ihrer Menge. Wie aber können die „vierundzwanzig Buchstaben" zum Modell für die „Millionen" Lettern der Natur werden? Der 78
79 80
Zur .Materialität des Textes' und zum Buchstaben bei Jean Paul siehe die wegweisende Arbeit von Schmitz-Emans: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher", sowie Helmut Pfotenhauer: „Bild - Schriftbild — Schrift: Jean Paul". In: Gerhard Neumann, Günter Oesterle (Hgg.): Bild und Schrift in der Romantik. Würzburg 1999, S. 59—72. Zur semiotischen Dimension des Jean Paulschen Phantasiebegriffs siehe bereits Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul\ S. 5 ff. Bosse bestimmt die „entziffernde Tätigkeit der Phantasie" als „Leihvorgang" (Bosse: Theorie und Praxis hei Jean Pau/, S. 10). Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 199. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 203.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
Grund dafür liegt darin, daß am Buchstaben eine Rahmenunterscheidung augenfällig wird, die dem Jean Paulschen Modell zufolge auch für die natürlichen' Zeichen relevant ist. Wie aber ist diese Unterscheidung zu beschreiben? Einen ersten Hinweis gibt eine Anmerkung Jean Pauls über die „Lettern des Malers": „Die typographische Pracht dieser Lettern vermenge man nicht mit dem erhabenen Sinn, dessen unwillkürliche Zeichen sie sind."81 Die „typographische Pracht" der natürlichen Zeichen, die der Maler benutzt, dasjenige also, was an ihnen ornamental ist, wird hier unterschieden von demjenigen, was in irgendeiner Weise als bedeutungstragend angesehen werden kann. Auf eine ähnliche Unterscheidung spielt auch eine Stelle aus dem „Quintus Fixlein" an, einer Erzählung, deren Protagonist sich in mehrfacher Hinsicht als eine Art Reflexionsfigur für Jean Pauls Nachdenken über das Paratextuelle erweisen wird: Nach dieser Buchhaltung stach der Gevatter [Fixlein] in Kupfer. Er war so glücklich gewesen, herauszubringen, daß aus einem Zuge, der einem umgekehrten lateinischen S gleichsieht, alle Anfangsbuchstaben der Kan^leischrift so schön und so verschlungen, als sie in Lehr- und Adelsbriefen stehen, heraus^uspinnen sind. [...] Diese Schönheitslinie, in alle Buchstaben verlogen, will er durch Kupferplatten, die er selber sticht, für die Kanzleien gemeiner machen, und ich darf dem russischen, dem preußischen Hofe und auch einigen kleinern in seinem Namen Hoffnung zu den ersten Abdrücken machen: für expedierende Sekretäre sind sie unentbehrlich.82
Fixleins Verfahren der Buchstabenproduktion kehrt ein Verhältnis um, von dem man meinen sollte, daß es für Buchstaben konstitutiv ist. Eine Linie, und zwar eine ,Schönheitslinie', nach Hogarth etwas genuin Ornamentales, ein Moment „typographischer Pracht", ist hier die Figur, aus der alle Buchstaben gezogen werden können — während man doch davon ausgehen sollte, daß es die unterschiedlichen Figuren sind, die Buchstaben als Zeichen erkennbar machen. Für jeden Buchstaben scheint ja eine spezifische Figur charakteristisch zu sein, eingetragen über einer dem Spatium äquivalenten Fläche,83 in die gleichwohl, und ohne daß die Distinktheit des Zeichens dadurch gefährdet würde, weitere, als ,bloß ornamental' angesehene Strukturen eingezeichnet werden können. Man wird daher im Normalfall davon ausgehen, daß Unterschiede in der typographischen Gestaltung keinen Bedeutungsunterschied machen — auch wenn sie grundsätzlich bedeutsam werden können. Präziser ließe sich formulieren und auf diesen systematischen Unterschied komme ich in Kapitel VII 81 82 83
Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 203. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 167 (Hervorhebung von mir). Friedrich Kittler: „Buchstaben - Zahlen — Codes". In: Horst Wenzel, Wilfried Seipel, Gotthart Wunberg (Hgg.): Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche. Wien - Milano 2001, S. 43-49, S. 43.
1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie
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zurück —, daß der Buchstabe der Ort ist, an dem die Digitalität der Schrift (das .Eigentliche' des Zeichens) in der Analogizität der Schrift beobachtbar wird. Die (schwer zu bestimmende) Grenze %wischen Figur und Ornament ist daher für ihn konstitutiv, und jeder, der schreibt oder liest, operiert mittels dieser Unterscheidung.84 Wenn Jean Paul auf die Buchstäblichkeit der natürlichen Zeichen85 abhebt, so ist dies zurückzubeziehen auf seine Beschreibungen der Empfindungskraft bzw. der Einbildungskraft. Denn insofern beide Vermögen fortwährend das Sinnlich-Diffuse zu wiedererkennbaren Figuren synthetisieren, leisten sie immer schon einen Entzug der unmittelbaren Sinn84
Der hier verwendete Figurbegriff ist einerseits motiviert durch die oben angeführte Kantische Prägung von der „figürlichen Synthesis", die die Einbildungskraft leiste. Andererseits bildet die (aus der Kunstgeschichte stammende) Unterscheidung von Figur und Ornament einen wichtigen Einsatzpunkt der Luhmannschen Kunsttheorie (siehe Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 193 ff., S. 349 ff.) Ich möchte vorschlagen, dieser Unterscheidung eine tragende Funktion für eine Theorie des Textes zuzuweisen (siehe VII.l). - Für eine kunstgeschichtliche Untersuchung des Ornamentalen siehe Ernst Gombrich: Ornament und Kunst. Schmucktneb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens. Stuttgart 1982 [1979]. Gombrich kommt anhand bemerkenswerter Beispiele auch auf die ornamentale Dimension von Schrift zu sprechen (S. 246-53) und hebt die Kontingenz der Grenze zwischen Figürlichkeit und Ornamentalem ausdrücklich hervor, wenn er beispielsweise von der Möglichkeit einer „Verschmelzung von Symbolik und Dekoration" und einer „Verwandtschaft von Schrift und Schmuck" (S. 248) spricht. — Übrigens entspricht mein Begriff von Figur im Grunde auch der ersten, weiteren Definition von Figuralität, die Quintilian anbietet: „Daher ist zunächst ins Auge zu fassen, was wir unter Figur verstehen sollen. Das Wort wird nämlich auf zweierlei Art gebraucht: einmal für jede Form, in der ein Gedanke gestaltet ist, wie sich ja auch die Körper, sie mögen in jeder beliebigen Weise gestaltet sein [quoquo modo sunt composita], jedenfalls immer in irgendeiner Haltung [habitus] befinden; zweitens für die Form, die im eigentlichen Sinn Schema heißt, als eine wohlüberlegte Veränderung im Sinn oder im Ausdruck gegenüber seiner gewöhnlichen, einfachen Erscheinungsform, so wie wir auch sitzen, uns lagern, zurückschauen." Die am Beispiel des Körpers vorgenommene Unterscheidung zwischen Gestaltung oder Komposition und Haltung (habitus), die den weiten Figurbegriff erläutert, entspricht in etwa der Unterscheidung von Ornament und Figur. Quintilian kommt zu dem Schluß, daß es im Sinne dieses ersten Figurbegriffs nichts gibt, „das nicht als Figur gestaltet ist [nihil non figuratum est]" (Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Zweiter Teü. Buch V1I-XII. Übers, u. hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1975, S. 255). Auch Wirth kommt in seiner Untersuchung von „Leben Fibels" auf das Jean Paulsche Interesse am Buchstaben zu sprechen. Er benutzt dabei den Zeichenbegriff von Peirce und beschreibt ornamentale Differenzen als „tonale Qualitäten des Schreibens" (Uwe Wirth: „Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls Leben Fibels". In: Martin Stingelin (Hg.): ,Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum'. Schreiben von der Frühen Neuheit bis 1850. München 2004, S. 153-71, hier S. 164).
85
Aus kunsthistorischer Sicht beleuchtet eine neuere Arbeit von Metzger das Konzept der Buchstäblichkeit der bildenden Kunst (Rainer Metzger: Buchstäblichkeit. Bild und Kunst in der Moderne. Köln 2004). Metzger zeigt insbesondere, daß der Gedanken, Bilder seien als buchstäbliche Gebilde aufzufassen, aus der Zeit um 1800 stammt; er nennt Goethe und die Brüder Schlegel als Gewährsmänner (S. 29 ff.). Seine Arbeit zieht Linien bis in die Gegenwartskunst.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
lichkeit, lassen uns mithin von ,typographischer Pracht' absehen und auf die sinnfällig werdende Figur konzentrieren. Nur so können sie dafür sorgen, daß Dinge überhaupt als distinkt und damit wiederholt identifizierbar wahrgenommen werden. Der Umgang mit den Buchstaben der Schrift ist lediglich eine in besonderer Weise abstrahierte Form dieser Tätigkeit, die sich zum Zweck der Kommunikation als notwendig erweist. Die Transformation oder Synthetisierung des Gegebenen in etwas Buchstäbliches aber ist die Bedingung dafür, überhaupt Objekte konstituieren zu können. Damit ist sie die Grundvoraussetzung jeder Erkenntnis. Allerdings kann sie selbst in ihren Grundlagen nicht eingesehen werden: Empfindungskraft und Einbildungskraft funktionieren eben aufgrund einer natürlichen Magie und stellen mittels buchstäblicher Formen eine Verbindung her zwischen dem Sinnlichen bzw. Körperlichen und der Seele. Geht Platners Anthropologie davon aus, daß die Seele des Körpers bedarf, um ihr Weltverhältnis konstituieren zu können, so wird bei Jean Paul die Materie zu einem Medium, in dem der Geist jene ,Zeichen der Zeichen' ausmachen kann, die ihm also die Einheiten zur Verfügung stellt, mit denen er umgehen kann. Platners Theorie stellt dabei bereits zwei Momente heraus, die in Jean Pauls Modell eine gewichtige Rolle spielen: Zur Erzeugung von Ideen in der Seele ist einerseits eine (bei Platner durch die physischen Mechanismen zur Erregung der Aufmerksamkeit vorstrukturierte) Begrenzung des Feldes der Wahrnehmung und andererseits eine Operation der Seele notwendig, die innerhalb dieses Feldes einen Gegenstand als wirklich und außerhalb der Seele existierend erkennt, die mithin eine Unterscheidung trifft. Genau dies sind die beiden Unterscheidungen, die bei Jean Paul als für den Buchstaben konstitutiv erscheinen: Die erste bereitet den Raum, in den sich die zweite eintragen kann. Bei der Erfahrung des Erhabenen wird dabei auf die zweite Grenzziehung verzichtet: In diesem Fall geht die Phantasie vom Spatium aus und bewegt sich nur innerhalb dieses ,Zeichens von Zeichen'. Die hier anschaulich gegebene Grenzenlosigkeit nimmt sie für eine absolute Grenzenlosigkeit: Der Hintergrund, den die für das Spatium konstitutive erste Grenzziehung bereitet, wird so selbst zur Figur. In allen anderen Fällen aber läßt sich diese Figur erst in einem zweiten Schritt erkennen, wenn nämlich innerhalb der Grenzen, die den Hintergrund konstituieren, zwischen Ornament und Figur unterschieden wird. So kommt es zu jener Kantischen „figürlichen Synthesis", von der Jean Pauls Aufsatz ausgeht. Wenn Jean Paul also die für den Buchstaben sogleich einsichtige Struktur auch für natürliche Zeichen geltend macht, so wird damit der Bestimmungsgrund der Natürlichkeit dieses Zeichens neu beschreibbar. Es handelt sich nicht mehr um Zeichen, in denen das unmittelbar Sinnliche
1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie
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erhalten bliebe, um Zeichen also, die einen direkten Zugang zur Natur bieten. Schon in Platners Ausführungen kann ja von einer solchen Unmittelbarkeit des Zugriffs auf die Natur keine Rede mehr sein. Vielmehr kommt die Natur Jean Pauls Theorie zufolge ins Spiel, indem sie (mittels der Einbildungskraft) sich selbst in quasi-buchstäblicher Form zur Verfugung stellt, ja uns dazu „zwingt", sie in dieser Form wahrzunehmen (und dann konsequenterweise die Welt zu beseelen). Natur ist es also, wenn wir die Natur nicht an sich, sondern in der Form distinkter Figuren wahrnehmen — auch wenn deren Analogizität als unmarkierte Seite unserer Vorstellungen immer mitgeführt wird.86 Die Natur bewirkt, daß das Bewußtsein eine Grenze zieht zwischen der distinkten Figur, der dann eine universalisierte Unterscheidung untergeschoben und die damit digitalisiert wird, und dem ihr im Analogen, d. h. hier: im Sinnlich-Diffusen anhaftenden Ornament. Die Wirklichkeit muß als Buchstabe aufgefaßt werden, an dem distinkte Figur und ornamentaler Zusatz immer wieder unterschieden werden können. Der Buchstabe ist der Ort, an dem der Übergang vom Bild zum Zeichen operationalisierbar wird,87 und er ist zugleich der Ort, der unabhängig von den Operationen unserer Einbildungskraft das ausgeschlossene Ornamentale immer bereithält - und sei es für alternative Unterscheidungen von Ornament und Figur. Damit erhält auch die Natur einen doppelten Status: Einerseits harmoniert sie mit den menschlichen Erkenntnisvermögen, indem sie sich figürlich zur Verfügung stellt. Andererseits geht sie in ihrer Figuralität nicht auf, denn die präfigurale Sinnlichkeit erweist sich als ebenso naturgegeben wie unzugänglich. In den Buchstaben tritt also die Unterscheidung zwischen sinnlichen und geistigen Phänomenen, mit deren paralleler Verkettung die Phantasie
86
87
Damit wird eine Bedingungsstruktur des menschlichen Vorstellungsvermögens schlechthin mit dem Buchstaben in Verbindung gebracht. Ähnlich betont Schmitz-Emans, die Materialität des Buches diene bei Jean Paul als „metaphorische Chiffre für Bedingtheit" (Schmitz-Emans: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher", S. 22). Eine ganz ähnliche Struktur beschreibt Schmitz-Emans an den Illustrationen, die den Kapitelüberschriften der „Flegeljahre" beigegeben sind (dazu siehe Lohmann: Jean Pauls ,Flegeljahre' /; Gustav Lohmann: Jean Pauls ,Flegeljahre' gesehen im Kähmen ihrer Kapitelüberschriften. Teil II. Würzburg 1995). Sie stellen die von den Kapitelüberschriften jeweils bezeichneten Bestandteile eines Naturalienkabinetts dar: „Man kann das Naturalienkabinett als eine Art von Alphabet' betrachten; besteht es doch aus diskreten Zeichen einer BilderSchrift, aus Chiffren, die sich in verschiedenen Kontexten einsetzen lassen und deren jeweilige Bedeutung sich daraus ergibt, in welchem man sie liest." (Monika Schmitz-Emans: „Alles ,bedeutet und bezeichnet'. Überlegungen zu Jean Pauls Naturalienkabinetten anläßlich Gustav Lohmanns Buch: Jean Pauls ,Flegeljahre' gesehen im Rahmen ihrer Kapitelüberschriften". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 28, 1993, S. 135-68, S. 150.) Schmitz-Emans vergleicht die Abbildungen mit Initialen und verweist auch auf die konstitutive Funktion ihrer Rahmen, d. h., im Sinne meiner Beschreibung, der Unterscheidung, die das Spatium erzeugt (S. 151).
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
befaßt ist, als Unterscheidung von Ornament und Figur wieder ein. Die Umwandlung sinnlich-diffuser Eindrücke durch die Empfindungs- bzw. Einbildungskraft erscheint so als Bedingung der Möglichkeit jeglichen Umgangs mit der Wirklichkeit - wir müssen ja, wie Jean Paul betont, „ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden".88 Wir denken und kommunizieren nicht nur „das ganze Jahr über [...] nur mit Klängen und Lettern", sondern buchstäbliche Figuren sind auch die Grundlage unseres Umgangs mit allen sinnlichen Objekten. Diese Buchstaben können nun beispielsweise zum Gegenstand der Operationen des Verstandes werden, der sich mit den ,scharfabgeteilten Felder' der Natur beschäftigt. Entscheidend aber ist für Jean Paul, daß ausgehend von den Buchstaben, die Empfindungs- und Einbildungskraft am sinnlich Gegebenen unterscheidbar machen, ein Übergang in den Bereich des Ideellen stattfinden kann. So wird nicht nur zwischen Körper und Seele vermittelt, sondern auch zwischen materieller Begrenzung und der Grenzenlosigkeit der Ideen, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Quantität und Qualität. Eben deshalb sind die Buchstaben auch immer der Einsatzpunkt der Phantasie.89 Entsprechend formuliert Jean Paul eine Theorie der „Vereinigung des Körpers mit der Seele"90 als Theorie der Kommunikation - die Passage ist bereits zitiert worden: Unsere Seele schreibt mit vierundzwanzig Zeichen der Zeichen (d. h. mit vierundzwanzig Buchstaben der Wörter) an Seelen; die Natur mit Millionen. Sie zwingt uns, an fremde Ichs neben unserem zu glauben, da wir ewig nur Körper sehen [...]. Kurz, durch Physiognomik und Pathognomik beseelen wir erstlich alle Leiber - später alle unorganisierte Körper. 9 1
Von einer Tätigkeit der Phantasie muß hier die Rede sein, weil nur die Phantasie dauerhaft die Vorstellung einer geistigen Einheit derjenigen Buchstaben vermitteln kann, die für uns dank einer natürlichen Physiognomik92 beispielsweise die Gesichter uns bekannter Menschen darstellen. 88 89
90 91 92
Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 195. In ähnlicher Weise zeigt auch Berhorst, daß „die Totalisierungsleistung der Phantasie immer eine scharf umgrenzte Endlichkeit" voraussetzt, „die sie dann ergänzen kann" (Berhorst: Anamorphosen derZeit, S. 63). Platner: AnthropologiefiirArsge und Weltweise, S. 35. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 203 f. Zum Konzept der natürlichen Physiognomik' bei Jean Paul siehe Müller: „Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen Idealismus", S. 69-73, Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 59 ff. Müller stellt fest: „Die Physiognomik wird als alltägliche Zeichendeutung begriffen, die aus der körperlichen Gestik und Mimik des ,innerlich' unbekannten Gegenübers Schlüsse auf dessen seelische und geistige Verfassung zieht." (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 83.) Müller weist insbesondere den Einfluß Lavaters auf Jean Paul nach (S. 84 ff.). Schmitz-Emans rekonstruiert die unterschiedlichen Zeichenkonzepte Lavaters, Lichtenbergs und Jean Pauls: Gilt Lavaters
1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie
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Zur Beseelung der Welt kommt es nur, insofern die Phantasie über die einzelnen Augenblicke hinweg diese Buchstaben als Zeichen eines Ideellen verarbeiten kann. Sie ermöglicht es, die erkennende Auseinandersetzung mit der Natur nicht nur als einen Umgang mit Objekten, sondern als Kommunikation zu betreiben: Mittels der Buchstaben, die die Einbildungskraft uns sehen läßt, „spricht" die Natur zu uns. Sie ermöglicht der Phantasie die Verquickung sinnlich gegebener Verkettungen mit geistigen. Insofern Jean Pauls Poetik darauf aus ist, den literarischen Text so wie die Natur zu uns sprechen zu lassen, gilt es, diesen Kommunikations- und Verkettungsmechanismen weiter nachzugehen. Angesichts der Natur kann man sich dabei auf den Zwang, den diese in uns ausübt, verlassen: Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als der natürlichen Physiognomik zu folgen.93 Die Tragweite dieser Physiognomik, die bereits für die Identifikation von Körpern in der Zeit konstitutiv ist und also auch die objektive Erkenntnis bedingt, legitimiert die Phantasie als grundlegende Kraft unseres Weltverhältnisses. Zu der Frage betont Jean Paul nun allerdings, es könnten „[djurchaus nur mit und durch Phantasie" „die schönen Künste auf uns wirken".94 Es müsse bei jedem Kunstwerk „in die Materie die Pantomime eines Geistes ein[ge] drückt" sein, die „Schauspieler" seien „nur die Lettern [...], womit der Theaterdichter seine Ideale auf das Theater malet", bzw. es seien „die Farben und Linien nur die Lettern des Malers".95 Es stellt sich also die Frage, wie diese Lettern als „Zeichen der Zeichen" arrangiert werden müssen, sollen sie die Phantasie entsprechend aktivieren. Dies nämlich ist notwendig, damit Literatur ihr Ziel erreicht:
Physiognomik die „Natur [...] als ein Letternkasten, die Erscheinungen" als „Buchstaben", so stellt sich die (von Lavater ausgeblendete) Frage, inwiefern diese „unabhängig von ihren Kontexten identifizierbar[en]" Buchstaben „ohne Kontext [...] ,Bedeutung' haben" können (Monika Schmitz-Emans: „Die ,Sprache' der Bilder als Anlaß der Schreibens: Spielformen des literarischen Bildkommentars bei Lavater, Lichtenberg, Jean Paul und Calvino". In: Jahrbuch der]ean-Paul-Gesellschaft 30, 1995, S. 105-63, S. 113). Der Physiognomik-Kritiker Lichtenberg ist gerade an diesen Fragen und insbesondere an den „Übersetzungsvorgangen" (S. 123) zwischen Wirklichkeit, Bild, Bild als Zeichen und Text interessiert. Ausfuhrlich zur Physiognomik bei Jean Paul siehe Stephan Pabst: Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik hei ]ean Paul und Ε. T. A. Hoffmann. Heidelberg 2007, S. 167-228. 93
94
95
Diese Einsicht liegt übrigens auch Novalis' Theorie der Einbildungskraft zugrunde. Siehe hierzu Müller: „Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen Idealismus", S. 70, Till Dembeck: „Figur/Ornament: Romantische Poetik im Kontext von Akustik und Schallaufzeichnung". In: Bernhard Spies, Dagmar von Hoff (Hgg.): Textprofile intermedial. Frankfurt/M. - Berlin - Bern u. a., erscheint 2008. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 203. - Vgl. hierzu Kurt Wölfel: „,Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt'. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie". In: K. W.: Jean-Paul-Studien. Frankfurt/M. 1989 [1966], S. 259-300, S. 292 ff. Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 203.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Wetkeinheit bei Jean Paul Das Idealische in der Poesie ist nichts anders als [...] vorgespiegelte Unendlichkeit; ohne diese Unendlichkeit gibt die Poesie nur platte abgefärbte Schieferabdrücke, aber keine Blumenstücke der hohen Natur. Folglich muß alle Poesie idealisieren: die Teile müssen wirklich, aber das Ganze idealisch sein.96
Wie ist es zu erreichen, daß das Ganze, beispielsweise des literarischen Kunstwerks, „idealisch" wird? Wie kann die Phantasie als Medium der literarischen Darstellung metaphysische Bedeutung gewinnen? Zur Beantwortung dieser Fragen entwickelt Jean Paul eine umfassende Theorie literarischer Phantasie - und sehr komplexe literarische Verfahren. Angesichts der Aufmerksamkeit, die Jean Pauls Theorie der Phantasie dem Buchstaben und damit auch der ,Materialität der Schrift' zukommen läßt, liegt es nahe, bei ihrer Rekonstruktion von demjenigen auszugehen, was Jean Paul über die Medien zu sagen hat, in denen der poetische Text zum Erscheinen kommt. Unter diesen Medien ist der Buchstabe das grundlegende. Es stellt die basale Rahmenunterscheidung zur Verfügung: Die Lektüre setzt die Unterscheidung Ornament/Figur voraus, soll der Text in seinen Buchstaben beobachtet werden. Auf der Grundlage dieser Fixierung kommt es zur für die Lektüre charakteristischen Parallelverkettung von ,Geist' und .Buchstabe' - womit sich die Phantasie auch als grundlegendes Vermögen einer jeden Lektüre erweist. Damit ist allerdings nur der erste der Rahmen bezeichnet, die für den literarischen Text konstitutiv sind: Auf der Grundlage seines Wirkens ergeben sich weitere Unterscheidungen von Ornament und Figur. In den folgenden Abschnitten wird daher versucht, eine Poetik des Verhältnisses von Text und Paratext bei Jean Paul mittels der Unterscheidung von Ornament und Figur zu rekonstruieren. Zuvor ist allerdings ein Seitenblick auf eine virtuose Umsetzung der Jean Paulschen Lektüretheorie in einem literarischen Text nötig.
c) Bilder als Buchstaben: Die „Erklärung der Holzschnitte" Wie gewichtig die aufgezeigte Strukturanalyse des (natürlichen) Zeichens innerhalb der Jean Paulschen Ästhetik ist, kann die Analyse der „Erklärung der Holzschnitte" zeigen, die dem „Kampaner Tal" als zweiter Teil beigefügt ist.97 In seiner medialen Struktur ist der Holzschnitt dem Buchstaben äquivalent: In beiden Fällen handelt es sich um eine (dem Spatium entsprechende) scharf begrenzte einfarbige Grundfläche, in die
96 97
Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 202. Hierzu Schmitz-Emans: „Die .Sprache' der Bilder", S. 127 ff., Pfotenhauer: „Bild - Schriftbild - Schrift", Schmitz-Emans: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare, S. 161-91.
1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie
Abbildung 10. Jean Paul: „Erklärung der Holzschnitte", „Holzplatte des ersten Gebots" in der Erstausgabe von 1797 98
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in nur einer anderen Farbe Markierungen eingetragen sind. Für den Fall des Buchstabens sollte bereits klar geworden sein, wie sich mit Formen, die in diesem Medium vorliegen, umgehen läßt: Unterschieden werden muß hier eine distinkte Figur von allem dieser Figur (immer) anhaftenden Ornamen/ , talen. Es wird eine Gren2e gezogen, die im Buchstaben, insofern er ein Bild ist, unsichtbar ist, die aber dennoch Sefrt «rift nUmMftift. fl hen ermöglicht. (Man sieht ja ein A.) In mi^mtttiiitSfsMiaatblgrmi' den Erklärungen nun wird versucht, die Holzschnitte des „lutherischen Katechismus" der „Fürstentümer Baireuth und Ansbach", 99 die konventionellerweise als Illustrationen der zehn Gebote gedeutet werden, als Illustrationen einer Geschichte zu verstehen. Ganz augenscheinlich geht es um Lektüre, und zwar um die Lektüre natürlicher Zeichen. Bereits der „Historische Vorbericht" gibt deutlich zu erkennen, welche Implikationen ein solches Vorhaben hat. Die „Erklärung der Holzschnitte" kann nicht ohne diskursive Schützenhilfe vorgenommen werden. Vielmehr stützt sich der Erzähler auf den Fund eines Buchbinderblattes in einem Exemplar eben jenes Katechismus, der auch die Holzschnitte enthält.100 Die Abbildung auf diesem Buchbinderblatt besteht aus spiegelverkehrten Buchstaben und zeigt - so erweist die Lektüre des in ihr enthaltenen Textes — den Salzrevisor und späteren Bettenmeister sowie Holzschnitter Krönlein. Der im Spiegel lesbare Text im Bild erzählt die Lebensgeschichte Krönleins, wie sie auch auf den zehn Holzstichen dargestellt ist. In einem wörtlichen Sinn erweist sich das Bild als lesbar, und es dient zugleich als eine Vorgabe, mittels derer nun die Holz98
Jean Paul: Das Kampatier Thal oder über die Unsterblichkeit der Seele; nebst einer Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus. Erfurt 1797, S . l l . 99 Jean Paul: „Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele, nebst einer Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus". In: J. P.: Sämtlich Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 1.4. Darmstadt 2000 [1797], S. 5 6 1 - 7 1 6 , S. 564. 100 Jean Paul: „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 635.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
schnitte anders gelesen werden können — bereits ein Hinweis darauf, daß Bilder als Buchstaben angesehen werden müssen, will man ihre narrative Dimension akzentuieren.101 Der „Vorbericht" macht aber auf noch mehr aufmerksam. Denn die Identifikation einzelner Charaktere erweist sich als Bedingung der Möglichkeit, eine Bildserie als Erzählung zu lesen. Bereits das Auffinden des Buchbinderblatts weist darauf hin: Der Erzähler hat die Physiognomie Krönleins bereits am Kopf eines Taufengels aus der ,„Löffelkirche' in Wittenberg"102 identifiziert, der im Haus des Küsters dieser Kirche in Bleesern aufbewahrt wird. Und bei der Fortsetzung seiner Reise hat er in Dresden auf jenem „ikonologischefn] Kirschkern [...], den der Dresdner Zwinger den Fremden zeigt und den eine Wesenskette von 85 eingeschnittenen Gesichtern durchgräbt",103 wiedererkannt: „Endlich verfiel ich darauf [..·], daß die 70ste Physiognomie weiter keine andere sei, als die ich schon am abgeschossenen Seraphskopf in Bleesern gesehen."104 Wenn der Erzähler aber wiederholt die distinkte Figur der Krönleinschen Physiognomie (und später die der anderen Protagonisten der Krönleinschen Lebensgeschichte) erkennt, so kann er dies nur deshalb, weil er von zahlreichen dieser Figur anhängenden Bestimmungsmomenten, wie sie das jeweilige Bild darbeitet, absieht: Weil es auf eine distinkte Figur ankommt, macht es keinen Unterschied, ob sie in einen Kirschkern eingeritzt, als Plastik geformt oder aus Buchstaben zusammengesetzt ist. Sie kann vom ihr anhängenden bloßen Ornament unterschieden werden, bzw. sie muß es sogar, soll das Unternehmen glücken, anhand der Bilder eine Geschichte zu erzählen. Der Zwang zur Unterscheidung zwischen Figur und Ornament motiviert die Umständlichkeit der Bilderklärungen. Die augenscheinliche Unwahrscheinlichkeit, eine winzige Physiognomie auf einem Kirschkern identifizieren zu können, verweist ebenso wie die kaum nachvollziehbaren Identifikation der einzelnen Personen auf den Holzschnitten auf die
101 Pfotenhauer: „Bild - Schriftbild - Schrift", S. 63, betont: „Die Bilder werden zum Anlaß, sie in das zu überführen, was Bilder durch ihre Verhaftung im Visuell-Sinnlichen, im Augenblickshaften, nicht sind: Ein Hinwegfliegen über dieses beschränkt Sinnliche im Medium der Schrift, eine Buchstaben- und Zeichenwelt, die Ersatz ist für das begrenzte Leben, aber als dieser Ersatz, als diese Stellvertretung zeitenthoben, dauerhaft." Pfotenhauer stellt — insbesondere anhand des Umgangs der „Erklärungen" mit dem Holzschnitt zum zweiten Gebot, welches das Bilderverbot beinhaltet — heraus, daß damit ein zentrales poetisches Verfahren Jean Pauls bezeichnet wird. - Zum Bilderverbot als zentralem Hintergrundmotiv der „Erklärungen" siehe Schmitz-Emans: „Die ,Sprache' der Bilder", S. 133 ff. 102 Jean Paul: „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 631. 103 Jean Paul: „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 632. 104 Jean Paul: „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 632 f.
1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie
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Abbildung 11. Jean Paul: „Erklärung der Holzschnitte", „Holzplatte des dritten Gebots" in der Erstausgabe von 1797 1 0 5
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Tatsache, daß letzte Gründe für die Identifizierung einer Figur nicht angegeben werden können — ist sie doch Aufgabe der „natürlichen Magie der Einbildungskraft". Die mangelnde Gegründetheit der Identifikationen in nachvollziehbaren, verstandesgemäßen Verfahren offenbart sich in der Behauptung, daß Krönleins Physiognomie im dritten Holzschnitt gerade dadurch kenntlich gemacht ist, daß ein ϊΐψ! «Φ m ha Mtftefr* entscheidendes Merkmal nicht abgeibeajt beimuag -H?Wta» bildet wird: Die in die Stirn gestrichenen Haare Krönleins sind hier „leicht durch gänzliche Weglassung derselben ausgedrückt". 1 " 6 Trägt die als Landstand identifizierte Figur ausnahmsweise einen Bart, so hat er sich eben nicht rasiert. 10 " In anderen Zusammenhängen erweisen sich noch deutlich komplexere Deutungsstrategien als notwendig. Ist beispielsweise im Schnitt zum ersten Gebot („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir") der alten Deutung zufolge dargestellt, wie die Israeliten das goldene Kalb verehren, und ist (in einem protestantischen Katechismus) der Geistliche, der die Zeremonie leitet, als katholiscber Bischof dargestellt (Abbildung 10), so sieht sich der Erzähler dazu gezwungen, Krönlein, seine Frau und den (eigentlich protestantischen) geistlichen Landstand, die der neuen Deutung zufolge hier dargestellt sind, als „Kryptokatholikfen]" 108 zu denunzieren. In der Deutung des dritten Schnitts wird dann behauptet, der heimliche Katholizismus des vorgeblich protestantischen Landstandes zeige sich darin, daß der untere Teil seiner Kleidung nicht (wie der obere) aus einem Lutherischen Gewand bestehe, sondern aus einem katholischen Priestergewand — wobei gerade dieser Teil der Kleidung im Bild leider von der Kanzel \-erdeckt werde (Abbildung
105 106 107 108
Jean Jean Jean Jean
Paul: Paul: Paul: Paul:
Das Kampaner Thal Ί797/, S. 54. „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 638. „Das Kampaner Tal (1797/20001", S. 685. „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 641.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
11).109 Die perfide Pointe dieser katholischen Verschwörung besteht darin, daß letztlich Krönlein von dem Landstand (zugleich dem heimlichen Liebhaber seiner Frau110) den Auftrag erhält, jenen protestantischen Katechismus zu illustrieren, den der Erzähler in den Händen hält, diesen Auftrag aber dazu nutzt, sein eigenes Leben darzustellen.111 In unterschiedlichen Graden als unsichtbar gekennzeichnete Partien der bildlichen Darstellung werden so zu zentralen Momenten des zu Deutenden - wobei diese Technik ihren Höhepunkt findet in der Deutung des siebten Stichs, in der behauptet wird, das eigentlich dargestellte Ereignis finde hinter dem den größten Teil der Darstellung einnehmenden Zelt statt (Abbildung 12). In all diesen Beispielen nimmt die Deutung des Sichtbaren also in konstitutiver Weise Bezug auf etwas Unsichtbares. Das aber ist nicht einfach die Konsequenz des widersinnigen Verfahrens, in die Illustrationen der zehn Gebote etwas hineinzulegen, was in ihnen nicht enthalten ist. Vielmehr erweist sich diese scheinbar widersinnige Bildlektüre als überzeichnende Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit jeder Bildlektüre. Dies wird deutlich, wenn man sich fragt, was der Erzähler denn falsch macht bzw. was tatsächlich abgebildet ist. Denn auch die Deutung der Holzschnitte als Illustrationen der zehn Gebote ist auf eine massive Unterfütterung mittels vorgängiger Diskurse angewiesen. Zudem kann sich beispielsweise die Behauptung, die Identifikation der Krönleinschen Physiognomie auf dem Dresdener Kirschkern sei höchst unwahrscheinlich, letztlich auch nur auf kontingente Erfahrungen berufen. Wenn man konstatiert, die als Krönlein identifizierten Figuren wiesen keinerlei .Ähnlichkeit' auf, greift man auf ebenso schwer bestimmbare wie wirkmächtige (und natürlich sehr berechtigte) Vorstellungen davon zurück, was eine solche ,Ähnlichkeit' ausmachen würde. So wird deutlich, daß letztlich immer die Supplementierung eines Unsichtbaren angesichts des Sichtbaren der zeichenhaften Deutung des Bildes zugrundeliegt. Supplementiert wird bei der Erfassung des Bildes im Buchstäblichen immer jene ohne die Mithilfe der Einbildungskraft und nur auf der Grundlage der Sinnlichkeit gar nicht auszumachende Grenze, die die bedeutungstragende Figur von ihrem Ornament unterscheidbar
109 „Der Verfasser dieser Erklärung und Periphrase glaubt seinen Künsder nicht weit von seiner Spur zu verfolgen, wenn er mutmaßet, daß der Holzschneider ein Fuchs ist und gern seinen Krypto-Papismus verdeckt." (Jean Paul: „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 651.) 110 Für eine medientheoretische Deutung des Ehebruchs siehe Schmitz-Emans: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare, S. 186 ff. 111 Schmitz-Emans weist auf den zentralen Stellenwert des katholischen Transsubstantiationsmodells hin, das als Metapher für die Tätigkeit der Phantasie stehen kann (Schmitz-Emans: Die Uteratur, die Bilder und das Unsichtbare, S. 189). Damit erhält die Geschichte des „Kryptokatholiken" Krönlein eine weitere Bedeutungsfacette.
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1. Die Grenze des Buchstabens. Jean Pauls Lektüretheorie Abbildung 12. Jean Paul: „Erklärung der Holzschnitte", „Holzplatte des ersten Gebots" in der Erstausgabe von 1797 1 1 2 '
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macht. Diese zunächst unsichtbare Grenze erzeugt dann, dank der Mithilfe der Einbildungskraft, in einem zweiten j S g l B P . ·· MWK I ·1-,ΐ 1 Schritt Sichtbarkeit. Man sieht dann die jgggj^-I ι*Γί·": "J Figur im Ornamentalen. Die Supplementierung der unsichtbaren Grenze im Sichtbaren des Bildes, die so tut, als Ä f W - i W f f a J r i m finde sie die Grenze und erzeuge sie nicht, ist die Grundoperation der Einbildungskraft und bleibt ihrerseits der J P B ' Y • verstandesgemäßen Erklärung entzogen. 113 Sie erzeugt eine Sichtbarkeit, die talSkkmftai .tvMrt «uwuJiiH« arid /. Mt 3 sie gleichwohl als eine unabhängig von ihr gegebene ausgibt. Jean Pauls Überlegungen und Verfahren rekurrieren auf die bild- bzw. medientheoretischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts (vor allem auf Lessing), auf die Tradition der Bilderklärung (ζ. B. Hogarth, Chodowiecki, Lichtenberg) und die vormalige Wissenschaft der Physiognomik. 114 Gerade die Physiognomik liefert ein prominentes Beispiel für eine Methode, die buchstäbliche Dimension des Bildlichen geltend zu machen. Zwar hat Jean Paul die Physiognomik als Wissenschaft massiv kritisiert,115 dennoch aber weist er der physio-
um. m?
112 Jean Paul: Das Kampaner
Thal:1797',
S. 115.
113 Laut Schmitz-Emans weisen die „Erklärungen" einerseits darauf hin, daß Interpretation „keine eindeutige und endgültige Decodierung von etwas .Bestimmtem' sein" könne (Schmitz-Emans: „Die ,Sprache' der Bilder", S. 146) - in der hier benutzten Terminologie könnte man sagen, daß sie immer auf kondngente Rahmenunterscheidungen angewiesen ist —, andererseits aber legen sie „zu offenkundig" eine ,falsche' Interpretation vor (S. 145). So werde deutlich, daß Interpretation, auch wenn sie kontingent gegründet ist, dennoch keine Beliebigkeit zuläßt. Vgl. auch Schmitz-Emans: Die Ijteratur, die Bilder und das Unsichtbare, S. 186: „Man sieht, so lehren die Holzschnitt-Kommentare den Leser, eben das, was einem die Einbildungskraft zeigt. W a s auf den ersten Blick als Scherz erscheinen könnte [ . . . ] ist eine Demonstration der natürlichen Magie der Einbildungskraft." 114 Siehe Schmitz-iimans: „Die ,Sprache' der Bilder", 111 ff. (zu Lavater), S. 118 ff. (zu Lichtenberg), sowie die Arbeit von Pabst, die sich der Umdeutung der Phvsiognomik durch Jean Paul ausführlich widmet. (Pabst: Fiktionen des inneren Menschen, S. 1 6 7 - 2 2 8 , zur „Erklärung der Holzschnitte" S. 1 8 2 - 9 3 ) . 115 Werden bei Jean Paul Holzschnitte zum Ausgangspunkt einer ,phvsiognomischen' Deutung, so macht dies nicht zuletzt darauf aufmerksam, daß im Grunde jede phvsiognomische
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gnomischen Verwendungsweise der Einbildungskraft einen enorm hohen Stellenwert zu. Auch in den im folgenden betrachteten Erzählungen wird auf jenes Moment von Buchstäblichkeit, das der physiognomischen Grundoperation innewohnt, fortwährend reflektiert. So werden die physiognomisch relevanten Merkmale von Personen ebenso als Buchstaben beschrieben wie die Anzeichen von Emotionen auf ihren Gesichtern: „Sie sah in Deas Auge den roten Titelbuchstaben des innern Martyrologiums leserlich geschrieben", heißt es beispielsweise im „Jubelsenior".116 Auf einer anderen Ebene erweist sich die natürliche Physiognomik' als funktional für Jean Pauls literarisches Modell insgesamt. Im Grunde nämlich impliziert die am Ende des letzten Abschnittes gestellt Frage danach, ob der literarische Text die Phantasie auf eine ähnliche Weise aktivieren könne wie die Natur, die Frage nach einer Art ,Physiognomik des literarischen Textes'. Indem die quasi-physiognomische „Erklärung der Holzschnitte" schließlich auf die Buchstäblichkeit der Bilder verweist und die unmerkliche Grenze, die für die Schrift- wie die Bildlektüre konstitutiv ist, zu ihrem zentralen Thema macht, verdeutlicht sie nicht zuletzt auch den Mehrwert einer gelungenen literarischen Aktivierung der Phantasie gegenüber der phantastischen Supplementierung der Natur: Bezugspunkt der „Erklärungen" sind eben keine flüchtigen Naturschauspiele, sondern fixierte Abbildungen. Deren Ntf« interpretation steht sogar im Dienst einer Erfüllungsphantasie: Am Schluß steht der Entwurf einer universellen Verwandtschaft der Menschen - eine „kosmopolitische Phantasie"117 -
Erkenntnis (und wahrscheinlich nicht nur jede physiognomische Erkenntnis) nur Zeichen beobachtet, während sie doch eigentlich sinnliche Bilder in den Blick bekommen möchte. Die Physiognomik als Wissenschaft kann mithin nicht einsehen, daß sie sich selbst ihren Gegenstand konsequent entzieht, indem sie immer nur Zeichen verarbeitet, aber denkt, es seien Bilder. Es wird immer schon im Sichtbaren etwas beobachtet, was rein visuell gar nicht zu unterscheiden sein dürfte, nämlich die distinkte Figur des Buchstabens, der wiederholt erkannt und als Zeichen gedeutet werden kann. Vor allem aber übersieht die wissenschaftliche Physiognomik, daß sie versucht, eine basale Fähigkeit der Einbildungskraft mit den Mitteln des Verstandes zu vollziehen. So faßt sie den Übergang vom sinnlich Gegebenen des Körpers zum Buchstäblich-Zeichenhaften des Körpers als Ergebnis einer Verstandestätigkeit auf und gibt vor, diese Tätigkeit mit der entsprechenden Objektivität leisten zu können. Damit aber unterläuft ihr ein Kategorienfehler. Zu Jean Pauls Physiognomik-Kritik siehe das „Physiognomische Postskript über die Nasen der Menschen" aus der „Auswahl aus des Teufels Papieren nebst einem nöthigen Aviso vom Juden Mendel" (1789) (hierzu Pabst: Fiktionen des inneren Menschen, S. 170-74). 116 Jean Paul: „Der Jubelsenior. Ein Appendix". In: J. P.: Sämtliche Werle. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 1.4. Darmstadt 2000 [179η, S. 409-559, S. 445. Für ähnliche Stellen siehe Jean Paul: „Hesperus", S. 518, S. 608, S. 608 f., S. 772 f., S. 804, Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 307. 117 Jean Paul: „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 710.
2. Witzig schreiben/humoristisch lesen. Jean Pauls Poetik des Paratextuellen
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und die „Stadt H o f wird „mein himmlisches Jerusalem".' 18 Die Relektüre macht die Holzschnitte zum Auslöser einer metaphysischen Vergewisserung, deren Phantastik ihr keinen Abbruch tut. Damit wird hier im Grunde eine gelungene Lektüre vorgeführt, obwohl - oder gerade weil zugleich gezeigt wird, auf welch unsicheren Grundlagen sie ruht.
2. Witzig schreiben/humoristisch lesen. Jean Pauls Poetik des Paratextuellen In den expliziten Reflexionen auf einzelne Elemente des Paratextes, wie sie sich zuhauf in Jean Pauls Erzählungen finden, kommen vor allem zwei Aspekte des Paratextuellen zur Sprache: Einerseits stellen sich Paratexte als .Organisatoren der Kommunikation' 119 dar, andererseits ist von Bedeutung, daß in den Paratexten eines Romans keine Geschichte erzählt werden muß. Beide Aspekte hängen eng miteinander zusammen: Als Organisatoren der Kommunikation betrachtet laufen Paratexte Gefahr, eine Entleerung zu erzeugen, sobald mit ihnen unabhängig von den eigentlichen Texten operiert wird. Paratexte „verpuffen" dann, um Baecker zu zitieren, zu bloßen „Medieneffekten". 120 Diese Gefahr wird von Jean Paul gesehen, aber zumindest teilweise ins Positive gewendet. So zeichnet sich die Möglichkeit ab, das immer schon gegebene Moment der, wenn auch immer problematischen, Abgelöstheit des Paratextes vom Text — insbesondere eben seine Abgelöstheit von der Erzählung der Geschichte — als Stimulans der Einbildungskraft produktiv zu machen. Dies wird möglich, indem der Paratext, der zunächst als Ornament im Sinne der oben rekonstruierten Theorie des Buchstabens erscheint, zur bedeutungstragenden Figur des Textes umgedeutet wird. Paratextualität kann dann auf einer höheren Ebene als die buchstäbliche Figuralität des Textes fungieren und in die komplexen Operationen der Phantasie einbezogen werden. Als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Jean Pauls Poetik des Paratextuellen können die immer wieder vorkommenden (Para-)Textsammlungen dienen. Gesammelt werden in Jean Pauls Erzählungen ζ. B. Vorreden, Druckfehler, Avertissements, Adressen, Suppliken, Erzählanfänge, Titel, Anschlagzettel von Reisekünstlern, gestrichene Passagen aus Gesangbüchern oder literarischen Texten, Briefe, Buchstaben, Entwürfe, Kalender, Katechismen, Sedezbücher, Namen, Makulaturbögen, 118 Jean Paul: „Das Kampaner Tal [1797/2000]", S. 712. Hierzu siehe ausfuhrlich Pabst: Fiktionen des inneren Menschen, S. 188 ff. 119 Vgl. Kreimeier, Stanitzek: „Vorwort", S. VII. 120 Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!", S. 48.
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Landesprogramme und Komödienzettel. Die Liste verdeutlicht schon als solche eine Präferenz für Paratextuelles in der von Genette eingeführten zweifachen Hinsicht des Begriffs: Neben peritextuellen Einheiten (Vorrede, Titel) stehen epitextuelle (Avertissements, Anschlagzettel, Programme, Komödienzettel) und Texteinheiten, die aus Texten herausgetrennt, mithin paratextuell vereinzelt worden sind (Druckfehler, Erzählanfange, gestrichene Passagen, Makulaturbögen). All diese Sammlungen dienen den Erzählungen als Anschauungsmaterial für die Möglichkeiten der Lektüre, mit textuellen Grenzregionen umzugehen. Dabei werden Lektüreprogramme entworfen, die in engem Bezug stehen zu den zentralen Begriffen der Jean Paulschen Ästhetik: Idylle, Satire, Humor, Witz, Empfindsamkeit, Erhabenheit. All diese Konzepte stehen im Zusammenhang der immer mitgeführten Reflexion auf die die buchstäblich-materielle Dimension des literarischen Textes bzw. der menschlichen Vorstellungskraft. Sie setzen insbesondere an der Abhängigkeit jeder Vorstellung von der „figürlichen Synthesis" der Einbildungskraft an: Man bedarf einer Rahmenunterscheidung, wie sie beispielsweise Buchstäblichkeit bereitstellt.
a) Beschränkte Wahrnehmung. (Gedruckte) Texte in der Idylle Zwei der kuriosesten Gestalten, die sich in Jean Pauls Erzählungen mit textuellen Sammlungen befassen, sind Fixlein und Wutz (sowie in einer späteren Erzählung Fibel121). Beide sind ,idyllische Charaktere', verkörpern also, mit Jean Pauls vielzitierter Definition der Idylle gesprochen, unterschiedliche Formen des „Vollglücks in der Beschränkung',122 Entsprechend ist auch ihr Umgang mit (Para-)Texten von einer gewissen Beschränktheit geprägt. Diese Beschränktheit soll im folgenden in ihrer Struktur und Bedeutung untersucht werden. Zugleich stellt sich die Frage, wie ein Beobachter (und insbesondere ein Erzähler) mit der Beschränktheit des idyllischen Umgangs mit Texten umgehen kann. Es zeichnet sich einerseits die Möglichkeit der Satire ab und andererseits eine humoristische Alterna121 Hierzu siehe Schmitz-Emans: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher", S. 20 ff., Pfotenhauer: „Bild — Schriftbild - Schrift", S. 62 ff., Andreas Kilcher: mathesis undpoiesis. Die Enyklopädik der Literatur 1600-2000. München 2003, S. 279 ff., Wirth: „Die Schreib-Szene als Editions-Szene". 122 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 258. - Hagel zeigt, daß diese Formulierung nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Beschränkung impliziert (Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens, S. 51 ff.), und geht in ihren detaillierten Lektüren der Jean Paulschen Idyllen von der Unterscheidung zwischen den idyllischen Charakteren und den phantasiebegabten „Zeit schaffenden Wesen" (S. 51) aus. Zu Jean Pauls Poetik der Idylle siehe auch Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 195 ff.
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tive - auch wenn sich zeigen wird, daß diese beiden Optionen auf komplexe Weise miteinander verbunden sind. Insofern Jean Pauls Lektüretheorie zufolge jede Lektüre auf Beschränkungen bzw. Rahmenunterscheidungen beruht, die auf vorgängige und in ihren Grundlagen nicht einsichtige Operationen der Einbildungskraft zurückgehen, geraten auch die Optionen jeder Lektüre, jedes Umgangs mit (Para-)Textualität in den Blick. Zunächst zur satirischen Alternative, zu deren Rekonstruktion es einer gewissen Vorsicht bedarf.123 Legt man die Selbstbeschreibungen der Satire im 18. Jahrhundert zugrunde, so ist für sie stets die Orientierung an einer allgemeinen Norm charakteristisch, in deren Namen die Satire gegen die korrupte Welt Einspruch erhebt.124 Nur im Namen dieser Norm entfaltet sie ihre Aggressivität. Darin unterscheidet sie sich vom einseitig-parteiischen Pasquill, und darin gewinnt sie ihren moralischen Wert. In dieser Beschreibung, die auch in aktuellen Forschungsarbeiten begegnet, ist eine doppelte Problematik verborgen - und es sei vorweggeschickt, daß diese Problematik nicht zuletzt bei Jean Paul zutage tritt und produktiv gewendet wird. Zum einen kann man fragen, wie weit die Abgrenzung zum Pasquill trägt: Können Wechselwirkungen zwischen allgemeiner und ad personam gerichteter Kritik überhaupt ausgeschlossen werden?125 Und wenn es 123 Zur humoristischen Alternative siehe V1.2.b 124 Zur Satire siehe überblicksartig Jürgen Brummack: „Satire". In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin - New York 2003, S. 355-60, speziell zur aufklärerischen Satire Brummack: „Satire", S. 358, und - sehr prägnant - SchmidtBiggemann: Maschine und Teufel\ S. 171: „Der Satiriker heilt die Welt, damit sie werde, wie sie sein soll" — was voraussetzt, daß er letzteres weiß (ausführlich S. 173 ff.). Siehe auch Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag %ur Poetik. Stuttgart 1969, S. 10: Satire sei „ein sich literarisch äußernder Versuch [...], zumeist mit den Mitteln der Komik ,Scheinwerte' und Widersprüchliches aufzudecken, Anmaßungen zu bestreiten und .Unwerte' zu bezeichnen. ,Nennen', Enthüllen und kommentierendes Einordnen in vorgegebene Wertzusammenhänge kennzeichnen den satirischen Vorgang." Daraus ergibt sich die Normorientierung der Satire: „Das Lachen angesichts eines satirisch erfaßten .Unwertes' verweist auf das Wissen um die Existenz eines zu verwirklichenden Wertes." (S. 12.) Vgl. die Auffassung von Arntzen, Satire sei „Vers aus Entrüstung" (Helmut Arntzen: Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Band 1. Vom 12. bis %ttm 17. Jahrhundert. Darmstadt 1989, S. 12): „Wir können jedoch sagen, daß die sprachästhetische Darstellung von Entrüstung dann entsteht, wenn Sätze und Texte als Sätze und Texte von .Verkehrtem', ,Umgekehrtem', Negativem erscheinen bzw. gelesen werden können. [...) Satirisch sind sie [diese Sätze und Texte) erst dann, wenn sie als solche literarischen Sätze und Texte erscheinen, deren Negarivität aus ,indignatio' hervorgeht; d. h., wenn sie das, was sie sagen, so sagen, daß das Gesagte, das Dargestellte gewissermaßen seine eigene Abschaffung mitproduziert." (S. 15.) 125 Siehe hierzu die (trotz ihres sehr einseitigen Umgangs mit der vorliegenden Forschungsliteratur) lesenswerte Arbeit von Harald Kämmerer: Nur um Himmels Willen keine Satyren... Deutsche Satire und Satiretheorie des 18. Jahrhunderts im Kontext von Anghphilie, Smft-Re^eption und ästhetischer Theorie. Heidelberg 1999. Kämmerer hält die Berufung auf eine
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hier Zweifel gibt: Wie kann die Satire dann sicherstellen, daß sie nicht als parteiische Aggression ,mißverstanden' wird? Wie also kann sie sich als Invektive im Namen einer allgemeinen Norm zur Geltung bringen? Zum anderen ist die bevorzugt indirekte Darstellungsweise der Satire - die bloße und unkommentierte, überzeichnete Darstellung von Mißständen soll ex negativo die Norm aufrufen126 - mit einem Risiko belastet.127 Schließlich ist in einer solchen Darstellung positiv letztlich nur die negative Überzeichnung zugegen, und die positive Normsetzung grundiert die Darstellung nur als Negation. Die negadve Darstellung kann sich mithin nicht unbedingt darauf verlassen, daß ihre posidve Aussage tatsächlich gesehen wird, denn sie selbst macht diese merkwürdige Verschränkung von Affirmation und Negation nicht offenbar. Erst wenn man sich dazu entschieden hat, den Text als negative Darstellung zu lesen, wird eine bestimmte Bewertung des Textes erzwungen und die Lektüre rückwirkend anders konditioniert.128 Die Satire ist also in mindestens zweierlei Hinsicht von einer gewissen Zweideutigkeit bedroht — auch wenn wahrscheinlich davon auszugehen ist, daß die Zeitgenossen die indirekten Darstellungsweisen der Satiren sehr wohl verstanden haben, vielleicht mit einer heimlichen Freude an den sehr wohl parteiischen Agressionen, die sie immer auch transportierten. Jean Pauls Texte gehen in ihren satirischen Partien einerseits immer von einem Funktionieren des satirischen Kommunikationsmodells aus, während sie andererseits zugleich auf seine problematische Grundlegung reflektieren und darauf wiederum mit einer neuen Konzeption, der des Humors nämlich, reagieren. Darauf komme ich später zurück. Hier muß es zunächst um die satirische Dimension von Jean Pauls Texten als solche gehen, auch wenn sie vielleicht nur vordergründig so eindeutig gelesen allgemeine Norm, die die Satiretheorie des 18. Jahrhunderts durchgängig prägt, für lediglich vorgeschoben (S. 26—32), macht deutlich, daß die Abgrenzung der Satire vom Pasquill in der Praxis nicht greift, und entwirft ein pragmatisches Verständnis von Satire (hierzu S. 16-19), das die Satire immer in die je aktuellen Konfliktsituationen eingebettet sieht. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang Kämmerers Analyse der Swift-Rezeption in Deutschland (S. 56-76): Zwar sei die ,menschenverachtende' Tendenz der Swiftschen Satire verurteilt worden; gleichwohl aber habe man immer die politisch freien Zustände, in denen eine solche Satire möglich sei, herbeigesehnt - ein Beleg dafür, daß gerade ihre aggressive Parteilichkeit und keineswegs ihre abstrakte Normorientierung interessiert habe. — Umgekehrt hebt Arntzen hervor, daß jedes Pasquill immer auch allgemein adressiert sei, wenn auch nur implizit: „Gerade die Invektive, die Polemik, das Pasquill als Satire ad personam werden auch von denen gefürchtet, gegen die sie gar nicht gerichtet sind." (Arntzen: Satire in der deutschen Uteratur, S. 7.) 126 Schönert spricht insbesondere vom „Stilmittel der absurden Konsequenz" (Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert, S. 16). 127 Zu den Darstellungsproblemen, die sich daraus ergeben, siehe Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert, S. 29, S. 31, S. 50-62, S. 159-62. 128 Für eine systematische Darstellung ähnlicher Fälle einer gewissermaßen rückläufigen Konditionierung unter dem Begriff der „Faltung" siehe Bunia: Faltungen.
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werden kann. Jean Pauls Satire konturiert sich vor dem Hintergrund einer aufklärerischen Norm öffentlich adressierter Kommunikation. Der satirische Einwand richtet sich hier gegen einen Umgang mit Texten, der es verhindert, daß die in Publikationen idealerweise enthaltene bemerkensund mitteilenswerte Information in das Forum der Öffentlichkeit eingespeist wird: Aufklärerische Kommunikation, so wie sie beispielsweise Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" entwirft,129 geht von der allgemeinen Adressierung und Zugänglichkeit von Publikationen aus. Wer etwas wichtiges nicht kennt, „hat nicht genug gelesen".130 Der konkrete Akt der Lektüre wird von diesem Modell ausgeblendet; das Gedruckte wird als Äquivalent von klar und deutlich Gehörtem behandelt. Genauer: Es ist die Aufgabe des aufgeklärten Subjekts, informiert zu sein. Daher hat es grundsätzlich bereit zu sein, sich von neuen Publikationen irritieren zu lassen. Mit anderen Worten: Die Einheit von Texten konstituiert sich im Modell der aufklärerischen Publikation als quasi-mündliche, zeitpunktgebundene und propositionale Äußerung.131 Die Jean Paulsche Satire ist solchen Grundsätzen durchaus verpflichtet132 (auch wenn sie zugleich in den Fokus der Kritik geraten133). Ein Beispiel möge dies verdeutlichen. Es findet sich im „Hesperus". Der Erzähler des Textes, ein gewisser Jean Paul134 aus Hof, gibt sich im „Fünfte [n] Schalttag" des „Hesperus" als Text-Stück-Sammler zu erkennen, als er die Idee äußert, den „Kaufschilling, den ich auf meinen Abendstern erhebe", „zu einer vollständigen Sammlung aller deutschen Vorreden und Titel, die von Messe zu Messe erscheinen", zu verwenden:135 „Ich kann dabei bestehen, wenn ich eine Vorrede wöchentlich fiir einen Pfennig Lesegeld an Rezensenten ausgebe, welche nicht gern das Buch selber lesen wollen, wenn sie es rezensieren."136 Die Rezensenten, eines der Lieblingsobjekte Jean Paulscher Satire, kennzeichnet dieser Darstellung nach eine Haltung der Verweigerung: Die mühselige Arbeit der Lektüre, 129 Siehe Fohrmann: Schißbruch mit Strandrecht, S. 14 ff. 130 „Wenn etwas bekannt ist, aber jemand es nicht kennt, hat er sich dies selbst zuzuschreiben. Er hat nicht genug gelesen." (Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 297.) Luhmann zufolge ist dies eine Folge der Durchsetzung des Buchdrucks. 131 Vgl. für das Wissenschaftssystem im allgemeinen Rudolf Stichweh: „Die Autopoiesis der Wissenschaft". In: R. S.: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt/M. 1984, S. 52-83, sowie VII.3. 132 Vgl. zur satirischen Verurteilung endeerter Lektüreverfahren Schmitz-Emans: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher", S. 23 ff. Zu Jean Pauls Lesersatiren allgemein Schmidt-Hannisa: „Lesarten", S. 47 ff. 133 Siehe VI.2.b. 134 Zur Schreibung des Erzählernamens siehe VI.3.b. 135 Jean Paul: „Hesperus", S. 796. 136 Jean Paul: „Hesperus", S. 796.
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die sie der Allgemeinheit durch ihre Arbeit gerade abnehmen sollten, lehnen sie ab. Statt dessen richtet sich ihr Interesse auf zwei Paratextelemente, die für die Texte einstehen müssen. Diese Paratexte erreichen so ihren Zweck, zur (angemessenen) Lektüre des Textes zu motivieren, gerade nicht. In der Tat wird den Paratexten, die Jean Paul zu sammeln ankündigt, dank der Rezensenten, mit Baecker gesprochen, „bereits gelungen" sein, „was Texten erst noch gelingen muß",137 nämlich kommunikativen Anschluß zu finden. Da allerdings der Vorgang hier endet, kann das Wechselspiel von paratextueller Vorwegnahme und Ausführung durch den Text nicht statthaben. Der Verzicht auf die Überwindung der Schwelle, die der Paratext darstellt, reduziert das Buch tendenziell auf das Bekannte. Beschränkt ist das Verfahren, weil die Lektüre nur der Paratexte die Verweigerung jeder Irritation signalisiert: In den Blick gerät in erster Linie die Mitteilungsseite der Kommunikation, die somit in ihrer Selbstreferentialität befangen bleibt. Der satirische Einwand des Jean Paulschen Entwurfs richtet sich gegen Verfahren, die ihrer Tendenz nach zu einer leerlaufenden Bewegung führt, die lediglich bereits bekannte Positionen bestätigt. Neben dieser „Leihbibliothek für Rezensenten" plant Jean Paul eine solche für Rädchen" - sie soll aus den Gewinnen, die die erste Leihbibliothek sicherlich abwerfen wird, finanziert werden, damit kein „totes Kapital im Hause liegt".138 Es sollen dafür [...] die schwerem deutschen Meisterwerke [...], desgleichen die bessern satirischen und philosophischen vom Buchbinder in einer leichtern Damenausgabe geliefert werden, die ganz aus sogenannten Vexierbänden, worinnen kein Unterziehbuch steckt, bestehen soll. Ich spiele damit, denk' ich, den Leserinnen etwas Kernhaftes in die Hände, das so gut gebunden und ebenso betitelt ist wie die Buchhändler-Ausgabe, und in das sie - weil das harte Steinobst schon ausgekernt und innen nichts ist — nicht nur ebensoviel, sondern sechs Lot mehr Seidenfaden und Seidenabschnitzel legen können als in die gedruckte Ausgabe.139
In der unterstellten Lektürepraxis der Leserinnen wird das Buch reduziert auf einen Teil seiner Materialität und auf seinen Titel. Kommuniziert wird hier mittels eines betitelten Gegenstandes, der seine Bedeutsamkeit erhält, indem er mit „Seidenfäden und Seidenabschnitzel[n]" gefüllt wird. Diese dienen damit nicht mehr dazu, bedeutsame Textstellen zu markieren, sondern sie suggerieren diese Bedeutsamkeit nur noch durch ihre bloße Existenz. Erstgenommen wird die Bedeutsamkeit, die ein Buch als Objekt erlangen kann, insofern es metonymisch für den Sinn einsteht, den man 137 Baecker: „Hilfe, ich bin ein Text!", S. 48. 138 Jean Paul: „Hesperus", S. 796. 139 Jean Paul: „Hesperus", S. 796. Vgl. auch den Plan einer traumlosen Ausgabe des „Hesperus" (Jean Paul: „Hesperus", S. 765).
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wie einen Seidenfaden in es hineinlegt. Entworfen wird eine Praxis, die sich radikal von jeder durch das Buch vermittelbaren Information abkoppelt und es nur noch in Gestalt des materiellen Substrats und des Titels in den Blick nimmt. Zweifelsfrei handelt es sich um Kommunikation, wenn man einen Vexierband zur Hand nimmt und mit textilen Abfallprodukten füllt — zumal dann, wenn er zu diesem Zweck aus einer Leihbibliothek entnommen und später wieder zurückgegeben werden muß. Allerdings ist die Kommunikation darauf reduziert, daß man sich mit Titeln in Verbindung bringt - deswegen soll es sich ja auch um die „schwerern" Werke handeln —, sich dabei aber auf keinen Fall durch die dem Buch möglicherweise zu entnehmende Information irritieren läßt. In beiden Fällen entwirft Jean Paul eine unterkomplexe Art und Weise des Umgangs mit Texten. In seiner Überzeichnung richtet sich dieser Entwurf als satirischer Einwand gegen Umgangsweisen mit Texten, die sich darauf kaprizieren, den Texten ihr irritatives Potential zu nehmen (und die gerade deshalb selbst wiederum irritieren): Die Paratexte, die .Organisatoren der Kommunikation', werden deren einziger Gegenstand. Die Kommunikation vermeidet Fremdreferenz und konzentriert sich statt dessen darauf, allein den Modus von Mitteilungen als Information zu verarbeiten. 140 Damit kein „totes Kapital im Hause liegt", wird Zirkulation nur noch betrieben, um Zirkulation beobachten zu können. Aus der Kommunikation, wie sie sein sollte, nähme man die Organisatoren der Kommunikation in ihrer Funktion ernst, wird eine bloße Mimikry von aufklärerischer Kommunikation. Für die idyllischen Charaktere Wutz und Fixlein ist eine ähnliche Form der Beschränktheit im Umgang mit Texten charakteristisch.141 Auch hier kann von einer gewissen selbstreferentiellen Befangenheit die Rede sein, auch hier geht es um die Vermeidung von Irritationspotentialen. Das ist insofern kein Wunder, als den idyllischen Charakter ja gerade auszeichnet, daß er seine Umwelt weniger als Umwelt wahrnimmt, sondern vielmehr als eine Erweiterung seines Innern. Nirgends wird dies deutlicher als an Wutz, 142 von dem sein Erzähler sagt, er sei „nie stolz und immer eitel" 1 4 3 gewesen. In der Tat kennzeichnet diesen Charakter eine vollkommene Verfallenheit an die ,Eitelkeit der Welt'. Nur ein einziges Mal ver140 Dies scheint übrigens ein genuin ästhetisches Verfahren zu sein. Siehe ζ. B. Stanitzek: „Kommunikation (Communicatio & Apostrophe einbegriffen)", S. 27 f. Ich komme darauf in VII.3 zurück. 141 Zu diesen Charakteren siehe Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 356-59. 142 Zum „Wutz" siehe auch Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 200 ff., Kilcher: mathesis undpoiesis, S. 12 ff. 143 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung". In: J. P.: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 1.1. Darmstadt 2000 [1793], S. 7 - 4 6 9 , S. 432.
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schwendet er einen Gedanken ans Jenseits.144 In seiner Eitelkeit aber versucht er zugleich, mit allen Mitteln sicherzustellen, daß seine Außenwelt immer als Bestätigung seines Innern erscheint. Die Orientierung am Außen wird ausgeschlossen, so daß nicht einmal Stolz möglich ist, der ja immerhin den Vergleich mit anderen, mithin Selbstreflexion voraussetzt. Spiegel aber sind Wutz verhaßt, „daher er nicht gern lange in die von abspiegelnden Fensterscheiben über die Läden hinausgelagerte Stube hineinsah".145 Wirklich wohl fühlt er sich bereits in seiner Kindheit nur, wenn seine Schwester und er „in dem aus dem unabsehlichen Gewölbe des Universums herausgeschnittenen oder hineingebauten Closet ihrer Stube so beschirmet waren, so warm, so satt, so wohl...."146 Vor diesem Hintergrund ist die Eigentümlichkeit des Wutzschen Umgangs mit den „besten Inventarienstücke [n]"147 des Meßkatalogs zu sehen. Es sei bekannt, daß Wutz eine ganze Bibliothek — wie hätte der Mann sich eine kaufen können? — sich eigenhändig schrieb. Sein Schreibzeug war seine Taschendruckerei; jedes neue Meßprodukt, dessen Titel das Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder gekauft: denn es setzte sich sogleich hin und machte das Produkt und schenkt' es seiner ansehnlichen Büchersammlung, die, wie die heidnischen, aus lauter Handschriften bestand.' 48
Wenn Wutz die Bücher, deren Titel ihm aus dem Meßkatalog bekannt sind, einfach selbst schreibt und als Handschriften in seine Bibliothek einfugt, so partizipiert er auf höchst merkwürdige Weise an jener Öffentlichkeit, an die sich diese Bücher eigentlich richten. Auch wenn er die Bücher gar nicht zur Kenntnis nimmt, nimmt er an ihr teil, nur eben auf eine sehr beschränkte Art und Weise. Er hat mit den potentiellen Benutzerinnen der „Leihbibliothek für Mädchen" gemein, daß er sich an den Titeln der Bücher und an ihren Formaten orientiert, sie also als Objekte ernstnimmt (auch wenn er sie nicht zu sehen bekommt): Es war einfältig, wenn etwa ihm zum Possen ein Autor sein Werk gründlich schrieb, nämlich in Querfolio - oder witzig, nämlich in Sedez: denn sein Mitmeister Wutz sprang den Augenblick herbei und legte seinen Bogen in die Quere hin, oder krempte ihn in Sedezimo ein. 149
144 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 445. Zur dieser Eitelkeit der ,idyllischen Käuze' siehe Michelsen: haurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 359. 145 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 424. 146 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 424 f. 147 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 426. 148 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 425 f. 149 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 426.
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Ansonsten kümmert er sich nicht um die Originale, „sondern nahm gar keines zur Hand".150 Der Inhalt muß vielmehr ersetzt werden durch dasjenige, was ohnehin schon in der Wutzischen Idylle erlebt wird. Sein Biograph hat daher in Wutzens Lebenswerk einen reichen Fundus: So ist beispielsweise die Zeit zwischen Wutzens Verlobung und Hochzeit „vielleicht nirgends deutlicher beschrieben als in seinen , Werthers Freuden', die seine Lebensbeschreiber fast nur abzuschreiben brauchen."151 Der Erzähler kommentiert: - Freilich du, mein Wutz, kannst Werthers Freuden aufsetzen, da allemal deine äußere und deine innere Welt sich wie zwei Muschelschalen aneinander löten und dich als ihr Schaltier einfassen; aber bei uns armen Schelmen, die wir hier am Ofen sitzen, ist die Außenwelt selten der Ripienist und Chorist unsrer innern fröhlichen Stimmung; — höchstens dann, wenn an uns der ganze Stimmstock umgefallen und wir knarren und brummen; oder in einer andern Metapher: wenn wir eine verstopfte Nase haben, so setzt sich ein ganzes mit Blumen überwölbtes Eden vor uns hin, und wir mögen nicht hineinriechen.152
Wutzens „Kunst, stets fröhlich zu sein",153 läuft so darauf hinaus, daß die Umwelt mit dem eigenen Innern sozusagen überblendet wird. Die Möglichkeit einer Irritation von außen wird auf ein Minimum reduziert. In seiner Buchproduktion kann es Wutz höchstens stören, „wenn der Senior (sein Friedrich Nicolai) zu viel Gutes, das er zu schreiben hatte, anstrich" — nämlich im Meßkatalog — „und seine Hand durch die gemalte anspornte".154 In der Idylle wird den Bedingungen des „druckpapiernen Weltalter[s]"155 nur insofern entsprochen, als Titel und Formatangabe von Druckerzeugnissen wahrgenommen und unter den Bedingungen dessen, was in der Idylle der Fall ist, verarbeitet werden: Ihre Bedeutung erhalten die Texte eben nur aus der Idylle heraus, d. h. sie können von nichts anderem handeln als von deren eider Hauptperson. Was außerhalb der Idylle eine Publikation ist — und dort mittels bestimmter Konditionierungen gehandhabt wird - , wird innerhalb der Idylle zum Tagebuch. So wird eine vollkommene Stabilität erreicht, zugleich aber auch eine vollkommene Abgeschlossenheit, ,Vollglück in der Beschränkung' eben. Weil nur Titel in die Idylle eindringen können, kann das Neue, das sie möglicherweise in der Welt der „druckpapiernen" Kommunikation ankündigen wollen, durch die Ergänzung des Bekannten eingemeindet werden.
150 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 426. 151 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 433. 152 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 435. Siehe zu dieser Stelle Wölfel: „,Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt'", S. 259 ff. 153 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 431. 154 Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 427. 155 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 25.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Wetkeinheit bei Jean Paul
Die Gattung der Idylle bringt es im Falle des Wutz allerdings mit sich, daß seinem Umgang mit (Para-)Textuaütät keinesfalls mit einem satirischen Einwand begegnet werden kann. Zwar wird auch hier die Norm aufklärerischer Kommunikation durchaus aufgerufen, doch wirft die positive Bewertung Wutzens insofern ein schiefes Licht auf sie, als ihr Ausschluß als Bedingung der Möglichkeit eines glücklichen Daseins erscheint. Der Erzähler des gedruckten Textes muß daher erkennen, daß sich eine Position, von der aus die Wutzsche Beschränktheit normativ und im Namen der Wahrheit verurteilt werden könnte, nicht halten läßt. Es bleibt einzig eine Option, die sich als Humor erweisen wird, und entsprechend schließt der Biograph, nachdem er dem Tod Wutzens beigewohnt hat: „als ich das Leichenläuten seinetwegen hörte und daran dachte, wie die Witwe im stummen Kirchturm mit rinnenden Augen das Seil unten reiße: so fühlt' ich unser aller Nichts und schwur, ein so unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und zu genießen. —'"156 Wutzens Sterben kann so - auch wenn der Tod dieses in jeder Hinsicht so diesseitigen Charakters gerade auf das Illusorische jeglicher Idylle verweist — immerhin Anleitung geben zu einer genußvollen Verachtung des Lebens. Für den Erzähler, der sich zu Beginn seiner Erzählung mit seinen Lesern in Schlafmützen um das Kaminfeuer versammelt hat, trifft mithin zu, was Jean Paul in der „Vorschule" für die Rezipienten der Idylle in Anschlag bringt: So euere Freude mit einem Freudigen im Hirtengedicht. Sie ist ohne Eigennutz, ohne Wunsch und ohne Stoß, denn den unschuldigen sinnlichen kleinen Freudenkreis des Schäfers umspannt ihr konzentrisch mit euerem höheren Freudenkreise. Ja ihr leihet dem idyllisch dargestellten Vollglück, das immer ein Widerschein eueres früheren kindlichen oder sonst sinnlich engen ist, jetzo zugleich die Zauber euerer Erinnerung und euerer höheren poetischen Ansichtf.] 157
Auch wenn es die „höhere poetische Einsicht" des Rezipienten offenkundig mit sich bringt, daß er anders als Wutz der Nichtigkeit des irdischen Daseins inne wird, auch wenn die Idylle also auch schmerzhaft erfahren wird, insofern sie nämlich einen ,verlorenen' Zustand des Daseins repräsentiert, kann der „kleine Freundenkreis" der Idylle auf Seiten des Rezipienten in einem ihm „konzentrischen" größeren seine Entsprechung finden. Auch der Quintus und spätere Pfarrer Fixlein genießt die Sympathie seines Erzählers.158 Er ist keinesfalls ein so ungetrübter idyllischer Charakter wie Wutz, plagt ihn doch beispielsweise die Furcht, er werde am Kantatesonntag nach seinem 32. Geburtstag sterben.159 Auch er geht einer 156 157 158 159
Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 461. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 260. Zum „Fixlein" siehe Kilcher: mathesis mdpoiesis, Siehe Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 96 f.
S. 123 ff.
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Reihe von literarischen Tätigkeiten nach und entwickelt ebenso eigentümlich beschränkte Anschlußformen an Texte wie Wutz. Fixlein hat wie Wutz ein großes Interesse an dem „Meßkatalog, den er jährlich statt der Bücher desselben kaufte".160 Dieses Interesse rührt insbesondere daher, daß Fixlein sich — und darin besteht der große Unterschied zwischen ihm und Wutz - als Redakteur des ,,Lektionskatalog[s] des flachsenfingischen Gymnasiums"161 dort wiederfindet. Anders als Wutz produziert Fixlein nicht nur Handschriften, sondern tritt selbst, wenn auch nur als Redakteur, in die Welt des Drucks ein. Dabei ist es ihm letztlich völlig gleichgültig, welchen Stellenwert sein eigenes Produkt in der Welt des Drucks und der ,druckpapiernen' Öffentlichkeit einnimmt. Die Tatsache, daß ,sein' Text gedruckt wird, zählt allein: ,,[M]ehr Drucks als Nutzens wegen" reiht er „noch drei bis vier pädagogische Fingerzeige dem Operationsplane sämtlicher Schulherren an"162 und kapriziert sich gar auf die Einarbeitung solcher Elemente, die in erster Linie die gedruckte .Materialität' des Textes verändern, indem er nämlich am Schluß „noch einige Gedankenstriche als Fäden der Rede" nachträgt. Schließlich kann er „den Meßkatalog [...] ohne Seufzer aufschlagen: er war auch gedruckt wie ich".163 Anders als im Falle des Wutz zielen Fixleins Bestrebungen nicht nur darauf, die große Welt (man denke an „Tristram Shandy") im Innern des idyllischen ,Klosetts' so zu repräsentieren, daß sie deren Eigengesetzlichkeit angemessen ist - mit den aufgezeigten Konsequenzen. Vielmehr ist Fixlein bemüht, sich selbst in der Welt zu präsentieren. Auch dieser Wutz gänzlich fremde Anspruch ist allerdings auf eine eigentümliche Art und Weise beschränkt: Denn im Grunde geht es gar nicht darum, Wertschätzung seitens einer Umwelt zu erfahren, mit der auch eine argumentative Auseinandersetzung geleistet werden könnte. Vielmehr ist auch hier eine Einschränkung der persönlichen Sinnstiftung auf die Mitteilungsseite der Kommunikation, an der man sich beteiligt, zu beobachten: Wichtig ist nicht, was man drucken läßt, und ebenfalls nicht, ob jemand anders den Druck bemerkt, sondern nur die schlichte Tatsache, daß man gedruckt ist. Daß sich Fixlein - zumindest ein Stückweit - auf die Welt des Drucks einläßt, fuhrt dazu, daß er einen stärker differenzierten Umgang mit gedruckten (Para-)Texten pflegen kann als Wutz. Aufgrund einer Präferenz für die Mitteilungs seite drucktechnischer Kommunikation sind aber auch für ihn alle ,Organisatoren der Kommunikation' von großer Wichtigkeit. Im Haus seiner Mutter
160 161 162 163
Jean Jean Jean Jean
Paul: Paul: Paul: Paul:
„Quintus „Quintus „Quintus „Quintus
Fixlein", Fixlein", Fixlein", Fixlein",
S. S. S. S.
89. 89. 89. 89.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
las Fixlein sich und der Gesellschaft den flachsenfmgischen Adreßkalender vor; etwas Höheres könnt' er sich außer Meusels gelehrtes Deutschland nicht gedenken - die Kammerherrn und geheime Räte des Kalenders liefen ihm, wie die Rosinen des Kuchens, kitzelnd über die Zunge, und von den reichen Pastoraten erhob er gleichsam durch Vorlesen den Sackzehend. 164
Für Fixlein manifestiert sich eine Teilhabe am Leben des Fürstentums allein in der Übersicht, die er anhand des Kalenders über jene Sozialstruktur gewinnt, die sich in den Adressen manifestiert. Mehr noch: In seiner Imagination wird er sogar zum Nutznießer dieser Ordnung und kann allein durch die lesende Vergegenwärtigung der sozialen Ordnung seine Abgaben erheben. Deutlich konkreter noch stellt Fixlein Forderungen an die „reichen Pastorate", denn schließlich strebt er selbst ein geistliches Amt an. Auch hierbei kommen ihm der Adreßkalender und seine Phantasie zu Hilfe: Nun könnt' er sich wieder an den Arbeitstisch begeben und etwas ganz Besonders machen - Suppliken um Pfarrdienste. Er nahm den Adreßkalender vor und machte für jedes Pfarrdorf, das er darin fand, eine Bittschrift vorrätig, die er so lange beiseite legte, bis sein Antezessor verstarb. 165
Fixlein verfaßt Bewerbungen auf Vorrat, in der Erwartung, sie nutzen zu können, sobald der ,Vorgänger' verstirbt. Ein unmittelbarer Nutzen dieser Arbeit ist nicht erkennbar, doch hat sich ja bereits gezeigt, daß es Fixlein um den unmittelbaren Nutzen seiner Tätigkeiten kaum zu tun ist. Offenkundig geht es auch in diesem Fall um eine interne Repräsentation gesellschaftlicher Möglichkeiten, um die mitlaufende Reproduktion einer Adressenordnung, innerhalb derer Fixlein seinen Platz finden möchte, dessen er sich aber bereits im vorhinein zu versichern sucht. Textarbeit wird zur magischen Versicherung des eigenen (zukünftigen) Status. Fixlein hat also, so ließe sich resümieren, durchaus ein Interesse daran, sich am Geschehen in der Welt der druckpapiernen Kommunikation und des bedeutsamen gesellschaftlich-politischen Lebens teilhaben zu sehen. Die wirkliche Teilhabe ist dabei weniger wichtig. Fixlein kommt es nicht darauf an, in einen Mechanismus wechselseitiger Irritation, wie ihn das aufklärerische Kommunikationsmodell entwirft, verwickelt zu werden. Sein Interesse ist vielmehr ebenso eitel wie dasjenige Wutzens. Entsprechend begnügt er sich oftmals damit, das wertgeschätzte Geschehen seiner Form nach nachzuvollziehen. So kann er sich seines gehobenen Überblicks über die gelehrte und politische Welt versichern, indem er Projekte verfolgt, die sich allesamt mehr auf das Ornament und weniger auf die bedeutungsunterscheidende Figur dessen richten, was er nachahmt.
164 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 75. 165 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 85.
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Das belegen seine Sammlung ,,schöne[r] Kalender", seine „Katechismus· und Sedezbüchersammlung", seine „Sammlung von Avertissements, die er angefangen" und von der es heißt, sie sei „nicht so unvollständig, als man sie meistens antrifft", und sein „alphabetisches Lexikon von deutschen Bücherpränumeranten, wo mein Name auch mit vorkommt unter dem J". 166 Der bereits zitierte Verweis auf „Meusels gelehrtes Deutschland" 167 als einen übergeordneten Adreßkalender zeigt ebenso wie Fixleins merkwürdige Vorschläge zur Gelehrtengeschichte 168 ein Interesse für den sozialen Rahmen des Gelehrtentums, das sich allerdings wiederum vor allem auf die Mitteilungsseite des in den Blick genommenen kommunikativen Prozesses richtet. Und auch des Pfarrers Praxis der Textherstellung, die insbesondere in ihrer handwerklichen Dimension vor Augen geführt wird, 169 festigt den Eindruck, daß es bei Fixleins literarischem Verfahren eher um leere „Medieneffekte" geht als um Anschluß- und Irritations Fähigkeit - jedenfalls dann, wenn man die Maßstäbe aufklärerischer Kommunikation zugrunde legt. Allerdings lassen Fixleins Tätigkeiten zugleich Rückschlüsse auf diejenigen Praktiken zu, die er nachzuahmen bemüht ist. Wenn etwa Walter Höllerer schließt, Jean Paul entlarve die Fixleinsche Philologie als „biedermeierlich", 170 so bleibt Fixlein als idyllischer Charakter gerechtfertigt. Vielleicht ist es daher eher so, daß an Fixleins überpointierter Konzentration auf den leeren Effekt die potentielle Endeertheit der von ihm nachgeahmten Praktiken ablesbar wird. Immerhin dient der Adreßkalender des Fürstentums ja (auch) der Repräsentation eines Netzwerks der Kommuni166 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 82. 167 Gemeint ist die biobibliographische Enzyklopädie „Das gelehrte Teutschland oder Lexicon der jetztlebenden teutschen Schriftsteller", das zwischen 1767 und 1834 in Lemgo erschien, zuerst herausgegeben von Georg Christoph Hamberger, später von Johann Georg Meusel. 168 Siehe Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 82 f. 169 Als „Pfarrer [...], der seine Anzugspredigt fertigt [...] hockt [er] dort - sprützet das Geäder seines Predigt-Präparats mit bunter Dinte aus — hat eine Spruchkonkordanz auf der rechten Seite, eine Liederkonkordanz auf der linken, kernet dort Kernsprüche aus, schneidet hier Lieder-Blumen ab, um mit beiden sein homiletisches Backwerk zu garnieren — zeichnet den feinsten Operationsplan hin, um nicht etwa, wie ein Weltmann, das Herz einer Frau, sondern die Herzen aller zuhörenden Weiber und der Männer ihre dazu zu gewinnen - ziehet jeden vor dem Fenster vorbeifahrenden Bauer mit in seinen Plan und sticht letztlich die Butter der weichen glatten Haupt- und Kanzellieder aus dem Gesangbuch aus und fettet damit bestens die schwarze Suppe der Predigt bei der Speisung der 5000 Mann. " (Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 140.) 170 Walter Höllerer: „Nachwort". In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller, Bd. 1.4. Darmstadt 2000 [1962], S. 1226-51, S. 1246. - Auch Kilcher zeigt im Rahmen seiner Untersuchung zur Enzyklopädie, daß Wutz und Fixlein „die enzyklopädischen Großprojekte fur kleinere ökonomische und intellektuelle Verhältnisse mikrologisieren und so die Ansprüche der großen Enzyklopädie karnevalisieren." (Kilcher: mathesis undpoiesis, S. 286.)
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
kation, der Fixierung kommunikativer Verbindungen. Und auch der Fixleinsche Vorschlag zu Geschichten „von Gelehrten, die ungelehrt waren von ganz boshaften — von solchen, die ihr eignes Haar getragen — von Zopfpredigern, Zopf-Psalmisten, Zopfannalisten etc."171 verweist auf Tendenzen selbstreferentieller Befangenheit gelehrter Kommunikation, wie sie im Fokus aufklärerischer Satire gestanden haben. Weil Fixleins Mimikry gelehrter und politischer Kommunikation nicht wie die literarische Mimikry Wutzens gänzlich unbekümmert ist um die Verhältnisse in der großen Welt, sondern versucht, diese in der Idylle zu repräsentieren, macht sie sichtbar, inwiefern diese Verhältnisse selbst schon für die Idylle taugen. In Fixleins beschränkter Repräsentation der Welt steckt eine Repräsentation der Beschränktheit der Welt.
b) Der Humor zwischen Satire und Empfindsamkeit Insofern die Jean Paulsche Lesersatire einen Anhaltspunkt an Paratexten bzw. an Praktiken paratextueller Dimension findet, wie es insbesondere bei den Beispielen aus dem „Hesperus" der Fall ist, steht sie in einer spezifischen Tradition. Unangemessene Formen paratextueller Gestaltung sehen sich bereits vor der Frühaufklärung satirischer Kritik ausgesetzt, wie die von Rabelais ausgehende Tradition der fingierten Titelsammlung mit satirischer Absicht zeigt.172 Paratexte, die zum Selbstzweck werden, dienen hier der satirischen Warnung vor einer ,Entleerung'. Stets wird die Unangemessenheit der paratextuellen Gestaltung aus der Sicht einer Norm verurteilt, die dem Paratext lediglich eine dienende Funktion gegenüber den ,eigentlichen' Inhalten zusprechen mag. Denn die ,Eigentlichkeit' der Kommunikation wird in der Aufklärung als ein Interesse an Information und nicht an Aspekten der Mitteilung definiert - man denke etwa an Gottscheds Invektiven gegen die ,barocke' Titelmanier.173 Vom Text abgelöste Paratexte können so zum Sinnbild von Entleerung und reiner Ornamentalität überhaupt werden. Zugleich nutzt der satirische Blick auf das Paratextuelle die hier verankerten Momente der Adressierung und arbeitet anhand ihrer jene Strukturen kommunikativer Prozesse heraus, gegen die sich sein Einwand richtet — ähnlich könnte auch eine satirische Indienstnahme des flachsenfingischen Adreßbuchs funktionieren. Der Bezug der Satire auf gegebene gesellschaftliche Phänomene findet so Halt
171 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 82 f. 172 Siehe II.4. 173 Siehe II.2 und II.4.
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in Phänomenen, in denen sich kommunikative Prozesse gleichsam sedimentieren, im Paratextuellen. Paradigmatisch für diese Art aufklärerischer Satire sind „Hinkmars von Repkow Noten ohne Text",174 die Rabener 1745 in den „Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes" publizierte175 und die sich in großer Nähe zu einer satirischen Kritik bewegen, wie sie bereits Swifts „Digression in Praise of Digressions" in „A Tale of a Tub" (1704) vorträgt.176 Die satirische Volte des Textes richtet sich gegen eine Form der (frühneuzeitlichen) Gelehrsamkeit, der es weniger auf Originalität ankommt als vielmehr auf die Sicherung und Ordnung des bestehenden Wissens.177 Allgemein richten sich die „Noten ohne Text" gegen die selbstreferentielle Dimension gelehrsamen Schreibens. Es geraten Verfahren der Kommentierung in den Blick, die eine Beschränkung der Information, also der fremdreferentiellen Dimension gelehrter Kommunikation betreiben: Man beschreibt nur, was man ohnehin schon weiß. Damit führen die Noten eine Form gelehrter Kommunikation vor Augen, die sich darin den bei Jean Paul beschriebenen Lektüreverfahren sehr ähnlich - auf die .entleerte' Fortsetzung gelehrter Mitteilungsformen beschränkt. Beide Gesichtspunkte hängen eng zusammen, denn eine Vermittlung von Wissen, die gar keinen eigentlichen Gegenstand hat, wird aus der Sicht der Aufklärung zur reinen Abschweifung, zur Digression, eben zu „Noten ohne Text".178
174 Hierzu siehe Rehm: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben", S. 11 ff., Alexander Kosenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003, S. 268 f. Siehe auch Till Dembeck: „Text ohne Noten? Der Ort von Anmerkung und Digression bei Rabener und Jean Paul". In: Bernhard Metz, Sabine Zubarik (Hgg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin 2007 (im Druck). 175 Gottlieb Wilhelm Rabener: „Hinkmars von Repkow Noten ohne Text". In: Nene Beyträge %um Vergnügen des Verstandes und Wittes 2.4, 1745, S. 263—306. — Zu dieser Art der Gelehrtensatire siehe auch Eco: „Para Peri Epi". 176 Jonathan Swift: „A Tale of a Tub. Written for the universal improvement of mankind". In: J. S.: A Tale of a Tub and other Satires. London - New York 1968 [1704], S. 1-132, hier S. 93-97. 177 Eckstein schreibt sehr treffend, die Gelehrtensatire des 18. Jahrhunderts, und insbesondere die Satire auf die gelehrte Anmerkung, richte sich gegen eine „Reproduktion von Wissen ohne geistige Bewältigung", die „dem modernen Begriff von Vernunft- und erfahrungsbestimmter Wissenschaftlichkeit nicht mehr entspricht" (Eckstein: Fußnoten, S. 105). Zur Gelehrtensatire des 18. Jahrhunderts siehe auch Stang: Einleitung - Fußnote - Kommentar, S. 2 1 42. - Auf diese Formen der Gelehrsamkeit und ihre (paratextuellen) Techniken komme ich noch zurück (siehe VI.2.d.) 178 Die „Noten ohne Text" erscheinen allerdings keinesfalls ganz ohne Text, sondern beginnen jeweils mit einigen Worten aus Zueignungsschrift, Vorrede bzw. Abhandlung, die dann kommentiert werden. Diese Textauszüge sind meist Phrasen, die in erster Linie auf der Mitteilungsseite der Kommunikation funktional sind bzw. explizit Adressierungsfunktion haben.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
Spätestens bei Jean Paul nun wendet sich diese Form der aufklärerischen Satire gegen sich selbst. Das ironische Spiel mit endeerten Formen der Gelehrsamkeit wird nun seinerseits ironisiert.179 Das ist der Fall, wenn beispielsweise Fixleins beschränkter Umgang mit gedruckten Texten nicht mehr nur auf seine individuelle Schwäche zurückgeführt werden kann, sondern zugleich auf (selbstreferentielle) Beschränkungen verweist, die sich nicht vermeiden lassen. Fixleins Interesse an der bloßen Materialität des Drucks, am Gedankenstrich beispielsweise, oder am Adreßkalender ist nämlich gerechtfertigt, insofern man immer auf derartiges kontingentes Beiwerk angewiesen ist. Die selbstreferentielle Dimension der Kommunikation, ihre Bezugnahme auf ihre kontingenten Rahmenbedingungen, die in den skizzierten Praktiken des Umgangs mit Texten zum alleinigen Bezugspunkt und damit zum Gegenstand der satirischen Kritik wird, erweist sich nämlich in Jean Pauls Lektüretheorie als unhintergehbare Voraussetzung.180 Die Einsicht, daß jede Kommunikation und jede Lektüre an Rahmenunterscheidungen gebunden ist, deren je kontingente Bestimmung sie nicht aufheben kann, liegt den hier betrachteten Texten Jean Pauls durchgängig zugrunde. Vor dem Hintergrund dieser Problematik konturiert Jean Paul als eine Alternative zur satirischen Welthaltung den Humor. 181 Kennzeichnet die
179 Zu dieser „Ironisierung der Ironie" siehe Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel.\ S. 202. Laut Schmidt-Biggemann zeichnet sich spätestens in der (nachträglichen) Kommentierung von Swifts „Tale of a Tub" eine Tendenz zu dieser gedoppelten Ironie ab. Sie führe „zu einer schillernden Undefinierbarkeit in der Erzählhaltung: Der Erzähler ist gedoppelt, indem er ironisch und affirmativ zugleich spricht." (Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel\ S. 197.) 180 In Kapitel III sind die Probleme, die entstehen, wenn man die situative Einbindung von Kommunikation unter Beibehaltung des absoluten Geltungsanspruchs der aufklärerischen Norm berücksichtigt, ausführlich dargestellt worden. 181 Zur Geschichte des Humorbegriffs siehe Wolfgang Preisendanz: „Humor". In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Darmstadt 1974, S. 1232-34, Erhard Schüttpelz: „Humor". In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der'Rhetorik. Bd. 4. Tübingen 1998, S. 86-98, Wolfgang Preisendanz: „Humor". In: Harald Fricke, Klaus Weimar, Georg Braungart u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Uteraturmssenschaft. Bd. 2. Berlin - New York 2000, S. 100-03, Dieter Hörhammer: „Humor". In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stuttgart - Weimar 2001, S. 6 6 - 8 5 , sowie, im engen Bezug auf Jean Paul, Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 239 ff., S. 246 ff. — Entscheidend für die Geschichte des Humorbegriffs bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts ist im englischen Sprachraum die Verwendung des humoralpathologischen Begriffs — er bezeichnet die durch die Mischung der Körpersäfte vorherrschende ,Laune' — als „pejoratives Wort für auffällige, abweichende Erscheinungen von Nonkonformismus" (Schüttpelz: „Humor", S. 87). Ist der humoristische Charakter so vor allem Gegenstand der Satire, so kann er im 18. Jahrhundert (wiederum im englischen Sprachraum) als Individualist und Originalgenie positiv bewertet werden. - Eine umfassende Würdigung der Bedeutung des Humors für den poetischen Realismus (ausgehend vor allem von Solger und Hegel) gibt Wolfgang Prei-
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Satire ursprünglich die Selbstgewißheit ihrer Norm einerseits und die Eindeutigkeit der Verurteilung andererseits, so geht der Humor von der Einsicht in die Bedingtheit jeden Seins aus.182 Damit gibt er Selbstgewißheit und Eindeutigkeit auf, gewinnt aber eine versöhnliche Haltung zur Welt.183 Die Utopie, jenseits kontingenter Rahmenbedingungen Kommunikation allgemein adressieren und auf ihre Informationsseite reduzieren zu können, wird abgelöst von einer Haltung, die diese Rahmen wieder in ihr Recht setzt. Der Humor weiß, daß kontingente Rahmenunterscheidungen die Bedingung der Möglichkeit sind, überhaupt beobachten, kommunizieren oder lesen zu können, kann diese Einsicht aber versöhnlich wenden. Er ist damit in gewisser Hinsicht die Konsequenz jener Wendung der Satire gegen sich selbst, die Jean Pauls Texten innewohnt, und zugleich eine Haltung, die den Einsichten der Jean Paulschen Theorie der Einbildungskraft (bzw. seiner Lektüretheorie) angemessen ist. Im folgenden soll daher von der Unterscheidung zwischen Humor und Satire ausgegangen werden. Allerdings wird sich zeigen, daß es auf der Seite des Humors zu einem Wiedereintritt des Satirischen kommt - mit dem Effekt, daß zwei Spielarten oder Dimensionen des Humors unterschieden werden müssen, nämlich eine satirische und eine empfindsame.m sendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien %ur Er%ählkunst des poetischen Realismus. München 1963. 182 „Humor ist das Ergebnis selbstkritischer Bescheidung der Satire und der aufklärungsbewußten Vernunft, von der sie im 18. Jahrhundert getragen wurde" (Waltraud Will, Michael: Witzige Illumination. Studien ^urAstheük Jean Pauls. Tübingen 1979, S. 223). 183 Vgl. Wiethölter: Witzige Illumination, S. 265: „Humor [...] hat nichts mit ,lustiger Lebensbehaglichkeit' [...] zu tun, vielmehr mit der für jedes vernünftige Wesen erschreckenden Erkenntnis, daß ihm nicht überschreitbare Grenzen gesetzt sind." Allgemein zum Humor siehe S. 223—68. Aus dem versöhnlichen Aspekt des Humors ergibt sich allerdings auch ein gewisser Ideologieverdacht (S. 266). 184 Diese Doppelstruktur der Jean Paulschen Poetik ist oft, wenn auch in unterschiedlichen Terminologien, thematisiert worden. Wölfel behandelt sie als zwei Spielarten des ,hohen Menschen': „Nur mittels des Kontrasts, nur negativ kündet der Humorist vom Reich des Unendlichen [...]. Nicht die Endlichkeit vernichtend, sondern sie transzendierend verhält sich der poetische Geist zur Sinnenwelt" (Wölfel: ,„Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt'", S. 267, Hervorhebungen von mir). (Hier wird dagegen gezeigt, daß diese beiden .Spielarten' dem Humor bereits innewohnen. Entsprechend komme ich zu anderen Akzentsetzungen als Wölfel.) Schmidt-Biggemann betont mit Bezug auf „Des todten Shakespeare's Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Gott sei", aufgrund der Gefahren des „Experimentalnihilismus" der Jean Paulschen Satiren um 1790, der in ähnliche Selbstverluste zu fuhren drohe wie der satirisch gewendete Humor, müsse Jean Paul durch „eine fromme, surreale Idylle" einen Ausgleich schaffen. Ahnlich urteilt Proß: ,,[V]on der späten Aufklärung Nicolais" unterscheide Jean Paul „das empfindsame Bedürfnis nach Enthusiasmus [...], freilich mit dem Gegengewicht seines satirischen Skeptizismus." (Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 229.) Wölfel zeigt in seiner Interpretation der Jean Paulschen „Unlust zu fabulieren", daß die vom Autor als für seine Texte konstitutiv beschriebene Bewegung zwischen Empfindsamkeit und satirischem Humor nicht nur auf die Geschichte bezogen werden dürfe. Vielmehr mache „der von den
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
Bezeichnenderweise formuliert Jean Paul seine Theorie des Humors an verschiedenen Stellen anhand eines Beispiels, das ein Verfahren des Umgangs mit Paratexten beschreibt, also wieder Lektüre, und hier insbesondere die Ornamentseite des zu Lesenden, fokussiert. Ein Humorist im Sinne dieser Theorie ist beispielsweise die Hauptfigur des „Hesperus", Viktor, der nicht nur die nahezu uneingeschränkte Sympathie der Erzählinstanz genießt, sondern sogar als seelenverwandt apostrophiert wird. Viktor vermag einen humoristischen Mehrwert aus der Lektüre von Paratexten zu ziehen. Wählt er doch seine Leserei oft so jämmerlich [...] aus alten Vorreden, Programmen, Anschlagzetteln von Reisekünstlern, die er alle mit unbeschreiblichem Vergnügen durchlas - bloß weil er sich vordichtete, diesen geistigen Futtersack, der bloß unter den Lumpenhacker gehörte, hab' er selber gefertigt und gefüllt aus satirischer Rücksicht.185
Auch wenn hier von Satire die Rede ist, handelt es sich doch um ein Beispiel ,,ächte[n] Humor[s]",186 wie die folgende Darstellung des Jean Paulschen Humorbegriffs zeigen wird. Entscheidend nämlich ist hier nicht die satirische Absicht als solche, sondern die Bewegung des ,Unterschiebens', der Unterstellung einer satirischen Absicht. Konstitutiv für Viktors Vorgehen ist eine Verwechslung, denn er schiebt den (Para-)Texten, die er liest, beiden Brennpunkten gezogene Autor sein eigenes Gehen zur Grundlage und zum Material für die Herstellung eines Fiktionsraumes" (Wölfel: „Die Unlust zu fabulieren", S. 56). Diese Ausweitung des ,Fiktionsraumes' führe zu der hier ebenfalls betonten „Polyphonie der Texte" (S. 57). Bereits Michelsen arbeitet sehr genau die Doppelstruktur der Jean Paulschen Schreibverfahren zwischen (zersetzendem) Witz und (allverbindender) Empfindsamkeit heraus (siehe zusammenfassend Michelsen: lMunnce Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 329—33) und betont dabei insbesondere die Differenz zu Sterne (siehe z.B. S. 315, S. 381; zur Versöhnung von Satire und Empfindsamkeit, von Verstand und Gefühl im Sterneschen Humor siehe S. 29 ff., S. 40). Hunfeld liefert in ihrer Arbeit über die Semantik des Weltalls bei Jean Paul und anderen eine treffende Zuspitzung dieses Befundes: „Die großen Szenen und witzigen Detailbilder bedingen einander. Das ätherische All produziert seine Ironisierung, das materialistische All bedarf des metaphysischen Gegenbilds." (Barbara Hunfeld: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Braches, Jean Paul, Goethe und Stifter. Tübingen 2004, S. 112; zu Jean Paul siehe S. 101-47.) Dabei werden die ,großen Szenen' als empfindsame verstanden: Sie sind „Momente insinuierter Unmittelbarkeit" (S. 141). 185 Jean Paul: „Hesperus", S. 494 f. Das Vorbild für einen solchen Umgang mit Texten ist Swift. Von dessen Lektürevorlieben handelt gleich der zweite der Paragraphen über den Humor in der „Vorschule der Ästhetik": „Vive la Bagatelle, ruft erhaben der halbwahnsinnige Swift, der zuletzt schlechte Sachen am liebsten las und machte, weil ihm in diesem Hohlspiegel die närrische Endlichkeit als die Feindin der Idee am meisten zerrissen erschien und er im schlechten Buche, das er las, ja schrieb, dasjenige genoß, welches er sich dachte." (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 125.) 186 Novalis: „Blüthenstaub". In: N.: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mahl (= Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2). Darmstadt 1999 [1798], S. 225-85, S. 241: „Schlegels Ironie scheint mir ächter Humor zu sein."
2. Witzig schreiben/humoristisch lesen. Jean Pauls Poetik des Paratextuellen
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eine Bedeutung unter, die er zwar nur subjektiv in sie hineinprojizieren kann, die er dann aber gleichwohl für objektiv gegeben hält: Denn die Weiber, die stets den Bürger mehr als den Menschen achten, sehen nicht, daß sich der Humorist weismacht, alles, was jene Plebejer sagen, souffliere er ihnen, und daß er absichtlich das unwillkürliche Komische zu künsderischem adelt, die Narrheit zu Weisheit, das Erden-Irrhaus zum Nationaltheater. [...] In der Tat, da die Deutschen Ironie selten fassen und selten schreiben: so ist man gezwungen, vielen ernsthaften Büchern und Rezensionen boshafte Ironie anzudichten, um nur etwas zu haben. 1 8 7
Ein solches Andichten' ermöglicht es, auch noch das Lächerlichste, Bedingteste als Verweis auf ein Ideales zu behandeln. Dieses Wechselspiel von Unterschieben und Verwechseln ist die Grundlage des Humors in der Jean Paulschen Definition, die im folgenden ausfuhrlicher rekonsturiert werden soll. Jean Pauls Überlegungen zum Humor in der „Vorschule" geben auf einer sehr abstrakten Ebene die Antwort auf eine Frage, die sich bereits in Jean Pauls Lektüretheorie andeutet, nämlich wie im Begrenzten das Grenzenlose zugänglich gemacht werden könne. Ähnlich wie die Satire setzt der Humor am Bedingten an, beschränkt sich aber nicht auf dessen Verurteilung, sondern zieht aus dieser Verurteilung einen metaphysischen Gewinn. Nachdem Jean Paul bereits das Komische als eine Bewegung von Unterschieben und Verwechseln beschrieben hat, das den Verstand und damit ein mit Endlichkeit befaßtes Vermögen beschäftigt, 188 fragt er in einem zweiten Schritt nach Möglichkeiten einer Komik, die sich auf das Unendliche richtet. 189 Zu diesem Zweck bringt er die Vernunft als ein weiteres Vermögen ins Spiel. Denn: Der Verstand und die Objekten-Welt kennen nur Endlichkeit. Hier finden wir nur jenen unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit selber. Wie aber, wenn man eben diese Endlichkeit als subjektiven
187 Jean Paul: „Hesperus", S. 495. Vgl. auch: „Mein Held aber hatte überall zu genießen [...], überall zu essen [...], überall zu lesen - und warens nur Feuersegen an der Türe, alte Kalender an der Wand, Ermahnungen zur Wohltätigkeit über Almosenbüchsen" (Jean Paul: „Hesperus", S. 756). 188 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 102-24, insbesondere S. 109 f. und S. 122 ff. Jean Pauls Fazit: „Das Lächerliche bleibt daher ewig im Gefolge der geistigen Endlichkeit." (S. 124.) 189 In der Jean Paulschen Terminologie impliziert dies die Frage danach, wie „das Komische romantisch werden" könne. Das Romantische nämlich definiert Jean Paul als das „Schöne ohne Begrenzung" (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 88). - Müller betont, in dieser Definition liege für die zeitgenössische Ästhetik ein „Widerspruch in sich", und schließt, im Grunde verbanne „Jean Paul [...] das Schöne in diesem [dem alten] Sinne ganz aus seiner Ästhetik" (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 134).
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul Kontrast jetzo der Idee (Unendlichkeit) als objektiven^01 unterschöbe und liehe und statt des Erhabenen als eines angewandten Unendlichen jetzo ein auf das Unendliche angewandte Endliche [sie], also bloß Unendlichkeit des Kontrastes gebäre, d. h. eine negative? 191
Die Ideen, die die Vernunft bereitstellt, können per definitionem nicht objektiv vorgestellt werden. Sie taugen nicht für den Verstand, jenen „Gottesleugner einer beschlossenen Unendlichkeit".192 Den mithin eigentlich nur subjektiv zu konstituierenden Kontrast zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit fur einen objektiven zu nehmen, heißt, die Idee des Unendlichen ihrerseits als ein objektiv Gegebenes zu behandeln. Damit aber geht man davon aus, die objektiv gegebene unendliche und unbedingte Idee (oder die Vernunft als in der Welt wirksames Prinzip) wirke gerade darin, daß sie das Endliche oder Bedingte als ihr Gegenteil hervorbringe so wie sich Viktor im „Hesperus" ausmalen kann, er selbst habe in satirischer Absicht jene schlechten Schriften verfaßt, die er liest. Infolge dieser Verwechslung des subjektiven mit einem objektiven Kontrast muß dann, resümiert Jean Paul, auch der Verstand als das Vermögen objektiver Erkenntnis „hier einen ins Unendliche gehenden Kontrast antreffen". 193 In dieser Wendung liegt die immer wieder hervorgehobene metaphysische Reichweite des Jean Paulschen Humorbegriffs. 194 Insofern der Hu190 Nach einer Konjektur Berends schreibt Millers Ausgabe hier „objektivem"'. Ich folge Müllers Argument für die Schreibweise „objektiven" (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 230). 191 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 124 f. 192 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 125. 193 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 125. — In der Deutung dieser etwas .dunklen' Stelle sind gerade in der älteren Forschung einander sehr stark widersprechende Arbeiten entstanden; siehe beispielsweise Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche fir Vorlesungen. Teil I: Die Metaphysik des Schönen. Hg. v. Robert Vischer. München 1922, S. 488, Eduard Berend: Jean Pauls Ästhetik. Berlin 1909, S. 228-42, insbes. auch S. 241 f. (der sich gegen Vischer wendet), Max Kommerell: Jean Paul. Frankfurt/M. 1966 [1933], S. 4 0 3 - 0 9 (auch er richtet sich scharf gegen Vischer), und Ulrich Profitlich: „Zur Deutung der Humortheorie Jean Pauls". In: Zeitschrift fir deutsche Philologie 89, 1970, S. 161—68, S. 167 f. (der sich gegen Kommerell und Vischer richtet, indem er behauptet, ihre Positionen unterschieden sich in Wirklichkeit gar nicht). Meine Interpretation steht derjenigen Kommereils recht nahe, derjenigen von Profitlich hingegen nicht. 194 Zum Jean Paulschen Humorbegriff siehe Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 218—73, Preisendanz: „Humor [2000]", S. 101 f., Hörhammer: „Humor", S. 72ff. - Jean Pauls Überlegungen sind bis heute Ausgangspunkt systematischer Überlegungen zu Komik und Subjektivität, so ζ. B. bei Wolfgang Preisendanz: „Humor als Rolle". In: Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hgg.): Identität (= Poetik und 'Hermeneutik, Bd. VIII). München 1979, S. 423-34, S. 432: „Humor wäre die Projektion einer Subjektivität, die den Schein der Unverbindlichkeit des Verbindlichen erweckt und die gleichwohl die Unverbindlichkeit dieses Scheins reflektiert." Siehe auch Martin Seel: „Über einige Beziehungen der Vernunft zum Humor". In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 33.5, 1986, S. 420-32, Martin Seel: „Drei Formen des Humors". In: DVjs 76.2, 2002, S. 300-05. Dem letzten Beitrag geht es insbesondere um die Unterscheidung zwischen ästhetischem und praktischem Humor (die er-
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mor einen „ins Unendliche gehenden Kontrast" erzeugt, wendet er sich gegen die Endlichkeit und Bedingtheit als solcher. Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt; er hebt ungleich dem gemeinen Spaßmacher mit seinen Seitenhieben - keine einzelne Narrheit heraus, sondern er erniedrigt das Große, aber - ungleich der Parodie um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, aber ungleich der Ironie — um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts. 195
Die „humoristische Totalität" 196 äußert sich einerseits darin, daß der Humor sich nicht an einzelnen Gegebenheiten der endlichen und bedingten Welt orientiert, sondern sie allenfalls in ihrer Exemplarität zum Ausgangspunkt nehmen kann. Er nimmt die gesamte „tolle Welt" für eine gewollte Inszenierung endlicher Beschränktheit, so wie Viktor sich selbst als Regisseur aller ihn umgebenden Lächerlichkeiten ansieht. Pointiert gesagt: Die Endlichkeit der Welt, die Gerahmtheit jeder Beobachtung und damit die Buchstäblichkeit jeder Darstellung (bzw. jeder Vorstellung) insgesamt erscheint dem Humor als objektiver Kontrast zur unendlichen Idee. 197 Die Konsequenzen dieses ,umwegigen' Zugangs zur Unendlichkeit gilt es genauer zu fassen. Einen ersten Anhaltspunkt dazu bietet der Unterschied zwischen dem Humor und dem Erhabenen. Die Orientierung an der Endlichkeit der Welt selbst und nicht am Einzelnen unterscheidet den Humor vom Erhabenen, wie es nicht nur der Einbildungskraft-Aufsatz, sondern auch die „Vorschule" definiert. 198 Gelangt der Humor auf dem Weg einer Negation der Endlichkeit als solcher zum Unendlichen, so wird im Erlebnis des Erhabenen auf diesen Umweg verzichtet. Ausgangspunkt kann daher auch das Einzelne, Partikulare (wie oben betont: auch der einzelne Buchstabe bzw. das Spatium) sein: Die Erhabenheit der Bewegung von „Jupiters Augenbraunen" 199 besteht darin, daß sich im Endlichen, und hier gar in einem kleinen Gegenstand, die göttliche Macht als ein Unendliches zum Ausdruck bringt. In diesem Sinn spricht Jean Paul von einem auf das Endliche „angewandten Unendlichen": Erhaben ist das Erscheinen des Unendlichen im Endlichen. Erfolgt umgekehrt eine Anwendung des Endlichen auf ein Unendliches, so ist der Effekt kennzeichgänzt wird um den Begriff des theoretischen Humors). Diese Unterscheidung ist auch bei Jean Paul angelegt, wurde hier aber nicht in den Vordergrund gerückt (siehe Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 27). 195 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 125. 196 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 125. 197 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 129. 198 Siehe Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 105 ff. 199 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 106.
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nend für den Humor: Gewonnen wird damit nämlich nur jene Unendlichkeit des Kontrastes, die, als objektiver Kontrast wahrgenommen, im Endlichen einen objektiven Verweis auf das Unendliche erkennt.200 In diesem Verweis auf das Unendliche auf dem Weg der Negation, der dem Humor innewohnt, liegt allerdings auch eine Gefahr. So verweist Jean Paul auf eine schmerzhafte Komponente des Humors: „wenn er [der Mensch] mit der kleinen [Welt], wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist".201 Damit wird der Schmerz als ein Moment, das Jean Paul dem Erhabenen explizit abspricht - bei Kant ist er im Versagen der Einbildungskraft implizit - zu einem Effekt des Humors. Die Ursache dieses Schmerzes ist zunächst nicht unbedingt einsichtig - schließlich soll auf dem Weg des Humors ja eine metaphysische Vergewisserung, soll Versöhnung erfolgen. Die Schmerzhaftigkeit des humoristischen Lachens erklärt sich jedoch daraus, daß die Verwechslung des zunächst nur subjektiv bestimmten Kontrastes zwischen der Bedingtheit der Welt und der unbedingten Idealität mit einem objektiven Kontrast eine Verwechslung von Vermögenskompetenzen impliziert: Der Verstand wird gezwungen, mit einem ,ins Unendliche Gehenden' zu operieren, und damit zu einer Überschreitung seiner Kompetenzen genötigt. Gerät diese Verwechslung ihrerseits in den Blick des Subjekts, so erfolgt eine seltsame Spaltung: Denn wenn das Komische im verwechselnden Kontraste der subjektiven und objektiven Maxime besteht; so kann ich, da nach dem Obigen die objektive eine verlangte Unendlichkeit sein soll, diese nicht außer mir gedenken und setzen, sondern nur in mir, w o ich ihr die subjektive unterlege. Folglich setz' ich mich selber in diesen Zwiespalt - aber nicht etwa an eine fremde Stelle, wie bei der Komödie geschieht — und zerteile mein Ich in den endlichen und unendlichen Faktor und lasse aus jenem diesen kommen. Da lacht der Mensch, denn er sagt: „Unmöglich! Es ist viel zu toll!" Gewiß! Daher spielt bei jedem Humoristen das Ich die erste Rolle; w o er kann, zieht er sogar seine persönlichen Verhältnisse auf sein komisches Theater, wiewohl nur, um sie poetisch zu vernichten. 202
Jean Paul entfaltet die Figur der negativen Apostrophe der Idealität also in zwei Richtungen: Der Humor kann einerseits der metaphysischen Vergewisserung dienen, läuft aber andererseits stets Gefahr, in ein bloßes Spiel des Subjekts mit sich selbst zurückzufallen.203 200 Vgl. Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 231: „Während im Erhabenen der sinnliche Schein transzendent gedeutet wird, übersteigt der Humor die sinnliche Endlichkeit, indem er sie durch den Kontrast mit dem Unendlichen vernichtet." 201 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 129. 202 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 132 f. 203 Zu dieser Stelle vgl. Ulrich Profitlich: „Humoristische Subjektivität". In: Jahrbuch der JeanPaul-Gesellschafl 6, 1971, S. 46-85, S. 66 ff. - Zur Figur des Humoristen bei Jean Paul siehe Michelsen: haurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 377—91.
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Diese Unsicherheit der humoristischen Weltversöhnung geht auf das Moment des Verweises qua Negation zurück: In Ermangelung äußerlicher, objektivierbarer Anhaltspunkte droht die humoristische Welthaltung zum Solipsismus zu werden - eine Gefahr, die in humoristischen Figuren wie Leibgeber/Schoppe/Graul und Giannozzo greifbar wird. Immer schon ist der Humor nämlich dem Wahnsinn verwandt: 204 Insofern als ein solcher Jüngster Tag [eine humoristische Darstellung] die sinnliche Welt zu einem zweiten Chaos ineinanderwirft — bloß um göttlich Gericht zu halten —, der Verstand aber nur in einem ordentlich eingerichteten Weltgebäude wohnen kann, indes die Vernunft, wie Gott, nicht einmal im größten Tempel eingeschlossen ist —: insofern ließe sich eine scheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnsinn denken, welcher natürlich, wie der Philosoph künstlich, von Sinnen und von Verstände kommt und doch wie dieser Vernunft behält. 205
Die künstliche Verabschiedung von Sinn und Verstand im Namen der Vernunft läuft immer Gefahr, am Ende ohne eine Welt dazustehen, der eine metaphysische Grundlegung zugesprochen werden könnte. Damit taucht in der Tat ein satirisches Moment im Humor wieder auf, denn der Wendung des humoristischen Subjekts gegen sich selbst ist der Wendung der Satire gegen sich selbst (bzw. die ihr zugrundeliegende Norm) kongruent. Hier findet also der oben bereits angesprochene Ubergang von der gegen sich selbst gewandten Satire zum Humor statt:206 Un204 Siehe hierzu Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 229 ff. 205 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 139 f. 206 Darin liegt - so sehen es zumindest gewichtige Stimmen der Forschung - zugleich der Übergang zwischen den frühen Jean Panischen Satiren zu humoristischen Formen des Schreibens. Als ein Antrieb Jean Paulschen Schreibens fungiert sowohl in den späten Jugendsatiren als auch in der Folgezeit die Abwehr einer möglichen Destruktion metaphysischer Gewißheiten - Gott, Unsterblichkeit, göttlich geordnete Welt. In diesem Zusammenhang wird die Kantische Transzendentalphilosophie abgelehnt - ist ihr doch objektive Erkenntnis nur im Bezug auf die mechanisch funktionierende Natur möglich, während die Existenz Gottes und andere metaphysische Gewißheiten zu bloß methodisch bedeutsamen Postulaten werden (vgl. Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 258 ff.; zu Jean Pauls Verhältnis zu Jacobi siehe S. 260 ff., S. 268 ff.). Die von Jean Paul diagnostizierte metaphysische Endeerung ist eine unmittelbare Konsequenz der Universalisierung immanenter Erklärungsmuster wie dem der Mechanik beispielsweise schon bei Leibniz (S. 23, ausführlich im Zusammenhang mit Jean Pauls satirischen Selbst-Widerlegungen des Teufels S. 217 ff., S. 249 ff.). Grob gesehen lassen sich zwei Arten und Weisen der satirischen Reaktion auf die erkannte Gefahr der metaphysischen Endeerung ausmachen: Satire kann einerseits geistige Tendenzen zu dieser Endeerung vor dem Hintergrund einer für gewiß angenommen metaphysischen Rahmensetzung verurteilen. Oder sie ist sich dieses Hintergrundes gerade nicht mehr sicher und versucht aus dem Aufweis der Unzumutbarkeit .nihilistischer' Grundannahmen darauf zu schließen, daß sie nicht zutreffend sein können. Das letztere Verfahren hat Wilhelm Schmidt-Biggemann als den „Experimentalnihilismus" der Texte vom Ende der 1780er Jahre ausführlich dargestellt (S. 258; weiterhin S. 258 ff., S. 274ff.). Dessen Vorbedingung ist der Übergang der satirischen Ironie in eine „Ironisierung der Ironie" (S. 202), und umgekehrt bietet er selbst einen Übergang zur hier interessierenden humoristisch-satirischen Haltung. - Zu Jean
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ter humoristischen Vorzeichen äußert sich die vernichtende Kraft der ,echten', normorientierten und selbstgewissen Satire autoaggressiv. Insofern der Humor ,nur' auf einer Verwechslung beruht, die im Subjekt eine Spaltung induziert, kann seine versöhnende Kraft jederzeit umschlagen in Enttäuschung, Desillusionierung und metaphysische Leere - dann nämlich, wenn nur noch der Kontrast, auf dem er beruht, in den Blick gerät, die Verwechslung aber nicht mehr ernstgenommen wird.207 Wenn der ,ächte Humor' diesen Weg nicht geht und eine metaphysische Entleerung vermeidet, beruht dies auf einem empfindsamen Moment, das ihm dem Jean Paulschen Konzept zufolge immer schon innewohnt. Was den Modus der empfindsamen Rezeption, der für Jean Pauls Texte insgesamt von entscheidender Bedeutung ist,208 nicht zuletzt ausmacht, ist die Unmittelbarkeit, mit der das jeweils buchstäblich Gegebene (und in diesem Sinn natürlich auch Vermittelte) der Sinngebung zugeführt wird.209 Nicht zuletzt ist ein Ideal empfindsamer Kommunikation die .Transparenz der Herzen'. Genau wie beim Erlebnis des Erhabenen kann hier sozusagen dem ,einzelnen Buchstaben' unmittelbar Bedeutsamkeit zugeschrieben werden. Wie Jupiters Augenbraue210 kann eine einzelne Träne die Welt bedeuten. Das sinnlich, d. h. buchstäblich Vorliegende wird in
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Pauls Gegnerschaft zum transzendentalen Idealismus siehe ausführlich Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 274 et passim, sowie Proß, der diesen Gegensatz mittels der Unterscheidung von Mechanismus und Animismus beschreibt (Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 52, S. 119 ff., et passim). Köpke spricht dann auch konsequenterweise von der „Satire des Humors", die sich bewußt sei, „daß sie sich selbst kritisiert" (Wulf Köpke: „Die Moreske einer Moreske oder die dunkle Seite des Humors". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 26/27, 1991 f., S. 108-19, S. 116). Die gefährliche nihilistische Variante des Humors bringt Köpke in Verbindung mit Jean Pauls Gedanken, den Teufel als Humoristen zu beschreiben (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 130). Das Konzept eines „satanischen Humors" (Köpke: „Die Moreske einer Moreske", S. 112) ziele auf einen Humor, dem der Bezug zur Idee gänzlich verlorengegangen ist. Siehe hierzu Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 136. Müller betont insbesondere die Bedeutung des „Werther" für Jean Paul und sieht in der Schilderung von Parks den prominentesten Modus empfindsamer Darstellung: „Nicht anders als das Gemälde des Landschaftsmalers hat der Park durch seine künstlerisch gestaltete Physiognomik der Natur das Ziel, Geist und Körper, Naturansicht und Empfindung unmittelbar aneinander zu binden." Wegmann beschreibt Empfindsamkeit ausführlich als „soziales Orientierungs- und Wiedererkennungsmuster" (Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefiihls in der Uteratur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, hier S. 26) und „Interaktionsparadigma" (S. 46). Dieses findet man ausformuliert bei Christian Fürchtegott Geliert: „Brife, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen". In: Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann, Herta Schwarz (Hgg.): Bneftheone des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990 [1751], S. 58-98. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 106.
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der empfindsamen Kommunikation auf einen ideellen Zusammenhang hin transzendiert, ohne dafür negiert werden zu müssen. Auch wenn ein Verweis qua Negation im Mittelpunkt seiner Bestimmung des Humors steht, spricht Jean Paul dem Humoristen ausdrücklich — und zwar gerade aufgrund der „vernichtenden Idee" des Humors — Empfindsamkeit zu. 211 Daß der Humor also eine satirische und eine empfindsame Dimension einschließt, erklärt, welch zentrale Bedeutung ihm in Jean Pauls Texten zukommt, die eine Oszillation zwischen diesen Polen immer schon vollziehen. Geht der Umschlag von Humor in autoaggressive Satire auf eine Überakzentuierung des konstitutiven Kontrasts zwischen Sinnlichkeit und Idee zurück, der zur Selbstspaltung führt, so leitet sich die empfindsam-versöhnliche Seite des Humors, die dem satirisch gewendeten Humor verloren geht, aus dem zweiten Moment der humoristischen Weltbetrachtung ab: Sie ist der Bereitschaft implizit, die Verwechslung des subjektiven und des objektiven Kontrastes ernst- und also den subjektiven Kontrast als objektiven wahrzunehmen. Das Ernstnehmen des Einzelnen als unmittelbarer und positiver Verweis auf ein Ideelles, das Empfindsamkeit ausmacht, ist der ungeprüften (und unprüfbaren) Annahme dieser Verwechslung inhärent. Unterstellt wird ja die Identität des subjektiven und des objektiven Kontrasts, nicht deren Differenz. Die Verwechslung des subjektiven Kontrasts zwischen der Unendlichkeit der Idee und der Endlichkeit der sinnlichen Erscheinungen mit einem objektiven Kontrast erzeugt also zugleich eine (gefährliche) Spaltung des Ich (insofern es sich dabei eben nur um eine Verwechslung handelt) und das Angebot einer Versöhnung der Welt (insofern man diese ernstnimmt). Der Humorist muß also bereit sein, jede „einzelne Torheit" zu verteidigen, will er nicht dem solipsistischen Wahnsinn anheimfallen. Nur so kann sich die Weltverachtung des Humors von jener Weltverachtung abheben, die Jean Paul im ersten Programm der „Vorschule" dem „poetischen Nihilismus", also insbesondere der Frühromantik vorwirft. 212 Das sinnliche Moment des Humors wird von Jean Paul daher besonders betont: „Da es ohne Sinnlichkeit überhaupt kein Komisches gibt: so kann sie bei dem Humor als ein Exponent der angewandten Endlichkeit nie zu farbig werden." 213 Auch wenn die Erzeugung eines sinnlichen Chaos
211 „Wie ist aber bei diesem allgemeinen Spotte der Humorist, welcher die Seele erwärmt, von dem Persifleur abgesondert, der sie erkältet, da doch beide alles verlachen? Soll der empfindungsvolle Humorist mit dem persiflierenden Kältling grenzen, der nur den umgekehrten Mangel des Empfindseligen zur Schau trägt? - Unmöglich, sondern beide unterscheiden sich voneinander wie Voltaire sich oft von sich oder von den Franzosen, nämlich durch die vernichtende Idee." (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 129.) 2 1 2 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 30. 2 1 3 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 139.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
durch den Humor wiederum die Nähe zum Wahnsinn augenscheinlich werden läßt, hat gerade die sinnliche Kleinteiligkeit auch einen versöhnenden Effekt: Er [der Humor] gewährt als echte Dichtkunst dem Menschen Freilassung und läßt, wie die tragische die Wunden, so die Sommersprossen und Lenz-, Herbstund Wintersprossen unserer geistigen Jahrzeiten leicht vor uns erscheinen und entfliehen. Nach dem Weglegen eines humoristischen Buchs haßt man weder die Welt, noch sogar sich. 214
Und: „Daher kann man keine Sammlung von Epigrammen und Satiren, aber wohl gleich Wieland einen Tristram Shandy - wie ich in seiner Bibliothek selber gesehen - bis zum Abgreifen eines Buchstabierbuchs wiederlesen."215 Ähnlich kann es auch Viktor im „Hesperus" in der Tat „nie zu farbig werden": Die humoristische Unterstellung einer satirischen Absicht, die seine Lektüren von „alten Vorreden, Programmen, Anschlagzetteln von Reisekünstiern"216 betreiben, ermöglicht es, gerade in solchen Texten, die der aufklärerischen Satire als Einsatzpunkt ihrer Kritik dienen, den Verweis auf ein Ideales zu sehen: Das scheinbar bloß Ornamentale, die Selbstreferentialität der Kommunikation verkörpernde Material wird zur Figur der unendlichen Idee - allerdings auf einem anderen Weg als dies beim Erlebnis des Erhabenen der Fall ist.
c) „Überfließende Darstellung". Lektüren des Ornamentalen Jean Pauls Poetik setzt den Humor als leitendes Prinzip ein: Auch die Bedingtheit jeder Lektüre, d. h. deren unhintergehbare Bestimmtheit durch die Phantasie, deren Grundlagen nicht verstandesgemäß eingesehen werden können, kann der Humor positiv wenden. Ihm kann auch die Abhängigkeit des Lesens von der immer kontingenten Rahmenunterscheidung zwischen Figur und Ornament in ihrem Kontrast zur unbedingten Idee zum Ausgangspunkt einer Erschließung dieser Idee werden. Der Kontrast jeglicher Buchstäblichkeit zur unendlichen Idee, der in der ornamentalen Dimension der Buchstaben wie der Texte sichtbar wird, wird so selbst Anlaß der humoristischen Verwechslung. Damit erhält das Paratextuelle als dasjenige am Text, was auf einer übergeordneten Ebene seine ornamentale Seite ausmacht, einen zentralen Stellenwert: An ihm wird insbesondere die Bedingtheit jeder Lektüre deutlich. Entsprechend lassen sich die bereits angeführten Fixleinschen philologischen Projekte auch lesen als Präfigurationen einer Lektürehaltung, die auf einer anderen 2 1 4 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 469. 2 1 5 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 469 f. 2 1 6 Jean Paul: „Hesperus", S. 495.
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Ebene auch den Rezipienten Jean Paulscher Texte abverlangt wird: Sie werden das scheinbar bloß Ornamentale, das scheinbar bloß Paratextuelle und Entleerte als solches humoristisch ernstzunehmen haben, wollen sie im literarischen Text einen Ansatzpunkt für die Entgrenzungsbewegung der lesenden Phantasie sehen. Bereits die Jean Paulsche Poetik der Idylle impliziert ein solches Verfahren.217 Allerdings beläßt sie es nicht bei jener abstrakten Bewegung, die den Humor auszeichnet. Birgt der Weg zum Unendlichen über die Negation des Endlichen die Gefahr eines Rückfalls in den Solipsismus, so verweist die Idylle in ihrer Begrenztheit konkret auf die Möglichkeit eines „Vollglücks". Wenn die Beschränktheit' diese „Vollglücks" zum Ausgangspunkt des Humors werden kann, so wird dessen kontrastierendnegativer Verweis auf das Unendliche hier ergänzt um den positiven Verweis auf den Glückszustand. Es wird gezeigt, wie dem Bedingten konkret ein positiver Wert abgewonnen werden kann. Damit aber kommt eine weitere Dimension von Lektüre ins Spiel, die das humoristische Modell allein nicht erfassen kann, weil es keine Maßgabe dafür bereitstellt, wie im einzelnen mit dem sinnlichen Material, das die für Jean Paul so typische „überfließende Darstellung"218 bereitstellt, umgegangen werden kann. Es wird sich zeigen, daß dafür ein weiteres poetisches Vermögen zuständig ist, nämlich der Witz. Eine Analyse des „Billettjs] an meine Freunde", das im „Quintus Fixlein" anstelle einer Vorrede fungiert, ermöglicht eine genauere Erfassung des mikrologisch-sinnlichen Ansatzes der Jean Paulschen Erzählungen. Der Erzähler entwirft hier zwei mögliche Perspektiven auf das Leben, die sich zugleich lesen lassen als mögliche poetische Verfahren.219 Der Methode, „so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht",220 stellt er eine mikrologische Maßgabe gegenüber: Was soll ich dem stehenden und schreibenden Heere beladener Staats-Hausknechte, Kornschreiber, Kanzelisten aller Departements und allen im Krebsko217 Zur Idylle vgl. Wiethölter: Witzige Illumination, S. 204 ff. 218 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 139. 219 Damit sind hier einige Überlegungen zur Romanpoetik in der „Vorschule" vorweggenommen. Dazu siehe Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 190 ff., und VI.3.b. 220 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 10. Zu denken ist an Verhaltensweisen, wie sie die „hohen Menschen" (siehe das „Extrablatt" „Von hohen Menschen", Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 221—24) und poetisch vollkommener Charaktere wie Emanuel aus dem „Hesperus" an den Tag legen (hierzu vgl. Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 146 ff., Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul, S. 26 ff.). Zu dieser Figurengruppe bei Jean Paul siehe auch Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 360-77.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul ber der Staats-Schreibstube aufeinandergesetzten Krebsen, die zur Labung mit einigen Brennesseln überlegt sind, was soll ich solchen für einen Weg, hier selig zu werden, zeigen? Bloß meinen zweiten; und das ist der: ein zusammengesetztes Mikroskop zu nehmen und damit zu ersehen, daß ihr Tropfe Burgunder eigentlich ein rotes Meer, der Schmetterlingsstaub Pfauengefieder, der Schimmel ein blühendes Feld und der Sand ein Juwelenhaufe ist. Diese mikroskopischen Belustigungen sind dauerhafter als alle teuern Brunnenbelustigungen.... Ich muß aber diese Metaphern erklären durch neue. Die Absicht, warum ich Fixleins Leben in die Lübecksche Buchhandlung geschickt, ist eben, in diesem Leben - daher ichs in diesem Billett wenig brauche — der ganzen Welt zu entdecken, daß man kleine sinnliche Freuden höher achten müsse als große, den Schlafrock höher als den Bratenrock, daß man Plutos Quinterne seinen Auszügen nachstehen lassen müsse, einen NNd'or dem Notpfennig, und daß uns nicht große, sondern nur kleine Glückszufalle beglücken. — 2 2 1
D a s P r o g r a m m der „mikroskopischen Belustigungen" „Biographischen Belustigungen" kung der Perspektive
titelgebend222
ein V e r w e i s
es w i r d in d e n
— zeigt, d a ß d e r B e s c h r ä n -
auf höhere Strukturen
innewohnen
kann: Plötzlich w i r d der „ T r o p f e B u r g u n d e r [...] ein rotes Meer". A u c h d e r B l i c k a u f d i e Idylle, s o ist d e m z u e n t n e h m e n , w i r d i m K l e i n e n z u gleich positive V e r w e i s e auf die g r o ß e n Z u s a m m e n h ä n g e sehen k ö n n e n . ( F ü r d e n i d y l l i s c h e n C h a r a k t e r s e l b s t h i n g e g e n g e h t es n u r d a r u m ,
die
G r e n z e n , die i h m g e s e t z t sind, n i c h t i n d e n B l i c k g e r a t e n l a s s e n . E r k a n n daher i n s b e s o n d e r e die U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n Endlichkeit u n d
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e n d l i c h k e i t n u r b e d i n g t t r e f f e n : A u c h F i x l e i n s T o d e s a n g s t ist i m G r u n d e ja A n z e i c h e n s e i n e r U n f ä h i g k e i t , J e n s e i t i g k e i t z u d e n k e n . 2 2 3 ) F ü r die B e t r a c h t e r d e r I d y l l e , u n d i n s b e s o n d e r e f ü r i h r e E r z ä h l e r , e r w e i s t es sich als n o t -
221 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 11 f. 222 Jean Paul beruft sich hier auf prominente Zeitschriftenprojekte: „Spießens Münzbelustigungen, Rösels Insektenbelustigungen und der Patienten Brunnenbelustigungen sind nicht nur die Vorgängerinnen und Muster der gegenwärtigen biographischen, sondern auch die (metaphorischen) Bestandteile davon." (Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 265.) Gemeint sind die von Johan Jakob Spiel herausgegebenen „Brandenburgischen Münzbelustigungen" (1768-72) und August Johann Rösels insektologische Zeitschrift. Rösel, der übrigens regen Gebrauch vom Mikroskop macht, berichtet, durch „geistreichen Gedichte des Herrn Β. H. BROCKES, und die Physicotheologie WILHELM DERHAMS" zu seinem Unternehmen einer populärwissenschaftlichen illustrierten Insektenkunde in Zeitschriftenform angeregt worden zu sein (August Johann Rösel: „[Vorrede]". In: Oer monatlich=herausgegebenen lnsekten-helustigung Erster Theil. Nürnberg 1745, S. A2-D4, S. A3, recto). Insofern bestehen hier (wie auch schon bei Sterne) Bezüge zur in III.3 untersuchen okkasionellen Lyrik. Unter „Brunnenbelustigungen" sind wohl Kurmaßnahmen zu verstehen. 223 Zur in dieser Todesangst sichtbar werdenden gefahrlichen Seite der Einbildungskraft und zur Heilung Fixleins siehe Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 208 ff., sowie Müller: „Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse", S. 157 f.
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wendig, eine übergeordnete Perspektive auf Fixleins „Vollglück in der Beschränkung" einzunehmen: Man muß dem bürgerlichen Leben und seinen Mikrologien, wofür der Pfarrer einen angebornen Geschmack hat, einen künstlichen abgewinnen, indem man es liebt, ohne es zu achten, indem man dasselbe, so tief es auch unter dem menschlichen stehe, doch als eine andere Verästung des menschlichen so poetisch genießet, als man bei dessen Darstellungen in Romanen tut. Der erhabenste Mensch liebt und sucht mit dem am tiefsten gestellten Menschen einerlei Dinge, nur aus höhern Gründen, nur auf höhern Wegen. - 2 2 4 So betrachtet, impliziert der erzählerische Blick auf die mikrologische Perspektive der Idylle bereits, was der Erzähler als zu priorisierenden dritten, wenn auch als „schwersten und klügsten"225 Weg zu beschreiben versucht: Die Verbindung beider Perspektiven im Wechsel. 226 Damit rücken auch die (Para-)Textsammlungen der idyllischen Charaktere in eine neue Perspektive. 227 Im „Quintus Fixlein" gibt es auf der Ebene der Erzählfiktion eine Verstrickung des Erzählens in eine der Sammeltätigkeiten Fixleins, der sich der vorliegende Text selbst verdankt: 228 Unter dem Essen fiel etwas vor, das ein Biograph nicht entbehren kann: seine Mutter mußt' ihm nämlich die Landkarte seiner kindlichen Welt unter dem Käuen mappieren und ihm alle Züge erzählen, woraus von ihm auf seine jetzige Jahre etwas zu schließen war. Diesen perspektivischen Auftiß seiner kindlichen Vergangenheit trug er dann auf kleine Blätter auf, die alle unsere Aufmerksamkeit verdienen. Denn lauter solche Blätter, welche Szenen, Akte, Schauspiele seiner Kinderjahre enthielten, schlichtete er chronologisch in besondere Schubläden einer Kinder-Kommode und teilte seine Lebensbeschreibung, wie Moser seine publizistischen Materialien, in besondere Zettelkästen ein. Er hatte Kästen für Erinnerungszettel aus dem zwölften, dreizehnten, vierzehnten etc., aus dem einundzwanzigsten Jahre und so fort. Wollt' er sich nach einem pädagogischen Baufron-Tag einen Rastabend machen: so riß er bloß ein Zettelfach, einen Registerzug seiner Lebensorgel, heraus und besann sich auf alles.229 Diese „Lebensorgel" ist nicht nur die Grundlage der vorliegenden Biographie, deren Verfertigung der Erzähler mit Fixlein vereinbart. Sie stellt zudem die kindliche Perspektive heraus, aus der sich Fixleins Interesse für
224 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 185. 225 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 10. 226 Zu Wechsel und Mischung als poetologischem Grundprinzip bei Jean Paul vgl. Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 190 ff., sowie, am Beispiel des „Siebenkäs", S. 250 ff. 227 Rehm betont die Verbindung der paratextuellen Zersplitterung Jean Paulscher Texte mit der hier in Frage stehenden „philologisch-idyllische[n] Mikrologie" (Rehm: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben", S. 18). 228 Eine solche Abhängigkeit der Erzählinstanz von vorliegendem Textmaterial ist in Jean Pauls Texten oftmals gegeben, beispielsweise auch im „Hesperus". Siehe dazu SchmitzEmans: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher", S. 34 ff. 229 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 83 f.
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die Sammlung speist. Und sie fuhrt an Fixlein selbst bereits eine Bewegung vor, die auf anderem Weg als dem satirischen aus der Sammlung Gewinn zieht. Denn aus der Perspektive des Erzählers handelt es sich bereits bei demjenigen, wovon die Zettelkästen berichten, um Versatzstücke literarischer Darstellung: „Szenen, Akte, Schauspiele". Es ist daher in der Tat konsequent, wenn der Verfasser die Einheit des Zettelkastens zur Unterteilung der Erzählung wählt. Dem Zettel, dem Bruchstück und dem Schnipsel gilt es, in der Perspektive dessen, der sich der Kinderjahre erinnert, eine poetische Dimension zu geben. Doch Fixleins Interesse am Schnipselhaften geht noch weiter, es erstreckt sich konsequenterweise insbesondere auf den Buchstaben. ,,[I]n frühen Jahren" habe er, so berichtet der Erzähler, in der Sakristei die „Polyglotta in Folio [...] — angefrischt durch Pfeiffers critica sacra - [...] Blatt für Blatt umgeschlagen [...], um daraus die litteras inversas, majusculas, minusculas etc. mit der größten Mühe zu exzerpieren".230 Eines seiner wichtigeren philologischen Projekte kapriziert sich auch in späteren Jahren ausschließlich auf das Buchstäbliche: Ferner trat er unter den deutschen Masorethen auf. Er bemerkte ganz richtig in der Vorrede: „Die Juden hätten ihre Masora aufzuweisen, die ihnen sagte, wie oft jeder Buchstabe in ihrer Bibel vorkomme, ζ. B. das Aleph (das A) 43277 mal - wie viel Verse darin stehen, wo alle Konsonanten auftreten (26 Verse sinds) — oder nur achtzig (3 sinds) — wie viele Verse man habe, worin gar 42 Wörter und 160 Konsonanten erscheinen (nur einer ist da, Jerem. XXI. 7) — welches der mittelste Buchstabe in einzelnen Büchern sei (im Pentateuch 3. Β. Mos. XI. 42 ists [...] das adelige V) oder gar in der ganzen Bibel. - Wo haben aber wir Christen einen ähnlichen Masorethen für Luthers Bibel aufzuzeigen? Ist es genau untersucht, welches in ihr das mittelste Wort oder der mittelste Buchstabe sei, welcher Vokal am wenigsten vorkomme, und wie oft jeder? — Tausend Bibelfreunde gehen aus der Welt, ohne zu erfahren, daß das deutsche A 323 015 mal (also über 7 mal öfter als das hebräische) in ihrer Bibel stehe." Ich wünschte, daß Bibelforscher unter den Rezensenten es öffentlich anzeigten, wenn sie diese Zahl nach einer genauem Nachzählung unrichtig befänden.231
230 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 67 f. - Die Rede ist von August Pfeiffers „Critica sacra, de sacri codicis partitione, editionibus variis, Unguis originalibus et illibata puritate fontium, interpretaüone scripturae legitima, nec non eiusdem translatione in linguas totius universi, de Masora et Kabbala, Talmude denique [...]", ein 1680 in Dresden erschienenes Werk, insbesondere zur Textkritik des alten Testaments. 231 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 81 f. Die Aufforderung wird — zumindest der Erzählfiktion gemäß - tatsächlich erfüllt. So heißt es in einer Fußnote: „Dieser Bitte gab man in Erlang Gehör. Die dasige Bibelanstalt fand statt der 116301 A, die der Quintus anfangs mit solcher Gewißheit im Bibelwerke gefunden haben wollte (daher auch diese falsche Angabe in die erste Edition dieses Buchs p. 81 wirklich kam), die besagten 323015 welches (ungemein sonderbar) gerade die Summe aller Buchstaben im Koran überhaupt ist. S. Lüdekes Beschr. des türk. Reichs. Neue Auflage 1780." 0ean Paul: „Quintus Fixlein", S. 82.)
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Abermals zeigt sich daran nicht nur, daß Fixleins Philologie „biedermeierlich" und beschränkt ist.232 Vielmehr offenbart sich hier eine Bedingtheit der Heiligen Schrift, die ihr gleichwohl nichts von ihrer Heiligkeit nimmt: Sie ist in ihrer Buchstäblichkeit erhaben - und entsprechend zu lesen. Auch andere, profanere Sammelvorlieben des Quintus lassen sich so einer doppelten Perspektivierung unterziehen, insbesondere seine „Achtung für alle Makulatur".233 Als der Erzähler von der Fixleinschen Lektüre des „Hamburger politische[n] Journal[sj" des vergangenen Jahres berichtet, „womit der Bediente [des Rittmeisters] Knöpfe kouvertieren wollen", das Fixlein aber glücklicherweise für sich ergattern konnte, legt er Wert auf die Feststellung, daß es gerade die Disposition des Journals zur Entsorgung gewesen sei, die des Quintus Interesse geweckt habe: Er war auffallend auf frankierte Lektüre ersessen. Ist es nicht daraus zu erklären, daß er sich, wie Morhof rät, die einzelnen Hefte von Makulaturbögen, wie sie der Kramladen ausgab, fleißig sammelte und in solchen wie Virgil im Ennius scharrte? Ja für ihn war der Krämer ein Fortius (der Gelehrte) oder ein Friedrich (der König), weil beide letztere sich aus kompletten Büchern nur die Blätter schnitten, an denen etwas war. Eben diese Achtung für alle Makulatur nahm ihn für die Vorschürzen gallischer Köche ein, welche bekanntlich aus vollgedrucktem Papier bestehen; und er wünschte oft, ein Deutscher übersetzte die Schürzen: ich berede mich gern, daß eine gute Version von mehr als einem solchen papiernen Bürzel und Schurz unsere Literatur (diese Muse ä belies fesses) emporbringen und ihr statt eines Geifertuches dienen könnte. - Der Mensch legt auf viele Sachen ein pretium affectionis, bloß weil er sie halb gestohlen zu haben hofft: aus diesem mit dem vorigen zusammenhängenden Grunde fing der Quintus alles gläubig auf, was er entweder in einem collegio publico oder als hospes wegschnappte; nur Meinungen, für die er den Professor bezahlen mußte, prüft' er streng. —34
Sowohl die „Makulaturbögen", die der „Kramladen" verkauft, als auch die „Vorschürzen gallischer Köche" entziehen sich einer expliziten Adressierung. Sie haben ihren Wert gerade deshalb, weil sie nicht adressiert sind, sondern nur frankiert. Offenbart sich so als Tiefenstruktur des Fixleinschen Sammeltriebes eine diebische Lust an Bereichen jenseits geordneter Verhältnisse? Zumindest etabliert sich Fixlein als Sammler auch in einem Bereich, der sich jenseits der postalischen Adressenordnung entfaltet, an der er in anderen Zusammenhängen so interessiert ist. Das Interesse an der Adresse als solcher und das Interesse am nicht-adressierten Schnipsel zielen aber beide auf Ornamentales. Das Interesse am Schnipsel richtet sich dabei explizit auf das Abwegige und Deviante. Fixlein sammelt „Druckfehler in deutschen 232 Höllerer: „Nachwort", S. 1246. 233 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 88 f. 234 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 88 f.
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Schriften": ,,[E]r verglich die Errata untereinander, zeigte, welche am meisten vorkämen, bemerkte, daß daraus wichtige Resultate zu ziehen wären, und riet dem Leser, sie zu ziehen." 235 Der Kantor Schnäzler, der im ersten Appendix der „Biographischen Belustigungen" auftritt, arbeitet an einem ähnlichen Projekt. Die begriffliche und bildliche Reichhaltigkeit der Beschreibung lohnt ein längeres Zitat: Bekanntlich haben poetische Steiß- und Fuß-Geburten wegen ihres frühen Ablebens das schöne Recht, in der Kirche begraben zu werden - d. h. Verse, die nicht zum Lesen taugen, können doch wie die alten gesungen werden unter der Orgel. Gleichwohl war man in neuern Zeiten auf eine Blutreinigung der geistlich-poetischen Ader aus, und aus den Gesangbüchern wurden Zeilen, Strophen und Lieder ausgejagt, die, obwohl keinen guten Sinn, doch auch keinen schlimmen hatten. Der Kantor Schnäzler fing inzwischen diese durch den GesangbuchVentilator entwischende fixe Luft zusammen, die stets alten Liedern und schalen Bieren den Geist gibt; ich meine, er verglich das alte und das neue Gesangbuch und kehrte die schönen Stellen des alten, die die ästhetische Tempelreinigung aus dem neuen weggefegt hatte, wieder auf einen Haufen und schlichtete wirklich dieses Raff- und Leseholz zu guten besondern Liedern zusammen. Er konnte mir zwei schöne zeigen, die ein vollständiger index expurgandorum des baireuthschen waren. Es würde gefruchtet habe, wenn man bei den Lieder-Unruhen in Berlin den singenden Insurgenten eine solche in Reime mit unendlicher Mühe zusammengeschobne Kolonie aller Stellen, die aus dem neuen Gesangbuch emigrieren mußten, hätte anbieten können: Schnäzler zeigt uns in seinem Korrekturbögen, daß man ebenso aus altdeutschen Versen wie aus den Archaismen und Phrasen altrömischer Verse — wie Gymnasiasten tun — versus memoriales zusammenwerfen könne. - 2 3 6 [...] Dieser geistreiche Mann hat nicht nur aus alten Gesangbüchern alles, was aus den neuen weggelassen worden, vollständig ausgehoben und zusammengehäuft [...], sondern er hat auch - was wir wohl bei einer kastrierten Ausgabe lateinischer erotischen Dichter finden, in der hinten zwar alle anstößigen Stellen stehen, aber isoliert, ohne in den geringsten Nexus gefugt zu sein — aus diesen weggeworfenen Stummeln, hölzernen Beinen und Krücken schöne Figuren musivisch zusammengelegt, von denen wohl jeder Deutsche sagen muß: „Das sind geistliche Lieder!"237 „Steiß- und Fuß-Geburten", „entwischende fixe Luft", „Raff- und Leseholz" — all dies ist der „Blutreinigung" der Texte — auch eine Art der Lektüre! — ausgesetzt und Gegenstand der offiziellen ,Kehrarbeit'. 238 Die Beschrei235 Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 81. 236 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 372. 237 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 374. 238 Eine solche „Kehrarbeit", die der Verfasser bei jeder neuen Auflage eines Textes leistet, wild in verschiedenen Paratexten thematisiert. So heißt es in der dritten Vorrede zum „Hesperus": „Aber Himmel, wie oft muß nicht ein Schreibmensch an sich bessern, der kaum über ein halbes Jahrhundert alt ist! Lebte er sich vollends in ein Methusalems-Jahrtausend hinein und schriebe dabei: der Methusalem bekäme so viele Bände von Verbesse-
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bung deutet aber an, daß gerade das Deviante das eigentlich ,Fruchtbare' der Lieder sein dürfte - wird es entfernt, kommt dies einer Kastration gleich. In ihm liegt eine Form von „Geist". Die Sammelvorliebe des Kantors verweist, ebenso wie die verschiedenen Vorlieben Fixleins, auf einen Bereich der unadressierten, gestohlenen, frei zirkulierenden Textualität, einer Textualität, die der Tendenz nach eine reine Paratextualität, reiner „Medieneffekt" ist, der hier aber eine eigene Wertigkeit und Figürlichkeit zugeschrieben wird. Darin liegt die Rechtfertigung der mikrologischen Sammler. Auch wenn die Montagen des Kantors Schnäzler „ohne [...] den geringsten Nexus gefugt" sind, können sie als wahre „geistliche Lieder" Anerkennung finden. Das liegt nicht nur daran, daß dem Humoristen anders als dem eigentlichen Satiriker - alles zum Anlaß seiner reflexiven Tätigkeit werden kann. Im weggeworfenen Wissen, im Ornamentalen ist ebensowenig wie in idyllischen „Vollglück in der Beschränkung" nur das Signum der Bedingtheit von Lektüre und Textualität oder gar des Lebens zu sehen, die humoristisch gewendet als objektiver Verweis auf die Idee aufgefaßt werden kann. Die Wertschätzung des Mikrologischen impliziert vielmehr auch, daß der verlorene „Nexus" konkret als Grundlage einer neuen Sinnstiftung angesehen werden kann. Die „überfließende Darstellung" manifestiert sich insbesondere in der Unterbrechung bereits gegebener Zusammenhänge, die aber alternative Verbindungsmöglichkeiten aufdecken soll. Ganz konkret sollen diese Unterbrechungen bzw. die heterogenen Zusammenstellungen, die sich aus ihnen ergeben, ernstgenommen und zum Ausgangspunkt einer Lektüre gemacht werden, die, wie in den „occasional meditations", gerade die zufällige Konstellation zum Mittel der (wenn auch immer nur vorläufigen) Vergewisserung über die Einheit der Welt nutzt — wenn auch auf einem gänzlich anderen Weg, nämlich auf dem des Witzes.
rangen nachzuschießen, daß das Werk selber ihnen nur als Vorwerk, Anhängsel oder Ergänzblatt beizugeben wäre." (Jean Paul: „Hesperus", S. 477 f.) Anvisiert ist eine Bewegung, die letztlich den Text selbst zum Paratext werden läßt. Auch an anderer Stelle werden derartige Sammlungen thematisiert, so in der „Geschichte der Vorrede zur 2. Auflage" zum Quintus Fixlein: „Der Kritiker sieht freilich nur, wie viel der Autor behalten hat, aber nicht, wie viel er weggeworfen; daher zu wünschen wäre, die Autoren hingen ihren Werken hinten für die Rezensenten die vollständige Sammlung aller der elenden dummen Gedanken an, die sie vornen ohne Schonen ausgestrichen, um so mehr, da sie es ja, wie ζ. B. Voltaire, bei der letzten Herausgabe ihrer opera wirklich tun und hinten für feinere Leser einen Lumpenboden des Auskehrigs der ersten Editionen anstoßen und aufsparen, wie etwan einige preußische Regimenter den Pferdestaub zurücklegen und vorrätig halten müssen, zum Beweise, daß sie gestriegelt haben. —" (Jean Paul: „Quintus Fixlein", S. 23 f.)
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
d) Witz und Wissensverarbeitung als Verfahren der Kontexterzeugung In Jean Pauls Ästhetik ist der Witz dasjenige Vermögen, das auf den Umgang mit dem verlorenen „Nexus" spezialisiert ist.239 Er sorgt dafür, daß die zersplitterten Beobachtungen, denen scheinbar jeder Zusammenhang fehlt, dennoch als Präfigurationen eines sinnvollen Zusammenhangs gelesen werden können. Er erzeugt aus den scheinbar kontextfreien Einzelstücken einen übergeordneten Kontext 240 - wenn auch unter der Prämisse, daß sich dieser Zusammenhang immer auch als ein nur scheinbarer entpuppen kann.241 So wird gerade der Ausschuß, jene „fixe Luft", die Schnäzlers Lieder einfangen, zum Ausgangspunkt einer poetischen Tätigkeit. Für Jean Pauls Schreiben hat daher die scheinbar unsystematische Sammlung beliebiger Wissensschnipsel eine sehr wichtige Funktion. Gerade das Weggeworfene als dasjenige, was von konkreten Funktionalitäten weitgehend freigestellt ist, kann auf der ästhetischen Ebene neue Verwendung finden:242 Es kann der Entfaltung witziger Verkettungen zugute 239 Zum Witz bei Jean Paul siehe ausführlich Wiethölter: Witzige Illumination, und Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 87 ff. Müller stellt fest: „Der Witz ist bei Jean Paul die einfachste, gleichwohl alle anderen Formen des Denkens hervorbringende Form." (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 88.) Das macht ihn, wie gezeigt werden wird, zur Konkretisierung der abstrakten Verfahren des Humors besonders gut geeignet. Des weiteren zum Witz: Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert., S. 316-37, Wölfel: ,„Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt"', S. 273 ff., Fabrizio Cambi: ,„Geist' und ,Witz' in der Ästhetik Jean Pauls". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 29, 1994, S. 93-110, Kilcher: mathesis und poiesis, S. 392, Otto F. Best: Der Wit^ als Erkenntniskraft und Formprin^ip. Darmstadt 1989, S. 83-86, Thomas Hecken: Witt^ als Metapher. Der Wit^-Begriff in der Poetik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005, S. 150f., Klappert: Die Perspektiven von Unk und Lücke, S. 116-28, S. 138-47. Die Bücher von Best und Hecken geben Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Witzbegriffs (Hecken allerdings eine weniger ergiebige). 240 Ähnlich Cambi: ,„Geist' und ,Witz' in der Ästhetik Jean Pauls", S. 106: „Im üppigen Universum des Witzes muß deshalb die Überwindung der UnVerhältnismäßigkeit an erster Stelle stehen, indem das Streben nach einer allgemeinen, neuerlichen Zusammenfuhrung jener Dinge, die wegen ihrer kennzeichnenden Verschiedenartigkeiten versprengt und untereinander unvereinbar sind, in nuce aufgezeigt wird." 241 Dies betont auch Best, der mit dem Potential der universellen Beziehungsstiftung, das den Jean Paulschen Witz auszeichnet, zugleich die Gefahr der „Bezugslosigkeit" als gegeben sieht (Best: Der Wit% als Erkenntniskraft und Formprin^p, S. 84). Zur Scheinhaftigkeit des Witzes siehe besonders aufschlußreich Bettine Menke: „Jean Pauls Witz als Kraft und Formel". In: DVjs 76.2, 2002, S. 201-13, Bettine Menke: „Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, ....". In: Susanne Strätling, Georg Witte (Hgg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 203-15, Bettine Menke: „ - Gedankenstrich In: Bernhard Metz, Sabine Zubarik (Hgg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin 2007 (im Druck). Ich komme auf diese Arbeiten zurück. 242 Vgl. Michael Thompson: Rubbish Theory. The creation and destruction of value. Oxford — New York - Toronto u. a. 1979.
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kommen. Die Anspielungen auf Johann Jacob Mosers und Daniel Georg Morhofs Exzerpierkunst im „Quintus Fixlein" verweisen dabei auf die Grundlagen der Jean Paulschen Textverfahren selbst. Denn die Jean Paulsche Textproduktion basiert auf einem komplexen Apparat zur Verwaltung von Wissen.243 Seit seiner Jugend arbeitet Jean Paul am Aufbau seiner „Privatenzyklopädie",244 in der er einen spezifischen Umgang mit dem zeitgenössischen publizistischen Kontext pflegt. 245
243 Hierzu: Böck: „Satirische Raffinerien für Menschenkinder aus allen Ständen"; Müller: „Jean Pauls Privatenzyklopädie"; Müller: Jean Pauls Exzerpte, S. 318-47, Eckstein: Fußnoten, S. 144-57, Klappert: Die Perspektiven von Unk und Lücke, S. 68-66, S. 84-101. Systematisch hat Schmidt-Biggemann die Exzerpte in seine Analyse des Jean Paulschen Frühwerks einbezogen (Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, insbesondere S. 104 ff., 162 ff., 210 ff.; siehe zusammenfassend auch Wilhelm Schmidt-Biggemann: „Vom enzyklopädischen Satiriker zum empfindsamen Romancier. Jean Pauls frühe Entwicklung". In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. II.4. München 2000 [1985], S. 263-94). Ähnlich beschreibt Proß unter Berücksichtigung der Arbeitsverfahren „Jean Pauls Gesamtwerk als ,poetische Enzyklopädie'": Als Enzyklopädie „in einem ganz wörtlichen Sinn [...] als ein Netzwerk von wissenschaftlichen Aussagen [...], die aufeinander Bezug nehmen", und als .„poetisch', weil die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen in der Ära Kant ihrer einheitlichen, naturrechtlichen Fundierung verlustig gehen" (Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 170). Insgesamt geht Proß dabei darum, der „ h i s t o r i s c h e n Bedeutung des kleinteiligen polyhistorischen Stils und seiner Idealisierung in der Kategorie des Humors" (S. 37) nachzugehen. Vor dem Hintergrund einer Studie zur Geschichte der „Enzyklopädik der Literatur" stellt Kilcher das Jean Paulsche Verfahren dar (Kilcher: mathesis undpoiesis, S. 380 ff.). Er beschreibt das Ergebnis des Exzerpierens (auf der ersten Stufe, d. h. vor der Registrierung) als „latenten, palimpsestartigen Möglichkeitstext" und spricht in diesem Zusammenhang von einer „Textur1' (S. 382). „Der poetologisch-enzyklopädische Schreibprozeß" führe, so Kilcher, „von der amorphen Textur als primärer Sedimentierung des Lesens über die pragmatische Alphabetisierung als sekundärer Sedimentierung [Register etc.] zu Jean Pauls programmatisch gelehrter Litteratur. Umgekehrt verweist die von Wissen förmlich durchtränkte Litteratur über die Anspielungen und Digressionen zurück auf die Textur, aus der sie entspringt." (Kilcher: mathesis und poiesis, S. 386). (Unter den Stichworten .Litteratur', .Alphabet' und .Textur' behandelt Kilcher die Basisverfahren der Enzyklopädik.) Zu Jean Pauls Lektüreverfahren vgl. auch den sehr materialreichen Bericht von Soffke: „Jean Pauls Verhältnis zum Buch", S. 335-56. Mittlerweile sind Teile der Exzerpte als Transkription im Internet veröffentlicht worden (URL: http://62.154.246.52/jeanpaul; eingesehen am 3.4.2006). Zu diesem Projekt siehe Michael Will: „Jean Pauls (Un-)Ordnung der Dinge". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 41, 2006, S. 71-95, insbesondere S. 75 ff. Eine CD-Rom-Ausgabe aller Exzerpthefte ist für 2007 angekündigt. - Zum Nachlaß insgesamt siehe Ralf Goebel: Oer handschriftliche Nachlaß Jean Pauls und die Jean-Paul-Bestände der Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesit^. Teil I: Fas^kel I bis XV. Wiesbaden 2002. 244 Müller: „Jean Pauls Privatenzyklopädie"; Müller: Jean Pauls Exzerpte, S. 318. 245 Schon aus Geldmangel sieht sich der junge Jean Paul dazu gezwungen, seine Lektüre auf Zeitschriften und Bücher aus Leihbibliotheken zu konzentrieren. - Zur Biographie siehe Böck: „Satirische Raffinerien für Menschenkinder aus allen Ständen"; Böck betont insbesondere, daß Jean Pauls (wie auch immer exzentrisches) Lektüre- und Exzerpierverfahren „zutiefst in der allgemeinen Sozial- und Geistesentwicklung der Zeit" gründe (S. 163). Will kommt zu dem Schluß, „auch die Exzerpte" hätten „ihren Platz in Jean Pauls schriftstelle-
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Jean Paul schreibt sich damit in eine Tradition des Wissensverarbeitung ein, die nicht zuletzt von paratextuell strukturierten Ordnungsverfahren lebt und so zum Gegenstand der aufklärerischen Gelehrtensatire Swifts und Rabeners wird. Sie geht hervor aus der frühneuzeitlichen Universalgelehrsamkeit und ruht auf entsprechenden Voraussetzungen. Die Ordnung des vorliegenden Wissens erfolgt hier nach den topischen, hierarchischen Ordnungssystemen des Polyhistorismus: Die beispielsweise von Schmidt-Biggemann ausführlich rekonstruierte ramistische ,topica unversalis' leitet aus übergreifenden Gesichtspunkten (insbesondere der Theologie) und nach logischen Prinzipien Ordnungsmuster ab, in denen jedem Wissen sein fester Platz zugewiesen werden kann.246 In den ,Baum des Wissens', der so entsteht, kann mit den Mitteln des Exzerpts und der Kompilation dasjenige, was in den überlieferten Texten womöglich verstreut zu finden ist, systematisch eingespeist werden. Dabei konkurrieren durchaus sehr unterschiedliche Ansätze miteinander. Sie alle arbeiten an dem Problem einer nicht zuletzt durch den Buchdruck ausgelösten Explosion des zugänglichen Wissens, die für die vordisziplinäre Wissenschaft die Gefahr eines Übersichtsverlusts impliziert.247 Die Unterschiede der von Gelehrten wie Petrus Ramus, Konrad Gessner,248 Antonio Possevino,249 Joachim Jungius,250 Vincent Placcius,251 Daniel Georg Morhof252 und schließlich auch Leibniz253 und Locke254 entwickelten Systeme interessieren hier weniger als vielmehr die konkreten „Praktiken der Gelehrsamkeit",255 die diesen Systematisierungen gemein sind - bedienen sie sich doch genuin paratextueller Verfahren. Zedelmaier hat für die „Bibliotheca Universalis" (1545/48) von Gessner genau dargelegt, wie diese Verfahren aussehen: Gessners Werk geht es um die Etablie-
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rischer Entgrenzungs-Utopie der totalen Lebens-Erschreibung" (Will: „Jean Pauls (Un-)Ordnung der Dinge", S. 93). Vgl. Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Siehe Zedelmaier: Bibliotheca unversalis und Bibliotheca selecta, S. 10 ff. Siehe Zedelmaier: Bibliotheca unversalis und Bibliotheca selecta, S. 51 ff. Siehe Zedelmaier: Bibliotheca unversalis und Bibliotheca selecta, S. 125 ff. Markus Krajewski: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin 2002, S. 26. Siehe Helmut Zedelmaier: „Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten". In: Hedwig Pompe, Leander Scholz (Hgg.): Archivpro^esse: Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002, S. 3 8 - 5 3 , S. 45 ff., Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 28. Siehe Helmut Zedelmaier: „De ratione excerpendi: Daniel Georg Morhof und das Exzerpieren". In: Francoise Waquet (Hg.): Mapping the World of Learning: The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000, S. 7 5 - 9 2 , S. 78 ff. Siehe Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 28 ff. Siehe Zedelmaier: „De ratione excerpendi", S. 77. Helmut Zedelmaier, Martin Mulsow (Hgg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der frühen Neuheit. Tübingen 2001.
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rung eines Verweissystems zur Erschließung des gesamten Wissens, das aber auch offen sein soll für Neuordnungen. Im ersten Teil liefert es eine alphabetisch geordnete Ubersicht über die bekannten Textbestände; der zweite Teil besteht aus einem Index, der, ausgehend von einer mehrstufigen Untergliederung in Wissensgebiete, unter einzelnen loa communes Verweise auf die im ersten Teil verzeichnete Textstellen enthält. Ordnungsverfahren wie dieses machen Anleihen an der enzyklopädischen Tradition,256 deren geschlossenes Weltbild sie damit reproduzieren und — was hier entscheidend ist - paratextuell sichtbar machen: Die von Wiekkenberg, Illich und Saenger beschriebene, im 12. Jahrhundert anzusetzende Umstellung auf eine zweidimensionale Ordnung des Textes257 wird so produktiv gemacht. Entwickelt werden Systeme, die einerseits Textelemente zerstreuen (also aus der linearen Ordnung herauslösen), sie andererseits aber in ihrer Zerstreuung mittels der jeweiligen paratextuellen Schemata in eine übergeordneten Einheit eingliedern. Wenn Jean Paul an derartige, der vordisziplinären Wissenschaftsordnung zugehörige Verfahren anschließt, so geschieht dies nicht unter Übernahme der entsprechenden systematischen Voraussetzungen — obgleich hier für die unterschiedlichen Werkphasen unterschiedliche Diagnosen zu treffen wären.258 In dieser Hinsicht ist auch bemerkenswert, daß insbesondere Johan Jacob Moser als Fixleins Vorbild erwähnt wird, dessen Methode nicht der Gelehrsamkeit, sondern der öffentlichen Verwaltung dient.259 Gleichwohl liegt die bereits angesprochene doppelte Bewegung 256 Vgl. Christel Meier (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis %urfrühen Neuheit. München 2002. 257 Siehe Kapitel 1.2. 258 Schmidt-Biggemann beschreibt beispielsweise im einzelnen, wie das geschlossene Weltbild des Satirikers (und seiner Enzyklopädik) brüchig wird (Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufe!, S. 241). 259 Moser beschreibt, wie er im Rahmen seiner Tätigkeit als „Landschaffts=Consulent zu Stuttgart" (Johann Jacob Moser: Lebens-Geschichte Johann Jacob Mosers, von ihme selbst beschneben. [Offenbach] 1768, S. 107) Aktenauszüge angefertigt hat: „Weil der Landschafftlichen Acten eine ungeheure Menge ist, hingegen [...] sonst nichts da ware, daraus man sich Raths hätte erholen können, und doch offt schnell ein Schluß gefasset werden muß; so machte ich wie unten zu sehen, 1. aus allen Verhandlungen zwischen Herr und Landschafft unter Herrn Herzogs Carls Durchl. einen vollständigen Auszug, und ein Register darüber, daß ich nachher kein Blatt von diesen Acten mehr nöthig hatte. 2. Aus disem machte ich einen doppelten kürzeren Auszug, a) nach der Ordnung der Zeit, und b) nach denen Materialien" (S. 107 f.). Entsprechende Auszüge und Register werden dann auch aus anderen Aktenpaketen angefertigt. Dabei ist trotz der Vollständigkeit der Auszüge Orientierung möglich, weil die Verweise nach ihrer Gewichtigkeit geordnet werden: „ich konnte auch, weil offt von einerley Materie sehr viele Stellen bemercket waren, aus denen von mir darunter gesetzten einfachen, doppelten und dreyfachen Strichen ersehen, welches merckwürdige, noch merckwürdigere oder die allermerckwürdigste Stellen seyen" (S. 108 f.). — Zum Gebrauch derartiger Techniken in der Verwaltung (insbesondere der Bibliotheksverwaltung) siehe Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 35-69. Insgesamt wäre dem Einfluß verwaltungs-
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von Zerstreuung und Zusammenfügung, die für die frühneuzeitliche Gelehrsamkeit charakteristisch ist, auch dem Jean Paulschen Schreibverfahren zugrunde. Jean Paul hat eine Beschreibung des Verfahrens, das er selbst anwendet, in der Erzählung „Die Taschenbibliothek" (1796) dem „Pagentanzmeister Aubin" 260 in den Mund gelegt, der auf dieses Verfahren verfällt, weil er ein extrem schlechtes Gedächtnis hat. Um dennoch einen bleibenden Gewinn aus der Lektüre zu ziehen, fertigt er Exzerpte an: Ich fing mir anfangs aus jedem Buche zwei, drei Sonderbarkeiten wie Schmetterlinge aus und machte sie durch Dinte in meinem Exzerptenbuche fest. Ich hob aus allen Wissenschaften meine Rekruten aus. Drei Zeilen Platz, mehr nicht, räumt ich jeder Merkwürdigkeit ein. [...] O f t besteht aller Geist, den ich mit meiner Kelter aus einem Buche bringe, in einem einzigen Tropfen [...]. Diese Exzerpten zieh' ich wie Riechwasser überall aus der Tasche [...], und erquicke mich mit einigen Lebenstropfen. [...] Die Hauptsache ist, daß ich Exzerpten aus meinen Exzerpten mache und den Spiritus noch einmal abziehe. Einmal les' ich sie ζ. B. bloß wegen des Artikels v o m Tan^e durch, ein anderes Mal bloß über die Blumen, und trage dies mit zwei Worten in kleinere Hefte oder Register und fülle so das Faß auf Flaschen. 261
Götz Müller, der die Aufarbeitung der Jean Paulschen Exzerpthefte auf breiter Basis begonnen hat, weist im Nachwort zu seinem Verzeichnis der von Jean Paul exzerpierten Quellen darauf hin, daß sich Jean Pauls Interesse unabhängig von den jeweiligen Darstellungsmodi auf das in den jeweiligen Texten verhandelte Wissen richtet. So interessiert - das Beispiel entnehme ich Müllers Text - , daß die Kainiten „den Judas" verehrten, „weil er Christi Tod veranlaßte", nicht aber, daß diese Tatsache im Quelltext, hier Bayles Lexikon, scharf verurteilt wird. 262 Die vermeintlichen Tatsachen finden Interesse in völliger Isolierung von der Art und Weise, wie auf sie Bezug genommen wird. Darin liegt ein Moment der textuellen Zerstreuung, das demjenigen des Schnäzlerschen Lektüreverfahrens durchaus ähnlich ist.263
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technischer Entwicklungen auf die Geschichte der Paratextualität noch genauer nachzugehen. Jean Paul: „Die Taschenbibliothek". In: J. P.: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. II.3. Darmstadt 2000 [1796], S. 769-73, S. 769. - Zu diesem Text und zum Jean Paulschen Verfahren siehe Müller: „Jean Pauls Privatenzyklopädie", Müller: Jean Pauls Exzerpte, S. 318-47, Pross: Falschnamenmün%er.; S. 20 ff., Schmidt-Hannisa: „Lesarten", S. 38 ff., Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 69 ff., Kilcher: mathesis undpoiesis, S. 387, Gert Ueding: „Episches Atemholen - über Jean Pauls widerspenstiges Erzählen". In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 39, 2004, S. 6 1 - 8 2 , S. 75 ff., Klappert: Die Perspektiven von Unk und Lücke, S. 84-88. Jean Paul: „Die Taschenbibliothek", S. 771 f. Müller: Jean Pauls Exzerpte, S. 328. Jean Paul liest, wie man mit Bunia formulieren kann, ausschließlich „mundan" (Bunia: Faltungen, S. 133-35, 235-39). Vgl. Hunfeld, die im Zusammenhang mit Jean Pauls
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Die weitere Verarbeitung der Exzerpte ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Jean Paul orientiert sich in der Gestaltung der Register, die die Exzerpte der Exzerpte und damit das Herzstück seines Verwaltungssystems darstellen, weder an den disziplinaren Grenzen und der strikten Sachbezogenheit der zeitgenössischen Wissenschaften noch an Ordnungssystemen des Polyhistorismus. Er ordnet das zusammengetragene Wissen gerade nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten Informationen zu Wirbeltieren werden also beispielsweise nicht unterteilt in solche zu Säugetieren, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien - , sondern hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Subjekt. Der disziplinaren Ordnung der Wissenschaft wird so ein ideosynkratisches Ordnungsverfahren gegenübergestellt, das sich dem Verfahren nach am Polyhistorismus orientiert - und damit gerade auch dessen Ideosynkrasien offenlegt. 264 Das dergestalt organisierte Wissen präfiguriert die literarischen Texte Jean Pauls in mehrfacher Hinsicht: Zum einen wird beispielsweise im satirischen Frühwerk die paratextuelle Aufmachung des Zeitschriftenwesens, das als eine wesentliche Quelle dient, imitiert - ein Verfahren, das auch in der paratextuellen Gestaltung späterer Texte seine Spuren hinterlassen hat. 265 Zum zweiten sind die Problemstellungen, an denen sich die Ordnung der Register schon sehr früh orientiert, prägend für das Gesamtwerk Jean Pauls. 266 Und zum dritten vermag er vermittels seiner Register eine digressiv-witzige Schreibweise zu entwickeln, die ebenfalls für das Gesamtwerk Jean Pauls von erheblicher Bedeutung ist. Von diesem letzten Punkt werde ich ausgehen.
Exzerpten zum Weltall von einer „Dispersion von Daten" spricht (Hunfeld: Der blick ins All, S. 106). 264 Hierzu Bock, allerdings vor allem mit Bezug auf die ganz frühen, hier nicht beschriebenen Exzerpthefte: „Auf den .Ruinen des Demonstrazionen' [Zit. Jean Paul], auf den Trümmern des dogmatischen, orthodoxen Weltmodells der feudalen Ständegesellschaft [...] soll ein subjektiv akzeptables — funktionales - Weltbild konstruiert werden. Voraussetzung für eine solche Neukonstituierung der Bezüge zwischen den .Materien' ist [...] die radikale Analyse, die totale Demontage bisheriger Systeme, bisheriger Paradigmen." (Böck: „Satirische Raffinerien für Menschenkinder aus allen Ständen", S. 158.) „Hier verbindet sich [...] das Universalitätsideal des Polyhistorismus mit der Selbstbewußtheit des heterodoxen Denkers." (S. 160). 265 Böck: „Satirische Raffinerien für Menschenkinder aus allen Ständen", S. 172 ff. - Kilcher betont, die „paratextuellen Organisationsformen" der Jean Paulschen Erzählungen beruhten auf enzyklopädischen Ordnungsformen (Kilcher: mathesis undpoiesis, S. 119). Siehe auch Michael von Poser: Der abschweifende Erzähler. Rhetorische Tradition und deutscher Roman im 18. Jahrhundert. Bad Hoburg - Berlin - Zürich 1969, S. 13: „Bei Jean Paul drängt nun ganz offenbar die Abschweifung aus dem Roman hinaus; sie geht über in die literarische Kleinform, in die für sich stehende Abhandlung, in das Feuilleton, in den Essay." 266 Müller: Jean Pauls Exzerpte, S. 346.
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In seiner „Vorschule der Ästhetik" definiert Jean Paul den Witz wie folgt: „Der Witz, aber nur im engern Sinne, findet das Verhältnis der Ähnlichkeit, d. h. teilweise Gleichheit, unter größere Ungleichheit versteckt".267 Der Witz ist also einerseits ein sehr spezifisches Vermögen des Vergleichs, eines Vergleichs nämlich, der im auf den ersten Blick Ungleichartigen Kontinuitäten aufdeckt. Andererseits ist er als basales Erkenntnisvermögen konzipiert, konstituiert sich doch, so Jean Paul, das Subjekt in seinem ersten Vergleich.268 Entscheidend für Jean Pauls Behandlung dieses Vermögens ist insbesondere der bildliche Wit% Diese Form des Witzes deckt Gleichartigkeiten auf, die explizit nicht auf der Ebene der eigentlichen Bedeutung der Begriffe, sondern auf der Ebene ihrer bildlichen Konnotate zu finden sind. Ihr wichtigstes Instrument ist die Metapher. Die Aussage, daß „der Sturm zürnet", nutzt diese Form des Witzes ebenso wie diejenige, der „Zorn" sei „ein Sturmwind".269 In beiden Fällen wird eine Ähnlichkeit entdeckt, die den Begriffen Zorn und Sturm nicht auf der Ebene ihrer eigentlichen Bedeutung zukommt, sondern aufgrund einer Strukturähnlichkeit, die, so Jean Paul, nur die Phantasie, nicht aber der Verstand aufdecken kann. „Der bildliche Witz", so Jean Paul, „kann entweder den Körper beseelen oder den Geist verkörpern';'270 — er vollzieht sozusagen konkret die Arbeit der Phantasie. Die unbildliche Witz hingegen funktioniert gewissermaßen ,mechanisch': Ein Beispiel für ihn wäre es, wenn „ich sage: Häuser und Baßnoten beziffern".271 Hier lassen sich beide Aussagen - ich beziffere Häuser, ich beziffere Baßnoten - im eigentlichen, unbildlichen Sinn treffen, die Ähnlichkeit wird vom Verstand entdeckt. Die Differenz zwischen dem bildlichen und dem unbildlichen Witz ist also durchaus asymmetrisch angelegt - wobei sich allerdings zeigen läßt, 267 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 171. - Die spezifische Wendung, die Jean Paul dem Witzbegriff damit gibt, ist von der Forschung ausgiebig untersucht worden. Siehe, vor allem mit Bezügen auf die deutsche idealistische Philosophie, Wiethölter: Witzige Illumination, S. 3 3 - 1 2 1 , sowie Cambi: „.Geist' und ,Witz' in der Ästhetik Jean Pauls", S. 96 ff. 268 „Auf der untersten Stufe, wo der Mensch sich anfängt, ist das erste leichteste Vergleichen zweier Vorstellungen [...] schon Witz, wiewohl im weitesten Sinne; denn die dritte Vorstellung, als der Exponent ihres Verhältnisses, ist nicht ein Schluß-Kind aus beiden Vorstellungen [...], sondern die Wundergeburt unsers Schöpfer-Ich" (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 171). - Vgl. Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 91: Jean Paul „geht [...] davon aus, daß das Bewußtsein an den Gegenständen auf nicht erklärbare — und damit nicht deduzierbare — Weise sozusagen ,erwache', also seiner selbst bewußtwerde und von daher induktiv in einer Konjektur auf die metaphysischen Prinzipien Gottes, der Unsterblichkeit etc. schließe." 269 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 185. 270 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 184. Hierzu siehe ausführlich Wiethölter: Witzige Illumination, S. 122-93. 271 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 173.
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daß die Abgrenzung, die diese Asymmetrie erzeugt, letztlich keinesfalls eindeutig ist. Scheint es nämlich zunächst so, als betreibe der unbildliche Witz ein lediglich scheinhaftes, oberflächliches Spiel, wohingegen der bildliche Witz die tieferliegenden Zusammenhänge der Dinge erahnen lasse,272 so zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß damit lediglich zwei Momente des Witzes benannt werden, die diesen immer kennzeichnen, also gleichgültig, in welcher Form er auftaucht:273 Gerade in seiner verbindende Tädgkeit erzeugt der Witz nämlich immer eine gewisse Zweideutigkeit, weshalb er von Jean Paul als „der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert",274 bezeichnet wird. Der Witz, so läßt sich dem entnehmen, täuscht die Legitimität der Verbindung, die er vollzieht, zwar vielleicht nur vor und erzeugt insofern lediglich einen Schein — dennoch aber lassen sich diese Verbindungen dann nicht mehr aus der Welt schaffen. Der Verdacht, daß sie einen Sinn bergen, bleibt immer bestehen.275 Das Wissensmaterial nun, das Jean Paul mittels Exzerpt und Register aus seiner Lektüre zieht, liefert ihm in seinen literarischen Texten den Stoff für witzige Vergleiche, die unerwartete Kontinuitäten und Gleichartigkeiten zwischen unterschiedlichsten Wissensbereichen - wenn auch auf
272 Diese Asymmetrie konstruiert man in Deutschland im 18. Jahrhundert immer auch parallel zur Unterscheidung zwischen (oberflächlichem) französischem Esprit und (tiefergehendem) wahrhaftigen Witz (siehe Best: Der Wit£ als Erkenntniskraft und Formprin^tp, S. 3). 273 Eine präzise Dekonstruktion der Differenz zwischen bildlichem und unbildlichem Witz bei Jean Paul vollzieht Menke, die dabei von Jean Pauls Beschreibung des Wortspiels und des hier von Jean Paul geltend gemachte Moments .bloßer' Zufälligkeit ausgeht. Menke zeigt, daß Witz ohne den Verdacht der bloßen Zufälligkeit gar nicht wirken kann. Der Witz stellt somit immer schon eine Art Vexierbild dar, das zwischen zufälligem Schein und substandellem Sein immer schon schwankt (siehe Menke: „Jean Pauls Witz als Kraft und Formel"). Ähnlich läßt sich die Differenz zwischen dem .bildlichen Witz' und der .bildlichen Phantasie' dekonstruieren (siehe insbesondere Menke: „Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, ....", S. 211). Über letztere Differenz schreibt bereits Berend: „Aber in Theorie und Praxis hat er [Jean Paul] den Unterschied [zwischen bildlichem Witz und bildlicher Phantasie] oft aus den Augen verloren." (Berend: Jean Pauls Ästhetik, S. 193.) 274 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 173. Hierzu sehr instruktiv Menke: „Jean Pauls Witz als Kraft und Formel", Menke: „Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, ....", S. 209-15. 275 Zu dieser konstitutiven Zweideutigkeit des Witzes siehe Menke: „Jean Pauls Witz als Kraft und Formel", 211—13. Siehe auch Menke: „Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, ....", S. 212: „Im Witz ist Sinn suspendiert an die auszuhaltende Zweideutigkeit, ob es sich überhaupt um (etwas) meinende Rede handelt oder >bloße< ungedeckte >Spielmarke des Wortspiels< (Jean Paul)". Eine ähnliche Rekonstruktion des Jean Paulschen Witzkonzepts liefert bereits Michelsen. Jean Paul, so sein Resümee, begreife „die durch den Witz bewirkte Täuschung als positive Möglichkeit" (Michelsen: haurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 320). Vgl. auch Michel: Ordnungen der Kontingents. 171-79. Michel zeigt, daß der Jean Paulsche Witz immer schon eine Doppelfigur von Verbindung und gleichzeitiger Unterbrechung darstellt - und damit Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit zugleich verspricht.
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immer zweideutige Weise - sichtbar machen.276 In Jean Pauls Schreiben werden die Möglichkeiten des Witzes auf der Grundlage seiner Destillate in ein digressives Erzählverfahren umgesetzt. Im Erzählen bemüht sich Jean Paul um eine möglichst vielfältige Verkettung witziger Vergleiche.277 Ein und derselbe Gegenstand kann mittels des unbildlichen Witzes mit den unterschiedlichsten anderen Gegenständen verglichen oder mittels des bildlichen Witzes metaphorisch apostrophiert werden. Es ergibt sich eine Struktur von Verweisen, die zunächst chaotisch wirkt, aber entsprechend der Problemstellungen, die schon die Register prägen, zumindest teilweise aufgelöst werden kann. Prinzipiell aber geraten die Bezüge in Bewegung, denn die jeweils in unterschiedlicher Weise verglichenen oder bildlich bezeichneten Sachverhalte werden mit einer Vielzahl von Bedeutungen versehen, die vom Text selbst nicht explizit miteinander vereinbart werden können. Etwas Ausschweifendes, Digressives wohnt dem Jean Paulschen Erzählen mit den Wucherungen seines „gelehrten Witzes"278
276 Einer im Kontext dieser Arbeit interessanten Entzifferungsarbeit widmet sich Lohmann: ]ean Pauls ,Flegeljahre' I, sowie Lohmann: Jean Pauls ,¥legeljahre' II. Hier werden die Zwischenüberschriften der „Flegeljahre", die jeweils ein Sammlerstück aus dem Naturalienkabinett bezeichnen, wissenshistorisch entschlüsselt und mit dem Haupttext in ein komplexes Verhältnis gesetzt. (Die Arbeit funktioniert im wesentlichen als ein ausführlicher emblematischer Kommentar der einzelnen Sammlerstücke.) Damit verfolgt er die Fährten, die der Jean Paulsche Witz auslegt: „Mit Lohmanns Untersuchung wird das Jean Paulsche Prinzip der metaphorischen Synthese von scheinbar Inkommensurablem erhellt, für das in seiner Poetik [nämlich in der Poetik des Witzes] das Fundament gelegt ist", kommentiert Schmitz-Emans: „Alles ,bedeutet und bezeichnet'", S. 144. 277 Am deutlichsten hat dies Müller herausgearbeitet (Götz Müller: „Mehrfache Kodierung bei Jean Paul". In: G. M.: Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1996 [1991 f.], S. 77-96, sowie - im selben Band - ,„Ich vergesse den 15. November nie'. Intertextualität und Mehrfachbesetzung bei Jean Paul" [1994], S. 125—39; ähnlich auch Wiethölter: Witzige Illumination, S. 13—18, Klappert: Die Perspektiven von Unk undLMcke, S. 138-47, sowie Michel: Ordnungen der Kontingent 171—79, der insbesondere auf Jean Pauls Fußnoten eingeht). Ausgehend von Jean Pauls Arbeitsverfahren stellt Müller dar, wie sich die Verwendung identischer „Schrift-Stücke" (Müller: „Mehrfache Kodierung bei Jean Paul", S. 78) und Bilder innerhalb einzelner Texte in eine „semantische Mehrfachbesetzung" (S. 80) umsetzt. Sein Fazit: „Jean Pauls Exzerptsystem sammelte dissoziierte Meinungen über die Dinge aus allen Zeiten und Weltteilen; das Register und mehr noch die Texte assoziieren diese Schriftpartikel nach dem Prinzip der Ähnlichkeit. Die Zeichenkomplexe entwickeln ein Eigenleben, da die Bedeutungsfülle der Wörter stets größer ist, als das, was (partiell) mit dem Verglichenen übereinstimmt. Die Assoziation der Schriftpartikel ist daher [...] höchst instabil: Mit jedem Vergleich ändern sich die Konnotationen." (S. 95 f.) In einer späteren Arbeit hat Müller diese synchrone Betrachtungsweise der „mehrfachen Codierung" um eine diachrone Verfahrensweise ergänzt. In den Fokus rückt damit „ein komplexes System aufeinander verweisender Texte, deren Signifikantenketten unabschließbar miteinander verwoben sind." (Müller: ,„Ich vergesse den 15. November nie'", S. 139.) 278 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 203. - Zum gelehrten Witz siehe Rehm: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben", S. 41 ff.
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mithin schon inne, wenn es noch nicht in Passagen abgleitet, die scheinbar völlig von der Erzählung der Geschichte wegführen. 279 Das Vermögen des Witzes dient dabei gleichwohl der Apostrophierung einer Einheit, die man dem zerstreuten Material zuschreiben können soll. Leistet er im einzelnen die Verknüpfung kontextfrei isolierter Wissenspartikel, so setzt er damit eine Bewegung in Gang, die zu einer Kontextschließung fuhren mag, wie sie die frühneuzeitliche Universalgelehrsamkeit auf der Grundlage ihres geschlossenen Weltbildes noch paratextuell sichtbar machen konnte. Indem er Verweise stiftet, deren Reichweite kaum zu beschränken ist, konturiert er als Horizont dieser Verweise eine metaphysische Einheit, einen allumfassenden Rahmen des Wissens, der allerdings nur als Verweis - und damit nur in einer Bewegung des Aufschubs - faßbar ist.280 Die Arbeit des Witzes ist also nicht auf ein erreichbares Ziel ausgerichtet - „witzige Texte
279 Entsprechend behauptet Bosse, die Jean Paulschen „Digressionen" seien „in erster Linie ein Stilelement, erst in zweiter Linie Bauelement" (Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul, S. 112). Rehm beschreibt in seiner Bestandsaufnahme der Anmerkungsverfahren Jean Pauls das Einwandern der ungekennzeichneten, digressiv-witzigen Anmerkung in den Text unter der Überschrift „Text ohne Noten" (Rehm: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben", S. 52) und unterscheidet davon „Noten mit Text" (S. 57), die in einem engen Korrespondenzverhältnis zum Text stehen, sowie sich vom Text deutlicher ablösende aphoristische „Noten ohne Text" (S. 85). 280 Diese doppelte Stoßrichtung des Witzes sieht auch Müller, der von einem „Widerspruch innerhalb des Witz-Programms spricht" (Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 93) und diesen Widerspruch ähnlich wie hier zu erklären versucht. Entscheidend sind dabei Rückgriffe auf die Herdersche Sprach- und Metapherntheorie (S. 93 ff.). Hierzu siehe ausführlich Pabst: Fiktionen des inneren Menschen, S. 217-28, sowie Wolfgang Riedel: „Die Macht der Metapher. Zur Modernität von Jean Pauls Ästhetik". In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 34, 1999, S. 56-94. Auch Wölfel spricht in diesem Sinn von einer „Widersprüchlichkeit in Jean Pauls Erörterung des Witzes" (Wölfel: „,Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt"', S. 283). Schmidt-Biggemann betont, daß die Jean Paulsche Exzerpierpraxis und sein Witz (ebenso wie seine Satiren insgesamt) ursprünglich von harmonistischen Prinzipien getragen sei (Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 210 ff.). Proß zufolge ist für Jean Paul insbesondere der „Anspruch eines Verweisungscharakters" (Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung S. 40) des Materials entscheidend: „Worauf es dem Autor ankommt, ist die poetische .Beseelung' des Stofflichen, der polyhistorischen Materialien, die Natur, Geschichte und Wissenschaften bieten, um dem Bedürfnis nach Sinn zu genügen." (S. 39) „Sein Ziel ist es, einen Monismus von rationaler Welterklärung und metaphysischer Sinngebung, wie sie die aufklärerische Haltung seit Leibniz kennzeichnete, zu bewahren. Dies aber ist nur noch im Bereich der Poesie möglich [...]; deshalb triumphiert in den Schriften Jean Pauls immer stärker das metaphysische Bedürfnis und das Vertrauen ins bloße Aussprechen des Gefühls über den Ansatz zur rationalen Widerlegung der Gegner Kant und Fichte und später der Romantiker." (S. 45.) Vgl. schließlich Michelsen, demzufolge der witzige Vergleich bei Jean Paul „die Leugnung der Disdnktheit, die den Dingen durch ihre Namen zukommt", betreibt (Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman im 18. Jahrhundert, S. 323): „Die Einheit, die der Witz behauptet, erscheint dem Dichter als Reflex einer tieferen, welche die durch Unterscheidung entzweiten Dinge aus sich endäßt und in sich zurücknimmt" (S. 326 f.)
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sind prinzipiell keine abschließbaren Texte".281 Der Witz findet seine Legitimität nur darin, daß man jener Apostrophe, die er verkörpert, Glauben schenkt — daß man also die Verbindung, die der ,verkleidete Priester' gestiftet hat, dennoch für legitim erkennt.282 Das unadressierte, scheinbar rein ornamentale Material, wie es Fixlein, Schnäzler und andere Jean Paulsche Figuren beschäftigt, wird so in eine übergeordnete Sinngebung einbezogen. Dabei kommt es weniger auf das Wissen als solches an, als vielmehr darauf, wie es in seiner jeweiligen Buchstäblichkeit so neu zusammengesetzt werden kann, daß die Phantasie sie neu verketten und einer geistigen Einheit zuführen kann: Nicht zuletzt ist der Witz, so Jean Paul, das nagramm der Natur".283 Setzt der Humors auf einer abstrakten Ebene an — die Umdeutung des Kontrastes zwischen Bedingtem und Unbedingtem in einen objektiven Verweis auf die Unbedingtheit des Idee geht von Bedingtheit als solcher aus - , so arbeitet der Witz am Konkreten: Der Zerstreuung des Wissens setzt er in feiner Detailarbeit Verbindungen entgegen, die auf eine metaphysische Einheit des Wissens verweisen.284 Ist dem Humor die „überfließende Darstellung" förderlich, so arbeitet sich der Witz an der Bereitstellung dieses Überflusses ab. Er präfiguriert an einzelnen Textelementen, in seinen Mikrologien eine Figur, die die Phantasie als Einheit erfassen soll. Insofern er dabei seinerseits bedingt und beschränkt ist, kann er auf einer abstrakteren Ebene wiederum zum Anlaß einer humoristischen Versöhnung werden.285
281 Wiethölter: Witzige Illumination, S. 29; über das zersetzende Potential des Witzes siehe S. 19 ff. 282 So zeigt Wiethölter, „daß die historisch, nicht systematisch widerspruchsvolle WitzKonzeption der ,Vorschule' auf einem einzigen, das Verkörpern wie das Beseelen legitimierenden Prinzip beruht: dem Glauben." (Wiethölter: Witzige Illumination, S. 194.) 283 Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 47. 284 Hierzu Proß in ideengeschichtlicher Perspektive: „wenn die Wissenschaft es aufgibt, die Daten der Natur über bloßes Registrieren hinaus zu kombinieren, und es (von Jean Paul) philosophisch nicht akzeptiert werden kann, die Erfassung der Wirklichkeit a priori zu deduzieren, so bleibt dem Dichter die Aufgabe, Begehungen ^wischen den Dingen herzustellen, welche induktiv auf diesen Sinn schließen lassetf (Proß: ]ean Pauls geschichtliche Stellung, S. 71; Hervorhebung von mir). 285 Bosse betont, Jean Pauls witzige Sentenzen seien „verbindend, aber nicht verbindlich" (Bosse: Theorie und Praxis hei Jean Paul, S. 112). In diesem Sinn können sie zum Einsatzpunkt eines Humors werden, der „den Schein der Unverbindlichkeit des Verbindlichen erweckt und die gleichwohl die Unverbindlichkeit dieses Scheins reflektiert" (Preisendanz: „Humor als Rolle", S. 432) und umgekehrt auch im Unverbindlichen ein verbindliches Moment zu entdecken vermag.
3. Der Roman als „Appendix": Ein Paratext?
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3. Der Roman als „Appendix": Ein Paratext? Jean Pauls Poetik des Paratextuellen weist gerade dem in den Texten mitgefuhrten ,Wissensmüll' einen zentralen Status zu: Das witzige Schreiben strebt danach, die scheinbar bedeutungs- und zusammenhanglosen Wissenspartikel in neue Sinnzusammenhänge einzubinden und verweist so - auf unverbindliche Weise - auf eine metaphysische Einheit des Wissens. Es projektiert damit einen Umschlag, der das bloß Ornamentale zur Figur werden läßt. Wenn dies ein zentrales Anliegen der Jean Paulschen Texte ist, so läßt sich nun allerdings fragen, ob und wie daraus ein Konzept von Werkeinheit abgeleitet werden kann: Wie kann der Witz mit seiner weltumspannenden' Tendenz, der potentiell jede Unterscheidung überwindet, für Werke konstitutiv werden? Jean Pauls Texte stellen sich dieser Frage und beantworten sie durch den Entwurf einer neuen Gattung, des „Appendix". Die Poetik des Witzes und der ,Ornamentalisierung' des Werks setzt sich hier in eine Poetik des ,Anti-Romans' um, dem der Name eines im Grunde paratextuellen Elements gegeben wird. Das Werk des Witzes bestimmt sich dergestalt als bloßer Anhang. Um die Konturen dieser merkwürdigen Werkeinheit geht es im folgenden.
a) Digression und Narration: Figurationen des Erzähltextes Als Ausgangspunkt meiner Argumentation wähle ich zwei Textabschnitte, die am Übergang zwischen zwei Erzählungen Jean Pauls angesiedelt sind und eine Poetik entfalten, die für Jean Pauls erzählerische Produktion der 1790er Jahre entscheidend ist: Die „Vorrede zum satirischen Appendix" der „Biographischen Belustigungen" (1796) und den „Prodromus galeatus" des Textes mit dem Titel „Der Jubelsenior. Ein Appendix" (1797). In diesen Texten wird eine textuelle Bewegung projektiert, die die Grenzen der Erzählung und der Erzählbarkeit konstituiert, aber auch fortwährend verschiebt und überschreitet. Die „Vorrede zum satirischen Appendix" umfaßt einen „Extrakt aus den Gerichtsakten des summarischen Verfahrens in Sachen der Leser, Klägern, contra Jean Paul, Beklagten, Satiren, Abhandlungen und Digressionen des letztern betreffend." 286 Jean Paul nimmt sich in diesem Prozeß der Sache seiner Ankläger an, verteidigt sich selbst und läßt 286 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 347. - Zu Jean Pauls ,Spiel' mit dem Leser siehe die (allerdings eher erzählerischen) Beiträge von Ehrenzeller (Ehrenzeller: Studien %ur Romanvomde, S. 178-84, zum Streit um die Digressionen siehe S. 179 f.) und Soffke (Soffke: „Jean Pauls Verhältnis zum Buch", S. 356-68).
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
schließlich persönlich ein Urteil ergehen, das die Begründung einer neuen Gattung, des „Appendix" eben, zur Folge hat. Nachdem Jean Pauls Verurteilung wegen Schmuggelei von Gerichts wegen die Verpflichtung zur sorgfältigen Kennzeichnung seiner Ware nach sich gezogen hat, erweist sich diese neue Gattung als ein Vehikel, das es ermöglichen soll, dem alten Gewerbe gleichwohl weiterhin nachzugehen. Es ist sinnvoll, sich die Poetik des „Appendix" genauer anzusehen, denn sie läßt sich auf weite Teile von Jean Pauls Produktion beziehen. Daher sei im folgenden der (wenn auch ironischen) Aufforderung nachgekommen, die Jean Paul als der „Schöpfer dieser neuen Dichtungsart selber" im „Prodromus galeatus" ausspricht: Jetzt, da ich einmal das Muster eines Appendix geliefert habe und hierin selber als die Akademie und das lebende Modell auf dem Gestelle bleibe, ists den Ästhetikern leicht gemacht, aus wirklichen Appendixen eine Theorie und Heilsordnung und brauchbare Vorschriften für diese Dichtungsart abzuziehen und festzusetzen und nach meiner ausübenden Gewalt ihre gesetzgebende zu modeln und zu mustern, so wie auch in allen unsern Staatsverfassungen nicht die Gesetze die Macht, sondern diese jene geben oder doch zähmen.287
Das Zitat artikuliert eine Wendung gegen normative, gesetzgebende" Poetiken und zeigt damit schon an, daß man es mit einer ,unsystematischen Systematik' zu tun haben wird - „leicht" jedenfalls ist es den „Ästhetikern" nicht unbedingt gemacht. Was sollte man auch anderes erwarten, wenn ein Schmuggler sogleich nach seiner Verurteilung in ausübender Gewalt Veranlassung zu neuer Gesetzgebung gibt? Wie also ist es um die „Theorie und Heilsordnung" dieser „Dichtungsart" bestellt, die sich selbst als Anhang definiert? Und was hat es mit dem Schmuggel auf sich, dem diese Dichtungsart dient? Vorgeworfen wird dem Beklagten, er habe „unter seine Historien die längsten Satiren und Untersuchungen eingeschwärzt, so daß er, wie einige österreichische Fabriken, die inländische Ware nur darum zu machen schien, um die verbotne satirische damit zu emballieren und abzusetzen."288 Der Vorwurf der Schmuggelei läßt sich als Plagiatsvorwurf konkretisieren — darin mag man eine Anspielung auf Jean Pauls Verfahren des gelehrten Witzes sehen. Zugleich aber macht die Anklage einen wirkungsästhetischen Vorwurf: Die Digression, wie sie hier vorgestellt wird, evoziert einen kontinuierlichen Wechsel zwischen Wärme und Kälte, zwischen dem „Dampfbad der Rührung" und dem „Kühlbad der frostigen Satire",289 und kann, so die Anklage, gerade bei Frauen eine zermürbende Wirkung haben. Denn Satiren vermögen es, mitten im schönen Schein, inmitten der 287 Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 413. 288 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 348. 289 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 348.
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rührenden, die Leidenschaften erregenden Historie qua Unterbrechung ihre Stachel zu setzen. „Überhaupt schieb' er [der Angeklagte] anstatt, wie es einem guten Autor geziemt, dem Teufel nachzuahmen und nichts zu erregen als Leidenschaften", 290 immer wenn ihm dies gelungen, sogleich eine abkühlende satirische Digression ein. Auf diese Weise kommt es, so die Anklage, zu einer merkwürdigen Verdoppelung der textuellen Bewegung. Beantragt wird schließlich, daß der Biograph Jean Paul in seinen künftigen Historien geradeaus wie ein Kernschuß zu gehen schuldig, ohne Anspielungen, ohne Reflexionen und mit Ernst ohne Spaß, überhaupt, daß er unter dem Vortrage seiner biographischen Partitur hinter seinem Notenpult eine satirische Pantomime gegen sämtliche Zuhörerschaft ziehen sich ernstlich zu enthalten und alle diesfalls kausierten Schäden zu tragen verbunden.291
Die Bildlichkeit ist bezeichnend: Die satirische Digression ist nicht Teil der biographischen Vorstellung, sondern begleitende Pantomime. Als stumme Bewegung überlagert sie die eigentliche Darstellung. Dieses Moment der Uberlagerung ist entscheidend, scheint es doch zunächst im Widerspruch zu der Behauptung zu stehen, die Texte zeichneten sich durch ein Oszillieren zwischen Wärme und Kälte, zwischen empfindsamer Geschichte und satirischer Digression aus. Offenkundig macht es den Ärger der Kläger aus, daß diese Oszillation gleichwohl nicht dazu führt, daß im Text von einander abtrennbare Sektionen unterscheidbar werden. Vielmehr ergibt sich eine ärgerliche Gleichzeitigkeit von Satire und Rührstück, die es dem Leser gerade nicht ermöglicht, die beiden Momente der Erzählung zu trennen. Die Konstellation des Prozesses verweist auf eine Umwertung der Digression im Vergleich zur Tradition der antiken Rhetorik: 292 Denn die Digression gilt hier gerade als ein Mittel, mit dem man sich die Zuhörer besonders geneigt machen kann. Zumindest die auf die Gerichtsrede fixierte römischen Rhetorik geht gerade nicht davon aus, die narratio, also die Schilderung der in Frage stehenden causa, könne als solche die Zuhörer in ihren Bann ziehen. Dazu ist vielmehr die Digression geeignet. So heißt es bei Cicero: Obwohl nun diese Redeteile, die zwar nicht durch Argumente aufklären, doch viel durch Überredung und Erschütterung erreichen, ihren eigentlichen Ort am 290 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 348. 291 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 348 (Hervorhebung von mir). 292 Einen Überblick zum antiken und mittelalterlichen rhetorischen Begriff der Digression bietet Poser: Der abschweifende Erzähler, S. 17-22. Poser hebt hervor, daß die Abschweifung immer schon an die Funktion der Affekterzeugung gebunden war. Vgl. auch (die Differenzen zwischen den einzelnen rhetorischen Entwürfen stark glättend) Gert Ueding, Bernd
Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte - Technik - Methode. Stuttgart - Weimar 1994, S. 262 f.
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul Anfang und am Schluß der Rede haben, ist es doch oft von Nutzen, von seinem Thema, das man sich gestellt hat, abzuweichen, um die Gemüter zu erregen. So bietet sich entweder nach der Schilderung und Darlegung des Sachverhalts oft die Gelegenheit zu einer Abschweifung, um die Gemüter in Erregung zu versetzen, oder man kann es korrekterweise tun, wenn unsere eigene Beweisführung bestätigt oder die der Gegenseite widerlegt ist oder auch an beiden Stellen oder gar an allen, wenn der Fall von solchem Rang und Umfang ist. 293
Gerade die Abwendung vom eigentlichen Thema kann also eine affektsteigernde Wirkung haben. Manchmal, so Cicero, sei es für den Redner einfacher, eine seinem Ziel entsprechende Wirkung bei den Zuhörern zu erzielen, wenn er sich Themen zuwende, deren Beschaffenheit ihm vielleicht eher als bei der Erörterung der eigentlichen causa - den Beifall des Publikums sichern dürfte. Entsprechend definiert Quintilian: „alles, was außerhalb der fünf Teile gesprochen wird, die wir für die Rede angenommen haben, ist Exkurs: diene es nun für Unwillen, Mitleid, Entrüstung, Schelten, Entschuldigen, Gewinnen oder Abwehr von Schmähungen." 294 Genauer wird auch bei Quintilian die Abschweifung als Möglichkeit angeführt, dem Bedürfnis der Redner nach erfolgversprechenden Themen seinen begrenzten Platz zu geben. Daß sich die Abschweifung als fester Redeteil zwischen narraho und probatio etabliert habe, führt er gar auf die Notwendigkeit zurück, die ,Trockenheit' der Darlegung auszugleichen. Jedoch wendet er sich strikt gegen eine solche feste Einordnung der Abschweifung (die ja auch nicht in Ciceros Sinn ist). Gerade die feste Einordnung nämlich könne in Unordnung resultieren: Die Rückkehr zum eigentlichen Thema könne dann nicht flexibel gehandhabt werden und es ergebe sich die Gefahr von Sprüngen. 295 Die Frage nach der ordentlichen Einbindung der Digression, um die es im Prozeß gegen Jean Paul geht, stellt sich also bereits hier, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen. Denn die Rhetorik bringt die Digression insbesondere mit Figuren der Hinwendung zum Publikum in Verbindung 296 - behandelt sie
293 Cicero: De Oratore, S. 407 f. (Buch II, 311 f.) 294 Quintilianus: lnstitutionis oratoriae libri XII, Teil 1, S. 493. 295 Entsprechend formuliert Quintilian als Bedingung für das Einschalten einer Digression: „aber nur dann, wenn der Exkurs im Zusammenhang steht und sich aus dem Vorausgehenden ergibt, nicht aber, wenn er mit Gewalt eingekeilt wird und die natürliche Verbindung zerreißt" (Quintilianus: lnstitutionis oratoriae libri XII, Teil 1, S. 491). Siehe hierzu Härter: Digressionen, S. 36 ff., sowie Poser: Der abschweifende Erzähler, S. 20 f. 296 So formuliert Quintilian im Zusammenhang mit der Aposiopese: „Hierhin gehört auch die Form der Abschweifung, wenn sie denn zu den Figuren gezählt werden darf, während sie anderen sogar als ein eigener Teil der Rede erscheint [...]. Denn die kürzere Form der Abschweifung vom Gegenstand [...] findet auf mehrere Arten statt." (Quintilianus: lnstitutionis oratoriae libri XII, Teil 2, S. 294 f.) Es folgt als Beispiel eine kurze Hinwendung an die Richter, also eine Adressierungsfigur. — Vgl. auch die Beispiele bei Cicero: De Oratore, S. 321 ff. (Buch II, S. 185 ff.). - Lausberg bestimmt die digressio ebenso wie die Apostrophe als aversio.
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also nicht nur als Redeteil, sondern auch als Figur.297 Die Gefahr, mittels der Digression gerade das Publikum aus den Augen zu verlieren, die Gefahr also, der sich Jean Pauls Texte offenkundig aussetzen, sieht sie so nicht.298 Das hängt auch damit zusammen, daß sich die Rhetorik spätestens in der frühen Neuzeit mit ihrer Applikation auf die Poetik verändert: Hier steht die Narration im Zentrum des Interesses,299 deren Vorrangstellung auch Jean Pauls Leser einklagen.
„Die digressio ist eine aversio (s. § 848)." (Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Uteraturwissenschafi. Stuttgart 1990 [I960], S. 187, § 340.) In § 848, auf den hier verwiesen wird, findet sich für diese Einordnung allerdings ebensowenig ein klassischer Nachweis wie in § 340. Vielmehr wird dort wieder auf § 340 verwiesen: „Die digressio ist eine Szth-aversio (§ 340)." (S. 422.) 297 Siehe auch die Aufzählung bei Cicero, der die Digression sowohl als Gedankenfigur aufführt („Hierher gehört auch die Abschweifung [digressio], die dann, wenn man sich an ihr erfreut hat, wieder geschickt und elegant zur Sache führen muß"; Cicero: De Oratore, S. 575, Buch III, 203) und sie hier von der inclinato, der „beiläufigen Bemerkung, nicht zu verwechseln mit der obigen Abschweifung" (S. 577, Buch III, 205) unterscheidet, als auch als Figur des sprachlichen Ausdrucks (S. 577, 579, Buch III, 207; auch dort ist die declinatio und die digressio aufgeführt). - Quintilian zitiert Ciceros Aufzählung und erwähnt die Digression in der Figurenlehre (Quintilianus: Institutions oratoriae lihri XII, Teil2, S. 271). 298 Zumindest Quintilian verweist allerdings auf eine andere Gefahr. Seine Rhetorik zeichnet sich gegenüber anderen Modellen durch ein gesteigertes Bewußtsein der zerstörerischen Seite der Digression aus. Wie Härter gezeigt hat, führt sie angesichts dieses Bewußtseins eine Differenzierung zwischen der egressio (einer Digression, die sich auf höherer Ebene in die Ordnung des Textes einfügen läßt) und der digressio (der gänzlich ordnungsfeindlichen Abschweifung) ein. Vor diesem Hintergrund steht das Plädoyer für den freieren, aber kontrollierten Einsatz der egressio - so soll die Gefahr für die Ordnung gebannt werden. Härter resümiert: „Mit der Verdoppelung des Abweichungsbegriffs zu egressio und digressio stellt die Institutio oratoria zwei Typen der Abweichung heraus [...]. Im Sinn der egressio erscheint das Abweichende nicht nur als plan- und beherrschbar, sondern gar, etwa durch angenehme Wirkung, als ordnungsdienlich; das Verhältnis zwischen Ordnung und Abweichung stellt in der fgrexr/e-Perspektive seinerseits eine Ordnung dar. [...] Im Sinn der digressio hingegen zeigt sich die Abweichung als Angriff auf die Ordnung, von der sie abweicht; als Gefahrdung und Infragestellung der jeweiligen Text- und Redeordnung. Als digressio läßt die Abweichung nicht ohne weiteres eine Ordnung des Verhältnisses von Ordnung und Abweichung zu; sie bleibt ordnungsfeindlich und undomestiziert." (Härter: Digressionen, S. 51.) 299 Härter betont, daß angesichts literarischer Texte die rhetorische Textordnung, wie sie die frühneuzeitliche Poetik appliziert, neuen Aufgaben gerecht werden muß. Insbesondere ist die pmpositio ebenso wie die argumentation die zu ihr führt, als ein Moment, der sich aus der bildhaften Dimension der narratio ergibt, zu verstehen. Damit erhält die narratio eine deutlich gesteigerte Bedeutung. Härter zeigt am Beispiel der Figur der aversio, also einer auf der Ebene der elocutio anzusiedelnden Abweichung, wie der literarische Text die rhetorische Ordnung subvertiert: die aversio ah oratore ist im literarischen Text der Normalfall, nicht nur im Falle von Figurenrede, sondern schon bei der Installation eines Erzählers. Umgekehrt erscheint der Fall des Erzählerkommentars, also die Rückkehr zur Position des .Redners', als eine aversio a materia oder als digressio. Siehe Härter: Digressionen, S. 56 ff. - Auf die Unterscheidung von Digression und Narration zielt auch die Untersuchung von Posers ab, die, ausgehend von der polyhistorischen Digression des Barockromans (Poser: Der abschweifende Erzähler; S. 25-27), der aufklärerischen Polemik gegen diese Art der Digression im
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
Also zurück zum Prozeß: Fordern die Kläger eine saubere Trennung und verlangen sie, der Beklagte möge seine Digressionen in einem „ehrlich betitelte[n] Buch"300 veröffentlichen, so nutzt es dem Beklagten nichts, wenn er zu verstehen gibt, er warne seine Leser „stets durch Uberschriften oder Leuchtfeuer vor solchen gefährlichen Sandbänken und Skagerraks", es sei daher „ihre Schuld, wenn sie diese Riffs nicht umfahren, d. h. umschlagen". 301 Das Gericht ignoriert dieses Argument zurecht, denn es handelt sich, betrachtet man beispielsweise den „Hesperus", um eine glatte Lüge. Schließlich ist der Beklagte dafür bekannt, auch früher schon Vereinbarungen über die paratextuelle Kennzeichnung seiner Digressionen einseitig gebrochen zu haben.302 Entsprechend fallt das Urteil dann auch aus: Auf Klage, Antwort und erfolgtes Verfahren in Sachen der Leser und Leserinnen, Klägeren, an einem, Jean Paul, Höfer Büchermachers, am andern Teil gibt die fürstlich scheerauische Berghauptmannschaft folgende Resolution: daß Beklagter, Jean Paul, Büchermacher, nicht befugt sei, in seinen historischen Bildersälen mitten unter Damen Spaß oder Extrasachen oder andere Sprünge mit seinem ererbten Bocksfuße zu machen — daß ihm aber in Betracht, daß er mit besagtem Fuße behaftet und daß alle Völker Traumfeste und Narrenfeste hatten und daß man noch jetzt bei Weinlesen, auf der Themse und beim Ankeraufwinden das Recht hat, Stachelreden vorzubringen, daß in diesem Betrachte Beklagtem unbenommen bleibe, hinten an seinen Bildersaal ein Wirtschafts- und Hintergebäude (obwohl in einiger Entfernung) anzustoßen, um da sein Wesen zu treiben und seinen satirischen Tabaksrauch ohne Schaden der Damen, denen sonst die Schminke abfließet, auszublasen [...]; publiziert Hof, den Schalttag 1 7 9 6 [...]. 3 0 3
Das Urteil ist ambivalenter, als es zunächst scheinen mag. Denn es gilt zu beachten, daß der „Appendix", der nun also dem „historischen Bildersaal" wird angehängt werden müssen, insbesondere als dessen , Wirtschaftsgebäude' bezeichnet wird. Es dürfte also von hier aus der Bildersaal versorgt werden. Angesichts eines der Schmuggelei überführten Wirtes sicherlich keine vielversprechende Ausgangslage. Die Fortsetzung der digressiven Schattenwirtschaft ist angesichts dieses Urteilsspruchs vorprogrammiert. Namen der ,Geschichte' (S. 28, S. 5 3 - 6 7 ) sowie der Digressivität Montaignes (S. 3 2 - 3 4 ) , auch Texte von Wieland (68-84) und Jean Paul ( 1 0 0 - 1 3 ) untersucht. 300 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 348. 301 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 355. 302 Vgl. den offenen Bruch des Vertrags mit den Lesern im „Hesperus" (Jean Paul: „Hesperus", S. 611): „Müssen Traktaten gehalten werden, oder ist es genug, daß man sie macht?" fragt der Erzähler mit Bezug auf den zuvor mit den Lesern geschlossenen Vertrag über die paratextuelle Kennzeichnung der digressiven Passagen (hierzu siehe S. 565 f.). Antwort: „Das letzte." (S. 611.) Siehe auch die Vereinbarungen mit den Lesern in der „Unsichtbaren Loge" (Jean Paul: „Die unsichtbare Loge", S. 2 3 - 3 2 , S.l 79-82). 303 Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 360 ff.
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Entsprechend schließt der erste „Appendix", der die „Illias"304 der neuen Gattung darstellt und tatsächlich noch als Anhang in Erscheinung tritt, mit „Ende des ersten Teils".305 Als „Odyssee"306 oder ,zweiter Teil' folgt dann der „Jubelsenior", allerdings als eigenständige Publikation. Sein Programm bestimmt die neue „Dichtungsart" trotz ihres Namens nicht mehr als Anhang eines Haupttextes. Der „Prodromus galeatus", der den ersten satirischen „Appendix" als Gründungsdokument der neuen Gattung erkennbar macht, behandelt ebenfalls das merkwürdige Verhältnis von Digression und Narration, die doppeldeutige Kontinuität und Nicht-Kontinuität des Digressiven. Dies funktioniert vor dem Hintergrund der Umkehrung eines romantheoretischen Modells.307 Die Überlegungen beginnen mit einer Unterscheidung von ,Geist' und ,Materie': Es könne der „Dichter, wie das Schicksal und die Fürsten, nur über die materielle Natur auf seinem Papier gebieten, nicht über die gästige [...]." „Eine Biographie oder ein Roman" sei „bloß eine psychologische Geschichte, die am lackierten Blumenstab einer äußern" emporwachse.308 „Der Dichter - das Widerspiel des Menschen - ändert die Form der materiellen Welt mit einem Schlage seines eingetunkten Zauberstabs, aber die der geistigen nur mit tausend Meißelschlägen; er kann - als sein eigener
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Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 414. Jean Paul: „Biographische Belustigungen", S. 407. Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 414. Hierzu vgl. Kilcher: mathesis und poiesis, S. 140 ff., der allerdings den hier rekonstruierten Konflikt zwischen Narration und Digression erst für spätere Erzählungen Jean Pauls annimmt. Im Ergebnis ist ihm gleichwohl zuzustimmen: „Das digressive Wissen unterbricht zwar den Erzählfluß, doch die Bruchstücke dieses Wissens vernetzen sich zu einem prekären Ganzen." (Kilcher: mathesis und poiesis, S. 145.) — Insgesamt wird merkwürdigerweise vor allem die romantheoretische Rekonstruktion am Beginn des „Prodromus galeatus" von der Forschung zur Kenntnis genommen und kaum die Poetik des ,Appendix" (vgl. Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul, S. 32, Kurt Wölfel: „Die Unlust zu fabulieren. Über Jean Pauls Romanfabel, besonders im Titan". In: K. W.: Jean Paul-Studien. Frankfurt/M. 1989 [1984], S. 51-71, S. 55). - Vgl. auch in der „Vorschule" die Ausführungen zu Charakter und Handlung im Roman (Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik", S. 207 ff. bzw. 229 ff.).
308 Bosse nennt hierzu eine Parallelstelle aus der Vorrede zu Moritz' „Anton Reiser" (Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul, S. 32). — Der Bildlichkeit wären weitere Untersuchungen zu widmen. Dabei wäre zum einen auf die Metapher der Blume zu achten - immer schon handelt es sich ja um eine Metapher für die Metapher, man denke nur an die Tradition des Florilegium (siehe hierzu Klaus Grubmüller: „Florilegium". In: Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller u.a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. I. Berlin - New York 1999, S. 605-07) - , und zum anderen auf die Symbolik des Thyrsos-Stabs. Vgl. für einen ersten Eindruck in die Fülle des letzteren Motivs die Arbeit von Papens, der insbesondere antike Nachweise für eine Konzeption des Thyrsos als Zauberstab gibt (Ferdinand Gaudenz von Papen: Oer Thyrsos in der griechischen und römischen Literatur und Kunst. Bonn 1905, insbes. S. 40 f.)
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Gegenfüßler - ζ. B. leichter reich machen als gut."m Aber die Gestaltung einer äußeren Geschichte, die im „Reich des Zufalls" verortet ist, das dem Dichter leichter zu Gebot steht, ist innerhalb eines guten Romans nur Mittel zum Zweck. Denn die äußere Geschichte ist hier nur als „Folge und Wirkung moralischer Ursachen" darzustellen: Gleichwohl muß sich die moralische Ver- und Entwicklung hinter die materielle verhüllen - wie der Schöpfer der Natur hinter die Gesetze der Natur - : die innere Kausal-Kette laufe verdeckt unter der äußern fort, die Motive kleiden sich in Örter und Zeiten ein, und die Geschichte des Geistes in die des Zufalls. 310
Die vom Zauberstab arrangierten Blumenstäbe müssen so aussehen, als seien sie auf das Wirken der Blumen, die sie tragen, zurückzuführen. Der Roman entsteht in der Konstruktion einer äußeren Geschichte, die im Nachhinein auf magisch-natürliche Weise von einer inneren Geschichte erzeugt worden zu sein scheint. Zwar sind rein ,äußere' Geschichten leicht zusammenzustellen - sie überzeugen aber nur, wenn sie das ,Wachstum' einer schlüssigen inneren Geschichte ermöglichen. Diese sehr kurze Skizze einer Poetik des Romans am Beginn des „Prodromus galeatus" nimmt in subversiver Weise den zweiten Teil des Blanckenburgschen „Versuchs über den Roman" (1774) auf. Nachdem Blanckenburg im ersten Teil seines „Versuchs" entwickelt hat, welcher Gegenstand dem Roman angemessen ist - pointiert gesagt, geht es idealerweise um „den ganzen Kampf, den der Tugendhafte kämpfen muß, ehe er über sich bieten kann",311 - widmet er sich im zweiten Teil der Gestaltung des Charakterromans, den er solchen Romanen vorzieht, für die „eine Begebenheit das Hauptwerk"312 ist (und für den er nur zwei Beispiele nennen kann, nämlich Wielands „Agathon" und desselben „Musarion"313). 309 Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 411. 310 Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 412. 311 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 47. Diese Pointierung des insgesamt sehr unsystematisch vorgehenden Textes von Blanckenburg betont die Zusammenführung zweier von Blanckenburg genannter Arten und Weisen, Erhabenheit darzustellen: Tugend und Leidenschaft (S. 31 ff.). Das movere, das nach wie vor als Ziel der literarischen Darstellung angegeben wird, kann dann vor allem durch die genaue Rekonstruktion des lVerdens der Charaktere erreicht werden (S. 67 f.). In diesem Zusammenhang findet sich bereits im ersten Teil des Textes ein Plädoyer für eine konsequente Aufdeckung der Kausalzusammenhänge (S. 54 f.). - Zu Blanckenburg siehe Eberhard Lämmert: „Nachwort". In: Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Raman. Faksimiledruck der Ausgabe von 1774. Stuttgart 1965, S. 543-83, insbesondere S. 552-72. 312 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 254. Zu dieser Unterscheidung siehe S. 254ff. Siehe hierzu Lämmert: „Nachwort", S. 558 ff., Frick: Provident und Kontingent S. 354 f. Frick betont, darin der Jean Paulschen Rekonstruktion recht nahe kommend, Blanckenburg gehe es um die „Einheit des e i n e n organisch gelingenden Lebenslaufes" (Frick: Providern^ und Kontingent S. 357). 313 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 256.
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Für diese Form des Romans ist - hier orientiert sich Blanckenburg an der empiristischen Ausrichtung beispielsweise des „Agathon" (dessen in dieser Arbeit akzentuierte Problematik er allerdings übersieht314) - die Nähe zur wirklichen Welt entscheidend: Er handelt von „möglichen Menschen der wirklichen Welt"315 und zwar insbesondere von deren Innerem.316 Die Problematik, die Jean Pauls Rekonstruktion akzentuiert, ergibt sich nun daraus, daß diese Wirklichkeitsorientierung die dichte Konstruktion einer Kausalkette erfordert: „Jede wirklich werdende Begebenheit hat ein doppeltes Verhältnis; einmal ist sie Wirkung vorangegangener, - und dann ist sie Ursache folgender Begebenheiten."317 Entsprechend setzt Blanckenburg das Postulat einer „Nothwendigkeit", die dann gegeben ist, „wenn zufolge des eigenthümlichen Charakters, und der ganzen jetzigen Lage der Person, nichts anders erfolgen konnte, als was wirklich erfolgte", an die Stelle der alten „Wahrscheinlichkeit der handelnden Personen".318 Die damit eingeforderte Kausalkette verdoppelt sich nun angesichts der Tatsache, daß der Mensch ein Inneres und ein Äußeres hat — hieraus ergibt sich die bei Jean Paul aufgenommene Unterscheidung zwischen der inneren „psychologischen" Geschichte und dem „lackierten Blumenstab einer äußern". 7m beachten ist dabei der Zusammenhang zwischen diesen beiden Verkettungen: „Das Innre und das Aeußere des Menschen hängt so genau zusammen, daß wir schlechterdings jenes kennen müssen, wenn wir uns die Erscheinungen in diesem, und die ganzen Aeußerungen des Menschen erklären und begreiflich machen wollen."319 Die von Jean Paul herausgestellte Verdecktheit der inneren Kausalkette und die komplexe Verwechslung, die erst das Gelingen des Romans bewirkt, werden von Blanckenburg nicht herausgearbeitet. Allenfalls deutet sich die Problematik an. Vom Ganzen des Romans wird von Blanckenburg gefordert, daß es „alle die innern Ursachen, alle die geistigen Zustände, verbunden mit ihren äußeren Veranlassungen, vermöge derer die äußeren Begebenheiten so, und nicht anders erfolgt sind, anschauend erkennen"320 lasse. Dabei ist insbesondere zu beachten, daß „jeder Eindruck, jede Begebenheit [...] Spuren" im Charakter der Hauptperson, um deren Inneres es geht, „zurück lassen" muß, „die wir an dem Eindruck, 314 Zu den ,Blindheiten' der Blanckenburgschen Theorie gegenüber ihrer Vorlage in Wielands „Agathon" siehe im einzelnen Jürgen Jacobs: „Die Theorie und ihr Exempel. Zur Deutung von Wielands Agathon in Blanckenburgs Versuch über den Kornau". In: GRM 31, 1981, S. 32-42. 315 Blanckenburg: Versuch über deti Reman, S. 257. 316 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 305 ff. 317 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 261. 318 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 340. 319 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 263. 320 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 315.
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den die folgende Begebenheit macht, erkennen".321 Wenn Blanckenburg an mehreren Stellen schreibt, daß die „äußere Gestalt und Form"322 einer Geschichte vom Autor beliebig verändert werden könne, so steht dies zwar in einer gewissen Nähe zu Jean Pauls Ausgangspunkt. Doch scheint Blankenburg das Wechselspiel zwischen der inneren und der äußeren Kausalkette, die der Roman darstellen soll, nicht zu problematisieren: Die „äußere Gestalt und Form" kann die innere Geschichte transparent machen, weil zwischen Innen und Außen immer schon ein ,genauer' Zusammenhang besteht. Nicht nur sind die innere und die äußere Verkettung der Begebenheiten jeweils fur sich kausal eindeutig, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Verkettungen.323 Bei Jean Paul hingegen muß in der „äußeren Gestalt und Form" des Romans die innere Verkettung des Geschehens erst erkannt werden. Buchstabe und Geist, d. h. äußere und innere Geschichte müssen zugleich verarbeitet werden, und dabei kann die äußere Geschichte mittels einer Verwechslung ursächlich auf die innere Geschichte zurückgeführt werden. Die Metapher von Blume und Blumenstab stellt dabei explizit die Verbindung zu Jean Pauls Lektüretheorie her, wird doch im EinbildungskraftAufsatz die Leistung der Phantasie als die Ersetzung der Blumenstäbe der bloßen Empfindungen durch lebendige Blumen beschrieben.324 Ähnlich wie bei Sterne kommt es darauf an, den Charakter der Geschichte zu erfassen - und bei Jean Paul heißt dies: ihre buchstäbliche Dimension, insofern sie auf die geistige innere Geschichte verweist und sich vom ornamentalen Anhang der äußeren Geschichte abhebt. Dies aber dürfte nur mittels der „natürlichen Magie der Einbildungskraft" möglich sein. Im Anschluß an diesen Entwurf einer Romanpoetik behauptet Jean Paul, es sei „ein großes Wunder, aber auch eine ebenso große Ehre, daß meine Biographien hierin ganz anders aussehen" als die Mehrheit der deutschen Romane: „nämlich viel besser."325 Er verteidigt seine digressive Neigung und greift dabei auf einen Vergleich mit dem Episodischen zurück: „Meine unvergeßüchen Splitter-, Fem- und Kunstrichter hab' ich leider durch meine Digressionen irre gemacht, obgleich Digressionen die
321 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 319. 322 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 382. Siehe ausführlicher S. 519 ff. 323 Siehe hierzu Lämmert: „Nachwort", hier S. 556: Blanckenburgs Arbeit liege noch die „optimistisch-beharrliche Annahme eines gradsinnigen Kausalzusammenhangs zwischen psychologischer Disposition, Vorfall, Empfindung und Reaktion" zugrunde. Zum Konzept der .inneren Geschichte' bei Blanckenburg siehe S. 556 ff. 324 Siehe VI.l.a/b. 325 Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 412.
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psychologische Geschichte nur verschieben, nicht verfälschen, indes andere Schreiber sie durch ihre Zufälle vernichten und durch ihre Episoden verdoppeln."™ Eine Fußnote erläutert den letzten Punkt: Eine Episode macht aus einem Kunstwerke oder Interesse und die spätere Verbindung vergütet ja die frühere Zertrennung nicht, sondern es ist geradeso, als wenn man Nicolais Nothanker darum an Thümmels Wilhelmine binden und löten und beide für ein Kunstwerk geben wollte, bloß weil jener auf diese fundiert ist.327
Episodik also vervielfacht die Einheit des literarischen Kunstwerks, Digressivität hat hingegen ,nur' eine ver- bzw. aufschiebende Wirkung auf die Geschichte, und das scheint der Sache durchaus förderlich zu sein.328 Jean Pauls Poetik des Romans ist in dieser Hinsicht strikt: Handwerkliche Perfektion wird durchaus eingefordert,329 und Episodik verbietet sich von selbst.330 Es muß nicht nur immer möglich sein, eine Geschichte aus ei326 Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 412. 327 Jean Paul: „Der Jubelsenior [1797/2000]", S. 412. 328 Bereits Rehm schließt sich in seiner umfassenden Würdigung der Jean Paulschen Paratexte diesem Argument an: „So wenig wie die scheinbar planlosen Digressionen, Einschübe und Anreden des Erzählers sollen sie [die Noten] den Illusions- und Spielcharakter des Erzählung oder deren epische ,Integration' stören. Im Gegenteil: sie sollen diese erhöhen und verstärken" (Rehm: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben", S. 22 f.). - Ueding hebt die verzögernde Wirkung des degressiven Moments in Jean Pauls Erzählungen hervor: „Erst der zögernde, umweg-verliebte Erzähler gewinnt Unabhängigkeit gegenüber seinem Stoff, der ihn zu beherrschen droht" (Ueding: „Episches Atemholen", S. 79). An diesen Befund schließt er eine Würdigung des digressiv witzigen Verfahrens an, das er - ähnlich meinem Vorschlag — als Implementierung eines universalen, auf der Grundlage der Exzerpte operierenden Witzes ansieht: Es befreie „die virtuose Verfugung über die getrennten, mannigfaltigen Gegenstände vom Zwang der Häuslichkeit" und verwandle „die Welt des Wissens in eine Sphäre, in der alles möglich ist, alles nach Wunsch geschieht." (S. 80.) Die (immer auch reflektierten) Grenzen dieses Verfahrens werden weiter unten sichtbar werden. 329 „Am Plane der Geschichte selber war - gesetzt auch, ich hätte vergessen wollen, daß es eine wahre ist - darum wenig umzubessern, weil das Werk ist wie meine Hose, die kein Schneider, sondern ein Strumpfwirkerstuhl gemacht, und woran eine einzige aufgehende Masche des rechten Schenkels das ganze Gestrick des linken aufknöpft. Denn es ist ein wesentlicher, aber unleugbarer Fehler des Buchs - den ich leicht aus dem Mangel an Episoden erkläre - , daß, sobald ich aus dem ersten Stockwerk (oder Hefdein) nur irgendeinen brüchigen Quader ausziehe, sofort im dritten alles wackelt und zuletzt nachfällt. Allerdings steh' ich dadurch noch weit von den bessern neuen Romanen zurück, denen man ohne den geringsten Schaden der Komposition und Feuerfestigkeit beträchtliche Stücke ausbrechen und einbauen kann, bloß weil sie nicht, wie mein Buch, einem bloßen Hause, sondern einer ganzen Spielstadt aus Nürnberg gleichen, deren lose abgehenkte Häuser das Kind in seinem Spielschrank aufschichtet, und deren Musaik aus Hütten das liebe Kleine leicht zu seiner Lust gassatim zusammenstellt, wie es nur mag. Einer wahren Historie klebt immer das Verdrießliche an, daß dergleichen nicht zu machen ist." (Jean Paul: „Hesperus", S. 484.) 330 Das Urteil über die Episodik steht ebenfalls in einer gewissen Nähe zur Blanckenburgschen Theorie (siehe ζ. B. Blanckenburg: Versuch über den Reman, S. 307 ff.), die allerdings über das Digressive recht wenig zu sagen hat, jedenfalls im Vergleich zu für Jean Pauls Ro/xanpoetik ansonsten wichtigen Autoren wie Sterne oder Diderot, die das digressive Mo-
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VI. Eine „geheime Verbindung". Werkeinheit bei Jean Paul
nem Text ,herauszuziehen', sondern es darf auch nur eine Geschichte aus der Erzählung gezogen werden können.331 Das Erzählen guter Geschichten ist so durchaus ein zentrales Anliegen. Es ist aber nicht nur die vom Verfasser oft beklagte Vorliebe der Leserschaft für Geschichten („Beim Tor des ersten Kapitels fragen die Leser die Einpassierenden: ,Wie heißen Sie? - Ihren Charakter? - Ihre Geschäfte?' -er. Zur Figuration von Autorschaft und Textualität im Blickfeld der Ökonomie bei Jean Paul. Frankfurt/M. - Berlin - Bern u. a. 1997. Proß, Wolfgang: Jean Pauls geschichtliche Stellung. Tübingen 1975. Raders, Margit: „Der Titel in der Faust-Tradition. Konventionalität, Originalität und Intertextualität". In: Jochen Mecke, Susanne Heiler (Hgg.): Titel - Text — Kontext. Randbesgrke des Textes. Festschriftfür Arnold Rothe %um 65. Geburtstag. Berlin — Cambridge 2000, S. 73-106. Raible, Wolfgang: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungtformen und Folgen eines kulturellen Evolutionspro^esses. Heidelberg 1991. Raulet, Gerard: „Von der Allegorie zur Geschichte. Säkularisierung und Ornament im 18. Jahrhundert". In: G. R., Burghart Schmidt (Hgg.): Kritische Theorie des Ornaments. Wien - Köln Weimar 1993, S. 55-68. —: „Ornament und Geschichte. Strukturwandel der repräsentativen Öffentlichkeit und Statuswandel des Ornaments in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts". In: Ursula Franke, Heinz Paetzold (Hgg.): Ornament und Geschichte. Studien %um Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Bonn 1996, S. 19-43. Raulet, Gerard, Frank-Lothar Kroll: „Ornament". In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u.a. (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4. Stuttgart - Weimar 2002, S. 656-83. Rehm, Walter: „Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser". In: W. R.: Späte Studien. Bern - München 1964, S. 7-96. Reinfandt, Christoph: Der Sinn fiktionaler Wirklichkeiten. Hin systemtheoretischer Entwurf %ur Ausdifferen^ierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis %ur Gegenwart. Heidelberg 1997. —: Romantische Kommunikation. Zur Kontinuität der Romantik in der Kultur der Moderne. Heidelberg 2003. Retsch, Annette: Paratext und Textanfang. Würzburg 2000. Riedel, Wolfgang: „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufkärung. Skizze einer Forschungslandschaft". In: IASL 6. Sonderheft, 1994, S. 93-157. —: „Die Macht der Metapher. Zur Modernität von Jean Pauls Ästhetik". In: Jahrbuch der JeanPaul-Gesellschaft 34,1999, S. 56-94. Rohmer, Ernst: Das epische Projekt. Poetik und Funktion des,carmen heroicum' in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1998. Rolle, Dietrich: „Titel". In: Jan-Dirk Müller, Georg Braungart, Harald Fricke u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin - New York 2003, S. 642—45. Ronberg, Lene Bogh, Kasper Monrad, Ragni Linnet: Two Golden Ages. Masterpieces of Dutch and Danish Painting. Amsterdam - Zwolle - Copenhagen 2001. Rosenfeld, Hellmut: „Titel". In: Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr (Hgg.): Reallexikon der deutschen Uteraturgeschichte. Bd. 4. Berlin 1984, S. 439-54. Rothe, Arnold: Der Doppeltitel. Zu Form und Geschichte einer literarischen Konvention. Wiesbaden 1970. —: Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt/M. 1986. Rüdiger, Horst: „Göttin Gelegenheit. Gestaltwandel einer Allegorie". In: arcadia 1, 1966, S. 121 — 66.
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Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4.
Personenindex
Aarsleff, Hans 176 Adam, Wolfgang 141,144 Adolph,Jörg 9 Adorno, Theodor W. 107, 428, 431 Aertsen, Pieter 41 Alewyn, Richard 98 Allerkamp, Andrea 26, 109, 114 Allkemper, Alo 271 f., 274, 287, 292, 294 Alpers, Svetlana 42 Althusser, Louis 25,109 Anderson, Howard 173,182 Ansorge, Hans-Jürgen 102 Anton Ulrich, Herzon von BraunschweigWolfenbüttel 97-99,100 Antonsen, Jan Erik 90 f. Aristoteles 20, 34, 57, 71 - 7 5 , 78, 83, 89,127,141,151,158, 299, 410-12, 428 Arnheim, Rudolf 414 Arntzen, Helmut 329, 330 Bach, Anna Magdalena 148 Baecker, Dirk 5,22-24,193,327,332 Barner, Wilfried 244 Barthes, Roland 421 Baßler, Moritz 5, 410-12, 420, 423 f., 426 Bateson, Gregory 22, 26 Battersby, Martin 44 Batteux, Charles 249 Bauer, Matthias 54 Baumgarten, Alexander Gottlieb 76, 243f., 251-61,269, 293 Bayle, Pierre 88,104 Beer, Johann 101 Behrens, Rudolf 125,181 Bekes, Peter 68, 96, 107 Bender, Wolfgang 254 Benjamin, Walter 68, 73
Bennett, Jonathan 174 Berend, Eduard 346, 367 Bergengruen, Werner 22 Berhorst, Ralf 298, 300, 303, 318, 403 Bernecker, R. 110 Best, Otto F. 360, 367, 384 Binczek, Natalie 5 f., 8,12 f., 264, 282, 410-13, 432f. Birke,Joachim 159,161,250,299 Biti, Vladimir 117 Blanck, Horst 89 Blanckenburg, Friedrich von 119, 207, 378-81,395,401 Blumenberg, Hans 49 Böck, Dorothea 295,301,361,365,403 Bodmer, Johann Jakob 75, 81,118, 159-61 Bohle, Knud 9 Böhm, Rudolf 90 f. Böhnke, Alexander 9 Booth, Wayne C. 187 Borjans-Heuser, Peter 76,160 Bosse, Heinrich 295, 313, 353, 369 f., 377 Bossu, Rene le 75 Brand Joachim 8,15,90 Brandt, Wolfgang 102 Braungart, Georg 262, 275 Breitinger, Johann Jacob 75,81,145, 1 5 9 - 6 1 , 1 6 4 - 7 1 , 2 0 7 , 259 Breuer, Ulrich 408 f., 417 Breyl, Jutta 8, 86, 91, 99 f. Brinkmann, Henning 75, 79 Brockes, Barthold Heinrich 147, 1 4 9 51 Bruckjan 161 Brugger, W. 34,129 Brummack, Jürgen 329 Bubner, Rüdiger 127,152 Buchholtz, Andreas Heinrich 98
Personenindex
467
Budde, Bernhard 209, 211, 219, 221, 225 Bühler, Karl 90 Bumke, Joachim 85 Bunia, Remigius 10, 16, 20, 35, 46, 60, 85, 102, 111, 277, 330, 364, 392, 398, 411, 416, 428, 431, 434 f. Burdorf, Dieter 300 Buschendorf, Bernhard 404 Budar, Adrian von 386 Butschky, Samuel von 79
Edgerton, Samuel Y. 38 Eggert, Hartmut 54 Ehrenberg, Stefan 135 f. Ehrenzeller, Hans 65, 79, 81, 87, 89, 92, 95, 295, 296, 371 Erb, Andreas 295, 396 f. Erhart, Walter 58,196, 208 f., 223, 228, 232, 239 Esposito, Elena 433 Esselborn, Hans 295, 399 Esterhammer, Angela 117
Cahn, Michael 87 f. Cambi, Fabrizio 360, 366 Camille, Michael 17, 88 Campe, Joachim 226 Campe, Rüdiger 54, 57, 59, 66, 75 f., 122, 1 2 7 - 2 9 , 1 5 1 , 1 6 4 , 210, 215, 224, 227, 251, 272 f., 289, 293 f. Carroll, David 45 Caws, Mary Ann 25 Caygill, Howard 251,257 Cayuela, Anne 8
Fabricius, Johann Andreas 80 Fanning, Christopher 191 Feldmeier, Eckart 161 Fick, Monika 106 Fielding, Henry 101 Fischart, Johann 95 Fischer, Bernhard 243, 245, 249, 292 Fohrmann, Jürgen 24, 8 2 , 1 0 9 , 1 1 4 , 1 5 4 , 271,292, 294,331 Foucault, Michel 41,263 Frangk, Fabian 79 Frank, Manfred 255, 275 f. Franke, Ursula 251 f., 254, 258,286 Frick, Werner 57, 77,116, 119,122, 125,130,163 f., 181, 200 f., 203, 208, 210f., 220, 224,227 f., 232, 378 Friedrich, Caspar David 44 Frow,John 32,45 Fuchs, Peter 24, 109 f., 425
Cervantes Saavedra, Miguel de 43, 59 Chappell, Vere 174 Chartier, Roger 85 f. Chodowiecki, Daniel Nikolaus 325 Cicero, Marcus Tullius 75, 78 f., 126, 128, 3 7 3 - 7 5 Condillac, Eüenne Bonnot de 89 Conrad von Hirsau 79 Culler, Jonathan 110 Dach, Simon 143 Dauss, Markus 38 Day, W. G. 173 de Berg, Henk 5,423 de Hooch, Pieter 41 Derrida, Jacques 9, 24 f., 35, 45 f., 88 f., 107, 109,115, 2 7 6 - 8 1 , 292f., 422, 434 Descartes, Rene 35, 1 1 4 , 1 3 0 , 1 3 3 - 3 5 , 139,174, 252 Dongowski, Christina 300 Dotzler, Bernhard 24, 409 Dotzler, Bernhard 109 Drees, Jan 143 Drux, Rudolf 142-44 Dugast, Jacques 9,15, 48 Dürbeck, Gabriele 259, 299 Duro, Paul 25 f. Eckstein, Evelyn 65,88, 101,341,361 Eco, Umberto 88
Gabriel, G. 250 Gadamer, Hans-Georg 434 Geitner, Ursula 8 Geliert, Chrisdan Fürchtegott 350 GemoU, Wilhelm 10 Genette, Gerard 3f., 6 - 1 6 , 21 f., 51, 52, 65, 84, 87, 89,111, 298, 328, 417 Gerigk, Horst-Jürgen 22 Gessner, Konrad 362 Giesecke, Michael 17 Gijsbrechts, Cornells 44 Gilbert, Creighton 36 Goebel, Ralf 361 Goethe, Johann Wolfgang von 240, 292, 304,315 Goffman, Erving 3, 26—34, 45 Gombrich, Ernst 315,432 Gottsched, Johann Christoph 64-84, 9 0 , 1 0 1 - 0 3 , 108,111, 113,116,126, 141, 147, 1 5 1 - 7 1 , 209, 229 f., 259 Grafton, Anthony 65, 88
468
Personenindex
Greene, Francis Paul 396 Grimmelshausen, Hans Jacob Cristoph von 92, 97, 99,101 Grubmüller, Klaus 377 Grüttemeier, R. 8,17 Gryphius, Andreas 68 Gryphius, Chrisdan 142 Haferland, Harald 8 Hagel, Ulrike 299, 301,312, 328 Hall, Joseph 147 Hallbauer, Friedrich Andreas 80 Hamberger, Georg Christoph 339 Hamesse, Jacqueline 17,19,88 Harsdoerffer, Georg Philipp 69 f., 148 Härter, Andreas 68,157, 160,162 f., 374, 375 Hartmann, Karl-Heinz 54 Haverkamp, Anselm 251,254 Hecken, Thomas 360 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 24, 115 Heidegger, Gotthard 163 f. Heidegger, Martin 109 Hemsterhuis, Franz 261 Herrmann, Hans Peter 76,83,160,161 Heydenryk, Henry 37, 42 Hickethier, Knut 9 Hiebel, Hans 161 Hoek, Leo H. 22 Hoffmann, Arnd 117,129 Hogarth, William 314, 325 Hogrebe, Wolfram 252, 276 Höllerer, Walter 339, 357 Holstein,Judith 42,45 Homann, K. 299 f. Homer 72 Horch, Hans Otto 163 Hörhammer, Dieter 342, 346 Howard, Kathleen 37 Howell, Wilbur Samuel 114 Huber, Martin 91 Huet, Pierre Daniel 65,163 Hugo von St. Viktor 17 Hunfeld, Barbara 344, 364, 392, 404 Hunter,]. Paul 183f., 189,191 Hüser, Rembert 9 Iber, Christian 276 Mich, Ivan 16-20, 84f., 363, 417 Iser, Wolfgang 173, 176, 182-88 Isidor von Sevilla 79
Jacobs, Jürgen 379 Jäger, Georg 47,411 Jäger, Ludwig 425 Jahraus, Oliver 47, 411, 423 Jakobson, Roman 90 Jean Paul 54,65,173,183,195,204, 296-405, 407 f., 413,430 · Jesus 37 Jungius, Joachim 362 Jürgensen, Christoph 8,15 Kämmerer, Harald 329 f. Kant, Immanuel 25, 35, 45 f., 244, 247, 251, 255, 270, 275-84, 288 f., 292, 293, 299 f., 305, 308, 311, 348, 361, 369 Kanzog, Klaus 85 Kemp, Wolfgang 36 Ketelsen, Uwe-K. 142,143,148 - 50 Kilcher, Andreas 328, 333, 336, 339, 360 f , 364 f., 377 Killius, Christina 231, 416 Kimpel, Dieter 54 King, Jeri DeBois 8,11 Kittler, Friedrich 314 Klappert, Annina 21, 302, 360 f., 368, 400 Klopstock, Friedrich Gottlieb 35, 268 Kommerell, Max 346 König, Johann Ulrich von 145-47,151 Köpke, Wulf 350, 404 Koschorke, Albrecht 5 Kosenina, Alexander 305 f., 341 Krajewski, Markus 362-64 Kreimeier, Klaus 7, 327 Kremer, Elmar J. 137 Kroll, Frank-Lothar 246, 284 f. Krueger, Joachim 159, 250, 255, 299 Krüger-Fürhoff, Irmela Marei 289, 293 Kurz, Gerhard 147 f. Kyndrup, Morten 25 La Bruyere, Jean de 89 La Mettrie, Julien Offray de 199 f. Lamb, Jonathan 173, 185 Lämmert, Eberhard 54, 378, 380 Laudando, C. Maria 179,184,189,191 Lausberg, Heinrich 23, 374 Lavater, Johann Caspar 318,325 Lebensztejn, Jean-Claude 36, 42 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 82, 116, 129 f., 138, 159,161, 212, 250-52, 304, 349, 362, 369, 401
Personenindex Lessing, Gotthold Ephraim 105 f., 107, 108,118, 2 6 2 - 6 9 , 2 9 1 , 3 2 5 Lichtenberg, Georg Christoph 105, 319, 325 Linden, Mareta 306 Linn, Marie-Luise 253, 259 Linnet, Ragni 41 Lipking, Lawrence 88 Locke,John 89,173 - 7 8 , 1 8 0 , 1 8 2 , 1 9 2 , 362 Lohenstein, Daniel Kaspar von 98 f. Lohmann, Gustav 295, 317, 368 Lotman.Jurij M. 11,418-23,427,431 Lübbe, Hermann 127 Lücke, Ann M. 37 Ludwig XIV. 74, 84 Luhmann, Niklas 5 - 7 , 24, 31 - 3 4 , 1 9 3 , 315, 331, 399, 4 0 9 - 1 4 , 418 f., 423, 426, 428, 4 3 1 - 3 6 Macksey, Richard 4 MacLachlan, Gale 15, 26, 35, 45, 47 Maclean, Marie 13 Mainberger, Sabine 8,101, 295 Malebranche, Nicolas 134-40,171 Manger, Klaus 215 Manguel, Alberto 19 Marin, Louis 25, 32, 35, 39 f., 42 Martens, Wolfgang 145, 148 f. Martz, Louis L. 147 Marx, Karl 115 Mast, Gerald 47 Mayoux, Jean-Jacques 186 McDonald, Peter D. 52 McKitterick, David 85 McLaverty, James 62, 86 Mecke, Jochen 9,21 Meier, Christel 363 Meier, Georg Friedrich 80,152-55, 1 5 7 - 5 9 , 164 f., 249, 259 Meier-Oeser, S. 270 Mein, Georg 270, 273, 292 Meisen, A. G. M. van 198 Mencke, Johann Burkhard 104 Mendelssohn, Moses 2 4 9 - 5 1 , 259f., 263, 2 6 7 - 6 9 Mengs, Anton Raphael 267 Menke, Bettine 24 f., 109 f., 360, 367, 384 f. Menninghaus, Winfried 35, 268, 277, 2 7 9 - 8 3 , 285, 288, 292 Metz, Christian 9 Metzger, Rainer 315
469
Meusel, Johann Georg 339 Michaels, Walter Benn 413 Michel, Sascha 54, 57, 5 9 , 1 1 7 , 1 2 9 , 2 1 2 , 225, 231, 239 f., 367 f., 382, 396 Michelangelo Buanarroti 39 Michelsen, Peter 55, 59, 120, 173, 180, 183, 185, 207, 213, 216 f., 229 f , 305, 333 f., 344, 348, 353, 360, 367, 369, 396 Miller, J. Hillis 10,187,415 Mirbach, Dagmar 253, 2 5 6 - 6 0 Moennighoff, Burkhard 8,15, 91 Moglen, Helene 173, 176, 182 Möller, Uwe 76,161-63,165 Monrad, Kasper 41 Montaigne, Michel de 195 Morhof, Daniel Georg 362 Moritz, Karl Philipp 2 4 2 - 4 4 , 248 f., 251, 259, 2 6 0 - 6 2 , 2 6 9 - 7 6 , 2 8 4 - 9 4 , 296, 404, 415,428, 429 Moser, Johann Jacob 355,361,363 Mülder-Bach, Inka 266, 268 Müller, Götz 295,298-301,304-06, 311, 318 f., 328, 333, 342, 345 f., 3 4 8 5 0 , 3 5 3 - 5 5 , 360 f , 364 f., 368 f. Müller, Jan-Dirk 121,208 Mulsow, Martin 362 Nadler, Steven 135 Nassehi, Armin 423 Neuber, Wolfgang 8, 96 Nichols, Stephen G. 88 Nickisch, Reinhard M. G. 79 Niefanger, Dirk 8, 96 Novalis 4 - 7 , 22, 52, 319, 344 O'Doherty, Brian 32 O'Neill, John P. 37 Oesterle, Günter 246, 261 f., 266, 285 Opitz, Martin 54,66,71,141,153 Ort, Claus-Michael 411 Ortland, Eberhard 251, 256 Ovid (Publius Ovidius Naso) 195 Pabst, Stephan 319, 325 - 27, 369, 391, 392 Paetzold, Heinz 254 Panofsky, Erwin 38 Papen, Ferdinand Gaudenz von 377 Parkes, M[alcolm] Β. 16 - 20 Pätzold, Detlev 129 Pearson, John H. 43 Peil, Dietmar 91,148 Peirce, Charles S. 30
Personenindex
470
Perler, Dominik 135, 138, 139 Pethes, Nicolas 8,11 Petrus Lombardus 20 Pfotenhauer, Helmut 244-46, 284, 289, 293, 313, 320, 322, 328 Piper, Andrew 48 Pittrof, Thomas 110 Placcius, Vincent 362 Plainer, Emst 305-10,316,318 Plumpe, Gerhard 47, 426, 431 Poser, Michael von 365, 373 - 75, 395 Possevino, Antonio 362 Poussin, Nicolas 42 Preisendanz, Wolfgang 55,119,166, 207 f., 342 f., 346, 370 Presser, Helmut 86, 89 Procaccini, Alfonso 38, 42 Profitlich, Ulrich 346, 348 Pross, Caroline 295, 364, 395 Proß, Wolfgang 298, 304-06, 310, 343, 350, 361,366, 369 f., 396,404 Quintiiianus, Marcus Fabius 315, 374 f.
78 f., 94,
Rabelais, Franfois 95 Rabener, Gottlieb Wilhelm 341 Raders, Margit 92 Raffael 267 Raible, Wolfgang 18 Ramus, Petrus 362 Raulet, Gerard 246, 284 Rehm, Walter 295 f., 341, 355, 368 f., 381 Reid, Ian 15,26,35,45,47 Reinfandt, Christoph 47 Rembrandt von Rijn 41 Retsch, Annette 8 Riedel, Wolfgang 306, 369 Rochford Jr., Ε. Burke 26 Rohmer, Ernst 71 Rolle, Dietrich 86 Renberg, Lene Bogh 41 Rösel, August Johann 354 Rosenfeld, Hellmut 86 Rothe, Arnold 22, 62, 65, 68, 87, 8 9 93,103,106 Rüdiger, Horst 145 Rudolph, Ulrich 135,138,139 Ruesch, Jürgen 22 Saenger, Paul 17,18,363 Saine, Thomas P. 248, 271 f., 291, 292
Sanchez, Yvette 8 Scaliger, Julius Caesar 69 Schaefer, Klaus 210,232 Schäfer, Armin 295,400 Schapiro, Meyer 35,42, 414 Scherer, Christina 9 Schestag, Thomas 10 Schiller, Friedrich 270, 275, 311 Schings, Hans-Jürgen 118 f., 123, 207, 208, 220, 223, 304 f., 401 Schlegel, Friedrich 36, 48, 435 Schmaltz, Tad Μ. 138 Schmalzriedt, Egidius 89 Schmidt, Benjamin Marius 47, 411, 423 Schmidt, Horst-Michael 161,163, 166 f., 169, 251, 254, 257 f. Schmidt, Siegfried J. 47 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 115, 127, 130, 134, 136, 198, 329, 342 f., 349, 361-63, 369 Schmidt-Hannisa, Hans-Walter 295, 331,364, 395 Schmitz-Emans, Monika 295,300,313, 317-20, 322, 324f., 328, 331, 355, 368, 394, 401 Schneider, Sabine M. 246, 284, 285 Scholz, Bernhard F. 68, 70,143 Schöne, Albrecht 68, 70, 93, 96, 98,143 Schönert, Jörg 329 f. Schöpsdau, K. 78, 80 f. Schottenloher, Karl 95, 108 Schulte-Sasse, Jochen 299 f., 305, 308 Schulz, Georg-Michael 163 Schulze, Martin 187,191 Schüttpelz, Erhard 24,109,342,408, 419,427 Schweizer, Hans Rudolf 251, 253 f., 257 Schwitzgebel, Bärbel 90, 94 - 97 Scriver, Christian 148 Seel, Martin 346 Segebrecht, Wulf 141 f., 144, 153-55, 158 Segermann, Krista 91 Seifert, Arno 128 Siegert, Bernard 80, 425 Simmel, Georg 43 Simon, Anne 94 Simon, Ralf 90, 393 Smith, Margaret M. 86, 89 Smithee, Alan 9 Snow, David A. 26 Soffke, Günther 295,361,371,397 Solms, Friedhelm 251, 253, 257 f.
Personenindex Sophokles 106 Specht, Rainer 133-35,138f. Spiel, Johan Jakob 354 Stahl, Karl Heinz 76, 82,165 f., 304 Stang, Harald 58,102, 225, 341 Stanitzek, Georg 5 - 7 , 9,11,13f., 23f., 109 f., 142,149, 327, 333,410-12, 425 f., 433-35 Stein, Peter 17 Steinbrink, Bernd 373 Steiner, Uwe 146 Sterne, Laurence 59, 118,122,172 - 95, 200, 211 - 1 3 , 216, 219, 226, 229, 380, 429 Stevick, Philip 91, 189 f., 415 Stichweh, Rudolf 24, 331, 410, 426 Stierle, Karlheinz 263 - 65, 268 Stoichita, Victor 40-42 Sträter, Udo 147 f. Striker, Gisela 34,129 Strube, Werner 258 Sulzer, Johann Georg 65, 80 Swift, Jonathan 330, 341, 344 Szondi, Peter 243 f., 247 f., 275, 284 Tannen, Deborah 26 Thome, Horst 57,58,121,196,198201, 203, 208, 210, 211, 213, 221,225, 229 Thompson, Michael 360 Thums, Barbara 259 Till, Dietmar 71, 76, 78, 157,165 Todorov, Tzvetan 263, 268, 275 Trede, J. H. 299 f. Tribble, Evelyn B. 88 Ueding, Gert 244, 364, 373, 381, 396 Ullmaier, Johannes 8 Vartanian, Aram 199 Velasquez, Diego Rodriguez de Silva y 42 Vischer, Friedrich Theodor 346 Vogl, Joseph 226 Volkmann, Herbert 69, 87, 89, 92-98, 103,104 Vollhardt, Friedrich 249, 288 Voltaire 89
Voßkamp, Wilhelm 427
471 54, 99,118,163 f.,
Wagenknecht, Christian 91 Wagoner, Mary S. 184 Wahrenburg, Fritz 65, 99, 163 f. Wallat, Cynthia 26 Warning, Rainer 179,181,184 Wegmann, Nikolaus 350 Wehde, Susanne 85, 416 Wehrheim-Peuker, Monika 11 Weinrich, Harald 8, 23, 90 Weise, Christian 96 Wellbery, David Ε. 173, 176 f., 187, 263, 265-68 Werber, Niels 47, 431 Wetterer, Angelika 76,115, 161 f., 165 White, Harrison C. 23 Wickram, Jörg 92 Wieckenberg, Ernst-Peter 16, 91 - 94, 97-99,101,363,417 Wiedemann, Conrad 54 Wieland, Christoph Martin 2,53-64, 117-26, 130,151,173,179, 195-241, 352, 383,401,404 Wiethölter, Waltraud 343, 353, 360, 366, 368, 370 Will, Michael 361 f. Winckelmann, Johann Joachim 243— 48, 259 f., 262, 269 Wirth, Uwe 9,15, 21, 30, 54, 56, 59, 216, 315, 328 Wolf, Werner 8,15,20,45 Wülfel, Kurt 204, 319, 335, 343 f., 360, 369, 377, 393, 396,401 Wolff, Christian 76, 126,129 - 34,136, 138-40, 159,161,171,250, 252, 255 f., 299 Woolhouse, Roger 175 Worden, Steven 26 Wulff, Hans Jürgen 87 Würzner, Μ. H. 208 Zander, Horst 8,190-92 Zedelmaier, Helmut 86, 127, 362 Zelle, Carsten 149 Zeller, Rosemarie 8, 101 Zinsmeyer, Th. 78, 81 Zumthor, Paul 85
Sachindex
Ablöseproblem 46,53,156,242,278 Adresse/Adressierung 3, 25f., 40, 47, 77-79, 81, 84, 86, 90,101,108-14, 116, 144f., 147,151f., 154,171,194, 228, 230, 239, 292f, 331, 338, 340, 357, 359, 370, 400-02, 406 f., 418, 424-37 Akkomodation 115f„ 128,151, 158, 171,229 Allegorie 102,147f., 150£, 166, 245f., 382, 396 Allgemeinheitsfähigkeit der Literatur 7 Literatur Alphabet 18,20 Altarbild 36 Anmerkung Ρ Fußnote, Marginalie Anonymität 1, 54, 62, 100, 236, 430 Anschlußfähigkeit 7,12,18, 21 f., 25, 337 Anschlußmöglichkeit 22, 31, 33, 169 anthropologisch/ Anthropologie 119, 201, 203, 209, 211 f., 219, 224, 270 f., 304-06, 316, 430 Apostrophe 110, 147, 226, 228, 230 f., 238, 348, 370, 384, 387, 392, 400, 402, 404, 418, 426, 430 Appendix 326, 358, 371 £, 376f., 3 8 2 90, 393, 397, 399, 402 f., 430 - Poetik des A. 372, 378, 380 f., 384, 390, 404 Architektur 37 Architekturtitel 99 Asaroton 383 f. Ästhetik 243, 248 f , 251, 253, 260, 275-77, 284, 291, 297 f., 311, 320, 328, 360, 366 - ästhetische Autonomie Autonomie — ästhetische Grenze Grenze — ästhetisches Urteil Geschmacksurteil
Aufklärung 77,107-11, 114f., 126, 129, 149, 151, 229, 267, 331, 340f, 401 - aufklärerische Kommunikation 7 Kommunikation - aufklärerische Literatur Ρ Literatur - aufklärerische Poetik Poetik Ausstellung 41 Autonomie - A. der Darstellung 38 - ästhetische A. 34, 48, 52f„ 171, 242, 287, 292, 296, 404, 434-37 - A . der Kunst 34, 48, 52f., 171, 242, 287, 292, 296, 404, 434 f. - Diff. soziale A. der Kunst / Welt-A. des Kunstwerks 436 f. Autor/Autorschaft 12-16, 47, 58, 60, 90, 92, 94,100,129,154, 334, 337, 380, 393, 395, 398, 400-03, 412, 430 Autorentitel 92 Autorität 88, 224, 291 Autorname 13, 45, 236, 395, 399, 406, 430 Beiwerk -71 Werk Beobachtung 31, 51,174 - 76, 180, 183 f., 186,189,192-94, 198, 200, 210-12, 224, 229, 230, 289-91, 343, 347, 401, 404, 414, 420£, 424, 427, 429, 435 - B.smodus 212 f., 216, 226 f., 228 f., 238 f., 415, 430 - Diff. beobachtbare/unbeobachtbare Welt Welt - Diff. B. erster/zweiter Ordnung 33 - Diff. Operation/B. 6, 31, 174 f., 414, 428, 432 - Diff. Wahrnehmung/B. 416 - kunstspezifische B. 7 Kunst
Sachindex Beschreibung 6, 179, 183,194, 210, 302, 422 - Kunst-B. 243 - 47, 254, 257, 261, 269, 277, 289 f. - Selbst-B. 194, 228, 399, 400, 402 Bewußtsein 31, 174 f., 178,183,188, 192 f., 276, 297, 299, 302 f., 307 f., 317 - bewußtseinskonstitutive Operationen 174 f., 262, 270 f., 299, 302f., 305, 308, 316-18, 325, 327, 329 Bezeichnung Beobachtung - Diff. Unterscheidung/B. 6, 31 Bild 31 - 3 3 , 35-45,192, 262, 266, 286 f., 313, 317, 320-22 - B.lektüre 321-27 bildende Kunst Kunst büdlicher Witz * Witz Bilderrahmen 25f., 32f., 3 5 - 4 3 Bildraum 38 f. Bildungskraft 271 f., 290 blinder Fleck 31,193 f. Blume/Blumenstab 302,377-79 Buch 4,10, 20, 52, 332 f., 386, 394, 397, 416 Buchdruck 17,19,85-89,315,362,417 Buchillustradon 17, 88, 99, 320 - 27 Buchseite 20, 85, 87 Buchstabe 192,297, 312-22, 326f., 347, 352, 356, 380, 407, 412-16 Buchstäblichkeit 6,22,315-18,32428, 347, 350, 352, 356 f., 370, 380, 384, 388, 398 f., 415,420,422, 430 Bündel Text Bündnis 13 f., 47 Charakter 57, 64,106,117, 120 f., 123, 125 f., 177-80,186-88, 1 9 4 - 9 6 , 2 1 0 13,216, 322, 378-80,429 Charakteristik, literarische 435 Code des Kunstsystems Kunstsystem commerdum Leib/Seele-Problem Darstellung 36-43, 125, 159,194, 210, 226, 254, 258, 268, 330, 402, 428 f. - Autonomie der D. 38 - Buchstäblichkeit der D. 347 - Grenze der D. 37 f., 40, 42 f., 119, 239 - literarische D. 76,117, 151 f., 171, 275, 320, 356
473 - Ordnung der D. 35,176,186 f., 189 f. - überfließende D. 353, 359, 370 Deckengemälde 39 Dedikation 71, 7 7 - 8 0 , 1 0 0 Dekonstruktion 6, 30, 208, 228, 367, 396, 410,422, 432 Dichtung Literatur differance 6,422 Differenztheorie 30,32 Digression 87,98,185 - 87,194, 296, 341, 365, 368, 371 - 8 8 , 391, 393, 400-04,415, 430 - witzige Digression 353, 367, 370, 384, 388, 401 Dispositiv, typographisches 16, 85, 89, 92, 417 Doppeltitel 68 f., 73 f., 92, 106, 406 Druckfehler 61,327,357 Edition 85,88 Einbildungskraft 200, 203, 205, 209, 218, 261-75, 289 f , 297-05, 30 f., 311-19, 323-29, 343, 348, 384, 407, 413, 416 eindimensionaler Text Ρ Text Einheit - E. des schönen Gegenstands / des Kunstwerks 242-51,262,265, 269 - Werk-E. 16, 23, 48, 52, 98,230 f., 296 f., 371, 388,403 f., 436 f. Emblem/Emblematik 6 7 - 69, 73, 76, 83,92 f., 98 f., 103,106,112,127,145, 149-52, 406 Emergenz 21,288-90 - emergente Ordnung Ordnung Empfindsamkeit 183, 343 f., 350 f., 396, 399 - empfindsame Kommunikation Kommunikation - empfindsame Lektüre Lektüre Empfindungskraft 271 f., 290, 302, 313, 315 empirisch/Empirismus 82, 116, 12729,152, 172 f., 175, 178, 184, 200, 207, 209,211,224, 379, 430 Episode/Episodik 380 f. Epitext 12 f., 15 Ereignisförmigkeit der Kommunikation -71 Kommunikation Ergon 47,278-88,415
474 Erleben 35 erzählerische Motivierung Motivierung Erzählfiktion 189, 296, 355 f., 390, 398, 401 Exklusion 2, 32 f., 46, 266, 425 Exordialtopik 79 f., 86, 89 exordium ? prooemium extrinsisch/Extrinsisches Motivierung, Rahmung Exzerpt 356, 361 f., 364 f., 367 Evolution des Kunstsystems -71 Kunstsystem Fabel 70-77, 82-84, 152,157f., 162f., 169, 209 Faltung 46, 330, 392 Faszination 165 Fenster 40 Fernsehen 9 Figur - Diff. F./Grund 414 f., 432 - Diff. F./Ornament 315 - 2 2 , 324, 327, 338, 340, 344, 352 f., 357, 359, 371, 388, 403f., 407, 412-20, 425, 427-37 Figuren des Rahmens