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German Pages 418 [420] Year 2013
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 204
Jörg Paulus
Philologie der Intimität Liebeskorrespondenz im Jean-Paul-Kreis
De Gruyter
ISBN 978-3-11-030952-2 e-ISBN 978-3-11-030967-6 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung............................................................................................................. 1
I
Theorie der editorischen Praxis
I.1
Theoretische Philologie als methodische und disziplinäre Option ........ 7 1. Lesarten philologischer Reflexion ........................................................... 7 2. Vermessung einer Lücke ........................................................................... 9 3. August Böckh und die Idee einer Theoretischen Philologie ............ 16 4. Autopsie ..................................................................................................... 22 5. Praxis und Theorie ................................................................................... 27
I.2
Philologie der Gefühle ................................................................................. 31 1. Philologische Repräsentation ................................................................. Repräsentation und Privileg ............................................................... Experimentalsystem ............................................................................ Jean-Paul-Bezug (I)..............................................................................
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2. Textkonstitution und Emotionalität ..................................................... 46 Traditionsspuren .................................................................................. 46 Jean-Paul-Bezug (II) ............................................................................ 59 3. Kommentar und Emotionalität ............................................................. Theorieaspekt des Kommentierens .................................................. Lemmatisierte Liebe ............................................................................ Jean-Paul-Bezug (III) ..........................................................................
62 62 65 72
4. Liebesbriefforschung als integrierende Philologie .............................. 75 Liebe verstehen und erklären ............................................................. 75 Lesarten des Chronotopos »um 1800« ............................................. 80
II
Verlaufs- und Verzeichnungsformen von Liebe in Jean Pauls Briefwechsel (1783–1801)
II.1
Rahmenbedingungen ................................................................................... 85 1. Fragenkurrikulum einer Philologie des Liebesbriefs .......................... 85 2. Briefstellernorm und Liebesbriefkultur um 1800 ............................... 87
II.2
Erfahrungen der Liebe und Formen ihres Ausdrucks ........................... 91 1. Vorformen und Formen des Werben ................................................... 91 Schreibanlässe (91) – Erfolge und Misserfolge des Werbens (100) – Philologisches Korrolar (108) – Entdecken der Liebe durch Schreiben (110) – Rolle von Mittlerpersonen I: Vertrauenspersonen (113) – Rolle von Mittlerpersonen II: Instanzen (121) – Verführungsstrategien (142)
2. Wahrnehmungshorizonte ..................................................................... 150 Verständnis vom Ich und vom Anderen (152) – Zweifel und Selbstzweifel (156) – Formen des Selbst- und Weltbezugs (157) – Gefühl der Zurückweisung (158) – Eifersucht (162)
3. Sprachvermögen und Wahl der Liebessprache ................................. 171 Wechselseitige sprachliche Beeinflussung I (177) – Bedeutung von Dialekten und Stilebenen (180) – Exkurs zur Frage des Dialektes: Der Schreibstil des ›infamen Menschen‹ (181) – Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Liebesrede (194) – Wechselseitige sprachliche Beeinflussung II (230) – Sprachwechsel (238) – Fremdsprachigkeit (243)
4. Formen des Scheiterns und Gelingens ............................................... 255 Rhythmus der Korrespondenz (255) – Treue- und Ehebrüche (260) Dauer der Beziehung (263) – Unauflösliche Missverständnisse (285) – Aufkündigung der Liebe (291) – Varianten des Abschieds (295) – Erkalten der Gefühle (295)
5. Figuren der Wiederholung und Strategien der Intensivierung ....... 296 Figuren der Selbstdarstellung (299) – Transfer von Körperlichkeit (301) – Lieben nach Texten (304)
II.3
Erfahrungen der Liebe und Realität des sozialen Lebens.................... 307 1. Rahmenbedingungen der Korrespondenz ......................................... 307 Soziale und familiäre Akzeptanz (308) – Einsprüche und Mitspracherechte (308) – Rechtliche Schranken (319) – Medizinische Vorbehalte (320) – Legitimation der Beziehung (320) – Altersunterschiede (322) – Ökonomische Bedingungen (323) – Berufliche und räumliche Gegebenheiten (323)
VI
2. Verhältnis und Dynamik der Geschlechter / Rollenmuster ........... 323 3. Innere und äußere Gefährdungen der Beziehung ............................ 326 Krisen (326) – Krankheiten (329) – Emanzipationsansprüche (330) – Sittliche Vorbehalte (332) – Verhältnis von Realem und Imaginärem (340) – Andere Liebesbeziehungen (343)
III
Spuren der Simultanliebe
III.1 Verlaufsmuster: »an der Hand, im Briefe und im Buch« ..................... 351 1. Rekapitulation ......................................................................................... 351 Doppelperspektive............................................................................. 351 Exemplarische Integration ............................................................... 352 Text und Differenzialkommentar ................................................... 354 2. Metaphilologische Analyse ................................................................... 362 Abwägung der philologischen Optionen ...................................... 362 Problem der Unhintergehbarkeit ................................................... 362 Liebesbriefe und Lebensformen .................................................... 365 Brief-Akten und Akteure ................................................................. 368 III.2 Coda: »Aus einem Glase ins andere gießen«............................................ 373 1. Spuren einer Briefbegegnung ............................................................... 373 2. Tritos Anthropos.................................................................................... 376
Siglen, Textauszeichnungen und Literaturverzeichnis ............................. 383 Register .................................................................................................................... 408 1. Register der Leitbegriffe zur Liebesbriefforschung....................... 408 2. Personenregister ..................................................................................... 409 3. Register der Werke Jean Pauls ............................................................. 412
VII
Vorbemerkung
Philologisiren […] entspricht dem Experimentiren. (Novalis, Das Allgemeine Brouillon)1
Gefühle gehören nicht zu den angestammten Gegenständen der Philologie. Bei dieser handelt es sich, folgt man alten Wissenschafts-Stereotypen, um eine papierene, ›staubtrockene‹ Disziplin. Das Leben, so scheint es, spielt sich auf anderen Schauplätzen des akademischen Feldes ab. Kognitionswissenschaften, Psychologie, Soziologie und Kulturwissenschaften haben die Erforschung von Gefühlswelten und von darin herrschenden Vertrauensverhältnissen zu ihren Aufgaben gemacht. Das Desinteresse dieser Fächer an philologischen Haarspaltereien scheint verschmerzbar zu sein: Gefühle, die aufs Papier gebracht wurden, können als verdächtig gelten, allenfalls Figurationen einer schriftlichen Gefühlsinszenierung zu sein. So nimmt es denn nicht Wunder, dass wissenschaftliche Arbeiten, die sich in den vergangenen Jahren Gefühlskulturen und darin nachzuweisenden Formationen der Intimität gewidmet haben, den Eindruck vermitteln, auf philologische Detailarbeit könne verzichtet werden, da es doch um ein Gesamtbild der Gesellschaft, ihrer Individuen und deren jeweiligen Gefühlsadministrationen geht.2 Eine Literaturwissenschaft, die sich hauptsächlich als ein Zweig der Kulturwissenschaft versteht, hat diese Haltung zumindest partiell übernommen; ihr traditionell philologischer Aspekt wurde dabei zunehmend an den Rand gedrängt. In Abgrenzung dazu soll es im Folgenden um eine Reintegration 1
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Novalis, Werke, Bd. 2, S. 648. Die Zitierweise der Arbeit ist derjenigen des Editionsprojektes angepasst, das darin reflektiert wird – der vierten Abteilung der historischkritischen Jean-Paul-Edition. Nachweise aus allen vier Abteilungen der Jean-PaulEdition werden sigliert im Fließtext verzeichnet, sofern sie nicht abgesetzt und als gleichsam integrale (Brief-)Dokumente im Text stehen. In diesen Fällen erfolgt der Nachweis in Fußnoten. Alle anderen Nachweise finden sich im Fußnotenapparat, beim ersten Auftauchen vollständig, danach jeweils als Kurztitel. Vgl. die grundlegenden Studien von Niklas Luhmann (v.a. Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1994 [zuerst 1982], sowie die »Übung« mit dem Titel Liebe [Frankfurt/M. 2008]) und Anthony Giddens (The Transformation of Intimacy: Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societies, Cambridge 1992); vgl. auch die zwar primär theatergeschichtlich ausgerichtete, begriffs- und mentalitätsgeschichtlich aber weit ausholende Arbeit von Marianne Streisand, Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der Intimität auf dem Theater um 1900, München 2001.
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der zwei literaturwissenschaftlichen Wissenskulturen gehen. Insofern folgt die Studie einerseits der Idee einer ›Rephilologisierung‹ der Literaturwissenschaft. Sie verknüpft dabei aber andererseits genuin philologische Fragestellungen mit einem kulturwissenschaftlichen Forschungsprojekt zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs.3 In einer Zeit, in der in vielerlei Zusammenhängen die Kluft zwischen den beiden großen Fächerkulturen, der naturwissenschaftlich-technischen und der geistes- beziehungsweise humanwissenschaftlichen, beklagt wird, und die intellektuell, bildungspolitisch, institutionell und pädagogisch große Anstrengungen unternimmt, um diese Kluft zu überwinden, könnte die vergleichsweise unauffällige innerdisziplinäre Kluft zwischen einer kulturwissenschaftlich und einer philologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft allerdings fast vernachlässigenswert erscheinen. Und doch scheint es einen Zusammenhang zwischen dem großen und dem kleinen Auseinanderdriften zu geben. Denn die Abgrenzung der entschieden theoretisch orientierten Kulturwissenschaft vollzieht sich ja namentlich auch gegenüber einer eher handwerklich beziehungsweise ›technisch‹ ausgerichteten philologischen Editionspraxis. Die Hauptabsicht meiner Arbeit ist es, diesem wechselseitigen Sich-Entfernen entgegenzuwirken. Diese Grundidee habe ich verschiedenen biographischen und beruflichen Konstellationen und Begegnungen zu verdanken. Sie einzeln aufzuführen, würde freilich den Einzelfall zu stark ins Licht rücken und die Arbeit in einen allzu persönlichen Zusammenhang stellen, über den hinaus ich wenigstens ein Stück weit zu einer Verallgemeinerung gelangt zu sein hoffe. Einige Personen müssen aber doch genannt werden, die das Projekt angeregt, gefördert, begleitet und unterstützt haben. Die entscheidende Anregung erhielt ich von Renate Stauf und durch die Mitarbeit an dem von ihr ins Leben gerufenen Forschungsprojekt zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs. Dafür danke ich ihr herzlich. Renate Staufs Vermutung, dass sich die Literatur- und Kulturwissenschaft beim Versuch, eine Kulturgeschichte des Liebesbriefes zu erarbeiten, auf Überraschungen werde einzustellen haben, scheint sich inzwischen in vielerlei Hinsicht zu bestätigen. Der von ihr zusammen mit Annette Simonis und mir 2008 herausgegebene Band Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und dessen Aufnahme in Wissenschaft und Publizistik deuten darauf hin.4 Meine eigene Position habe ich seither aufgrund der verstärkten 3
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Dies im Sinne von Steffen Martus, Philologie ist Kulturwissenschaft! In: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar 2004, S. 252–269. Vgl. insbesondere die ausführliche, in Arbitrium erschienene Rezension von Ulrike Leuschner (2009,3, S. 334–338). Eine über die fachwissenschaftliche Ebene hinausreichende Diskussion wurde durch die kritische Rezension von Robert Vellusig angestoßen (Robert Vellusig, To whom it may concern. Facetten einer Geschichte des Lie-
Berücksichtigung des philologischen Aspekts etwas modifiziert, namentlich das Jean Paul’sche Konzept der »Simultanliebe« stellt sich hier nunmehr etwas anders dar als in meinem Aufsatz im genannten Liebesbrief-Band. Andrea Hübener, der ich das Buch zueigne, hat die Arbeit daran von Beginn an begleitet. Ihr gilt mein herzlichster Dank. Wichtige Anregungen habe ich auch in Renate Staufs und Cord-Friedrich Berghahns Braunschweiger Forschungscolloquium erhalten.5 Mein Dank gilt insbesondere auch den anderen am Forschungsprojekt Mitwirkenden: Roman Lach, Annette Simonis und Sonja Brandes. Die Erfahrungen, die ich im Handwerk der Philologie gesammelt habe (und nicht nur diese), verdanken sich zu einem ganz wesentlichen Teil Norbert Miller als dem Hauptherausgeber der an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften besorgten historisch-kritischen Edition der Briefe an Jean Paul. Auch die Gespräche innerhalb der Arbeitsstelle der Jean-Paul-Edition – vormals in Potsdam wie auch danach in Berlin – sowie in den Arbeitstreffen mit der von Helmut Pfotenhauer geleiteten Jean-PaulEdition in Würzburg haben wesentlich zum Profil der vorliegenden Studie beigetragen. Vor allem aber baut sie auf Ergebnisse auf, die im Editionsprozess gemeinschaftlich erarbeitet wurden. Ich bin mir bewusst, dass sich diese Form von Zusammenarbeit in einem wissenschaftlich-nüchternen Anmerkungsapparat nur unzureichend würdigen lässt. Stellvertretend für alle Mitarbeiter sei daher an dieser Stelle Monika Meier und Dorothea Böck sowie Angela Goldack, Markus Bernauer, Angela Steinsiek und Michael Röllcke gedankt. Mein besonderer Dank gilt schließlich auch Frederike Schröder von der TU Braunschweig, die mir bei der Einrichtung des Manuskriptes mit Sachverstand und Geduld geholfen hat. Für Fehler oder Irrwege, auf die die Arbeit geführt haben könnte, sind alle, denen ich zu Dank verpflichtet bin, natürlich gleichwohl nicht verantwortlich zu machen. Auf einige Besonderheiten der Studie, die bei einer Querlektüre erklärungsbedürftig sein könnten, sei vorab hingewiesen: Briefzitate folgen in der
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besbriefs. In: IASL online, 26.06.2010; URL: , Datum des Zugriffs: 30.06.2010) und von Jürgen Kaube als Aufruf gegen »kommunikative Verzichterklärungen« in der Kulturwissenschaft insgesamt gedeutet (Jürgen Kaube, Saft und Stoff: Geschichte des Liebesbriefs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.05.2010, S. N3; vgl. auch Ders., Vollzugslust. Historie des Liebesbriefs. In: FAZ, 27.5.2009, Nr. 121, S. N3, Beilage Geisteswissenschaften). Cord-Friedrich Berghahn und Renate Stauf sei des Weiteren für die Möglichkeit gedankt, eine Vorfassung der theoretischen Grundsatzüberlegungen in das Jubiläumsheft der Germanisch-Romanischen Monatsschrift aufzunehmen. Jürgen Paul Schwindt in Heidelberg sowie Bettine Menke in Erfurt (samt Dietmar Schmidt und Helga Lutz) danke ich für die sehr anregenden Gelegenheiten, diese Thesen in ihren (in Erfurt komparatistisch, in Heidelberg altphilologisch ausgerichteten) Forschungscolloquien zur Diskussion zu stellen.
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Auszeichnung (mit Modifikationen, die aus der Zusammenstellung der Textauszeichnungen hervorgehen) den zugrundeliegenden Editionen, die jedoch durchgängig in Antiqua-Schrift zitiert werden, auch dort, wo sie in Fraktur gesetzt sind. Kapitälchen als Textauszeichnung sind dabei doppelt belegt: in Zitaten stehen sie für lateinische Schrift bzw. Antiqua-Schrift im zitierten Originaltext, sofern dieser überwiegend in Kurrentschrift bzw. Fraktur steht; außerhalb von Zitaten sind durch Kapitälchen die Leitfragen der LiebesbriefForschung markiert. Jean Paul Friedrich Richter wird im ersten Teil, in dem er vor allem als Person der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte auftritt, mit dem von ihm selbst gewählten Pseudonym Jean Paul aufgeführt, im zweiten und dritten Teil, worin er vor allem als Korrespondent im Briefnetzwerk agiert, beziehe ich mich auf ihn unter seinem Nachnamen »Richter«, mit dem er seine Briefe zumeist unterschreibt. Die Sigle »J.P.« bei Ergänzungen in eckigen Klammern bezieht sich auf den Verfasser der Studie, nicht auf ihren Protagonisten. Der Asteriskus als Index, der auf Leitbegriffe im Fragenkurrikulum verweist, wird auf S. 86 erläutert, die mit Asterisken ausgezeichneten Verweise werden im entsprechenden Register am Ende zusammengestellt.
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I Theorie der editorischen Praxis
I.1 Theoretische Philologie als methodische und disziplinäre Option
Zusammenfassung In der Formierungszeit der philologischen Disziplinen gab es einen intensiven Austausch zwischen praktischen und theoretischen Entwürfen der Philologie. Dies änderte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts. Philologie und Literaturtheorie gingen nunmehr getrennte Wege. Normalerweise wird dies mit dem Erfolg des philologischen Positivismus erklärt. Vertreter einer theorieorientierten Philologie wie August Böckh (1785–1867) waren jedoch keine Anti-Positivisten. Der theoretische Impuls verschwand nicht, sondern ging in eine theoretisch reflektierte Praxis auf. Für die Gegenwart, die ein neues Interesse an einer Verbindung von Philologie und Theorie zeigt, kann Böckhs Begriff »Theoretische Philologie« eine methodologische Option darstellen, dessen Potential bisher noch nicht erkannt und ausgeschöpft ist. Diese Formel kann seinerseits nach Böckhs Prinzip der philologischen »Bewährung« auf ihre epistemische Tauglichkeit hin erprobt werden. Dieser Bewährungstest lässt sich paradigmatisch bemessen als praktisches explanatorisches Potential im Rahmen der Erforschung von Gefühlskulturen. Diese philologiepraktische Wendung erlaubt es, die theoretische Frage nach einem realistischen oder konstruktivistischen Entwurf von Philologie neu zu stellen.
1. Lesarten philologischer Reflexion Was eine philologische Frage sei und was sie auszeichne, danach wurde jüngst in einer Publikation gefragt, und zugleich auch danach, ob die Frage nach der philologischen Frage selbst wiederum als eine philologische Frage anzusehen ist.1 Geht man davon aus, dass es möglich ist, letzteres positiv zu beantworten, dann würde dies ein neues Licht auf jene Stellungnahmen werfen, die im Kontext der in den vergangenen Jahren diskutierten Option einer »Rephilologisierung« der Literaturwissenschaften die Philologie zu positionieren versuchten,2 indem sie sie in ein spezifisches Verhältnis zu anderen Konzepten des Wissenschafts- beziehungsweise Kultursystems setzten. In einer ganzen Reihe von Publikationen wurden entsprechende Verhältnisse oder Bezüge zwischen der Philologie und einem – offenbar variablen – Konzept (nennen 1
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Vgl. Jürgen Paul Schwindt, Einleitung. In: Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung, hg. von Jürgen Paul Schwindt, Frankfurt/M. 2009, S. 11–21, hier bes. S. 12–14. Grundlegend zu dieser Debatte: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, hg. von Walter Erhart, Stuttgart, Weimar 2004.
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wir es ein Dispositiv3) hergestellt: von der »Einrichtung der Philologie« ist die Rede,4 vom »Ethos der Philologie«,5 aber auch von der » Macht der Philologie«6 und von ihren »Verheißungen«.7 Mag die zu Grunde liegende Formel auch nicht neu, sondern in der Tradition der Disziplin begründet sein,8 so bleibt doch ihre Reaktivierung bemerkenswert. Die abgeleiteten Formeln scheinen um ein unausgesprochenes Zentrum des Reflektierens über Philologie zu kreisen. Sucht man indes nach einer gemeinsamen Ausrichtung dieser Reflexion, so wird die vermutete Grundtendenz schon wieder unsicher. Die Annahme, dass das Wissen der Philologie »Reflexionswissen« sei,9 verweise, so Peter-André Alt, auf ein »intellektuelle[s] und methodische[s] Potential«, dessen Relevanz »über die Horizonte der bloßen Beschreibung« hinausreiche.10 Die spannungsvolle Konfiguration von Reflexionswissen und Beschreibungshorizont lässt sich in der Tat bereits auf dem Feld der durch diese Überschriften umrissenen wissenschaftlichen Landschaft nachzeichnen, beziehen sich doch die einen auf die innere Organisation der Philologie, die anderen auf deren äußere Wirkung, sei es im Modus einer »Sehnsucht nach Präsenz«11 sei es im Modus einer in Hinblick auf die Unendlichkeit möglicher 3
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Der Begriff des Dispositivs wird hier und im Folgenden in einem weiteren Sinne verwendet, wie dies jüngst Giorgio Agamben vorgeschlagen hat, einem Sinn, der für die Erforschung von Briefkulturen zugleich problematisch ist und produktiv sein kann (vgl. Agamben, Was ist ein Dispositiv, Berlin 2008; die Problematik und der Perspektivenreichtum des Agamben’schen Ansatzes in der Briefkultur ist als ein Sonderfall der entsprechenden Konstellation im Rahmen des Lebens anzusehen, vgl. hierzu: Toni Tholen, Philologie im Zeichen des Lebens. In: Philologie und Kultur: Die Germanisch-Romanische Monatsschrift 1909–2009, hg. von Renate Stauf, Cord-Friedrich Berghahn [Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 59.1, 2009], S. 51–64, besonders S. 54; zu den Konsequenzen von Agambens Prognosen im Rahmen von Briefkultur vgl. Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus, Liebesbriefkultur als Phänomen. In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus, Berlin, New York 2008, S. 1–19, hier bes. S. 17–19). Gegenüber dem Diskurs-Begriff hat der des Dispositivs jedenfalls den Vorzug, nicht allein auf sprachliche Strukturen, sondern auch auf schwerer greifbare, amorphe Konstellationen des Lebens beziehbar zu sein. So lautet ein Kapitel in Heinz Schlaffers facettenreichem Buch Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis (Frankfurt/M. 1990, S. 159–178). Hartmut Laufhütte, Vom Ethos der Philologie. In: Euphorion 97, 2003, S. 265–283. Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie, Frankfurt/M. 2003. Peter-André Alt, Die Verheißungen der Philologie, Göttingen 2008. Vgl. z.B. Hans Reichardt, Die Gliederung der Philologie, Tübingen: Fues 1846; Friedrich Heerdegen, Die Idee der Philologie. Eine kritische Untersuchung vom philosophischen Standpunkt aus, Erlangen: Deichert 1879. Alt, Die Verheißungen der Philologie, S. 5 u.ö. Ebd. Zur Kritik Alts an der von Gumbrecht beschworenen »Sehnsucht nach Präsenz« vgl. ebd., S. 13–14; im Anschluss an Sartre argumentiert Alt, die von Sprache (als dem
Verknüpfungen offenen Erwartung. Eine Prägung Friedrich Schlegels aufnehmend, charakterisiert Alt die »konstruktive Leistung der Philologie« dabei als das Resultat ihrer Eigentümlichkeit als »synthetische« Wissenschaft.12 Das in Frage stehende gemeinsame Zentrum der philologischen Reflexion könnte, so will ich im Folgenden argumentieren, in der Tat wenn nicht in einer Synthese so doch wenigstens in einer Integration der widerstrebenden Tendenzen bestehen, im Entwurf einer autoreflexiven Philologie, die Einrichtung und Verheißung, Macht und Ethos sowie die Praxis der Philologie (in einem Sinn, der noch zu bestimmen sein wird) vereinigen würde. Als terminologische Optionen stehen die einer Theorie der Philologie und die einer Theoretischen Philologie bereit. Diese Optionen sind nicht notwendigerweise konvergent. Als Prolegomena zu einer (Neu-)Positionierung der Philologie, welche mögliche Abweichungen zwischen diesen beiden Optionen in Rechnung stellt, sind die nachfolgenden Ausführungen zu verstehen. Methodologisch wäre dies als Beitrag zu einer »Metaphilologie« zu begreifen;13 der Hypothese einer produktiven Differenz zwischen den Konzepten ›Theorie der Philologie‹ respektive ›Theoretische Philologie‹ wäre damit noch nicht vorgegriffen.
2. Vermessung einer Lücke »Das Interesse an Theorie ist in der Philologie keine feste Größe«, so konstatieren Lutz Ellrich und Nikolaus Wegmann 1990 in einem Beitrag14 zu Paul de Mans Versuch einer Fundierung der Philologie im archimedischen Punkt des »theoretischen Lesens«.15 Phasen der intensiven Theorieproduktion hätten sich stets, so die Verfasser, mit solchen der polemischen Distanz abgelöst.16 Die deskriptive philologiehistorische Beschreibung, die immer nur
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Gegenstand der Philologie) geschaffene Präsenz könne aufgrund der Unendlichkeit der »durch ihre eigenen Regeln der Verknüpfung« geschaffenen Bezüge immer nur »begrenzt« sein (S. 14). Ebd., S. 27. Den Begriff »Metaphilologie« verwendet Wolfgang Rapp in seiner Studie (Diss. Konstanz 1999) »Sprachdeuteleyen«. Mikrologische Aufsätze zum Schreibverfahren Karl Philipp Moritz’ (urn:nbn:de:bsz:352-opus-6797, Datum des Zugriffs: 30.04.2012), S. 48. Lutz Ellrich, Nikolaus Wegmann, Theorie als Verteidigung der Literatur? Eine Fallgeschichte: Paul de Man. In: DVjs 64, 1990, S. 467–513, hier S. 467. Paul de Man, The Resistance to Theory. In: de Man, The Resistance to Theory, Minneapolis: University of Minnesota Press 1986, S. 3–20; zur Abwägung der Konsequenzen, die sich aus einer Entscheidung für oder gegen eine solche philologische Positionierung (bzw. die entgegengesetzte pragmatische Variante) für Editionen ergeben vgl. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 48–49. Ellrich, Wegmann, Theorie als Verteidigung der Literatur, S. 467.
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selektiv und repräsentativ sein kann,17 verlangt – erstens – nach immer neuer Bestätigung und – zweitens – nach einer philologiehistorischen Erklärung. Holger Dainat geht – mit Blick auf deutsche Verhältnisse – davon aus, dass »[d]ie weit verbreitete positivistische Praxis in der Philologie […] in Deutschland ohne Theoretisierung« auskomme, so dass sich »spätere Theoriediskussionen zumeist auf französische oder englische Konzepte beziehen, was zur Folge hat, dass es in Deutschland so gut wie keinen Widerstand gegen eine äußerst negative Bewertung des ›Positivismus‹ gibt. ›Positivisten‹ sind hier immer die Anderen.«18 Zumindest auf der weltzugewandten Seite der Wissenschaft in ihrer aktuellen Konfiguration scheint sich der Befund zu bestätigen. Theorie und Philologie bilden ein Begriffspaar, dessen Überschneidungsbereich gegenwärtig klein ist. Dies zeigt sich besonders deutlich an den Rändern des philologischen Repräsentationsraumes, in Lexikonartikeln und InternetAuftritten. Auf solch ›popularphilologische‹ Belege soll sich die Argumentation zunächst stützen. In dem bei Studierenden wie Lehrenden und Forschenden gleichermaßen beliebten Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie zum Beispiel fehlt ein Artikel ›Philologie‹, wohingegen der traditionelle Schwesterbegriff ›Philosophie‹ sehr wohl vertreten ist, nämlich als Artikel zum Lemma »Philosophie und Literatur« von Herbert Grabes.19 Dieser schreibt eine kurze Geschichte der Theoretizität unter Aussparung der Philologie, deren Pointe in der Engführung der gleichermaßen halt- und grundlos gewordenen ontologischen und narrativen Ordnungen unter anderem in einem Text wie Jacques Derridas La Carte postale besteht,20 einem Text also, in dem geradezu paradigmatisch ein philologischer Gegenstand der philosophischen Dekonstruktion unterworfen wird, was eine theoretisch-philologische Reaktion geradezu herausfordert. Aber auch wenn im lexikalischen Dispositiv die Rechnung von Ein- und Ausschluss, von disziplinärer Zu- und Abschreibung ohne den Wirt (der Philologie) gemacht wird: in der Rechnung selbst taucht die Disziplin dennoch auf, allerdings eben nur als abhängige Größe. Die Philologie tritt somit ins zweite Glied der Theorie zurück, erscheint als Funktion anderer, der Lemmatisierung würdigerer Begriffe, zum Beispiel – wie zur Bestätigung der These Dainats – des Positivismus (bzw. allgemeiner: der Philosophie). Dabei wird der Verdacht des Positivismus, zumindest nach Auskunft des Metz17
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Bei Wegmann und Ellrich sind die Theoretiker (vertreten durch Wolf, Böckh, Fr. Schlegel und Ast) auf historisch eher überzeichnende Weise in der Überzahl gegenüber den Theorieskeptikern, die einzig durch Otto Jahn repräsentiert sind, was freilich nur darauf hinweist, wie eintönig Theorieskepsis gegenüber dem Theoriepluralismus bereits in der philologischen Gründerzeit ist. Holger Dainat, Der Umgang der germanistischen Literaturwissenschaft mit ihren Grenzen. In: Grenzen der Germanistik, S. 6–22, hier S. 11. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. 2. Auflage, Stuttgart, Weimar 2001, Artikel Philosophie und Literatur, S. 504–506. Ebd., S. 505.
ler’schen Lexikons, hinsichtlich der Philologie einerseits als »Bezeichnung eines bestimmten historischen Paradigmas innerhalb der Geschichte der Wissenschaft im allgemeinen wie der Philologie im besonderen verwendet«, andererseits aber auch »zur wertenden, wo nicht polemischen Kennzeichnung aktueller Tendenzen des Fachs« benutzt, wobei als »positivistisch in diesem Sinne« eine »theoriekritische bzw. -feindliche Haltung, die Beschränkung aufs Sammeln bloßer Fakten oder der Verzicht auf methodische Reflexion« zu gelten habe.21 Zwar wird nun der Positivismus des 19. Jahrhunderts durchaus vom Vorwurf der Theorie-Defizienz freigesprochen, ein theoretischer Impetus wird dann aber doch nur den philosophischen Entwürfen des Positivismus zugestanden, während für den philologischen Positivismus allenfalls konzediert wird, dass »das von der positivistischen Editionsphilologie bereitgestellte Material ein nach wie vor sehr wertvolles Hilfsmittel zur Textinterpretation« darstelle.22 Philologischer Positivismus wäre also theoriefreies Handeln, reine Praxis. Wenn zu diesem Handeln Theorie hinzutritt, so das gängige Bild, entsteht Literaturwissenschaft beziehungsweise Literaturtheorie. Dabei besteht offensichtlich keine notwendige Verbindung zwischen den Sphären. Literaturwissenschaft und Literaturtheorie sind aus der Perspektive der Literatur- und Kulturtheorie durchaus denkbar ohne vorgängige philologische Praxis. Das bereitgestellte Material ist »wertvoll«, aber weder ist es zur epistemologischen Reflexion notwendig, noch ist die Art und Weise der Materialerhebung theorierelevant. Kehren wir zunächst zu den eingangs erwähnten, implizit philologietheoretischen neueren Studien und zu ihren Verfassern zurück; diese stehen – zumindest zum größeren Teil – schwerlich im Ruf der philologischen Leisetreterei. Umso auffälliger ist die subjektive Verankerung ihrer jeweiligen Zugangsweisen. Heinz Schlaffer und Hans Ulrich Gumbrecht inszenieren ihre Blicke auf das Phänomen Philologie aus einer individuellen, biographischen Positionierung heraus,23 während die Beiträge von Laufhütte und Alt aus Vorlesungen anlässlich des Austritts aus bzw. des Eintritts in akademische Institutionen der Philologie hervorgegangen sind, sie gehen also auf Situationen zurück, die traditionell Raum zur persönlichen Stellungnahme lassen. Man mag den hierbei aufscheinenden Lebensbezug der Philologie als Ausdruck einer Hinwendung der Philologie zum Leben (als wissenschaftlichem Gegenstand und als Faktum) betrachten, wie sie in jüngster Zeit zur 21 22 23
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Art. Positivismus (Andreas Kablitz), S. 515–517, hier S. 515. Ebd. Vgl. Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 7, und Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 9–10, S. 14–15 u.ö; vgl. auch die virtuose Inszenierung des wissenschaftlichen Subjekts zu Beginn von Gumbrechts Sammlung Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte (München 2006), bes. S, 7–36.
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Forderung erhoben wurde;24 die Symptomatik eines solchen philologietheoretischen Subjektivismus verweist in der Tat wohl weniger auf einen fundamental erkenntnistheoretischen als vielmehr auf einen strategisch subversiven Subjektivismus: die ›popularphilologisch‹ festgeschriebenen Grenzen werden gleichsam untertunnelt, in Richtung auf die Erschließung einer ›transzendentalphilologischen‹ Position.25 Somit mehren sich die Indizien dafür, dass auch auf dem Feld der Philologie veränderte Fragestellungen zu einer – einstweilen noch unbenannten – disziplinären Neuordnung führen könnten. Das von Nikolaus Wegmann geforderte Interesse der Philologie (also der Philologen) an Theorie könnte daher münden in die Forderung nach mehr Theorie der Philologie (als methodische Option) oder im methodologischen und institutionellen Postulat der Etablierung einer Theoretischen Philologie. Gegenüber der Option ›Theorie der Philologie‹ ergäbe sich dabei eine Umakzentuierung, zumindest nach Maßgabe der grammatikalischen Konstruktion: Theorie der Philologie kann zwar auch selbst Philologie sein, muss es aber nicht, während Theoretische Philologie26 in jedem Fall zugleich und primär Philologie ist, weil das Theoretische hier ja grammatikalisch eine Eigenschaft des Philologischen ist. Die Option ›Theoretische Philologie‹ verfügt dabei über ein höheres Maß an Optionalität, und zwar deshalb, weil sie in jüngerer Zeit kaum oder gar nicht in Anspruch genommen wurde. Dies überrascht namentlich dann, wenn man die Begriffsfügung in Beziehung setzt zu den etablierten Labels ›Theoretische Physik‹, ›Theoretische Chemie‹, ›Theoretische Biologie‹, ›Theoretische Linguistik‹, ›Theoretische Informatik‹ und ›Theoretische Philosophie‹, also zu den Namen von akademischen Teildisziplinen sehr unterschiedlichen akademischen Alters.27 Die gegenwärtige Unsichtbarkeit einer Theoretischen Philologie wird erneut besonders deutlich auf der popularphilologischen Ausenseite der Wis24 25
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Vgl. Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004, sowie Tholen, Philologie im Zeichen des Lebens. Im Sinne der geläufigen »towards a theory of …«-Formel wissenschaftlicher Publikationen; signifikant verzeichnen die Bibliothekskataloge unter diesem Titelanfang u.a. linguistische, soziologische, politikwissenschaftliche, informationswissenschaftliche, glaciologische, philosophische, kaum aber philologische Ansätze auch nur im weiteren Sinne. Als disziplinäre und methodische Option habe ich den Begriff erstmals im Jubiläumsheft der Germanisch-Romanischen Monatsschrift vorgeschlagen, vgl. Jörg Paulus, Theoretische Philologie. Annäherung an eine disziplinäre und methodische Leerstelle. In: Stauf, Berghahn, Philologie und Kultur, S. 33–50. Teildisziplin ist hier und im Folgenden als Äquivalent zum von Daryl Chubin geprägten Begriff subfield in der Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen gebraucht, (discipline, subfield, speciality, subspeciality), vgl. Daryl E. Chubin, State of the Field: the Conceptualization of Scientific Specialities. In: Sociological Quarterly 17, 1976, S. 448–476.
senschaft. Die von den Internet-Suchmaschinen präsentierten Zahlenverhältnisse sprechen für sich: Bei einer allgemeinen, das gesamte Netz einbeziehenden Google-Suche28 für die Begriffskombination der »Theoretischen Physik« (in der flektierten Form, mit Anführungszeichen vor dem ersten und nach dem zweiten Begriff) bzw. für die Formulierung »Theoretische Physik« (im Nominativ) ergeben sich (hier und im Folgenden jeweils gerundete) 76.400 respektive 624.000 Einträge; für die Begriffskombination einer »Theoretischen Chemie« bzw. »Theoretische Chemie« 12.100 respektive 227.000 Einträge; für die analogen Begriffskombinationen der Informatik 33.800 bzw. 216.000 Einträge, der Philosophie 20.800 bzw. 30.200, und auch für die Linguistik ergeben sich immerhin noch 2.700 bzw. 17.100 Nachweise.29 Die Begriffsbildung einer »Theoretischen Philologie« zeitigt hingegen keinen einzigen Beleg, für den Nominativ »Theoretische Philologie« ergibt sich genau ein einziger, der aus einem im Jahr 1850 publizierten Text stammt und in einem spezifisch historischen Kontext zu verstehen ist, der im nächsten Abschnitt dieses Kapitels umrissen wird.30 Diese Zahlen sind natürlich ein Spiegel der historischen Bewegungen im akademischen Feld, der Etablierung (und Nicht-Etablierung) der erwähnten Teildisziplinen, allen voran der Theoretischen Chemie und der Theoretischen Physik.31 Im Unterschied zu Physik und Chemie stand die Philologie im 18. 28
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Groß- und Kleinschreibung beeinflusst das Ergebnis bekanntlich nicht; eine ergänzende Recherche in Stichproben, die ich in anderen allgemeinen Suchmaschinen wie Alexa, Visvo oder Exalead sowie in Metasuchmaschinen wie Metacrawler durchgeführt habe, erbrachte für die vorliegende Fragestellung keine signifikant anderen Ergebnisse. Google-Suche, Suchergebnisse jeweils vom 1.3.2010. Eine bibliographische Statistik auf der Grundlage von Suchergebnissen des Karlsruher Virtuellen Katalogs (KVK) ergibt – im verkleinerten Maßstab – in der Zeitschriftenbibliographie ähnliche Zahlenverhältnisse: 36 Zeitschriften mit »Theoretische Physik« im Titel stehen acht Zeitschriften mit »Theoretische Chemie« im Titel und vier Zeitschriften mit »Theoretische Informatik« im Titel gegenüber. Zeitschriften mit »Theoretische Philologie« im Titel sind hingegen nicht nachweisbar. Der Versuch wurde vor der Publikation meiner in Fußnote 31 erwähnten Ideenskizze zur Theoretischen Philologie durchgeführt. Die Chemie war die Avantgarde-Wissenschaft hinsichtlich der Inanspruchnahme des Theorie-Titels; für sie wurde seit dem frühen 18. Jahrhundert die Differenzierung in einen theoretischen und einen praktischen Aspekt grundlegend (vgl. Mary Jo Nye, From Chemical Philosophy to Theoretical Chemistry. Dynamics of Matter and Dynamics of Disciplines, 1800–1950, University of California Press 1993, S. 36–40; Nye weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ähnlich wie für die Chemie auch für die Astronomie die Differenzierung in einen theoretischen und einen praktischen Aspekt grundlegend wurde, S. 36). Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die allmähliche Etablierung der Formulierung Theoretische Chemie auf dem akademischen Buchmarkt: als Titel von Publikationen findet sie sich im deutschsprachigen Bereich zunächst in lateinischer Sprache, so in Georg Wolfgang Wedels Compendium Chimiae Theoreticae et Practicae (Jena: Bielcki 1715), später in Übersetzungen wie der von Louis
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Jahrhundert unter keinem Abgrenzungsdruck. Die antiquarischen und altertumswissenschaftlichen Diskurse der Zeit Winckelmanns und Christian Gottlob Heynes sind Teil einer idealistischen Wissenschaftskonzeption, in der Philologie als Organ der Vergegenwärtigung des Altertums gleichsam über Bernard Guyton de Morveaus, Hugues Marets und Jean François Durandes Eléments de Chymie, théoretique et pratique (Dijon 1777/78), die unter dem Titel Anfangsgründe der theoretischen und praktischen Chemie 1779 bis 1780 in drei Bänden bei Crusius in Leipzig erschien, übersetzt von Christian Ehrenfried Weigel, der den Text mit Anmerkungen und Literaturverweisen für deutschsprachige Leser versah. Zwei Jahrzehnte später folgte Johann Friedrich August Göttlings Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie, das in 1798–1800 drei Teilen in der Jenaischen Akademischen Buchhandlung erschien, weitere zehn Jahre später erschien David Hieronymus Grindels Handbuch der theoretischen Chemie (Dorpat 1808) sowie Friedrich Strohmeyers Grundriß der theoretischen Chemie (2 Bde, Göttingen: Röwer 1808), in den folgenden Jahren eine ganze Reihe weitere Werke bis hin zu Leopold Gmelins Handbuch der theoretischen Chemie (zuerst Frankfurt/M. 1817), das sich als Standartwerk durchsetzte (vgl. auch Bettina Haupt, Deutschsprachige Chemielehrbücher (1775–1850), Stuttgart 1987, insbes. S. 317–318). In diesem Prozess findet zugleich eine allmähliche Abgrenzung vom Begriff der »philosophischen Chemie« statt, der immerhin noch in Gmelins Handbuch von 1817 als Synonym zur »theoretischen« Chemie verwendet wird (S. 3). Die Etablierung der Theoretischen Chemie auf mathematischer Grundlage fand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts statt, nunmehr nicht mehr in Abgrenzung von der Disziplinierung der Chemie in der philosophischen Fakultät sondern in Angleichung an die Physik (vgl. Nye, From Chemical Philosophy to Theoretical Chemistry, Part II: Physical Chemistry as Theoretical Chemistry, S. 105–223). Ihr folgte seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die Konvergenz von Theoretischer Chemie und Theoretischer Physik im Zeichen der Quantenchemie (vgl. ebd., S. 227–261). Die Physik folgte der Chemie in der ersten Phase der Namensprägung der theoretischen Teildisziplinen nach, vermutlich weil sie per se als theoretisch galt (vgl. ebd. S. 36). Eine Abgrenzung von der philosophischen Fakultät war daher offenbar auch weniger dringlich, so dass sich – im angelsächsischen Sprachraum – der Oberbegriff »Natural Philosophy« für Darstellungen der theoretischen Physik sehr viel länger halten konnte – bis hin zu dem grundlegenden Werk von Lord Kelvin Treatise on Natural Philosophy, das dann aber in der bei Vieweg in Braunschweig erschienenen deutschen Übersetzung den Titel einer »theoretischen Physik« erhielt (vgl. Mary Jo Nye, S. 37). Als Begriffskombination taucht »theoretische Physik« jedoch schon ein Jahrhundert früher auf und zwar in der universitären Differenzierung der Disziplinen. Den Experimentalvorlesungen an den Universitäten treten im Verlauf des 18. Jahrhunderts Veranstaltungen zur Seite, die mit Begriffen einer »dogmatischen« bzw. alternativ dazu einer »theoretischen Physik« angekündigt werden (vgl. Kathrin M. Olesko, The Emergence of Theoretical Physics in Germany: Franz Neumann and the Königsberg School of Physics 1830–1890, Cornell University Press 1980; Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt/M. 1984, S. 338). Ein Lehrstuhl für theoretische Physik ging zum Beispiel 1773 an der Universität Würzburg (im Zuge der Auflösung des Jesuitenordens) aus einer vorausgehenden Professur für »aristotelische Physik« hervor (vgl. Stichweh, Zur Entstehung, ebd.). Um 1865 beginnt dann die spezifische Etablierung der theoretischen Physik als einer mathematisch ausgerichteten Grundlagenwissenschaft, deren Integration als grundlegende Teildisziplin der Physik um 1900 als abgeschlossen angesehen werden kann.
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aller Theoretizität steht. Die darauf folgende Etablierung der Philologie (in ihrem modernen Sinn) nach 1800 ist dann gekennzeichnet von einem zunehmenden Verschwinden der Theorie: die Philologie sinkt gleichsam unter die Linie der Theoriewürdigkeit. Der philologische Positivismus der 1880er bis 1910er Jahre erhebt den Verzicht schließlich zum Prinzip und verklärt ihn zum Verdienst.32 Bemerkenswert für das 20. Jahrhundert ist in dieser Hinsicht allein, dass eine der Theoretischen Linguistik analoge Neubestimmung der Disziplin nicht stattfand (in welchem Verhältnis diese Nicht-Konstitution zur Etablierung von Einrichtungen der Editionswissenschaft – neben den traditionellen der Editionspraxis – und dem Aufkommen der Literaturtheorie steht, wäre eigens zu klären33). Jedenfalls aber bleibt das bloße Konstatieren der bezeichneten Leerstelle, beziehungsweise das digitale Ausloten des begrifflichen (Beinahe-) Leerraums fruchtlos, solange das spezifische Phänomen, das aus der Begriffsbildung hervorgehen soll, ohne historische und systematische Anbindung bleibt.
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Vgl. den umfassend informierenden Band Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp), für den vorliegenden Zusammenhang vor allem die Beiträge von Uwe Meves (Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung, S. 115–203) und Nikolaus Wegmann (Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung, S. 334–450). Vgl. hierzu Rüdiger Nutt-Kofoth, Philologie, Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft. In: Die Herkulesarbeiten der Philologie, hg. von Sophie Bertho und Bodo Plachta, Berlin 2008, S. 25–44, hier S. 38–44.
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3. August Böckh und die Idee einer Theoretischen Philologie Wo immer in historischer oder systematischer Perspektive die Rede auf bereits vorhandene Ansätze zu einer Theorie der Philologie kommt, fällt nahezu zwingend der Name der großen philologischen Gründerfigur August Böckh (1785–1867).34 Bezugstext bildet dabei in erster Linie die (in erster Auflage) von Ernst Bratuscheck auf der Basis von zwischen 1809 und 1865 gehaltenen Vorlesungen Böckhs herausgegebene Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, deren »Erster Hauptteil« den Titel trägt »Formale Theorie der philologischen Wissenschaften«.35 Darin präsentiert Böckh den Entwurf eines aus »Theorie der Hermeneutik« und »Theorie der Kritik« zusammengefügten Programms,36 das indes seiner spezifischen Ausrichtung beraubt wird, wenn man es unter die Friedrich-Schlegel’sche Formel einer »Philosophie der Philologie« fasst, die am Modell einer »Wissenschafts-Kunst« errichtet wird und in theoretischen Aporien endet, aus denen Böckh gerade Auswege
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Zwischen den konkurrierenden Schreibweisen Böckh und Boeckh hat sich die erstere zuletzt durchgesetzt (für diesen Hinweis danke ich Jürgen Paul Schwindt, Heidelberg); in Hinblick auf die Gegenwärtigkeit Böckhs für die Theoriebildung hat sich die Lage seit 1979 zum Positiven geändert; damals nämlich konnte Ingrid StrohschneiderKohrs noch konstatieren, »kaum irgendwo […] in modernen literaturwissenschaftlichen Diskussionen« fänden sich – im Zusammenhang der Frage nach »systematisch durchdachte[n] Theorien wissenschaftlicher Textauslegung« – »Hinweise auf August Boeckh und die Leitgedanken, die seine Theorie der Hermeneutik, seine Interpretationslehre bestimmen« (Ingrid Strohschneider-Kohrs, Der Interpretationsbegriff von August Boeckh. In: Strohschneider-Kohrs, Poesie und Reflexion. Aufsätze zur Literatur, Tübingen 1999, S. 431–453, zuerst unter dem Titel Textauslegung und hermeneutischer Zirkel. Zur Innovation des Interpretationsbegriffes von August Boeckh in: Philologie und Hermeneutik, hg. von Hellmut Flashar und Karlfried Gründer, Göttingen 1979, S. 84– 102). Immerhin ist es Böckh, der im Historischen Wörterbuch der Philosophie (hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel) die Philologie im Artikel »Theorie« repräsentiert (Bd. 10, 1145); vgl. weiterhin: Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 183–184; Wegmann, Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen?, S. 371–384; Tom Kindt, Hans-Harald Müller, Die Einheit der Philologie. In: Grenzen der Germanistik, S. 26–29, sowie umfassend: Axel Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie, Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris. Wien 1992. Leipzig: Teubner 1877; vgl. den unveränderten reprographischen Nachdruck der zweiten, von Rudolf Klussmann herausgegebenen Auflage (Leipzig: Teubner 1886): Darmstadt 1966, der jedoch nur den genannten ersten Hauptteil enthält; vgl. kritisch hierzu Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft, S. 14–15; zur Zuverlässigkeit der von Bratuscheck und Klussmann vorgelegten Textfassungen vgl. ebd., S. 23–24. Vgl. Strohschneider-Kohrs, Der Interpretationsbegriff von August Boeckh, S. 437, sowie G. Pflug, Hermeneutik und Kritik. August Boeckh in der Tradition des Begriffspaars. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19, 1975, S. 138–196.
sucht.37 Die auf das ›Innere‹ der Wissenschaft hin ausgerichtete Reflexionsform dieses Programms, das sich an Studierende des Fachs wendet (und sich dabei gleichsam selbst genügt), bleibt in dieser Hinsicht ›blind‹. Über das Verhältnis der Philologie zur Philosophie äußert sich Böckh hingegen ganz dezidiert in einer Rede, die er anlässlich der Versammlung Deutscher Philologen 1850 in Berlin gehalten hat. Böckhs unter dem Titel Rede zur Eröffnung der eilften Versammlung Deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten, gehalten zu Berlin am 30. September 1850 gedruckter Vortrag38 entstand im Windschatten der Märzereignisse von 1848, deretwegen die Philologen-Versammlung sogar verschoben werden musste. Böckh vertritt in seiner Rede, in der er gleich zu Beginn die Sorgen seiner zusammengeströmten Kollegen in Anbetracht der möglichen »Störung« durch »das Gewühl einer großen Hauptstadt« zu zerstreuen sucht,39 einen gesellschaftlichen Avantgardestatus der Wissenschaften im Allgemeinen und der Philologie im Besonderen: In ihr, so schreibt er, sei »die innere Einheit des Volkes längst gegeben und jede Sonderbestrebung aufgehoben gewesen […].«40 Und auch wenn den politischen »Hoffnungen nicht diejenige Erfüllung zutheil geworden« sei, »die einen Ersatz für die Leiden der Vergangenheit hätten gewähren können«,41 so sieht Böckh doch nun die Voraussetzung für gegeben an, »unbeschadet unserer innigen Theilnahme an den Geschicken des Vaterlandes« unter Absehung von jeder »politische[n] Beziehung« nach den gemeinsamen Grundlagen philologischen Wissens zu forschen.42 Bei aller Betonung philologiegestifteter Einheit (in wissenschaftlicher und politischer Perspektive) durchzieht ein scharfes Bewusstsein der Limitierung, eine kritische Differenzierung zwischen notwendigen und kontingenten Kategorisierungen den Text. Bereits der erste Satz verweist – im Rückblick auf die vorherige Versammlung der »Philologen-Zunft« im altehrwürdigen Zentrum des Humanismus Basel – auf die Verschränkung zwischen realen und imaginären (Sprach-, Kultur- und Landes-) Grenzen. Desweiteren reflektiert er die Versuche der wissenschaftlichen Gesellschaft, vor der er spricht, sich nach außen hin abzugrenzen, eine Bemühung, die aus seiner Sicht fruchtlos ist, da Ausschluss und Einschluss von Individuen sich aus der Tätigkeit selbst ergeben müssten anstatt dieser vorauszugehen. Böckh unterscheidet zwischen dem »wissenschaftlichen und theoretischen« Aspekt auf der einen, der »prak37 38
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Vgl. Wegmann, Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen?, S. 372–373, bes. S. 375 und 380. Wieder in: August Boeckh’s Gesammelte Kleine Schriften, Bd. 2, Reden, gehalten auf der Universität und in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Leipzig: Teubner 1859, S. 184–199. Ebd., S. 184. Ebd. Ebd. Ebd., S. 185.
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tischen Anwendung« auf der anderen Seite,43 um dann aber umso dezidierter auch diese Abgrenzung in Hinblick auf die Philologie als gegenstandslos zu kennzeichnen: Dieser Gegensatz nämlich verschwinde »bei näherer Betrachtung […] ganz«, da die praktische Philologie identisch sei mit dem »Erlernen der ersten wissenschaftlichen Gründe [derselben] selbst«, die Praxis hier mithin nichts anderes sei »als der Anfang der Theorie«, wohingegen »in der Anwendung bestimmter [anderer] Wissenschaften auf das Leben« außerhalb des Unterrichts die Praxis keineswegs identisch sei »mit den Anfängen der Theorie«, sondern dieser »theoretischen Philologie« nachfolge.44 Der hieraus folgende emphatische und integrale Begriff von Philologie soll es erlauben, »die historische Construction des gesamten Lebens, also sämmtlicher Bildungskreise und Erzeugnisse eines Volkes in seinen praktischen und geistigen Richtungen« zu thematisieren, mithin »eine Unendlichkeit von Gegenständen, die kein Einzelner alle mit gleicher Tiefe wird ergründen können […].«45 Aus diesem Grunde bleibe die Philologie, so Böckh, »eine unendliche Aufgabe, deren Lösung wir durch Annäherung entgegengehen, und wenn nicht aus anderen Gründen, wird sie schon aus diesem niemals aufhören und untergehen, weil sie niemals erschöpft und geschlossen werden kann.«46 Böckhs Rede bietet für die optionale Begründung einer Theoretischen Philologie wichtige Anhaltspunkte: Zwar kann der auf einen zugleich realistischen und romantischen Welt- und Wissensbegriff gegründete wissenschaftliche Totalitätsanspruch, der hier mit der Klassischen Philologie einhergeht, von einer Theorie, die Nietzsches philologiekritische Wendung ebenso wie die Repräsentationskrise des 20. Jahrhunderts bis hin zur Dekonstruktion zu reflektieren hat, allenfalls partiell wieder aufgenommen werden, gerade weil die genannten Umwälzungen zu einem beträchtlichen Teil (sieht man von Nietzsche einmal ab) außerhalb von Diskussionszusammenhängen stattfanden, die in einer rekursiven Disziplinierung der Theoretischen Philologie zuzurechnen wären (einer rekursiven Disziplinierung, die derjenigen entspräche, mit der zum Beispiel Isaac Newton heute als Vertreter einer Theoretischen Physik avant la lettre behandelt wird).47 Aber das Ausgenommensein der Philo43 44 45 46 47
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Ebd., S. 186. Ebd., S. 187 (Hervorhebung J.P.) Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Zu Nietzsches wissenschaftshistorischem Ort (namentlich im Verhältnis zu August Böckh und Ulrich von Willamowitz-Moellendorff) und theoriebildender Wirkung in diesem Zusammenhang vgl. Manfred Landfester, Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹. Antihistorismus und Antiklassizismus zwischen Wissenschaft, Kunst und Philosophie. In: »Mehr Dionysos als Apoll«: Antiklassische Antike-Rezeption um 1900, hg. von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof, Frankfurt/M. 2002, S. 89–111; vgl. aber auch Christian Bennes Position, die von einer Permanenz des philologischen Leitbilds
logie aus dem Kanon der Theoretizität erlaubt es zugleich, den Repräsentationsdiskurs an dieser Stelle noch einmal zu hinterfragen. Dem Totalitätsanspruch der Theorie entspricht bei Böckh das Wissen um die Unhintergehbarkeit des Details, das Bewusstsein, »daß nichts in der Wissenschaft so klein ist, um ohne Schaden übersehen zu werden« – man dürfe also, so Böckh, »der Philologie, die nur mit unbewaffnetem Auge des Geistes sehen kann, ihre Mikrologie ebenso wenig verargen als der Naturforschung die Mikroskopie«.48 Der philologische Positivismus avant la lettre verbindet sich dabei mit einem Bekenntnis zur Interdisziplinarität, der Böckhs Frontstellung gegen die ältere, formal ausgerichtete Schule des Leipziger Altphilologen Gottfried Hermann, dessen Tod zum Ende der Rede hin betrauert wird,49 deutlich macht, da laut Böckh »fast jede Wissenschaft bei der Philologie, und die Philologie bei jeder sich Rathes erholen könne und müsse.«50 Böckh meint dabei noch um Verzeihung bitten zu müssen »für den philologischen Übermuth, welcher unser Wissen oft über alles andere erhoben, welcher der Philologie in einer ihrer Hauptthätigkeiten, der Kritik, sogar eine besondere Göttlichkeit durch den doch sehr selten bewährten Ehrentitel diva critica beigelegt hat«,51 wonach also dieser »Ehrentitel« für Böckh offenbar doch, wenn auch selten, einer philologischen Tat zugesprochen werden kann. Und solche Taten sind es dann, in denen sich die Konvergenz von Philologie und Philosophie offenbart: Allerdings sind die Philologie und Philosophie schon ihren vielumfassenden Namen nach zunächst und als die allgemeinsten Richtungen des Erkennens einander nebengeordnet und dadurch zugleich geschieden und entgegengesetzt, wie bereits Plotin und seine Schüler ausgesprochen haben: aber dessenungeachtet sind thatsächlich beide sich meist befreundet geblieben, und weit entfernt daß jener Gegensatz ein unauflöslicher sei, wage ich vielmehr zu behaupten, daß beide, auf dem Gebiete des Geistes und abgesehen von der hier nicht in Betracht kommenden Naturphilosophie, von einem entgegengesetzten Ausgangspunkt zu demselben Ergebnis führen müssen, wenn beide den richtigen Weg gehen, und wenn die Philologie, wie sie meines Erachtens soll, vom Einzelnen und durch dasselbe sich zur Idee und über rohe Polyhistorie sich erhebt, und die Philosophie, nicht in bloße Abstraction verloren, mit der Idee das Einzelne durchdringt.52
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in Nietzsches Philosophie ausgeht (Christian Benne, Nietzsche und die historischkritische Philologie, Berlin, New York 2005). Böckh, Kleine Schriften, S. 190. Ebd., S. 198; zu den Voraussetzungen und Folgen des philologischen Kräftemessens zwischen Boeckh und Hermann vgl. Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft, S. 101–115. Böckh, Kleine Schriften, S. 193. Ebd., S. 192. Ebd., S. 192; zur »wechselseitigen Abhängigkeit von Philologie und Philosophie« bei Böckh vgl. Horstmann Antike Theoria und moderne Wissenschaft, S. 115–139.
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Für den Altphilologen Böckh ist zunächst natürlich das klassische Altertum das Modell einer reichen, philologisch zu erschließenden Welt. Er bekräftigt dies mit einem a-fortiori-Argument: Dass »die Grundideen des schöpferischen Geistes und die Urformen des Schönen eine alte Prometheische Mitgabe für die Menschheit« darstellten und dabei »das Alterthum, weil es diese [Mitgabe] mit jugendlicher Begeisterung erzeugt und kräftig ausgeprägt hat«, Böckh zufolge, »einen unvergänglichen Werth für die gesamte Nachwelt behält«,53 erweist sich gerade dann (und dann eben auch a fortiori), wenn »selbst diejenigen, deren eigener Charakter sich von dem Alterthum am meisten entfernt«, die Vorbildlichkeit des klassischen Altertums anerkennen: »Wer könnte weniger antik sein als Jean Paul? Desto gewichtiger ist es, wenn dieser feinfühlende Humorist sagt: ›die jetzige Welt versänke unergründlich tief, wenn nicht die Jugend vorher durch den stillen Tempel der großen alten Zeiten und Menschen den Durchgang zu dem Jahrmarkte des späteren Lebens nähme‹«.54 In der Einleitung zur Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften »Die Idee der Philologie oder ihr Begriff, Umfang und höchster Zweck« greift Böckh gleichfalls auf dieses Zitat aus Jean Pauls Levana zurück.55 Die Bezugnahme auf den Dichter, mit dem Böckh in seiner Eigenschaft als Mitredakteur der fünften Abteilung (Philologie, Historie, Schöne Literatur und Kunst) der Heidelberger Jahrbücher just in dem Jahr, in dem er erstmals seine Vorlesung über die Enzyklopädie der Philologie hielt, korrespondierte, steht also an einem Verzweigungspunkt, an dem die populäre und die enzyklopädische Darstellung zusammenlaufen. Freilich modifiziert Böckh in der EnzyklopädieEinleitung die Charakterisierung Jean Pauls in einem Punkt: »Und Jean Paul ist doch ein ganz moderner Mensch«,56 so heißt es an der Stelle der Enzyklopädie, wo in der Rede gefragt wird: »Wer könnte weniger antik sein als Jean Paul?« Die Grenze zwischen Antike und Moderne wird also von der jeweils anderen Grenzseite aus betrachtet. Die Grenzziehung der Enzyklopädie wird dabei noch zusätzlich unterstrichen durch die nachgerade anti-philologische Inquit-Formel an dieser Stelle: »Jean Paul sagt irgendwo«.57 Neben diesen Modus des unscharfen Zitierens sowie den streng philologischen Zitiermodus, der sich auf den zentralen Gegenstandsbereich der Reflexion bezieht (nämlich den der klassischen Autoren des Altertums sowie die diesbezügli53 54
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Böckh, Kleine Schriften, S. 197. Ebd., S. 198. Das Jean-Paul-Zitat stammt aus dessen Levana oder Erziehungslehre (Braunschweig: Vieweg 1807), vgl. Jean Paul, Sämtliche Werke. 10 Bde. in 2 Abteilungen, hg. von Norbert Miller, München, Wien, 1959–1985, Abt. I, Bd. 5, S. 863. Böckh, Enzyklopädie, S. 32. Ebd., S. 32. Ebd. Dies bedeutet freilich nicht, dass Böckh den Begriff der Philologie auf die Klassische Philologie eingeschränkt sehen möchte: in der Enzyklopädie weist er diese Möglichkeit wie überhaupt alles Setzen »willkürlicher Schranken« ganz ausdrücklich zurück (ebd., S. 5).
chen wissenschaftlichen Schriften wie Reichardts Gliederung der Philologie von 1846), tritt aber noch ein dritter, verdeckter Modus: die Bezugnahme auf die zahllosen Programme und Reden, die Böckh selbst in seinem Gelehrtenleben gehalten hat und die sich aus der von Bratuscheck im Vorwort beschriebenen Arbeitsweise Böckhs ergibt. Diese autozitativen Bezüge sind in Anmerkungen der Herausgeber teilweise nachgewiesen, wobei auch eine Reihe von Bezügen zur Eröffnungsrede von 1850 hergestellt werden. So taucht zum Beispiel auch die in der Rede präsentierte Idee von der Philologie als einer »unendliche[n] Aufgabe, deren Lösung wir durch Annäherung entgegengehen«, in der Enzyklopädie-Einleitung wieder auf: »Die Philologie ist, wie jede Wissenschaft, eine unendliche Aufgabe für Approximation«, so Böckh; man werde in ihr »immer einseitig sammeln, die Vereinigung mit der Speculation nie total zu Stande bringen«, denn auch »speculiren« werde man stets »einseitig; aber die Unvollendetheit ist kein Mangel, ein wirklicher Mangel ist es nur, wenn man sie sich selbst oder anderen verhehlt.«58 Auch der Hinweis auf die Notwendigkeit, Resultate der anderen Wissenschaften zur Erlangung philologischen Wissens zu nutzen, findet sich wieder.59 Nicht mehr enthalten in Böckhs Systemprogramm der Philologie ist aber in diesem Zusammenhang die Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen einer Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philologie, wie sie in der Versammlungsrede noch vorhanden war. Die wegweisende Formel zur Bestimmung der Philologie, mit der Böckh in der Enzyklopädie operiert, dass nämlich Philologie »Erkenntniss des Erkannten« sei,60 zentriert den Reflexionsmodus nunmehr erneut in Richtung auf den Kern, nicht in Richtung auf die ›popularphilologischen‹ Ränder; damit einher geht eine Entzeitlichung des Philologie-Konzeptes: »Für die Wissenschaft ist alt und neu zufällig«, so Böckh in der Enzyklopädie, eine »Beschränkung nach der Zeit«, durch welche die Neuere von der Klassischen Philologie geschieden würde, müsse somit »als eine rein willkürliche« betrachtet werden.61 Die Bestimmung des »Wesens der Philologie« (als »Erkennen des Erkannten«) bleibe vor diesem Horizont, so Böckh, »in vollem Umfang etwas Unmögliches«.62 Das Ziel einer approximativen Wissenschaft erscheint mithin als ein SichBewähren, nicht als ein Sich-Bewahrheiten.63 Was über diesen Horizont hinausgeht, verlangt – in geschichtsphilosophischer wie in erkenntnistheoretischer Perspektive – »Sehergabe«, welche Böckh in der Versammlungsrede von 1850 58 59 60 61 62 63
Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Ebd., S. 11 u.ö. Ebd., S. 6. Ebd., S. 15. Vgl. die von Böckh statuierte rekursive »Bewährung« der Formel von der »Erkenntnis des Erkannten« im Schlusskapitel des »Ersten Haupttheils« der Enzyklopädie, ebd. S. 256.
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zwar zunächst von sich gewiesen, gleichwohl aber (mit der Einschränkung der Seltenheit der diva critica) zugelassen hatte.64 Sucht man nach Gründen für dieses Verschwinden beziehungsweise das (wie wir noch sehen werden folgenlose) Verschieben einer aus heutiger Sicht perspektivenreichen Begriffs-Bildung und -Differenzierung im Werk eines an sich so stark theoretisch ausgerichteten Philologen wie Böckh, so erweist sich der Hinweis auf das Vordringen des Positivismus als nicht mehr hinreichend. Axel Horstmann, der Böckhs Wissenschaftsbegriff als ein Amalgam aus dem antiken Konzept der THZUD und einer spezifischen Stellungnahme im Feld der modernen Wissenschaften begreift, setzt den finalen Akzent auf Böckhs Ideal der philologischen Freiheit, womit der Aspekt der Theoretizität auch in seiner Untersuchung zuletzt etwas aus dem Blick gerät, obgleich er den Diskurs von Anfang an unauffällig aber nachhaltig begleitet.65 Dass aber, wie Horstmann nachweist, in der Rezeption von Böckhs Philologie als »Ideenwissenschaft« die »Theorie der Hermeneutik« von der »Theorie der Kritik« weitgehend und zuungunsten der letzteren getrennt wurde,66 ließe sich dahingehend verallgemeinern, dass aus ersterer (in vorläufig letzter Instanz) Literaturtheorie hervorgehen konnte, wohingegen mit letzterer auch die Idee einer Theoretischen Philologie versickerte.
4. Autopsie Ein Entwurf (wie der vorliegende) hat diesseits der Grenze zum Divinatorischen zu bleiben, muss also die Skepsis Böckhs gegenüber dem Wunsch nach »Sehergabe« ernstnehmen. Gerade weil von den Rändern der Repräsentation ausgegangen wurde und weil die philologischen Horizonte sich gegenwärtig, im Zeitalter der Digitalisierung und Vernetzung, offenkundig verschieben, erscheint es aber immerhin möglich, der Philologie auch eine interne ›theoretische‹ Zukunft vorherzusagen, indem in ihrer heutigen Gestalt (mit Gottfried Benns Berliner Brief vom Juli 1948 gesprochen) »Gangunterschiede und Interferenzen« erkennbar werden, »eine Ambivalenz, aus der Zentauren und Amphibien geboren werden.«67
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Böckh, Kleine Schriften, S. 192 und S. 196–197. Dies gilt insbesondere für die Ausführungen zum Verhältnis von Philosophie und Philologie sowie beim Nachweis der (vermutlich unabhängigen) Nähe von Böckhs Theorie-Begriff zu demjenigen Gian Battista Vicos (des Vicos der Neuen Wissenschaft, nicht desjenigen der Dissertatio von 1708 De nostri temporis studiorum ratione), vgl. Horstmann, Antike Theorie und moderne Wissenschaft, S. 236–249. Ebd., S. 134–135. Gottfried Benn, Berliner Brief, Juli 1948. In: Benn, Das Hauptwerk, Wiesbaden und München 1980, Bd. 4, S. 202.
Amphibien-Gestalt können auch die Protagonisten der Philologie selbst annehmen, wenn ihre Spur im digitalen Universum auftaucht. Die OnlineEnzyklopädie Wikipedia führt Böckh in der deutschsprachigen Version unter dem Namen »August Boeckh«, in der englischsprachigen ist er als »Philipp August Boeckh« verzeichnet.68 Dieser Name aber ist eine philologische Chimäre, deren Wurzel bereits vor über 100 Jahren von Böckhs Biographen Max Hoffmann offengelegt wurde: Die im Nachlaß [Böckhs] erhaltene amtliche Nachricht über Geburten und Sterbefälle zu Karlsruhe, im Intelligenzblatt der Stadt Karlsruhe vom 1. Dezember 1785, giebt nur den einen Vornamen August; dem entspricht auch die Tradition in der Familie. Die von K. B. Stark verfaßte Lebensbeschreibung, Allg. Deutsche Biographie 2, 770, hat irrtümlich zwei Vornamen, Philipp August. Der Irrtum ist entstanden aus der Ausstellungsurkunde, die 1807 für Boeckh als Professor in Heidelberg ausgefertigt wurde; der Schreiber dieser Urkunde hat aus der Bezeichnung Dr. phil August Boeckh den zweiten Vornamen entnommen. Der Familienname ist in den eigenhändigen Briefen durchweg Boeckh geschrieben, ebenso auf dem Titel der Staatshaushaltung; die lateinischen Werke sind mit Boeckhius bezeichnet.69
Nicht hauptsächlich aus kulturkritischen, biographischen oder anekdotischen Gründen ist der Fehler bemerkenswert, sondern aus theoretischen. Das Dokument, auf welches sich Max Hoffmann bezieht, hat sich im Archiv der Universität Heidelberg erhalten. Es handelt sich um einen Auszug aus einem »Großherzoglich Badischen Geheimrats-Protokoll« des »Polizeydepartements«, das auf den 27. Oktober datiert ist und dem »academischen Senat in Heidelberg« übermittelt wurde. In der entsprechenden Passage ist davon die Rede, daß »der DR Phil. AUGUST Bökh zu Heidelberg nunmehr als außerordentlicher Profeßor daselbst angestellt« werden solle.70 Im strengen Sinne genommen, hat der Karlsruher Schreiber nicht den Namen Philipp der Abkürzung »entnommen«, wie Hoffmann schreibt; allenfalls hat er sich (mindestens) zwei Optionen offen gehalten, wobei er bei der Abkürzung »Phil.« auf die sogenannte Suspensionsschleife verzichtete (durch die er doch den lateinisch geschriebenen Namen August abkürzt), sowie für »Phil.« die deutsche Kurrentschrift beibehält, die als Grundschrift die höhere Optionalität besitzt (sie kann für beides stehen: für den Namen oder für den Titel). Auch die Lesart Hoffmanns als des biographischen Arche-Philologen dieser Stelle bleibt mithin vieldeutig. Aber als Hinweis auf die Folgegeschichte besitzt sie unstreitig explanatorischen Wert: Irgendwo zwischen dem Federzug des Schreibers im Großherzoglich Badischen Polizeidepartement und 68 69 70
Beide Quellen eingesehen am 19.11.2008. Max Hoffmann, August Boeckh. Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel. Leipzig 1901, S. 2. Abb. 1: Aktenauszug aus dem Geheimraths-Protokoll des Großherzoglich Badischen Polizeydepartements, 27.10.1807. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Universitätsarchiv, Signatur UAH PA 1334.
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dem Knotenpunkt im nationalen Wissensnetz des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit Namen Allgemeine Deutsche Biographie beziehungsweise dem Wissensknoten im globalen Wissensnetz der Gegenwart mit Namen Wikipedia muss der Fehler festgeschrieben worden sein. Das hier zutage tretende Wieder-Flüssigwerden des philologischen Gegenstandsbereiches, die Grenzverschiebung der philologischen Horizonte, hat für Theorie und Praxis der Philologie Konsequenzen. In seiner Folge wird auch das philologische Dogma der Autopsie wenn nicht fragwürdig so doch (wieder) mehrdeutig. Auch der Gedanke einer aller Philologie zugleich vorausgehenden und sie beschließenden Betrachtung durchs bloße, allenfalls lupenverstärkte Auge hat sich philologiegeschichtlich zu einem Dogma verfestigt, das auf ein Ideal der philologischen Praxis verweist, das sich an Qualität und Genauigkeit des Lesens, gegebenenfalls des Entzifferns, orientiert.71 Ihren Ursprung dürfte diese Idee im rhetorischen Konzept der Evidenz haben. Die Philologie um 1800 hat diesen Topos der Rhetorik aufgenommen und mit der bei Böckh erwähnten Vorstellung von der diva critica geadelt. Auch in Böckhs Differenzierung der Verfahrensweisen von Philologie und Philosophie wird dieses Ideal statuiert, zugleich aber perspektiviert im idealistischen Fluchtpunkt einer spekulativen Unifizierung der Erkenntnisformen: Der Begriff und Umfang der Philologie wird erst vollkommen deutlich erkannt, wenn man ihr V e r h ä l t n i s z u d e n ü b r i g e n W i s s e n s c h a f t e n richtig auffasst. Ist die Philologie ihrem Ziele nach eine Wiedererkenntnis und Darstellung des ganzen vorhandenen menschlichen Wissens, so ist sie, inwiefern dieses Wissen in der Philosophie wurzelt, letzterer in Bezug auf die Erkenntnis des Geistes coordinirt und unterscheidet sich von ihr nur durch die Art des Erkennens: die Philosophie erkennt primitiv, JLJQVNHL, die Philologie erkennt wieder, QDJLJQVNHL, ein Wort, welches im Griechischen mit Recht den Sinn des Lesens erhalten hat, indem das Lesen eine hervorragend philologische Thätigkeit, der Lesetrieb die erste Aeusserung des philologischen Triebes ist. Dieses Wiedererkennen ist das eigentliche PDQTQHLQ, so wie es P l a t o n im Menon darstellt, das Lernen im Gegensatz gegen das Erfinden, und was gelernt wird, ist der OJR9, die gegebene Kunde; daher sind ILOORJR9 und ILOVRIR9 Gegensätze, nicht im Stoff, sondern in der Ansicht und Auffassung. Doch ist dieser Gegensatz nicht absolut, da alle Erkenntniss, alle JQVL9 nach P l a t o n ’ s tiefsinniger Ansicht auf einem höheren speculativen Standpunkt eine QJQVL9 ist, und indem die Philologie reconstructiv auf dasselbe gelangen muss, worauf die Philosophie vom entgegengesetzten Verfahren aus gelangt.72
Drei bis vier Philologengenerationen später wird Walter Benjamin in einer Passage des Briefwechsels mit Adorno die Aufgabe des Philologen rekonstru71
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Zur Bedeutung der Autopsie im disziplinären Abgrenzungsprozess von altertumskundlicher Gelehrsamkeit, Philologie und Kunstwissenschaft vgl. Peter Seiler, »Aber ist denn das feine Auge ganz untrüglich?« Visuelle Nachlässigkeiten und bildkritische Erfahrungen in Lessings Studien zum Borghesischen Fechter. In: Pegasus. Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike, 10, 2008, S. 167–222. Böckh, Enzyklopädie, S. 16–17.
ieren, zwei weitere Generationen danach Peter André Alt eben daran anknüpfen und dabei erneut Philologiegeschichte verzeichnen; Benjamin antwortet in einem Brief auf Adornos Vorhaltung, die Baudelaire-Studien des Freundes entbehrten in ihrer rein philologischen Rekonstruktion der Moderne der »theoretischen Interpretation«,73 das »Aussparen der Theorie« aber affiziere die Empirie; man könne es auch anders ausdrücken, so hatte Adorno geschrieben: »das theologische Motiv, die Dinge beim Namen zu nennen«, schlage »tendenziell um in die staunende Darstellung der bloßen Faktizität. Wollte man drastisch reden, so könnte man sagen, die Arbeit sei am Kreuzweg von Magie und Positivismus angesiedelt. Diese Stelle ist verhext. Nur die Theorie vermöchte den Bann zu brechen […].«74 Benjamin antwortete am 9. Dezember 1938 aus Paris auf diese Passage: Wenn Sie von einer »staunenden Darstellung der Faktizität« sprechen, so charakterisieren Sie die echt philologische Haltung. Diese muß nicht allein um ihrer Resultate willen, sondern eben als solche in die Konstruktion eingesenkt werden. In der Tat ist die Indifferenz zwischen Magie und Positivismus, wie Sie es treffend formulieren, zu liquidieren. Mit anderen Worten: die philologische Interpretation des Autors ist von dialektischen Materialisten auf hegelsche Art aufzuheben. – Die Philologie ist diejenige an den Einzelheiten vorrückende Beaugenscheinigung eines Textes, die den Leser magisch an ihn fixiert.75
Paul de Mans Rekonstruktion des »theoretischen Lesens« als Kern philologischer Praxis kann als Fortschreibung dieser Position begriffen werden; Criticism als Oberbegriff philologischen Handelns wird von ihm als »a metaphor for the act of reading« begriffen,76 wobei »reading« seinerseits als »an act of understanding, that can never be observed, nor in any way prescribed or verified« erscheint.77 Die Autopsie, so könnte man sagen, kann ihrerseits keiner Autopsie unterworfen werden. Konkreter ausgedrückt, nämlich im Modell des beschriebenen philologischen ›Geheimratsprotokoll-Dilemmas‹ (wie ich es hier und im Nachfolgenden nennen will), stellt sich das Problem so dar: Der Philologie als einer Wissenschaft der Beaugenscheinung von Texten ist der Boden unter beiden Füßen, 73
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Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, New York, 10.11.1938. In: Walter Benjamin, Briefe, hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, 2 Bde., Frankfurt/M. 1966, Bd. 2, S. 782–790, Nr. 306, hier S. 783. Ebd., S. 786. Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, Paris, 9.12.1938. In: Benjamin, Briefe, S. 790–799, Nr. 307, hier S. 793–794. Bei Alt, der sich in Die Verheißungen der Philologie auf diesen Ausschnitt des Briefwechsels bezieht, ist die Perspektive auf das Zitat durch eine fehlerhafte Zuordnung verzerrt: zuungunsten Adornos und zugunsten Benjamins, indem nämlich letzterem die begriffliche Prägung einer Verbindung von Magie und Positivismus zugeschrieben wird (Alt, Die Verheißungen, S. 19–20). Paul de Man, Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism (1971), 2. Aufl. 1983, S. 107. Ebd.
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auf die sich ihre wissenschaftliche Selbstgewissheit gründet, unsicher geworden: die Autopsie kann zwar Irrtümer feststellen, Annahmen zu Intentionen, die hinter den Schriftzügen stehen beziehungsweise aus diesen sprechen, aber bestenfalls glaubwürdig machen; das Verhältnis von Irrtums-Nachweis und philologischem Glaubhaftmachen ist dabei stets geleitet vom Erkenntnisinteresse: wendet der Philologe den Blick nicht auf die Person Böckh, deren Vorname durch das Karlsruher Intelligenzblatt bestätigt wird (womit der Fall erledigt sein könnte), sondern auf den Schreiber im Polizeidepartement, so betritt sie den unsicheren Grund der Ausdeutung mehrdeutiger Schriftzüge. Zugleich ist aber auch die zeitliche Situierung des philologischen Subjektes im digitalen Zeitalter unscharf geworden: hierauf verweist einerseits die (von der wissenschaftlichen Konvention geforderte) Datierung des Zugriffs auf das Informationsmedium, zum anderen die Möglichkeit, den Irrtum philologischperformativ, also praktisch, und zugleich philologisch klandestin zu korrigieren, ähnlich der Praxis der Masoreten, die, als sie »den hebräischen Text des Alten Testaments fixiert hatten, […] alle früheren Handschriften [vernichteten], um die Möglichkeit abweichender Lesarten ein für allemal zu unterbinden.«78 Mit dem Flüchtigwerden philologischer Spuren im (sichtbaren) digitalen Universum erfahren aber auch wichtige Positionen der philologischen Ethik und der individualphilologischen Strategie eine Umwertung: Wenn, wie Heinz Schlaffer spekuliert hat, Fehler für die philologische Erkenntnis stets »eine größere Bedeutung« gehabt hätten, als der korrekte Text«,79 dieser Sachverhalt dabei aber stets noch mit einer Diffamierung des philologischen Konkurrenten einherging, und wenn unter veränderten medialen Umständen eben dieses Kräftemessen im philologischen Leben hintergangen werden kann, dann wird deutlich, dass auch die epistemische Positionierung philologischer Subjektivität in Fluss geraten ist. Dass das philologische Subjekt teilhat an der Konstitution nicht allein dessen, womit es sich beschäftigt, sondern auch seiner selbst,80 konvergiert dabei mit Erkenntnissen der Netzwerkanalyse, wonach »schon die Einbindung in ein […] Netzwerk wie Wikipedia das Handeln [der Beteiligten] bestimmt und auch die Motivation beeinflusst.«81 Grenzen »begründen und beschränken akademisch-disziplinäre Ordnungen«, so Walter Erhart in den Vorbemerkungen zum Band Grenzen der Germanistik.82 78 79 80
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Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 162. Ebd., S. 228. Vgl. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 49 und Alt, Die Verheißungen der Philologie, S. 15. Als Indiz für entsprechende Prozesse kann das Wiederauftauchen der Rede in der ersten Person Singular in wissenschaftlichen Arbeiten verstanden werden. Christian Stegbauer, Wikipedia und die Bedeutung der sozialen Netzwerke. In: Forschung Frankfurt 2008,2, S. 12–18, hier S. 12. Walter Erhart, Einleitung. In: Grenzen der Germanistik, S. XI.
Das Durchlässigwerden von jenen muss mithin auch eine Desorganisation in diesen nach sich ziehen.
5. Praxis und Theorie Unter diesen Voraussetzungen erscheint es konsequent und angemessen, wenn die erklärten Repräsentanten der philologischen Praxis nunmehr ihre Formel, mit der sie philologische Autoreflexion deklarieren, gegenüber den Formeln der eingangs erwähnten Theoretiker der Philologie modifizieren: zwar berufen sich auch die aus dem akademischen Subfeld der Editionswissenschaft stammenden Herausgeber des Bandes Die Herkulesarbeiten der Philologie83 auf die Formel »Der/die/das XY der Philologie«, als Praktiker begreifen sie indes das Objekt der philologischen Reflexion prozessual, seine bildliche Verkörperung als einen Plural: nicht Macht, Ethos, Verheißung, Einrichtung, sondern (tendenziell unabschließbare) Arbeiten sind das einheitsstiftende Moment. Und auch das aus der Mythologie berufene Subjekt dieser Arbeiten – Herkules – ist, wenn überhaupt als Einheitzu begreifen, so doch gewiss als ein vielgestaltiges Subjekt der Tat, des (schlagkräftigen) Handelns, schwerlich als eines der Synthese beziehungsweise Integration oder der Arbeit des Begriffs. Dem Böckhschen Prinzip der Approximation noch näher kommt wohl das Modell der Sisyphosarbeit, das in diesem Zusammenhang von Gerard J. Boter vorgeschlagen wird;84 und auch die Arbeit des Sisyphos besteht aus einer Serie von einzelnen Arbeitsschritten. Wenn jedoch die Herausgeber in der Einleitung zum Band auf die Notwendigkeit verweisen, nicht nur den »Aspekt [der] Grundlagenfunktion« der Philologie zu betrachten, »sondern auch ihr Potential für interpretative Perspektiven zu berücksichtigen«,85 dann eröffnet sich erneut das weite Feld der Theorie. Die vorliegende Arbeit versucht nun, beide Perspektiven zu verbinden: die im ersten Abschnitt dieses Kapitels aufgenommenen, vom Allgemeinen ausgehenden Fragen nach Einrichtung und Verheißung, Macht und Ethos der Philologie sowie diejenige, die von (editions)philologischen Einzelbeobachtungen ausgehen. In diesem Sinne sieht sie sich als Studie in der Tradition August Böckhs. Beide Perspektiven kreuzen sich an den Stellen, an denen der Philologe und das Philologisierte, also die Texte, Tatsachen, Zusammenhänge, mit de83
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Sophie Bertho, Bodo Plachta (Hg.), Die Herkulesarbeiten der Philologie; vgl. hierin den Beitrag mit dem gleichen Titel von Thomas Bein zu »Perspektiven der Germanistischen Mediävistik« (S. 97–122). Gerard J. Boter, Herkules oder Sisyphos? 23 Jahrhunderte Griechische Philologie. In: Die Herkulesarbeiten der Philologie, S. 63–96. Die Herkulesarbeiten der Philologie, S. 8.
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nen sich der Philologe beschäftigt, in Wechselwirkung treten und diese Wechselwirkung nun ihrerseits philologisch reflektiert wird. Die Genese der Anreicherung des Taufnamens von August Böckhs kann als Modell dieser Figur im Kleinen angesehen werden. Im Rahmen der Ansätze zu einer Wissenschaftsforschung der Literaturwissenschaft spielen Überlegungen, die von der philologischen Praxis ausgehen, bisher eine untergeordnete Rolle.86 Die vorliegende Studie wird hingegen geleitet von der Annahme, dass die Theorie der Philologie aus der Richtung der verschiedenen bestehenden Theorieansätze sich ergänzen ließe durch eine Theorie, die selbst Philologie ist – und daher nicht als Theorie der Philologie sondern als Theoretische Philologie begriffen wird.87 Das bedeutet, dass sie zu einem wesentlichen Teil aus praktischer Philologie hervorgeht, in einem Sinne, wie Böckh dies in der Berliner Rede von 1850 expliziert hat. Anders als zu Böckhs Zeit aber lässt sich heute schwerlich noch behaupten, der Gegensatz von theoretischer und praktischer Philologie verschwinde bei näherer Betrachtung, weil die Praxis mit dem Erlernen der ersten wissenschaftlichen Gründe derselben, also der Theorie, zusammenfalle. Zumindest in den neueren Philologien haben die ersten wissenschaftlichen Gründe sehr wenig mit dem zu tun, was man traditionell als philologische Praxis ansehen kann. Insofern wäre also Theoretische Philologie heute durchaus zu einer Option geworden, die auch vor dem stets bewundernswert nüchternen Urteil Böckhs Bestand haben dürfte. Der von Ian Hacking propagierte practical turn der Wissenschaftsforschung88 würde damit in der Philologie nachgeholt (beziehungsweise in sie zurückgeholt). Eine solche theorieproduktive Praxis – man könnte auch von experimenteller Philologie sprechen – kann sowohl Fragen der Textkonstitution als auch solche der Kommentierung betreffen. Und sie kann, nach dem
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Vgl. den Band Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hg. von Jörg Schönert, Stuttgart, Weimar 2000: weder in den »Modellen und Kategorien für die Wissenschaftsforschung zur Literaturwissenschaft« noch für die »Fallstudien« und »normativen Aspekte«, die in diesem Band untersucht werden, treten Fragen, die sich aus der editionsphilologischen Praxis ergeben, in den Vordergrund. Die Zukunft eines neu formulierten bzw. reformulierten Begriffes zu fordern, bleibt gleichwohl ein ungedeckter Wechsel, ein paraphilologisches, kein philologisches Postulat. Die disziplinären Erfolgsgeschichten etwa der Theoretischen Chemie und der Theoretischen Physik können in diesem Zusammenhang allenfalls beispielhaft, schwerlich vorbildhaft sein. Vgl. Ian Hacking, Representing and Intervenig. Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science, Cambridge 1983 (dt. Übersetzung: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996); in den Geisteswissenschaften wäre etwa – fokussiert auf archivalische Praxis – zu denken an Arlette Farge, Le Goût de l’archive, Paris 1989, sowie – fokussiert auf bibliographische Aspekte der Philologiegeschichtsschreibung: Pascale Hummel: Histoire de l’Histoire de la Philologie. Etude d’un Genre épistémologique et bibliographique, Geneve 2000.
Durchgang durch die Sphäre der Reflexion, wiederum für die editorische Praxis fruchtbar gemacht werden. Diesen Dreischritt versucht die vorliegende Studie im Modell zu erproben: Zunächst werden theorierelevante Konsequenzen der texkonstituierenden und der kommentierenden philologischen Praktiken unter einem spezifischen Aspekt untersucht und ausgewertet, daran anschließend werden Ideen zu einem Differential-Kommentar und zur Textkonstitution vorgestellt, in denen die vorausgehenden Überlegungen berücksichtigt werden. Der Ansatz wird am Beispiel der Briefe an Jean Paul erprobt. Der spezifische Aspekt, der dabei das Erkenntnisinteresse hinsichtlich der editionspraktischen Fragen justiert, ist der einer Kulturgeschichte des Liebesbriefs. Dabei geht es darum, die Bedeutung von Liebesbriefen im Rahmen der Entstehung und Entwicklung von Gefühlskulturen zu bestimmen und die Verflechtung einer hypothetisch eigenständigen Liebesbriefkultur mit anderen Brief- und Gefühlskulturen darzustellen.89 Dass Liebe ein Gefühl ist, wird in der vorliegenden Untersuchung gleichwohl nicht als Tatsache vorausgesetzt.90 Liebe und andere Gefühle werden den Briefschreibern, die im ausgewählten Textkorpus zu Wort kommen, nicht zugeschrieben; sie werden, hierbei den Prinzipien des philologischen ›Positivismus‹ folgend, nur nach der Maßgabe der Texte repräsentiert. Diese Repräsentation ist jedoch nur eine basale Repräsentation, die Fragen offen lässt (ähnlich den prototypischen, die sich bei der Rekonstruktion der Genese von Böckhs falschem Vornamen ergaben). Diese offenen Fragen über den Status, die Aufrichtigkeit, die Kommunizierbarkeit und die Reichweite von Gefühlen im intimen Briefgespräch sind als Keime einer philologischen Autoreflexion zu betrachten, die ihrerseits eine Diskussion des zugrundeliegenden ›philologischen Gefühls‹ anstoßen können – etwa dem, das die Philologen traditionell für die ›höhere‹ Textkritik in Anspruch nehmen. Die Frage nach der angemessenen Repräsentierbarkeit von Gefühlen ist dabei als Aspekt von zwei allgemeineren Fragen zu betrachten: der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von philologischer Repräsentation auf der einen Seite und der Frage nach dem Ort und Bezug von philologischen Praktiken (theoretischen und praktischen Praktiken) im und zum Leben. Die besondere Frage, die sich in dieser Doppelperspektive stellt, lautet: Sind Gefühle als Einzeltatsachen philologisch repräsentierbar oder sind sie dies nur dort, wo sie Teil einer Gefühlskultur sind (also im Zusammenhang einer ›Lebensform‹ stehen); beziehungsweise (übertragen auf die Liebe): Ist 89
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Erste Ergebnisse dieses Forschungsprojektes fasst der bereits erwähnte, 2008 erschienene Band zusammen: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Beiträge der Nachfolge-Tagung vom Herbst 2011 erscheinen im Band: SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Renate Stauf und Jörg Paulus. Berlin, New York 2013 (in Vorbereitung). Zur Diskussion dieser Frage vgl. Christoph Demmerling, Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart, Weimar 2007, S. 129ff.
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Liebe in Briefen als Einzelphänomen philologisch repräsentierbar – oder ist auch sie es nur im Rahmen einer integralen Brief-Gefühlskultur? Eine Antwort hierauf kann wohl schließlich, philologisch begründet, auch als Indiz für die außerphilologische Frage gewertet werden, was für ein Gefühls-Status der Liebe zuzusprechen ist.
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I.2 Philologie der Gefühle
Zusammenfassung Auch nach der sogenannten ›Krise der Repräsentation‹ lässt sich ein substantieller Begriff von philologischer Repräsentation vertreten. Im Rahmen eines editionsphilologischen Experimentalsystems (im Sinne von Hans-Jörg Rheinberger) lässt er sich zum Beispiel zur Klärung der Repräsentationsverhältnisse von Intimität in Briefen einsetzen; hierfür ist eine Festlegung auf einen bestimmten (zum Beispiel realistischen oder konstruktivistischen) Begriff von Repräsentation zunächst ebensowenig notwendig wie ein Rekurs auf außerphilologische Prämissen. Die kontextuelle Vernetzung kann vielmehr aus dem Inneren der Philologie heraus erfolgen, die Frage nach der Adäquatheit eines realistischen oder konstruktivistischen Zugangs ergibt sich dann in der Konsequenz.
1. Philologische Repräsentation Repräsentation und Privileg In Anbetracht der Janusköpfigkeit und Unzuverlässigkeit philologischer Subjektivität (Unzuverlässigkeit auf Seiten der hypothetischen Subjekte der Schrift und auf Seiten der philologischen Subjekte des Lesens, Transkribierens, Konstituierens, Kommentierens und schließlich Interpretierens) erscheint es sinnvoll, ein Drittes zu suchen, woran sich die philologische Praxis orientieren kann; hierfür soll, wie bereits erwähnt, der Begriff der philologischen Repräsentation vorgeschlagen werden, auch wenn dies im Horizont der oftmals benannten ›Krise der Repräsentation‹1 zunächst nicht unproblematisch zu sein scheint, namentlich in einer Arbeit, die ihren Gegenstand in der Zeit um 1800 hat, also genau in jener Zeit, die ihrerseits als Keimzeit der Repräsentationskrise der Moderne angesehen werden kann.2 Auch ließe sich – gleichfalls kritisch – der Einwand erheben, warum denn Repräsentierbarkeit ausgerechnet in solch flüchtigen, zwischen den Disziplinen umstrittenen Phänomenen wie Gefühlen untersucht werden soll. Anders formuliert: Wenn sich auch die begriffliche Prägung einer ›Philologischen Repräsentation‹ auf der digitalen
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Vgl. D. Goeller, Artikel Repräsentation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7, Sp. 1177–1199, hier Sp. 1195–1197. Vgl. Kerstin Behnke, Krise der Repräsentation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 8, Sp. 846–853.
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Außenhaut der Repräsentationswelt als zumindest unauffällig erweist,3 wäre dann nicht allenfalls die entgegengesetzte Konsequenz vernünftig: die rationalen Gründe für diese Abwesenheit bzw. Spurlosigkeit zu suchen und diese als Signale für substantielle Inkonsistenzen in diesen begrifflichen Prägungen zu sehen und zu akzeptieren? Im Rahmen des hypothetischen Vorgehens genügt es jedoch zunächst, mit Blick auf inhaltliche Evidenzen zu reagieren: Gerade durch die unbestreitbare Tatsache der Flüchtigkeit von Gefühlen, so ließe sich statuieren, wird der Problematik einer Krise der Repräsentation Rechnung getragen: wenn nämlich das oben skizzierte Geheimratsprotokolldilemma als eine Fortschreibung der Krise der Repräsentation in anderen Kontexten (denen der philologischen Autopsie und der prekären Möglichkeit epistolarer Artikulation von Gefühlen) angesehen werden kann, dann erscheint es pragmatisch angemessen, die Argumentation gerade auf eine Philologie von Briefwechseln, wie sie im Zentrum dieser Arbeit stehen wird, zu gründen. Denn in Briefwechseln können Gefühle immer schon in ihrer Gültigkeit hinterfragt werden und sind dabei der Bewährungsprobe des Lebens unterworfen. Mit Bezug auf die klassische, auf Artemon zurückgehende und von Philostrat auf Gellert (und damit an den Ursprungsort des bürgerlichen Briefdiskurses) tradierte Definition des Briefes als eines Gesprächs unter Abwesenden wurde – unter den Vorzeichen einer jeweils geistes-, mentalitäts- oder mediengeschichtlich modellierten Krise der Repräsentation – immer wieder die Hypothese eines bevorstehenden oder sogar bereits zu konstatierenden Endes der Briefkultur lanciert.4 Wenn nun aber umgekehrt entsprechende Prognosen seit mindestens hundert Jahren postalisch und damit performativ widerlegt wurden – nämlich durch eine Unzahl postierter Mitteilungen,5 dann lässt sich dies zumindest vorläufig und ›popularphilologisch‹ als eine Form der Abstimmung mit den (briefschreibenden, brieffaltenden, frankierenden etc.) Händen interpretieren, die gegenüber dem Repräsentationsdefätismus skeptisch macht. Zwischen dem aus Philostrats Definition ableitbaren epistolaren Dilemma des Versuchs einer Vergegenwärtigung des Abwesenden und der Dialektik 3
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Auf die Suchanfrage »philologische Repräsentation« antwortet Google mit genau einer Referenz, die von der Homepage einer Computerfirma aus auf den Titel einer Mainzer Magisterarbeit verweist: (http://www.competence-site.de/cc/mitglieder.nsf/mitglied/S1146-Peter-Sprenger). (Zugriff vom 9.4.2009). Vgl. z.B. Th. W. Adornos Nachwort zu Benjamins Briefsammlung Deutsche Menschen – Eine Folge von Briefen, Frankfurt/M. 1972, S. 132–133; Bernhard Siegert, Relais. Geschickte der Literatur als Epoche der Post, Berlin 1993, S. 29; vgl. hierzu Stauf, Simonis, Paulus, Liebesbriefkultur als Phänomen, S. 17–19. Vgl. Adorno, Nachwort. In: Benjamin, Deutsche Menschen, S. 132. Vgl. Briefe sind nicht ›in‹, aber immer noch da. Verfrühter Abgesang auf den Briefverkehr. In: Neue Züricher Zeitung 2007, Nr. 122 (30.5.2007), S. 15.
des Repräsentationsbegriffs, wie sie D. Goellner im Artikel Repräsentation des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik konstatiert, lässt sich eine auffällige Kongruenz erkennen: R[epräsentation] bezeichnet im weitesten Sinne jede Art der Vergegenwärtigung […] einer Sache oder eines Sachverhaltes durch etwas anderes oder durch einen Teil ihrer selbst. In jedem Fall handelt es sich um etwas Abwesendes – sei es zeitlich oder räumlich entfernt, sei es in einem anderen Kontext vorhanden –, das vertretend präsent gemacht wird. Die Dialektik des Begriffs liegt darin, daß das zu Repräsentierende als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird.6
Auch die Philologie selbst kann, zumindest in ihrem engeren Sinne als Editionsphilologie, in Gestalt einer analogia repraesentationis rekonstruiert werden. Gleichwohl wird in dem zitierten Artikel des Wörterbuchs der Rhetorik weder die Wissenschaft vom Brief noch die Philologie unter den »Disziplinen und Bereichen«, in denen Repräsentation als »relevanter Begriff« im »wissenschaftlichen Diskurs […] Anwendung findet«,7 berücksichtigt. Diese Leerstelle wäre wohl (namentlich im Rahmen eines auf Konzentration abzielenden begriffsgeschichtlichen Werkes) verschmerzbar, wenn die vom Verfasser des Artikels als relevant angesehenen Disziplinen und Bereiche (Theologie, Recht und Staatstheorie, Erkenntnistheorie, Kognitionspsychologie und Pädagogik, Psychoanalyse, Semiotik, Rhetorik, Kunst und Ästhetik) die spezifischen Ansprüche von Brief und Philologie stellvertretend wahrnehmen könnten. Die stärksten Übereinstimmungen zum (hypothetischen) Konzept philologischer Repräsentation finden sich wohl in den theologischen und rhetorischen Repräsentationskonzepten.8 Zwar werden in der Theologie zunächst nichtsprachliche Zeichen, namentlich Bilder und Handlungen, repräsentationalistisch bewertet (beglaubigt oder verworfen), doch wird das procedere des Beglaubigens bzw. Verwerfens in den Schriftreligionen analog in Bezug auf Texte fortgesetzt, ausdifferenziert und dabei, so der klassische Topos, von der Theologie als der autonomen Kraft an die textkonstituierende und textkommentierende Philologie, ihrer Magd (ancilla), als heteronomer Kraft delegiert.9 Dem geschriebenen beziehungsweise gedruckten Wort wachsen dabei Evidenz-Qualitäten zu, und genau hier findet sich der Überschneidungspunkt zur 6 7 8
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D. Goellner, Repräsentation, Sp. 1177. Ebd., Sp. 1179. Inwiefern es eine Ästhetik der Philologie gibt, ist ein Problem, die unter die noch offenen philologischen Fragen zu rechnen ist; zum Verhältnis von Editionsphilologie und ästhetischer Erfahrung vgl. die Beiträge in: Rainer Falk, Gert Mattenklott, Ästhetische Erfahrung und Edition, Tübingen 2007; allgemein zu Figuren der Ästhetik des Wissens seit der Frühaufklärung vgl. Wolfgang Braungart, Silke Jakobs, Zur Ästhetik des Wissens seit dem 18. Jahrhundert. In: Ästhetik in der Wissenschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, hg. von Wolfgang Krohn, Hamburg 2006, S. 201–218. Goellner, Sp. 1179.
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Rhetorik und deren zentralem Evidenzkonzept.10 Aber auch wenn bei Quintilian repraesentatio und evidentia synonym gebraucht werden, so bleiben doch die rhetorisch-repräsentationalistischen Verfahrensweisen wie die ekphrasis (die als rhetorische Analogie zum philologischen Kommentar verstanden werden kann)11 heteronom, womit die Differenz zum theologischen Begriff deutlich wird: Wenn die Verfahrensweisen der rhetorischen Repräsentation »auf die Realität zurückwirken und diese modifizieren« können,12 so ist genau dies der theologischen Exegese verwehrt, die etymologisch auch ein »Herausführen« ohne Lizenz zur Rückführung ist. Eine gemeinsame Stellvertreterrolle von Theologie und Rhetorik ist damit im Grunde ausgeschlossen; auch an dieser Stelle fällt die Philologie durch das Raster der großen begriffsgeschichtlichen Werke des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Zu der Zeit, als diese – Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie, Brunners, Conzes und Kosellecks Geschichtliche Grundbegriffe, das Historische Wörterbuch der Rhetorik – konzipiert und begonnen wurden, konnte freilich die Hoffnung auf eine große interdisziplinäre Begriffsreduktion im Sinne einer ›großen vereinheitlichten Theorie‹ der Repräsentation als Rechtfertigungsgrund gelten. Als (fachwissenschaftlich durchaus seriöser) Prophet des sich abzeichnenden Projektes »einer allgemeinen Theorie der R[epräsentation]« konnte denn auch im Repräsentations-Artikel des Historischen Wörterbuchs der Philosophie der Philosoph Daniel C. Dennett zitiert werden: What we need is nothing less than a completely general theory of representation, with wich we can explain how words, thoughts, thinkers, pictures, computers, animals, sentences, mechanisms, states, functions, nerve impulses, and formal models (inter alia) can be said to represent one thing or another.13
Aus heutiger Sicht sind Zweifel nicht nur angebracht (und auch Daniel C. Dennett selbst hat seither bekanntlich anstelle einer allgemeinen vielmehr eine ganz spezifische, nämlich kognitionswissenschaftlich orientierte Repräsentationsphilosophie betrieben). Ganz allgemein hat Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Essay Pyramiden des Geistes die begriffsgeschichtliche Ernüchterung des beginnenden 21. Jahrhunderts in einen Zusammenhang gebracht mit der »Unentschiedenheit [der begriffsgeschichtlichen Unternehmungen] im Hinblick auf das Problem der Weltreferenz der Sprache.«14 Im Horizont der ver10 11
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Ebd., 1185. Vgl. Seiler, bes. S. 208; grundsätzlich zur Frage der Bildbeschreibung im Rahmen eines autonomieästhetischen Konzeptes (dem Goethes): Ernst Osterkamp, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991. Goellner, Sp. 1182. Daniel C. Dennett, Brainstorms. Philosophical Essays on Mind and Psychology, Hassocks (Harvester Studies) 1978, S. 91. In: H.U. Gumbrecht, Pyramiden des Geistes. Über den schnellen Aufstieg, die unsichtbaren Dimensionen und das plötzliche Ableben der begriffsgeschichtlichen Be-
schiedenen, ausdifferenzierten Wissenschaftssprachen aber wird die vereinheitlichte Theorie der Repräsentation vollends zur Illusion. Von dieser Ernüchterung und fortbestehenden Unschärfe schreibt sich denn auch die neue Konjunktur der Frage nach Evidenz her als ein neues Verlangen nach Methoden und Techniken des kulturellen »Vor-AugenStellens« (QUJHLD bzw. evidentia), wie dies in den Kulturwissenschaften – vorerst hauptsächlich im Status von Entwürfen, Tagungen und Projekten – zu beobachten ist.15 Dies geht ausdrücklich einher mit einer Subversion der Vorherrschaft konstruktivistischer Ansätze in den Kulturwissenschaften sowie einer Aufwertung der Realien.16 Zweifellos ist es, wie auch Gumbrecht konzediert, unangemessen, daraus bereits einen »neuen philosophischen Realismus« abzuleiten, der »zum Verschwinden aller Varianten des Konstruktivismus« führen könnte.17 Eine solche These wäre allein schon deshalb widersinnig, weil er die einzelwissenschaftlich-partikularen Phänomene erneut unter das Diktat eines universellen Prinzips stellt, das doch gerade überwunden werden soll. Induktiv können die entsprechenden Positionen als Indikatoren gedeutet werden für die ebenfalls von Hans Ulrich Gumbrecht konstatierte philologische »Sehnsucht nach Präsenz«, die von Gumbrecht freilich mit einem in letzter Instanz theologisch belegten Index eines »Verlangens« nach göttlicher »Realpräsenz« unterlegt wird.18 Macht dann aber nicht gerade dies Anheimfallen der philologischen Fragestellung an jene Disziplin, als deren ancilla sie vormals galt, die Notwendigkeit einer eigenständigen, von Statthalterschaft unabhängigen Neupositionierung sinnfällig? Und müsste diese Neupositionierung nicht deshalb auch eine theoretische sein, weil eine aus der Tendenz der Zeit abgeleitete »Sehnsucht« (bei Gumbrecht) ebenso wie das Postulieren einer gegen die Tendenz der Zeit angestrebte Hintergehung der metasprachlichen Wand im Begründungshorizont letztlich dezisionistisch bleiben müssen? In dieser Situation könnte man – einerseits – geneigt sein, in Ermangelung von systematisch entwickelten Positionen der Gegenwartsphilologie auf die Resultate anderer Disziplinen zurückzugreifen: zur Verteidigung einer konstruktivistischen Ausrichtung der Theoretischen Philologie, zum Beispiel auf Ernst von Glaserfelds Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse Probleme19 oder auf aktuelle Contras und Pros wie Siegfried J. Schmidts Abschied
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wegung, in: Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, S. 7–36, hier S. 27 (die zitierte Passage ist im Original kursiviert). Vgl. die von Albrecht Koschorke und Juliane Vogel veranstaltete Wiener Tagung Schauplätze der Evidenz: Der Einbruch des Realen. So auch in der Ankündigung der in vorausgehenden Fußnote erwähnten Tagung. Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen, S. 35. Gumbrecht, Die Macht der Philologie, S. 26. Ernst von Glaserfeld, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt/M. 1995.
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vom Konstruktivismus20 und auf Kuno Lorenz’ Vorschlag zu einem Dialogischen Konstruktivismus21. Wer hingegen eine realistische Position vertreten will, könnte auf Positionen wie die Jay F. Rosenbergs zurückgreifen, der, aus dem Kernbereich der Theoretischen Philosophie heraus argumentierend, in One World and Our Knowledge of it einen explanatorischen Realismus vertritt, der sich von einem metaphysischen Realismus zu unterscheiden versucht, indem er die Kritik an der Annahme einer unabhängig von unserer Wahrnehmung existierenden Welt und an der ›gesetzten‹ Zuverlässigkeit unserer Repräsentationen akzeptiert, aber zugleich eine epistemische Rechtfertigung nach Prinzipien, die unsere Wissensansprüche rational akzeptabel (also zu gerechtfertigten Ansprüchen) machen, für vertretbar hält.22 Ebenso könnte man – andererseits – zur Begründung einer spezifischen Position im Feld der Briefkulturforschung auf die interdisziplinären und transmedialen Ansätze der vergangenen Jahre und Jahrzehnte zurückgreifen, die sich unter anderem auf philosophische, anthropologische, psychoanalytische, medizinische und soziologische Methoden und Diskurse gründen,23 nicht nur auf Barthes, der zwischen dem Akt des Liebens und den Akten des Schreibens beziehungsweise Beschreibens der Liebe eine grundsätzliche und produktive Differenz annimmt,24 sondern durchaus auch konträr dazu zum Beispiel auf Niklas Luhmann, für den Liebe ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ist und das intime Verhältnis zweier Personen ein besonderer Fall eines sozialen Systems, das eines spezifischen Codes bedarf, mit dessen Hilfe es sich reproduziert,25 oder auf Günter Dux, der in seiner 20 21 22 23 24
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Siegfried J. Schmidt, Geschichten und Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, Hamburg 2003. Kuno Lorenz, Dialogischer Konstruktivismus, Berlin, New York 2008. Jay F. Rosenberg, One World and our Knowledge of it, Dordrecht 1980. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Stauf, Simonis, Paulus, Liebesbriefkultur als Phänomen, S. 3–6. Vgl. Roland Barthes, Fragments d'un discours amoureux, Paris 1977 (dt.: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M. 1984). Auf die Position Barthes’ beruft sich Conrad Wiedemann bei seinen präliminarischen Überlegungen in: Die Liebesbriefe Friedrich Wilhelms II. von Preußen an Wilhelmine Enke (in: Der Liebesbrief, S. 61– 80, hier S. 68), für die er (als weiteres Indiz in oben genanntem Sinne) bemerkenswert starke Resonanz erhalten hat, vgl. Christoph Schmälzle, Spuren wohlgehüteter Intimität. Eine Braunschweiger Tagung zur Theorie und Kulturgeschichte des Liebesbriefes. In: FAZ 11.10.2006, Nr. 236, S. N3, Beilage Geisteswissenschaften), und Eva Meineke (in: ZfG 17, 2007,2), sowie die erwähnte Rezension von Jürgen Kaube sowie die in den Einleitung erwähnte kritischen Diskussionsbeitrag von Robert Vellusig und seine Fortsetzung. Vgl. Luhmann, Liebe als Passion. Luhmann greift allerdings für seine Theorie der Liebe als Kommunikationsmedium so gut wie gar nicht auf Liebesbriefe als Evidenzen zurück, obgleich er doch zugesteht, dass allein durch das Wort die Liebe Dauer gewinne, indem es nämlich den Widerstand, den Umweg, die Verhinderung hervorbringe, und dabei die »Differenz zur Information und zum Anlaß der Fortsetzung der
skeptischen Analyse der Liebe der Frage nachgeht, ob sich Liebe in der nachmetaphysischen Gesellschaft noch auf etwas Substantielles gründen lässt,26 sowie auf literatur- und kulturwissenschaftliche Studien wie Albrecht Koschorkes Gedanken einer epochalen Substitution des Körpers durch Schrift27 beziehungsweise Positionen der feministischen Literaturwissenschaft und Gender-Forschung, die in der Grundtendenz eine anti-essentialistische Argumentation verfolgen;28 auf systematisch ausgerichtete Überlegungen wie diejenigen von Kirsten Huxel, derzufolge die Sphäre des Empfindens und Fühlens immer schon auf die Sphäre des Sprechens und Denkens zu beziehen ist und diese wiederum auf die Sphäre des Wollens und Entscheidens,29 oder, stärker historisch argumentierend, auf die Analysen Ingrid Vendrell Ferrans, die gezeigt hat, dass, folgt man den Argumenten der frühen Phänomenologie, Gefühle phänomenal beschreibbar sind ohne die transzendentale Reduktion Husserls mitzuvollziehen.30 Natürlich ist zu bedenken, dass diese Positionen einander häufig widersprechen, nicht allein, aber doch besonders prägnant hinsichtlich der Frage, ob Liebe als Gefühl zu betrachten ist oder nicht.31 Für den Philologen bleibt an dieser Stelle zunächst die Evidenz des Textes relevant: Was diejenigen, die die Texte niederschreiben oder niederschreiben lassen, als Gefühl äußern und als solches benennen, erfährt Anerkennung allein schon durch die Tatsache der Niederschrift bzw., in zweiter Stufe, des Drucks; in welcher Form dem philologisch zusätzlicher Nachdruck verliehen wird – sei es in Gestalt einer
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Kommunikation« werden lasse (Liebe als Passion, S. 89). So produziere der Kommunikationscode die zu seiner Genese notwendige Verbalisierung selbst, und nur in diesem »noch nicht« existiere eigentlich die Liebe (ebd.). Im Fußnotenverweis zu dieser Passage ist dann jedoch nur von der faktischen Fülle von Literarisierungen der Liebe die Rede, nicht aber von den Möglichkeiten der epistolaren Verbalisierung. Fast sieht es so aus, als seien dem Systemtheoretiker die anarchischen Potentiale von realer Liebeskommunikation allzu unberechenbar, zu unsystematisierbar vorgekommen oder als gelte ihm das primäre Medium des Mediums Liebe für redundant. Günter Dux, Geschlecht und Gesellschaft. Warum wir lieben. Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt, Frankfurt/M. 1994. Vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München, 2. Aufl. 2003. Vgl. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/M. 1979; Barbara Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500–1800), Stuttgart 1987; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.1991. Kirsten Huxel: Ontologie des seelischen Lebens, Tübingen 2005. Ingrid Vendrell Ferran, Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin 2008. In dieser Frage stehen sich zum Beispiel Luhmann in Liebe als Passion und Demmerling/Landwehr (in Philosophie der Gefühle) entgegen.
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differenzierten Variantenverzeichnung, sei es in Form eines Kommentars – wird im Zentrum der nachfolgenden Untersuchungen stehen. Experimentalsystem Die Grundlage hierfür bilden der philologische Kommentar und die Textkonstitution des bereits erwähnten Brief-Korpus der Briefe an Jean Paul und der entsprechenden Gegen- und Kontextbriefe.32 Dieses zu differentieller Reproduktion der Ergebnisse befähigte Modell soll dann als ein editorisches Experimentalsystem betrachtet werden in dem Sinn, den Hans-Jörg Rheinberger, anknüpfend an Hackings Plädoyer für die epistemologische Hinwendung zur Praxis für ein naturwissenschaftliches (biowissenschaftliches) Experimentalsystem vorgeschlagen hat: als Modell, dessen wirksam werdende oder gewordene Gestalt von seiner Geschichte nicht zu trennen ist, auch wenn man ihm diese Geschichte nicht ansieht. Im Lichte der spezifischen interpretierenden Fragestellung könnte die Edition dann als Ort der Emergenz begriffen werden, als offenes System von Texten, in denen sich »Signifikantes verfängt« (so Rheinberger) beziehungsweise verfangen kann. Die Edition ist dabei – genau wie dies Rheinberger im Lichte einer Historiographie epistemischer Ereignisse fordert – einer »Ökonomie epistemischer Verschiebung«unterworfen, worin »alles, was zunächst lediglich als Substitution oder Hinzufügung innerhalb der Grenzen eines bestehenden Experimentalsystems in Anschlag gebracht wird, dem System insgesamt eine neue Gestalt und damit auch seine Vergangenheit neu zu lesen gibt.«33 Dies würde seinerseits konvergieren mit der von Andrea Hofmeister erhobenen Forderung nach einer Dynamisierung der Textkritik,34 die zu ergänzen wäre durch das Postulat einer Dynamisierung der Kommentierung. Auch der Kommentar, so wäre zu fordern, muss als offenes System behandelt werden, das im Lichte der Forschungsfragen, mit denen die Texte konfrontiert werden, modifizierbar bleibt. Auf der Grundlage von Resultaten eines solchen Verfahrens könnte dann die Kontur Theoretische Philologie zumindest skizziert und die Konsequenzen daraus simuliert werden. In diesem Rahmen, so die Vorannahme, kann eine Philologie der Intimität im Wesentlichen auf spezifisch philologische Argumente gegründet werden, eben weil ihr Bezugssystem aus Briefen besteht, die einen Rahmen bereits konstruieren, in dem die Spinne der Philologie ihr Netz aus Textkonstitution und Sachkommentar spinnen kann. 32 33 34
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Hierzu konkret mehr im nachfolgenden Abschnitt dieser Arbeit. Rheinberger, Experimentalsysteme, S. 11. Andrea Hofmeister, Textkritik als Erkenntnisprozess: sehen – verstehen – deuten. In: Editio 19, 2005, S. 1–9; vgl. hierzu auch: Gunter Martens, Vom kritischen Geschäft der Editionsphilologen. Thesen zu einem weiter gefaßten Begriff der Textkritik. In: Editio 19, 2005, S. 10–22, insbes. S. 12–13.
Jean-Paul-Bezug (I) Der Autor, mit dem Böckh sein geschichtsphilologisches Argument illustriert, Jean Paul Friedrich Richter (1763–1825), stellt in philologiegeschichtlicher Hinsicht so etwas wie einen Idealtypus dar: zu Lebzeiten nicht nur Verfasser von höchst eigenwilligen Prosawerken, sondern zugleich auch Produzent und Verwalter eines Verzeichnungssystems kaum je sonst erreichten Ausmaßes, des an die zwölftausendseitigen Privatarchivs der Exzerpthefte; dazu Zentralfigur eines einzigartigen Korrespondenzsystems, dessen Grundannahme er »Simultanliebe« nennt; auf der anderen Seite Objekt des publizistischen Raubrittertums der Zeit um 1800, im 19. Jahrhundert Gegenstand der publizistischen Ressourcenausbeutung unter dem Zeichen der Klassikerausgaben, vom Georgekreis gegen diese Popularisierungstendenzen in Anspruch genommen für die Sonderform einer zugleich wissenschaftlich elaborierten und doch auch der Geschlossenheit des Kreises und seiner interpretationsskeptischen, auf Verstehen als Ereignis zielenden Philologie,35 wenig später dann zum Autor einer positivistischen Musteredition auserkoren, welche von der Geschichte des 20. Jahrhundert beinahe ruiniert, dann aber doch bis in die Gegenwart über alle Brüche von Theoriediskursen hinweg und zuletzt in vielerlei Hinsicht editionsphilologisch ausdifferenziert fortgeführt weden konnte: die von Eduard Berend (1883–1973) begründete Historisch-kritische Werkausgabe von Jean Pauls Sämtlichen Werken.36 Bezugsgrößen und Kriterien für eine zugleich philologiehistorische und philologietheoretische Beurteilung des Editions-Korpus sind einerseits positive Fakten (Zuverlässigkeit der Textkonstitution, Vollständigkeit der Lesarten und Varianten, Tiefe und Weite der biographischen, bibliographischen, kontextuellen Information), auf der anderen Seite die Anordnung, Ausdehnung und Hierarchisierung dieser Fakten in Hinblick auf den edierten Text und dessen literarische Bedeutung. Als fundamentales Kriterium zur Feststellung eines je neu zu definierenden philologischen aptums erweist sich dabei auch heute noch das am Ideal der Autopsie orientierte Kriterium des Maßes. Berends 1927 publizierte Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken seien, so Norbert Miller, »ein bis heute […] unvergängliches Zeugnis philologischer Strenge, kluger Stoffdisposition und […] nüchternen Augenmaßes mit Autor und Werk, das man vielen ins Hypertrophe geplanten 35
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Vgl. Jean Paul. Ein Stundenbuch fuer seine Verehrer, Berlin: Blaetter fuer die Kunst 1900 (Deutsche Dichtung, hg. und eingel. von Stefan George und Karl Wolfskehl). Zum Verhältnis von Verstehen und Ritual im Umgang mit Literatur, die aus der Sicht des George-Kreises Anerkennung verdiente, vgl. Wolfgang Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 161–175. Zu Berends Lebensleistung vgl. Hanne Knickmann, Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883–1973). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: JbJPG 29, 1994, S. 7–91 und 30, 1995, S. 7–104.
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Editionsprojekten wünschen würde.«37 Tatsächlich ist aber diese Hypertrophie die zugleich weitentfernte und doch unmittelbare Folge jener von August Böckh geforderten umfassenden interdisziplinären »historische Construction des gesamten Lebens« in einem anderen Weltalter, eine Konstruktion, die heute nun im Zeitalter ihrer scheinbar vollständigen medialen Erfüllbarkeit angekommen zu sein scheint. Die Berend’schen Prolegomena scheinen nun freilich zunächst ein ganz und gar praktisch ausgerichtetes Programm zu sein: Der Entwurf einer historischkritischen Jean-Paul-Edition (im Folgenden HKA), wie sie seit Längerem geplant war und für die im Publikationsjahr der Prolegomena (1927) die Finanzierung gesichert war. In einer zentralen Passage dieser Programmschrift spricht Berend von theoretischen Erwägungen, die hinter editionspraktischen Entscheidungen stehen können. Es geht dabei um die Anordnung der Werke Jean Pauls in der geplanten Ausgabe, namentlich um das Verhältnis der zu Lebzeiten Jean Pauls erschienenen Werke zum Nachlass-Oeuvre: Angesichts dieser [zuvor begründeten, Anm. J.P.] Unmöglichkeit, die gedruckten Werke nach ihrer Entstehung zu ordnen, erscheint es zweckmäßiger, die nachgelassenen Schriften nicht unter jene einzureihen, sondern einer eigenen Abteilung zuzuweisen […]. Es sprechen dafür auch noch manche anderen theoretischen und praktischen Erwägungen.38
Welches sind nun die theoretischen Erwägungen und wie unterscheiden sie sich – kategorial – von den praktischen? Beides lässt sich aus Berends Text nur erschließen. Als theoretische Erwägung ist folgende Überlegung Berends zu erkennen: Zunächst einmal sind die nachgelassenen Schriften – ich spreche hier nur von den ausgearbeiteten – zwar in wissenschaftlicher Hinsicht von größter Bedeutung, in ästhetischer aber großenteils von geringem Wert. Es sind Stücke darunter, die überhaupt nicht für den Druck bestimmt waren, wie z.B. die ›Übungen im Denken‹. Durchweg entbehren sie noch der letzten Feile und verlangen eine ganz andere editorische Behandlung als die gedruckten, da z.B. oft mehrere Lesarten unentschieden nebeneinander stehen, zwischen denen der Herausgeber zu wählen hat.39
Es geht also in der theoretischen Erwägung um Fragen des Text-Status, der einerseits vom ästhetischen Wert, andererseits aber von der (erschlossenen 37
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Norbert Miller, Vorwort zur Vierten Abteilung von Jean Pauls Sämtlichen Werken, S. V. Den Kommentaren Norbert Millers wird seinerseits von Seiten der Kommentartheorie Vorbildcharakter hinsichtlich des philologischen aptums zugesprochen – vgl. Johannes Saltzwedel, Mit fortgehenden Noten. Anmerkungen über Sinn und Zukunft des Kommentierens. In: Euphorion 103,1, 2009, S. 83–101; in diesem Aufsatz auch weitere erhellende Überlegungen zum richtigen Maß in Editionen, ebd., S. 84–85. Eduard Berend, Prolegomena zur Historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Berlin 1927, S. 16. Ebd.
oder direkt nachweisbaren) Verfasser-Intention abhängig gemacht wird. Als »praktische Erwägung« (im Sinne des obigen Zitates) ist demgegenüber die hieran unmittelbar anschließende Überlegung Berends zu werten: »Endlich ist doch auch manches daraus in gedruckte Werke übergegangen, wenn auch meist in stark veränderter Form, und die dadurch notwendig werdenden Wiederholungen sind weniger störend, wenn sie in verschiedenen Abteilungen stehen.«40 Hier scheinen nur die Interessen des Editors und der zukünftigen Leserschaft eine Rolle zu spielen. Weitere von Berend aufgeworfene Fragestellungen, die zwar nicht ausdrücklich als theoretische Erwägungen bezeichnet werden, aber aufgrund ihrer Implikationen als relevant für eine Theoretische Philologie erscheinen, sind: 1) Die Fragen nach Notwendigkeit und Tiefe der Kommentierung; sie wird, so schreibt Berend sehr allgemein, »bei […] einzelnen Dichtern sehr verschieden zu beantworten sein.«41 2) Die Frage nach den Prinzipien der systematischen und chronologischen Ordnung. Für letztere ist vor allem die grundsätzliche Frage nach der Priorität frühester oder spätester Daten (für die Werke insgesamt, bei den Briefen zum Beispiel die Einordnung nach Datum des Briefbeginns oder Abschlusses). 3) Die grundsätzliche Frage: Was ist in einem überlieferten Textbestand Werk, was ist Lebenszeugnis? Kriterium für Berend ist offenbar die Jean Paul unterstellte Absicht der Publikation, was freilich kein immer zuverlässiges Kriterium ist, und zwar in beiderlei Hinsicht: Texte, die Werkcharakter haben, müssen durchaus nicht immer für den Druck geschrieben sein (wie die schon bei den »theoretischen Überlegungen« Berends erwähnten);42 aber auch Briefe können durchaus bereits in Hinblick auf den Druck geschrieben sein (so zum Beispiel Antworten auf anonyme Zuschriften oder Jean Pauls gedruckte Einlösung offener Briefschulden.43
40 41 42 43
Ebd. Ebd., S. 1. Ebd., S. 18. Ein Beispiel hierfür ist die Nachricht an den Studienfreund Christian Heinrich Schütze, in den Palingenesien [1798]: »Grüße, wenn du etwan hinkommst (…) den guten Doudezimus Fixlein in Z-ch, ferner Herrn W-ss-k in M-rf, weiter meinen lieben Schütz in B., denen ich allen Briefe für ihre guten schuldig bin«. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der preußischen Akademie der Wissenschaften begründet und herausgegeben von Eduard Berend. Berlin 1929– (vorläufig) 2012, Abt. I, Bd. 7, S. 164, Zeile 14–17 (Nachweise aus der HKA im Folgenden nach dem Muster I 7, 164,14–17; im Falle der Briefe wird die Angabe durch die Briefnummer, gegebenenfalls auch das Datum des Briefes ergänzt).
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4) Welche Rolle spielt Autorschaft?44 Zu dieser Frage wäre aus heutiger Perspektive der Exzerptforschung Stellung zu nehmen, wie sie sich über den Kontext der Jean-Paul-Edition hinaus unter anderem an die Publikation der Exzerpte Winckelmanns und der Notizhefte Wilhelm Heinses anknüpfen ließe.45 5) Berend schreibt: »Drei Quellen sind es, aus denen der Dichter [für die Exzerpte als »der ungeheuren Vorratskammer, aus der alle Werke Jean Pauls versorgt wurden«] geschöpft hat: die Welt der Bücher, die äußere Welt und die eigene Innenwelt.«46 Diese Frage vor allem wäre im Lichte der Theoretischen Philologie zu reflektieren: Welchen Status haben Innenwelt, Außenwelt und Textwelt, wie sind sie jeweils für sich und im Verhältnis zueinander philologisch zu repräsentieren? Für Berend gibt es in dieser Frage einen Gradienten in Hinblick auf die Notwendigkeit einer philologischen Repräsentation: Exzerpierte Texte werden bibliographisch nachgewiesen und sind damit notwendig und hinreichend bestimmt (eine weitere Kommentierung der Texte mit Blick auf die äußere Welt ist somit nicht notwendig, ihre Rolle erfüllt sich im internen Bezug). Zu den die Außenwelt betreffenden Exzerpten schreibt Berend: »Obgleich hier überall der schöpferische Anteil des Dichters schon stärker ist als bei den reinen Exzerpten, so haben wir es doch nicht mit freien Geistesprodukten zu tun […] Es muß daher auch bei diesem Teil des Nachlasses auf vollständige Wiedergabe verzichtet werden […].«47Maßstab der Publikation ist also ein Realitätskriterium, das z.B. in der Zuschreibbarkeit von Eigennamen an reale Personen deutlich wird. Die »Innenwelt« des Dichters soll so gut als möglich repräsentiert werden.48 Dies geschieht im Sinne des Wunsches von Jean Paul: »Wenn ich könnte, so möcht’ ich, was noch kein Autor konnte und kann, alle meine Gedanken nach dem Tode der Welt gegeben wissen: kein Einfall sollte untergehen.«49 (Im Originalmanuskript allerdings schließt Jean Paul den Gedanken ab mit der Einschränkung: »aber wie ist dieß bei Reichthum zu machen«50).
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Vgl. Berend, Prolegomena, S. 18. Vgl. Èlisabeth Décultot, Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, Ruhpolding 2004, sowie die daran anschließenden Überlegungen von Yvonne Pauly, Was ist ein Autor? Èlisabeth Décultots große Winckelmann-Studie gibt Antworten auf eine alte Frage. In: IASLonline 17.3.2006, URL: http://iasl.uni-muenchen. de/rezensio/liste/ Pauly3910060579_1367.html; Datum des Zugriffs: 13. Januar 2007. Berend: Prolegomena, S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20–21. Ebd., S. 21. Vgl. II 6, 722, Nr. 321.
Als Eduard Berend 1973 kurz vor seinem 90. Geburtstag starb, war der überreiche Möglichkeitsraum der von ihm begründeten Edition freilich weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht ausgeschöpft. Viele der 1927 in den Prolegomena angesprochenen Fragen waren nach wie vor offen, gerade weil sie sich, wenn auch von theoretischer Relevanz, nur in der editorischen Praxis beantworten ließen. Die historisch-kritische Jean-Paul-Edition ist bis heute in Arbeit, eines jener Langzeitprojekte, wie sie von politischer und wissenschaftlicher Seite vielerlei Anfechtungen ausgesetzt sind.51 Insgesamt konnte fertiggestellt werden (zunächst von Berend selbst, dann, nach seiner Emigration und mehr oder weniger nachlässig von seinen nicht vom Regime bedrohten Nachfolgern, nach dem Krieg wieder von Berend selbst): Abteilung I: zu Lebzeiten des Dichters erschienen Werke (18 Bände); die von Berend vorgesehenen Lesartenbände konnten aufgrund der Emigration Berends und aufgrund von Kriegsverlusten nicht ediert werden; Abteilung II: handschriftlicher Nachlass (bis 1973: 5 Bände); Abteilung III: Briefe Jean Pauls (8 Bände + 1 Registerband, Berlin 1952–1964; mit Regesten der Briefe an Jean Paul im Anhang. Die Bände erschienen chronologisch nicht in der Reihenfolge der Bandnummern, zuerst erschien 1952 Band 6, unvollständig ist Band 5, da das Manuskript auf dem Weg zum Verlag der damaligen DDR verloren ging, so dass Berend einen Teil der Briefe Jean Pauls nur in Regest-Form bzw. unvollständig drucken konnte52).
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Gegen diesen Druck wurde in jüngster Zeit der Begriff der geisteswissenschaftlichen »Grundlagenforschung« mobilisiert, der nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung der editorischen Arbeit eine Art wissenschaftlicher Dignität verleihen sollte, die sich am Ideal wissenschaftlichen Fortschritts ausrichtet; in diesem Sinne schreibt zum Beispiel Bodo Plachta: »Die Erarbeitung großer historischkritischer Ausgaben zeigt sehr deutlich den Fortschritt in der Editionswissenschaft, die damit einen substantiellen Beitrag zur philologischen Grundlagenforschung leistet« (Bodo Plachta, Editionswissenschaft, Stuttgart 1997, S. 8, ebenso in: Plachta, Philologie als Brückenbau. In: Zeitschrift für Ideengeschichte III/1, 2009, Kommentieren, S. 17–32, hier S. 24). Auch das 2005 von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene und mit großer medialer Begleitmusik publizierte Manifest Geisteswissenschaften von Carl Friedrich Gethmann, Dieter Langewiesche, Jürgen Mittelstraß, Dieter Simon und Günter Stock rekurriert auf die Idee geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung, scheint sie indes ambivalent zu beurteilen: Während auf wissenschaftspolitischer Ebene – im Hinblick auf die Aufgabenstellung des European Research Council (ERC) – Zustimmung zu erkennen ist (S. 6), lässt die Innenperspektive der Autoren zumindest Distanz gegenüber entsprechenden Selbstbeschreibungen erkennen (S. 18). Vgl. III 6, Vorwort, S. VI und Bd. V, Vorwort, S. V.
43
Gegenwärtig wird die von Berend begründete Jean-Paul-Edition von Arbeitsgruppen in Würzburg und Berlin (vormals Potsdam) fortgeführt.53 Text-Korpus des hier vorgeschlagenen Experimentalsystems sind die Briefe an Jean Paul, die an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin als vierte Abteilung der historisch-kritischen Jean-PaulEdition bearbeitet werden. Gründe dafür, dass gerade am Modell einer BriefEdition die oben dargelegte Option erprobt und gegen das Modell einer Werkedition profiliert wird, wurden schon angedeutet: Briefe sind – sieht man von den durch Karl Heinz Bohrer zum avantgardistischen Ideal stilisierten Formen romantischer Reflexions-Epistolographie einmal ab54 – eben nicht oder zumindest nicht ausschließlich als unterschiedliche Weisen der subjektivsprachlichen Welterzeugung, als Erscheinungsformen von »Interpretationswelten« (G. Abel), zu begreifen, sondern beziehen sich notwendigerweise auch auf die »eine Welt und unser Wissen von ihr« (Jay F. Rosenberg). Dies in und durch Korrespondenzen (und in Liebeskorrespondenzen ganz besonders) generierte Wissen ist im Grunde stets schon philologisches Wissen. Nicht allein aufgrund der Tatsache, dass die philologischen Grundtätigkeiten des Lesens beziehungsweise Entzifferns, Deutens, Kommentierens, Sammelns und Archivierens dabei stets schon mitpraktiziert werden; sie werden zugleich zu Ritualen innerhalb von Lebenszusammenhängen, wie dies nicht zuletzt 53
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Die bei Berends Tod noch unvollständige zweite Abteilung wird seit 1987 in Marbach a. Neckar und in Würzburg fertiggestellt. Zunächst waren es Götz Müller in Würzburg und Winfried Feifel in Marbach, die erste, noch ungedruckte Teile aus dem Nachlass edierten. Zur editorischen Reflexion dieser Abteilung vgl. Birgit Sick, Jean Pauls nachgelassene Satiren und Ironien als Werkstatt-Texte. Schreibprozeß – Werkbezug – Optionale Schreibweisen. In: JbJPG 41, 2006, S. 51–70; ebenfalls in Würzburg bearbeitet wird die Transkription und elektronische Publikation der für die Werkgenese fast aller Schriften Jean Pauls grundlegenden Exzerpthefte, vgl. http://www.jean-paul-portal. uni-wuerzburg.de/ aktuelle_editionen/nachlass_ exzerpthefte (eingesehen am 6.2.2010); gleicfalls in Würzburg entsteht eine zunächst als Revision betrachtete, inzwischen sich als neue Edition begreifende Ausgabe der zu Lebzeiten veröffentlichten Werke Jean Pauls. Auch die – inzwischen begrifflich revidierte – Notwendigkeit dieser Revision ergab sich aus der von der Zeitgeschichte angegriffenen Editionsgeschichte. Der Berendschen Ausgabe fehlen, wie schon erwähnt, aufgrund der Emigration die Lesarten, ein Vergleich der unterschiedlichen Druckfassungen ist ebensowenig möglich wie die systematische Berücksichtigung der Vorarbeiten. Im Allgemeinen wurden von Berend die letzten von Jean Paul zum Druck gebrachten Fassungen zur Textgrundlage gemacht, wobei der edierte Text teilweise nicht dem Autortext entsprach (was Berend durchaus stringent zu begründen vermochte, heute aber als editionsphilologisch überholt gilt). Bisher (2012) ist erschienen: Jean Paul, Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Helmut Pfotenhauer, Bd. 1: Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Edition der Druckfassungen 1795, 1798 und 1819 in synoptischer Darstellung, hg. von Barbara Hunfeld, Tübingen 2009. Vgl. Karl-Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München und Wien 1987.
Jean Paul selbst immer wieder zur Forderung erhoben hat, zum Beispiel wenn er schreibt: Briefe verbrennen. Nie thät ichs. Alles untergehende Leben kommt wieder; diese Geschöpfe dieses Herzens und Kopfes nie. Durchstreicht die Namen, verwechselt die Handschrift; aber lasset die Seele leben, die gerade in Briefen am innigsten lebt.55
Auch die editorische Vorgeschichte des Experimentalsystems ist durch eine Verquickung von Philologie und Liebeskommunikation gekennzeichnet. Bereits die ersten Vorüberlegungen Jean Pauls zu einer Gesamtausgabe seiner Werke standen nicht allein in einem philologiehistorischen Kontext sondern zugleich im Horizont der Liebeskommunikation: Die ersten Spuren eines solchen Planes tauchen in seiner Korrespondenz auf, als im März 1800 die Angehörigen seiner damaligen Verlobten Caroline von Feuchtersleben von ihm Auskunft darüber verlangen, ob er seiner Braut einen gesicherten Lebensunterhalt gewähren kann. Jean Paul, durch die Darstellung des Betrugs, den die beiden Doppelgänger-Helden an der Preußischen Witwenkasse im Roman Blumen- Frucht und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (1796–1797) aushecken, durchaus nicht nur (literarisch) berühmt sondern auch (moralisch) berüchtigt, garantiert daraufhin der Braut die Einnahmen, die er in fünf bis sechs Jahren für die Ausgabe seiner Werke erhalten wird und die er auf 12 000 bis 16 000 Taler schätzt. Die Verbindung mit Caroline von Feuchtersleben kommt jedoch nicht zustande. Ein Jahr später richtet der Vater von Jean Pauls nächster Braut aus der langen Reihe seiner Verlobten dieselbe Frage an den Dichter, die der Eheaspirant nun jedoch etwas vorsichtiger beantwortete: »Erleb’ ich nur noch 8 oder 10 Jahre, so geb’ ich meine OPERA OMNIA, die jezt schon 26 Theile machen – welches fürchterliche Heer für einen Leser, der bei dem ersten anfängt! – mit den künftigen heraus und glaube damit wenigstens 10 000 rtl. gewinnen zu können.«56 Die letzte philologische Entscheidung seines Lebens hinsichtlich der Sämtlichen Werke wird dann aber weder von der Liebe noch von der Philologie, sondern von einem philosophischen Theoretiker diktiert: Es ist hauptsächlich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der bei Gelegenheit eines Besuchs in Bayreuth im September 1825 den Dichter dazu überredet, seine Werke für die Werkausgabe im wesentlichen unverändert zu lassen.57 Damit nimmt die Geschichte der Jean-Paul-Editionen ihren Anfang und so hat denn auch hier ein Theoretiker das vorläufig letzte Wort. 55
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Jean Paul, Ideengewimmel, S. 170, Nr. 994; vgl. auch: Vgl. Echte, Bernhard: »Alles untergehende Leben kommt wieder.« Die Briefe an Jean Paul aus den Jahren 1781 bis 1797. In: NZZ, 21./22.5.2005, S. 49. III 4, 55, Nr. 99 vom 15.3.1801. Berend, Prolegomena, S. 9.
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2. Textkonstitution und Emotionalität Zusammenfassung Die Philologie gilt als eine der Disziplinen, die ihre Begründung als Wissenschaft der Romantik zu verdanken hat. Im weiteren Verlauf, so die geläufige These, habe sie diese Verbindung zum romantischen Universalismus und Intuitionismus gekappt (und je nach ideologischer Ausrichtung des Interpreten wird dies als Verlust oder als Gewinn gewertet). Gerade in den Konzepten für den philologischen Textumgang haben sich jedoch Elemente des romantischen Entwurfs der Philologie enthalten, wobei sich die traditionellen und die textgenetisch orientierten editionsphilologischen Überzeugungen komplementär zu einander verhalten: während erstere intuitiven Gefühlen in produktionsphilologischer Hinsicht Rechnung tragen, plädieren letztere für ein philologisches Ethos gegenüber dem emotionalen Status des Textes. Eine Philologie der Intimität sollte einen methodologischen Mittelweg finden, in dem beide Aspekte zur Geltung kommen.
Traditionsspuren Während in der Forschung der Begriff der Gefühlskultur bevorzugt mit der Empfindsamkeit assoziiert wird,58 wird die Etablierung der Philologie – und namentlich der deutschen Philologie – als methodisch fundierte und organisierte Wissenschaft mit der spezifisch romantischen Verschmelzung von Emotionalität und Intellektualität in privilegierte Verbindung gebracht. Auch und gerade der philologische Positivismus bekannte sich zu dieser Genealogie,59 die neuere Philologiegeschichte schrieb dies fort oder griff es zumindest auf, um zu widersprechen: Es gehöre nachgerade »zum Standardwissen des Philologen«, so Wolfgang Haubrichs und Gerhard Sauder 1984, »daß seine Zünfte, die Nationalphilologien, im Schoße der Romantik geboren […] sind.«60 Allerdings gab es stets auch Stimmen, die das Dogma wenigstens einschränkten: In Rudolf von Raumers grundlegender Geschichte der Germanischen Philologie, vorzugsweise in Deutschland von 1870 kommt die Romantik erst nach einem langen, ausführlich behandelten Vorlauf von der Reformations58
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Vgl. Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten, Einleitung. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Weimar, Köln, Wien 2000, S. 7–20, hier S. 12; Achim Aurnhammer, Dieter Martin, Robert Seidel, Einleitung. In: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung, Tübingen 2004, S. 1–11. Vgl. Friedrich Pfaff, Romantik und germanische Philologie, Heidelberg: Winter 1886. Wolfgang Haubrichs, Gerhard Sauder, Einleitung/Introduction. In: Wissenschaftsgeschichte der Philologien, hg. von Wolfgang Haubrichs und Gerhard Sauder, Göttingen 1984 (= Sonderheft der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 53/54), S. 7–17, hier S. 11–12; die entsprechende Position wurde, bezogen auf die Sprachwissenschaft und mit kritischem Vorbehalt gegenüber der dabei etablierten Aufsplittung des Faches, u.a. von Richard Baum bekräftigt, vgl. Baum, Die Wende in der Philologie: Die Geburt der Sprachwissenschaft aus dem Geiste der Romantik – Jacob Grimm und Friedrich Diez. In: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996), hg. von Frank Fürbeth, Pierre Krügel, Ernst E. Metzner und Olaf Müller, Tübingen 1999, S. 221–240.
zeit bis 1797 zur Geltung und wird auch dann noch von einem durchgängig kritischen, klassizistischen Vorbehalt begleitet;61 und Friedrich Neumann erinnerte genau einhundert Jahre nach Raumer erneut daran, dass die Wissenschaftsgeschichte sich davor zu hüten habe, all das, was sich um 1800 im Bereich der deutschen Philologie anbahnte, »vorschnell unter den Periodenbegriff ›Romantik‹ zu ordnen«, auch wenn die Philologen dieser Zeit unstreitig »durch sachliche oder persönliche Beziehungen« mit denen verbunden waren, die man ›Romantiker‹ nennt.62 Vielmehr, so Neumann, sei das, was sich damals vollzog, »bis in seine Ursprünge hinein aus recht Verschiedenartigem zusammengesetzt« gewesen.63 Dieser Ursprungs-Diversität wurde in der neueren literarhistorischen Forschung auf unterschiedliche Weise Rechnung getragen: Durch gleichsam obligatorisch gewordene Hinweise auf Vorläuferfiguren (wie Herder) und Präfigurationen (wie den Humanismus), in Hinblick auf die politischen und ethnopsychologischen Aspekte der romantischen Positionierung im Feld der Wissenschaft64 sowie durch fächerspezifische65 oder regionale Differenzierungen etwa nach den Bedingungen der Berliner66 oder der Heidelberger Gründungssituationen.67
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Rudolf von Raumer, Geschichte der Germanischen Philologie, vorzugsweise in Deutschland. München 1870 (Repr. New York, London 1965), S. 292ff. Friedrich Neumann, Studien zur Geschichte der deutschen Philologie, Berlin 1971, S. 42. Ebd. Johannes Janota, Einleitung. In: Eine Wissenschaft etabliert sich (1810–1870), hg. von J. Janota, Tübingen 1980, S. 20, 24, 30. Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, »Un souffle d’Allemagne ayant passé«. Friedrich Diez, Gaston Paris und die Genese der Nationalphilologien. In: Wissenschaftsgeschichte der Philologien, S. 39–78, bes. S. 37–40. Vgl. Steffen Martus, Romantische Aufmerksamkeit. Sinn und Unsinn der Philologie bei Ludwig Tieck. In: »lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn! – « Ludwig Tieck (1773–1853), hg. vom Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin unter Mitarbeit von Heidrun Markert, Bern, Berlin u.a. 2004, S. 199–224. Vgl. Jürgen Paul Schwindt, Sinnbild und Denkform. Creuzers »Alterthumskunde« und das romantische Erbe der Klassischen Philologie. In: Friedrich Creuzer (1771–1858). Philologie und Mythologie im Zeitalter der Romantik, Begleitband zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Heidelberg 12. Februar – 8. Mai 2008, hg. von Frank Engelhausen, Armin Schlechter und Jürgen Paul Schwindt, Heidelberg u.a. 2008. Ein Korollar der vorliegenden Studie könnte es sein, diese Differenzierungen um einen weiteren, epochenhistorischen zu ergänzen: mit Rücksicht auf Jean Pauls Vorbildfunktion für zahlreiche Gründerpersönlichkeiten der Philologie wie Adolph Wagner, Friedrich Heinrich von der Hagen, Carl Lachmann u.a. wird man, wenn nicht von einer Geburt aus dem, so doch von einer Wurzel der wissenschaftlichen Philologie im Geist der Empfindsamkeit sprechen können: die Wegbereiter der Philologie als Wissenschaft sind nicht ausschließlich in eine romantische sondern zumindest ebenso prominent in eine empfindsame Kommunikationskultur eingebettet. Vgl. hierzu aus-
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Unbestritten ist: Der philologiehistorische Entwicklungsgang spielte sich in der Zeit um 1800 in zahlreichen miteinander vernetzten Diskursen ab, in denen vor allem, aber nicht exklusiv, romantische Denkfiguren sowie philologische Theorie und Praxis sich in wechselnden Abständen umkreisten und beeinflussten; Johannes Janota zählt neben den politischen Intentionen, den wissenschaftsphilosophischen Prämissen, den gesellschaftlichen Orientierungen, dem gemeinsamen Interesse an Mythisierung und Germanisierung auch die Absicht der Philologisierung im engeren Sinne auf, 68 die in seiner (noch vom Zeitgeist der 1970er Jahre getragenen) Sicht freilich mehr oder weniger verhängnisvoll von den romantischen »Vorstellungen eines Fachs wegführte, das sich […] als Motor einer patriotischen Kulturpolitik begriff und das damit mehr sein wollte als eine rein philologische Disziplin.«69 Gerade die (für Janota vor allem durch Carl Lachmann verkörperte) philologische Hauptabsicht einer »möglichst genauen Darbietung einer kritisch hergestellten Textform« erscheint in dieser Perspektive als eine Art Verrat an der ursprünglichen romantischen philologischen Intention, die freilich durch Tendenzen der Popularisierung bzw. durch Stellungnahmen gegen die »philologische Esoterik« reaktiviert werden.70 Diesem Szenario ist nun freilich entgegenzuhalten, dass auch und gerade der philologiepraktische Kernbereich der Textkonstitution von romantischen und vorromantischen Prämissen durchdrungen war und blieb, da sich diese über lange Zeit hinweg als besonders resistent gegenüber allen Umbrüchen der philologischen Leitbilder erwiesen haben. Der Zusammenhang ist freilich vordergründig nicht so deutlich zu erkennen. Die Proklamatoren und Proklamationen des philologischen Positivismus haben ihn wohlweislich hinter die spanischen Wände der handwerklichen Solidität zu verbannen versucht: »Die elementaren philologischen Tätigkeiten sind Herausgeben und Erklären«, so schrieb 1877, in der Initiationszeit des philologischen Positivismus, Wilhelm Scherer,71 und Georg Witkowski statuierte 1924 in seiner den philologischen Positivismus gleichsam rekapitulierenden und auch heute noch in vielerlei Hinsicht vorbildlichen Studie zur Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke: »Alle Herausgebertätigkeit hat mit der Herstellung eines zuverlässigen Wortlauts zu beginnen.«72 Unter dem »Herausgeben« ist dabei zunächst die Konstituierung und Edition eines kritisch geprüften Textes zu verstehen.
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führlicher: Jörg Paulus, Vielfacher Briefsinn. Philologenleben und Jean-PaulEnthusiasmus um 1800. In: JbJPG 47, 2012, S. 31–60. Eine Wissenschaft etabliert sich, S. 19–38. Ebd. S. 36. Ebd., S. 38–46. Wilhelm Scherer, Goethe-Philologie (1877). In: Scherer, Aufsätze über Goethe, 2. Aufl., Berlin 1900, S. 3–27, hier S. 10. Georg Witkowski, Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch, Leipzig 1924, S. 16.
Hier wird die »erste ein für allemal gesicherte Grundlage jeder Ausgabe [eines] Werkes gewonnen.«73 Nach wie vor werden in der am klassischen Muster orientierten Editionswissenschaft die Bestimmung der angemessenen Textgrundlage unter Berücksichtigung der Überlieferungssituation sowie der daran anschließende Prozess der Textkritik als die wesentlichen Arbeitsschritte der editionsphilologischen Textkonstituierung angesehen.74 Was in diesen Ansätzen als ein vornehmlich technisches, handwerkliches Verfahren beschrieben wird – bei Witkowski zum Beispiel mittels genauer Anweisungen, welches Format editorische Karteikästen haben und wie ein editorisches Lesepult beschaffen sein sollte – steht gleichwohl mit dem romantischen Ursprungsgedanken der Textphilologie in unmittelbarer Verbindung. Der Versuch, eine spezifische Form von philologischer Wissenschaftlichkeit zu begründen, lief von Anfang an zuallererst auf einen zugleich handwerklichen und rituellen »Werkherstellungsprozess« hinaus, »der mittels textkritischer Verfahren eine vielfach disparate und immer schon korrupte Überlieferung sondierte und in der Edition eines gereinigten, in sich möglichst homogenen Textes gipfelte«,75 gleichsam dem Meisterstück der philologischen Lehr- und Wanderjahre. Der Begriff der Kritik behielt dabei die ›mystische‹ Ambiguität bei, die ihm als einem Verfahren im Medium der Reflexion im Rahmen der romantischen Neubegründung der Kunstkritik bewusst und systematisch unterlegt worden war.76 Von einem »[g]emeine[n]«, einem »[h]öheren« und einem »[a]angewandte[n] Kriticism« spricht bereits Novalis im Allgemeinen Brouillon, unmittelbar darauf vom »realen und idealen Kriticism«, der »durch Synkriticism« vereinigt werde.77 Carl Lachmann versuchte zwar, in seiner wissenschaftlichen Begründung der textkritischen Recensio die »eklektische Divinatorik der textkritischen Bemühungen« der älteren Philologie zu überwinden, wiederholte sie aber, wie Hans-Gert Roloff zugesteht, gleichwohl »auf einer höheren Ebene«.78 Und Friedrich Schleiermacher, im Austausch mit seinem Freund Lachmann, bestimmt in den aus dem Nachlass herausgegebenen Vorlesungen über Herme73 74 75
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Ebd., S. 65. Vgl. Plachta, Editionswissenschaft, S. 75–98. Jürgen Fohrmann, Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, S. 1–14, hier S. 4; vgl. weiterhin: Ulrich Hunger, Romantische Germanistik und Textphilologie, Konzepte zur Erforschung mittelalterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: DVjs 61, 1987, Sonderheft, S. 42–68. Vgl. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920), hg. von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1973, S. 40–43. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs (3 Bde.), hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, München, Wien 1978, Bd. 2, S. 568. Hans-Gert Roloff, Karl Lachmann, seine Methode und die Folgen. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick, hg. von Hans-Gert Roloff, S. 63–81, hier S. 69.
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neutik und Kritik die »philologische Kritik« (in Abgrenzung zur »doctrinalen Kritik« und zur »historischen Kritik«) als eben jene Kritik, »die es zu thun [hat] mit der allmählichen Umgestaltung, die durch das Spiel zwischen Aufnehmen und Wiedergeben, Receptivität und Spontaneität entsteht«.79 Er unterscheidet nun innerhalb der philologischen (Text-)kritik ausdrücklich wieder zwischen einer »höheren« oder »divinatorischen« Kritik einerseits und der »niederen« oder »beurkundenden« andererseits, wobei er freilich dem romantisch-kritischen Prinzip des »[S]chöpferisch[en] aus Besonnenheit«80 durch die Einschränkung Rechnung trägt, »daß das divinatorische Verfahren nur dann zugelassen sei, wo es an urkundlichen Mitteln fehle, oder gar, daß, wo es nicht an diesen fehle, man nicht befugt sei, das divinatorische Verfahren anzuwenden« – man habe in diesem Falle »bei dem besten, was die Handschriften geben«, zu bleiben.81 Auch der philologische Positivismus hält durchaus an diesem zurückhaltenden Spekulationsgeist fest: In Witkowskis Entwurf einer wissenschaftlichen Textkritik wird der Triumph der »Mechanisierung der Textkritik über jedes innere Prinzip und alle persönliche Entscheidung« beklagt.82 Gleichwohl fehlen aber in Witkowskis Aufzählung der Materialien, deren »umfassende[r] Kenntnis« die Textkritik bedürfe,83 Aspekte der Gefühlskultur. Die Materialkenntnis setzt sich für Witkowski zusammen aus Kenntnissen der Handschriften und Drucke, dem »vollen Verständnis der Sprache« sowie dem »restlose[n] Verständnis des Inhalts«. Ein philosophisches, geschichtliches, naturwissenschaftliches Werk erfordere »zur Prüfung seines Wortlautes eingehende Kenntnis der betreffenden Wissenschaft in der Entstehungszeit, der damals üblichen Fachausdrücke und des Geltungsbereichs dieser Terminologie«.84 Auch die ergänzenden Hilfsmittel, die Witkowski anführt, beziehen sich auf geographische, historische und publizistische Kontexte, nicht aber auf emotionale.85 Im Hinblick auf die Relevanz von Gefühlstatsachen ist nun aber zwischen einem produktionsphilologischen und einem inhaltsbezogenen Aspekt 79
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Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, 1. Abt. Bd. 7: Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, aus Schleiermachers Nachlasse und handgeschriebenen Vorlesungen, hg. von Friedrich Lücke, Berlin 1838, S. 27; der Text Schleiermachers wieder in: Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte, hg. von Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977. Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, S. 46. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 291; ebenso hatte auch Lachmann vor subjektiven Präsuppositionen im durchaus subjektiv begleiteten Verfahren der recensio gewarnt, vgl. Magdalene Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung, Berlin 1975, S. 303. Witkowski, Textkritik und Editionstechnik, S. 14. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21–22.
zu unterscheiden; der produktionsphilologische Aspekt bezieht sich auf die Anerkennung der Beteiligung von Gefühlstatsachen am editionsphilologischen Prozess, der inhaltsbezogene auf die Anerkennung der Relevanz von Gefühlstatsaschen für die Entstehung der zu edierenden Texte, und dies nicht in psychologischer, sondern in textgenetischer Hinsicht. Auf der produktionsphilologischen Ebene wird diese Anerkennung durch eine Art romantisch-technizistischer Ausmalung der philologischen ›Werkbank‹ eher überspielt als negiert, zum Beispiel, wenn Witkowski dekretiert, dass der Editor, »[u]m dem Auge möglichste Erleichterung zu gewähren […] den Text auf ein links vom Arbeitenden befindliches schräges Lesepult« zu stellen habe und die zu vergleichende Textfassung »unmittelbar darunter« legen solle, und dann fortfährt: »Auf dieser mag ein Holz- oder Pappstück unter der zu vergleichenden Zeile den übrigen Teil der Seite bedecken und so den Blick leichter zu der gesuchten Stelle zurückkehren lassen.«86 Wer einmal in der editionsphilologischen Praxis tätig war, erkennt hier ein bis heute unhinterfragt gültiges Ritual des Kollationierens, dessen von der Romantik selbst generierter antiromantischer Gestus aber in Vergessenheit geraten ist. Schon die sich im Feld der Wissenschaften etablierende Philologie um 1800 hatte eine elementare Leseethik propagiert, die, wie Steffen Martus gezeigt hat, über den frühromantischen Begriff der Aufmerksamkeit mit entsprechenden poetischen Konzepten – zum Beispiel Tiecks – korrespondierte.87 Nur scheinbar steht es hierzu im Widerspruch, wenn etwa Novalis in den »Teplitzer Fragmenten« schreibt: »Es giebt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn« und »Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben«.88 Denn diese Reflexion ist gerahmt durch Bemerkungen über das Lesen und zur Philologie und deren konstruktive Interaktion: »Ist nicht jeder Leser ein Philolog?«, heißt es da, und die Frage ist zugleich vorläufige Schlussfolgerung aus dem vorausgehenden Fragment, in dem Novalis die textkonstitutive Rolle des (Selbst-)Lesens bei der Entstehung des sprachlichen Kunstwerkes akzentuiert hatte:
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Ebd., S. 28–29. Steffen Martus, Romantische Aufmerksamkeit, S. 205; zu Tiecks Rückgriff auf Ideale »des älteren Handwerkerkünstlertums« als »Antwort auf die moderne Entzweiung von Kunst und Sittlichkeit« vgl. Bernhard Schubert, Der Künstler als Handwerker. zur Literaturgeschichte einer romantischen Utopie, Königstein/Taunus 1986, S. 21ff und 92ff.; – das Verhältnis von Handwerk und Philologie spielt in dieser Untersuchung keine Rolle. Den rhetorischen und philologischen Aspekt von AufmerksamkeitsStrategien untersucht genauer Melanie Möller in ihrer 2009 eingereichten Heidelberger Habilitationsschrift (vgl. auch Möller, Rhetorik und Philologie. Fußnoten zu einer Theorie der Aufmerksamkeit. In: Was ist eine philologische Frage? S. 137–159). Novalis, Werke, Bd. 2, S. 399.
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Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser – indem sie schreiben – und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers – so viele kritische Rücksichten – so manches, was dem Leser zukömt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobne Stellen – alles dies gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser setzt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will.89
Der aus dieser Beschreibung abgeleitete akzentsetzende, konstruktive Habitus des Philologen reflektiert die Spannung zwischen der gemeinen und der höheren Kritik, in deren Rahmen sich das »Philologisiren« als »wahrhaft gelehrte Beschäftigung« entfaltet, die doch gleichwohl dem »Experimentiren« entspricht.90 In diesem Sinne kann der Schriftsteller »Philolog bis in die unendliche Potenz« sein,91 der Philologe zugleich potenzierter LeseHandwerker. Bis zu den frühen Anleitungen zur EDV-Anwendung in der Philologie lässt sich das philologische Doppelspiel von Nüchternheit und Überhöhung weiterverfolgen, etwa wenn die Begründer des »Tübinger Systems von Textverarbeitungs-Programmen« (TUSTEP) 1980 einerseits ausführen, wie die »in einer EDV-Anlage gespeicherten Texte« über verschiedene Medien wieder sichtbar zu machen sind, »sei es auf dem Bildschirm oder auf dem Papier durch Schnelldrucker« (wobei für die Bedürfnisse der Edition Drucker benutzt werden sollten, »die wenigstens über Groß- und Kleinbuchstaben verfügen«) und diese Ausdrucke wiederum in »synoptischer Anordnung« zur Grundlage der »[k]ritische[n] Kollation« gemacht werden können,92 als Vergleichs- und Subtext ihrer Studie dann aber eine Passage aus Eleonore Freys Poetik des Übergangs auswählen, in der wiederum am Beispiel eines MörikeGedichts das Verhältnis von »Werk und Wunder« thematisiert wird.93 Und noch die aktuellen Projekte zum computerunterstützten philologischen Lesen beziehen sich über die Grenzen der »Repräsentations-Dispositive« hinweg paradigmatisch auf entsprechende Praktiken.94 Die technologischen Praktiken und Utopien der Philologie scheinen auf Verweise zum inner- und außerphilologischen Leben nicht verzichten zu wollen oder zu können. 89 90 91 92
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Ebd., S. 398–399. Ebd., S. 648. Ebd., S. 399. Wilhelm Ott, Hans Walter Gabler, Paul Sappler, EDV-Fibel für Editoren, im Auftrag und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Stuttgart, Tübingen 1982, S. 16–17, S. 32. Vgl. ebd., S. 41 sowie Eleonore Frey, Poetik des Übergangs. Zu Mörikes Gedicht Göttliche Reminiszenz, Tübingen 1977, S. 62–63. Vgl. z.B. die (allerdings zum Teil von der strengen Observanz abweichenden) Bilder aus Videoaufzeichnungen von Manuskript-Lektüren im Bericht zum Forschungsprojekt Modélisation de dispositifs de repésentation de documents hybrides von Aurèle Crasson, Représenter l’illisible. In: Genesis 27, 2006, S. 163–165, hier S. 164.
Zurück zu Witkowski als dem Zeugen, in dessen programmatischem Text die philologischen Traditionslinien auf exemplarische Weise konvergieren: Der Übergang von der basalen Textkritik zur »höheren« Kritik wird bei ihm ganz beiläufig in Szene gesetzt: »Zunächst dient das alles nur der Kritik, d.h. der Gewinnung eines gesicherten Wortlautes […] Zur Erläuterung der Verfahren der höheren Kritik sollen wieder Beispiele dienen.«95 In Witkowskis Entwurf der »höheren Kritik« wiederholen sich dann zunächst die Rituale der »niederen« Textkritik, deren Ergebnisse überall vorausgesetzt werden müssen, da »nur das […] für die höhere Kritik verwertbar [ist], was als gesichertes Eigentum des Autors nach Abzug der von anderen geänderten und hinzugefügten Bestandteile der Überlieferung erschlossen ist.«96 Doch beim Übertritt auf das ›divinatorische‹ Feld (das bei Witkowski freilich so nicht bezeichnet wird), tritt nun gleichwohl das subjektive Gefühl in sein Recht: »geschulte Einfühlung«, so Witkowski, müsse nun »bei jeder einzelnen Entscheidung mitwirken«, daneben aber, gleichsam kompensatorisch, auch »statistische Zusammenstellungen der Fehlerzahlen, der echten und der interpolierten Partien« etc.97 Auch werden dem produktionsphilologischen Gefühl erneut Grenzen gesetzt: »Unbedingt abzuweisen«, so Witkowski, seien »die früher beliebten Emendationen auf Grund gefühlsmäßiger Einstellung des Kritikers«; denn »[w]as ein Autor geschrieben haben könne oder nicht geschrieben haben könne, das ist deshalb unmöglich zu sagen, weil niemand die inneren und äußeren Voraussetzungen einer verflossenen Zeit und einer anderen Persönlichkeit gleichwertig in sich zu erneuern vermag.«98 Der Terminus, unter welchem dem Gefühl in die textkritische Reflexion auf der Inhaltsebene Einzug gewährt wird, heißt bei Witkowski – offenbar zur Abgrenzung vom Gefühl des Editors – Affekt: Satzbau und Sprachrhythmus, Eigenart der Apperzeptionen, Überwiegen visueller und akustischer Begabung, Einfluß der Affekte und der affektbetonten Vorstellungen, kurz alles, was im Schriftwerk als Persönlichkeitskennzeichen erscheint, kann und soll in den Dienst der Kritik treten […].99
Gleichwohl lautet das Hauptargument einer weniger produktions- als inhaltsorientierten philologischen Theorie: in der Konstituierung eines verbindlichen Textes mit Varianten bleibt das subjektive Gefühl des Herausgebers die letzte Instanz. Der Affekt bleibt dem Regime der Textkritik unterworfen, er steht, wie Witkowski schreibt, in deren Dienst. Aus solchen Gründen hat neben anderen Gunter Martens behauptet, dass ein auf den traditionellen, nach den textkritischen Grundsätzen des 19. Jahr95 96 97 98 99
Witkowski, Textkritik und Editionstechnik, S. 41. Ebd., S. 63. Ebd., S. 40. Ebd., S. 52–53. Ebd., S. 62.
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hunderts konstituierter Text mit Lesartenapparat »schwerlich das geeignete Arbeitsinstrument für semiologische oder auch psychologische Herangehensweisen« sei, selbst wenn sich längst auch in traditionellen Editionen die Anschauung durchgesetzt habe, dass der Variantenapparat als das Ergebnis der textkritischen Bemühungen des Editors nicht zur rein pragmatischen Rechtfertigung des edierten Textes da ist, sondern eine »hermeneutische Funktion« hat. 100 Die textgenetisch orientierten Editionen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kritisierten, dass gleichwohl eine Disproportion zwischen der vom Editor festgelegten Endgestalt und dem Eigenwert der Vor- und Zwischenstufen bestehen bleibe. Gerade in der editorischen Präsentation von Abweichungen, oft sogar Widersprüchen zwischen den Vorstufen und der unterstellten Endstufe liege das interpretatorische Potential. Konsequenz daraus ist die Aufhebung der traditionellen Trennung von Text und Apparat, der Text wird »aus der Gesamtdokumentation der Werküberlieferung sukzessiv entwickelt«, die Varianten erscheinen mithin als integraler Bestandteil des Textes, die Texte ihrerseits sind »nichts anderes als die Totalität der durchlaufenen varianten Textstufen.«101 Ein solches Verfahren wendet sich ausdrücklich gegen die Subjektivität der textkritischen »Wahl« beziehungsweise »Auswahl«, mit anderen Worten, gegen das produktionsphilologische ›Gefühl‹. Auch die Leitlinien einer konsequent textgenetisch orientierten und engagierten Philologie lassen sich jedoch in die Vergangenheit verlängern; und erneut bildet dabei die philologische Romantik den Fluchtpunkt. In vielen programmatischen Äußerungen der Vertreter des textgenetischen Prinzips ist dieser Zusammenhang nur zu erschließen, besonders deutlich in den zwischen einer deduktiven (bei gegebenem Anlass auch lateinischen)102 Herleitung more geometrico und rhapsodischen Orakelsprüchen changierenden Ausführungen des Hölderlin-Editors Dietrich E. Sattler, deren Gestalt und Sprache vom Tractatus logico philosophicus Wittgensteins ebenso geprägt ist wie von der romantischen Kultivierung des Fragmentarischen. Einige dieser Texte betreiben dabei gleichsam Auto-Philologie, indem nämlich apodiktischen Behauptungen wie zum Beispiel dem von Sattler statuierten »Axiom Nr. 1« – »im zweifel gilt sinn« – eine petit gesetzte Erläuterung beigegeben wird, die einer Glosse beziehungsweise einem Kommentar entspricht: »die relative dunkelheit einer dichterischen chiffre zeigt nicht das fehlen einer nachvoll100
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Gunter Martens, Texte ohne Varianten? Überlegungen zur Bedeutung der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe in der gegenwärtigen Situation der Editionsphilologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 101, 1982, Sonderheft Probleme neugermanistischer Edition, hg. von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 43–64, hier S. 45–46. Martens, Texte ohne Varianten?, S. 53. Vgl. Dietrich E. Sattler, Axiomata editoriala. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, hg. von Gunter Martens und Winfried Woesler, Tübingen 1991, S. 186–188.
ziehbaren intention (i) an sondern den in der verneinung (o) manifesten intellektuellen mangel, der ihre entzifferung verhindert«.103 Die produktionsphilologische Selbstgewissheit der ›höheren Kritik‹ wird zugunsten einer textkonstitutiven Inkommensurabilität der (Text-)Intention depotenziert. Daraus ergibt sich eine prinzipielle Offenheit des konstituierten Textes, was durch die beiden nachfolgenden »Axiome« bekräftigt wird: »die textkonstitution darf um so kühner sein je offener sie sich der kritik stellt«, und »in zweifelhaften situationen ist der edierte text als lesart zu betrachten«.104 Der Editor gleicht einem Fischer, der nach Textzeugen angelt: »überhaupt kann das ordnungsprinzip einer genetischen edition kein anderes sein als das der apriorischen zeit auf deren strom alle noch vorhandenen textzeugen treiben«.105 Editorischer (wie anglerischer) Stoizismus ist dabei das Ziel des Philologen; die Affekte, von denen er sich befreien muss, gehören exklusiv den Texten, sie verbergen sich in den »intentionen«, denen in Sattlers den »Axiomen« vorangestellter Formel denn auch der Exponent ›unendlich‹ beigegeben wird: »e = if/ 0n.«106 Ganz ausdrücklich hat sich hingegen Gunter Martens zur romantischen Antizipation radikal textgenetischer Prinzipien bekannt und einen »Kreis« skizziert, der mit der romantischen Universalphilologie und ihrer Idee der »prinzipielle[n] Unabschließbarkeit« beginnt und – im Umweg über die textgenetischen Editionsmodelle – auch wieder endet.107 Die Basis seiner Überlegungen ist bewusst unsicher: die romantische terminologische Polyvalenz, wie sie sich in den Friedrich Schlegel’schen Grundbegriffen des Fragments und des Werkes manifestiert. Diese Begriffe widerstreiten einander auf der einen Seite: »›Werke‹ […] präsentieren sich als etwas Ganzes […] sie spiegeln die Totalität […] der Welt. Im ›Fragment‹ […] haben sie ihr diametral Entgegengesetztes«;108 auf der anderen Seite überlagern sich zugleich aber romantischer Werk- und romantischer Fragment-Begriff, so in Friedrich Schlegels 297. Athenäums-Fragment: »Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begränzt, innerhalb der Gränzen aber gränzenlos und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst treu, überall gleich, und doch über sich erhaben ist.«109 Der 103 104 105 106 107
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Dietrich E. Sattler, genetischer text: wort. In: TEXTkritische Beiträge 5, 1990, S. 43– 51, hier S. 45. Sattler, genetischer text: wort, S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 45. Die im Kommentar zu Axiom 1 verwandte Sigle für ›Verneinung‹ (o) entspricht allerdings nicht derjenigen im Nenner der Formel (0). Gunter Martens, Das dichterische Fragment als Herausforderung. Die romantische Auffassung von der Unabschließbarkeit literarischer Texte und ihre Beziehung zur modernen Editionstheorie. In: TEXTkritische Beiträge 11, 2006, S. 143–160, hier S. 160. Ebd., S. 144. Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Berlin: Vieweg 1798–1800 [Reprint: Darmstadt 1980], Bd. 1, 2. St., S. 257.
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beabsichtigte Effekt dieser Schlegel’schen Konfrontation scheinbar unvereinbarer Textkonzepte ist für Martens eine »universalpoetische« Strategie der Affekt-Provokation: »Aufrütteln aus Lethargie, satirisches Herausfordern, Erkenntnisse ans Tageslicht fördern«.110 Allerdings sind für Martens die »Intentionen« weniger als für den auf den gleichsam »einzigen« Autor Hölderlin fixierten Sattler Teil einer separat-romantischen Unendlichkeit in der »abgesonderte[n] existenz des dichters«,111 sondern – erneut im Anschluss an Friedrich Schlegel und dessen 259. Athenäums-Fragment – »Randglossen zu dem Text des Zeitalters«, den zu restituieren die Aufgabe des (romantischen) Lesers ist: dessen Affekte sind, wie Martens im Anschluss an Franz Norbert Mennemeier statuiert,112 Elemente in einem »unabschließbaren Produktionsprozeß« geworden, »in dem das Ich des Verfassers mit dem des Lesers zu einer neuen Einheit verschmilzt.«113 Dieser Affekt ist jedoch nicht mit der produktionsphilologischen ›Intuition‹ der ›höheren Kritik‹ identisch; als »Text des Zeitalters« steht er in Rapport zur hypothetischen Welt des ›authentischen‹ Textes, nicht zur artifiziellen der Editoren. Deren Fehler habe darin bestanden, so Martens, der nun gleichfalls eine mathematische Analogie bemüht, die Lesarten und Varianten »allein als Funktionen des konstituierten Textes« zu begreifen,114 während es doch darauf ankomme, sie »in ihrer originalen Gestalt […] mit allen ihren Lücken, Friktionen und Ungereimtheiten, ja selbst mit gestrichenen Textpartien und eindeutigen Fehlleistungen« wiederzugeben.115 In Rückgriff auf Friedrich Schlegel wird textgenetische Philologie auf diesem Wege zur Reflexionsphilologie, der Prozess der »Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«, den Schlegel im 51. Athenäums-Fragment thematisiert,116 wird zum Schlüssel des Editionsprozesses.117 Der »tote[n] […] Materie« des Textes in den textkonstituierenden Verfahren wird die »lebendige Dichtung« gegenübergestellt, die durch Befreiung vom Bann der Textkonstitution aus der philologischen Erstarrung »erweckt« wird.118 110 111
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Martens, Das dichterische Fragment als Herausforderung, S. 152. Dietrich E. Sattler, genetischer text: ahnen. In: TEXTkritische Beiträge 5, 1999, S. 53– 61, hier S. 53 (Fragment Nr. 4); während in Sattlers Beitrag über das ›wort‹ von der »apriorischen zeit« die Rede war, soll hier nun der Dichter »die unendliche zeit« bewusst machen (ebd., Fragment Nr. 3). Franz Norbert Mennemeier, Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel. Versuch der Konstruktion einer nicht geschriebenen Theorie. In: Romantikforschung seit 1945, hg. von Klaus Peter, Königstein/Ts. 1980, S. 229–250. Martens, Das dichterische Fragment als Herausforderung, S. 152. Ebd., S. 155. Ebd. (Hervorhebung J.P.). Athenäum, Bd. 1, 2. St., S. 190. Martens, Das dichterische Fragment als Herausforderung, S. 158. Ebd., S. 155.
Was also in der textgenetisch orientierten Philologie in produktionsphilologischer Perspektive ›objektiviert‹ wird, dient zugleich der Restitution einer ›authentischen‹ Subjektivität auf der Inhaltsebene, die zuweilen als ein »Leben« des Textes gedeutet, oft aber auch, um den häufig an dieser Stelle verwendeten Begriff zu zitieren, der Autor-Intentionalität zugerechnet wird.119 Dementsprechend bilden dann doch vor allem emotionale Sachverhalte den Skopus der editorischen (Re-)Konstruktion.120 Diese Transformation der philologischen Romantik, die auf der einen Seite eliminiert werden soll (oder wenigstens »zurücktritt«121), an anderer aber Stelle wieder hervortritt, gilt auch dort, wo das Wiederauftauchen in die verschleierte Gestalt poststrukturalistischer Absolutheit des Textes gekleidet ist. Dies ist namentlich dort der Fall, wo die in Frankreich etablierte »Critique génétique« das Wort führt, deren theoretische Selbstbestimmung im Übrigen zu seltsamen Gangunterschieden und Verwerfungen gegenüber den Positionen deutschsprachiger Textgenetiker geführt hat.122 Hier wie dort findet sich aber der Versuch einer Integration der Emotionen (des Zeitgeistes und der Texte) im Namen des Autors: Der von Louis Hay proklamierte »Aufstand der Handschrift gegen den Text« und der somit hergestellte »Zusammenhang zwischen Handschrift und Rebellion«123 entspricht bei Dietrich E. Sattler, Michel Leiner und KD Wolf die Beglaubigung des eigenen Verfahrens unter Berufung auf »einen revolutionären Zusammenhang«, in dem die vereinigten »Schwierigkeiten« von »Hölderlins Texte[n]« gleichsam zu philologischen Barrikaden »gegen den Herrschaftsanspruch des Allgemeinen« werden.124 In beiden Fällen ebnet die 119
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Vgl. Martens, Texte ohne Varianten?, S. 55; an anderer Stelle hat Martens den Begriff der philologischen Authentizität allerdings auch selbst in Frage gestellt, vgl. Martens, Autor – Autorisation – Authentizität, Terminologische Überlegungen zu drei Grundbegriffen der Editionsphilologie. In: Autor – Autorisation – Authentizität, hg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta, Tübingen 2004 (Beihefte zur Editio 21), S. 39–50. Bei Martens zum Beispiel – als Resultat einer Betrachtung der Textgenese von Hölderlins Mnemosyne-Hymne – »die Spannung zwischen Hoffnungslosigkeit und Resignation« einerseits und »der verpflichtenden Aufgabe des Dichters andererseits, die ihm angesichts der deprimierenden Zeitsituation erwächst.« (Martens, Texte ohne Varianten?, S. 57). Gunter Martens, Texte ohne Varianten?, S. 57. Vgl. zum Beispiel die in der Tat etwas entstellende Verwendung von Zitaten aus Roland Reuß’ Aufsatz Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur ›Textgenese‹ (in: TEXTkritische Beiträge 5, 1999, S. 1–25) bei Louis Hay, Text oder Genese: der Streit an der Grenze. In: editio 19, 2005, S. 67–76, hier S. 67–68; Nicht nur wird der Titel von Reuß’ Beitrag von Hay nicht korrekt angeführt (die wichtigen einfachen Anführungszeichen fehlen im entsprechenden Nachweis (ebd. Anm. 2), sondern die argumentative Ausrichtung der Zitate wird unterschlagen. Hay, Text oder Genese: der Streit an der Grenze, S. 69–70. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, Vorwort zur Einleitung (datiert Frankfurt am Main 1975), S. 19.
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Berufung aufs Prinzip einer Hinwendung zur ›Wahrheit‹ der Textproduktion den Weg, – und zwar den Weg zum Ort des Schriftstellers im Leben, der »stets mehr oder weniger bei der Arbeit« ist – »ob am Schreibtisch oder auf Wegen«.125 Die Labyrinthe seiner »productivité« beziehungsweise seines schöpferischen Agierens mögen dabei sehr unterschiedliche Orte der Repräsentation des Dichtens oder schöpferischen Schreibens umkreisen, Orte der psychischen Manifestation von Vergessenem oder Verdrängtem auf der einen Seite,126 Schreiborte und Schreibwerkzeuge in philologischen Lebensformen auf der anderen, an denen die Materialität des Ereignisses, das zum Text führt, Gestalt wird. Gemeinsam ist ihnen der Versuch eines Zugriffs auf Fragen, die der Interpret stellt, die aber der Text oder sein Autor »im voraus beantwortet hat.«127 Dass die Grundidee, die schöpferische Tätigkeit des Dichters in der Textgenese nachzuvollziehen, in ihrer historischen Genese mit den traditionellen Genie-Ästhetiken in Verbindung steht,128 gilt auch dann, wenn man den Argumenten folgt, die einen systematischen Zusammenhang zwischen solchen Ideen für den philologischen status quo bestreiten.129 Die romantischen bzw. genieästhetischen Präsuppositionen beider Schulen der Philologie sollten hier nun freilich nicht denunziert, sondern nur ver125 126
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Hay, Text oder Genese: der Streit an der Grenze, S. 72. Im Umfeld der généticiens lassen sich unterschiedliche Strategien erkennen, den Fluchtpunkt der philologischen Repräsentation und die Methode, dorthin vorzudringen, zu benennen: Neben psychoanalytisch ausgerichteten Verfahren, zur Literatur als einem »Zeugnis der Erfahrung« (« témoigne de l’expérience »), in dem sich »erlebtes Fühlen und aktive Synthese« ereignen (vgl. Julia Kristeva, Brouillon d’Inconscient ou l’Inconscient brouillé. In: Genesis 8, 1995, S. 23–26, hier S. 24 und S. 26), die ihrerseits, jenseits der literarischen Fiktionen, in Freud-Manuskripten analytisch und textgenetisch demonstriert wurden (vgl. Patrick Di Mascio, L’idole de l’œuvre: critique génétique et épistémologie freudienne. In: Genesis 8, 1995, S. 27–32), finden sich metaphorische Umschreibungen, z.B. durch mythologische Anspielungen (vgl. Catherine Viollet, Petite cosmogonie des écrits autobiographiques. Genèse et écritures de soi. In: Genesis 16, 2001, S. 37–54) und solche, die biologische und/oder autopoietische Muster assoziieren (z.B. Konzepte wie Evolution und Mutation oder »in vivoBeobachtung«, vgl. Jean-Louis Lebrave, La critique génétique: une discipline nouvelle ou un avatar moderne de la philologie. In: Genesis 1, 1992, S. 33–72, bes. S. 42ff., und Philippe Lejeune, Autogenèse. L’étude génétique des textes autobiographiques. In: Genesis 1, 1992, S. 73–87, bes. S. 75). So Louis Hay, Aragon zitierend, auf S. 73 seines Beitrags Text und Genese. der Streit an der Grenze. Im Unterschied zu den germanistischen Textgenetikern zeigen die généticiens relativ große Zurückhaltung, wenn es darum geht, die Wurzeln ihrer Disziplin tiefer als ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit zu verfolgen, vgl. Jean-Louis Lebrave, La critique génétique, S. 33ff. und Louis Hay, Critique de la critique génétique. In: Genesis 6, 1994, S. 11–23, bes. S.15–16 (»Genèse de la génétique«). Vgl. Jean -Louis Lebrave, La critique génétique, S. 67.
deutlicht werden. Ebensowenig geht es im Rahmen der Theoretischen Philologie darum, eine grundsätzliche Entscheidung für eine der beiden Positionen zu fällen. Eine solche Entscheidung wird immer pragmatisch und kontextabhängig ausfallen müssen. Worauf es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, ist, der – natürlich auch hier kontextabhängigen, nicht aber pragmatischen, sondern prinzipiellen – Möglichkeit einer Repräsentation von Gefühlen Rechnung zu tragen. Dies kann, wie gesehen, in beiden Fällen relevant sein. Ein entwickeltes philologisches Möglichkeitssystem sollte dementsprechend auch gegenüber beiden Optionen offen sein. Eine solche multiple Optionalität kann durchaus auch innerhalb einer Edition vertreten werden. Jean-Paul-Bezug (II) So auch im vorliegenden Beispiel, der Jean-Paul-Edition. Deren BearbeitungsStandorte (gegenwärtig Würzburg und Berlin) sind in Hin-blick auf die Prinzipien der Textkonstitution (und, wie im folgenden Kapitel thematisiert wird, auch in Hinblick auf die Prinzipien des Kommentierens) jeweils unterschiedlich ausgerichtet. Diese Unterschiede sind jedoch primär keine Folge voneinander abweichender philologischer Geschmäcker sondern der Anforderungen, die sich aus der philologischen Praxis ergeben. Man mag darüber streiten, ob, wie dies Barbara Hunfeld statuiert, die von Berend begründete historisch-kritische Ausgabe der Werke Jean Pauls editorisch »im Dienst einer Werkteleologie« und ausschließlich im Sinne des klassischen Werkbegriffs stand;130 immerhin sind die in den ausführlichen Einleitungen Berends präsentierten Analysen der Werkgenese integraler Teil seiner Edition. Aber sie sind – das muss zugestanden werden – als Vorbemerkungen natürlich kein Teil der eigentlichen Textkonstitution. Für diese traten für Berend in der Tat die Vorarbeiten aber auch die frühen Druckfassungen (gleichsam als »Vorstufen-Varianten«) »hinter die Letzgültigkeit vom Autor gewünschter Endversionen zurück.«131 Ganz unstreitig sind auch die Potentiale einer werkgenetischen Erschließung der außerordentlich komplexen Textwerkstatt Jean Pauls. »Es liegt auf der Hand«, so Helmut Pfotenhauer, »daß gerade Jean Pauls schriftstellerische Eigenheiten, sein Schreiben als ein ›work in progress‹, ein solches Editionsverfahren verlangt.«132 Hierbei geht es, wie Barbara Hunfeld für die Würzburger Jean-Paul-Edition am Beispiel des Pilotprojekts der werkgenetischen Hesperus-Edition resümiert, »um den Gesamtkontext der Werkgenese. Darbietung und Werktexte und Kommentar berufen sich auf Schreibverfahren und 130 131 132
Barbara Hunfeld, »Jean Paul: Werke«. Zu Geschichte und Konzept einer neuen historisch-kritischen Ausgabe. In: editio 22, 2008, S. 157–173, hier S. 158. Ebd., S. 158. Helmut Pfotenhauer, Editorial. In: JbJPG 41, 2006, S. 1–3, hier S. 1.
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Schreibreflexion des Autors selbst. Die Edition möchte Jean Paul exemplarisch in den Zusammenhang eines Schreibens einbetten, das von der Vision unerschöpflicher, aus fremden und eigenen Texten schöpfender Schrift bestimmt ist.«133 Die hier durch die figura etymologica bekräftigte Gedankenfigur einer aus Prätexten schöpfenden, aber das Unerschöpfliche imaginierenden Schreibpraxis ist ein weiterer Beleg für die oben konstatierte ideengeschichtliche Verwurzelung textgenetischer Positionen in den philologischen Idealen um 1800 und deren spezifischen Gefühlskulturen. Es sind daher auch Gefühlstatsachen wie die »Furcht vor dem Versiegen des Lebens wie des Schreibens«, die als Subtext unter den mit den philologisch avanciertesten Mitteln rekonstruierten Textnetzwerken entziffert werden.134 Und erneut ist dies Indiz nicht als wertendes Argument zu nehmen, schon gar nicht als abwertendes: Die von Barbara Hunfeld angeführten Beispiele textgenetischer Vernetzungen im Schaffensprozess sind so prägnant wie relevant, nicht allein für die JeanPaul-Forschung im engeren Sinne sondern für grundsätzliche Fragen der Möglichkeitsbedingungen textgenetischer Verfahren. Ihre Überlegungen haben daher auch in der editio, dem Podium für die übergreifende Diskussion editorischer Fragen, ihren angemessenen Ort.135 Dass das von Barbara Hunfeld vorgestellte Verfahren aus pragmatischen Gründen nur für ausgewählte »Schlüsseltexte« Anwendung finden kann, die als »Modelle« dienen,136 untergräbt freilich in systematischer Hinsicht ein Stück weit das Fundament: sind doch für die Bestimmung dessen, was »Schlüsseltexte« sind und worin ihr Modellcharakter besteht, Kriterien festzulegen, die vielleicht nicht ›divinatorisch‹ sein müssen, gleichwohl aber die Grenzen der textgenetischen Eigenregie der Texte überschreiten. Während also die Neu-Edition der publizierten und nachgelassenen Werke Jean Pauls im Rahmen der historisch-kritischen Jean-Paul-Edition im Grundsatz werkgenetisch ausgerichtet ist, bleibt die Edition der Briefe (Abt. IV) in der Darbietung der Texte stärker dem textkritischen Verfahren Berends verpflichtet; dies ist nicht einfach Traditionalismus, sondern trägt der Polysubjektivität des Briefwechsels Rechnung, der nicht allein auf die Genese des einen, nämlich Jean Paul’schen Werkes ausgerichtet sein darf – und ebensowenig auf die Konstitution des einen, ›genialischen‹ und damit zentralisti133 134 135
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Hunfeld, »Jean Paul: Werke«, S. 163. Ebd., S. 165. Zur spezifischen Kontextualisierung der Edition im Rahmen der Jean-Paul-Forschung vgl. auch Barbara Hunfeld, Textwerkstatt. Eine neue Jean-Paul-Werkausgabe und ihr Modell »Hesperus«. In: JbJPG 41, 2006, S. 19–39; Barbara Hunfeld, Helmut Pfotenhauer, Birgit Sick, Die neue historisch-kritische Ausgabe von Werken Jean Pauls. In: JbJPG 43, 2008, S. 15–39; zur Kontextualisierung im Rahmen der germanistischen Wissenschaftsgeschichte vgl. Barbara Hunfeld, Eine neue Jean-Paul-Werkausgabe. In: Geschichte der Germanistik 31/32, 2007, S. 111–116. Barbara Hunfeld, »Jean Paul: Werke«, S. 170.
schen Gefühlskosmos. Gleichwohl hat die kritische Textkonstitution im Briefwechsel textgenetische Aspekte zu berücksichtigen. Dies geschieht auf der einen Seite in einem traditionellen Lesarten- und Variantenapparat, aber auch – und besonders – in der diplomatischen Verzeichnung von bewusst vom Schreiber offengehaltenen stilistischen oder begrifflichen Alternativen zu einer bestimmten Formulierung, einer Gepflogenheit, die im Jean Paul’schen Freundeskreise besonders verbreitet war.137 Für eine spezifische philologische Repräsentation im Rahmen einer Philologie der Gefühle kann sich diese Form der Textkonstitution jedoch gleichwohl als unzulänglich erweisen. Die Notwendigkeit einer textuell spezifischen Repräsentation ergibt sich in der Praxis allerdings oft erst im Zusammenhang mit der Kommentierung, die, wie Ulrich Johst dargelegt hat, gerade auch für die rationale Rekonstruktion der textkritischen Intuition von besonderer Bedeutung ist.138 Die Perspektive auf das philologische Lesen als einen »komplexen kognitionspsychologischen Vorgang«,139 erhält damit ein hermeneutisches Korrelat. Auch umgekehrt aber (und diese Inversion wurde noch wenig beachtet, vielleicht gerade weil sie scheinbar Selbstverständliches statuiert), ergeben sich Konsequenzen, die im Horizont einer Theoretischen Philologie Beachtung verdienen. Die Antecedentia dieser Schlussfolgerungen erscheinen in der Tat zunächst trivial: Kein seriöser Editor würde wohl auf die Idee kommen, im Zuge der Textkonstitution eine Konjektur vorzunehmen, in der ein zur Entstehungszeit des Textes nicht nachweisbares Wort eingesetzt wird. Gleichwohl können zum Beispiel unzeitgemäße psychologische und unter Umständen auch psychoanalytische Überlegungen für die Textkonstitution zu philologischen Rechtfertigungsgründen werden, wenn es zum Beispiel um Fehlschreibungen geht.140 Halten sie aber einer Rechtfertigung der Rechtfertigung im Prozess der epistemologischen Reflexion stand? Dies muss gerade dann fraglich werden, wenn der Erklärungshorizont des korrespondierenden Kommentars streng historisch ausgerichtet ist und zum Beispiel für Fragen körperlicher und psychischer Krankheit allein zeitgenössisch nachweisbare Erklärungsstrategien zulässt. Die Konsequenz wäre eine epistemische Überdetermination der Textkonstitution gegenüber der Kommentierung, da in ersterer methodisch – wenn auch nur implizit – erlaubt wäre, was sich letztere versagt. 137 138 139 140
Diese als untereinander gleichwertig zu betrachtenden Begriffsalternativen werden in der Edition, durch Schrägstriche getrennt, aneinander angeschlossen. Vgl. Ulrich Johst, Der Kommentar im Dienst der Textkritik. Dargestellt an ProsaBeispielen der Aufklärungsepoche. In: editio 1, 1987, S. 184–197. Hofmeister, Textkritik als Erkenntnisprozess, S. 3. Eine diskurstheoretisch-psychoanalytische Lektüre von philologischen Grundsatzdiskursen zur Textkritik und Textkonstitution unternimmt Harald Weigel, ›Nur was du nie gesehn wird ewig dauern‹. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, Freiburg/Br. 1989.
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3. Kommentar und Emotionalität Zusammenfassung Theorien des Kommentars wurden bisher, sofern man sich überhaupt darum bemühte, entweder (anhand von Beispielen) aus der Praxis des Kommentierens heraus entwickelt, oder sie wurden, von allgemeineren kultur- oder erkenntnistheoretischen Prämissen ausgehend, an die Geschichte des Kommentierens herangetragen. Leitbild für einen dritten Weg zwischen diesen beiden Alternativen könnte die Idee einer Brückenfunktion des Kommenierens sein. Die Forschungsgegenstände Gefühlskultur und Kommentierungstechnik sind, wie ein Überblick einschlägiger Handbücher verrät, nicht dadurch voneinander getrennt, dass sie von unterschiedlichen Disziplinen behandelt würden; die Differenzen liegen vielmehr im Status begründet, den man diesen Phänomenen zuschreibt. Die aktuelle Forschung tendiert dazu, diese Status-Grenzen zu überschreiten, ohne aber dabei diese Grenzüberschreitung explizit zu thematisieren. Briefkommentare können als besonders geeignete Modelle für eine zeitgemäße Reflexion der brückenbildenden und grenüberschreitenden Funktion des Kommentierens angesehen werden.
Theorieaspekt des Kommentierens In seinem Beitrag Der Kommentar als hermeneutisches Problem konstatierte Hans Gerhard Senger 1993, »daß es mit einer Theorie des Kommentars schlecht bestellt« sei.141 Er verwies damals auf die Tatsache, dass bereits 20 Jahre zuvor Ulfert Ricklefs das Fehlen einer Theorie des Kommentars beklagt habe.142 Senger vermutet, sicherlich nicht zu Unrecht, dass das Kommentieren selbst dem Theoretisieren im Wege stehe: »Die Weise der Befassung mit dem Kommentar«, so schreibt er, »ist das Kommentieren selbst, seine Benutzung und schließlich seine Kritik. Wir schaffen Kommentare und gehen mit ihnen um. […] Wir sind, obwohl wir wegen des erkannten Desiderats längst auf eine Theorie des Kommentars versessen sein müßten, theorievergessen.«143 In den jüngsten Bilanzen zum Stand des Kommentierens wird zwar die Theorieferne des Kommentierens erneut betont und beklagt,144 zugleich aber auch hervorgehoben, dass eine Theoretisierung dieser Tätigkeit von außen an diese herangetragen werden kann und dies auch bereits geschehen sei: »Radikal induktiv, hat sich die saure Arbeit des Kommentierens dabei zumeist im Schatten der großen Thesen und Theorien vollzogen. Indes ist sie zumindest 141 142
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Hans Gerhard Senger, Der Kommentar als hermeneutisches Problem. In: editio 7, 1993, S. 62–75, hier S. 63. Ulfert Ricklefs, Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme der Kommentierung. Kolloquien der deutschen Forschungsgemeinschaft. Frankfurt/Main 12. bis 14. Oktober 1970 und 16. bis 18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge, hg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller Seidel, Boppart 1975, S. 33–74. Senger, Der Kommentar als hermeneutisches Problem, S. 63. Vgl. die Feststellung von Johannes Saltzwedel: »Theoretiker sagen dazu [nämlich zum Kommentieren, erg. J.P.] recht wenig« (Saltzwedel, Mit fortgehenden Noten, S. 85).
in zwei großen Theorieströmungen der letzten hundert Jahre noch einmal in den Vorlesungssälen und Feuilletons methodisch geadelt worden.«145 Mit der Klausel »noch einmal« freilich wird die Theoriegeschichte des Kommentars als Schließungsprozess reformuliert, wie er in zahlreichen anderen Untersuchungen der vergangenen Jahre vor allem in Bezug auf Fragen der wissenschaftspragmatischen, sozialen, kulturellen und rhetorischen Normierung wissenschaftlicher Praktiken technischen Systemen zugrundegelegt wurde.146 Die beiden adelnden Theorieströmungen, die die Herausgeber des Themenbandes »Kommentieren« der Zeitschrift für Ideengeschichte dabei vor Augen haben, sind ideengeschichtliche Emblemstudien der Panofsky-Schule nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie der Dekonstruktivismus. Der Akt der Schließung wird dabei zum Schlüssel des Phänomens (wie denn auch die Clavis-Literatur selbst ein Teil der Tradition des Kommentierens ist), der die geheime Verbindungstür zwischen den Papyrus-, Pergament-, Gutenbergund Google-Welten öffnet: Im Beitrag von Markus Krajewski und Cornelia Vismann stellt die Analogisierung zwischen dem Justinianischen Kommentarverbot des römischen Rechts im Jahr 533 und der Umwandlung des Quellcodes in den des maschinenlesbaren Binärcodes durch den Kompiler die eigentliche Pointe dar: »Der Kompiler schließt den Code. Er kodifiziert ihn, ganz so, wie sein juristisches Vorbild aus dem 6. Jahrhundert, indem er den Code von einem offenen Entwicklungsprozess zu einem abgeschlossenen Programm umwandelt.«147 Mit dieser mediengeschichtlichen Weihe eines Machtspruchs im spätantiken Rom erfüllt sich denn auch das Programm, das die Herausgeber des Bandes vorgelegt haben: nicht besonders farbigen oder schönen Fundstücken des Kommentierens solle er gewidmet sein, so heißt es in der Einleitung, »sondern der Technik des Kommentierens selbst […] Den Kommentar zum Gegenstand der Ideengeschichte zu machen heißt folglich, das Verhältnis von Techniken und Thema umzukehren: keine Ideengeschichte ohne Mediengeschichte.«148 Damit erhält der Kommentar also eine dritte, neue Adelung, nunmehr von Seiten der Medienphilosophie.149 145 146 147 148 149
Philip Ajouri, Jost Philipp Klenner, Cornelia Vismann, Zum Thema. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3/1, 2009, S. 4. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie, Hamburg 2007, S. 122. Markus Krajewski, Cornelia Vismann, Kommentar, Code und Kodifikation. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3/1, 2009, S. 5–16, hier S. 11. Ajouri, Klenner, Vismann, Zum Thema, S. 4. Damit ergibt sich natürlich ein attraktiver dialektischer Dreischritt (Ideengeschichte, Dekonstruktion, Medienphilosophie), durch den auch eine geschichtsphilosophische Schließung der Theoriehistorie des Kommentars nahegelegt wird. In Wirklichkeit gibt es freilich noch eine Reihe weiterer Theorieströmungen, die sich, teils konkurrierend, teils sich gegenseitig ignorierend, bemührt haben, den philologischen Kommentar in ihr Theoriegebäude zu integrieren, mit jeweils spezifischer historischer Fokussierung: So wurde im 1995 erschienenen Sammelband Text und Kommentar, der den vierten Band des Projektes einer »Archäologie der literarischen Kommunikation« bildet, der
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Es ist nicht zu bestreiten, dass die Theorieansätze von praktischen Philologen wie Ricklefs und Senger sich im Wesentlichen, wie hier eingeklagt, aus einer theoretisierenden Anthologie von prägnanten Fallstudien zusammensetzen. Gleichwohl hat Senger die »Pluralität der Erklärungs- und Verstehenswelten« als Fazit seiner Untersuchung bestehen lassen, während Ricklefs die »Erkenntnisspannung« des Kommentars in ihrer produktiven Schwebe belässt.150 Und auch der Editionsphilologe Bodo Plachta verweigert sich in
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Ansatz der Theoretisierung vor allem an die Anfangsgründe des Kommentierens geknüpft, die im Bereich der Mnemotechnik des privaten wie des öffentlichen Lebens liegen (vgl. Jan Assmann, Einleitung. In: Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, hg. von Jan Assmann, Burkhard Gladigow, München 1995, S. 9–33): Ein »Commentarius« (griech.: SPQKPD, hypomnema) bedeutet zunächst eine »Gedächtnisstütze in schriftlicher Form«, etwas, was unter (S) einen hypothetischen mentalen Ort (PQPD, mnema, bzw. PQKPHRQ, mnemeion, bedeutet zunächst allgemein Denk- bzw. Erinnerungszeichen, daneben auch konkret Monument bzw. Grabmal) gelegt wird (vgl. Ulrich Püschel, Art. Kommentar. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4 [Hu-K], Tübingen 1998, Sp. 1179–1187, hier Sp. 1179–1180). Die ursprünglichen Belege von mnemotechnischen Kommentierungspraktiken sind in den Speichermedien des kulturellen Gedächtnisses allenfalls sporadisch repräsentiert, da die Gedächtnisstütze überflüssig wird, sobald der Akt des Erinnerns realisiert worden ist. Wo wir aber den integralen Zusammenhang kennen, zum Beispiel im Falle der allegorischen Lesarten zu Hesiod und Homer aus der Zeit um das Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, wird der Rahmen dessen, was aus späterer Sicht als Kommentar zu begreifen wäre, gesprengt: die allegorischen Lesarten fügen den kanonischen Texten etwas hinzu, sie stellen etwas neben die beziehungsweise an die Seite der Texte (vgl. auch Hans-Gert Roloff, Zur Geschichte des editorischen Kommentars. In: editio 7, 1993, S. 1–17, hier S. 4). Daran ließen sich dekonstruktivistische Kommentar-Theorien anknüpfen, die über die traditionelle Rekonstruktion des Kommentierens als Form einer »auf die Sinn-Suche festgelegten« sekundären Sprache hinauszugehen beanspruchen. Wenn danach das ›wilde‹ Kommentieren in der alexandrinischen Philologie wieder in einem festen Regelsystem gebändigt wird, so konnte man dies demgegenüber als Säkularisierungsprozess deuten: Der Kommentar ist nun nicht mehr länger Instanz im unscharfen Grenzbereich zwischen Gedachtem oder Gesprochenem und Intendiertem, sondern bezieht sich als Text auf Texte, ohne die Zusatzfunktion einer externen Sinngebung, wie sie durch die allegorischen Deutungen kanonischer Texte bereitgestellt worden war. Die Instanz, der diese Aufgaben zuerst übertragen sind, ist die (alexandrinische) Bibliothek, die Akteure im gelehrten Netzwerk, die sie ausführen, sind die Bibliothekare, Philologen. Ihr Beruf entsteht dabei außerhalb der Sakralsphäre, bleibt aber gleichwohl in deren Bannkreis, wie Heinz Schlaffer in Poesie und Wissen (1990) ausführt. Der erste Philologe, der sich als einen solchen bezeichnete, Eratosthenes, war ursprünglich Naturwissenschaftler, weshalb das Projekt Philologie denn auch wissensgeschichtlich fokussiert werden kann. Wie bei einer naturwissenschaftlichen Abhandlung die Erläuterungen zum Experiment ist auch der schriftliche Kommentar eine Textsorte ohne Pointe: die Pointe ist das explanadum, liegt außerhalb des Textes. Was für den Kommentar das Lemma ist, worauf er sich bezieht (auch diese Verknüpfungsfunktion ist eine Erfindung der alexandrinischen Philologie), ist für den naturwissenschaftlichen Text der Sachverhalt, dessen Erklärung geleistet werden soll. Senger, Der Kommentar als hermeneutisches Problem, S. 73, Ricklefs, Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars, S. 36.
seinem Beitrag zum Themenband der Zeitschrift für Ideengeschichte dem Schlussstrichpostulat im Zeichen des Medienwandels und ruft stattdessen unter Rekurs auf seine Definition von Editionsphilologie als »Grundlagenforschung« – und mit Goethe – zu einem Neuanfang auf dem technischen Stand der Möglichkeiten auf.151 Plachta demonstriert die Möglichkeiten zeitgenössischen Kommentierens dann aber doch am Beispiel eines überaus »farbigen und schönen« Fundstücks aus der Marburger Ausgabe von Büchners Drama Dantons Tod152 – die Technik des Kommentierens lässt sich eben doch nicht im theoretischen Leerlauf untersuchen. Es liegt nahe, sich in dieser Situation auf die traditionelle Brückenfunktion des Kommentars zu berufen. Dies geschieht einerseits systematisch, als Beschreibung der Praxis: »Der philologische Kommentar […] ordnet das literarische Feld und baut Brücken zum Verständnis des literarischen Textes«, so Bodo Plachta,153 und diese Metaphorik bleibt ex negativo auch dort noch tragfähig, wo die Berechtigung dieser Funktion (wie von dekonstruktivistischer Seite) in Frage gestellt wird, denn, wie Bruno Latour betont: »[a]lles, was im [einen Modell] als Rechtfertigung für mehr Abwesenheit, Entlarvung, Negation und Dekonstruktion dient, gilt im [anderen] als Beweis von Präsenz, Entfaltung, Bejahung und Konstruktion.«154 Aber auch in historischer Perspektive ist immer wieder von der Brücke die Rede, zum Beispiel von derjenigen, die von der alexandrinischen zur abendländischen Philologie führt, in ihrer Tragfähigkeit dabei jedoch gleichfalls umstritten ist.155 Lemmatisierte Liebe Bei der Erforschung der Kulturgeschichte des Liebesbriefs stößt man bereits im Vorfeld der wissenschaftlichen Quellenarbeit auf ein heuristisches Dilemma: Auskünfte zu dem Thema sind nämlich häufig entweder widersprüchlich oder sie sind mehr oder weniger trivial: Bereits die ältere Briefforschung musste regelmäßig auf Allgemeinplätze zurückgreifen, um die Besonderheit der Textform Liebesbrief zu kennzeichnen. So sprach man über den »Liebes151
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Bodo Plachta, Philologie als Brückenbau. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3/1, 2009, S. 17–32, hier S. 24 und S. 32; zur Bestimmung von Edition als Grundlagenforschung siehe Anm. 151. Ebd. S. 27–31. Bodo Plachta, Philologie als Brückenbau, S. 31; vgl. auch Friederike Reents, Wozu noch Philologen? Die Brücken der Literatur wollen begangen sein. In: FAZ, 31.1.2007. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/M. 2000 (zuerst engl. 1999), S. 33. Vgl. die skeptische Einschätzung z.B. bei Püschel (Philologie, Sp. 1181–1182) und die affirmative z.B. bei Roloff (Zur Geschichte des editorischen Kommentars, S. 4–5) und Schlaffer (Das Wissen der Poesie, S. 167).
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brief im weitesten Sinne«,156 der pauschal als »Krone aller Briefe« bezeichnet wurde.157 Auch neuere Untersuchungen behelfen sich mit vagen Formeln wie »begreiflicherweise«158 und »it is a common presumption«159, um den Charakter von Liebeskorrespondenzen zu spezifizieren. Die generalisierenden Auskünfte wissenschaftlicher Handbücher zum Thema bleiben hingegen widersprüchlich: Einerseits wird eine historische und regionale Invarianz der Liebessprache in Briefen behauptet,160 auf der anderen Seite findet sich die Annahme, der Briefstil generell und namentlich der des Liebesbriefes folgten spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts der allgemeinen literarischen Entwicklung und reflektiere deren historischen Wandel.161 Dass sich der Liebesbrief nicht in gebräuchliche Kategorien fügt, gilt nicht allein für die Briefforschung sondern auch im erweiterten Kontext. In den großen begriffs-, geistes- und kulturgeschichtlichen Enzyklopädien, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen sind, fehlt das Stichwort »Liebesbrief« fast ganz. Und in welchem hätte er systematisch denn auch seinen gleichsam natürlichen Platz finden sollen?162
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Paul Wohlfarth, Der Brief als Literaturgattung. In: Der Gral 19, 1924/25, S. 485–489, hier S. 488. Der nachfolgende Absatz folgt dem Überblick in: Stauf, Simonis, Paulus, Liebesbriefkultur als Phänomen. Philipp Krämer, Über den Brief. Ein Versuch. In: Neuphilologische Mitteilungen 44, 1943, S. 161–193, hier S. 168. Reinhard M. G. Nickisch, Brief, Stuttgart 1991, S. 15: »Begreiflicherweise tendiert der Liebesbrief aller Epochen der Entwicklung des deutschen Briefes am ehesten dahin, der ganz persönlichen Selbst-Äußerung den meisten Raum zu bieten […] wiewohl selbst im Liebesbrief immer auch zeitabhängige Ausdrucksklischees, Topoi u.ä. eine Rolle gespielt haben.« Bonnie S. McDougall, Love-Letters and Privacy in Modern China, Oxford, New York 2002, S. 2. »The love letter has a special status within the genre. For obvious reasons, this type of massage has existed in every country and in every age […] love letters from one century tend to resemble those from any other, however much the lovers make an effort to affirm the uniqueness of their passion« (Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Vol. 2, London, Chicago 2001, S. 552, Art. Letters). Diese Auffassung in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 60–75, hier Sp. 74–75 (Art. Brief) sowie in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Beobachtung bis Dürre, Sp. 406–417, hier Sp. 411, Rudolf Vellusig: Art. Brief. Weder das zwölfbändige Ritter’sche Historische Wörterbuch der Philosophie (1971–2007) noch das von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebene historische Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe (8 Bde., 1972–1997) oder das fünfbändige Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe (7 Bände, 2000–2005), das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (3 Bde., 1997–2003) oder – als jüngstes Beispiel, die achtbändige Enzyklopädie der Neuzeit (2005–2008) verzeichnen einen entsprechenden Artikel. Die Tatsache, dass das Historische Wörterbuch der Rhetorik (1992–2012, elf Bände) in seinen abschließenden Supplementband einen Artikel »Liebesrede/Liebesbrief« aufgenommen hat, markiert möglicherweise eine Trendwende.
Begreift man Liebesbriefkulturen als Teilsysteme von Gefühlskulturen, so lässt sich nach der Repräsentation und nach dem Status der Begriffe Gefühl beziehungsweise Emotion im Allgemeinen bzw. Liebe im Besonderen in den einschlägigen Überblickswerken fragen. Und daran wiederum lässt sich die Fage anschließen, in welchem Verhältnis die Berücksichtigung beziehungsweise Nicht-Berücksichtigung dieser Konzepte zur Repräsentation des Kommentars (als Textform) beziehunsgweise des Kommentierens (als Praxis) im lexikalischen Dispositiv steht. 163 Gibt es eine disziplinäre Koexistenz dieser Konzepte? Wann und wo tritt sie auf? Bei einer historisch auf die Nachkriegszeit und kulturgeographisch hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum fokussierten Durchsicht ergibt sich folgendes Bild: In 15 einschlägigen Nachschlagewerken aus verschiedenen Disziplinen findet sich nur in einem eine explizite, durch ein eigenständiges Lemma repräsentierte Berücksichtigung beider Konzepte: Vielleicht ist es nicht zufällig, dass es sich dabei um das jüngste Großprojekt der hier betrachteten Art handelt, die Enzyklopädie der Neuzeit (8 Bände, 2005–2008), in der sich sowohl ein Artikel zum Schlagwort »Gefühl«164 als auch ein Artikel »Kommentar« findet.165 In älteren Nachschlagewerken hingegen wird jeweils nur eines der beiden Konzepte berücksichtigt.166 163
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Eine Bestandaufnahme zum Schlagwort »Kommentar« hat kursorisch auch Johannes Saltzwedel in seinem Beitrag zum Kommentieren vorgelegt, vgl. Saltzwedel, Mit fortgehenden Noten, S. 97. Wolfgang Behringer, Volker Leppin, Art. Gefühl. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4 (Friede bis Gutsherrschaft), Stuttgart, Weimar 2006, Sp. 247–254. Florian Neumann, Art. Kommentar. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6 (Jenseits bis Konvikt), Sp. 976–978. Das seit 1950 erscheinende Reallexikon für Antike und Christentum enthält zwar einen Artikel »Kommentar« (von allen eingesehenen Handbüchern den ausführlichsten: Ludwig Fladerer, Dagmar Börner-Klein, Art. Kommentar. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, hg. von Georg Schöllgen et al. 22 Bände, Bd. 21, Stuttgart 2006, Sp. 274–329) aber keinen entsprechenden zum Komplex der Gefühlskultur; die Theologische Realenzyklopädie (36 Bände + 2 Registerbände, Berlin, New York 1977–2007) enthält weder den Kommentar noch den Cluster der Gefühlskulturen betreffende Einträge; Die Religion in Geschichte und Gegenwart (8 Bände, 1998–2007) enthält einen Artikel zum Stichwort »Gefühl« (Birgit Recki, Marcel Sarot, Konrad Stock, Martin Schreiner, Art. Gefühl. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von Hans Dieter Betz et al., Bd. 3, Tübingen 2000. Sp. 534–537), aber keinen zum Kommentar; Das katholische Parallelprojekt Lexikon für Theologie und Kirche (11 Bände, 1993–2001, neu 2006) weist gleichfalls einen Artikel »Gefühl« und keinen zum Kommentar auf (Gerhard Krieger, Alfons Maurer, Peter Kaufmann, Art. Gefühl. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage (neu), Bd. 4, Freiburg, Basel, Wien 2006, Sp. 343– 345); auch in der Encyclopaedia Judaica (16 Bände + 1 Registerband, 1971–1978) fehlt überraschenderweise ein übergreifender Eintrag zum Kommentar (wenngleich sich natürlich Spezialartikel zu den differenzierten Kommentarpraktiken der jüdischen Traditionen finden), wohingegen ein Artikel zum Lemma »Emotions« aufgenommen
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Dass die produktive Grenzüberschreitung die Folge einer Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Interdisziplinarität sein dürfte, wird zusätzlich nahegelegt durch die Tatsache, dass auch in einem Studienlexikon wie dem Lexikon Literatur- und Kulturtheorie beide Bereiche berücksichtigt sind.167 Im Einleitungsaufsatz zu seiner Sammlung und kritischen Revision begriffsgeschichtlicher Beiträge zu den großen Historischen Wörterbüchern der
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wurde (Alfred L. Ivry, Art. Emotions. In: Encyclopaedia Judaica, vol. 6, Jerusalem 1971, Sp. 727–729); im Neuen Pauly (16 Bände + 5 Supplementbände, 1996–2008) wiederum fehlt ein Stichwort »Emotion«; ebensowenig findet sich etwas zu »Gefühl« beziehungsweise »Gefühlskultur«, die Artikel zum Kommentar sind aufgeteilt in einen zur lateinischen Tradition, die unter dem Lemma »Kommentar« abgehandelt wird, und einen zur griechischen Tradition unter dem Lemma »Hypomnema« (Robert A. Kastner, Art. Kommentar. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. von Huber Cancik und Helmuth Schneider, Bd. 6, Stuttgart, Weimar 1999, Sp. 680–682; Franco Montanari, Art. Hypomnema, ebd., Bd. 5, Stuttgart, Weimar 1998, Sp. 813– 815); das Lexikon des Mittelalters (9 Bände, 1980–1998) enthält je einen Artikel zum Kommentar (B. Konrad Vollmann, M.R. Jung, K. Bitterling, Art. Kommentar. In: Lexikon des Mittelalters, hg. von Robert-Henri Bautier et al., Bd. 5, München, Zürich 1991, Sp. 1279–1283), aber keinen speziellen Artikel zu den die Gefühlskultur betreffenden Schlagworten; das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (3 Bände, 2007), die Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hat gleichfalls einen Artikel »Kommentar« aufgenommen (Norbert Oellers, Art. Kommentar. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Harald Fricke et al., Bd. 2, Berlin, New York 2007, S. 302–303), auf eine Lemmatisierung von Gefühl, Emotion oder Gefühlskultur wurde ebenfalls verzichtet; im Historischen Wörterbuch der Rhetorik findet sich ein ausführlicher Artikel zum Kommentar (Ulrich Püschel, Artikel Kommentar. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik), im Histortischen Wörterbuch der Philosophie hingegen ein Artikel »Gefühl« (Ursula Franke, Günter Oesterle et al., Art. Gefühl. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 82–96); im »Historischen Wörterbuch« Ästhetische Grundbegriffe ist gleichfalls »Gefühl« lemmatisiert (Birgit Scheer et al., Art. Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck et al., Bd. 2, S. 629–660), im Handwörterbuch der Psychologie hingegen »Emotion« (Dieter Ulrich, Art. Emotion. In: Handwörterbuch der Psychologie, hg. von Roland Asanger und Gerd Wenninger, 4., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, München, Weinheim 1988, S. 127–132); komplementär verzeichnet sind die Lemmata auch im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (5 Bände, 1971–1998, Neubearbeitung ab 2008, bisher ein Band) und im Staatslexikon (5 Bände, 1985–1989): während jenes die Lemmata »Kommentatoren« (mit Verweis zu »Postglossatoren«) und »Kommentier- und Auslegungsverbot« enthält (Hans-Jürgen Becker, Art. Kommentier- und Auslegungsverbot. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Albert Erler et al., Bd. 2, Sp. 963–974), findet sich in diesem kein entsprechender Eintrag; auch »Gefühl« und »Emotion« fehlen im Staatslexikon, es gibt dort aber einen ausführlichen Artikel zum Lemma »Liebe« (Hanspeter Heinz, Art. Liebe. In: Staatslexikon. Recht. Wirtschaft. Gesellschaft, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 3, Freiburg, Basel, Wien 1987, Sp. 921–923); in den seit 1950 erscheinenden, in ihrer Art maßstabsetzenden Geschichtlichen Grundbegriffen ist keiner der beiden Bereiche durch einen eigenen Artikel vertreten. Simone Winko, Art. Emotion. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 139–140; Nikolaus Wegmann, Art. Kommentar, philologischer, ebd., S. 318–319.
vergangenen Jahrzehnte geht Hans Ulrich Gumbrecht davon aus, dass sich hinter den Karrieren von Schlagwörtern wie Stil, Ausdruck und Maß die Anzeichen eines epistemologischen Wendepunktes erkennen lassen. Der epistemologische Konstruktivismus wird von Gumbrecht dabei als Äquivalent einer postmodernen Schwundstufe von Identität gedeutet, in der Selbstbestimmung zur Selbstfindung und zur Selbststilisierung reduziert wurde: »Der Imperativ der Selbstfindung hat, wie die Begriffsgeschichte von ›Ausdruck‹ belegt, die Kulturen des Sich-Ausdrückens als Medium der Identitätssuche ins Uferlose gesteigert, während der Imperativ der Selbststilisierung […] am Ende der Begriffsgeschichte von ›Stil‹ als Komplement und Vollendung der Selbstfindung erscheint.«168 Diesem Habitus entspreche epistemologisch jener Konstruktivismus, der in theoretischer Hinsicht als gemeinsame konzeptionelle Basis der großen begriffsgeschichtlichen Handbücher betrachtet werden könne. Demgegenüber deute sich, so Gumbrecht, in der Begriffsgeschichte von »Maß« eine gegenläufige Tendenz ab, die sich sowohl soziologisch wie kulturkritisch »mit den neuen religiösen Fundamentalismen […] aber auch mit vielfachen Tendenzen eines neuen philosophischen ›Realismus‹« assoziieren ließen: die Suche nach Bezugspunkten für ein »Bedürfnis nach Verbindlichkeit und Objektivität«.169 Dafür mag einiges sprechen. Der zusammenfassenden Hypothese Gumbrechts zu den Konsequenzen dieser habituellen Konfrontation wäre aber aus der Perspektive der Erkenntnisse zu den Separations- bzw. Exklusionsverhältnissen und deren gegenwärtigem cross-over zu widersprechen. Zwar dürfte unstreitig sein, dass, wie Gumbrecht schreibt, die Positionen eines neuen philosophischen Realismus nicht gleich zum Verschwinden aller Varianten des Konstruktivismus geführt haben170 – ein solches plötzliches Aussterben einer höchst vielfältigen wissenschaftlichen Zeitgeist-Spezies durch den Meteoriteneinschlag einer wissenschaftlichen Mentalitätswende widerspräche schließlich allen neueren Entdeckungen der Langsamkeit wissenschaftsgeschichtlicher Umwälzungen, wie sie am Beispiel der kopernikanischen oder der kantianischen Revolutionen umfangreich dokumentiert wurden.171 Wenn aber Gumbrecht schreibt, dass in Folge dieser epistemologischen Wende »der Gegensatz zwischen ›Realismen‹ und ›Konstruktivismen‹ schärfer geworden« sei und man sich unter der Verpflichtung fühle, »für die eine oder andere Seite dieser Alternative zu optieren«,172 dann 168 169 170 171
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Hans Ulrich Gumbrecht, Die Pyramiden des Geistes. In: Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, S. 7–36, hier S. 34. Ebd. Vgl. ebd. S. 35. Vgl. Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt/M. 1980; Thomas P. Saine, Von der Kopernikanischen zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit, Berlin 1987. Gumbrecht, Pyramiden des Geistes, S. 35.
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sprechen zumindest die exemplarischen Befunde dagegen. In der Grundtendenz jedenfalls lassen sich offenbar konzeptualistische Begriffe (wie Kommentar und Kommentieren) mit Begriffen, die den »Anspruch auf Weltreferenz« (Gumbrecht) erheben, durchaus vereinbaren, selbst wenn man zugesteht, dass man Begriffe wie Gefühl, Emotion etc. unter den Vorbehalt einer Luhmann’schen Lesart einer sozialen Codierung stellen kann.173 De facto jedenfalls lässt sich keiner der entsprechenden Beiträge auf eine entsprechende orthodox systemtheoretische Lektüre festschreiben und vielleicht am allerwenigsten der Artikel »Gefühl« von Wolfgang Behringer und Volker Leppin in der Enyklopädie der Neuzeit, also jenem aktuellsten Handbuch, in dem die bis dahin getrennten Sphären zusammengeführt werden. Gerade in Hinblick auf die Folie der vorliegenden Untersuchung werden dort nämlich konstruktivistische Argumente wie das von der aktiven Gefühls-Produktion im Medium des Briefes im späten 17. und im 18. Jahrhundert mit dem Nachweis von vorgängigen Quellen ergänzt, die auf Gefühle als anthropologische Substrate verweisen.174 Einzig vorschnelle Generalisierungen (wie die vom »Zeitalter der Angst«) seien, so der Tenor des Artikels, auf der Basis der überlieferten Gefühlskulturen-Quellen nicht belegbar.175 Auch die Tatsache, dass in der Enzyklopädie der Neuzeit dem Artikel »Kommentar« ein weiterer, unabhängiger Artikel zum Stichwort »Kommentier- und Auslegungsverbot« zur Seite gestellt wird, entspricht dieser Tendenz zur theoretischen Synthese: bezieht sich doch der Kommenta auf ein textkonstituierendes philologisches Verfahren, während das Verbot, dessen Archetypus das von Kaiser Justinian erlassene Kommentier-Verbot des 6. Jahrhunderts ist, eine Maßnahme der Kanonisie-
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Luhmann wird zuweilen zwar als »erkenntnistheoretischer Realist« bezeichnet (Finn Collin, Konstruktivismus, S. 105), was jedoch dessen eigener Stellungnahme widerstreitet, der zufolge auch der Konstruktivismus »eine realistische Erkenntnistheorie« sei, »die empirische Argumente benutzt« (Niklas Luhmann, Identität – was oder wie? In: Luhmann, Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 14–30, hier S. 15). Vgl. hierzu auch Andreas von Prondczynsky, Erkenntnis der Welt: konstruktiv oder konstruktivistisch. Eine Einleitung. In: Konstruktivismus in den Wissenschaften. Neues Paradigma oder alter Wein in neuen Schläuchen?, hg. von Andreas von Prondczynsky (Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften 14, 2003), S. 9–17, hier S. 12 und S. 15, Anm. 36 (mit weiteren Nachweisen) sowie Georg Lohmann, »Beobachtung« und Konstruktion von Wirklichkeit. Bemerkungen zum Luhmannschen Konstruktivismus. In: Konstruktivismus und Sozialtheorie, hg. von Gebhard Rusch und Siegfried J. Schmidt, Frankfurt/M. 1994, S. 205–219. Vgl. Behringer und Leppin, Art. Gefühl, Sp. 251; an dieser Stelle nicht aufgeführt, aber als Modell für die Vermittlung von naturalistisch-anthropologischen und konstruktivistischen Modellen relevant, wäre noch die Studie von Günter Dux, Geschlecht und Gesellschaft zu ergänzen. Behringer und Leppin, Gefühl, Sp. 251.
rung eines bestimmten Kommentarkorpus ist, nämlich der Digesten, in denen das römische Recht zusammengefasst ist.176 Mag man nun aber eine solche Neutralität zwar einem enzyklopädischen Handbuch zugestehen oder sie sogar von ihm fordern, so ist damit doch keinesfalls präjudiziert, dass auch ein in der Praxis ›produzierter‹ Kommentar hierzu verpflichtet oder legitimiert ist; aber selbst wenn dem Kommentator mit historischen und/oder systematischen Gründen eine solche Lizenz erteilt würde, so könnte doch eine Theorie des Kommentars nicht von der Pflicht entbunden werden, sich entweder theoretisch zu positionieren oder aber eine (offenbar durchaus mögliche) Intermediärposition zu begründen. Methodisch sinnvoll erscheint es, zunächst die Tragfähigkeit der vermittelnden Position im Überschneidungsbereich von Gefühlskultur und Kommentartheorie zu erproben.177 176
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Brauneder, Art. Kommentier- und Auslegungsverbot. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Sp. 979–980; vielleicht etwas kurzschlüssig (im Sinne einer »Medienwissenschaft der Pointe«) haben Markus Krajewski und Cornelia Vismann diesen Akt und seine Folgen als Zeichen eines »Sog[s] vom Kommentar zur Kodifikation« gedeutet, der sich auch im »Reich des Digitalen« fortsetze und zu neuen Hierarchisierungen führe (Markus Krajewski, Cornelia Vismann, Kommentar, Code und Kodifikation, S. 5–16). Die mediengeschichtliche Skepsis der beiden Autoren gegenüber einer »Kultur des Kommentierens jenseits des geschlossenen Codes« (ebd. S. 16) ist, so ließe sich vermuten, doch eher eine Nebenwirkung der mediengeschichtlichen Pointe als das Resultat philologischen Experimentierens mit Formen des »offene[n], kollegiale[n] Kommentierens« (ebd.). Vermittelnde Positionen Art finden sich im Grunde in allen relevanten Disziplinen, namentlich in der Geschichtswissenschaft (vgl. z.B. den Beitrag von Andreas von Prondczynsky, Die Arbeit des Historikers als Konstruktion der Geschichte: Konstruktivistische Geschichtswissenschaft? In: Konstruktivismus in den Wissenschaften, S. 55–71, mit besonderem Nachdruck auf die Beiträge von Guy Lardreau und Roger Chartier, der für die vorliegende Studie von besonderer Relevanz ist, da er den auch für sie zentralen Begriff der Repräsentation in gewandelter Form zurückzugewinnen versucht [ebd. S. 65]), in der Literaturwissenschaft (Einschlägige Arbeiten zur Situierung der Literaturwissenschaft im Horizont der Wissenschaftsforschung versammelt der DFG-Band Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hg. von Jörg Schönert, Stuttgart 2000; vgl. auch den instruktiven Diskussionsbericht von Jürgen Kaube, S. 120ff.; zu Recht hat Jan-Dirk Müller jedoch darauf hingewiesen, dass in diesem Band diskutierte Stellungnahmen im Wesentlichen wissenschaftsinterne Differenzierungsprozesse behandeln [Jan-Dirk Müller, Gibt es einen Fortschritt in der Literaturwissenschaft? In: www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags 2001, hg. von Hartmut Kugler, Bd. 1, Bielefeld 2002, S. 79–103, hier S. 89]), sowie in der Philosophie, den Sozialwissenschaften und der Wissenschaftstheorie (für alle drei Disziplinen relevant sind die jüngeren Arbeiten von John R. Searle [Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbeck bei Hamburg 1997] und Ian Hacking [The social Construction of What?, Cambridge 1999; Representing and Interventing, Cambridge 1983]. In beiden Fällen ist es der – wie Andreas von Prondczynsky betont hat – im Konstruktivismus tabuisierte Begriff der Repräsentation, der von Bedeutung ist. Für Hacking ist Repräsentation ein Faktum, das zur Natur des Menschen gehört, der ein darstellendes Wesen ist [vgl.
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Jean-Paul-Bezug (III) Im Falle der Jean-Paul-Edition wird ein kooperatives Netzwerk vorausgesetzt, das – wie im Abschnitt zur Textgrundlage gesehen – tendenziell differierende philologische Grundannahmen verbindet. Diese Differenzen sind zunächst textsortenbedingt (›Werke‹, Nachlass, Brief-Edition). Sie generieren aber Unterschiede auch in der grundsätzlichen Ausrichtung der jeweiligen Kommentare. Diese Unterschiede wiederum sind aus theoretischer Perspektive von Interesse, indem sie realistische respektive konstruktivistische philologische Optionen erkennen lassen. Die Brief-Edition vertritt, wie im Abschnitt zur Textkonstitution deutlich wurde, editorisch zum Teil abweichende Voraussetzungen und Positionen. Aber auch sie ist natürlich mit den anderen Projekten vielfältig vernetzt. Namentlich durch regelmäßig stattfindende Arbeitstreffen wird diese Vernetzung konkretisiert. Die differenten Positionen werden dabei aus der praktischen Editionsarbeit heraus diskutiert. Das Protokoll eines Arbeitstreffens der JeanPaul-Editionsprojekte am 21. bis 22. Juli 2003 in Potsdam benennt die Differenzen und Konvergenzen der unterschiedlichen Ansätze. Die den Prinzipien einer werkgenetischen Edition verpflichteten Abteilungen der NachlassEdition und der Neuedition der Werke haben sich – in Anbetracht der Unabsehbarkeit möglichen Kommentierens bei einem Autor wie Jean Paul – auf einen ›geschlossenen‹ Idealtypus der Kommentierung verständigt, dessen Grenzen durch die Metapher der »Schreibwerkstatt« sinnfällig werden.178 In dieser Werkstatt spielt sich die Genese der Werke ab, von jedem Punkt lässt sich – idealtypisch – ein kommentierender Bezug zu den jeweils vorausgehenden oder nachfolgenden Formierungen des Stoffes in der Werkstattbearbeitung herstellen (wobei »zuweilen auch […] vom Standard abweichende Abfolgen« möglich sind). »Im Idealfall« lassen sich also »zwischen [zu kommentierender] Romanstelle und Nachlaßmaterialien durchgängige Quellenverbindungen herstellen. Die erwähnte elektronische Edition der Exzerpte stellt hinsichtlich der Kommentierung der Werke so etwas wie eine virtuelle Basis dar, auf die sich in letzter Instanz die Erläuterungen gründen: Der Nachweis des Exzerptortes (in den Exzerptbüchern Jean Pauls) und, wenn möglich, der bibliographisch erfassten Quelle des Exzerpts wird zum Ausgangspunkt der werkgenetischen Rekonstruktion, wobei die Verwendung von exzerpierten Motiven über die Zwischenstufen der Satiren, Ironien- und Gedankenhefte sowie die Werkvorstufen bis ins gedruckte Werk oft lückenlos
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auch Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie, S. 122], für Searle macht wahre Repräsentation Wissen aus [vgl. hierzu von Prondczynsky, Die Arbeit des Historikers als Konstruktion, S. 12]). Protokoll des Arbeitstreffens der Jean-Paul-Editionsprojekte, Potsdam, 21./22. Juli 2003 (datiert Potsdam/Würzburg, 9.2.2004), S. 8–9.
nachvollzogen werden kann.179 Das Ideal dieser Version des Kommentierens ist eine Selbstkommentierung des Autors, die allein schon aufgrund der Endlichkeit autorschaftlicher Produktivität als begrenzt zu betrachten ist. Dies ließe sich als konstruktivistischer Standpunkt charakterisieren, der zugleich zu einer (pragmatischen) Schließung des Kommentarhorizonts führt. Ihm korrespondiert die Öffnung des textgenetischen Horizontes: »Jean Pauls literarisches Werk ist von der tendenziell unabschließbaren Dynamik der Entstehung von Schrift aus Schrift bestimmt.«180 In der Brief-Edition stellt sich die Lage im Prinzip komplementär dazu dar: hier lässt sich eine Tendenz zur abschließenden Textkonstitution einerseits, eine gegenläufige zur Öffnung beziehungsweise systematischen Offenhaltung der Kommentierung (im Sinne von Erläuterung) andererseits konstatieren. Zwar könnte auch im Briefwechsel die epistoläre Korrespondenzstelle, also der konkrete Bezug in den beantworteten und antwortenden Briefen,181 als nicht hintergehbarer philologischer Bezugsort der Kommentierung in einem dann gleichfalls geschlossenen Kommentarhorizont angesehen werden – analog zum Exzerpt im Nachlass-Werk-Komplex. Dies allerdings würde ihren jeweils auch singulären dokumentarischen Charakter verzerren. Zudem ist die Mehrzahl von Jean Pauls Briefen nicht im Original erhalten, sondern nur in Gestalt von Auszügen und Stichwortnotaten in seinen Briefkopierbüchern überliefert. Den Kommentar auf die Korrespondenzstellen einzuschränken, würde also bedeuten, zahlreiche, vor allem die konkreten, Welterfahrung transportierenden Passagen der Briefe an Jean Paul unkommentiert und damit oft unverständlich darzubieten. Denn gerade die auf individuelle Erlebnisse der Korrespondenten bezüglichen Stellen fehlen häufig in Jean Pauls Notizen im Briefkopierbuch. Auch ein Kommentar, der aus diesen Gründen zunächst keine Begrenzung durch aufeinander beziehbare Textkorpora vorsieht, muss jedoch vorläufige pragmatische Grenzen setzen. Die Erläuterungen zu den Briefen an Jean Paul liefern also, gemäß den Editionsrichtlinien, »die zum Verständnis der Briefe erforderlichen sachlichen, bio- und bibliographischen, werk-, lokalund zeitgeschichtlichen Angaben sowie Worterklärungen.«182 Für weitergehende, allgemeinere Kommentierung gilt als »Maßstab, ob eine biographische, Sach- oder Worterläuterung zu geben ist, […] in der Regel die aktuelle Brockhaus-Ausgabe und das große Wörterbuch der deutschen Sprache des Duden179 180 181
182
Vgl. die Beiträge von B. Hunfeld, Petra Zaus, Birgit Sick und Michael Will in: JbJPG 41, 2006, S. 19–96. Helmut Pfotenhauer, Editorial, S. 2. Von »epistolären« Ereignissen ist im Folgenden immer dann die Rede, wenn es um konkrete Akte in konkreten Briefwechseln geht, unabhängig davon, ob es reale oder fiktive Korrespondenzen sind; als »epistolar« hingegen werden solche Zusammenhänge bezeichnet, die allgemeine Eigenschaften der Kommunikation in Briefen betreffen. IV 1, 322.
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verlags«.183 Über diese Grenzen hinaus aber ist der Kommentarhorizont der Briefedition gleichwohl offen. Diese Offenheit lässt sich an verschiedenen editorischen Festlegungen erkennen, die mit Prozessen der textkonstituierenden Schließung verzahnt sind. Beides ›ereignet‹ sich in der Briefedition unter dem übergeordneten Begriff des Kommentars, der hier für den integralen Bereich des editorischen Apparats verwendet wird und dabei die Abschnitte Überlieferung, Beilagen, Absender, Adressat, Ort, Datum, Korrespondenzstelle, Textgrundlage, Lesarten, Varianten, Übersetzungen, Bemerkungen Jean Pauls sowie die inhaltlichen Erläuterungen im eigentlichen Sinne umfasst (wobei die Gliederungseinheiten »zu Gruppen zusammengefaßt und je nach Bedarf verwendet« werden184). Durch die Verwendung des übergeordneten Begriffs Kommentar für dieses Apparat-Integral soll der »besonderen Bedeutung der inhaltlichen Erschließung« Rechnung getragen werden sowie der Tatsache, »daß auch in den sonst häufig ›Apparat‹ genannten Teilen wertende Elemente (z.B. Auswahl bei den Varianten) enthalten sind.«185 Unbestreitbar sind die editorischen Entscheidungen bei der Variantenauswahl als schließende Akte zu sehen. Sie erlauben aber sozusagen eine Wiederöffnung im Rahmen der Erläuterungen, sowohl im Rahmen der Druckfassung der Bände als auch – in optionaler Erweiterung – in elektronischer Form. Dass in diesem offenen Kommentarhorizont auch Ereignisse und Tatsachen der Gefühlswirklichkeit der Briefschreiber und involvierter Dritter berücksichtigt werden, macht erneut das Protokoll des editorischen Arbeitstreffens deutlich, demzufolge es in den Erläuterungen neben der »Erklärung von Verweisen und Anspielungen der Absender auf literarische, theologische, historische etc. Zusammenhänge« auch um Verweise und Anspielungen »auf persönliche Verhältnisse und Hintergründe« zu gehen hat,186 sowie auch »die Erklärung spezifischer Ausdrücke und Bezeichnungen, die die Briefpartner untereinander verwenden«, umfassen soll.187 Im Rahmen des philologischen Netzwerks der Jean-Paul-Edition gibt es Überschneidungsbereiche des Erkenntnisinteresses, aber auch Bereiche, die von spezifischem Interesse sind. Die Würzburger Nachlass- und WerkEdition ist wesentlich auf die Werk-Person Jean Paul sowie auf das Integral von dessen »Textwerkstatt« ausgerichtet. Gleichwohl hält das Protokoll des Potsdamer Editorentreffens als gemeinsamen Erkenntnishorizont fest, es 183 184 185
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Ebd. S. 323. IV 1, 319. Protokoll des Arbeitstreffens, S. 1–2; die Editionsrichtlinien legen fest, dass »nur stilistisch oder inhaltlich relevante innerhandschriftliche Entstehungsvarianten wiedergegeben« werden, »einfache Korrekturen, Streichungen und Einfügungen« hingegen unberücksichtigt bleiben. (IV 1, 321). Protokoll des Arbeitstreffens, S. 2. Ebd., S. 2.
könne dem editorischen Netzwerk insgesamt durchaus um die Demonstration der »Schaffung einer Lebenswelt« gehen.188 Aus der Perspektive der BriefEdition lässt sich freilich eine solche Lebenswelt nicht panoramatisch erschließen – weder kann sie – in geographischer Hinsicht – regiozentristisch sein, noch kann sie – in intellektueller und emotionaler Hinsicht – exklusiv auf »Jean Pauls Geist« zugeschnitten werden, gleichsam als integrale Version der frühen Chrestomathien des Autors.189 Sie muss vielmehr die Pluralität unterschiedlicher Lebenswelten und Lebensentwürfe auch kommentierend berücksichtigen. Gerade für einen in Richtung auf Erforschung von Liebesbriefkulturen erweiterten Kommentar sind dabei die Unvereinbarkeiten von Lebensentwürfen und von Lebenswelten (sowohl intellektuellen und emotionalen wie geographischen und sozialen) von besonderer Bedeutung. Das Ideal der »Selbstkommentierung« wäre hier also durch das Ideal einer Interferenz von Selbst-, Fremd- und Metakommentierung zu ergänzen. Dem Versuch, diese Interferenzen produktiv zu machen, sind nun die folgenden Teile dieser Arbeit gewidmet.
4. Liebesbriefforschung als integrierende Philologie Zusammenfassung Die hermeneutischen Diskussionen um 1800 sind mit der Brief- und Liebesbriefkultur dieser Zeit eng verflochten. Die Kulturgeschichte des Liebesbriefs entwickelt sich aber keineswegs allein im Windschatten dieser Diskurse, sondern bahnt sich immer wieder eigene Wege: liebesbriefliches Verstehen und Missverstehen bilden eine produktive Kraft im Kultursystem, die bisher weitgehend übersehen wurde. Dies hat zur Konsequenz, dass Liebesbriefe stets differenziert zu betrachten sind, jeder Brief also zunächst im Ganzen gesehen werden muss, ohne dass ihm vorab Dispositionen bezüglich seiner sozialgeschichtlichen, regionalen, familiären etc. Bedingungen zugeschrieben werden.
Liebe verstehen und erklären: Philologische Voraussetzungen Somit lässt sich in beiden grundlegenden philologischen Praktiken, der Textkonstitution und dem Kommentieren, eine Ambiguität festhalten, ein Auseinandertriften von (editions-)philologischen Kulturen. In Bezug auf Textkonstitutions-Fragen habe ich versucht, dies Auseinanderdriften aus produktionsphilologischen Grundannahmen auf der einen Seite, die mit einer Schließung des Textkonstitutionshorizonts einhergehen, und inshaltsbezogenen auf der anderen herzuleiten. Die stärker an einer inhaltsbezogenen Repräsentation (zum Beispiel von emotionalen Ereignissen) orientierten werkgene188 189
Ebd., S. 9 (Hervorhebung J.P.). Vgl. Jean Pauls Geist oder Chrestomathie der vorzüglichsten, kräftigsten und gelungensten Stellen aus seinen sämtlichen Schriften, hg. von Carl Heinrich Ludwig Pöllnitz, 4 Bde, Weimar, Leipzig, 1801–1816.
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tischen Positionen tendieren dabei wiederum zu einer Schließung des philologischen Horizonts im Kommentar, wohingegen die stärker produktionsphilologisch orientierten an der prinzipiellen Offenheit von Kommentaren festhalten (müssen). Ein epistemologisches Paradigma zu finden, das beides verbindet, scheint zunächst auf eine Art Quadratur des Zirkels, ein Abarbeiten am Paradoxen hinauszulaufen. Denn die Positionen scheinen ja jeweils in einem der beiden philologischen Grundtätigkeitsbereiche das auszugleichen, was im anderen defizitär bleiben muss, wenn denn philologische Prinzipientreue gelten soll. In welcher Weise kann es an dieser Stelle weiterhelfen, sich mit der Praxis einer Brief-Edition zu beschäftigen? Auf die spezifische, im privaten und wissenschaftlichen Leben angesiedelte Hermeneutik der primären, von den Absendern und den Empfängern praktizierten, und der sekundären, von den Editoren praktizierten Formen des Schreibens, Entzifferns, Aufbewahrens etc. wurde bereits hingewiesen. In singulärer Weise sind dabei die primären und die sekundären Akteure als Verstehenspaare aufeinander angewiesen. Sie korrespondieren sozusagen gleichzeitig in vivo und posthum miteinander.190 Für Liebesbriefe gilt dies nicht nur a fortiori, sondern es gilt auch gleichsam wissenschaftsgenetisch: Liebesbriefkultur wird vom hermeneutischen Denken der Moderne nicht nur geprägt, sie ist an deren Neubestimmung in der Zeit um 1800 auch aktiv prägend beteiligt, wie im Zuge einer sukzessiv erfolgenden Erforschung zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs zunehmend deutlich geworden ist. So hat Thomas Wirtz zwar bereits 1998 hervorgehoben,191 wie 190
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Im Bereich der deutschen Literatur ist das Paar Friedrich Gottlieb Klopstock und Meta Moller gleichsam zum Archetypus für die Verschränkung von primärer und sekundärer Kommunikation geworden, vermittelt zunächst durch die Verwandlung der Liebe in Literatur, später auch die Publikation des Briefwechsels (vgl. Elke Clauss, Liebeskunst. Untersuchungen zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert, Weimar 1993, Tanja Reinlein, Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003, S. 202–231). Zumindest der Katalysator für die überwältigende Wirkung dieses Paars war die Möglichkeit einer christlichen Interpretation des Lebens und Wirkens dieses Paares, namentlich unter Berücksichtigung von Metas frühem Tod; Verklärungsmedium konnte dann wiederum die Literatur werden (vgl. Joachim Jacob, »Wäre ich Ihr Klopstock für seine Meta«. Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock, Hamburg, 4. April 1751. In: Georg Braungart, Friedemann Harzer, Hans Peter Neureuter, Gertrud M. Rösch (Hg.), Bespiegelungskunst. Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgeschichte, Tübingen 2004, S. 29–41); zu Jean Pauls Teilhabe an dieser Tradition der andächtig-produktiven Verklärung vgl. Anm. 205 in diesem Kapitel. Thomas Wirtz, Liebe und Verstehen. Jean Paul im Briefwechsel mit Charlotte von Kalb und Esther Gad. In: DVjs 1998/2, S. 177–200; auch Johannes Saltzwedel hat den Zusammenhang von Schleiermachers Prinzip des »Auslegens« als einer »Kunst« als eine Brückenfunktion zwischen Philologie und Liebesdiskurs interpretiert: »Daß [der Kommentar] nicht enden kann, auch diese Größe hat der passionierte Erläuterer mit dem Liebenden gemeinsam« (Saltzwedel, Mit fortgehenden Noten, S. 101 mit Verweis auf Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 80 und S. 95).
die Hermeneutik Schleiermachers zunächst ein Misstrauen statuiert (»[d]ie strengere Praxis geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt […]«192) und erst durch einen voluntaristischen Akt zum Verstehen vordringt: indem nämlich »das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden«.193 Der Zielpunkt besteht dabei aber für Schleiermacher (und Wirtz betont dies) in einem Moment der Vermittlung beziehungsweise »Vergleichung«: »Denn die Divination erhält ihre Sicherheit erst durch die bestätigende Vergleichung, weil sie ohne diese immer fantastisch sein kann«.194 Dabei erweise sich die Hermeneutik aber, so Wirtz, als eine Folie der geschlechterspezifischen Dichotomien und Aporien der Zeit, die, in Gellerts Briefsteller präfiguriert, den sattelzeitlichen Diskurs und seine lebensweltliche epistolare Praxis begleiteten.195 In seiner Analyse von zwei Liebeskorrespondenzen Jean Pauls, die ihm für diese Gedankenfigur das Szenario liefern, erkennt Wirtz somit aber auch noch ein Scheitern dieser dialogischen Utopie, die sich nur in der Literatur zu einer zwar inszenierten, dafür aber freien und damit etablierbaren Gestalt verfestigen konnte: den Werken (zum Beispiel Jean Pauls und seiner das literarische Dispositiv bestimmenden männlichen Zeitgenossen).196 Demgegenüber hat Renate Stauf in einem Beitrag über »Liebe und Selbstverhältnis im Briefwechsel Rahel Varnhagens mit Alexander von der Marwitz« demonstriert,197 dass das Scheitern einer Liebesbriefbeziehung »vor der Welt« – und die hier, bei Stauf, verhandelte Welt berührt sich an zahlreichen Punkten mit derjenigen, die Wirtz im Umfeld Schleiermachers und Charlotte von Kalbs behandelt198 – nicht mit einem Scheitern im Horizont der Liebe gleichgesetzt werden darf, sondern auch »spielverderberisch« die soziale Regel, die Erfolg und Scheitern festlegen zu können beansprucht, untergräbt. Im Verzicht auf den gesellschaftlichen Besitz werden, so Stauf, »Liebesglück und Liebesschmerz als authentisches Erleben und zugleich als
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Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 92. Ebd. Ebd., S. 170. Wirtz, Liebe und Verstehen. Die Einschreibung der hermeneutischen Denkfigur in ein epistolares Dispositiv wäre dabei, was Wirtz nur andeutet, als Spezifizierung von Friedrich A. Kittlers These von der »gegenseitigen Ermöglichung von Literatur und Hermeneutik« zu verstehen (ebd., S. 184, Anm. 19; vgl. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, 4. Aufl., München 2003) (ohne dass dabei die Ideosynkrasien Kittlers aufgerufen und transportiert werden müssten). Ebd. Renate Stauf, »Wen ich nicht behandeln kann, der ist auch nicht für mich.« Liebe und Selbstverhältnis im Briefwechsel Rahel Varnhagens mit Alexander von der Marwitz. In: Tableau de Berlin 1786–1815, hg. von Claudia Sedlartz, Ivan D’Aprile und Martin Disselkamp, Hannover 2003, S. 331–352. Alexander von der Marwitz verliebt sich noch während der Liebesbriefbeziehung mit Rahel in Henriette Schleiermacher, vgl. ebd., S. 349.
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transitorisches Ereignis erfahrbar«.199 Ein solch flüchtiges, transitorisches Ereignis der ›Eigentlichkeit‹ ist nicht mehr auf Verstehen im integralen Sinn angewiesen und macht es nicht mehr zum ultimativen Kriterium des Scheiterns oder Gelingens.200 Wenn sich bei Wirtz das Versickern von Korrespondenzen im Schatten der Werkgebirge männlicher Autorschaft um 1800 als Scheitern darstellt, so bleibt bei Stauf das Beziehungs-›Scheitern‹ relativ im Verhältnis zu den neuartigen oder neuartig konstellierten epistolaren Ereignissen, die ihm voraus- und mit ihm einhergehen: die überraschendsten, freiesten, zuweilen verfremdeten, dann wieder epiphanische Erlebnisse zitierenden, oft ins Schwankende oder Paradoxe ausweichenden und im Paradoxen dann doch wieder festen Boden findenden Wendungen einer metapoetischen Sprache, die gleichwohl der Kategorie sozialer Identität (und damit dem umgreifenden Prinzip des Verstehens) verpflichtet bleibt.201 Karl Heinz Bohrers Konstruktion einer radikal ästhetischen, monologischen und die Verstehensfundamente einreißenden Epistolarkultur, aus deren Trümmern Modernität erwächst, kann demge-genüber vielleicht als eine Synchronfassung der Geschichte des hermeneutischen Liebe-Schreibens, nicht aber als deren singuläres Paradigma begriffen werden.202 Die oben skizzierten Positionen von Wirtz und von Stauf sind natürlich gleichwohl im Bewusstsein der prekären Lage von Liebens- und Verstehenszusammenhängen in der sogenannten nachmetaphysischen Gesellschaft formuliert. Diese hat sich jedoch wiederum, wie Renate Stauf an anderer Stelle gezeigt hat, in exponierten und sich exponierenden Figurationen des zeitgenössischen Brieflebens auch Spuren einer »reflektierten Authentizität« erschrieben, die das Wissen um die »Sprache der Liebe« als »Ort von Deutungen und Missverständnissen« selbst zur »Basis des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens« gemacht hat.203 Scheitern ist in solchen Figurationen der Liebesbriefkultur nicht nur zugleich (wie im Falle Rahel Varnhagens) Nicht-Scheitern, das Scheitern als Nicht-Scheitern ist vielmehr bereits Voraussetzung von avancierten amourösen Konstellation wie derjenigen im Liebesbriefverhältnis zwischen der Dichterin Ingeborg Bachmann und dem bekennend homosexuellen Komponisten Hans Werner Henze. Die von Stauf nachgewiesene Wiedergeburt des Verstehens aus diesem ›anderen Zustand‹ des Liebes-Lebens ist so überraschend wie plausibel. Auch solch avancierten Positionen freilich mussten mehr oder weniger abgeschlossene Verstehens- und Verständniszirkel den Weg bahnen (zum Beispiel in der 199 200 201 202 203
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Ebd., S. 351–352. Vgl. ebd., S. 342–345. Vgl. ebd. S. 334–337 und S. 347–350. Vgl. Bohrer, Der romantische Brief. Vgl. Renate Stauf, »Erklär mir, Liebe«. Kunst des Liebens und Liebessprache im Briefwechsel Ingeborg Bachmanns mit Hans Werner Henze. In: Der Liebesbrief, S. 401–423, hier S. 401 und 421.
Verhandlung von neuen Formen des Geschlechterverhältnisses), die in einer historischen und systematischen Erforschung von Liebesbriefkulturen überraschende Nähen bei gleichzeitig großen literaturhistorischen Entfernungen erkennbar werden lassen.204 Betrachtet man Liebesbriefkultur demnach als eine Kommunikationsform, die nicht nur äußeren, sondern auch inneren Gesetzen folgt und aus sich heraus wiederum in äußere Zusammenhänge rückwirkt, so wären natürlich auch die Verlaufsformen von Verstehen und Missverstehen in Jean Pauls Liebeskorrespondenzen neu zu verhandeln und bewerten: nicht mehr wie bei Wirtz im Rahmen des Missverhältnisses von Leben und literarischem Werk, sondern im Rahmen des Verhältnisses von Liebes-Leben und LiebesbriefWerk. Eine solche Revision wird sich aus der nachfolgenden, auf philologische Erkenntnis zielenden Darstellung als Korollar vielleicht auch ergeben.205 Um daraus weitergehende liebesbriefhistorische Konsequenzen abzuleiten, wäre freilich ein Abgleich mit anderen zeitgenössischen Korrespondenzen und deren Rezeptionsgeschichten nötig.206 204
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Eine Reihe von entsprechenden systematischen Querverbindungen ergibt sich aus dem Band Der Liebesbrief: deutlich werden sie zum Beispiel in den Figuren einer Restitution jener bereits bei Klopstock/Moller literarisch gewordenen AufrichtigkeitsUtopie in Grenzsituationen, zum Beispiel im Briefwechsel Dietrich Bonhoeffers und Maria von Wedemeyers (vgl. Konrad Stock, »Polyphonie des ganzen Lebens«. Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer in ihren Briefen, S. 151–161), oder wenn die »Emphatisierung von Erotik und der (Homo-)Sexualität um 1900« bereits im George-Kreis einerseits zur Voraussetzung gemacht, dabei freilich noch der kommunikativen Tabuisierung unterworfen wird, sich aber gleichwohl Formen sucht, die sich – hermeneutisch! – aus ihrem angespannten Ästhetizismus in ›Liebesbriefkultur‹ rückübersetzen lassen (vgl. Wolfgang Braungart, Christian Oestersandfort, Franziska Walter, Jan Andres, Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner). In: Der Liebesbrief, S. 223–270, bes. S. 223–230). Eine aufs Exemplarische konzentrierte Form einer solchen liebesbriefhistorischen Revision des ›Scheiterns‹ von Jean Pauls Liebeskorrespondenz bietet mein Beitrag ›Simultanliebe‹ in ›Schäfersekunden‹. Liebesbriefkultur im Jean-Paul-Kreis (in: Der Liebesbrief, S. 35–60). Jean Paul selbst hat in einem Brief an seinen Freund Georg Christian Otto ein ironisch gebrochenes Verhältnis zwischen Liebesbriefkultur (eines anderen Kreises) und literarischer Kultur statuiert: »Ich werde doch einmal ein Jahr erleben wo ich die olympischen Wetspiele meiner Kräfte in mir ausschreiben kan, damit jener grosse Kardinal- und Kapitalroman zusammengeknetet werde, von dem ich im Voraus nicht genug reden kan, wie auch von dem kleinen Werklein, wozu mir Klopstok und seine Meta jeden Abend und auf langen Reisen Feuer einblasen« (III 2, 110,5–10, Nr. 165). Bei dem »kleinen« Werk, das hier erwähnt wird, handelt es sich um Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf (Gera, Leipzig: Heinsius 1799), worin wiederum die Liebe Klopstocks und Meta Mollers samt deren literarischer Figuration als Präfiguration des vorgelegten Werkes genannt werden (vgl. I 7, 465,7–8, siehe auch Anm. 305). Ansätze zu einer entsprechenden Vernetzung bilden zum Beispiel die Überlegungen Roman Lachs zur Jean-Paul-Rezeption im Kreis des jungen Bismarck, vgl. Lach, »Die
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Lesarten des Chronotopos »um 1800« Die chronotopische Perspektive unterscheidet sich somit im Rahmen einer Philologie der Intimität von jenen kulturhistorischen Ansätzen, die in den vergangenen Jahren auf das Bachtin’sche Konzept des Chronotops zurückgegriffen haben: wo jene den historischen Augenblick als Brennpunkt bzw. Integral einer kulturgeschichtlichen Tendenz zu begreifen versuchen, die nach Jahrhunderten oder Jahrzehnten skaliert ist,207 gliedert die vorliegende Untersuchungen den Zeitraum um 1800 zunächst auf in disparate philologische Augenblicke, die sich einer Integration zunächst verweigern, da sie als Abweichung, Reflexbewegung oder scheinbare Fehler in Erscheinung treten. In eine Kulturgeschichte der Intimität lassen sie sich dementsprechend schwer einordnen. Gleichwohl muss sich die philologische Analyse der Intimität natürlich in ein nachvollziehbares Verhältnis zu jenen kulturhistorischen Ansätzen stellen. Im Anschluss an Niklas Luhmann geht die Forschung durchgängig davon aus, die Zeit zwischen 1650 und 1800 als Epoche der Codierung von Intimität zu begreifen, die mit ihren Codes gleichsam einen Leerraum ausschilderte: Die Ausdifferenzierung des Kommunikationsmediums Liebe gewinne, so Luhmann, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Konturen, da sie nun auf eine »Eigenwertigkeit der Individualität« bauen konnte; aber sie konnte nicht davon ausgehen, so Luhmann weiter, »daß Individuen sich an der Differenz von persönlichen und unpersönlichen Interaktionen orientieren und einen Bereich für höchst-persönliche, intimvertrauliche Kommunikation suchen.«208 Und vollends fehle bei einer noch schichtgebundenen Kommunikation »der Bedarf für eine in die Welt hineinzuinterpretierende Nachwelt.«209 Intimität wird daher auch von Luhmann an das Funktionieren eines die »Unwahrscheinlichkeit« von Liebe ermöglichenden Kommunikationssystems geknüpft, das zunächst als »Verstehen« defi-
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todeselenden englischen Gedichte«. Romantische Krisen in Otto von Bismarcks und Johanna von Puttkamers Briefwechsel der Brautzeit. In: Der Liebesbrief, S. 129–150. Vgl. grundlegend: Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman, Frankfurt/M. 1989, und Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt/M. 1995 (russ. Original zuerst 1965); zur Zeit um 1800 vgl. Helmut Pfotenhauer, Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991, sowie Theodore Ziolkowski, Das Wunderjahr in Jena. Geist und Gesellschaft 1794/95, Stuttgart 1998, und Ziolkowski, Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole 1810, Stuttgart 2002; auch Cord-Friedrich Berghahn begreift die chronotopische Analyse als Möglichkeit, ein kulturhistorisches »Integral« zu konfigurieren (Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck, Heidelberg 2012); weniger kulturhistorisch integrierende als vielmehr phänomenorientiert differenzierende Perspektiven verfolgt – vor einem anderen Zeithorizont – Hans-Ulrich Gumbrecht in: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit (Frankfurt/M. 2001, engl. Original zuerst 1997). Luhmann, Liebe als Passion, S. 18. Ebd., S. 18–19.
niert210 und später – retrospektiv – als »System der Interpretation« expliziert wird.211 Auch wenn »verstehende Liebe«, so Luhmann, »kognitiv so strapaziös [ist], daß es nahe liegt, sich ans Gefühl zu halten und dessen Instabilität in Kauf zu nehmen«,212 bleibe der Weg der Interpretation der Königsweg für die Schwierigkeiten von Intimverhältnissen – in der Zeit um 1800, also im Übergang zur »romantischen Liebe«, in der die Einheit des Codes in der Funktion, Autonomie zur Reflexion zu bringen, gewährleistet wird,213 ebenso wie heute. Die vorliegende Studie geht demgegenüber auch für die Zeit »um 1800« von einer Instabilität der Intimität in Briefen aus, die sich durch Einschreibung in ein kulturhistorisches Raster nicht austarieren lässt. Dies wird indes nicht allein von der philologischen Versuchsanordnung gefordert. Der Vorannahme liegt vielmehr auch eine übergreifende kulturhistorische Beobachtung zugrunde, die im nachfolgenden Teil expliziert wird. Die dort mitgeteilte Hypothese geht davon aus, dass das Erschreiben von Liebe um 1800 briefstellerisch gesehen gerade nicht in einem rhetorisch und mentalitätsgeschichtlich stabilisierten und somit distinkt bestimmbaren Raum stattfindet, sondern vielmehr in einem briefstellerischen Leerraum, in dem die philologisch verzeichenbaren Abweichungen, Varianten, Verschreibungen etc. als Zeichen einer nicht-regulierten Suche nach Intimität gedeutet werden können. Es sind dies durchgängig keine epochalen Ereignisse, weder im Leben der Individuen noch der Menschheit, sondern Zeichenformationen, die in den »Schäfersekunden« der epistolären Intimität Gestalt gewinnen, wie Jean Paul in einem Brief an seinen Freund Theodor Christian Ellrodt schreibt.214 Im Versuch, diese Zeichenformationen der Intimität in den verschiedenen Medien ihrer existentiellen und philologischen Überlieferung festzuhalten und fruchtbar zu machen, konvergiert das Erkenntnisinnteresse der Arbeit mit den Lebensanstrengungen der darin zur Sprache kommenden Individuen: »Es thut meiner Liebe sehr wol«, so schreibt Jean Paul am 28. Februar 1808 an den Kirchenrat Schwarz nach Heidelberg, »daß ich Sie dreimal gehabt, an der Hand, im Briefe und im Buch«.215 Die Briefe, die im Folgenden analysiert 210 211 212
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Ebd., S. 28. Ebd., S. 217–223. Ebd., S. 29; an Luhmanns systemtheoretischen Ansatz knüpfen sowohl Günter Saße (Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert, Darmstadt 1996) als auch Niels Werber (Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003) sowie Albrecht Koschorke (Körperströme und Schriftverkehr) an. Luhmann, Liebe als Passion, S. 51; allerdings gesteht Luhmann zu, dass in der Zeit um 1800 die Unterschiede zwischen den Epochen dem Szenario einer großen Unübersichtlichkeit weichen, die Semantik der Intimität wirke nun vorübergehend »wie ein strukturiertes Chaos« (ebd., S. 171). In der »romantischen Liebe« aber verfestige sich dieses Chaos wieder zu »greifbaren Resultaten«. III 2, 158,4, Nr. 244 vom 23.2.1796. III 5, 198,33, Nr. 486.
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werden, sollen als Dokumente in genau diesem Spannungsfeld gelesen werden: zwischen der – metonymisch für den »ganzen Menschen« verstandenen Hand – und dem Buch, in das der Philologe die Zeichen der verschiedenen, in Liebe oder Nicht-Liebe aufeinander bezogenen Hände überträgt.
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II Verlaufs- und Verzeichnungsformen von Liebe in Jean Pauls Briefwechseln (1783–1801)
II.1 Rahmenbedingungen
1. Fragenkurrikulum einer Philologie des Liebesbriefs Aus dem Vorhergesagten ergibt sich, das zunächst weniger das Erklären und Verstehen der brieflich kommunizierten Liebe (in ihrer Eigen- und Fremdgesetzlichkeit) zu stehen hat, sondern die Frage nach den philologischen Bedingungen des Verstehens und Missverstehens von Liebe in Briefen. Der Bezug vom philologischen Bereich zu den lebendigen epistolären (Schreib-, Versandt- Lektüre-, Rezitations-, Aufbewahrungs- etc.) -Räumen, in dem dieses Verstehen und Erklären sich ereignet hat, wird dabei durch ein vorläufiges heuristisches Schema hergestellt: Zur Abstimmung und besseren Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse wurde im Zuge der Projektarbeiten des Braunschweiger Forschungsprojektes zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs ein Fragenkurrikulum entwickelt. Dieses Schema bildet Bezugsschema für das in dieser Arbeit vorgestellte philologische Experimentalsystem und stellt zugleich die Gliederungspunkte bereit. Der Fragenkatalog ist in drei Abteilungen gegliedert, die sich in mancherlei Hinsicht überschneiden. Er umfasst: 1. 2.
die Frage nach der in den Briefquellen mitgeteilten Erfahrung der Liebe und nach den Formen ihres Ausdrucks. Aspekte, die im Kontext dieser Fragestellung berücksichtigt werden sollen, sind: Vorformen und Formen des Werbens (Schreibanlässe, Erfolge und Misserfolge des Werbens, Entdecken der Liebe durch Schreiben, Rolle von Mittlerpersonen, Verführungsstrategien) Formen des Scheiterns und Gelingens (Rhythmus der Korrespondenz, Treue- und Ehebrüche, unauflösbare Missverständnisse, Dauer der Beziehung, Aufkündigungen der Liebe und Varianten des Abschieds, Erkalten der Gefühle). Wahrnehmungshorizonte (Verständnis vom Ich und vom Anderen, Selbstdarstellungen und Zuschreibungen, Formen des Selbst- und Weltbezugs und der Bezugnahme, Zweifel und Selbstzweifel, Eifersucht, Gefühl der Zurückweisung) Sprachvermögen und Wahl der Liebessprache (Bedeutung von Fremdsprachen, Dialekten, Stilebenen, Sprachreflexion und Sprachwechsel, wechselseitige sprachliche Beeinflussung, Probleme der Verständigung) Figuren der Wiederholung (sprachliche, erotische, gestische Figuren) Strategien der Intensivierung (Lieben nach Texten, Beilagen, Transfer von Körperlichkeit) die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Erfahrung der Liebe und der Realität des sozialen Lebens. Aspekte, die im Kontext dieser Fragestellung berücksichtigt werden sollen, sind:
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Einsprüche, Mitspracherechte und andere Rahmenbedingungen der Korrespondenz (soziale und familiäre Akzeptanz, ökonomische Bedingungen, religiöse, sittliche, ideologische Orientierungen und Normen, rechtliche Schranken, medizinische Vorbehalte, berufliche und räumliche Gegebenheiten) Verhältnis und Dynamik der Geschlechter (traditionelle und neue Rollenmuster, Schreibstile, Emanzipationsansprüche, Verhältnis von Realem und Imaginärem) Legitimation der Beziehung (Verlobung und Ehe, Berufung auf Autonomie der Liebe, Teillegalisierungen, Unmöglichkeit der Legalisierung). Innere und äußere Gefährdungen und Krisen der Beziehung (erzwungene Trennungen, familiäre Bindungen, andere Liebesbeziehungen, Krankheiten, Divergenz der Lebensläufe) die Frage nach der Verflechtung des brieflichen Liebesgesprächs mit anderen Diskursen. Aspekte, die im Kontext dieser Fragestellung berücksichtigt werden sollen: Verflechtung des Liebesgesprächs mit: Diskursen des Alltags, der Politik, der Kunst, der Literatur, der Religion, der Philosophie, mit dem Naturdiskurs, dem Identitätsdiskurs, dem Ökonomiediskurs.1
Ausdrücklich wird im Arbeitspapier des Forschungsprojektes betont, dass dieser Katalog »noch weiter zu ergänzen, zu präzisieren bzw. zu differenzieren« ist.2 Da sich die vorliegende Arbeit als ein Beitrag zur weiteren Erforschung von Liebesbriefkulturen versteht, wird eines ihrer Erkenntnisinteressen darin liegen, dieser Forderung nach Ergänzung, Präzisierung und Differenzierung nachzukommen. Eine modifizierte Fassung des Fragenkatalogs, in der die Ergebnisse dieser Studie berücksichtigt sind, wird daher im Fazit der Arbeit vorgelegt (auch dem Inhaltsverzeichnis ist bereits die modifizierte Fassung zu Grunde gelegt). Ausgangspunkt (und auch Schwerpunkt) bilden jene Fragen, die der ersten Leitfrage des Fragenkurrikulums zuzurechnen sind, also der Frage nach der in den Briefquellen mitgeteilten Erfahrung der Liebe und nach den Formen ihres Ausdrucks. Dies entspricht der textphilologischen Ausrichtung der Arbeit. Von dort aus soll in Erfahrung gebracht werden, inwiefern die beiden anderen Fragebereiche, die sich auf die Verknüpfung des Liebesgesprächs mit dem sozialen Leben und mit anderen Diskursen beziehen, aus der Philologie heraus erschließbar sind. Durch den Index * wird der Verweis auf andere Punkte des Fragenkatalogs markiert, dessen innerer Zusammenhang damit zumindest analytisch angedeutet wird. Systematisch ist ein solcher Notbehelf einer lineraren, durch Indices ›verlinkten‹ Darstellung in vergleichbarer Weise problematisch wie die Verweispraktiken in linearen Kommentaren, in denen einerseits auf Querverweise nicht verzichtet werden soll, zugleich aber die
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Projektentwurf des Forschungsvorhabens »Kulturgeschichte des Liebesbriefs«, Braunschweig 2008. Ebd.
Gefahr besteht, dabei einen unübersichtlichen, in Grenzfällen fast undurchdringlichen Verweisdschungel zu produzieren.3
2. Briefstellernorm und Liebesbriefkultur um 1800 Die nachfolgende Darstellung folgt zwar chronologisch dem Leitfaden der Liebschaften Jean Paul Friedrich Richters,4 fokussiert jedoch, soweit es die Überlieferungssituation erlaubt, die Epistolarereignisse aus der Perspektive jener Menschen, die ins Briefverhältnis mit dem Dichter treten. Diese sind, sofern es um Liebesverhältnisse geht, zum Teil historisch anderweitig bekannte Persönlichkeiten, zum größeren Teil aber Menschen, die ohne die Briefzeugnisse, die sie mit dem Leben Richters verwob, »dazu bestimmt [gewesen wären], ohne Spur vorüberzugehen.«5 Im Sinne einer Kulturgeschichte des Liebesbriefs, für die, »[s]oweit vorhanden, […] Briefquellen aus allen gesellschaftlichen Schichten erschlossen und ausgewertet [werden sollen]«,6 sind gerade solche Quellen der ›infamen Menschen‹ von besonderer Bedeutung. Dass die entsprechenden Zeugnisse überliefert sind, ist einerseits eine Folge der briefsammlerischen Grundüberzeugung Jean Pauls (»Briefe verbrennen. Nie thät ichs«), in dem der Lebensform des Lebendigen eine palin3
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Im Unterschied zu lexikalischen und literarischen Techniken des Verweisens ist eine Theorie des editorischen Querverweises bislang erst ansatzweise entworfen worden (im umfangreichen Sachregister zu der von Gunter Martens und Hans Zeller herausgegebenen Aufsatzsammlung Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation von 1971 zum Beispiel findet sich ebensowenig ein Eintrag zum Stichwort Verweis bzw. Querverweis wie in den Registern zu Herbert Krafts Editionsphilologie von 1990 und zu Klaus Kanzogs 1991 erschienener Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur; offensichtlich gab erst die Wechselwirkung mit den neuen Möglichkeiten des elektronischen Edierens den Anstoß, über die Organisation und Limitierung von Verweissystemen im Rahmen von rhizomatischen Formationen des Kommentars nachzudenken, vgl. z.B. Dirk Hoffmann, Peter Jörgensen, Otmar Foelsche, Computer-Edition statt Buch-Edition. Notizen zu einer historisch-kritischen Edition – basierend auf dem Konzept von hypertext und hypermedia. In: editio 7, 1993, S. 211–220). In den folgenden Analysen wird durchgängig der Nachname Richter gewählt, um auf die Person Bezug zu nehmen, die die Werke Jean Pauls geschrieben und seine Briefe postiert hat; der Klarname anstelle des geläufigeren Pseudonyms wird gewählt, weil Richter die Mehrzahl seiner Briefe so unterzeichnet hat. Im Unterschied zur Edition der Briefe an Jean Paul (vgl. IV 1, 323, Editionsrichtlinien) wird in der vorliegenden Untersuchung der Dichter also bei dem Namen genannt, unter dem er für diejenigen, die er umwirbt, und für diejenigen, die ihn umwerben, ansprechbar ist. In dieser Hinsicht weicht das Verfahren der vorliegenden Arbeit spezifisch ab vom allgemeinphilologischen Verfahren, worin epistoläre Figurationen nachrangig behandelt werden. Michel Foucault, Das Leben des infamen Menschen, Berlin 2001, S. 44 (für den Hinweis auf diesen Text danke ich Dietmar Schmidt, Erfurt). Projektentwurf zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs.
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genetische Kraft zugeschrieben wird (»[a]lles untergehende Leben kommt wieder«), das den materiellen Spuren dieses Lebens vorenthalten bleibt (»diese Geschöpfe dieses Herzens und Kopfes nie«), sofern sie ihrer »Seele« beraubt werden (»[d]urchstreicht die Namen, verwechselt die Handschrift; aber lasset die Seele leben, die gerade in Briefen am innigsten lebt«).7 Eine Voraussetzung der vergleichsweise günstigen Überlieferungssituation ist aber auch die Fähigkeit der in die Briefwechsel Richters einbezogenen Korrespondenten, Briefe zu schreiben und zu lesen. Richter selbst hat an der Alphabetisierung einiger dieser Korrespondenten Anteil gehabt und sich dabei zum Vollstrecker der Alphabetisierungsbemühungen des Jahrhunderts der Aufklärung gemacht, das dazu führte, dass Personen wie der Badergeselle Carl Christian Rolsch, die 100 Jahre zuvor noch nicht in ein solches Kommunikationsnetzwerk hätten eingebunden werden können, nunmehr zur Teilnahme fähig waren.8 Auch briefstellerische Übungen gehörten zu Richters Lehrplan als »Winkelschulhalter«.9 Nähere Aufschlüsse über die dabei zugrunde gelegten Briefsteller, sofern sie denn eingesetzt wurden, sind bislang nicht bekannt. Sondiert man indes, ob dabei auch Briefsteller im Spiel gewesen sein könnten, die für das aptum des Liebesbriefs relevant gewesen wären, so lässt sich eine bemerkenswerte, bisher in der Briefforschung noch nicht bemerkte und daher auch noch nicht reflektierte Lücke konstatieren: Während spätestens seit der Anleitung zum Briefschreiben des Erasmus von Rotterdam von 1522 (De conscribendis epistolis) bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus Liebeskommunikation ein kaum hinterfragter Teil der Briefstellerliteratur gewesen zu sein scheint und dies nach 1800 auch wieder wird, finden sich in den im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts erschienenen Werken kaum mehr entsprechende Passagen. Noch in der Jahrhundertmitte bei Gellert und Stockhausen ist die amouröse Briefstellerei prominent und unübersehbar Teil der Briefsteller,10 aber in den 7 8
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Vgl. den zusammenhängenden Text des Zitats auf S. 45. Zur Alphabetisierung im entsprechenden Zeitraum vgl. Ernst Hinrichs, Lesen, Schulbesuch und Kirchzucht im 17. Jahrhundert. In: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1982, S. 15–33, sowie Rudolf Schenda, Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhundert. In: Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts, hg. von Ernst Hinrichs, Wolfenbüttel 1982, S. 1–20; Albrecht Koschorke, Alphabetisation und Empfindsamkeit. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart, Weimar 1994, S. 605–628; zur Rolle Jean Pauls vgl. Ludwig Fertig, Jean Paul, der Winkelschulhalter, Darmstadt 1990. Zur Bedeutung des Briefeschreibens in den schulischen Kurricula vgl. Bruno Richter, Der Brief und seine Stellung in der Erziehung seit Gellert, Diss. Leipzig 1900. Vgl. Christian Fürchtegott Gellert, Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen [Leipzig: Wendler 1751]. In: Gellert, Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. von Bernd Witte, Bd. 4, Roman,
zeitnah zu den Korrespondenzen Jean Pauls publizierten Briefstellern fällt eine konsequente Abstinenz vom Liebesbriefthema auf: Weder in den Briefstellern von Karl Philipp Moritz (der Anleitung zum Briefschreiben von 1783 und dem Allgemeinen deutschen Briefsteller von 1793),11 noch im populären Berlinischen Briefsteller12 oder dem gleichfalls weite Verbreitung findenden Hallischen Briefsteller von 180113 finden sich entsprechende Abteilungen; erst der Hannoverischer Briefsteller von Heinrich August Raabe revitalisiert 1808 zaghaft zumindest die »Brautwerbungsschreiben«.14 In den später im 19. Jahrhundert erscheinenden Werken ist das Thema dann wieder zentral.15 Man wird also vorläufig
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Briefsteller, hg. von Bernd Witte, Werner Jung, Elke Kasper, John F. Reynolds, Sibylle Späth, Berlin, New York 1989, S. 105–221, sowie: Johann Christoph Stockhausens Sammlung vermischter Briefe. 3. Aufl., Helmstedt: Christian Friedrich Weygand 1758, S. 120–133; beispielhaft für die Liebesbriefstellerei in älteren Werken sind: Wolffgang Bruasers vermutlich 1693 erschienener Vielvermehrter und vollkommener Hurtiger Briefsteller (Nürnberg o.J., »Complementir- oder Gruss oder Liebesschreiben«), Benjamin Neukirchs Anweisung zu teutschen Briefen (4 Bde., Leipzig 1727, vgl. Bd. 1, S. 215–216 u.ö.) und Franz Henning Schades Der auff neue Manier abgefast und expedirte Briefsteller […] von Salandern (Frankfurt/M.: Ritschel 1714, S. 131–135: »Verliebte Schreiben«); vgl. auch Annette C. Anton, Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1995, S. 27–32, zu den zugrundeliegenden französischen Vorbildern vgl. Bernard Bray, L›Art de la lettre amoureuse: Des manuels aux romans (1550– 1700), Den Haag, Paris 1967; zu den Anfängen bei Erausmus vgl. Desiderius Erasmus von Rotterdam, De conscribendis epistolis. Anleitung zum Briefschreiben. In: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Darmstadt 1980, Bd. 8, S. 240–242; vgl. hierzu Siegert, Relais, S. 68. Vgl. Karl Philipp Moritz, Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe, hg. von Anneliese Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann und Christof Wingertszahn, Bd. 9: Briefsteller, hg. von Albert Meier und Christof Wingertszahn, Tübingen 2008. [Johann Heinrich Bolte], Berlinischer Briefsteller, Berlin: Himburg 1783. Christian Fürchtegott Fulda, Hallischer Briefsteller zum Schul- und Privatgebrauche, Halle/Saale: Verlag der Waisenhaus-Buchhandlung 1801; auch im Briefsteller für junge Militär-Personen (Potsdam: Carl Christian Horvath 1804) fehlen die Liebesbriefe. Hannoverischer Briefsteller zugleich Handbuch der nothwendigsten Kenntnisse für junge Leute und Ungelehrte, Hannover: Hahn 1808, S. 262–265. Vgl. z.B. Friedrich von Sydows Kurzgefaßte Anleitung zum Briefschreiben und zur Anfertigung aller im gewöhnlichen Leben vorkommenden schriftlichen Arbeiten, 2. Aufl., Sondershausen: Friedrich August Eupel 1838, S. 207–212, und Otto Friedrich Rammler’s Universal-Briefsteller oder Musterbuch zur Abfassung aller in den allgemeinen und freundschaftlichen Lebensverhältnissen, sowie im Geschäftsleben vorkommenden Briefe, Documente und Aufsätze. Ein Hand- und Hülfsbuch für Personen jeden Standes, 28. Aufl., Leipzig: Wiegand 1853, S. 301–324; zur Zeit nach 1880 vgl. Susanne Ettl, Anleitung zu schriftlicher Kommunikation. Briefsteller von 1880 bis 1980, Tübingen 1984, bes. S. 120–121 123–149; in unserer Gegenwart deutet sich – nach langer Präsenz des Liebes-Themas in Briefstellern des 20. Jahrhunderts – wieder ein Verschwinden an (so enthält z.B. Das große Buch der Musterbriefe für die erfolgreiche geschäftliche und private Korrespondenz von Claudia und Eike Hovermann [Hannover 2008] keine entsprechende Rubrik); zum Fortleben von briefstellerischen Stereotypen in den digitalen Medien vgl. Annette Simonis, Liebesbrief-Kommunikation in der Gegenwart
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davon ausgehen können, dass das gesamte »Schreiben der Liebe« in dem hier betrachteten Zeitraum in einer Art liebesbriefstellerischer Deregulierung stattfindet. Dass dies dennoch nicht zu einer vollständigen Gefühlsanarchie führt, hat natürlich viele Gründe, die zwischen dem briefstellerischen Pol – dem Nachleben älterer Regelmentierungsformen der Liebeskommunikation – und dem allgemeingesellschaftlichen Pol – dem Regime der sittlichen, religiösen und politischen Ordnung – wirksam werden. Für das interne Schriftregime, dem die Philologie des Liebesbriefs nachspürt, sind dies natürlich keine vernachlässigbaren Größen. In Ansehung des beschriebenen Vakuums kehrt sich aber die Argumentationsrichtung auch hier um: nicht von der Wechselwirkung der Regime und Reglementierungen wird auf das philologisch nachweisbare Schriftregime geschlossen, vielmehr werden Phänomene der Schriftlichkeit als Zeichen erkannt für jene außerschriftlichen Prozesse, die mit ihnen wechselwirken.
zwischen alt und neu: SMS, MMS und Internet. In: Der Liebesbrief, S. 425–448, sowie Holger Wölfle, Liebeskommunikation in E-Mails. In: Kommunikationsform E-Mail, hg. von Arne Ziegler, Christa Dürscheid, Tübingen 2002, S. 187–215.
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II.2 Erfahrungen der Liebe und Formen ihres Ausdrucks
Zusammenfassung Die in den betrachteten Briefquellen vermittelten Liebeserfahrungen müssen und können in philologisch komplexer Weise rekonstruiert und repräsentiert werden: In annähernd vollständiger Gestalt gelingt dies aber nur dann, wenn man die jeweiligen Proklamationen der Liebe (beziehungsweise deren Verweigerung, Umgeheung, Verleugnung etc.) in ein Verhältnis setzt zu den oft verborgenen, philologisch aber zumindest partiell nachweisbaren Signaturen der Abweichung, Überschreibung, Veränderung (in Handschriften, Abschriften, Drucken). Dieser für die Erforschung von Liebesbriefkulturen notwendig zu berücksichtigende Zusammenhang lässt sich exemplarisch an der Idee der »Simultanliebe« demonstrieren, die von Jean Paul als gemeinsame Grundidee seines Brief-Wechsels und seines Brief-Werks (zu dem er auch seine gedruckten Werke rechnete) angesehen wird. Diese Idee erweist sich in streng philologischer Perspektive nicht als autorschaftlich begründetes und lanciertes Konzept, sondern vielmehr als ein Phänomen, das von vielen verschiedenen Briefschreiber-Händen gemeinsam erschrieben worden ist. Seine philologische Rekonstruktion kann somit auch als Apologie einer gemeinsamen Arbeit am und im Liebesdiskurs verstanden werden, als philologischer Einspruch gegen die Usurpation des amourösen Feldes durch das literarische.
1. Vorformen und Formen des Werbens Sophie Ellrodt · Johann Bernhard Hermann · Friederike Wirth · Renate Euphrosyne Wirth · Helene Köhler · Friedrich Wernlern · Georg Christian Otto
SCHREIBANLÄSSE1 − Im Sommer 1783 lernt die zu diesem Zeitpunkt 23jährige Johanna Maria Sophia (Anna Maria Sophie) Ellrodt (Ellrod)2 in 1
Die Arbeit verschränkt in diesem Teil den Leitfaden des Fragenkurrikulums mit der philologischen und mit einer chronologischen Perspektive. Die chronologische Perspektive wird durch ein biographisches Interesse am Lebenslauf Richters ausgerichtet; gleichwohl soll dessen Biographie gegenüber den Lebensläufen derer, die mit ihm im Briefverkehren standen, nicht privilegiert behandelt werden. Barthes und die von ihm beeinflussten Forschungen zur Liebeskommunikation weisen das biographische Prinzip grundsätzlich zurück, da der Liebesdiskurs zwar einerseits, wie alle autobiographischen Dokumente, zum Entwurf romanhafter Szenarien tendiere und somit auch viel Romanhaftes enthalte, insgesamt aber gerade nicht als Roman bzw. Liebesgeschichte begriffen werden solle (vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 20, S. 131); dies ist der Grund für die alphabetische Ordnung der Fragmente zur Liebessprache bei Barthes, der zum Beispiel László Foldenyi mit seiner alphabetisch geordneten Kleist-Biographie nachgefolgt ist (László Foldenyi, Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter, München 1999, Originalausgabe: Pécs 1999); aus der Perspektive einer femi-
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Helmbrechts, 16 km südwestlich von Hof gelegen, den aus der Region stammenden, dreieinhalb Jahre jüngeren Studienabbrecher Johann Paul Friedrich Richter kennen, der sich vermutlich um die Vermittlung einer Schreiberstelle für seinen jüngeren Bruder Gottlieb Richter (1768–1850) in Helmbrechts bemüht hat. Sophie Ellrodt ist die älteste Tochter des Johann Carl Friedrich Ellrodt (1727–1785) und seiner zweiten Ehefrau Elisabeth Isabelle geborene Steger.3 Zum Zeitpunkt ihrer Geburt (am 4. Oktober 1759) ist ihr Vater bayreuthischer Legationskanzlist in Regensburg, später zieht die Familie nach
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nistischen Literaturwissenschaft hat Christa Bürger die Orientierung am (Bildungs-)Romanhaften in der Darstellung und Selbstdarstellung schreibender Frauen der Klassik und Romantik kritisiert (vgl. Christa Bürger, Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen: Bettina von Arnim, Charlotte von Kalb, Sophie Mereau, Caroline Schlegel, Johanna Schopenhauer, Rahel Varnhagen, Königstein/Ts. 2001, bes. S. 162–166). Zur Rechtfertigung einer wissenschaftlichen Biographik in theoretischer und praktischer (namentlich komparatistischer) Perspektive vgl. aber auch die Überlegungen von Hugh Barr Nisbet, Probleme der LessingBiographie. In: Vortragsmanuskripte der Lessing-Akademie Wolfenbüttel, Nr. 1, Wolfenbüttel 2005. Hinweise auf Forschungsliteratur, die den liebesbriefhistorischen Aspekt betreffen, werden in der Regel zu Beginn eines Abschnitts zusammengefasst. Zum Aspekt Schreibanlässe vgl. Philippe Brenot, De la lettre d’amour, Cadeilhan 2000, S. 29–30 und S. 33–36 und 88–89 (jeweils über die grundlegende Wurzel aller Schreibanlässe in der Erfahrung der Abwesenheit); Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 162–163 (über die »Spuren von Ersatzbildungen« als initialen Mittelungsformen der Liebe) und S. 189–192 (über die Umwege der Liebessprache angesichts der »Unsagbarkeit« von Liebe); Reinlein, Der Brief als Medium der Empfindsamkeit, S. 154–160 (über das Einbüßen von Schreibanlässen); vgl. auch Ernst Leisi, Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung (1978), 3. Aufl. Heidelberg, Wiesbaden 1990, der (ebenso wie Luhmann) den Liebesbrief als Kommunikationsmedium eher vernachlässigt, S. 65 (über verschiedene Formen der Kundgebung erotischer Absichten). Als einen Ort der Unabhängigkeit von Schreibanlässen (in Fortsetzung und Radikalisierung der grundsätzlichen Errungenschaft der Briefkultur des 18. Jahrhunderts, unabhängig von Anlässen Briefe schreiben zu können, vgl. hierzu Johannes Anderegg, Schreibe mir oft! Das Medium Brief von 1750 bis 1830, Göttingen 2001, S. 19) betrachte Karl-Heinz Bohrer den »romantischen Brief« (Der romantische Brief, passim), wobei sein Bezugssystem das der ästhetischen Absichten ist; bei entschiedener Abgrenzung von Bohrer betrachtet Siegert den romantischen Brief als Versuch den »Grund« seiner vorgeblichen »Grundlosigkeit« zu erreichen, der indes für ihn (Siegert) literaturhistorisch nicht erreichbar ist, sofern die medialen (technischen, postalischen) Bedingungen nicht mitreflektiert werden (vgl. Siegert, Relais, S. 81–82, 91–92 und – zu Bohrer – S. 99). Die Namen der involvierten Personen bei der Ersterwähnung möglichst vollständig und mit den in den die Person betreffenden Korrespondenzen und Publikationen nachweisbaren Abweichungen wiedergegeben; Unterstreichung markiert die am häufigsten gebrauchte Form des Vornamens. Dies geschieht in Angleichung an die Bezugsedition. Die einführenden biographischen Hinweise zu diesen Personen gründen sich in der Regel auf gemeinschaftlich erarbeitete Erkenntnisse der Editoren. Die Namen werden durchgängig in der Schreibweise wiedergegeben, wie sie die betreffenden Personen selbst verwenden (also z.B. Carl statt Karl, Caroline statt Karoline etc.).
Goldkronach, seit 1772 lebt sie in Helmbrechts, wo der Vater Brandenburgischer Rat und Stadtvogt geworden ist.4 Während das innere und äußere Leben Sophie Ellrodts in der Zeit zwischen dem Umzug nach Helmbrechts und der Begegnung mit Richter vollständig im Dunkeln liegt, sind wir im Falle Richters zumindest über die wichtigsten Daten des Vorlebens informiert:5 Geboren am 21. März 1763 in Wunsiedel als erstes Kind des Tertius und Organisten Johann Christoph Richter (1727–1779) und seiner Ehefrau Sophia Rosina Richter geb. Kuhn (1737–1797), ist er ab 1765 in Joditz, ab 1776 in Schwarzenbach an der Saale aufgewachsen. Ab 1779, dem Todesjahr des Vaters, hat er das Gymnasium in Hof besucht. Der 1780 eingetretene Tod seiner Großmutter mütterlicherseits bedingt jene die Folgezeit prägende materielle Notlage der nunmehr sechsköpfigen Familie, die in vielerlei Hinsicht zum Kapital seiner frühen Schriftstellerei wird. Im Frühjahr 1781 hat er ein Studium der Theologie in Leipzig begonnen, das er Ende 1781 zugunsten des Ziels, als freier Schriftsteller zu leben, wieder aufgegeben hat. Für die Publikation seines Erstlings Grönländische Prozesse, oder Satirische Skizzen hat er Ende 1782 einen angesehenen Verleger gefunden.6 Im Sommer 1783 hält er sich bei der Mutter und den Geschwistern in Hof auf, woraus sich die Begegnung mit Sophie Ellrodt ergibt. Der Auftaktbrief stammt, briefstellerischer Konvention entsprechend, von Richter.7 Dass sein Brief vom 30. Juni 1783 als eine Vorform des Wer4 5 6 7
IV 1, 381, vgl. Christian Friedrich Wolfgang Hopfmüller, Stamm-Baum der fränkischen Linie der Familie Ellrod. In: AO 23,2 1907, S. 15–56, bes. S. 18. Die zum Jean-Paul-Jahr 2013 erscheinenden Jean-Paul-Biographien konnten für die vorliegende Studie noch nicht ausgewertet werden. [Jean Paul], Grönländische Prozesse, oder Satirische Skizzen, 2 Bde., Berlin: Christian Friedrich Voß und Sohn 1783. Das liebesbriefstellerische Prinzip der männlichen Schreibinitiative wird in den Briefstellern des 18. und 19. Jahrhunderts, sofern sie mir zugänglich waren, nicht explizit formuliert, dafür aber umso konsequenter befolgt (wenn die Briefsteller nicht ohnehin schon eine exklusiv männliche Orientierung haben wie zum Beispiel Erasmus Franciscis, von Gellert als abschreckendes Beispiel angeführte umfangreiche Sammlung Die Neu-Auffgerichtete Liebes-Cammer, darinn allerhand höflich verliebte Send-Schreiben an das löbliche und anmuthige Frauenzimmer, auch andre Personen, abgefaßt und beantwortet sind (Frankfurt/M.: Balthasar Christoph Wusts 1662, vgl. Gellert, Gesammelte Schriften, S. 148); dies gilt für den gesamten biobibliographisch umreißbaren Lebenshorizont der hier behandelten Personen und ist bei Gellert 1751 nicht anders als bei Otto Friedrich Rammler (zuerst um 1830), der, Gellerts roten Faden des NatürlichkeitsAxioms aufnehmend (»Der Hauptbegriff von dem Natürlichen ist, daß sich die Vorstellung genau zur Sache, und die Worte genau zu den Vorstellungen schicken müssen«, Gellert, Gesammelte Schriften, S. 120), in Hinblick auf Liebeskorrespondenzen schreibt: »Wie bei allen Briefen, die eine Empfindung ausdrücken, so insbesondere auch bei diesen ist die Hauptregel die: man lasse das Herz darin reden, enthalte sich also alles Affectirten, d.h. Unnatürlichen, Uebertriebenen. Die Lebendigkeit des Gefühls wird sich von selbst in lebendiger Sprache ausdrücken […] Männer […] müssen in einem so sehr als möglich gemäßigten Tone schreiben […] Die Antworten der
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bens aufgefasst werden kann, geht aus der Antwort Sophie Ellrodts hervor, worin von den ihr »gemachten Schmeicheleyen« als von »unverdinten« Gunstbezeugungen die Rede ist.8 Richters Brief, auf den sich Sophie Ellrodt mit dieser Formulierung bezieht, ist jedoch im Unterschied zum Antwortschreiben – und wie mehrere seiner Initial-Briefe – nur im Konzept überliefert. Dieses auf den 27. Juni 1783 zu datierende Konzept lautet im Ganzen:9 Ich mus das Vergnügen entbehren, Sie zu sehen; was ist natürlicher als daß ich mich dafür durch das Vergnügen schadlos halte [aus entschädige], Ihnen zu schreiben. Eigentlich aber haben Sie die Entstehung dieses Briefgens nicht mir, sondern meiner Mama anzurechnen Freilich ist mein Vergnügen, Ihnen zu schreiben, weniger gros als die Begierde es zu tun felet mir der Stof, diesen Brief auszufüllen. Schrieb’ ich an ein Frauenzimmer, das Ihnen nicht gliche, so würd’ ich an demselben Schönheit, Artigkeit und wer weis was / andre Reize loben und so lange lügen, bis das Blat vol geworden wäre; allein da ich an Sie schreibe, so darf ich dies alles nicht sagen, denn wen interessirt eine schon bekante [schon bekante nachtr. erg.] Warheit und die einzige Lüge, womit ich meinen Brief noch anfüllen könte, wäre etwan die Behauptung, daß Sie nicht schön und nicht artig sind. Ich mus ihn daher mit einer Bitte an Sie ausfüllen, die mir meine Mama aufgetragen und die sie neulich bei Ihrem so geschwind verflossenen Hiersein zu tun wagen vergas. Man hat ihr nämlich seit kurzem ein Kapital auf Jakobi gekündigt, das sie nicht bezalen kan, one ein neues aufzunemen. Da sie weis, daß in Helmbrechts verschiedne Reiche [D: reiche] Leute sind, so hoffet sie von daher ein Kapital von zwei hundert Gulden zu erhalten, wenn der Herr Rath nur so
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Frauenzimmer müssen ganz besonders in zartem Tone abgefaßt sein« (Rammler’s Universal-Briefsteller, S. 301); wie ungewöhnlich in briefstellerischer Hinsicht die umgekehrte Reihenfolge ist, erhellt aus einem literarischen Beleg, dem Skandal von Tatjanas Initiativbrief an Eugen Onegin in Alexander Puschkins Versroman Eugen Onegin (1825–1832), vgl. hierzu Andrea Hübener, Alexander Puschkin: »Eugen Onegin. Ein Roman in Versen«. In: Weltliteratur II. Eine Braunschweiger Vorlesung, hg. von Renate Stauf, Cord-Friedrich Berghahn, Bielefeld 2006, S. 249–268. IV 2, 29,21, Nr. 17. Die Briefe werden wenn möglich in der integralen edierten Gestalt abgedruckt, auch wenn der vom Interpretationskontext geforderte inhaltliche Beleg nur in einem Teil des Textes deutlich wird. Auslassungen werden möglichst nur dort vorgenommen, wo sie ihrerseits einen unverhältnismäßigen kommentierenden Aufwand fordern würden. Varianten und Lesarten sind dabei aus Darstellungsgründen und dem zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse folgend in den Fließtext integriert. Dass die Brief-Ereignisse damit in eine Textgestalt gegossen werden, die ihrem Ereignis-Charakter widerspricht, wie ihn die neueste Briefforschung postuliert, wird dabei zunächst in Kauf genommen (vgl. Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift Frankfurter Goethe-Museum 2008, hg. von Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter, Frankfurt/M. 2008; grundlegend für das Verständnis des EreignisCharakters: Rüdiger Campe, Die Schreibszene, Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt/M. 1991, S. 759–772, sowie Martin Stingelin, »Schreiben«. In: Stingelin, Davide Giuriato, Sandro Zanetti, »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 7–21).
gütig wären, durch ein wirksames Vorwort irgend einen neuen Reichen zu dieser Gefälligkeit zu überreden. Sie richtet ihre Bitte an Sie. da Sie zur Erfüllung derselben den H. Rath am leichtesten vielleicht bewegen können. Mereres hinzuzufügen, hiesse an Ihrer Güte zweifeln. Ich fürchte nicht, daß Sie das neuliche Donnerwetter noch auf dem Wege angetroffen. Man sagt, daß der donnernde Jupiter mit seinen Wettern die Venus, wegen der Verwandschaft verschone. Aber ich bin ein Christ und darf daher nicht an den Jupiter glauben; allein ich glaube demungeachtet an die schöne Venus, die alle glauben: denn ich nenne mich etc.10
In der knappen Kommentierung der 3. Abteilung der HKA finden sich neben biobibliographischen Erläuterungen zu Sophie Ellrodt die Varianten des Konzepts (jedoch nicht – wie oben – in den Text integriert, sondern in lemmatisierter Form11), sowie eine knappe Erläuterung zur weiteren Entwicklung des Verhältnisses: »Kurz vor seiner Abreise versprach sich Richter heimlich mit dem vier Jahre älteren Mädchen.«12 Die Varianten des Entwurfs sind nun allerdings zunächst nicht als ein Teil des hiermit angebahnten Liebesgesprächs zu verstehen, denn die Entwurfsvarianten bleiben ja für die Empfängerin hinter den schließlich exekutierten Formen und Formeln des Werbens verborgen. Diese Varianten zu berücksichtigen, bedeutet also zugleich die philologische Privilegierung einer Korrespondenzhälfte und hat zunächst ein durch das Geschick der Überlieferung bedingtes philologisches Ungleichgewicht zur Folge. Was in den Varianten zur Sprache kommt, sind aber nicht nur epistoläre Zeichen, die Sophie Ellrodt nicht empfing, sondern möglicherweise auch solche, die sie gar nicht erfahren sollte. Gerade die »Dynamik der Einführungssituation«13 produziert in besonders ausgeprägtem Maße entsprechende Abweichungen, die auf spezifische Differenzen in den Wahrnehmungshorizonten* der Beteiligten verweisen. Für eine literarhistorisch ausgerichtete Philologie sind diese Varianten Formationen der literarischen Selbstfindung des durch andere Leistungen (seinen späteren literarischen Ruhm) standardphilologisch privilegierten Subjekts. In der Perspektive einer spezifischen Philologie der Intimität müssen sie aber primär als Formationen einer amourösen Strategie begriffen werden, die nicht auf Mehrung des Ruhmes im literarischen Feld, sondern auf das Erringen von Erfolgen beziehungsweise das Vermeiden von Misserfolgen des Werbens* auf dem amourösen Feld gerichtet sein sollten.14 Dabei müssen sie in erster Linie mit der möglichen Erwar10 11 12 13 14
III 1, 80, Nr. 49; Varianten nach Berend, III 1, S. 442. Diese Darstellungsweise wird (wie bereits erwähnt) der Übersichtlichkeit wegen auch im folgenden Text beibehalten. III 1, 442, Erläuterungen zu Nr. 49; die Altersdifferenz* wird von Berend aufgerundet! Vgl. Kurt R. Eisler, Goethe. Eine psychoanalytische Studie. 2 Bde., München 1987 (engl. Original Detroit 1963), Bd. 1, S. 191–199. Pierre Bourdieu hat den Vorschlag gemacht, »Briefwechsel von Geliebten« als Dokumente auszuwerten, die bestimmte Habitus-Konstellationen im sozialen Raum charakterisieren und so eine Verbindung zwischen dem literarischen und dem amourösen
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tung der einen privilegierten Leserin verglichen werden, nicht mit den Durchschnittserwartungen der literarischen Leser und Leserinnen des edierten Autors. Lässt sich dieses Modell im vorliegenden Fall mit dem überlieferten Material und seiner philologischen Repräsentation vereinbaren? Indem Richter in seinem Konzept zunächst das Entbehren der sichtbaren Gegenwart der Korrespondentin, die er zuletzt offenbar in Beisein seiner Mutter getroffen hat, mit einer Gefühls-Entbehrung koppelt (nämlich der Entbehrung des Vergnügens der Anschauung),15 wird die Grundlage zu einer rhetorischen Ausgleichsrechnung gelegt; auf der unter Berufung auf eine natürliche Disposition formulierten Ausgleichsseite aber, der Gegenrechnung des sekundären (nämlich epistolären) Vergnügens, wird dem Schreiber die ursprünglich gewählte Formulierung offenbar sogleich fraglich:16 die stärker auf rechtliche Bindung, nämlich adäquaten Ausgleich zielende Formulierung »entschädige« wird durch die subjektivere, dabei aber auch vieldeutigere Prägung »schadlos halte« ersetzt. Während aus der Forderung nach »Entschädigung« ein Anspruch gegenüber der Korrespondentin ableitbar wäre, bleibt das »Schadlos-Halten« ein eher einseitiger Akt. Insofern kann die Variante in der Tat als ein Berücksichtigen der Ansprüche der Empfängerin verstanden werden, gerade indem keine Ansprüche an sie gestellt werden: Das die amouröse Aufstellung initiierende männliche Subjekt übernimmt die Verantwortung für die potentiellen emotionalen Verwicklungen allein; insofern handelt es sich um einen Schachzug auf dem amourösen Feld, der den Konventionen Rechnung trägt. Der Versuch, die Verantwortung nun sogleich an die Mutter als mitspracheberechtigter* Dritter weiterzudelegieren, wird im Konzept gleichfalls unmittelbar zurückgenommen, allerdings erst, als das Wort »anzurechnen« auf dem Papier steht, das erneut einen Zugriff auf die emotionale Ökonomie der Korrespondentin impliziert. Der Briefschreiber versucht sich erneut dazu zu
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Feld herstellen, vgl. Pierre Bourdieu, Das literarische Feld. In: Streifzüge durch das literarische Feld, hg. von Louis Pinto, Franz Schultheis, Konstanz 1997, S. 33–148, hier S. 95, Anm. 56. Zu der hier nachklingenden Differenz zwischen »plaisir« und »amour« in der Liebessemantik des 17. Und 18. Jahrhunderts vgl. Luhmann, Liebe als Passio, S. 108–114. Das Vergnügen (plaisir) gilt dabei zunächst als von moralischen Wertungen ausgenommen (S. 109), ist dafür aber auch »kein Medium der Kommunikation«, weil es sich dem Problem des Annehmens und Ablehnens entzieht (S. 113); später werde es, so Luhmann, in den Bereich der Unaufrichtigkeit »verschoben« (ebd., S. 130–131). Es mag zwar naheliegen, im Anschluss an Luhmann von Richters Spiel mit dem Vokabular des Vergnügens auf eine Form der psychologischen und mentalitätsgeschichtlichen Rückständigkeit zu schließen, doch erweist sich ein solcher Schluss gegenüber der differenzierten philologisch zu ermittelnden Mitteilungsformation (in Konzept, Überschreibung, Leserlichkeit und Unleserlichkeit) immer noch als vergröbernd. Berends Formulierung »aus entschädige« zufolge handelte es sich wahrscheinlich um eine Sofortkorrektur.
disziplinieren, auf eigene emotionale Rechnung zu schreiben; er fährt also in der korrigierten Version zunächst fort: »Freilich ist mein Vergnügen, Ihnen zu schreiben, weniger gros als die Begierde es zu tun«, doch hiermit läuft ihm die emotionale Ausgleichsrechnung aus dem Ruder: die »Begierde« ist kein briefstellerisch beziehungsweise gesellschaftlich akzeptables Pfand. Ist es wahrscheinlich oder auch nur denkbar, dass Richter der Umworbenen die briefliche Konfrontation mit seiner »Begierde« zumuten wollte? Nicht auszuschließen ist, dass es sich bei diesem Satz gar nicht um eine realistische Schreiboption für den abzusendenden Brief handelt, sondern um eine gleichsam introspektive emotionale Bestandsaufnahme, die von Anfang an, im Bewusstsein, eine Konzeptfassung zu erstellen, ihre Nicht-Performanz bereits unsichtbar mitschreibt. Die vermutlich realisierte Version »[freilich] felet mir der Stof, diesen Brief auszufüllen«, wäre dann nicht nur Floskel, sondern, Introspektion und Mitteilung überblendend, zugleich Verläugnung der übergroßen »Begierde« und Eingeständnis von deren Unaussprechlichkeit. Erst nach dieser mehrfachen Begradigung der emotionalen Strömung findet das Schreiben in eine vom Schreiber zugelassene Tendenz, für welche die Floskel »Schreib’ ich an ein Frauenzimmer« gleichsam die briefstellerische Beglaubigungsformel ist, da das Wort »Frauenzimmer« in den Briefsteller des gesamten 18. Jahrhunderts der geläufige Begriff für das weibliche Geschlecht ist,17 wohingegen er im literarischen Vokabular des jungen Richter kaum mehr anzutreffen ist. Der nachfolgende, auf Paradoxie gebaute Lobpreis von Schönheit und Artigkeit der Angesprochenen widerspricht zwar in seiner Kasuistik allen Prinzipien der sprachlichen Natürlichkeit, aber der Fluchtpunkt der Argumentation fällt dann doch zusammen mit dem Ideal aller briefstellerischen Simplizistik: die Schönheit und Artigkeit der Umworbenen spricht für sich und bedarf der Ansprache und des Aussprechens nicht. Die nun noch auftretenden Varianten sind zum größeren Teil nicht mehr wie die ersten selbstreflexive Varianten, in denen das schreibende Subjekt sich amourös zu positionieren versucht, sondern entweder Verständnishilfen für die intendierte Leserin, zum Beispiel die Ergänzung von »Reiche« durch »Leute«, wohl um ein Missverständnis aufgrund der Ambiguität des Wortes »Reiche« zu vermeiden,18 oder Provokationen einer gesteigerten emotionalen Reaktion, also Figuren der Intensivierung* (indem die Tat zum Wagnis erhoben wird, was sich erweiternd nicht nur auf die finanzielle Anfrage sondern auf das Wagnis des Liebesantrags insgesamt beziehen lässt). Die nachträgliche Ergän17 18
Vgl. z.B. – bereits im ersten Satz – Gellerts Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 107. Berend emendiert, offenbar in der Annahme, Richter werde im abgeschickten Brief die orthographische Konsequenz aus seiner Korrektur gezogen haben, »Reiche« zu »reiche« und verstößt dabei an dieser Stelle in der Tat gegen ein (erst später formuliertes) textgenetisches Prinzip, das den Versuchen Einhalt gebieten soll, den KonzeptStatus zugunsten einer virtuellen Endfassung zu überschreiben.
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zung von »schon bekante« (bezogen auf die ästhetischen und moralischen Qualitäten der Umworbenen) öffnet den Zugang zu einem gemeinsamen Kenntnis- und Erfahrungsraum, in dem die Schmeichelei zur Wahrheit wird: Schönheit und Artigkeit und alles Weitere sind keine subjektiven, sondern objektiv erkennbare und anerkennbare Zuschreibungen. In Kontrast zu diesen Formeln der Objektivierung und Intensivierung bleibt aber der zentrale, das Schreiben angeblich motivierende Schreibauftrag – die Darlehens-Bitte der Mutter – im Horizont der Frage nach Vorformen und Formen des Werbens zuletzt doch zweifelhaft: ist er primär durch reale Geldnot motiviert oder doch eher vom mütterlichen Wunsch oder Angebot, die Rolle einer Mittlerperson* einzunehmen? Die Briefe Richters aus der unmittelbaren zeitlichen Nachbarschaft – an Johann Adam Hagen vom 21. Juni und an den Mentor Pfarrer Vogel vom 28. Juni des Jahres – enthalten jedenfalls keine Hinweise auf die hier angesprochene zugespitzte finanzielle Problemlage. Nimmt man an, die pekuniäre Bitte sei nur der durch die Mutter gebilligte, wenn nicht beförderte Vorwand fürs Schreiben gewesen, so bildet der Schlussabsatz, der im Konzept ohne Korrekturen festgehalten ist, gleichsam die verklausuliert offenbarte Bestätigung dieser verdeckten Motivation: Das angesprochene Gewitter kann, wenn das decorum des Besorgtseins gewahrt bleiben soll, kein wirklich bedrohliches für die Korrespondentin gewesen sein – die Furcht um die zuvor Gepriesene ließe sich sonst nicht mit Wohlanstand negieren (»ich fürchte nicht, daß Sie das neuliche Donnerwetter noch auf dem Wege angetroffen«). Auch die anschließende mythologische Verklärung (Jupiter/Venus) steht also auf dem Postament eines Vorwands. Die Unterschrift unter dieser zwielichtigen mythologischen Konstruktion, die durch eine beiläufige Konfession (»ich bin ein Christ«) noch gesteigert werden soll, bleibt – ebenso wie die Briefanrede – eine Leerstelle im Konzept. Eine ganz neutrale Ergebenheitsfloskel kann der Schlussgruß in der abgeschickten Version aber in Anbetracht des zuvor getriebenen Aufwandes schwerlich gewesen sein. Umso auffälliger ist die an ältere briefstellerische Manier anknüpfende Eröffnung der Antwort:19 HochEdler Insonders Hochgeehrtester Herr CANDIDAT! Ich habe Ihren Brief erhallten, und ich lüge nicht wenn ich sage das er auser denen mir unverdinten gemachten Schmeicheleyen eines der herrlichsten Geschencke war; und ich wollte nichts mehr wünschen als ihn so beantworten zu können wie er es ver19
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Im Allgemeinen Deutschen Briefsteller von Karl Philipp Moritz werden Wendungen, wie sie von Sophie Ellrodt verwendet werden, teilweise als veraltet verworfen, vgl. Moritz, Briefsteller, S. 211–212; zur Pragmatik der Liebesbrief im 20. Jahrhundert vgl. Eva Lia Wyss, Zur Syntax und Pragmatik der Anrede im Liebesbrief des 20. Jahrhunderts. In: Bulletin suisse de linguistique appliquée, 72, 2000, S. 187–200.
dint. – Ihren Auftrag habe sogleich besorgt, und von meinen Vater die Antwort erhallten wie hier in Helmbrechts keine Leute von solchen Vermögen sind die ein KAPITAL von 200 liegen haben. Um Sie aber zu überzeugen daß wir alle mögliche Freundschaft vor Sie hegen, will mein Vater an einen guten Freund nach Culmbach dieser halb schreiben, und so bald er Antwort erlanget Ihnen hievon Nachricht geben; anders aber als auf einen Lehen herrlichen CONSENS werden wohl diese Gelder nicht zu erlangen seyn, davor also Dieselben indessen Sorge zu tragen belieben werden. Wir erbitten uns nochmalen vor Ihrer Abreise Ihren angenehmen Zuspruch, und ich habe die Ehre zu seyn Ihre gehorsame Freundin und Dinerin J. M. Sophia Ellrodtin Helmbrechts, den 30 Juny 1783.20
In radikaler Verkürzung vollzieht der Brief die Doppelbödigkeit des empfangenen Briefs nach: zumindest im Konzept Richters sind ja die »unverdinten […] Schmeicheleyen« das einzige, was bleibt, wenn man den pekuniären Auftrag abrechnet, den Sophie Ellrodt im zweiten Briefteil beantwortet. Die Beteuerung »ich lüge nicht« ist mithin grenzwertig zur Lüge, indem sich nämlich die beteuerte Herrlichkeit des Empfindens entgegen der Beteuerung auf gar nichts anderes beziehen lässt als auf das, was davon ausgenommen wird (nämlich eben die Schmeicheleien). Die Textkonstitution dieser Reinschrift erlaubt freilich keine Rückschlüsse auf klandestine Motive; aber auch die Erläuterungen sparen, am philologisch direkt Repräsentierbaren orientiert, die Leerstelle des Bezugs aus:21 Ob in der abgesandten Version von Richters Brief »ausser denen […] Schmeicheleyen« noch etwas zu finden war, was ihn für die Empfängerin zum »herrlichsten« Geschenk machte, muss offen bleiben, will man diesseits der Grenze zur philologischen Spekulation bleiben. Den Blick auf die weiteren Verwicklungen des Verhältnisses weitet jedoch die Erläuterung zum Schlusssatz: Anstelle der hier anvisierten (vorläufigen?) räumlichen Trennung (»Wir erbitten uns nochmalen vor Ihrer Abreise Ihren angenehmen Zuspruch«22) folgen, wie in der Erläuterung ausgeführt wird, noch weitere Treffen vor Richters Abreise nach Leipzig, die auch durch weitere Briefe von beiden Seiten belegt sind.23 Ein vorläufiger Erfolg des Werbens* hat sich also eingestellt. Eine erste Spur der Begegnung in den Kontextbriefen auf Seiten Richters (Kontextbriefe auf Seiten Sophie Ellrodts sind nicht überliefert) findet sich in einem Schreiben vom 1. bis 7. August 1783 an den Freund Adam Lorenz von Oerthel in Leipzig. Richter ist Anfang der 80er Jahre der Vertraute von Oerthels schwärmerischer Liebe zu Beata Auguste Antonie von Spangenberg 20 21 22 23
IV 2, 29–30, Nr. 17; Textgrundlage: Originalhandschrift. Vgl. IV 1, 381, Erläuterungen zu Nr. 17. Zuspruch im Sinne von Besuch, siehe ebd. Vgl. IV 1, 381, Erläuterung zu S. 30,1–2.
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(geb. 1762) gewesen, die indes 1782 einen Amtmann geheiratet hat und somit für Oerthel gleichsam verloren ist.24 Bemerkenswert in Hinblick auf die Frage nach der Rolle von Mittlerpersonen* ist nun die Tatsache, dass Richter seine eigene, sich anbahnende Verbindung nur sehr indirekt, gleichsam romanhaft (mit dem Index künftiger Enthüllungen) referiert: im Briefteil vom 5. August schreibt er: »Heute kam ich von einem dir unbekanten Orte, wo ich drei Tage und drei Nächte gewesen war und also 3. Tage wenigstens nicht gedacht hatte, zurük und fand deinen Brief, der dein lezter von Leipzig aus, und nach meinem Gefül dein schönster ist« (III 1, 101,33–36, Nr. 56, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift). In der verdeckten Rede an den vertrauten Freund, dem die Thematisierung einer Liebesaffäre noch schmerzlich sein muss, wird der Gefühlsfaktor verschoben vom Erlebten auf das Gelesene, den Brief Oerthels, der nach dem sympathisierenden Gefül beurteilt wird; in der Sphäre des Erlebten erscheint das Gefühl nur ex negativo, als Denkvakuum, Freizeit vom »Gedachte[n]«. Das Liebesobjekt selbst bleibt ganz im Dunkeln. Diese Verdunkelung des Namens und damit in gewisser Weise auch der Person der Geliebten bleibt bemerkenswerterweise nicht allein auf die Kontextkorrespondenz der Liebe beschränkt. Die weiteren vier Briefe Richters an Sophie Ellrodt, die gleichfalls nicht im Original, im Unterschied zum ersten Brief aber nicht als Konzepte sondern als eigenhändige Teilabschriften in Richters Briefkopierbuch überliefert sind, unterscheiden sich von den umgebenden Eintragungen im Briefkopierbuch, die die Spur von NichtLiebesbriefen festhalten, dadurch, dass, wie bereits Berend im Kommentar vermerkt, die Adressatin nicht genannt wird – eine Bemerkung, die natürlich nur unter den Bedingungen der zuvor bereits im Kommentar vermerkten »Verbindung« zwischen Richter und Sophie Ellrodt zum bemerkenswerten nota bene wird.25 Diese Briefe – und möglicherweise auch dieser von Berend konstatierte Sachverhalt – stehen jedoch bereits im Sog des wenig später offenbar werdenden Misserfolgs des Werbens*. An anderer Stelle dieser Arbeit wird die Nebenfrage zur Frage nach Schreibanlässen* im Kontext von Vorformen und Formen des Werbens zu beantworten sein: wie nämlich solche Schreibanlässe aussehen, wenn die konventionelle briefstellerische Reihenfolge umgekehrt wird, wenn also die Korrespondentin den Briefwechsel initiiert. ERFOLGE UND MISSERFOLGE DES WERBENS26 − Die Gründe für den Misserfolg von Richters Werben um Sophie Ellrodt lassen sich aus den Brie24 25 26
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Vgl. Eduard Berend, Ein Liebesroman aus Jean Pauls Jugendzeit. In: Zeitschrift für Bücherfreunde, N.F. 6, 1914/15, S. 86–93. III 1, 447, Erläuterungen zu Nr. 58. Vgl. Manfred Schneider, Liebe und Betrug. Die Sprache des Verlangens, München 1992, S. 205–217 (über das Ja und Nein im amourösen »Nachrichtenverkehr«); Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 55–58 (über die Bejahung), S. 78–79
fen nicht sehr deutlich erschließen und dementsprechend schwierig gestaltet sich die philologische Repräsentation dieser Tatsache; zugleich wird dabei aber deren Status als Tatsache selbst fraglich: denn wo endet denn der Erfolg und wo beginnt der Misserfolg einer epistolaren Werbung im epistolären Einzelfall? In den älteren Briefstellern bleibt dies im Rahmen der höfischgalanten Freizügigkeit relativ offen,27 aus Sicht der Briefsteller des 19. Jahrhunderts hingegen scheiden sich Erfolg und Misserfolg exakt in der Frage des Zustandekommens einer Ehe: auf die Geständnisbriefe »der Liebe an ein Mädchen, das man nur ein paar Mal sah« oder »an ein Mädchen, mit dem man schon länger bekannt ist«, folgen über die offizielle »Erklärung der Liebe« in strikter Koppelung die Brautwerbungsschreiben, die final über Erfolg und Misserfolg des Werbens entscheiden.28 Wenn aber die Annahme zutrifft, dass die Zeit zwischen 1770 und 1800 in Hinblick auf die Liebesbriefkultur eine Art briefstellerisches Vakuum darstellt, dann ließe sich für die genannte editorische Verlegenheit beziehungsweise Unentscheidbarkeit möglicherweise zumindest ein epistolargeschichtlicher Grund finden: dieser wäre in der paradigmatischen Unsicherheit und Ungeklärtheit der gegenseitigen Erwartungen zu suchen, die ihrerseits philologisch nachzuweisen sind. Auffällig ist jedenfalls, dass Richters Briefe aus der Zeit der erklärten Verbindung im briefstellerischen Ton (den rhetorischen Mitteln und den literarischen Formeln) vom Initialbrief des 27. Juni kaum abweichen: durchgängig folgen sie einem Stil der verklausulierten, ins Paradoxe getriebenen Reflexion, des witzigen Vergleichs, der ins Entlegene schweifenden und über Sprachbrücken und Kurzschlüsse rückgekoppelten Digression, also dem ganzen rhetorischen Repertoire seiner Jugendwerke. Charakteristisch sind hier Formulierungen wie »Ihrem Verstande trau’ ich viel zu; Ihrer Liebe alles« (III 1, 59,5, Nr. 58 vom 22.8.1783) oder »Heute schreib’ ich Ihnen nicht viel; morgen sag’ ich Ihnen dafür mer« (III 1, 107,23, Nr. 59 vom 23.8.1783) und »[n]ur die Liebe sollte in Briefen das Recht haben, Postskripte zu machen: denn nur sie kann niemals ihre Materie erschöpfen« (III 1, 108,1–2, Nr. 59). Mit den Regeln Gellerts lassen sich solche rhetorischen Spielformen freilich nicht vereinbaren, denn bei dem steht geschrieben: »Es giebt eine muntre Art zu reden, die der Freundschaft und Liebe ins besondere eigen ist. Sie kömmt mehr aus dem Innersten des Herzens, als aus dem Ueberflusse des Witzes her.«29 Zwar ist die rhetorische Virtuosität der Briefe an Sophie Ell-
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(über das Einverständnis) und S. 204–206 (über schweigende Ablehnung); zu Erfolgsund Misserfolgsfaktoren in aktuellen Kommunikationskulturen vgl. Nicola Döring, Romantische Beziehungen im Netz. In: Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet, hg. von Caja Thimm, Opladen, Wiesbaden 2000, S. 39–70, hier S. 62–64. Vgl. Die Neu-Auffgerichtete Liebes-Cammer. Vgl. Rammler’s Universal-Briefsteller, S. 301ff. Gellert, Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung, S. 146.
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rodt offensichtlich,30 aber das Konventionelle dieser Virtuosität hat gleichwohl, philologisch betrachtet, eine zumindest im Modus des Vorbehalts repräsentierbare Funktion. Wenn Richter – wie schon angemerkt – im Briefkopierbuch auf Nennung der Adressatin verzichtet, dann ist diesem Vorgehen nicht allein ein psychologischer oder strategischer Grund – namentlich einer der Geheimhaltung gegenüber der Familie – zuzuschreiben. Dies sicherlich auch. Zugleich aber ist die Anonymisierung auch eine Generalisierung im Sinne der allgemeinen und der spezifisch amourösen Briefsteller.31 Richter unterwirft die Briefe an die Geliebte damit einem anderen Ordnungsprinzip als dem der Dokumentation, das die Freundschafts- und Geschäftsbriefe regiert. Als anonymisierte werden sie zu Musterbriefen, zu Bausteinen eines privaten und klandestinen, ganz auf seine Schreibweise hin eingerichteten amourösen Briefstellers. Das Briefverhältnis zu Sophie Ellrodt erhält damit den Status eines briefstellerischen Probelaufs. Die zwei erhaltenen Briefe Sophie Ellrodts aus der Zeit nach der – brieflich nicht dokumentierten – Erklärung der Liebe mögen gewiss ebenfalls konventionell sein, aber sie offenbaren doch eine Bereitschaft und epistoläre Fähigkeit der Schreiberin, auf die veränderten Umstände zu reagieren. Vom steifen Stil des ersten Briefes vom 30. Juni haben sie sich entschieden entfernt. Der erste der beiden Briefe ist die Antwort auf Richters Schreiben vom 22. August 1783. Richter hatte darin geschrieben, dass er sich entgegen seiner ursprünglichen Ankündigung doch noch in Hof aufhalte. Erneut hatte er einen finanziellen Grund (oder Vorwand?) für diesen liebesrelevanten Umstand genannt: Geld, das er seiner Mutter geliehen habe und zu seiner Reise nach Leipzig benötige, stehe ihm noch nicht zur Verfügung. Aus seinen Ausführungen lässt sich erschließen, dass zwischen ihm und Sophie vereinbart wurde, sie solle ihm mit zeitlichem Abstand nach Leipzig folgen: »Aber ich möchte Sie eher sehen als in Leipzig und in Hof noch einmal glüklich sein, eh’ ich es in Leipzig werde« (III 1, 107,2–4, Nr. 58); auch hat er das Arrangement eines »Zufal[s]« vorgeschlagen, um den hier geäußerten Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen: Da er gehört habe, dass Sophie Ellrodts Bruder, der zu dieser Zeit das Gymnasium in Hof besucht, aufgrund seiner Unzuverlässigkeit seinen Freitisch verloren habe, soll ihn Sophie Ellrodt unter dem Vorwand der »Verschaffung eines neuen Tisches« nach Hof begleiten. Richter beschließt den Brief – der Abschrift zufolge – im bis dahin bewährten Stil: Bleibt mein Wunsch ungewärt, so neme ich in diesem Brief zwar nicht noch einmal Abschied – denn Schmerzen leren mich, daß ich ihn schon einmal genommen – aber ich küsse Sie noch einmal im Bilde, bitte um Ihre Briefe und reise mit der Hofnung eines verbesserten Schiksals nach dem Orte hin, dessen Reize keine felen als die Ihri30 31
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So Thomas Wirtz in seinem perspektivreichen Aufsatz Liebe und Verstehen. Bei Gellert wird die Anonymisierung der Beispielbriefe aus moralisch-didaktischen Gründen gefordert, vgl. Gellert, Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung, S. 109.
gen. Beruhigen Sie Ihren Schmerz über die Trennung durch den Gedanken, daß Ihre Liebe glüklich macht etc.32
Wie schon der erste Brief Richters mündet also auch dieser in der überlieferten Abschrift in eine Schlussformel, die austauschbar ist (»etc.«). Erneut wir so der briefstellerische Impuls deutlich. Sophie Ellrodts im Original überlieferte Reaktion hierauf stammt vom Folgetag: Thuerer [D: Theuerer] Geliebter! Ohmöglich ist es mir das Vergnügen durch tode kalte Buchstaben, gegen Sie zu äusern welches ich bei Durchlessung Ihres Briefes fülte; nur bedaure ich daß mir durch die Gegenwart meines Vaters die Gelegenheit geraubt wird, Ihnen alles das zu sagen was ich vor Sie empfinde. Doch ist das Beruhigung vor mich wenn ich mir vorstelle, das ich Morgen noch einmal Sie sprechen kan, und zwar so, Sie mein Geliebter werden die Güte vor mich haben, und bis in daß ohnweit Leypoldsgrüner Wäldchen gehen, wo ich längstens bis um 2 Uhr sein werde, weil ich diese Gelegenheit vor dießmal nicht anwenden kann, die Sie mir an die Hand gaben, den gewiß würde dieß ihre erstere Frage sein woher ich dieses wüste, und was sollte ich wohl sagen Dahero ist nichts anders übrig als wir kommen am bestimten Plaze zu sammen, eben kommt mein Vater und mir bleibt nichts übrig als das ich Ihnen ein zärtliches lebewohl zu rufe, und Sie aufs neue versichere wie ich zeit Lebens bin
Helmbrechts, den 23 August 178333
Ihre Geliebte Sophia Ellrodtin
Sicherlich ist die Sprache Sophie Ellrodts unbeholfener und weniger erudiert als die Richters, aber sie macht dies wett durch ihre knappe Konkretheit. An die Stelle der altmodischen Anredeformel des ersten Briefes ist eine Formel der Intimität getreten, wobei das Verschreiben (»Thuerer«) möglicherweise auf Unsicherheit, vielleicht aber auch auf inneren Widerstand verweist; der ganze rhetorische Aufwand, den Richter betrieben hat, wird durch den Hinweis auf die Inkommensurabilität des Gefühls im Medium des »tode[n] kalte[n] Buchstaben[s]« neutralisiert. Die Personen aus dem beiderseitigen familiären Umfeld – seine Mutter und ihr Bruder – werden bei Richter instrumentalisiert, sein Entwurf macht sie zu unwissentlichen Agenten des Wunsches nach Wiederbegegnung. Sophie Ellrodt widersetzt sich dieser Strategie. Nicht Hof und die Familiensphäre, sondern, romanhaft-empfindsam, das auf halbem Weg zwischen den Wohnorten gelegene Wäldchen wird zum Schauplatz des Wiedersehens bestimmt. 32 33
III 1, 107,13–20, Nr. 58; Textgrundlage: eigenhändige Abschrift. H: BJK, Berlin A; vgl. IV 2, 38, Nr. 22.
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Richter reagiert noch am selben Tag mit einer Art Zugeständnis: »Heute schreib’ ich Ihnen nicht viel: morgen sag’ ich Ihnen dafür mer« (III 1, 107,23, Nr. 59). Aber das Bedürfnis nach Gefühlsformulierung (es ist mehr dies als eines nach Gefühlsausdruck) ist stärker; er fährt fort: »Danken aber mus ich Ihnen eher als ich das Glük geniesse, wofür ich Ihnen danke« und »hätte ich vorhergesehen, daß Ihnen die Erfüllung meines Wunsches, Sie noch einmal zu umarmen, die Übername einer Beschwerlichkeit wie die morgendliche ist kosten würde:« – und spätestens nach diesem Doppelpunkt dürfte man eine konzise Formulierung erwarten, bei Richter lautet die Satzergänzung aber: »so hätt’ ich mein Vergnügen eben so gerne Ihrer Bequemlichkeit aufgeopfert als Sie die leztere ienem aufopfern. Vielleicht beleidig’ ich Sie mit dieser Versicherung und den Dank für kleine Aufopferungen könten Sie für einen Zweifel an grössern aufnemen. Allein in der Liebe ist Ihr Los Gleichgültigkeit zu erweisen, und meines, dafür zu danken« (III 1, 107,24–32). In der Nachschrift, deren Beglaubigungs-Formel »Nur die Liebe solte in Briefen das Recht haben, Postskripte zu machen« lautet (III 1, 108,1–2), wird erneut – und abermals sehr ausführlich – die Inkommensurabilität des schriftlichen Gefühlsausdrucks thematisiert; sie schließt mit einer Beschwörung der erwarteten Begegnung: »Der Bote eilt; ich mus schliessen. Die Gegenwart eines andern unterbricht bei mir alle Empfindung. Morgen wird sie niemand unterbrechen« (III 1, 108,9–11). Dieser Brief Richters ist, bei aller Mühe, die der Verfasser sich gibt, um zu glänzen, doch zugleich nichts anderes als eine mit großem rhetorischen Aufwand ausgeführte Variation des Briefs von Sophie Ellrodt: von der Beglaubigung der Unzulänglichkeit brieflichen Sprechens über die umständliche Bestätigung der von ihr lancierten Verabredung bis hin zu der durch Anwesenheit eines Dritten motivierten Beendigung des Schreibens. Das Grundmuster stammt von ihr. In der Überlieferung des Briefwechsels tritt dann erneut eine Lücke auf. Richter reist in der Zwischenzeit nach Leipzig ab, und nun ist es offenbar erstmals Sophie Ellrodt, die Ende August oder Anfang September 1783 den initialen Brief zur Fortsetzung der Korrespondenz schreibt – dieser Brief, dem offenbar in Verfolg einer Intensivierungsstrategie* ihr Schattenriss beigelegt ist, ist nicht überliefert.34 Als Mitte September noch immer keine Antwort eingetroffen ist, schreibt sie erneut nach Leipzig und erkundigt sich, nunmehr ernsthaft »erzürnt« (wie aus Richters Brief vom 20. Oktober zu erschließen ist), nach dem Grund für sein Stillschweigen.35 Allerdings hat Richter indessen seinerseits – und spät genug – am 14. September an sie geschrieben. Er begründet in diesem Brief sein Schweigen mit der verzögerten Fertigstellung eines nunmehr auch ihr zustehenden Scherenschnitts und mit der näherrü34 35
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Vgl. IV 1, 293–295, Erschlossener Brief (im Folgenden = EB) Nr. 16. Vgl. III 1, 294, EB 1.
ckenden Michaelismesse, für die er ein Manuskript fertigzustellen habe. Zugleich dämpft er Sophies Hoffnung auf eine mögliche Anstellung für sie in Leipzig. Eine Resthoffnung gründet er indes erneut auf den Zufall: »lassen Sie sich […] nicht mutlos machen; dies alles beweist nur die Schwierigkeit, aber nicht die Unmöglichkeit der Sache. Was kann nicht das Ungefär tun? das Ungefär, das schon so viel tat, wird die Liebe, die es veranstaltet hat, gewis auch beglükken« (III 1, 109,9–13, Nr. 60).36 Im Schlusssatz des Briefes bezieht sich Richter dann zumindest einigermaßen konkret auf eine Gefühlsäußerung (der Sehnsucht), die sich offenbar in Sophie Ellrodts Brief hat finden lassen. Aber er schafft es dennoch, der offenen Konfrontation von emotionalen Gegensätzen zu entkommen, indem er nämlich den Vergleich der weiblichen und der männlichen Sehnsucht einmünden lässt in die Schlussformel: »wenden Sie die Stärke Ihres Geistes, die Sie vor andern Frauen so sichtbar auszeichnet, zur Bekämpfung einer Sehnsucht an, in die sich bei Ihnen nicht wie bei mir Süssigkeiten mischen, und lieben Sie den, den Sie so beglükten, der Sie so liebt und immer sein [wird] etc.« (III 1, 109,15–19) Durch das Überkreuzen der Briefe ist nun erneut eine Patt-Situation der Schreib-Obligationen entstanden: beide könnten den Faden des empfangenen Briefes aufnehmen, sie können aber auch beide abwarten, ob der oder die andere den ersten Zug tut. Erneut ist es Sophie Ellrodt, die zuerst schreibt, allerdings mit nunmehr deutlich veränderter Tendenz. Am 16. Oktober schreibt sie, auf Richters Brief vom 14. September bezugnehmend: Zärtlichster Geliebter! Ich habe es erhalten Ihr so theueres Schreiben, und daraus die deutlichsten Merckmale Ihrer Freundschaft und Liebe ersehen. Schreiben Sie nur fernnerhin recht oft an mich ieder Ausdruck ieder Gedancke den Sie mir durch tode kalte Buchstaben zu verstehen geben ist ein Labsaal für meine nach Ihrer Liebe schmachtende Seele. Nur schade daß wir von einen so zimlichen Raum eingeschlossen von einander leben müßen. Doch was schadet es den auch daß wir von einander entfernt, wenn wir nur unsere Empfindungen, und Gedancken einander näheren was liegt daran, daß unsere äuserlichen Gestalten von einander entfernt sind, lassen Sie uns in Gott Lieben so werden wir ewige Freunde bleiben ewig einander Lieben. Doch da wir von unserer gegen seitigen Liebe überzeugt sind, so haben wir nicht nöthig so heilige Versicherungen einander von unserer Liebe zu machen, doch was ists weiter als die Sprache der Freundschaft. Und nun eine Bitte die ich als Ihre Geliebte, als Ihre Freundin an Sie ergehen lassen muß und diese können Sie mir ohne Ihrem Nachtheil gewähren Sie sollen mir mein theuerer den Ihnen zugeschickten Ring mit nächsten Posttag überschicken. Sie sollen ihn aber längstens in 8–14 tagen wieder zurückgeschicktbekommen. Ich würde ihn nie aus Ihren Händen fordern, wenn ihn nicht meine Mutter 36
Zur Kunst des epistolaren Austarierens von Zufall und Schicksal vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 180–182; auch das neue Gleichgewicht zwischen diesen scheinbar widerstrebenden Ideen wird von Luhmann als Errungenschaft der »romantischen Liebe« gefeiert, durch die die Epoche der Unübersichtlichkeit im Ausgang des 18. Jahrhunderts beendet werde.
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schon seit einiger Zeit von mir zu sehen verlangt hätte, und ich sie mit falschen Vorgebungen täuschen müßte. Doch um mich aus diesen Verdacht zu bringen, so wiederhole nochmalen meine Bitte. Da ich von Ihrer Liebe hinlänglich überzeugt bin so hofe ich auch eine baldige Antwort nebst dem verlangten Ringe. Und nun leben Sie wohl und glauben Sie das ich ewig bin
Helmbrechts, den | 16 OCT. 178337
Ihre Sie liebende Sophia Ellrodtin
Die Grußformel und die ersten Sätze des Briefes wirken zunächst beschwichtigend, ohne dabei etwas Neues zu sagen: alle Formeln und Figuren, die hier Verwendung finden, sind bereits zwischen den Liebenden etabliert: der Vergleich zwischen lebendigen Gedanken und toten Buchstaben, die epistolare Utopie der Raum- und Distanzüberwindung. Aufhorchen lässt aber die Berufung auf Gott und die dreimal unterschiedlich akzentuierte Verschiebung von Liebe in Richtung auf Freundschaft.38 Diese dreifache Relativierung des Liebesverhältnisses (»ewig Freunde bleiben ewig einander Lieben«, »Versicherungen […] unserer Liebe […] Sprache der Freundschaft« und »als Ihre Geliebte, als Ihre Freundin«) initiiert nichts anderes als die symbolische Aufkündigung* des Liebesbundes: die, wenn auch zeitlich befristete, Zurückforderung des Ringes. Dass es nunmehr ein mütterlicher Vorwand ist, womit dieser Forderung zugleich Nachdruck und Entschuldigung verliehen wird, kehrt die Urdisposition des Briefwechsels (den mütterlichen Vorwand) um. In seinem Antwortschreiben vom 20. Oktober reagiert Richter gekränkt, ummäntelt das Gefühl aber mit der Forderung nach unbedingter Offenheit: »Jede Verstellung ist mir verhasst; daher sei sie auch von dieser Antwort entfernt« (III 1, 109,23–24, Nr. 61). Er glaubt nur die Sprache der Vernunft in Sophies Brief erkennen zu können, nicht die der Liebe,39 woraus er schließt, die amouröse Sprache sei nun in Blick auf ihn ihrem Herzen abhanden gekommen. Er bittet sie, in einem baldigen Brief diesen Argwohn zu widerlegen. Auch die Übersendung des Ringes begleitet er mit Bekundungen des Misstrauens. Zur eigentlichen Probe aber wird für ihn nun ihre Bereitschaft, an ihn zu schreiben: »schreiben Sie bald. Zwar auch Ihr Stilschweigen wäre eine Antwort; aber warlich eine, die ich nicht um Sie verdienet hätte« (III 1, 37 38
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IV 1, 39, Nr. 23; Textgrundlage: Originalhandschrift. Luhmann hält die Bemühung, den Code der Intimität von Liebe auf innige Freundschaft umzustellen, für einen Grundzug der Liebescodierung im 18. Jahrhundert (vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 102–106), mit Verweis auf Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, 3. Aufl., Tübingen 1966 (zuerst 1922). In der Diskursformation seiner Zeit ist dieser Vorbehalt spezifisch für Jean Paul: Im Geflecht der Diskurse sind für ihn, wie Wolfgang Braungart ausführt, »die Werte des emotionalen Nahbereichs das Regulativ, nicht die Vernunftideen« (Wolfgang Braungart, Manierismus als Selbstbehauptung: Jean Paul. In: Manier und Manierismus, hg. von W. Braungart, Tübingen 2000, S. 307–322, hier S. 319.
110,7–9, Nr. 61). Richter fügt ein Postskriptum an, das in offenem Widerspruch steht zu seinem im Brief an Sophie Ellrodt vom 23. August statuierten Prinzip nur »die Liebe« solle »in Briefen das Recht haben, Postskripte zu machen« (III 1, 108,1–2). Jetzt aber schreibt er: Was kann Ihre Fr. Mutter, nach Ihrem Ringe zu fragen, bewogen haben? und wie können Sie, ihn in 14 Tagen wieder zurük zu senden, mir versprechen, da Sie fürchten müssen, daß Ihre Fr. [Mutter] die Nachfrage wiederholen könte? Ich tue die leztere Frage, weil ich nicht begreife, wie Sie mir das versprechen können, wovon Sie die Unmöglichkeit, es zu halten, voraussehen.40
Indem das Misstrauen den Platz und das Vorrecht der Liebe usurpiert, muss aus der Sicht Sophie Ellrodts das Scheitern bereits hier erkennbar sein. Auch die Kontrasignatur dieser Form der Aufkündigung ist in Richters Brief bereits blanko vorformatiert; Sophie Ellrodt braucht dazu nichts weiter zu tun, als zu schweigen. Die Philologie lässt freilich eine solche Leerstelle der Repräsentation ebenso ungern zu wie das Leben. Zumindest in seinem Briefkopierbuch bringt Richter daher die Liebesgeschichte zu einem briefstellerisch repräsentativen Abschluss: In einem auf den 21. November 1783 datierten förmlichen Aufkündigungsschreiben wahrt er die Form – die des briefstellerischen Abschlusses nach Innen, und die der Ritterlichkeit nach Außen, zu der er sich herausgefordert fühlt, weil er, so behauptet er zumindest, von der Existenz eines Konkurrenten Kenntnis erlangt habe: Also ist der Vorhang zerrissen, auf dem so viele Hofnungen gemalet standen? und unsre Liebe mit den Blumen verblüht, mit denen sie ihr kurzes Dasein anfieng? Denn das, und nichts anders, will doch Ihre Verzögerung, auf meinen lezten Brief zu antworten, mir unfelbar sagen. Vielleicht daß sich aber doch Ihr Stilschweigen für eine Bestrafung des meinigen ansehen liesse, wenn ihm nicht ihr lezter Brief vorhergegangen wäre und wenn nicht andre Nachrichten mir Ihre schleunige Veränderung zusicherten. Aber wir wollen uns nicht unter Vorwürfen von einander scheiden. Ich will Sie so stil verlassen als man das Grab derer verlässet, die man liebte und die nimmer lieben können. Sie entziehen mir Ihre Liebe, aber doch nicht Ihr Bild, das in meinem Herzen länger dauern wird als eine in Ihrem; Sie können doch die Freuden nicht zurükfordern, die ich mit Ihnen genos und die die Erinnerung mir täglich wiedergebären kan. Möchte der, der an meine Stelle getreten ist, oder treten wird, Sie für die Vergnügungen belonen, die Sie mir verschaften! Möchte er Sie so lieben wie ich! Möchte er dafür zur Belonung von Ihnen noch mer geliebt werden als der es wurde, der nun nichts mer ist als Ihr etc. N.S. Ich bitte Sie um die Zurükgabe meiner Briefe, die Ihnen nun gleichgültig sein müssen, da es Ihnen der ist, der sie schrieb und an Sie weiter keinen schreiben wird als den, welcher Ihre Antwort beantwortet. Meine Silhouette machen Sie zu einer Papilotte.41
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III 1, 110,10–15. III 1, 111, Nr. 63.
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Freilich handelt es sich bei diesem Brief noch nicht um eine ultimative Figuration der Aufkündigung* der Liebe. Noch immer lässt sich Richter ja mit der Formulierung »der […] an Sie weiter keinen [Brief] schreiben wird als den, welcher Ihre Antwort beantwortet« einen Ausweg offen, der sich im Prinzip ad infinitum (jedenfalls im Horizont des Lebenslaufs) ausdehnen ließe: irgendwann könnte die Antwort ja doch noch erfolgen. Insofern schließt Sophie Ellrodts Schweigen diese Option auch nur unter immerwährendem Vorbehalt. Für Richter hat die Beziehung gleichwohl noch ein Nachspiel, das jedoch – systematisch betrachtet – dem Entdecken der Liebe durch Schreiben* zuzurechnen ist. Sophie Ellrodt als amouröse Akteurin und Agentin ihrer selbst hingegen verschwindet an dieser Stelle. PHILOLOGISCHES KORROLAR − Dass eine Philologie, die sich vom Genie-Ideal des Dichters verabschiedet hat, das äußerlich damit beendete Verhältnis heute anders beurteilt als vor hundert Jahren, als Ferdinand Josef Schneider Richters »Großmut« und die »Märtyrergeduld des Liebhabers« gegen die zunächst »heiratslustigen« und später »grausamen« Launen der Umworbenen aufrechnete, braucht nicht betont zu werden.42 Aber auch zu den entgegengesetzten moralischen Urteilen muss eine Philologie der Kommunikation intimer Gefühle Abstand wahren. Zu fragen ist jedoch bei dieser Gelegenheit nach den philologischen Analysemöglichkeiten der vorläufig zu konstatierenden Erfolge und Misserfolge. Berends Stellenkommentare zu den auf der Grundlage von Richters Briefbuch konstituierten Texten sind vor allem Sacherläuterungen, die aber gleichwohl (und wohl auch unvermeidlicherweise) Tendenzen einer Beurteilung aufnehmen. So wird in der Stellenerläuterung zu Sophie Ellrodts Bruder dieser als »postillon d’amour« bezeichnet,43 womit das Briefverhältnis der Sphäre der älteren, höfisch-galanten Kommunikation zugeordnet wird.44 Dies ist freilich vom Ende her gedacht, vom als inhärent aufgefassten Scheitern: eine Beziehung, die sich der Institution des galanten Liebesboten bedient, muss und darf ›Affäre‹ bleiben. In der Erläuterung zu Richters Brief vom 20. Oktober schließlich, der auf den oben zitierten Brief Sophie Ellrodts vom 16. Oktober antwortet, gibt der Editor eine Passage aus dem Briefkopierbuch wieder, von der er angibt, sie sei dem Briefgespräch zwischen Richter und Sophie Ellrodt »offenbar nicht zugehörig«.45 Sie lautet: »Das Kind schämt sich des Vaters«. Bedenkt man nun aber 42
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Ferdinand Josef Schneider, Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der Literatur. Ein Blatt aus der Bildungsgeschichte des deutschen Geistes im 18. Jahrhundert, Berlin 1905, S. 267–273. III 1, 448, Erläuterungen zu Nr. 58. Zu den entsprechenden Verfahrensweisen der »Komplimentierkunst« vgl. Koschorke, Körperströme, S. 17–20. III 1, 448, Erläuterungen zu Nr. 61.
die Delegation der amourösen Verantwortung an die Mutter, die Sophie Ellrodts Brief vom 16. Oktober – in Nachahmung von Richters erstem Brief – kennzeichnet, so bekommt dieser Satz denn doch philologische Relevanz: In der sich abzeichnenden Beziehungskrise nimmt Richter die Retourkutsche Sophie Ellrodts auf und setzt den Akzent – erneut in einer Art innerem Konzept – auf die patriarchale Differenz der beiden Familien: die eine (seine) ist vaterlos und verarmt, die andere (ihre) vaterdominiert und wohlsituiert. Ihre Scham, so könnte man sagen, ist der Zoll, den sie der patriarchalischen Ordnung zu entrichten hat. Unabhängig vom nicht mehr zuverlässig rekonstruierbaren psychologischen Bezug wäre die Bemerkung jedenfalls aufgrund ihres Ortes in einer spezifischen, auf Erforschung der Liebesbriefkultur zielenden Textkonstitution zu berücksichtigen, und nicht, wie bei Berend, abzusondern. Auch die Textkonstitution von Sophie Ellrodts Briefen, die, obgleich Reinschriften, doch sämtlich mit Korrekturen versehen sind,46 wäre in Richtung auf eine spezifische Textkonstitution zu erweitern und Lesarten zu revidieren, wie zum Beispiel jene im Brief vom 23. August: eine spezifisch an Mechanismen der Liebeskommunikation interessierte Textkonstitution müsste in der Tat die Anrede »Thuerer« anstelle von »Theuerer« (oder »Theurer«) im konstituierten Text bestehen lassen. Eine moralische Stellungnahme ist bei all dem auch trotz strikt philologischer Ausrichtung nicht vollständig zu vermeiden; als Prinzip der Abgrenzung zum philologischen Moralisieren kann zunächst die konsequente Orientierung an den im Text selbst formulierten Urteilen gelten, sofern diese kritisch reflektiert werden. Aber ebenso wie die zu konstituierenden und zu kommentierenden Texte durch Lücken und Leerstellen Urteile und Entscheidungen fällen, so tun dies auch die Textkonstitutionen und Kommentare, sei es durch Emendationen, sei es durch kommentierendes Schweigen. Mit vermutlich guten, obgleich nicht ausgesprochenen Gründen verschweigt der Kommentar zu Sophie Elrodts Briefen in der HKA die von Richter in seinem Abschiedsbrief behauptete Existenz des Konkurrenten. Infolge dieser Entscheidung ist der Gegenspieler in der Edition der Briefe an Jean Paul allerdings philologisch nicht präsent, weder im Text, noch im Kommentar und/oder Register der Ausgabe. Dies entspricht dem philologischen Prinzip der Vorsicht und Reduktion in Zweifelsfällen. Was die Philosophie dem »Rasiermesser« des Nominalisten Wilhelm von Ockham überantwortet, die Reduktion von nicht-notwendigen Entitäten,47 geschieht in der Philologie durch die Löschtaste. In der Perspektive einer Philologie der inti46 47
Vgl. IV 1, 381, 395–396, Erläuterungen zu Nr. 17, 22, 23. »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem«; vgl. Karl S. Popper, The Logic of Scientific Discovery, 2. Aufl. London 1992, S. 121–132 und Richard Swinburne, Simplicity as Evidence for Truth, Marquette University Press 1997; zur Funktion des Prinzips in der Logik vgl. Willard V.O. Quine, Grundzüge der Logik, Frankfurt/M. 1989, S. 266 (Originalausgabe: Methods of Logic, New York u.a. 1964).
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men Kommunikation bleibt dennoch ein ungutes Gefühl, das freilich auch durch die Entscheidung, den anonymen Konkurrenten kommentierend zu registrieren, nicht aufgehoben würde. Denn auch wenn in Raum und Zeit eine Person existiert hat, auf deren Handeln sich der Verdacht Richters bezog,48 so bleibt doch der Existenzstatus – zwar nicht der Person als Person, aber der Person als Konkurrent – philologisch opak. Denn das philologische Leben dieses »infamen Menschen« ist ja nichts anderes als eine Funktion der Rivalität, er ist, im Raum der philologischen Repräsentation, nichts anderes als ein Gegenspieler. Im vorliegenden Fall wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch der letztes Schluss bleiben und Ferdinand Josef Schneider wird wohl, auch wenn man dazu neigt, seiner moralischen Bewertung zu widersprechen, in Hinblick auf das Fortleben von Jean Pauls erster Geliebter und seines ersten amourösen Widersachers im Andenken der Nachwelt das letzte Wort behalten, wenn er das Verstummen der Akten auf staubigen Regalen beschwört, in die sich »gewöhnlich die letzte Erinnerung an Menschen flüchtet, die ruhmlos über die Erde gingen und nach Jahrhunderten nur noch genannt werden, weil einst ihre Trabantenlaufbahn die Sphäre eines großen Planeten gekreuzt.«49 Zu korrigieren aber sind an diesem Bild – aus Sicht einer Philologie der intimen Kommunikation – die Größenverhältnisse: Zu dem Zeitpunkt, als sich die Lebensläufe Sophie Ellrodts und Johann Paul Friedrich Richters kreuzen, begegnen sich keineswegs ein Großplanet und ein Kleingestirn. Die amourösen Verhältnisse werden nicht von den Gesetzen der Literatur- und Geistesgeschichte regiert, sondern nach einem Regime, das sich womöglich erst sekundär, sicherlich aber nicht ausschließlich an äußeren Bedingungen ausrichtet. Und wie der Fall Sophie Ellrodts beweist: Umworbene haben auch die Freiheit, potentielle Berühmtheiten abzuweisen, unter Umständen gerade weil deren Brief-Handeln bereits primär dem Ruhm und nur sekundär der Liebe – den beiden Kräften, denen einige Jahrzehnte später Balzac seine ganze Existenz überantworten wird – galt. ENTDECKEN DER LIEBE DURCH SCHREIBEN50 − Die kurze Dynamik der Liebesbriefbeziehung zwischen Richter und Sophie Ellrodt lässt aber noch 48
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Bei Schneider findet sich die vage Vermutung, es könnte sich um einen Handelsmann namens Spindler aus Treuen gehandelt haben, der eine der sechs Ellrodt-Töchter heiratete, über den er aber nichts Näheres eruieren konnte, vgl. Schneider, Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten, S. 272. Schneider, Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten, S. 273. Vgl. Leisi, Paar und Sprache, S. 86–92 – für Leisi spielt sich das Entdecken der Liebe vor allem im Medium des Sprechens, Lesens und Hörens, weniger dem des Schreibens ab; gemeinsam ist diesen Mitteilungs- und Wahrnehmungsformen, dass in ihnen die diffusen Gefühle, die mit beginnender Liebe in Verbindung stehen, erst durch Sprache »ans Licht« gebracht werden (ebd., S. 91); noch allgemeiner argumentiert Luhmann (Liebe als Passion, S. 92, über Selbstreferentialität und Selbstverstärkung des Liebesprozesses), an Allgemeinheit nur noch übertroffen von Bernard Bray, der generell das Schreiben von Briefen als « un geste de l’amour » verstehet: Le Geste (Ber-
einen zusätzlichen Schluss zu. Mag auch von Richters Seite aus zunächst die Konstruktion einer briefstellerisch-literarischen Modellbeziehung im Vordergrund gestanden haben, so scheint sich doch im Prozess des Schreibens und nicht zuletzt auch des brieflichen Schweigens ein Gefühl entwickelt zu haben, das sich von der literarisch-paradigmatischen Ordnung nicht bändigen ließ. Stärker noch als das amouröse Drängen Richters in den beiden letzten Briefen an Sophie Ellrodts mit ihren das zuvor entworfene System ignorierenden, ja sprengenden Postskripten und der darin zu Erkennen gegebenen Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Liebesdialogs (»der […] an Sie weiter keinen [Brief] schreiben wird als den, welcher Ihre Antwort beantwortet«) zeigt sich dies im Nachleben der Beziehung. Denn auch nach dem Absagebrief geistert »die grosse Ellrodtin« (so bezeichnet, weil sie die älteste von insgesamt 17 Kindern Johann Carl Friedrich Ellrodts ist) durch die Korrespondenz des Enttäuschten. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Tatsache, dass Richter der Geliebten offenbar eines seiner Exzerpthefte ausgeliehen hat, das er nun auf verschiedenen Wegen – und letztlich vergeblich – zurückzuerlangen versucht.51 Das vermisste Buch ist freilich nach seinem Inhalt und nach seiner gewöhnlichen Funktion ein Medium der Ruhm- und nicht eines der LiebesErschreibung. Gleichwohl wird es nun zum Gegenstand des verlängerten, nachtragenden Liebeshandelns. Richter beauftragt kurz vor Weihnachten 1783 die Mutter in der Rolle der Mittlerperson* damit, das Buch von der ehemaligen Geliebten zurückzufordern.52 Zugleich bekräftigt er seine Weigerung, selbst in weiteren Briefkontakt zu Sophie zu treten. Das unter den Bedingungen der Liebeskorrespondenz gemachte Gelöbnis hat also weiterhin Bestand für ihn: »Ich sol Ihnen einen Brief an die grosse Elrodtin machen [als Fürsprecher des Bruders, Anm. J.P.]. Aber für mich schikt sich das gar nicht (zumal da ich an sie iezt gar nicht mehr schreibe) sondern Sie müsten das tun«
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nard Bray, Treize propos sur la lettre d’amour. In: L›épistolarité à travers les sciècles, hg. von Mireille Bossis, Charles A. Porter, 1990, S. 40–47; zu weiteren, differenzierten Figurationen des Entdeckens einer zunächst verborgenen oder auch nur vorgetäuschten Liebe vgl. ebd., S. 116–118); sehr viel konkreter im Rahmen einer Liebeskorrespondenz wird das Entdecken von Liebe im Briefeschreiben von Julia Augart analysiert, vgl. Augart, Eine romantische Liebe in Briefen. Zur Liebeskonzeption im Briefwechsel von Sophie Mereau und Clemens Brentano, Würzburg 2006, S. 134–145, bes. S. 141ff (über das Wechselverhältnis von Verführung und Selbstverführung im Schreiben). Das Heft (vgl. die nachfolgende Anm.) fehlt bis heute in der Reihe der im Nachlass überlieferten Hefte, vgl. IV 1, 381, einleitende Erläuterung zu Nr. 17 und S. 397, Erläuterung zu S. 39,28–29. »In Helmbrechts liegt ein blaueingebundnes Schreibbuch von mir mit dem Titel Verschiedenes aus den neuesten Schriften. Zwölfter Band. – Ich gab es der Ellrodin zu lesen; fordern Sie es zurük; vergessen Sie es ja nicht.« (III 1, 113,6–9, Nr. 66 vom 20.12.1783.
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(III 1, 112,34–113,1, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift); und noch im Frühjahr bekräftigt er in einem weiteren Brief an die Mutter: In Betref des Briefwechsels zwischen mir und der Elrodtin da irren Sie sich ganz. Wir haben zwar sonst einige Briefe an einander geschrieben; aber schon im November bekam sie den lezten von mir. Die Verbindung zwischen uns ist aufgehoben. Was Sie von einem Briefe von 6 Wochen schreiben, davon ist kein Wort war. Denken Sie denn, ich würde von ihr mein Buch zurükzufodern so unhöflich sein, wenn wir mit einandern noch gut stünden?53
Was sich nun aber abzuzeichnen beginnt, ist die Überwindung des symbolischen Denkens, das bis dahin Richters Briefhandeln in Bezug auf Sophie Ellrodt bestimmt hat. Er schreibt an die Mutter: »Was den Ring anlangt, so war die ganze Sache ein Spas: denn ich gab ihr keinen, sondern schikte ihr ihren wieder zurük. Denn was hülfe mich ihr Ring? Sehen Sie das ist die ganze Sache.« (III 1, 118,21–24) Dass der Ring, das Symbol, unbedeutend ist im Verhältnis zur »ganzen Sache«, die er verloren hat, dies ist nun die eigentliche, durch die epistoläre Arbeit errungene Erkenntnis. Dies erlaubt ihm dann auch das symbolische Buch des zu erschreibenden Ruhmes, also das Exzerptheft, preiszugeben. Fast genau ein Jahr nach dem Initialbrief an Sophie Ellrodt bringt er in einem Schreiben an die Mutter dieses Opfer und schließt mit einer satirisch-literarischen Umdeutung dieses Postskriptum seiner ersten Liebesbeziehung: Mein Buch in Helmbrechts ist nur ein geschriebenes aus andern Büchern und ich frage also wenig darnach. Ich schenke es also der Madmoiselle von Herzen gerne und mus es wol, da ich mich (Sie werden in Hof unfehlbar davon gehöret haben) entschlossen habe dieselbe nächstens zu ehelichen. Den Hochzeitstag werd’ ich Ihnen gewis mit nächstem Brief melden. Sie geht hier ganz im Stillen vor sich und meine Braut wird wol den 11. Julius schon von Helmbrechts abreisen.54
Aus seiner Sicht sind damit die Akten geschlossen. Die Fiktion hat die Regie übernommen. Spätere Erwähnungen der Liebesgeschichte sind in seinen überlieferten Briefen nicht nachweisbar. In Hinblick auf Sophie Ellrodt und ihre nachträglichen Empfindungen bleiben indes so gut wie alle Fragen offen: Hat sie das Exzerptbuch zurückgehalten aus reinem Verdruss und Überdruss? Oder aufgrund der Mitspracherechte* jenes anderen, glücklicheren Liebhabers? Oder doch aus Wertschätzung für den verflossenen Verehrer, wenn auch vielleicht weniger in seiner Rolle als Liebhaber als in der des angehenden Dichters?
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III 1, 118,8–15, Nr. 70 vom 2.4.1784, Textgrundlage: Originalhandschrift. III 1, 123,31–124,4, Nr. 75 vom 21.6.1784, Textgrundlage: Originalhandschrift.
ROLLE VON MITTLERPERSONEN I: VERTRAUENSPERSONEN55 − Die im Verhältnis zu Sophie Ellrodt von der Mutter übernommene Rolle der Mittlerperson ist durchgängig mit ökonomischen und familiären Rücksichten belastet. Nachdem das Band zwischen Richter und der Umworbenen endgültig zertrennt ist, schreibt sie (die Mutter) unumwunden: »die Elrodischen sind recht schlecht« (IV 1, 49,11, Nr. 26 vom 2.4.1784, Textgrundlage des Drucks: Konzept). Für sie bleibt das Liebeshandeln ein Teil der Haushaltung, der familiären Ökonomie, als Mittlerin kann sie sich aus diesem Dispositiv der (Mutter-) Liebe nicht lösen. Dem Diktat des Ökonomischen kann sich aber auch Richter vorläufig nicht entziehen. Auch in Leipzig bleibt er ein Kind der Not. Amouröse Fluchträume hat die galante Stadt sicherlich viele zu bieten.56 Aber nicht für ihn. Im November 1784 flieht er vor seinen Gläubigern und kehrt nach Hof zurück. Der amouröse Diskurs verschwindet nun vorläufig ganz von der Oberfläche der überlieferten Briefe. Die folgenden Jahre bis nahe ans Ende des Jahrzehnts stehen vor allem im Zeichen der Existenzsicherung auf der einen, der individuellen Rebellion gegen die rückständige Provinzialität seiner Herkunft auf der anderen Seite. In Hinblick auf die ökonomische Notlage besteht Richter auf dem einen Ausweg, den er für sich und die Familie ebnen, den er im wörtlichen Sinn erschreiben will: Schriftstellerei. Unablässig arbeitet er an seinen satirischen Dichtungen, betreibt auch deren Publikation, muss aber immer wieder herbe Rückschläge einstecken. Ins Zentrum der Korrespondenz rückt zunächst der Briefwechsel mit dem wichtigsten Freund und Mentor der Jugendjahre, dem Pfarrer und aufgeklärt theologischen Schriftsteller Erhard Friedrich Vogel (1750–1823) in Rehau. Dieser, seit 1774 mit Sophie Albertine Vogel geb. Gutfeld (1751–1836) verheiratet und zur Zeit von Richters Rückkehr in die Region Vater von vier Kindern im Alter von ein bis acht Jahren, wird nun Mittelsperson in vielerlei Hinsicht, am allerwenigsten aber in Hinblick auf mögliche Liebeskorrespondenzen – ob nun in Ermangelung von Gelegenheit, aus charakterlicher Veranlagung oder aus beruflichem Ethos. Umso deutlicher tritt der amouröse Kontext im Briefwechsel Richters mit seinem ungefähr ein Jahr älteren Freund Johann Bernhard Hermann zu Tage. 55
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Vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 168–169, Brenot, De la lettre d’amour, S. 57–73 (über gleichgeschlechtliche Vertrauenspersonen); Schneider, Liebe und Betrug, S. 33–39. »Im ganzen 18. Jahrhundert war der Leipziger Student in Deutschland als galante homme und Frauenheld verschrien«, so fasst Matthias Donath den Leumund des 18. Jahrhunderts zusammen; die Studenten versuchten dabei, den Lebensstil des Adels und des reichen Bürgertums zu imitieren (Matthias Donath, Zwischen »Augiasstall« und »Universitas litterarum«. Die Universität Leipzig um 1800. In: Leipzig um 1800. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte, hg. von Thomas Topfstedt, Hartmut Zwahr, Beucha 1998, S. 43–59, hier S. 50–51.
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Zwar bleibt beiderseits die Rolle der Mittlerperson weitgehend virtuell, im Vorfeld des Vermittelns, das heißt: bei der Funktion gegenseitiger Vertrauenspersonen, doch wird gerade in dieser Funktion ein Bereich erschließbar, der – in der Perspektive Richters – bis dahin weitgehend ausgeblendet war: der sinnliche Aspekt der Liebe einschließlich der rein körperlichen Sexualität.57 Auch im Falle Hermanns muss man sich freilich, wenn die Zusammenhänge aus der Perspektive einer Philologie der Intimität betrachtet werden, von der Anschauung lösen, hier hätte sich die Bahn von zwei Personen unterschiedlicher Größenordnung gekreuzt. Nicht nur ist Hermann der ältere unter den Freunden, er ist auch der in vieler Hinsicht kompromisslosere Briefschreiber. Als Sohn des Zeugmachers Johann Jakob Hermann und seiner Frau Maria Margaretha geb. Völckel am 18. Februar 1761 in Hof geboren,58 hat er mit Richter das dortige Gymnasium besucht. Nach Beendigung der Schule hat er zunächst – gegen Richters Rat – eine Ausbildung als Apotheker begonnen, ist dann aber dem Freund zum Studium – zunächst der Theologie – nach Leipzig gefolgt; wenig später wechselt er zum Studium der Medizin und der Naturwissenschaften über, in dem er auch mit zwei unter dem anagrammatischen Pseudonym N.H. Marne veröffentlichten Publikationen hervortritt.59 Im Frühjahr 1788 setzt er diese Studien zunächst in Erlangen, später, ab Herbst, in Göttingen fort. Dort finanziert er sein Leben durch Hauslehrertätigkeit bei einem französischen Adeligen, beginnt auch, sich im 57
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Luhmann weist der Behandlung der Sexualität als symbiotischem Mechanismus in der Semantik der Liebe einen entscheidenden Ort in der Codierungsgeschichte von Liebe zu (Liebe als Passion, S. 139–140) und verweist dabei insbesondere auf die MemoirenLiteratur (ebd. S. 143). Nach 1789 ermögliche dies auch eine Neutralisierung von Schichtdifferenzen (wie sie zwischen Richter und Hermann durchaus bestehen, noch stärker freilich zwischen Richter und vielen seiner späteren Bewundrerinnen). Eine Diskussion über die Ausgrenzung des Obszönen, die Luhmann als eine notwendige Folge des Eindringens von Sexualität in die Liebessemantik auffasst, findet auch zwischen Richter und Hermann statt, doch sind die Rollen dabei im Korrespondenzsystem philologisch schwer zuweisbar: wird nicht das Obszöne erst durch denjenigen, der entrüstet darauf hinweist, zum Skandal der intimen Korrespondenz? Zur konventionellen Ausgrenzung von Sexualität und erotischem Begehren in der Briefkultur um 1800 vgl. Gert Mattenklott, Hannelore Schlaffer, Heinz Schlaffer (Hg.), Deutsche Briefe 1750–1850, Frankfurt/M. 1988, S. 275, differenzierend hierzu Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 129–134. Zur Biographie Hermanns vgl.: Johann Bernhard Hermann, Briefe an Albrecht Otto und Jean Paul. Aus Jean Pauls Nachlaß, mit Einleitung und Erläuterungen hg. von Kurt Schreinert, Tartu 1933, Ferdinand Josef Schneider, Jean Paul und Bernhard Hermann, das Urbild seiner humoristischen Charaktere. In: Deutsche Arbeit. Monatschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen, Prag, 5. Jg., 3. H., Dezember 1905, S. 150–160, sowie IV 1, 354–356, einleitende Erläuterung zu Nr. 5. Ueber die Anzahl der Elemente. Ein Beytrag zur allgemeinen Naturlehre, Berlin und Leipzig: George Jacob Decker 1786; Ueber Feuer, Licht und Wärme. Noch ein Beytrag zur allgemeinen Naturlehre, Berlin und Leipzig: Georg Jacob Decker 1787.
akademisch-medizinischen Feld der Universitätsstadt zu etablieren, stirbt dann aber – zu Richters tiefgreifender Erschütterung – am 3. Februar 1790, dem Kirchbuch zufolge an »Gicht und Ausfluss«.60 Hermanns erster überlieferter Brief an Richter stammt vom 20. Januar 1782, aus einer Zeit, in der, wie auch der Kommentar der HKA hervorhebt, das Verhältnis zu Richter einstweilen noch sehr fragil ist, namentlich im Vergleich zu dessen Freundschaft mit Adam Lorenz von Oerthel, dessen ehemalige Geliebte Beata von Spangenberg zu dieser Zeit vor ihrer Verheiratung mit dem Amtmann Johann Friedrich Schäffer steht, während Richters erste dokumentierte Liebesbriefaffäre (mit Sophie Ellrodt) noch aussteht. Charakteristisch für Hermann ist die Art und Weise, mit der er sich in das Vertrauensverhältnis zwischen Richter und Oerthel gleichsam klandestin einschreibt: einerseits öffnet er bereitwillig Richter gegenüber seine Korrespondenz mit dem Schulkameraden Albrecht Otto, dem älteren Bruder von Richters späteren Hauptvertrauten Christian Otto: »Die Kürze der Zeit verhindert mich, ihnen das jetzt zu schreiben, was ich bey Erhaltung längerer Zeit an Sie zu schreiben mir die Freyheit nehmen werde. Der Brief an Otto hat mich jetzt daran verhindert, der sie, wenn ihnen anders etwas daran liegt, belehren wird, was mich zu einem solchen Entschluß bewogen. Ich weiß, AMICIS OMNIA INTER SE ESSE COMMUNIA. Also gilt auch jener lange Brief ihnen« (IV 1, 15,22–29, Nr. 5, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift). Damit legt er mit die Basis für jenes auf universelles Vertrauen gegründete Briefnetzwerk, das Richter – im Wesentlichen in der Zeit nach Hermanns Tod – im und mit dem Hofer Freundeskreis etablieren wird. Hermann freilich fügt dabei in einer briefstellerische Konventionen überrennenden Radikalität auch das Unvereinbare aneinander, weshalb er dann auch später die Öffnung des engen Briefvertrauens in Richtung auf jenes Konzept, das Richter die »Simultan- oder Tuttiliebe« nennen wird, verweigert: »Ich verehre u. liebe sie von Herzen, und bitte (als Apotheckers Junge, ha! ha!) um ihre fernere Freundschaft. Sie sind viel zu grosmüthig als daß sie dieselbe versagen sollten ihrem | Joh. Bernhard Hermann« (IV 1, 15,31–16,3, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift). Die Formeln der Freundschaft und Liebe stehen in adäquater Korrespondenz zu denen im Brief Richters, 60
Richter spricht davon, Hermann sei »seiner mit (?) Stekflus beschliessenden Hypochondrie« erlegen (III 1, 282,16). Ebenso wie in der psychologischen Bewertung orientiert sich die vorliegende Studie auch in der medizinischen an den historischen Diskursen und deren Urteilen. Der Kommentar zu Hermanns erstem Brief an Richter geht in dieser Hinsicht weiter (vgl. IV 1, 355, einleitende Erläuterung zu Nr. 5). Vgl. auch Monika Meier, Tödliche Krankheiten und »eingebildete« Leiden. »Hypochondrie« und »Schwindsucht« im Briefwechsel zwischen Jean Paul und Johann Bernhard Hermann, mit Ausblicken auf Literatur und Ästhetik Jean Pauls. In: Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum, hg. von Martin Dinges, Stuttgart 2007, S. 167–183.
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auf den der Freund antwortet. Die Einfügung in Klammern aber zertrümmert mit ihrem angefügten Hohngelächter, dessen Richtung unklar ist (bezieht sie sich zurück auf den Schreiber oder richtet sie sich an den Adressaten?) alle Argumente, die Richter auf vielen Seiten des Gegenbriefs mit großem briefstellerischem Aufwand zusammengetragen hat. Nicht einmal »den Namen dieser Sache«, den der Apothekerlehre, die Hermann beginnen will, hat Richter aufs Papier zu bringen vermocht, und als finales Argument hat er formuliert: »Sie verlassen Ihre Freunde, um [denen], die Ihnen befelen, zu gehorchen, und für die süssen Bande der Freundschaft wälen Sie das Joch eines Hern.« (III 1, 35,12–13 und S. 36,18–20, Nr. 19, Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift). Ebenso knapp und radikal wie die Replik auf Richters die Berufslaufbahn betreffenden Argumente fällt auch diejenige auf dessen Hinweis aus, als Apotheker werde Hermann seinen Platz im Freundschaftsnetzwerk aufs Spiel setzen. Hermann kontrasigniert nämlich seinen Brief, indem er Richters Verdikt in Form einer Zeichnung konterkariert: ein ungleichseitiges Dreieck unter dem Brief bringt möglicherweise Hermanns Wunsch zum Ausdruck, in die Beziehung Richters und Oerthels einbezogen zu werden,61 vielleicht aber auch gerade umgekehrt, sein Außerhalbstehen. Hermann spricht also das aus, was Richter nicht aussprechen will oder was er nicht auszusprechen vermag (zum Beispiel das Wort »Apotheckers Junge«); das aber, was Richter wortreich beschwört, das empfindsame Freundschaftsnetz, bleibt bei Hermann unausgesprochen, bleibt bildlich, vieldeutig und interpretationsoffen. Richter gelingt es zunächst nicht, dieser Form des offen konfrontativen Wort- und Zeichenwechsels einen Habitus entgegenzusetzen, der seinen briefstellerischen Konventionen und Wünschen Rechnung trägt. Hermanns Brief bleibt unbeantwortet. Nach Richters Rückkehr aus Leipzig nach Hof wird der Briefwechsel mit Hermann 1785 revitalisiert. Richter benötigt den Freund nun als Verbindungsmann zu den Leipziger Buchhändlern und Verlegern, zugleich aber auch als Zeugen einer Neubewertung des Leib/Seele-Verhältnisses, mit dem er sich zu dieser Zeit beschäftigt:62 »Ich mache von den 2 Theilen, woraus Sie bestehen, von Ihrer Sele und Ihrem Leibe gar zu vielen Gebrauch«, so 61
62
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Diese Auflösung schlägt, unter Verweis auf eine Stelle aus dem Briefwechsel Hermanns mit Albrecht Otto, der Kommentar der HKA vor, vgl. IV 1, 357, Erläuterung zur Zeichnung nach Z. 5. Nach wie vor grundlegend: Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren und ihre Modellgeschichte, Freiburg 1975; vgl. Götz Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, Tübingen 1983, S. 17–58, Werner Gerabeck, Naturphilosophie und Dichtung bei Jean Paul. Das Problem des Commercium mentis et corporis, Stuttgart 1988, insbes. S. 163–188, sowie Maximilian Bergengruen, Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie, Hamburg 2003, S. 9–38.
schreibt er am 7. oder 8. April 1785 nach Leipzig (III 1, 159,9–10, Nr. 98, Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift). Hermanns Briefe aus Leipzig sind auch als Zeugnisse einer hypochondrischen Krankheitsgeschichte von Interesse,63 für den vorliegenden Zusammenhang aber vor allem durch ihre Intransigenz, mit der darin Körperlichkeit* und Sexualität* thematisiert werden. Eine unmittelbare und auf das Verhältnis der Schreibenden selbst bezogene Aussprache über Sexualität findet in keinem der überlieferten Liebesbriefe von und an Richter und des epistolaren Kreises, zu dem er gehört, statt. Ob dies daran liegt, dass Briefe mit sexuellem Inhalt aus Gründen der Diskretion zu Lebzeiten oder nachträglich vernichtet wurden, muss Spekulation bleiben, die im Einzelfall auf der Grundlage von Indizien zu reflektieren wäre. Für den sozialen Raum der Literatur in der Zeit um 1800 jedenfalls spiegelt dieser Befund nicht die Ausnahme sondern die Regel.64 Aber wenn sich auch die Literaturgeschichte mit dem methodisch gut begründeten Argument trösten kann, dass es für das Verständnis der Werke Goethes, Hölderlins, Kleists und anderer nicht relevant ist, in welcher Form Sexualität ihr schriftstellerisches Leben begleitete, grundierte oder kontrapunktierte, so kann dieses Argument doch für die Erforschung von Liebesbriefkulturen nicht gelten. Dass für die Erforschung einer in den Briefquellen mitgeteilten Erfahrung der Liebe und der Formen ihres Ausdrucks die Modalitäten der Erfahrung von Sexualität relevant sind, kann schwerlich bestritten werden. Ein zentraler Aspekt aller Erforschung von Liebesbriefkulturen, die wechselseitige sprachliche Beeinflussung am Leitfaden nicht nur theoretischer Diskurse sondern auch der Körper, wird im Wesentlichen nach der Maßgabe der realen körperlichen Erfahrungen modelliert, unbesehen der Tatsache, dass auch diese Erfahrungen stets imaginär überformt werden können bis hin zur Simulation. Sehr viel direkter als in den überlieferten Liebeskorrespondenzen wird Sexualität in Freundschaftsbriefen des Kreises, in den Richter eingebunden ist, angesprochen. Auch in diesen Fällen kann es unklar bleiben, in welchem Verhältnis die Brieftexte reale und imaginäre Erfahrungen spiegeln. Was sich aber in diesen Korrespondenzen sehr deutlich erkennen lässt, sind unterschiedliche Grade der Direktheit des Sprechens über sexuelle Erfahrungen. Spezifisches Merkmal des Briefgesprächs über Aspekte der Sexualität scheint ein Widerstand gegen die Angleichung der unterschiedlichen Umgangs- und Ausdrucksweisen zu sein, der sehr viel prägnanter zu beobachten ist als in Diskursen über Kunst, Politik oder Alltagsleben. Ausgehend von dieser Beobachtung können dann auch die subtileren Differenzen analysiert werden, 63 64
Vgl. hierzu Meier, Tödliche Krankheiten und »eingebildete« Leiden. Vgl. Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 129–130.
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die sich in den durchgängig verschleierten Gesprächen über Sexualität in den Liebeskorrespondenzen wiederfinden lassen. Am 7. Mai 1788 schreibt Hermann aus Erlangen, wo er inzwischen Medizin studiert, nach Hof. Im ersten Absatz des Briefes betont er, nur eine einzige Sache habe ihn zur Niederschrift des Briefes veranlaßt: dass nämlich Richter fälschlicherweise behauptet habe, er, Hermann habe nur einen statt der gewünschten drei Bände von Hallers Physiologie (Elementa physiologiae corporis humani, 1757–1766, deutsch 1759–1776) in Hof für ihn hinterlegt. Die weitschweifige Erklärung Hermanns läuft auf die Aufforderung hinaus, Richter möge sich die versprochenen Bücher nunmehr schnell abholen und so bald als möglich wieder zurückgeben. Den dritten Band der Hallerschen Physiologie mit dem Titel Das Atemholen. Die Stimme (Berlin: Voß 1766) erhält er dann auch von Richter alsbald zugesandt. Dass aber im Zentrum von Hermanns physiologischen Interessen nicht diese Stimm- und Atem-Abteilung stand, hat sich Richter aus dem folgenden Absatz des Briefes erschlossen, so dass sein Kommentar zur Übersendung des Bandes, mit dem er seinen Antwortbrief eröffnete, zugleich als Kommentar zur Lektüre des Freundes-Briefes zu lesen ist: »Aus übertriebner Liebe für deine Disputazion send’ ich den Theil vom Athem, den ich so eilig durchflog, daß ich im eigentlichen Sin kaum den meinigen mehr ziehen konte« (III 1, 241,3–5, Nr. 220 vom 20.5.1788, Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift). Hermann hatte nämlich im Anschluss an seine Bitte um Zusendung des Bandes geschrieben: Von Erlanger Neuigkeiten weiß ich dir weiter gar nichts zu schreiben aber von Hermännischen, sollst du statt vieler eine einzige u. sehr wichtige erfahren. – Ihr alle 9 Musen, u. ihr das Dutzend gar voll machenden 3 Grazien helft mir, wie ich meinem zärtlichen Freunde eine der merkwürdigsten Begebenheiten auf die rührendste u. empfindungsvolleste Weise erzähle!! — 65
Hermann setzt also die unterschiedliche Redeweise über Sexualität voraus und gibt mit dem überlangen Gedankenstrich dem »zärtlichen Freunde« erneut Gelegenheit zum Atemholen: Du weist, daß ich noch so rein u. unschuldig, als ein Kind von 2 Monathen bin, NB. in Ansehung des weiblichen Geschlechts; nun wirst du wohl denken, daß ich es jezt nicht mehr bin, daß ich vielleicht die saftigsten Süssigkeiten des irdischen Vergnügens gekostet habe? Nein, keinesweges! Ich bin noch immer unwissender Mensch, für den du dich selbst auszugeben pflegst, u. der du es auch vielleicht wirklich bist, welchen Irthum mir ausserdem der Himmel verzeihen wolle. Oder glaubst du etwan, ich werde einen Schatz gefunden haben, der mir eine unversiegliche Quelle ist? – Auch nicht! Kurze merke dir den Tag, da ich das erstemal das Vergnügen hatte, es war Dienstag, den 6 May, Abends zwischen 4 u 5 Uhr, als ich, sagte ich, zum erstenmal meinen rechten Zeigefinger in eine lebendige Votze stekte. – Ja du hättest mich sehen sollte, wie mir hiebey zu Muthe war, wie ich es gerne für Schaam u. aus einer gewissen Art von Eckel noch länger aufgeschoben hätte, aber ich dürfte mich es vor den COMMILI65
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IV 1, 99,28–33, Nr. 76; Textgrundlage: Originalhandschrift.
TONEN nicht einmal merken lassen, daß ich ganz unwissend hierinnen wäre, u. was halfs mit feuerrothem Gesicht wagte ichs, u. es gelang mir, besser als ich gewünscht haben würde, wenn mir so viel Zeit dazu übrig gelassen worden wäre. Wie wird mirs gehen, wenn ich einmal bey meiner Frau mit dem eilften Finger TOUCHIREN soll. – Wenn auf eben die Art schäckerhaftes Lachen, u. die schaamvolleste Ernsthaftigkeit auf eine noch nie empfundene u. geglaubte Art verbunden ist, so komt der dumste Junge von der Welt auf die Welt. – Die Sache verhält sich ernstlich so; ich gieng zu Rudolph fragte ihn, ob ich seinen nunmehro zu Ende gehenden Vorlesungen über die Hebammenkunst mit beywohnen könte. »Ja! aber sie werden nur noch etliche Wochen dauern, indessen, wenn Sie mit beym Praktischen seyn wollen, wozu erst gestern die Person 1 f. zusammengelegt hat, so würd es mir ein Vergnügen seyn, Ihnen in etwas dienen zu können.« – Ich zahlte meinen Gulden, gieng gleich ins AUDITORIUM, nach 1/2 Stunde kam eine Hure, sie stellte sich hin, u. nachdem Rudolph zuerst TOUCHIRT hatte, grif 1r um den andern hinan, oder vielmehr hinein. – So bald diese niederkömt, werde ich einen Zuschauer abgeben, u. dies kostet 2 f. Will ich einmal selbst eine Geburt machen, so kostets 7 f. u. die Bezahlung der Arzneyen, welche die Wöchnerin etwan braucht. – So theuer dieses Institut zu seyn scheint, so wohlfeil, u. noch weit mehr erwünschenswerth ist es. – Ohngefehr eben so ist das CLINISCHE Institut beschaffen.66
Auf der inhatlichen wie auf der textkritischen Ebene gibt es keine Uneindeutigkeiten in dieser Passage (die Schrift zeigt keine Abweichungen vom normalen Duktus), Kommentierungsbedarf besteht vor allem im Zusammenhang mit den medizinhistorischen und den regional-wissenschaftshistorischen Aspekten, nicht aber im Kontext der spezifischen Fragestellung der Liebesbriefkultur. Anders liegen die Verhältnisse jedoch in Richters Antwortbrief. Seine Überleitung von der bereits zitierten, die Bücherrückgabe betreffenden Stelle zur Antwort auf Hermanns Konfession lautet: »Die übrigen Theile [der Hallerschen Physiologie, Anm. J.P.] wirst du hoff’ ich unter Jahr und Tag (du müstest denn eher nach Hof zurükkehren) nicht zu sehen bekommen, weil ich dir einige Briefe abzuknikern vorhabe: ich erzürne dich um dich zu lesen, wie man den Affen auf dem Kokosbaum tol macht, damit er mit Kokosnüssen um sich werfe« (III 1, 241,5–9, Nr. 220; Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift). Der sich daran anschließende Zeilenumbruch in der Briefabschrift betont dann eher den Zusammenhang zwischen der provokativen Bitte um weitere Mitteilungen und dem Kommentar zu Hermanns Konfession als dass er ihn verdeckt: Das angenehme und schweinische Sediment in deinem Briefe schreib’ ich blos einem Nerven vom 5 Paare zu, der die Lippen und die Geschlechtsglieder zusammenkettet; es ist nicht deine Schuld, wenn die Bewegungen der leztern über die der erstern gebieten und der Datum rechtfertigt soviel, daß ich mich sehr wundern würde, wenn die Worte nicht der Anfang wären, sondern der Beschlus. Die Gelegenheit hat hinten keine Haare: du wirst sie vorn fassen und lieber deine eignen aufopfern.67
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IV 1, 99,33–101,3 Nr. 76, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift. III 1, 241,10–17, Nr. 220, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift.
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Der Kommentierungsbedarf hier ist offenkundig hoch, nahezu jede Phrase ist mehrfach codiert, bezieht sich zugleich auf Hermanns Brief, Hallers Physiologie, die Emblematik von Kairos/Occasio, worin die Gelegenheit als Jüngling mit Haarschopf an der Stirn und kahlem Hinterkopf personifiziert wird, und ist dabei durchgängig ein Kommentar zum Wagnis der unverblümten Rede, zu der sich Richter in vergleichbarer Art und Weise weder in seinen Werken noch in seinen Briefen jemals durchringen kann. Vier Jahre vor Erscheinen seines ersten Romans antizipiert Richter an dieser Stelle bereits den verdeckten Sexualstil seiner künftigen Werke: »ich bin des Teufels«, so fährt er fort, »wenn ich nicht einmal deinen ganzen Karakter in einen Roman pflanze: aber bringe mir bei, wie ich dem Leser die Wahrscheinlichkeit deiner Zotenmanie beibringe? Es wird jeder sagen, ich soutenirte den Karakter zu schlecht und zwänge die un[gleich]artigsten Züge zusammen […] Ich wil nicht mehr v o n sondern w i e Weiber reden.«III 1, 241,18–23)68 Die weiteren Abschnitte des Briefes formulieren dann nichts weniger als einen psychagogischen Lebensplan für den Freund, gleichsam Prolegomena des angekündigten Romans, kulminierend in einer Passage, die zuletzt Körperlichkeit und Geistigkeit noch einmal zusammenführt: Las dir von deinen Bedürfnissen nie die Elastizität der Seele stehlen; denn wenn du einmal Herman bist, so wirst du dich ärgern, daß du einmal ein Anti- oder Pseudoherman gewesen, wiewol nie gegen deinen Freund. – Verzeihe mir die 4 Hände und ich vergebe dir den 11 Finger und den vorhergehenden Handschuh.69
Mit den » Hände[n]« meinte Richter wahrscheinlich gezeichnete Hände am Rand des nur im Briefkopierbuch überlieferten Briefes, die im Zusammenhang mit den die Sexualität berührenden Diskursen stehen. Hermann nimmt diese Zeichensprache in seinem langen Antwortbrief vom 10. Juli auf und markiert seinerseits den Brief mit gezeichneten Händen (IV 1, 105,27, Nr. 78). Zugleich kehrt er den Spieß um und wirft nun seinerseits Richter Mehrdeutigkeit vor: Sag mir nur, was du in aller Welt für ein garstiger Mensch bist, daß du mir von einer G… schreibst, die hinten keine Haare hätte, und die ich dahero – pfui! fast schäme ichs michs zu sagen. – vorne – bey den – Haaren anfassen sollte. Jedoch ich will von nun an aufhören von solchen unflätigen Sachen zu schreiben, denn sonst möchtest du glauben, ich thäte mir auf eine Zotenmanie etwas zu gute, die du so lobens- und fast möchte ich auch hoffen, so liebens- würdig an mir gefunden hast, denn – du willst ja einen Roman davon schreiben. […] Nur eine Entschuldigung wirst du mir noch erlauben, die meiner vorigen garstigen Aufführung, die mir jezt selbst misfällt, eine Verzeihung bewirken soll. 1) war mir die TOUCHIR-Sache in der Verbindung, u. Lage, wie 68
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Bei der Textergänzung »[gleich]« handelt es sich um eine spekulative Konjektur Berends, die gerade in der Perspektive der Liebesbriefkultur problematisch erscheint und als Form einer spezifischen philologischen Überrepräsentation auf der Ebene der Textkritik zu bewerten ist. III 2, 242,10–15, Nr. 220.
sie mir damals vorkam, wirklich etwas auffallendes, u. ausserordentliches. Noch weit wichtiger u. e r n s t h a f t e r aber, war mir eine vor ohngefehr 6 Wochen gehabte Gelegenheit, da ich einem ACCOUCHEMENT blos beywohnte. Die Schmerzen, die gewöhnlich jammernden Schmerzen der reuigen Hure bewegten mich beynahe zu ausbrechenden Thränen, und der zur Welt angelangte Mensch erhielt in mir den ganzen Tag eine fixe Idee, welche mich beym unwiderleglichsten Atheismus gezwungen haben würde, eine Gottheit – fast möchte ich lieber sagen: zu sehen, als zu glauben. – 2) […] war die Absicht meiner damaligen, bis auf das Umwenden des ersten Blattes in meinem Briefe versparten Zote diese, dich einmal in die Lage zu versetzen, in der du mir so wohl gefielst, wenn du bisweilen meinetwegen die Hände über den Kopf zusammenschlugst. u. diesen Enthusiasmus scheinst du jezt dadurch mir merken gelassen zu haben, indem du mir in deinem Briefe 4 Hände hinmaltest, deren Existenz ich, ihres erbärmlichen Aussehens ohnerachtet, das vielleicht vom Ackerbau herkomt, mir schlechterdings nicht anders erklären kan. —70
Hermann rekonstruiert also zum einen seine Strategie im ersten Brief als eine quasi-literarische (das Hinauszögern des springenden Punktes über den Seitenwechsel hinaus), – eine Strategie, der ganz offenkundig gleichwohl eine sprachlos-erotische Dynamik korrespondiert. Zugleich relativiert er dieses Verfahren in Hinblick auf das von Richter angesprochene Romanprojekt: die sexuelle Motivation wird in eine real-literarisch bzw. real-moralische Motivation unter empfindsamen Vorzeichen umgebrochen. An kaum einer Stelle wird der Gangunterschied zwischen Liebesbriefkultur (im weiteren Sinne) und literarischer Kultur so deutlich wie hier, selten aber auch die Pionierrolle der ersteren so offenkundig, die den Boden für literarische Texte wohl ebensooft ebnet wie sie ihn beschreitet. Dass Richters Romanversuch über das Leben Hermanns dann zuletzt doch scheitert beziehungsweise leztendlich konventionellere Bahn nimmt, als er auf der Grundlage der epistolären Verwegenheit des Jugendfreundes hätte nehmen können, steht auf einem anderen Blatt.71 Und offen muss auch bleiben, wie sich jene Liebesbrief-Separatkultur entwickelt hätte, die um 1790 in und um Hof unter dem von Richter stammenden Signalwort »Simultanliebe« gelebt und/oder konstruiert wird, wenn Johann Bernhard Hermann in sie noch hätte mit einbezogen werden können. ROLLE VON MITTLERPERSONEN II: INSTANZEN − In einem seiner letzten Briefe an Richter fordert Hermann die Einhaltung einer epistolaren Geheimhaltung von dem Freund: Dir werden ohne Zweifel meine Vermögensumstände räthselhaft vorkommen, u. diese sind es auch wahrhaftig. Ich würde dir gerne recht sehr weitläuftig schreiben, was mich bis jezt u noch auf einige Zeit bey Kräften erhält, allein auf deiner Seite wirst du dir nichts daraus machen, u. auf der meinigen bin ich über das sorgfältige Aufbewahren meiner schon an dich geschikten Briefe etwas unruhig, weil der Herr SENATOR 70 71
IV 1, 104,9–105,6, Nr. 78. Vgl. Eduard Berend, Eine Geistergeschichte von Jean Paul. Drei Romankapitel aus seinem Nachlaß. In: Jean-Paul-Jahrbuch, Bd. 1, Berlin 1925 [mehr nicht erschienen], S. 155–183.
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Herold meinem Vater Umstände von meiner Bekantwerdung mit Feder gesagt, die ich keinem, als dir geschrieben haben konte. ob es mir gleich lieb war, weil es mir viel Ehre bringt. Allein FIDE, SED CUI VIDE.72
Die Weiterverbreitung vertraulicher Mitteilungen, die Hermann dem Freund hier vorwirft, verweist auf eine Ende der 1780er und Anfang der 1790er Jahre sich anbahnende Neuverteilung der Mittelspersonen-Rollen in Richters Umfeld, worin die Familie des in Hermanns Brief genannten Senators Herold eine zentrale Rolle spielt. Diese Neuverteilung verläuft zeitgleich mit einer entscheidenden literarischen Neuorientierung Richters, die in der Erfindung des Pseudonyms Jean Paul ihren konzentrierten symbolischen Ausdruck findet. Berücksichtigt man die integralen Briefwechsel dieser Zeit, also sowohl die Von- als auch die An- und die Kontext-Briefe, dann wird man diese Erfindung freilich nicht mehr als Voraussetzung sondern als Merkmal einer neuen Gestalt des intimen Kommunizierens begreifen. Monika Meier hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Neuformierung »als ein vielschichtiger und zahlreiche Lebensdimensionen umfassender Prozeß« zu begreifen ist, »in den Freundinnen, Freunde und Bekannte des Autors [im Briefwechsel] einbezogen und an dem sie aktiv beteiligt waren.«73 Zu den gelehrten Unterhaltungen und philosophischen Diskursen mit aufgeklärten Pfarrern und Lehrern tritt nun das empfindsam-vertraute Gespräch mit Freundinnen aus der Stadt Hof, verbunden mit dem Besuch von Tanzveranstaltungen und Konzerten. Preisfrage an die erotische Akademie, wie weit darf die Freundschaft gegen das weibliche Geschlecht gehen? lautet die Überschrift zu einer der Schriften Richters aus dieser Zeit, die zuvor im Tagebuch, das er nun zu führen beginnt, angedacht wird. In der Jean-Paul-Literatur wird häufig der gesamte gesellige Kontext dieser Zeit als die »erotische Akademie« bezeichnet.74 Eine solche Übertragung des Begriffs vom publizistischen auf den lebensweltlichen Kontext setzt sich aber der beschriebenen Gefahr aus, die Entstehungsbedingungen vorab in Hinblick auf »Jean Pauls« Autorschaft festzuschreiben. Die Sache, die so bezeichnet wird, weicht aber in zweierlei Hinsicht von der Tendenz ab, die mit der Bezeichnung vorgegeben wird: zum einen entwickelt sie sich – zeitlich – noch bevor die Benennung dafür gefunden wird; zum anderen ist es der Name den ein Beteiligter dem Phänomen gibt, an dem aber ein ganzes Netzwerk beteiligt ist, dessen Teilnehmer je individuelle Ansprüche an das Netzwerk haben, das sie dementsprechend unterschiedlich charakterisieren.
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IV 1, 185,24–33, Nr. 100 vom 20. bis 23.(?)10.1789, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift. Monika Meier, »Da der erste Theil Ihres Briefs so war wie Ihr Abschied, (doch Sie nahmen gar keinen) …«. Briefe an Jean Paul 1781–1797. In: JbJPG 39, 2004, S. 17– 26, hier S. 18. Vgl. exemplarisch Uwe Schweikert, Jean Paul, Stuttgart 1970, S. 30.
Nicht anders verhält es sich mit der Prägung einer »Simultan- oder Tuttiliebe« als Bezeichnung für die vor allem im Medium des Briefes dokumentierten und realisierten Ereignisse dieser Zeit; auch diese Formel stammt von Richter, der später explizit das publizistische Urheberrecht dafür reklamieren wird: im elften »Hundsposttag« seines Erfolgsromans Hesperus oder 45 Hundsposttage.75 Dementsprechend fragwürdig ist es, sie zur initialen Schlüsselformel für das liebesbriefhistorisch zu beschreibende Phänomen zu machen. Im Prozess des Sich-Ereignens ist das, was Richter später als Simultanliebe bezeichnet, gerade kein Akt, welcher der Sphäre des Originalitätsanspruchs unterstellt ist, sondern allenfalls derjenigen eines von postalischen Bedingungen und gesellschaftlichen Normen reglementierten Briefverkehrs.76 An der Formation des um 1790 sich bildenden geselligen Netzwerks sind eine Reihe von Personen beiderlei Geschlechts beteiligt, im Kern handelt es sich dabei um Mitglieder der Hofer Familien Otto, Herold, Wirth und Köhler sowie um »Jean Paul« Richter, dessen Mutter und Brüder im Unterschied zu den Eltern und Geschwistern der anderen Familien kaum an der sich ausbildenden Ereignis-, Brief- und Liebesbriefkultur partizipieren. Dies dürfte soziale Gründe gehabt haben: Im Unterschied zur Familie Richter handelt es sich zumindest bei den Familien mit Töchtern um Familien höheren Ranges, um Würdenträger, Amts- und Handelspersonen: Der pater familias im Hause Wirth ist Reichspostmeister, derjenige im Hause Herold Fabrikant, Vater Köhler ist Bürgermeister. Die Töchter Renate Wirth, Amöne Herold und Helene Köhler, von denen im Folgenden die Rede sein wird, sind also Töchter aus höheren Häusern. Philologisch fast ebenso problematisch wie eine Zentrierung des Korrespondenzzirkels auf den Stichwortgeber »Jean Paul« hin ist eine isolierende Betrachtung einzelner Korrespondenzfolgen. In einer sukzessiven, analytischen Darstellung lässt sich ein solch sezierendes Vorgehen jedoch nicht ganz umgehen. Gleichsam als ›Modellfamilie‹ soll zunächst diejenige des Kaiserlichen Reichspostmeisters in Hof Johann Gottlieb Joachim Wirth (1741–1807) betrachtet werden. In dritter Ehe ist Wirth seit 1773 mit Dorothea Friederika Wirth geb. Seidel (1743–1808) verheiratet. Von den sieben Kindern des Paares spielt die älteste Tochter, Sophia R e n a t e Euphrosyna Wirth (1775– 1848), die prominenteste, aber nicht die exklusive Rolle im Briefzirkel. Das erste Auftreten der Familie im Briefkreis steht im Zeichen des Ausschlusses: In einem Brief an Hermann vom 16. Mai 1786 schreibt Richter: »Der Himmel […] weis, wie sehr ich wünsche, Sie wären in ganz Hof verliebt und übermachten die Briefe [J.B. Hermanns, Anm. J.P.] aus Mistrauen in den Postmeister an mich« (III 1, 210,31–33, Nr. 170, Textgrundlage des Drucks: 75 76
Vgl. Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie von Jean Paul. Erstes Heftlein, Berlin: Matzdorff’sche Buchhandlung 1795, S. 275, vgl. I 3, 250. Vgl. hierzu meinen Aufsatz ›Simultanliebe‹ in ›Schäfersekunden‹.
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eigenhändige Abschrift). Das amouröse Amt – die Verteilung von Liebesbotschaften – und das kaiserliche Postamt erscheinen als antagonistische Instanzen, zwischen denen das Misstrauen lauert. Die Auslieferung aber ist an eine Vertrauensperson gebunden. Wie aus dem zuvor zitierten Brief Hermanns vom Oktober 1789 hervorgeht, klagt dieser später Richter an, genau dieses Vertrauensverhältnis gebrochen zu haben, zwar nicht gegenüber dem Reichspostmeister, dafür aber gegenüber dem Senator Herold.77 Der erste überlieferte Brief, der die Familie Wirth in den Korrespondenzkreis einbindet, ist ein Schreiben Richters an Gottlieb Joachim Wirth vom Spätherbst 1789. Der Empfänger des Briefes ist zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt. Gesellschaftlich und beruflich ist er eine angesehene Persönlichkeit. In dritter Ehe verheiratet, ist seine Rolle im sozial-biographischen Lebenszyklus bereits diejenige eines Mannes, der seine Töchter verheiratet: Im Frühjahr hat eine Tochter aus erster Ehe, Rosina Henrietta Wirth (1765–1841), den Arzt Peter Gottfried Joerdens in Hof geheiratet. Richter hat wahrscheinlich an der Feier teilgenommen, in einem Brief an Hermann nimmt er auf das Ereignis mit der Bemerkung Bezug, Joerdens – der Name wird im Originalbrief nicht genannt – sei nun »der Sultan der Sultanin« geworden (III 1, 271,2, Nr. 281, Briefteil vom 28.4.1789). Welche Eigenschaften des Arztes Richter zu der orientalischen Assoziation angeregt haben mögen, ist nicht bekannt, aber offensichtlich hat die Literarisierung des Ereignisses auch die Funktion, den sozialen Abstand im Rahmen der wechselseitigen sozialen Akzeptanz* zu überbrücken. Diesen Abstand muss man auch voraussetzen, wenn man versucht, sich Wirth als Empfänger des Richter’schen Briefes zu vergegenwärtigen: In dem Schreiben wendet sich Richter aus der Notlage seiner Familie heraus an Wirth, und der Absender investiert dabei weniger sein (publizistisch noch kaum errungenes) schriftstellerisches Kapital, um den Mangel an familiärem Kapital zu kompensieren; was er vielmehr in die Waagschale legt, ist die Tatsache, dass er der Klavierlehrer der zu diesem Zeitpunkt 15jährigen Tochter Renate ist. Der Verzicht auf briefstellerische Förmlichkeit, den sich Richter gegenüber der Amtsperson erlaubt, überrascht den heutigen Leser des Briefes: Da ich die Wahl habe zu erfrieren oder zu schreiben: so thu’ ich das leztere. Wir verschoben den Holzeinkauf bis heute und müssen ihn weitere 8 Tage verschieben, aber unter der Zeit können ich und meine Klavierspiel Finger ausgewintert sein. Es wäre für uns Höfer gut, wenn wir etwas von der Feuerung, die wir in der Hölle zu stark haben werden, in unsere Öfen bei Lebzeiten bekommen könten. – Der Holzwagen ist ein Kaperschif unsres Geldes.78
Was der Reichspostmeister nicht wissen kann: Wenige Tage zuvor hat Richter auch an Hermann geschrieben und ist dabei auf dessen Vorwürfe, seinen 77 78
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Vgl. den Brief vom 20. bis 23.(?)10.1789, IV 1, Nr. 100. III 1, 279, Nr. 295, Textgrundlage: eigenhändige Abschrift.
Verstoß gegen die Geheimhaltung betreffend, eingegangen: »auf wie viele Dinge Du das Beichtsiegel aufdrükst […] Deine Sonnenfinsternisse sollen in Hof unsichtbar bleiben; begehrst du auch Verhehlung deiner Mittagshöhe: so befiehl es« (III 1, 278,19–22, Nr. 292 vom 18.11.1789, Textgrundlage des Druckes: eigenhändige Abschrift). Die Vorbehalte des Freundes gleichsam unterwandernd, schreibt Richter aber auch: »ich schlug bei Wirth eine Professur aus und verschiebe den Antrit der schwarzenbacher; ich hospitire bei ihm … Ich wolte, er bräche diesen Brief auf: so säh’ er, daß ich hinter seinem Rücken es schreibe, daß ich mit dem Sinnen-Pentateuch geniesse« (III 1, 278,12–16). Hermann indes repliziert Richters Bild erneut mit einer auf Sexualität anspielenden Umdeutung des Bildes und seiner auf Klandestinität anspielenden Assoziationen. Seinen Antwortbrief beschließt er mit den Worten: »Lebe wohl mit deinen 5 Sinnen u. dem sechsten wolle bey so vielen Gefahren kein Leid widerfahren | Amen!« (IV 1, 191,37–192,3, Nr. 101, Textgrundlage des Druckes: Originalhandschrift) Der mit dem Geschlechtstrieb identifizierte »sechste« Sinn79 wird nun aber in den Korrespondenzen, die in der Folgezeit im Hofer Freundeskreis umlaufen, weitgehend tabuisiert oder zumindest umgeformt. Gerade als Klavierlehrer der Tochter Renate – daher die Formel des drohenden ›Auswinterns‹ der Klavierfinger im Bittschreiben an Wirth – muss Richter diese notorische Assoziation vermeiden, gegebenenfalls durch Sakralisierung der »unschuldigen« Sinne zum »Sinnen-Pentateuch«, womit er gegen die Hermanns Briefschlussformel »Amen« frontal Stellung bezieht. Die kommunikative Öffnung setzt also zugleich briefstellerischmoralische Restriktionen voraus, die offene Formen von Verführungsstrategien* ausschließen. Dem Diskurs der Sexualität entzogen, ist die Verflechtung des brieflichen Liebesgesprächs mit anderen Diskursen* in den Jahren nach der Französischen Revolution im provinziellen Abseits desto enger. Konsequent werden dabei universalpolitische Fragen in den regionalen Maßstab übertragen: die Stadt Hof und ihre ländliche Umgebung werden zu einer Art geschlossenem briefstellerischem Experimentalraum, worin die sozialen Verhältnisse suspendiert werden können im Namen von Freundschaft und Liebe. Spielräume der Phantasie bleiben dabei gleichwohl gewahrt, so dass – wie im Beispiel des Briefes an Postmeister Wirth – das fränkische Vogtland dann doch auch am Meer liegen und der Holzwagen als Kaperschiff kursieren kann. Selbst die Assoziation an Freibeuterei und politische Abenteuer sind offenbar immer noch zulässiger als erotische Freizügigkeit. Dass Richter seine Bitte um Heizkostenhilfe an Wirth richten kann, obwohl er zuvor das sicherlich auch wohltätig gemeinte Angebot abgelehnt hat, als Hauslehrer in dessen Haus tätig zu werden, deutet den Spielraum an sozia79
Vgl. IV 1, 585, Erläuterung zu S. 191,37–192,2 mit Verweis auf DWB 16, Sp. 1145– 1146.
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ler Freiheit an, wie er durch den artistischen Habitus (am Klavier und am Schreibtisch) gewährt wird. Zur Überbrückung der ökonomischen Notsituation nimmt Richter dennoch im März 1790 eine Stelle als Lehrer von Honoratiorenkindern aus Pfarr- und Kaufmannsfamilien in Schwarzenbach an der Saale unweit von Hof an. Aus dieser zugleich sicheren und doch überbrückbaren Entfernung nimmt er nun einen scheinbar interessenfreien regelmäßigen Briefverkehr mit der Familie Wirth auf. Den Auftakt bildet ein Schreiben an die Mutter seiner Klavierschülerin, an die Postmeisterin Friederike Wirth. Richter beginnt das Schreiben erneut in strikter briefstellerischer Observanz: »HochEdelgeborene, Hochgeehrteste Frau Postmeisterin«, so lautet die Titulatur. Doch bereits der erste Satz des Briefes erhebt im Kontrast dazu eine ›schlechte‹ briefstellerische Manier zum Leitbild: »Sie wollen, ich sol aus einem schlechten Propheten ein schlechter Dichter werden. Ich wil aber lieber ein schlechter Briefsteller werden und Ihnen stat der Verse Träume liefern« (III 1, 283,18–22, Nr. 308, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift). Der nun folgende lange »Traum« im Brief reagiert offenbar auf eine zuvor abgeschlossene Wette, die Richters oftmals fehlschlagende Versuche, das Wetter zu prophezeihen, zur Grundlage gehabt zu haben scheint. Richter hat offenbar die Wette verloren und schuldet der Postmeisterin nun »Verse«. Um seine Schuld zu begleichen, greift er zum Mittel der Traumerzählung, die ihm erlaubt, in der ihm geläufigen Prosaform zu bleiben, dabei aber dennoch weitergehende Lizenzen des Ausdrucks in Anspruch zu nehmen als die gewöhnliche Briefprosa einräumt. Im Traum, so gesteht er, habe er die Postmeisterin wissentlich hintergangen, indem er die ihm aufgetragenen Verse von einem andern habe machen lassen. Diesem anderen wiederum trägt er selbst, das heißt sein Traum-Ich, die zu versifizierenden Inhalte auf. Diese Inhalte lassen die Gefühlswelten des Absenders und der Empfängerin ineinander übergehen. So soll – erstens – im Gedicht der beiden großen, erschütternden Verluste gedacht werden, die unabhängig voneinander Sender und Empfängerin im Vormonat erlitten haben: auf Richters Seite ist dies der Tod Johann Bernhard Hermanns, auf Friederike Wirths Seite der Tod eines achtjährigen Kindes. Punkt zwei bezieht sich auf eine bevorstehende Reise Friederike Wirths und ihrer Tochter Renate nach Bayreuth, wobei Richter offenbar fürchtet, diese Reise könne in eine dauerhafte Entfernung seiner Klavierschülerin münden.80 Als letztes fügt er daher im Brief-»Traum« den Auftrag an den für ihn einspringenden Dichter an: »[…] flicken Sie Ihrer poetischen Epistel noch ein Postskript an die M. RENATA an, in dem Sie ihr melden, daß, wenn sie in Bayreuth singt, spricht und gefält, ich und andere es nach Hof
80
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1792 ging Renate Wirth dann tatsächlich für einige Zeit nach Bayreuth, wo sie eine Ausbildung als Putzmacherin erhielt, vgl. IV 1, 667, einleitende Erläuterung zu Nr. 134.
nicht hören können und daß man von gewissen Menschen, die 16 Jahre alt sind, lieber 16 Schritte als 16 Stunden entfernt ist.« (III 1, 285,2–7) Mit dieser Form der Einkleidung bleibt offenbar der akzeptable Abstand gewahrt: die Postmeisterin erlaubt auf dieser Basis weitere Briefe, die Renate Wirth miteinbeziehen, sofern sie selbst als Mittelsperson berücksichtigt bleibt. Der Vater als der primär Mitspracheberechtigte* wird dabei von der Mutter vertreten, die somit beide Rollen, die der Mittelsperson und der Mitspracheberechtigen in sich vereint.81 Auch in den Schreiben, die Richter nunmehr direkt an Renate Wirth richtet, konstruiert er ›uneigentliche‹ Situationen, die es ihm erlauben, die Grenzen des Schicklichen gefahrlos auszuloten und auszudehnen. So erschreibt er sich zum Beispiel im ersten Brief an sie einen fiktiven »Brief von ihr an mich«, womit ihr die Aufgabe der Initiation des Briefwechsels zugewiesen wird: Ich wette, Sie erwarten eher ein Testament von mir als einen Brief; aber Sie haben einmal mein Wort, das leichter in Hof zu geben als in Bayreuth zu halten ist. Für iede Minute, die ich Sie unterhalte, geb ich [60] Sekunden hin, wo ich unterhalten werden könte und ich unterbreche meine Vergnügungen durch mein pflichtmäßiges Schreiben so, wie die Baiern (?) mitten [in] der Freude der Komödie beim Gebetläuten niederknieen und ihr Gebet abzwirnen… Meine Vergnügungen mag ich Ihnen nicht eher schildern als bis ich sie verloren, wie man von einer geliebten Person nur bei ihrer Abreise [ein Bild?] macht und weil das Portrait .. Eben unterbrach mich eine Freundin und ihr Bruder; aber ich ertrage den leztern blos, um die erstere zu geniesen und kan dieser Aufopferung nicht überhoben sein – Ihr seid wahrhaftig alle in einer Lichtform gezogen, ihr Manspersonen – einen halben Eimer Lügen färbt ihr mit einem Tropfen Wahrheit – euer Jahr besteht aus 12 Aprilmonaten und die einzige Liebe, in der ihr beständig seid, ist die gegen euch selbst und die Beerin sagt es auch. (Auch Sie sind wie die andern insgesamt und ich glaube, ich habe gehört) Mich wunderts nur, daß ihr uns noch nicht mit diesem Fehler angestekt und daß wir unsre anererbte Aufrichtigkeit behalten. – O du geliebtes [aus beglüktes] Bayreuth, in das ich wie in einen Himmel fuhr und in dem [ich] iede Minute verschlang, aus Furcht sie fliege ungenossen vorüber – besuche mich in meinen Hofer Träumen und spiegle dich in ihnen mit deinen Gegenden und Einwohnern ab wie der Himmel im klaren Bach: gern wil ich mich überwinden und deswegen morgens eine Stunde länger das Bette hüten. Wundern Sie sich, daß ich Ihnen geschrieben. (Meine Mama schliesset diesen Brief in ihren mit ein etc.)82
Die Simulation eines ›echten‹ Briefes der Freundin ist gewagt. Nicht nur, weil ihr Richter seine eigenwillige Orthographie gleichsam ›verordnet‹. Er begibt sich auch auf eine Gratwanderung der Gefühle: zwar verwendet er – in ihrem 81
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Diese Rolle der für die Erziehung Zuständigen übernimmt sie auch in Hinblick auf die Erziehung ihrer anderen Kinder, der jüngeren Geschwister Renate Wirths, wie zwei im Zuge der Edition der Briefe an Jean Paul aufgefundene Briefeinträge in Richters Notizbuch mit Leistungs- und Aufgabenprotokollen zu seinem Unterricht belegen, vgl. IV 2, 32–33, Nr. 18 und 20 und Erläuterungen. III 1, 288–289, Nr. 317 vom 22.4.1790; Textgrundlage: Eigenhändige Abschrift im Briefkopierbuch.
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Namen – das kommunikative Schlüsselwort »Vergnügungen« nur in Hinblick auf das ›neutrale‹ Bayreuther Terrain, aber die Spekulationen über spezifisch männlichen und weiblichen Wahrheitssinn erhöhen dabei doch den Schwierigkeitsgrad, in der Simulation glaubwürdig zu bleiben. An einer Stelle der Abschrift verliert der Schreiber denn auch die Orientierung: Indem nämlich Richter zunächst »beglüktes« Bayreuth schreibt, spricht er von seinen Gefühlen, die Korrektur zu »geliebtes« Bayreuth richtet den Satz dann wieder in der imaginären Perspektive Renate Wirths aus, die ja schwerlich von sich selbst sagen könnte, die Stadt werde durch ihre Anwesenheit beglückt. Rätsel gibt dann aber der Briefschluss auf: Ist die Verwunderung, die der Briefschreiber durch die fiktive Briefschreiberin sich selbst zudiktiert, ein Imperativ oder eine Frage? Oder hat Richter beim Abschreiben eine Negation vergessen oder übersehen, da doch »Wundern Sie sich nicht« die geläufigere Formulierung ist? Die in Klammern angefügte Delegation der postalischen Verantwortung mag jedenfalls eine Präventivmaßname sein: indem der Briefverkehr weiterhin der mütterlichen Ordnung unterstellt wird, bleibt er zugleich legitimiert. Der reichspostalischen Einsicht, die zugleich eine väterliche ist, bleibt er dennoch entzogen, da er ja nur in der Fiktion die Grenzen überschreitet, in denen sich Briefe unter Umgehung des offiziellen Postweges noch übermitteln lassen. Der Brief ist ein der Empfängerin von Schwarzenbach nach Hof zugetragener, kein reichspostalisch zugestellter. Dass Renate Wirths Zögern, aus Bayreuth zu schreiben, auch mit der Scheu zu tun hatte, den Brief der Reichspost und damit der väterlichen Aufmerksamkeit zu überantworten, liegt nahe. Der Hinweis Richters auf die Möglichkeit des Einschlusses in die mütterliche Post wäre dann als ein verschwörerischer Wink zu begreifen, wie die unerwünschte väterliche Lektüre – zumindest der Adresse – umgangen werden könnte. Der nächste Brief Richters vom 31. Mai 1790 ist dann wieder an die Mutter gerichtet und pragmatisch motiviert: Richter bedauert darin, dass er Flusskrebse, die er Friederike Wirth offenbar versprochene hat, nicht hat auftreiben können und somit ein von der Adressatin gewünschtes Buch, wohl das Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben (2 Bände: Leipzig bei Georg Joachim Göschen 1788, 2. Auflage 1789), ohne entsprechende Beigabe schicken muss: »man treibt auf diesem Planeten leichter Kost für die Andacht als für den Gaumen auf. Ich werden mit Mühe zum Vergnügen gelangen, Ihnen eines zu machen« (III 1, 295,7–10, Nr. 324, Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift); zugleich drückt er seine Vorfreude auf eine baldige Begegnung mit Friederike Wirth und ihren Töchtern aus, die er offenbar für Mittwoch, den 2. Juni 1790, in Schwarzenbach erwartet. Noch am gleichen Tag antwortet die Postmeisterin. Sie nimmt dabei nicht nur Richters Themen aus dem beantworteten Brief auf (»Sorgen Sie nicht daß Sie mir nicht zehnmal mehr Vergnügen durch Ihr schönes Buch, alß durch Überschickung vieler Krebse gemacht hätten. Es giebt Fälle wo die Andacht 128
weit mehr Vergnügen alß die Kost macht, nehmen Sie also den wärmsten Danck, nebst der Versichrung solches bald ohne Schaden wieder zuzustellen von mir an«, IV 1, 202,5–9, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift), wobei sie seine Vorfreude auf ein baldiges Treffen dämpft (»Von unßerer Reiße kann ich Ihnen nichts sagen, weil ich selbst nichts davon weis«, IV 1, 202,11–12), sondern erlaubt auch der Tochter ein eigenhändiges, kurzes Postscriptum. Dieses Postskript der Tochter spricht von der ersten Person in der dritten und schreibt somit Richters qui pro quo des April-Briefs fort, dabei an dessen Schlusswendung über den vorgeblichen Einschluss in den Brief der Mutter anschließend: »Renate schliest auch ein Dutzend Empfehlungen mit bey« (IV 1, 202,25, Nr. 112). Begreift man Richters Hinweis auf die Einschlussmöglichkeit als intimverschwörerischen Wink, so erhält freilich dieser »beigeschlossene« Gruß ein sehr viel größeres Gewicht. Das »Dutzend Empfehlungen« wird damit zur klandestinen Einverständniserklärung. In einer Philologie der intimen Kommunikation ist ihm daher der Rang einer Korrespondenzstelle zuzuweisen und seine Funktion im Kommentar dementsprechend zu würdigen – durch Zitat der Korrespondenzstelle und gegebenenfalls Erläuterung.83 Da der Besuch dann doch erneut verschoben wird, wendet Richter nun auch gegenüber der Mutter die Methode der vorgreifenden Erschreibung der erwarteten beziehungsweise erhofften Wirklichkeit an. In einem nur in fragmentarischer Abschrift überlieferten Brief von Freitag, den 2. Juli 1790 erlaubt er sich die Prognose eines Arm-in-Arm-Gehens mit Renate Wirth.84 Die dergestalt imaginär Verbandelte wird dann aber sogleich von der Verantwortung des Anbandelns freigesprochen, da ihr unterstellt wird, dass sie sich aktiv davon freizumachen versucht: Ich schreibe an meiner Lebens- und Sterbensgeschichte; am Montage fahr ich so darin fort: »Den 5 Jul. [gemeint ist Sonntag, der 4. Juli, Anm. J.P.] hatt’ ich das Vergnügen, […] ich und Euphrosyne [d.i. Renate Euphrosyne Wirth] waren am andächtigsten […] [Renata] Pflükte Vergismeinnicht, um von meinem Arme loszukommen – Schlief um 3 Uhr ein, stand um 4 auf und schrieb gegenwärtiges in meine Lebensgeschichte.« Verzeihen Sie meine mänliche Schwazhaftigkeit. Ein Paar Morgenwolken dürfen Ihre Reise nicht verschieben: der Tag steht oft närrisch auf und besonders hat der Sontag sein Sonabends- und Nachtkleid bis um 12 Uhr an. Ich wünschte Otto II [gemeint ist der zweitälteste Sohn der Familie Otto, Georg Christian Otto, Anm. J.P.] ein 4tes Pläzgen in Ihrem Wagen. Ich bin mit 250 000 Empfehlungen etc.85
83 84
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Im gedruckten Kommentar der HKA ist dieser Bezug nicht repräsentiert. Vgl. hierzu die motivverwandte und dabei ähnlich komlexe Konstellation zwischen Kafka und Felice Bauer, die Friederike Fellner untersucht hat: (Nicht-)Eingehängtsein – Franz Kafkas Zeichnung seiner Verbindung zu Felice Bauer. In: Der Liebesbrief, S. 353–378. III 1, 295–296, Nr. 326.
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In ihrem Brief vom 31. Mai hatte Friederike Wirth die Verschiebung der Reise nach Schwarzenbach in den Kontext weiblicher Subordination unter männliche Pläne und somit in denjenigen traditioneller Rollenmuster* gestellt: »seit Gestern heißt es wir giengen erst Sontags. Sehen Sie ein solches armes Geschöpf ist eine Frau« (IV 1, 202,13–14). Zugleich wird ihr die Verschiebung – so wie Richter zuvor die Entfernung – zum willkommenen Schreibanlass*. Man könnte sagen, dass die wiederholt verschobene Reise Friederike Wirths und ihrer Töchter sowie – transitiv – die dahinter stehenden Weisungen des Postmeisters als des pater familias – keinen geringeren Anteil an der hier entwickelten spezifischen Konfiguration intimen Schreibens hat als Richters Kunstgriff, aus dem Verzug innovativ briefstellerisches Kapital zu schlagen. Und auch seine oft verspottete Wetter-Wahrsagerei findet, bei aller literarisierenden Einkleidung, seinen vollen Effekt erst durch die Wechselwirkung mit dem skeptischen weiblichen Widerspruch, der als unhörbarer Kontrapunkt vorausgesetzt wird. Jede falsche Wetterprognose bietet zumindest einen guten Schreibanlass*. Trotz all dieser Präliminarien, die das Briefwechseln selbst als Ereignis inszenieren, findet das anvisierte Reise-Ereignis dann doch endlich statt. Aber dies Stattfinden erhält dann in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft die in diesem Kontext fast schon notwendige briefliche Beglaubigung. In einem Schreiben an den befreundeten Lehrer Johann Konstantin F r i e d r i c h Wernlein (1765–1830) wird das Erlebte sofort reflektiert: »Ich wolte die Antwort anfangen, als meine Nachfahrer nachgerolt kamen«, so beginnt der Brief, der sich auf die aus Hof nach Schwarzenbach einrollende Reisegesellschaft Friederike Wirths und ihrer Töchter bezieht. Für die Abschrift im Briefkopierbuch wäre der Hinweis auf die Simultanität von Niederschrift und Ereignis unerheblich gewesen, käme es dem Schreiber nicht darauf gerade an: durch die Niederschrift den Augenblick nicht so sehr festzuhalten als in der Kommunikation fortzuschreiben, ihn gleichsam zu verwirklichen. »Glauben Sie nicht«, so fährt Richter fort, »daß ein armer Novizenmeister« – er meint sich selbst in seiner Rolle als Schwarzenbacher Lehrer – »darauf närrisch stolz ist, daß in seiner Stube ein Tagschmetterling, ein Dämmerungsvogel und der Naturforscher von beiden flatterten« (mit dem Naturforscher ist wohl der gemeinsame Freund Christian Otto gemeint). Das Erlebte ist dem Beschreiber bereits metaphorisch und historisch geworden: »ich weis aus Geschichte und Nachdenken«, so heißt es im Briefkopierbuch weiter, »wie kurz und klein ieder Ruhm, selbst der gröste ist und wie, indem das Ganze der Vergangenheit im Gedächtnis der Nachwelt immer aufschwilt, die Theile derselben immer mehr eindorren: solche Betrachtungen hindern einen, sich über andre Menschen und Hofmeister zu erheben, wenn ihn die Höfer besuchen« (III 1, 296,12–21, Nr. 327; Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift). Die Gäste aus Hof garantieren dem Gastgeber die Gegenwart, deren Flüchtigkeit zugleich die Egalität der Menschen sub specie aeternitatis impliziert. 130
Diese Konstellation wiederum, eigentlich an den Augenblick gebunden, verlangt nach einer schriftlichen, brieflichen Beglaubigung, die im Schreiben an Wernlein niedergelegt wird. Im literaturgeschichtlichen Rückblick erscheint der Sommer, der auf diese Begegnung folgt (und dem sie selbst schon zugehört), als epochal: die heiße Jahreszeit wird, so scheint es, zur Periode, in der die Idee des »hohen Menschen«, die grundlegend für die zu dieser Zeit Gestalt gewinnende Romanpoetik Richters ist (diese Idee wird vor allem mit Wernlein diskutiert86), und die Idee der Simultanliebe ausgebrütet werden. Dabei ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass auch die Entstehung der Romanpoetik weit stärker, als bisher angenommen wurde, aus dem Briefgespräch hervorgeht:87 Für seinen ersten Roman, der drei Jahre später als Die unsichtbare Loge erscheinen wird, und für alle weiteren Werke bittet Richter Christian Otto in einem Brief vom 15.–18. Juli 1790 darum, sein »Publikum« und sein »Leser« zu werden, damit er überhaupt »einen Reiz zum Machen« habe, und zugleich sein »Rezensent« zu sein, der vorab »das S c h l i m s t e und das B e s t e « in seinen entstehenden Werken anzeichnen soll, »weil man ohne alle äusseren Winke und Meilenzeiger, sich warlich am Ende in eine so fehlerhafte Originalität hineinarbeiten könte, daß es Got erbarmen möchte, aber nicht die Rezensenten« (III 1, 299,14–19, Nr. 329; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift).88 Zu Beginn des Briefes an Otto, in dem er diese Bitte lanciert, fügrt er jedoch die Bemerkung ein: »(Jezt red' ich wie ein in ein zweites Ich Verliebter nur von meinem).« (III 1, 298,34–35) Aufgrund der Tatsache, dass die Bemerkung in Klammern zwischen den verklausulierten Bitten um literarisch-kritische Mithilfe steht, kann man leicht ihre lebensweltliche Relevanz übersehen. Der Besuch der Wirth-Expedition in Schwarzenbach liegt erst wenige Tage zurück. Am selben 15. Juli, an dem Richter den OttoBrief beginnt, hat er von Schwarzenbach aus auch an Friederike Wirth geschrieben (III 1, 298, Nr. 328); dieser Brief ist nur stichwortartig im Briefkopierbuch überliefert, wobei die Notiz mit der Frage endet »was macht die PRIMA DONNA?«, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auch im realen Brief in ihrer Referenz bewusst mehrdeutig blieb: ein Simultankompliment an Mutter und Tochter.
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87 88
Vgl. Monika Meier, Einleitung zu Bd. IV 1, S. XV. Zur damit verwandten Stilisierungsfigur des ›hohen Paars‹ vgl. den Beitrag von Cord-Friedrich Berghahn, Das Schreiben der Liebe. Wilhelm von Humboldt an Caroline von Dacheröden. In: Der Liebesbrief, S. 129–150; die physisch-triebhafte Komplemetärfiguration des Liebens wird jedoch im Falle Humboldts sehr viel konkreter als im Falle Richters. Vgl. Monika Meier, »Heureusement«. Christian Otto als »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« Jean Pauls. In: JbJPG 41, 2006, S. 97–111. III 1, 299,14–19, Nr. 329; Textgrundlage: Originalhandschrift. Das Konzept des »hohen Menschen« wird im Roman im diesbezüglichen »Extrablatt« des 25. Sektors dargelegt (UL1 1, 370–377).
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Betrachtet man die Biographie Richters in literaturhistorischer Perspektive, erfährt die im Otto-Brief in Klammern zugestandene Wechselwirkung von literaturbezogenem Schreiben und Liebesrede fast automatische eine werkgeschichtliche Akzentuierung. Aus kultur- und liebesbriefgeschichtlicher Perspektive gilt es jedoch, diese nachträgliche Gewichtsverlagerung zu vermeiden. Dies gilt noch stärker im Hinblick auf einen Brief an Friederike Wirth aus dem Herbst des Jahres, dessen Deutung aufgrund einer passagenweisen Übereinstimmung mit jenem Programm der Simultan- und Tuttiliebe, das Richter später in seinen Roman Hesperus einrückt, allzu leicht in den Sog des literarischen Diskurses geraten kann.89 Am 24. Oktober schreibt Richter, dem Briefkopierbuch zufolge, aus Schwarzenbach an die »Wirthin« (so das Kopierbuch) in Hof: »Ich weis nicht, leg’ ich Ihnen die Empfehlung bei oder bring’ ich sie selbst […]« (III 1, 309,18–19, Nr. 343). Damit wird der für die briefstellerische Reflexion von Liebeskorrespondenz zentrale Aspekt des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit* thematisiert. Der Brief knüpft also ausdrücklich an die vorausgehenden Brief- und StimmenGespräche an. Wie immer Richter sich aber hinsichtlich des Empfehlungsschreibens entschieden hat, das zentrale Anliegen des Briefes, die Rechtfertigung seines Systems, trägt er jedenfalls schriftlich vor. Diese Rechtfertigung wird zunächst als Resultat einer Rechenoperation, einer quasi kaufmännischen Kalkulation, dargestellt: Ich nahm einen Schiefer und rechnete es heraus, daß ein Geselschafthausierer, ein unter dem schönen Geschlechte herumirrender Ritter am passabelsten daran: nicht blos weil er in iedem Tempel eine Schuzheilige anzubeten findet oder weil er das ungefundne, vielleicht ungeschafne Ideal, vor dem seine Seele kniet, handhaben, drehen, drechseln, puzen kann wie er will, welches mit etwas Lebendigerem nicht angienge (III 1, 309,19–25).
Die Solidität der Rechnung und die Verwendung des handwerklichen Vokabulars (drehen, drechseln, putzen) stehen im Kontrast zur Zweideutigkeit der Anspielungen – namentlich zu derjenigen auf den »unter dem schönen Geschlechte herumirrenden Ritter«. Der Postbote seiner selbst, als der Richter immer wieder zwischen Schwarzenbach und Hof unterwegs ist, erhält dabei eine literarische Einkleidung, die wohl auf den weitläufigen Titel von Johann Gottfried Schnabels erotischem Roman Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde Cavallier zurückgreift.90 Wie der Titel dieses Romans lässt auch Richters 89 90
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Auch in meinem Beitrag zur Braunschweiger Liebesbrieftagung bin ich dieser Gefahr ein Stück weit erlegebn, vgl. Paulus, ›Simultanliebe‹ in ›Schäfersekunden‹, S. 44–45. Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde Cavalier oder Reise- und LiebesGeschichte Eines vornehmen Deutschen von Adel, Herrn von St.*** Welcher nach vielen, sowohl auf Reisen, als auch bey andern Gelegenheiten verübten LiebesExcessen, endlich erfahren müssen, wie der Himmel die Sünden der Jugend im Alter zu bestraffen pflegt. Ehedem zusammen getragen durch den Herrn E.v.H. Nunmehro aber allen Wollüstigen zum Beyspiel und wohlmeinender Warnung in behörige Ord-
Argument eine zweifache Lesart zu, eine moralisch beruhigende und eine sinnlich-literarisch anregende. Die doppelte Buchführung des Gedankens wird jedoch in der Summa der Schiefertafel-Berechnung abgeglichen. Sie setzt den satirischen Tonfall außer Kraft: Richter verweist abschließend auf die »Folter, auf der der H. Pfarrer liegt und die die Schmerzen zerrissener Freundschaft« übersteigt (III 1, 309,26–27), und extrapoliert von hier aus die Schmerzen, die er selbst in möglichen 30 Ehejahren angesichts der Sterblichkeit des Glücks zu erwarten hätte. Das Schicksal eines befreundeten Theologen, Johann Samuel Völkel, der soeben seine Frau verloren hatte, wird so zur Basis einer literarischen Spekulation. Philologisch auffällig in der vorausgehenden Passage, in der die Irrender-Ritter-Phantasie durchgespielt wird, ist das fehlende Verb nach »am passabelsten daran«, wodurch das Rechenergebnis, das im Nebensatz bezeichnet werden soll, dann doch unvollständig bleibt. Ob ein »ist« oder ein »sei« die Kalkulation beschließt, bleibt offen – das Projekt Simultanliebe hängt eben doch nicht allein von den Rechenkünsten des auktorialen Kalkulators ab. Und der stilisierte irrende Ritter bleibt zuletzt doch Korrespondent, der mit der Feder anstelle des Schwertes kämpft. Die philologischen Indizien für die fortgesetzte Arbeit am lebensweltlichen Projekt des Liebens reißen auch in der Folgezeit nicht ab. Drei Tage später folgt ein weiterer Brief Richters an Friederike Wirth. Darin bezieht er sich zunächst auf eine Bitte der Postmeisterin, er möge einem in der Lokalzeitung, dem Höfer Intelligenzblatt, erschienenen Artikel über weibliche Modethorheiten entgegentreten.91 Im Briefkopierbuch steht nun: Weder das Intelligenzblat noch sein Publikum wären eine Minute oder Seite werth, die man nüzlicheren Dingen abbräche: wenn Sie nicht so wolten und wenn nicht der Gelegenheiten, Ihnen meinen Gehorsam zu zeigen, so wenige wären, daß ich nach der kleinsten begierig sein … 92
Berend ergänzt an dieser Stelle – in Richters Orthographie – das Hilfsverb »mus«, rekonstruiert dabei freilich nicht die Abschrift sondern den mutmaßlichen Brieftext, der als Ganzes ein philologisches Phantom bleibt. Als Ergänzung des Herausgebers gekennzeichnet, ist die Abweichung zwar philologisch repräsentiert, in Hinblick auf die vielfachen Codierungen und Valenzen einer elaborierten Liebesbriefkultur dann aber doch noch immer spezifisch unterrepräsentiert: das »[B]egierig«-sein-Müssen ist ja doch nur eine Option – zum Beispiel neben dem gleichfalls denkbaren, weitergehenden »[B]egierig«-seinWollen, das zumindest als Denk-, wenn auch vielleicht nicht Schreibmöglichkeit angenommen werden kann. Richters Gegenartikel, der nicht abgedruckt
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nung gebracht, und zum Drucke befördert Von einem Ungenannten, Warnungsstadt: Siegmund Friedrich Leberecht, 1738. Vgl. III 1, 515, Erläuterungen zu Nr. 344. III 1, 309,32–310,2, Nr. 344.
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wurde, war, wie Berend ausführt, »in Briefform eingekleidet«.93 In der Kopie des Briefes an Friederike Wirth wird der fiktive Brief zum Medium der Bezugnahme auf die »Hände« der umworbenen Klavierschülerin, die in den Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit eine besondere Rolle spielt und der – wohl eher kompensatorisch – die Schwester zur Seite gestellt wird:94 Sie lassen nur den grössern Brief abdrucken und von einer iener beiden schönen Hände abschreiben, die öfter sich einander als eine Feder halten. Ich wünschte, daß sie wieder aufsein, essen und singen kan: denn am komm’ ich schon wieder gelaufen, um da zu essen – vom Queé meines Stoks von einem Haus ins andre gestosen zu werden – zu geniessen Bier sowol wie Gesichter – zu hören Arien sowol wie Verläumdungen – zu spielen – zu misfallen – und mündlich die oft geschriebne Versicherung zu wiederholen etc.95
Auch in diese Passage hat Berend editorisch eingegriffen, indem er den durch Spatium ausgesparten Wochentag, für den Richter sein Kommen ansagt, nach dem tatsächlichen Ereignis, wie es im Tagebuch dokumentiert ist, ergänzt: Dort findet sich unter dem Datum des 28. Oktober die Notiz »In Hof; Entzückungen der Phantasie unter Wegs, Gefühl – fröhlich – Vorm Essen besonders lustig, gut mit Renata, Wette auf mein Misverständ[nis] – Stiefel weggeschenkt –« (II 6, 576,10–13). Vor dem Hintergrund des wechselseitigen Spiels mit Ankündigung, Aufschub und Verzögerung zum Zweck einer epistolaren Strategie der Intensivierung* bleibt Berends Ergänzung des Datums fragwürdig. Der Brief dürfte nicht ohne eine vorläufige Festlegung abgeschickt worden sein, doch konnte Richter in seiner Abschrift die Option einer früheren Begegnung offengelassen und durch das Spatium repräsentiert haben. So könnte also im Brief durchaus Freitag oder gar Samstag gestanden haben, der Donnerstag aber erst nachträglich als Datum einer günstigen Fügung oder eines sich steigernden Verlangens zum Begegnungstag geworden sein. In diesem Falle stellt also die editorische Festschreibung eine zu enge philologische Repräsentation des Zeitrahmens (aus der Perspektive einer Philologie der intimen Kommunikation) dar. Durchgängig aber fällt in den Briefen die Tendenz zur Nicht-Festlegung auf, die im Widerspruch zum Gestus des Autors steht, der Zeit und Ort festschreiben will. Diese nichtfixierten Stellen können als Leerstellen begriffen werden, an denen sich die Dependenz des Briefschreibers von den Wünschen und vom Willen der Korrespondentinnen (Mutter und Tochter) ausdrückt. Auf den ersten eigenhändigen Brief Renate Wirths muss Richter offenbar lange warten. Ihre zeitweilige Übersiedlung nach Bayreuth nimmt sie dabei 93 94
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Aus dem Nachlass ediert in II 3, 321–323. Gemeint ist wohl Eleonora J o h a n n a Katharina Wirth (1778–1843); ein eher höflich-konventionell gehaltener Brief Richters an sie ist im Briefkopierbuch überliefert (III 1, 306–307, Nr. 336 vom 25.8.1790). III 1, 310,2–10.
ebenso zum Schreibanlass* wie Richter seinen Umzug nach Schwarzenbach zum Schreibanlass der vorausgehenden Korrespondenz mit ihrer Mutter gemacht hat. Ohne auf ein vorheriges Schreiben Bezug zu nehmen, schreibt sie am 2. Mai 1792 an ihn: Werther Freund. Sicher hat Ihre richterliche Strenge, die arme Renate schon zur Vergessenheit verurtheilt, weil sie, da sie von allen Seiten mit Briefen überhäuft wird, bis jetzt noch nicht dazu kommen konnte, Ihnen guter Richter zu schreiben. So ist also der Zeitpunkt da, von dem wir so oft an einen Fenster sprachen, und den ich, ich gestehe Ihnen aufrichtig, noch immer nicht so nahe glaubte; bin ich, – getrennt von euch Allen ihr Guten, die ihr mir so manche schöne Stunde verschaftet, und wann werde ich euch wieder sehn? – Dies wird wol lange werden, – ich habe jetzt meine Stunden eingetheilt, von deren Ordnung ich mich so geschwind nicht losmachen kann, da ich täglich zu einer Puzmachern gehe, und dies wol einige Monate fort, früh von 9 Uhr bis Abend um sechse; dabei dauert mich nur der schöne Frühling, den ich blos morgens und abend benutzen kann. Richter Sie solten hier seyn, und die Pracht dieser Jahrszeit sehen, sie macht wol jetzt alle Oerter schön, aber hier glaubt man, sie verdoppelt ihre Schönheit. Bisher habe ich sie recht genossen, und ich möchte sagen, ich kann sie gar nicht satt haben, zieh das Spatzierengehn auch den meisten Gesellschaften vor, ob ich gleich noch genug beiwohnen muß; – und leider gefunden habe, daß Puz und Verläumdung der Hauptstof zur Unterhaltung wie in allen unssern Zusammenkünften ist, nur daß es hier weit leichter ist Bekantschaft zu machen, und man mit sehr viel Artigkeit in ihre Zirkel aufgenommen wird. Mir wird manchmal die Zeit dabei lang, aber ich vergesse alles wenn ich nach Hauß komme, und einen Theil Briefe antreffe, von meiner Vaterstadt; wollen Sie nicht diesen Vergnügen bald einen Zusaz machen? Gewiß, da ich nicht glaube daß ich in der Entfernung ihre Rache befürchten darf, ihre Güte sey mir Bürge. – Wenn mein Brief gleich ein völliger Frauenzimmerbrief wird, nemlich alles durch einander, so muß ich Ihnen doch etwas von den lezten Abend meiner Abreise sagen, ach Richter daß waren harte Augenblike, und die Nacht war fürchterlich. Der Gedanke, jetzt bist du noch unter allen denen, die dir theuer sind, und in einigen Stunden entfernt von Ihnen, vielleicht auf eine lange Zeit, unter deren Verlauf sich so viel verändern kann, ach dieße Vorstellung verursachte mir entsetzliche Leiden. Richter denken Sie manchmal an mich, zumal wenn Sie neben ihrer Freundin A. sitzen, so erinern Sie sich an die, die so oft ihre Unterhaltung genoß, und mit Andenken an diese Stunden sich immer nennt
Bayreuth den 2. Mai 92.96
Ihre aufrichtige Sie schätzende Freundin Renate W.
Ob die Bereitschaft, aus der Ferne zu schreiben, darauf hindeutet, dass die Vorbehalte bezüglich der väterlichen Mitleserschaft nun überwunden sind, muss zunächst offen bleiben: zumindest dieser und die folgenden Briefe Renate Wirths an Richter tragen keine postalischen Spuren (Adressen, Frankierungs- und sonstige Postvermerke), die zu entscheiden erlauben, ob sie posta96
IV 1, 258–259, Nr. 134.
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lisch zugestellt oder ob sie überbracht worden sind.97 Die elegische Beschwörung der Gespräche am Fenster kennzeichnet jedenfalls den Verlust einer Unmittelbarkeit, die im Übrigen briefliche Konversation durchaus einschließen konnte: Wiederholt wird die persönliche Übergabe von Briefen durchs Fenster aus der Hand von Absendern oder Absenderinnen an Empfänger oder Empfängerinnen in den Briefen des Kreises, zu dem Richter gehört, bezeugt. Der elegische Tonfall dieses Initial-Briefes, der die Tonart nahezu aller weiterer Briefe Renate Wirths intoniert, hat vermutlich zwei Quellen, von denen die eine offen, die andere nur verdeckt in Erscheinung tritt: In aller Deutlichkeit benennt Renate Wirth den Schmerz, den ihr die räumliche Entfernung von den Ihren bereitet. Der Trost der epistolaren Kontrolle durch Antizipation hat aus der Distanz keine Macht mehr. Wenn im Verlauf der Zeit »sich so viel verändern kann«, dann bereitet die »Vorstellung« der Veränderung nicht mehr Vorfreude, bzw. imaginäre Simultanfreude, sondern »entsetzliche Leiden«. Die Dimension der »Veränderung« – und das ist die verdeckte Botschaft – bleibt dabei amourös konnotiert. Indem Renate Wirth in einer kurzen Briefvision am Ende ihre mit der Initiale A bezeichnete Freundin Amöne Herold an der Seite Richters sieht, erkennt sie dabei zugleich eine Platzhalterin ihrer selbst, welche nun an ihrer Stelle (und im Alphabet privilegiert) seine »Unterhaltung« genießen darf. Dieser Vorgang der Verdrängung aber macht das »Andenken an diese Stunden« zu einer einsamen Übung. Die Artikulation der Wehmut wird zu einem festen Bestandteil, einer Art Ritual in der Korrespondenz Renate Wirths mit Richter. Der Antwortbrief Richters auf das oben zitierte Schreiben macht noch einmal seine Strategie deutlich. Das Motiv des Fensters wird dabei zunächst aufgenommen und die Rolle der von Renate Wirth beschworenen Hofer Kommunikation im Verhältnis zum erweiterten Lebensumfeld Renates in Bayreuth depotenziert: »In den bunten, unter der Sonne blitzenden Strudeln von Visitten, die jezt über Sie zusammenschlagen, können Sie wahrhaftig nicht oft an den alten grauen Flausrok denken, der sonst mit Ihnen unter dem Fenster moralisierte« (III 1, 364,14–17, Nr. 405). Zugleich aber wird die transitorische Funktion dieses Motivs umgedeutet im Sinne einer weiteren Ausweitung der Liebeskommunikation: Die Bayreutherinnen, die unsern Jahrmarkt verschönerten, und vielleicht auch die WUCHERIN lobten Sie so sehr als wenn jene nicht aus Bayreuth und Sie nicht aus Hof wären [im Konzept: Sie wurden so geliebt da, als wenn Sie nicht aus Hof und nicht in Baireuth wären]. Von der Wucherin, deren schöne Taille, deren Angesicht, das, ohne Koketterie, von Liebe überfloß und deren einfachen Anzug ich nur im Fluge aus einem Fenster gesehen und die hier sogar von denen Schönen gelobt wurde, die weni97
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Eine Adresse hat erst der Brief vom 28. November 1793 an »Monsieur Richter a Hof« (IV 1, 700, zu Nr. 149).
ger Vorzüge haben – von dieser schreiben Sie mir recht viel schönes und das Schönste, daß Sie ihre Bekante und Freundin sind.98
Die Idee, die dahinter steckt: Mittelspersonen sind nicht mehr Agenten der Liebe, sondern die Liebe wird zum Medium, um Mittelspersonen zu aquirieren, die ihrerseits zu Multiplikatoren der Liebe werden wie in diesem intendierten Fall die erwähnte »Wucherin« (vermutlich die Tochter eines Bayreuther Regierungssekretärs Wucher); sie wird im ausgeführten Brief – anders als in der Kopievariante – zur Repräsentantin der Bayreuther Bevölkerung und zur potentiellen Mundzeugin von deren günstigem Urteil über Renate, das allerdings im abgeschickten Brief von der Liebe zum Lob verflacht. Sie fordert damit aber – in der brieflichen Vermittlung (bzw. Unterstellung) Richters – zugleich deren (Renates) Gegen-Emotion heraus: Liebe erfordert Gegenliebe, Lob Gegenlob. Im Prinzip ist somit jeder und jede Beteiligte immer schon beides: Mittler und Vermittelter bzw. Mittlerin und Vermittelte. Renate Wirth akzeptiert in ihrem Antwortbrief diese Bevollmächtigung zur Mittelsperson: Die »entzükende Wuchern«, die kennen zu lernen sie schon lange vor Richters Beschreibung sich bemüht habe, habe sie bislang »nur auf ein paar Minuten« sprechen können, aber eine Freundin, »die sie mir schon öfters als ein gutes Mädchen schilderte«, habe ihr versprochen, sie – Renate – »sobald sie zu ihr kömt auch holen zu lassen. Und dann sollen Sie sie durch mich genauer kennen lernen« (IV 1, 264,14–21, Nr. 140). Auch wenn es zu einer solchen Begegnung und Einbeziehung nicht gekommen zu sein scheint: dem Prinzip ist dadurch zunächst Genüge geleistet. Das Durchreichen der Mittlerpersonenrolle im epistolaren Freundeskreis hat freilich auch in solchen Fällen noch immer etwas Spielerisches und ereignet sich in den Präliminarien der amourösen Verhandlungsakte zur Erweiterung des Zirkels. Dies kann sich jedoch sehr schnell ändern. Knapp ein Jahr später, Mitte April 1793, verlobt sich die inzwischen wieder nach Hof zurückgekehrte Renate Wirth mit Christian Ottos jüngerem Bruder C h r i s t o p h Albrecht Otto (1765–1837). Dieser Akt führt zu einer Verschiebung der Mittlerpersonenrolle. Richter scheint sich hierauf nur widerwillig eingestellt zu haben, bei Renate Wirth wiederum führt dies zu Gefühlen der Verunsicherung und des Schmerzes, wie ein im Original überlieferter (erneut ohne Adresse und somit wahrscheinlich direkt übergebener) Brief aus der Zeit unmittelbar nach der Verlobung (datiert auf den 24. April 1793) dokumentiert: Verehrungswürdiger Freund. Sie entzogen mir am Sonntag Ihre Gesellschaft, aber es hält mich nicht ab, mich mit Ihnen schriftlich zu unterhalten. –
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III 1, 364,17–25, Nr. 405, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift und eigenhändige Abschrift im Briefkopierbuch.
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Nur Ihnen, kan ich sagen in welcher Stimmung diese Woche her meine Seele war, denn von Allen die mich umgeben, kann es niemand fühlen, so aufmerksam sie auch auf mein Gesicht sind, das mein Inneres zu sichtlich verräth; – Ihr Betragen am Sonnabend, (ich kann mirs noch immer nicht erklären) da Sie doch so genau meine Verhältnisse — kennen, – war der erste Grund; – mit den bewegtesten Herzen las ich in Ihren Buch, Stellen die mich so ganz meine Lage fühlen liessen, ach! die mich an alle meine Fehler zugleich erinnerten, wie viel meinen Herzen an Güte mangelte, damit ich schonender meinen Mitmenschen begegnete, sie mehr liebte, und menschenfreundlicher bey ihren Schwachheiten wäre, – o, hätte ich Kraft genug die Meinigen zu besiegen; ich fühle sie so sehr, beweine sie täglich – und werde doch nicht geheilt. Diese ganze Woche wurde mein Auge nicht troken, – Gedanken an die Zukunft – Erinnerung an das Vergangene, entwichen meiner Seele nicht, und ich war nicht fähig meine Thränen zurükzuhalten, sie waren meine einzige Erleichterung. — Der gestrige Abend – o er war schön, – ich schlos mich in unssere hintere Stube, beschäftigte mich so ganz mit den Unvolkommenheiten, meines Ichs, – ich konnte Nichts, als weinen so heftig als ich nie geweint; dann sank ich auf die Knie, warf mir mit der bittersten Reue vor dem Höchsten – meine Fehler vor, bat ihn flehentlichst um Stärke – und schwur feierlich besser zu werden. — O, Sie dem ich soviel Dank schuldig bin, so manche schöne traurige Stunde [korr. aus: Stunden], denen ich mich so gerne widme – hören Sie nicht auf, mein Freund zu seyn – denken Sie daß Sie der Einzige sind zu dem mein Zutrauen unbegränzt, daß ich niemand habe, der meine Lage fühlt, und in dessen Busen ich meine Klagen so unbesorgt schütten kann; von dem ich überzeugt bin daß er mich bedauert; und dem ich mich bestrebe zu zeigen, wie hoch meine Achtung für Sie [über gestr. ihn] ist, und wie theuer mir Ihre Freundschaft ist. — Renate W. Noch immer konnte ich Ihnen nicht sagen; was ich so gerne gethan, – daß der Abend den Sontag vor 8 Tagen für mich einer der unvergeslichsten war, ach ich fühle was Sie denken: er bestimmte mein Unglük, – Ach, wären Sie Zeuge gewesen; Sie verurtheilten mich nicht; – wir sprechen mündlich davon. — Meine Hände starren vor Kälte.99
Die Textkonstitution erlaubt mit der Wiedergabe der Variante im Satz vor der Unterschrift einen fokussierten Zugang zum Dilemma der Briefschreiberin: die beiden Hauptpersonen, um die es geht, Christoph Otto als der zum Verlobten Aufgestiegene und Richter als der zum Vertrauten Degradierte, werden duch die Korrektur zu »Sie«, die das korrigierte »ihn« gleichwohl noch lesbar erhält, gegeneinander ausgetauscht. Und dies unter dem Regime der Erklärung von »Achtung« als einem anthropologisch grundlegenden Gefühl, das gleichwohl eine oft unterschätzte sinnliche Dimension besitzt.100 Dabei wird freilich die Geltung dieses Gefühls – indem es durch die ›transparente‹ Korrektur doppelt codiert bleibt – zugleich relativiert: die Achtung der Schreiberin, die dieses Bekenntnis ablegt, muss nun aufgeteilt werden. In der Relativierung liegt aber andererseits für den Empfänger auch eine Restitution verlorener Privilegien: denn der dem Verlobten zustehende Affekt wäre na99 100
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H: BJK, Berlin A; vgl. IV 1, 266–268, Nr. 143. Vgl. Demmerling, Landweer, Philosophie der Gefühle, S. 35–62, bes. S. 57ff.
türlich Liebe – sie, die nicht geteilt werden kann, wird daher durch Achtung ersetzt, die beiden gilt und damit, da »Liebe« unausgesprochen bleibt, der Verlobte sogar gar nicht genannt wird, werden beide auch auf eine Stufe stellt. Die Korrektur erlaubt also einen Niveauausgleich der Affekte. Was Richter freilich unter dem Strich bleibt, ist privilegierte »Freundschaft«, die Rolle des Vertrauten: »denken Sie daß Sie der Einzige sind zu dem mein Zutrauen unbegränzt«. Im Vergleich zur unausgesprochenen formellen Bindung an Otto bleibt diese Privilegierung denn doch nur ein epistolärer Trostpreis. In der Folgezeit wird dies zu weiteren Verwicklungen führen, die gegen Ende des Jahres noch einmal eskalieren, ehe sich, wie der einleitende Kommentar zu diesem Brief erläutert, »die gegenseitigen Beziehungen für alle drei Beteiligten geklärt zu haben« scheinen.101 Allerdings bleibt es im Verhältnis Richters zu Renate Wirth weitgehend bei der Rolle des Vertrauten, die des Mittelsmanns bleibt ihm weiterhin, vor allem aufgrund von Christoph Ottos Eifersucht*, verwehrt. Dabei ist auch das Vertrauensverhältnis zwischen Richter und Renate Wirth, das nun neu justiert wird, kein binäres. Es enthält gleichsam einen unsichtbaren Dritten: den Autor Jean Paul. Das Buch, dessen Lektüre in Renate Wirths Brief zum Ausdrucksmedium des »bewegtesten Herzen[s]« gemacht wird, ist Richters soeben erschienener und mit dem neu gefundenen Pseudonym Jean Paul versehener Romanerstling Die unsichtbare Loge.102 Der literarische Text wird als Form der persönlichen Anrede der individuellen Leserin begriffen, die mit Tränenströmen reagiert.103 Vielleicht ist dies der Grund, dass Richters mutmaßliches Antwortschreiben, das nur mit Tag und Monat, nicht mit der Jahreszahl datiert ist, in einer Fremdsprache*, auf Französisch, verfasst ist: Richter antwortet als »Jean Paul«.104 Aus der Sicht des Chronisten wird Richter diesen Wechsel später legitimieren und reflektieren, wenn er in einem der zwischen 1811 und 1822 entstandenen Studienhefte zum Roman Der Komet (einem Roman, in dem der Erzähler »Jean Paul« noch einmal ›leibhaftig‹ wird) notiert: »Ich spiele alle die Rollen mit Renate und Am[oene] hier durch und sage, daß sie auf meine Werke gewirkt.«105 Diese retrospektive Glättung der Wechselwirkung von gelebtem Leben und literarischem Ertrag kann natürlich nur durch eine Verschiebung Wahrnehmungshorizontes* gelingen. Kürzt sie doch alle emotionalen Differenzen und Opfer aus der Rechnung, die in der intimen Korrespondenz noch ihren Ort finden, wenn dieser auch zuweilen ein Versteck ist, das häufig auf die sinnliche Di101 102 103 104 105
IV 1, 683, einleitende Erläuterung zu Nr. 143. Die unsichtbare Loge. Eine Biographie von Jean Paul, 2 Bde, Berlin: Matzdorff’sche Buchhandlung 1793. Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 215–218. Vgl. III 1, 383, Nr. 426. II 6, 485,4–5, Nr. 51.
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mension des Verzichtens und die körperlichen Begleiterscheinungen des schmerzhaften Neu-Verteilens von Rollen (Mittelsperson, Vertrauter) verweist: »Meine Hände starren vor Kälte« (IV 1, 268,4). Allerdings ist es nicht allein Richter, der später diese Verlängerung der Mittlerpersonenrolle in den publizistischen Raum für sich beansprucht. Viele seiner Freunde und Freundinnen heben die Briefe auf mit dem Wunsch, die tote Post durch stetes Wiederlesen lebendig zu erhalten. In vielen Fällen geht dieser Wunsch über in eine Publikationsabsicht, die spätestens in einer der Folgegenerationen realisiert wird. Auch diese Publikationen sind philologische Konstruktionen – so wie Richters Romane literarische Konstruktionen sind. Allerdings ist der Konstruktionscharakter unterschiedlich stark ausgeprägt. Renate Wirths Briefe wurden von Johann Friedrich Täglichsbeck, dem Schwiegersohn ihrer ältesten Tochter Friederike Christiane P a u l i n e Georgine Emanuele Hake (1795–1825), die wiederum ein Patenkind Richters war, im Jahr 1858 vergleichsweise zuverlässig ediert.106 In diese Edition ist das anhaltende Vertrauensverhältnis Richters und Renate Ottos, das sich auch in der Folgegeneration fortsetzte,107 gleichsam eingeschrieben. Wenig später versucht dann auch die Tochter Helene Köhlers (1769–1847) den editorischen Anschluss an die Entstehungszeit der Simultanliebesbriefe zwischen 1786 und 1793 herzustellen. In einem Beitrag für die Gartenlaube veröffentlicht sie zunächst Auszüge aus einem Brief, den Caroline Richter, die Witwe Jean Pauls, an sie geschrieben hat. In diesem Schreiben, das 25 Jahre zurückliegt (es ist »München, d. 25sten Juni 1838« datiert), heißt es, dem Druck zufolge: Liebe Frau von B …..! In Betreff des mir mitgetheilten Vorhabens, das Sie so rücksichtsvoll mir mittheilen, kann ich weiter nichts sagen, als daß weder ich noch meine Kinder das Geringste dagegen einwenden können, indem ja diese Briefe an Ihre sel. Frau Mutter ganz Ihr Eigenthum sind und, in der eigentlich glücklichsten Lebensperiode des seltenen Mannes entstanden, dem ich anzugehören später das Glück hatte, nur Ruhm und Zeugniß seiner heiligen Seele geben können. Indem kürzlich die Abkömmlinge einer andern Jugendfreundin des Unsterblichen, der Frau Renate Otto aus Hof, ein ähnliches Vorhaben begonnen haben, welches mit Beifall aufgenommen worden sein soll, so begreife ich wohl Ihr kindliches Interesse, ein Gleiches für Ihre demselben Kreise zugehörige theure Frau Mutter in Anspruch nehmen zu wollen, zumal so Manches aus der späteren literarischen Wirksamkeit des Verewigten darin angedeutet und entstanden ist.108
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Jean Paul’s Briefe an eine Jugendfreundin, hg. von Johann Friedrich Täglichsbeck, Brandenburg: Müller 1858. Vgl. Das Leben Emma Förster’s der Tochter Jean Pauls in ihren Briefen, hg. von Brix Förster, Berlin: Hertz 1889, sowie IV 1, 668, einleitende Erläuterung zu Nr. 134. [Helene Köhler], Aus dem rauhen Frühling eines Dichterlebens. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 1863, Nr. 12, S. 183–185 (hg. von der Tochter Helene Köhlers), hier S. 183.
In ihren Erinnerungen, von denen nur der erste Teil erschienen ist,109 stellt Helene Köhler die Begegnung mit dem jungen Richter aus ihrer eigenen Perspektive bzw. der ihrer Familie dar. Dabei wird die soziale Differenz romanhaft ausgemalt und beschönigt: Auf der einen Seite der junge Mann Richter, der »arm, unbekannt, unbeschützt die ersten Schwingen seines Adlerflugs« regt, auf der anderen Seite das »[i]n Vielem« ausgezeichnete Elternhaus Köhler, das »heiter und gastfrei […] Jedermann offen [stand]«.110 Den Schreibanlass zur Aufnahme der Korrespondenz bildet ein Bittschreiben Richters an den Bürgermeister, das in Helene Köhlers Erinnerungen mitgeteilt wird aber auch im Original erhalten ist. Der Vergleich zwischen der Druckfassung nach dem Manuskript Helene Köhlers und der Originalhandschrift belegt ein für die Publikationszeit ungewöhnlich hohes Maß an Texttreue. Richter wendet sich in diesem Brief über den Umweg eines eingeschobenen Briefes, der sich an die Heilige Anna richtet, an den Bürgermeister, um für seine Mutter um Unterstützung zu bitten. Der angebliche Antwortbrief auf das Bittschreiben Richters ist ausschließlich in Helene Köhlers rückblickendem Text dokumentiert. Bereits Berend hielt »den Brief für unecht«,111 im Kommentar der Briefe an Jean Paul wird er als möglicherweise »nachträglich aus der Erinnerung rekonstruiert« bewertet.112 Kaum zu übersehen ist jedenfalls, dass die Verfasserin der Publikation hier versucht, ihren Briefstil der bildlichen Ausdrucksweise des Korrespondenzpartners Richter, noch mehr aber der des Dichters Jean Paul anzugleichen: Mein Herr! Meine Eltern beauftragen mich, Ihnen eine Bitte zu eröffnen, die ich, da keine Heiligen für mich sprechen, ohne Vermittlung an Sie richten werde; die Bitte, uns den morgenden Sonntag die Ehre Ihres Besuchs in Begleitung von Christian Otto zu schenken. Da aber mein Vater durch irgend einen Zufall erfahren hat, daß Sie in freundschaftlichen Verhältnissen zur h. Anna stehen, so bittet er Sie ferner, es bei dieser trotz ihrer Glorie in der Vertheilung der irdischen Güter oft etwas ungerechten Dame dahin zu bringen, daß sie ihren Fehler in diesem Fall wieder gut macht, und beifolgendes derjenigen Person zustellt, der sie es schon früher zuzutheilen vergaß. Es ist eine für mein Geschlecht nicht schmeichelhafte Allegorie, daß man sowohl Fortuna selbst, als auch die Vertheilerin ihrer Gaben weiblich darstellt, als ob Unbeständigkeit und sonderbare Laune uns hiezu privilegirten; ich kann mich nur damit trösten, daß man auch die Gerechtigkeit, Liebe, Hoffnung und viele andere Tugenden in weiblicher Gestalt zu malen pflegt. Daher hoffe ich auch, daß bei einem Geschlecht, welches Sie morgen in starker Anzahl bei uns vertreten finden werden, gute
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III 1, 528, Erläuterungen zu Nr. 387. [Köhler], Aus dem rauhen Frühling, S. 184. III 1, 553, Regest-Nr. 56. IV 1, 470, einleitende Erläuterung zu Nr. 57.
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und böse Eigenschaften in gleichem Verhältniß vertheilt sind, und daß Sie als Dichter und galanter Mann sich nur der ersteren erinnern werden. Hof, den 10. April 86. 113
Ich verharre | Ihre ergebenste | Helene K.
In diesem Text schreibt sich die (vielleicht fingierte) Brief-Verfasserin nicht nur einen Stil, sondern auch eine epistolare Freiheit zu, die im Rahmen der Briefkultur in den folgenden Jahren erst zu erringen sein wird, hier aber bereits vorausgesetzt ist: die Freiheit als Tochter aus höherem Haus unbefangen, unter dem Deckmantel der artistischen Kommunikation, den armen Dichter anzusprechen. Indem sie sich zur Mittelsperson ihres Geschlechts macht, übernimmt sie gleichsam die Rolle einer Autorin, die ein Szenario entwirft. Problematisch bleibt vor diesem Hintergrund die Kommentierung, zum Beispiel diejenige der an Richter und Christian Otto gerichteten Bitte, das Köhler’sche Haus zu besuchen. Selbst wenn ein entsprechender Besuch nachweisbar wäre, bliebe der Bezug zum Brieftext als einem Medium der sozialen Verführung* doch zweifelhaft. Die Einleitung zur Publikation von Helene Köhlers Erinnerungen verschweigt allerdings auch, dass sich diese ab 1799 mit dem Major Karl Friedrich von Dobrowolski verheiratete ›Simultangeliebte‹ Richters später aufgrund von persönlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verwerfungen vom Hofer Freundeszirkel unfreiwillig entfernt. Ob man nun der Mutter oder der Tochter die editorische Leistung (in Hinblick auf Richters Brief) respektive die mutmaßliche Fälschung (des eigenen oder mütterlichen Briefes) zuschreiben will: vor diesem Hintergrund erscheint beides als eine philologisch janusköpfige Geste der Restitution des Zustandes der gegenseitigen Anerkennung und Integrität. Daraus ergibt sich ein Gangunterschied zwischen den edierten Texten und den aus anderen Dokumenten erschließbaren Real-Zusammenhängen. Diese Interferenzen beginnen schon bei der Datierung: Der »morgende« Tag war, sofern – in Übereinstimmung mit dem zuverlässig datierbaren beantworteten Brief vom 9. April – der 10. April stimmt, kein Sonntag, sondern ein Dienstag. An dieser Stelle muss somit auch jeder Kommentar unscharf werden, womit sich ein durchgängiger epistemischer Vorbehalt für die Kommentierung ergibt. Steht doch jede Begegnung im intimen Kontext in Wechselwirkung zu scheinbaren Akzidenzien von Raum und Zeit, und ein Sonntagsbrief kann darin eine ganz andere Verführungskraft auf den Empfänger ausüben als ein Dienstagsbrief. VERFÜHRUNGSSTRATEGIEN114 − Eine direkte Aussprache über Sexualität in Briefen findet sich, wie bereits dargelegt, im epistolaren Kreis, an dem 113 114
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IV 1, 82,20–29, Nr. 57 vom 10.4.1786; Textgrundlage: Druck in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, 1863, S. 185. Vgl. (systematisch) Jean Baurdillard, Von der Verführung, München 1992 (zuerst Paris 1979); Schneider, Liebe und Betrug, S. 64–73; Luhmann, Liebe als Passion,
Richter teilhat, nur in den Kontextbriefen zu den Liebesbriefen, namentlich in solchen, die zwischen männlichen Korrespondenten ausgetauscht werden. Dies müsste allerdings dem philologischen Nachweis von epistolaren Verführungsstrategien zunächst nicht entgegenstehen: Verführung, wenn man sie als subversive Strategie im männlichen Dispositiv der Macht – und diesem gegenüber als souverän – begreift, die der »phallokratischen Struktur« eine »spezifische Eigentümlichkeit des Begehrens und der Lust, einen anderen Gebrauch des Körpers, ein Sprechen, eine Schreibweise« entgegensetzt (wobei entsprechende Verführungspraktiken natürlich nicht auf das natürliche Geschlecht des Akteurs oder der Akteurin festgeschrieben sind),115 kann ja gerade mit der Intentions-Verbergung arbeiten. Somit wären durch die Tabuisierung der Sexualität nur jene – vielleicht eher männlichen – Verführungsstrategien aus dem Briefdiskurs ausgeschlossen, die auf die Kraft der Unmittelbarkeit setzen, durch plötzliche, unvermutete Artikulation des Begehrens ans Ziel zu gelangen. Von beiden Strategien finden sich jedoch in den Briefen des intimen Korrespondenzkreises in Hof vor und um 1790 kaum Spuren. Aus dieser Beobachtung lassen sich philologisch unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Man könnte schließen, dass Schreibweisen der Verführung in der spezifischen, bürgerlich-protestantischen Mentalität der Beteiligten einem Repertoire des ›anderen‹ Schreibens zugerechnet werden, von dem man sich konsequent abzugrenzen bemüht ist. Dies entspräche der mentalitäts- und geistesgeschichtlichen Grundtendenz: dem aristokratischen Diskurs zugerechnet, wird dem Sprechen über und durch Verführung mit der bürgerlichen Revolution – in welch abgeleiteter Gestalt auch immer – auch in der fränkischen Provinz ein Ende gesetzt.116 Dann wären jene Passagen, denen man Verführungsstrategien (in einem weiteren Sinne) unterstellen könnte, in ihrer Glaubwürdigkeit zu hinterfragen. Dies mag dazu beigetragen haben, dass Berend Helene Köhlers zweifelhaft überlieferten Brief vom 10. April 1786 für »unecht« hielt, weil er nämlich den offensiven Hinweis auf eine »starke Anzahl« weiblicher Personen enthält, mit dem die Absenderin den jungen Richter und seinen Freund Otto ins Köhler’sche Haus zu locken versucht. In der Tat liegt die Vermutung nahe, dass hier das nachträglich literarhistorisch entworfene Motiv der Höfer »erotischen Akademie« ins epistolare Leben zurückprojiziert wird. Das Verführungsszenario wäre als Inszenierung zu begreifen, vielleicht gerade um
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S. 76–78, 91, S. 104 (als Figur des Werbens) und 130–135, sowie (historisch) Anton, Authentizität als Fiktion, S. 27–32 (über Galanterie und briefstellerische Verführungskunst) und Augart, Eine romantische Liebe, S. 141–145 (über Verführung und Selbstverführung im Brief). Baurdillard, Von der Verführung, S. 16–17. Vgl. ebd., S. 7.
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seine Harmlosigkeit und Unverfänglichkeit zu demonstrieren, die durch den Publikationsort, die Gartenlaube, gefordert wird.117 Sieht man einmal von den weiteren, stilistischen Argumenten ab, die sich gegen die Authentizität des Briefes anführen lassen, bleibt das Argument aber gleichwohl unabgeschlossen. Wenn Sprechen im Interesse des Verführens ein Ausnahme-Sprechen ist, dann kann es seinerseits nicht mit Hinweis auf den epistolaren Standard philologisch ausgeschlossen werden. Es wäre also zu berücksichtigen, dass auch in philologischer Hinsicht »die Verführung das [ist], wovon es keine Repräsentation gibt.«118 Gegen einen solchen Ausschluss sprechen auch Indizien, die sich im Bereich der Verflechtung des brieflichen Liebesgesprächs mit anderen Diskursen* finden lassen. Denn natürlich kann im Briefgespräch über – zum Beispiel – Literatur das Thema der Verführung durchaus zugelassen werden. Dies geschieht in Briefen Wernleins und Christian Ottos an Richter, die sich auf den 37. Sektor von dessen Unsichtbarer Loge beziehen.119 Dort überreicht der Romanheld Gustav der weiblichen Protagonistin Beata einen Liebesbrief. Beata fällt in Ohnmacht, Gustav wird sodann von der Residentin von Bouse im Anschluss an eine Theateraufführung, die zu Ehren ihres Geburtstags veranstaltet wird, verführt, wohingegen sich Beata den Nachstellungen des Fürsten entzieht. Wernlein kritisiert diese Szene in einem Brief vom 31. Juli 1793: Im ganzen Buche bin ich auf nichts gestoßen, das einer Nachahmung nur von weitem ähnlich gesehen hätte: aber bei der 224 S. des 2. Th. konnte ich mich nicht enthalten, an die Geschichte des Agathons u. der Danae zu denken. Ich gestehe es Ihnen aufrichtig, ich schob das Buch nach den Worten »alles, alles …« ein wenig unwillig auf die Seite; u. ich bin noch heute der Meinung, daß Sie diese Scene nicht vertheidigen können. Nach alle dem, was Sie von den Vorfällen des ganzen Abends erzählten, hätte ich nichts weniger, als dieses erwartet. Selbst das, was im Zimmer der Residentin vorgeht, macht es mir nicht begreiflich daß G. [Gustav] noch in eben der Stunde so tief fallen konnte. Wenn ich annehme, wie begeistert G. heute von B. [Beata] seyn mußte, da ihm die Theatergeschichte so trefflich gelungen war; wie sehr eben der Umstand, daß sie nicht mit auf dem Ball zugegen war, diese Begeisterung unterhalten mußte; so sehe ich nicht ab, wie G. der erhabene G. sich in einer Minute so hinreißen lassen konnte!120
Richter setzt sich in seinem Antwortschreiben gegen den doppelten Vorwurf – den der psychologischen Unglaubwürdigkeit und den der Anlehnung an Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (1766/67, zweite Fassung 117 118 119
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Vgl. Magdalene Zimmermann, Die Gartenlaube als Dokument ihrer Zeit, München 1967, S. 248–251. Baurdillard, Von der Verführung, S. 95. UL1 3, 193–236, »Sieben u. dreißigster oder heil. Weihnachts-Sekt. Liebesbrief – Comedie – Souper – bal paré – zwei gefährliche Mitternachtsszenen – Nutzanwendung«, vgl. I 2, 320–342. IV 1, 273,36–274,18, Nr. 145; Textgrundlage: Originalhandschrift.
1773) – zur Wehr. Er erwidert, »daß Menschen, die unfähig sind, zu verführen, darum nicht unfähig sind, verführt zu werden« und zählt Beispiele von »Enthusiasten« und von »Dichtern« auf, um auf diese Weise plausibel zu machen, dass gerade die edelsten Gefühle ausarten könnten, weil sie sich aus dem gleichen körperlichen Boden nährten wie die unedlen: »Tugenden, die eine gewisse Disposizion des Körpers voraussezen, sind Wand- und Thürnachbarn ihrer Antipoden, wenn diese von derselben Disposizion Nahrung ziehen« (III 2, 12,10–24). Wernlein akzeptiert in seinem Antwortbrief diese Erklärung: Ueber Gustavs Zentfall bin ich aber ganz beruhigt u. ich wundere mich selbst, wie ich so vieles übersehen konnte. Es mag aber blos davon herrühren, daß ich aus Liebe für den Charakter des Gustavs ungern einen Flecken in demselben sahe. Mir fiel alsdenn gleich Agathon dabei ein u. so schob ich ohne weiters die Schuld auf seinen Biographen. Dafür bitte ich ihn hiedurch um Verzeihung (IV 2, 16,10–16, Nr. 4).
Zwei Jahre später trägt er seinen Vorbehalt jedoch erneut vor, nachdem Richter in seinen zweiten Roman Hesperus eine ähnliche Szene aufgenommen hat, den Verführungsversuch, mit dem die Fürstin Agnola auf die Unschuld des Romanhelden Viktor Horion zielt:121 »deine Widerlegung meiner geäusserten Bedenklichkeiten«, so schreibt Wernlein am 6. März 1796, »hat mich doch nicht widerlegt« (IV 2, 156,24–26, Nr. 79, Textgrundlage: Originalhandschrift). In beiden Fällen – dem Gustavs und dem Viktors – geht die Verführung durch eine Frau aus der höfischen Sphäre aus. Der Liebesbrief Gustavs und Beatas Ohnmacht sind demgegenüber Zeichen der Gefühlsintegrität, der Glaubwürdigkeit. Die Tatsache aber, dass die Helden überhaupt anfechtbar sind, ja potentiell »zu Fall« kommen können, stellt für Leser wie Wernlein den Skandal des Textes dar. Von Wernleins ›Unbelehrbarkeit‹ lässt sich allerdings nicht auf eine entsprechende Grundeinstellung im kommunikativen Umfeld, dem er angehört, schließen. Christian Otto zum Beispiel, der Bruder der von Wernlein umworbenen F r i e d e r i k e Christiane Otto (1769–1855; sie und Wernlein heiraten im Jahr 1800), hat die Passage aus der Unsichtbaren Loge bei seiner »Rezension« des Manuskripts gegenüber Richter unaufgefordert verteidigt und von einer »Einschmelzung« der »fürstliche[n] und Bousische[n] Verführungs-Scene« nachdrücklich abgeraten. Allenfalls die »das Gelingen der beschlossenen Ergebung der Residentin« (deren Rolle als Verführerin oder Verführte hier relativiert wird) könne der Verfasser vielleicht etwas modifizieren. Zur Begründung seiner Haltung führt Otto abschreckende moralische Wirkgründe ins Feld: »Es ist ein Muster, wie dergleichen Scenen behandelt werden müssen, wenn sie, um den Helden zu entschuldigen, auf's Lebhafteste geschildert 121
Hesp. 2, 309–322, vgl. I 4, 22,5–29,20.
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werden und im Leser Haß gegen den Fehler und das reine, mißbilligende, moralische Gefühl nicht nur erhalten, sondern auch erwecken und stärken sollen« (IV 1, 257,36–258,4, Nr. 133, Textgrundlage: Druck). Wo aber Abschreckung und Immunisierung gefordert ist, da ist sie auch potentiell notwendig. Wie in Renate Wirths Brief vom 24. April 1793 erkennbar ist, hat man gerade Richters ersten Roman im Freundeskreis konsequent selbstbezüglich gelesen, »mit den bewegtesten Herzen« und in Hinblick auf die eigenen »Fehler« und »Schwachheiten« (IV 1, 267,5–11). Wenn man hieraus eine – vielleicht nur unausgesprochen – wirksame Verführungskraft des Gedankens der Verführung ableiten kann, dann verliert auch die mit Hinweis auf die bürgerlich-protestantische Mentalität der Beteiligten behauptete Rarität von Verführungsstrategien an Plausibilität. Unter diesen Umständen müssen zusätzliche philologische Indizien berücksichtigt werden, zum Beispiel Kontextbriefe und Tagebücher. In Hinblick auf Helene Köhler ergibt sich hier ein philologisch sehr fragmentiertes Bild: Dem epistolären Auftakt von 1786 (bestehend aus dem originalhandschriftlich bezeugten Brief Richters an den Vater sowie dem nur durch Helene Köhlers Erinnerungstext beglaubigten ›Verführungsschreiben‹ vom 10. April) folgt eine sehr lange Überlieferungs-Brache: Erst ab Mai 1792 ist wieder eine kontinuierliche Folge von Briefen nachweisbar. Überliefert sind jedoch mehrheitlich nur Richters Briefe, von Helene Köhler hingegen lediglich zwei weitere Schreiben, einer davon nur im Druck. In Richters Tagebuchblättern findet sich hingegen ein interessanter Hinweis auf Verführungsstrategien, die entweder Helene Köhler oder ihm oder beiden zugeschrieben werden können. Den terminus ante quem setzt dabei der Eintrag vom 30. August: 30. August. Abends in Hof, eine Reihe schöner Zufälle – Bücher da – Stamez hier, im Konzert Klosteramtmännin, Buchhändler Kaiser aus Erfurt. Das Verhältnis mit K[öhlerin] kühlt sich ab.«122
Durch Zeilenumbruch separiert, steht das Ergebnis der Beziehung zu Helene Köhler gleichsam unter dem Strich. Der terminus post quem für die Sphäre der Verführung wäre mit dem Eintrag vom 23. Juni des Jahres anzusetzen: 23. Jun. gieng ich mit Otto nach Steeben – der schöne gold-grüne Abend – das Gehen abends, zufrüh – das Lesen eines Briefs von Helen[e], meine Verlegenheit, die interessante Entwickelung.123
Die Entscheidung, den hier erwähnten Brief Helene Köhlers nicht unter die »erschlossenen Briefe« der HKA aufzunehmen, lässt sich mit einer strikten Ausrichtung an den Editionsrichtlinien rechtfertigen: »In einer eigenen, auf den Textteil der einzelnen Bände folgenden Abteilung ›Erschlossene Briefe‹ 122 123
146
II 6, 583,23. II 6, 582,18–21.
werden jeweils diejenigen Briefe an Jean Paul vorgestellt, die durch andere Quellen bezeugt, im Wortlaut aber nicht überliefert sind« (IV 1, 313). In der Tat schließt die Tagebuchnotiz ja nicht aus, dass es sich um einen Brief – zum Beispiel – an Christian Otto gehandelt haben könnte. Im Rahmen einer Philologie der intimen Kommunikation wäre er allerdings selbst in diesem Fall zu berücksichtigen – schließlich ist Otto auch in dem unsicher beglaubigten Schreiben vom April 1786 der Mitverführte Richters. Im Verhältnis zur emotionalen Prägnanz der Äußerungen im Tagebuch fällt weiterhin das vollständige Fehlen von Erwähnungen Helene Köhlers im Briefwechsel mit Dritten aus dieser Zeit auf. Versucht man diese beiden Beobachtungen philologisch abzugleichen, wird erneut die Annahme gestärkt, dass die Leerstellen wohl eher als Signale anderen gegenüber verschwiegener Verführungsszenarien denn als Nachweis rigoros-moralischer Konsequenz zu lesen sind. Geht man erneut von dem fragwürdig überlieferten Brief aus dem Jahr 1786 aus, so kann man – verallgemeinernd und unabhängig von der Authentizitätsfrage – die Einladung ins eigene Haus bzw. an einen anderen, Intimität gewährenden Ort als das Kernelement der epistolaren Verführung erkennen; die Strategie der Verführung besteht sodann in der mehr oder minder raffinierten Ummäntelung, womit dem Empfänger oder der Empfängerin diese Einladung verlockend gemacht wird. Der einzige in einem zuverlässigen Textzeugen überlieferte Brief Helene Köhlers an Richter stammt vom 7. Mai 1792,124 kann also noch nicht das im Tagebuch erwähnte verlegenheitsauslösende Schreiben gewesen sein.125 Unter Berufung auf ein Versprechen Richters wird darin nun auch gerade kein Besuch des Freundes im Köhler’schen Hause eingefordert, noch nicht einmal ein vertrauter Brief von seiner Hand, sondern allein die Aushändigung eines Rezeptes.126 In Ermangelung des verlegenheitsauslösenden Briefes vom Juni 1792 bleibt dem philologisch ausgerichteten Liebesbriefhistoriker somit nur der Versuch, bereits hier nach »Spuren wohlgehüteter Intimität«127 zu forschen:
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Textgrundlage bildet hier, da die Originalhandschrift seit Ende des 2. Weltkriegs verschollen ist, die Briefabschrift Eduard Berends im Schiller-Nationalmuseum Marbach (SNM, Nachlass Berend, Mappe 9). Zur Verlegenheit im Liebesdiskurs vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 61–62; Schneider, Liebe und Betrug, S. 14–32. Richter hatte offenbar, wie der Kommentar darlegt, »versprochen, wegen einer Krankheit von Helene Köhlers älterer Schwester Johanna den ärztlichen Rat des Erlanger Medizinprofessors Jacob Friedrich Isenflamm einzuholen« (IV 1, 670, einleitende Erläuterung zu Nr. 135). Die Formulierung verdanke ich dem gleichnamigen Artikel von Christoph Schmälzle.
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Hof den 7 MAY 1792. Da Ihr Herr Bruder gestern von Schwarzenbach zurük kam u. nichts an uns überbrachte so wie wir es hoften, so bin ich so frey auf Ansuchen meiner Mutter Ihnen deswegen zu schreiben, u. zugleich in ihren Nahmen zu fragen ob Sie nicht die Gewogenheit haben, u. uns durch den Uberbringer dieses eine Abschrift von den vorgeschriebenen RECEPT des Herrn Docter Isenflams überschiken möchten. Ich würde mich zwar nicht unterstehen unsere schon mündlich gethane Bitte noch einmal zu widerholen, da es bey Ihrer freundschaftlichen Theilnahme gegen uns ohnedem keiner Erinnerung an Ihr gemachtes Versprechen betarf, weil aber meine Schwester schon seit den Montag wieder einen unaufhörlichen, u. wirklich heftigen Schmerzen empfindet, u. unser Zutrauen zu den, von Ihnen vorgeschlagenen Arzte so stark ist, so glauben wir daß wir mit den Gebrauch seiner uns empfohlenen Arzeneimittel keinen Augenblik zögern dürfen, u. hofe also Sie mir Ihre Verzeigung, u. Entschuldigung ertheilen daß ich die Freiheit begieng Ihnen zu schreiben, u. Sie vieleicht – zu belästigen. Wie die Arzeney soll gebraucht, u. wie viel davon soll eingenommen werden, werden Sie schon die Gütigkeit haben uns anzuzeigen. Daß wir vor die vielen Bemühungen so wir Ihnen verursachen äusserst dankbar sind, u. die viele Güte mit welcher Sie solche übernomen haben, als einen Beweiß Ihrer Freundschaft betrachten, davon wünschte ich Sie überzeugen, u. zugleich vor mich die angenehme Versicherung erhalten zu könen, daß Sie mir die INCOMODITE so ich Ihnen heute verursache gütigst verzeihen. Meine Eltern, u. Schwester lassen sich Ihnen gehorsamst empfehlen, u. ich bitte Sie zu glauben daß meine Freundschaft vor Sie eben so groß ist als die Achtung mit welcher ich mich unterschreibe als Ihre ergebenste Dienerin Helena Köhler.128
Man kann versuchen, aus dem Schreiben Spuren einer Sprache der Gefühle herauszupräparieren. Dabei fällt auf, dass die Gefühlsäußerungen durchgängig restriktiv mit den familiären und namentlich den elterlichen Intentionen verbunden werden: die enttäuschten Hoffnungen eröffnen einen epistolären Freiraum (»bin ich so frey«), der indes sogleich unter das Regime des mütterlichen Anersuchens gestellt wird. Gleiches gilt für die erhoffte »Gewogenheit«. Auch der lange zentrale Satz des Briefes setzt diesen familiären Bannkreis des Empfindens zunächst voraus, führt aber in seiner Weitläufigkeit gleichsam aus diesem Bann des pluralis familiaris (»unsere« und »uns«) heraus in einen binären Gefühlsabgleich: Verzeihung und Entschuldigung erbittet Helene Köhler nur noch für sich. Noch zweimal wiederholt sich dieses Muster: Im vorletzten Satz bildet die Formel »u. zugleich vor mich« das Scharnier, mit dessen Hilfe die familiäre in die persönliche Äußerungen umgebogen wird, im letzten ist es die in die Schlussformel mündende finale Bitte, die eigene Aufrichtigkeit als glaubwürdig anzuerkennen. Aufgrund der Überlieferungslage lässt sich nicht entscheiden, ob Richters Antwortschreiben vom 10. Mai, das nur in eigenhändiger Abschrift im Briefkopierbuch dokumentiert ist, an Helene Köhler oder an deren Mutter gerich128
148
IV 1, 260, Nr. 135.
tet war. Als Adressatenvermerk hat Richter nur »Köhler 10 Mai« notiert. Ab Ende Mai allerdings steht im Adressatenvermerk des Briefkopierbuchs dann jeweils ausdrücklich »an Helene Köhler« (Brief vom 31.5.1792, III 1, Nr. 389) bzw. »Helena Köhler« (Brief vom 22.6.1792, Nr. 391). Auf den 23. Juni aber folgt zunächst eine (Verlegenheits?)-Schweigepause, die offenbar erneut durch ein Schreiben Helene Köhlers beendet wird. Helene Köhler scheint darin auf einen Aufsatz eingegangen zu sein, den Richter ihr gewidmet hatte, außerdem äußerte sie offenbar, dem Antwortbrief zufolge, die Ansicht, den Wert der »hiesigen« (gemeint ist vermutlich: der weltlich-diesseitigen) Freuden solle man nicht zu hoch schätzen.129 In seinem Antwortbrief kündigt Richter zudem an, er werde den umgeschriebenen Aufsatz »in 8 Tagen in Ihre Stube« tragen: »er sol wenn nicht Ihrer, doch wenigstens meiner würdiger werden, denn aus dem vorigen Aufsaze sollen so viele Gedanken ausfallen als aus des Verfassers Kopfe Haare« (III 1, 360,29–32, Nr. 398 vom 20.7.1792, Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift). Der umgearbeitete Aufsatz, in dem Richter auch Helene Köhlers »Gedanken über dieses Leben und über den wolkenlosen Nachsommer desselben« aufnehmen will, wird somit zum Medium »der beschlossenen Ergebung« (mit den Worten Christian Ottos über die Verführungsszene der Unsichtbaren Loge, IV 1, 257,33), das Papier zum symbolischen Ort der Wunscherfüllung am realen Ziel aller epistolaren Verführungsstrategien, dem intimen Ort – auch wenn dieser in der fränkischen Provinz nicht mehr und nicht weniger Heimlichkeit gewährt als die familiäre »Stube«. Konsequenterweise scheint Helene Köhler erst dann noch einmal an den durch Richters Strategie literarisch verfremdeten Versuch einer epistolären Verführung in der Provinz angeknüpft zu haben, als sich fünf Jahre später beide Briefpartner an anderen, nunmehr durchaus mondänen Orten aufhalten: den geographisch nahegelegenen, sozial aber weit, fast Lichtjahre entfernt liegenden böhmischen Bädern. Aus Karlsbad schreibt sie in einem abermals nur erschließbaren Brief an Richter nach Franzensbad und lädt ihn ein, sie zu besuchen.130 Der Zeitpunkt erweist sich indes als unglücklich gewählt: Richter knüpft in Franzensbad gerade sein Verhältnis zu Emilie von Berlepsch an. Ebenso ist aber auch schon 1792 eine andere Frau zwischen sie und Richter getreten, wodurch jene im Tagebuch Richters vermerkte Abkühlung des Verhältnisses und das Versanden aller epistolären Verführungsstrategien von ihrer Seite einhergegangen ist.
129 130
Vgl. IV 2, 308, EB 47. Vgl. IV 2, 453–454, EB 106.
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2. Wahrnehmungshorizonte Amöne Herold · Georg Christian Otto
Korrespondenzen sind mediale Systeme der Selbst- und der Fremdwahrnehmung.131 Sofern die Korrespondenten nicht systematisch ›aneinander vorbei reden‹, bildet sich im Prozess des Korrespondierens ein Netz des selbst- und gegenseitigen Verstehens heraus, das in eine Erweiterung der Wahrnehmungshorizonte münden kann. In Briefwechseln, die nicht radikal monologisch bleiben (im Sinne Bohrers: »romantisch« – aber wann und wie können Briefwechsel dies wirklich sein?132), finden dabei aber neben der Erweiterung auch Verschiebungen und Überlagerungen der Wahrnehmungshorizonte statt: nicht mehr die eigenen – abgesendeten oder nicht abgesendeten – Briefe sind dann die bevorzugten Medien der Selbstwahrnehmung, sondern die empfangenen oder erwarteten, sogar die zeitweise ausgebliebenen oder verweigerten. Die Tragfähigkeit dieses Netzes, das durchaus auch ein Geflecht der erfolgreichen Täuschungen oder Manipulationen sein kann, ist wesentlich verantwortlich für die Formen des Scheiterns und Gelingens* von Liebeskorrespondenzen, wobei der Verzicht auf Täuschung und Manipulation natürlich ebensowenig eine notwendige Bedingung für das Gelingen ist wie die bestgemeinte Aufrichtigkeit ein hinreichender Schutz vor dem Scheitern. Wie aber sind ›angemessene‹ bzw. illusionäre Wahrnehmungshorizonte philologisch nachweisbar? Die Frage ist nichts anderes als die Verallgemeinerung der Frage, wie Verführungsstrategien*, die doch ihre Intention systematisch zu verbergen versuchen, philologisch repräsentierbar sind. Neutrale Protokolle der Selbst- und Fremdwahrnehmung sind freilich im Umkreis von Liebeskorrespondenzen am allerwenigsten zu erwarten. Dies gilt für Korrespondenzen mit Dritten, die bereits durch den Akt, sie ins Vertrauen zu ziehen, in eine parteiische Rolle gedrängt werden, so dass das Wechselverhältnis sich gegenseitig beeinflussender Wahrnehmungshorizonte sich 131
132
150
Zu den für die Briefkultur seit dem 17. Jahrhundert grundlegenden Forderung nach »Adressatenbezogenheit« als einem gattungskonstitutiven Merkmal vgl. Edith Anna Kunz, »Ich werde, wie gewöhnlich, schlecht erzählen …«. Zu den Briefen des jungen Werther. In: Anderegg, Schreibe mir oft, S. 70–81, bes. S. 70–78. Vgl. Bohrer, Der romantische Brief, passim; Bohrers Geringschätzung der Mitteilungsfunktion des Briefes folgt einem ästhetischen Paradigma und setzt eine kulturhistorische Wertung von Epistolarsituationen voraus; auf eine Vermittlung von Wahrnehmungsformen hat es für ihn nur der Allerweltsbrief abgesehen. Demgegenüber ist Luhmann, der sich so gut wie gar nicht auf Briefdokumente bezieht, grundsätzlich skeptisch hinsichtlich der Kommensurabilität von Liebeszeichen nach Kriterien der Wahrhaftigkeit bzw. der Aufrichtigkeit und damit auch hinsichtlich der Abgleichbarkeit von Wahrnehmungshorizonten (vgl. Luhmann, Liebe als Passion, bes. S. 131– 136).
fortsetzt; und es gilt für monologische Medien wie Tagebücher oder für öffentlichkeitsbezogene, künstlerische Medien wie Bilder, Romane, Kompositionen, die gleichfalls das Wechselspiel der Wahrnehmungen zugleich voraussetzen und fortsetzen. Dass im Tagebuch, dessen Mediengeschichte mit der des Privatbriefs eng verflochten ist,133 die Stunde der wahren Empfindung schlägt, ist also ebensowenig vorauszusetzen wie die Annahme, dass »hinter dem Durchstrichenen […] stets der Sinn« lauere, wie dies Baudrillard postuliert und zugleich auch dementiert hat.134 Gleichwohl steht aber die monologische Reflexion (ebenso wie ›das Durchstrichene‹) in einem philologisch bestimmbaren und repräsentierbaren Verhältnis und Abstand zum Kommunizierten. Was dabei in Erscheinung tritt, ist jedoch nicht als ein vom Kommunizierten abgrenzbarer Sinn, die latente Wahrheit jenseits der Kommunikation, zu begreifen, sondern als ein integraler Teil derselben. Da die Briefdokumente von Liebe und Freundschaft aus dem Umkreis der ›Simultanliebe‹ von deren Mitgliedern systematisch gesammelt werden, und zwar sowohl in Form von Originaldokumenten als auch in Form von Konzepten, Abschriften und Auszügen, ist die Textgrundlage für eine Philologie abweichender Wahrnehmungshorizonte auf der Basis von Konzept-, Entstehungs- und Überlieferungsvarianten ungewöhnlich groß. Die Einbindung des Intimmediums Tagebuch in den Prozess der Reflexion, Stauung, Freigabe und Zirkulation von Gefühlen ist demgegenüber für den Hofer Kreis in relativ geringem Umfang dokumentiert. Richter selbst hat nur in wenigen und vergleichsweise kurzen Phasen seines Lebens ein Tagebuch geführt, aus seinem Umfeld ist die von ihm stürmisch umworbene Amöne Herold als Tagebuchschreiberin erkennbar, durch überlieferte Texte aber nur sporadisch greifbar. Dennoch hat das Tagebuch für Richters Verhältnis zu ihr eine besondere dokumentarische und systematische Bedeutung: dokumentarisch, weil die Tagebuchaufzeichnungen die wichtigste außerliterarische Quelle für Richters – zuletzt scheiternde – Liebe zu der Fabrikantentochter darstellen, systematisch, weil Richter und Amöne später auch Tagebücher bzw. Tagebuchblätter ausgetauscht haben, so dass sich an diesem Beispiel die Differenzen, Verschiebungen und Überlagerungen sowie der Versuch eines Abgleichs der Wahrnehmungshorizonte reflektieren lassen. Allerdings sind auch von Amöne Herolds Briefen an Richter kaum Spuren, geschweige denn zusammenhängende Brieffolgen überliefert. Dies hat offensichtlich ihrem Wunsch entsprochen, oder vielmehr: ihrer auf das Nachleben bezogenen Strategie: Auch bei der Publikation des Briefwechsels zwischen ihrem Ehemann Christian Otto und Richter, die sie zusammen mit Richters Schwiegersohn Ernst Förster (1800–1885) ab Ende der 1820er Jahre 133 134
Vgl. Siegert, Relais, S. 95–96. Baudrillard, Von der Verführung, S. 77.
151
unternimmt,135 hat sie die Spuren, die sich auf ihr eigenes emotionales und namentlich ihr amouröses Leben beziehen mochten, weitgehend – und mit signifikanten Ausnahmen – getilgt, während ihre editorische Hauptabsicht darin zu erkennen ist, den Bund zwischen ihrem verstorbenen Ehemann und ihrem zum Publikationszeitpunkt gleichfalls schon nicht mehr lebenden früheren Verehrer Richter in all seinen Facetten als »das schönste Bild vollendeter Freundschaft« zu würdigen und zu präsentieren.136 Somit muss bei der Betrachtung des VERSTÄNDNISSES VOM ICH UND VOM ANDEREN137, das die Dokumente andeuten, in ihrem Falle (und über weite Strecken auch im Falle ihres Ehemanns und seines Verhältnisses zu Richter) stets die Überlieferungssituation besonders kritisch berücksichtigt werden. Nicht selten ist davon auszugehen, dass dabei die Dokumente der Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung retuschiert worden sind bis an die Grenze des ZumVerschwinden-Bringens der eigenen Person. Der Versuch, die Korrespondenzverhältnisse im Hofer Epistolarzirkel aus einer egalitären Perspektive zu 135 136 137
152
Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto, 4 Bände, Berlin: G. Reimer 1829–1833 [Reprint: Berlin und New York 1978]. Vgl. das Vorwort zu Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto, Bd. 1, S. III. In welcher Weise die Verschiebung von Wahrnehmungshorizonten das Verständnis vom Ich und vom Anderen produktiv beeinflussen und erweitern kann, macht Johannes Anderegg sehr eindrücklich am Beispiel von Goethes Briefen an Charlotte von Stein aus Italien deutlich (Anderegg, Schreibe mir oft, S. 101–115); zu den Leitbildern der Seelenverwandtschaft bis hin zur Liebeseinheit vgl. Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 73–79, zum Kommunikationsaspekt dieser Leitbilder vgl. weiter unten, Anm 227. Zur Möglichkeit, durch das Schreiben von Briefen zu einem Entwurf seiner selbst zu gelangen vgl. (am Beispiel Rahel Varnhagens) Renate Stauf, »Wen ich nicht behandeln kann …«, die hervorhebt, dass bei Rahel Varnhagen ein Bewusstsein auch der stilistischen Besonderheit vorliegt, mit dem der Ich-Entwurf unauflöslich verknüpft ist (S. 334–337, bes. S. 335): von den bei Bohrer (Der romantische Brief) aufs Podest ästhetischer Subjektivität gehobenen Protagonisten Kleist, Brentano und Günderrode unterscheide Rahel sich indes dadurch, dass bei ihr weder eine Distanzierung vom Vernunftsubjekt stattfinde noch ein Desinteresse an Selbsterhaltung beobachtet werden könne (ebd., S. 337 und S. 351). Einen Überblick über die Möglichkeiten des Briefs zur Selbstdarstellung (von Frauen) im 18. Jahrhundert bietet Barbara Becker-Cantarino, Leben als Text – Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Frauen – Literatur – Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Hiltraud Gnüg, Renate Möhrmann, 2. Aufl., Stuttgart 1999, S. 129–146, insbes. S. 130–136 und 141–146, ein Problematischwerden entsprechender Forderungen (sowohl derjenigen nach Selbst- wie der nach Fremderkennen) konstatiert Anke Bennholdt-Thomsen für das Epochenjahr 1930 (Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs. Eine dissonante Dokumentation aus dem Jahre 1930. In: Die Frau im Dialog. Studien zur Theorie und Geschichte des Briefes, hg. von Anita Runge, Lieselotte Steinbrügge, Stuttgart 1991, S. 193–224, hier S. 210–211). Die Bedingungen einer sozialwissenschaftlichen (quantitativen) Analyse einer realen Gegenseitigkeit (als dem Leitbild »romantischer Liebe«) sondiert Hartmann Tyrell in seinem Aufsatz Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer »quantitativen Bestimmtheit« (in: Theorie als Passion, hg. von Dirk Becker, Frankfurt/M. 1987, S. 570–599).
beschreiben, stößt also in ihrem Falle auf besonders ausgeprägte Schwierigkeiten. Die wohl wichtigste Frau aus dem Hofer Umfeld Richters erscheint somit in Hinblick auf ihren emotionalen Wahrnehmungshorizont fast wie ein Phantom, das sich ins Dunkel hinter den Grenzen philologischer Repräsentierbarkeit begeben hat. Andererseits verweisen nicht nur die Konsequenz und die Energie, mit der sie ihr eigenes Verschwinden ins Werk setzt, auf ein emotionales Substrat, das, so ungreifbar es philologisch oft auch sein mag, doch konsequent in Rechnung gestellt werden muss. So lässt sich zum Beispiel aus einem im Original überlieferten Brief Richters an sie vom 15. März 1795 erschließen, dass sie ihn zu dieser Zeit, als seine Leidenschaft für sie abgeklungen ist, über ein älteres Liebesverhältnis ins Vertrauen zieht, das ihr durch einen »Zufal« (so die Formulierung Richters) wieder schmerzlich gegenwärtig geworden ist.138 Ihr eigenes Schreiben, auf das sich Richter bezieht und aus dem er passagenweise auch zitiert, ist somit als Erschlossener Brief belegbar, entzieht sich aber, da er der Überlieferung entzogen wurde, der genaueren Analyse und lässt den mit der Bestimmung ihres amourösen Wahrnehmungshorizontes beschäftigten Philologen im Nebel stehen.139 Wenn die Philologie aber umgekehrt auf der Grundlage von Richters Briefen, seinen Tagebuchaufzeichnungen sowie den späteren Literarisierungen die Geschichte seiner zunächst verborgenen, dann eifersüchtigen und schließlich entsagenden Liebe zu Amöne Herold zu schreiben versucht, dann bewegt sie sich auf ungesichertem Terrain: niemand weiß, ob nicht auf ihrer Seite im betrachteten Zentrum eine völlig andere emotionale Orientierung und Bindung den Wahrnehmungshorizont bestimmt hat als diejenige, die Richters und seines Konkurrenten Christian Ottos Wunschbilder festgeschrieben haben – zum Beispiel eben jene nicht datierbare Affäre, die der »Zufal« (III 2, 57,30) später ins Briefgespräch und damit auch schattenhaft in die Überlieferung zurückbringt. Über Amöne Herolds Herkunft und familiäres Umfeld sind wir dabei gut informiert: Am 22. August 1774 als Tochter des Kaufmanns und Kattunfabrikbesitzers Johann Georg Herold und seiner Ehefrau Amöne Friederike Dorothea geb. Rentsch in Hof geboren,140 wächst Johanna Christiana Amöna (Amöne) Herold unter insgesamt neun Geschwistern auf, von denen drei bereits im Kindesalter sterben. Als sie Richter erstmals begegnet, ist sie rund 16 Jahre alt. Richters Leidenschaft für Amöne Herold ist in seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen von 1790 bis 1794 zumindest in ihren wohl entscheidenden Wendepunkten dokumentiert. Amöne scheint diese Liebe jedoch nicht in gleicher Weise erwidert zu haben. Spätestens um den Jahreswechsel 138 139 140
Vgl. III 2, 57–59, Nr. 74. Vgl. IV 2, 421, EB 8. Der Registereintrag »geb. Rausch« in II 6, Apparatband, S. 328, beruht wohl auf einem Lesefehler.
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1792/93 muss sie sich für Christian Otto entschieden haben, so dass Richter schließlich mit dem im Tagebuch proklamierten Entschluss entsagte, »lieber alle meine Freuden zu zerstören als eine fremde« (II 6, 586,11–12). Ein Vertrauensverhältnis blieb – auch über später immer wieder auftretende Eintrübungen hinweg – dennoch erhalten und bewährte sich in kritischen Lebenssituationen auf beiden Seiten: Als sich im Herbst 1794 Richters Hoffnungen auf eine Verbindung mit Amöne Herolds jüngerer Schwester Carolina (Caroline) Christina Luisa (* 1779) zerschlagen,141 steht ihm Amöne ebenso bei wie er ihr in problematischen Phasen ihrer Beziehung zu Christian Otto.142 Amöne und Christian Otto heiraten schließlich am 30. Juni 1800, ihre Ehe bleibt kinderlos. Amöne Otto stirbt am 9. Februar 1837 in Hof, neun Jahre nach ihrem Mann.143 Die für den vorliegenden Fall relevanten Aufzeichnungen aus dem Nachlass Richters stammen aus den Jahren 1790 bis 1794 und sind in Band 6 der zweiten Abteilung der HKA publiziert. Die Liebe zu Amöne Herold steht dabei nicht am Anfang der Aufzeichnungen und ist somit auch nicht als der unmittelbare Schreibanlass* für den Tagebuchschreiber anzusehen. Bereits der erste Tagebucheintrag, in dem sie erwähnt wird, steht jedoch in einem Wahrnehmungshorizont der Liebe, so dass auf ihren initialen Wahrnehmungshorizont nicht geschlossen werden kann ohne seinen amourösen Wahrnehmungshorizont mitzudenken, eben weil keine voramourösen Beobachtungen von seiner Seite überliefert sind. Die entsprechende Notiz Richters vom 3. Dezember 1790 lautet: » – verstelte Liebe gegen H[eroldin], im Grunde nur halb« (II 6, 578,10–11). Bemerkenswert ist natürlich die Selbstbezüglichkeit der Aussage, die auf jede Spekulation über ihre Empfindungen verzichtet. Im Satz, der dem auf Amöne Herold bezogenen vorausgeht, notiert Richter unter dem gleichen Datum: »Söhnte mich mit R[enata] aus« (II 6, 578,10). Er bezieht sich also auf ein Ereignis, das eine gegenseitige Abstimmung der Wahrnehmungshorizonte zwar nahelegt, aber keineswegs zwingend voraussetzt (da man sich gegebenenfalls auch innerlich mit jemandem »aussöhnen« kann, ohne den anderen dabei einzubeziehen). Der Binde141
142 143
154
Vgl. die Briefe Richters an Caroline Herold vom 4.11., 11.11. und 1.12.1794, III 2, Nr. 39, Nr. 42 und Nr. 44, sowie III 2, 17,32–18,6 und S. 24,21–37, sowie seine Tagebucheinträge von Sommer und Herbst 1794, II 6.1, 587,20–21, S. 588,11–13 und Z. 19–32. Vgl. IV 2, EB 4, III 2, Nr. 25, Nr. 47, Nr. 80a, Nr. 81, IV 2, EB 6, EB 11 und EB 12. Nach der Jahrhundertwende tritt Amöne Herold auch als Schriftstellerin hervor. In der von J. F. Fazius in Coburg herausgegebenen Quartalsschrift Pözile erscheint 1801 eine von ihr verfertigte Übersetzungsprobe aus dem Ossian, in der bei Cotta erscheinenden Flora der von Gerhard Anton von Halem herausgegebenen Irene publiziert sie unter der Chiffre A. O. Gedichte und Erzählungen. 1809 veröffentlicht sie auch in dem von Richters Schwägerin Minna Spazier redigierten Taschenbuch der Liebe und Freundschaft, 1810 erscheint unter dem Pseudonym Amalie von Obyrn bei J. A. Stein in Nürnberg ihr Briefroman Antonius. Vgl. IV 2, einleitende Erläuterung zu Nr. 22.
strich »–« (II 6, 578,10), der zwischen den beiden zitierten Sätzen steht, erlaubt also zwei Lesarten: er könnte zwischen zwei selbstbezüglichen Gedanken vermittelt haben, aber er könnte auch von einem äußeren zu einem inneren Ereignis überleiten, von einem kommunikativen Akt des Liebens zu einem introspektiven. Auch in den weiteren »die Heroldin« betreffenden Notizen präsentiert sich der Tagebuchschreiber als ›Beobachter seiner selbst‹, der das Wachsen der Liebe vor allem in ihren Zwischen- und Zweifelsstufen am Maßstab der Imagination vermisst: »Die Liebe zu H[eroldin] wächst oder entsteht«, so lautet ein für sich stehender Tagebucheintrag vom 1. Februar 1791 (II 6, 578,30), wobei die Datierung auf den 1. Februar eine Sofortkorrektur aus einer irrtümlich der Zeit vorgreifenden Datierung »3. Febr.« ist.144 Auffällig ist dabei die Figur des ZWEIFELS UND SELBSTZWEIFELS,145 die amouröse und nichtamouröse Spekulationen in dieser Phase verbindet. Am 2. Februar schließt sich unmittelbar an jene vom 1. des Monats eine Notiz an, worin, nunmehr scheinbar radikal introspektiv, der Horizont der eigenen Existenz grundsätzlich hinterfragt wird: »mein Schrecken, daß im 19., 30., 40. Jahrhundert nichts von mir da ist, keine Erinnerung« (II 6, 579,1–2). Die nachklappende Verdeutlichung »keine Erinnerung« ist freilich als Teil einer unausgesprochenen Parenthese zu lesen, denn sie verweist notwendig auf andere Subjekte, die sich an den, der da schreibt, aktiv erinnern könnten. Damit öffnet sich der Wahrnehmungshorizont auf gleichsam spekulative Weise, abgesichert im Modus der Negation: Keine Erinnerung wird bleiben, so lautet der Schreckensgedanke, die Subjekte der Erinnerung sind Phantome der NichtWahrnehmung. Gleichwohl bleibt in den Einträgen der Folgezeit die Intro144
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Auch die gewollten und/oder ungewollten Irrtümer der Datierung werden von Richter der Selbstwahrnehmung und Selbstkritik unterworfen, vgl. seinen Eintrag zum 22. März 1761 (ein Tag nach seinem 28. Geburtstag): »Ich wolte eine Lüge und 21. März schreiben, weil gestern mein Geburtstag und zugleich der von vielen Entschlüssen und Besserungen war« (II 6, 579,6–8). Vgl. Bennholdt-Thomsen, Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs, S. 206; Stock, »Polyphonie des ganzen Lebens«, bes. S. 156–158 (bezogen auf den – geschlechterspezifisch und vielleicht auch berufsspezifisch verteilten – Selbstzweifel von Seiten der Frau und den grundsätzlichen Zweifel des Liebenden an der Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens im Verhältnis Dietrich Bonhoeffers und Maria von Wedemeyers; dass diese wechselseitige Zweifelkonstellation sich dennoch in eine höheren »Ordnung der Liebe« fügen lassen, deutet der systematische Theologe Stock als Indiz dafür, dass der Zweifel von Günter Dux an der Möglichkeit einer ›nachmetaphysischen‹ Liebe zu relativieren wäre, freilich im Horizont einer auch religiösen »Polyphonie« der Lebensentwürfe, vgl. ebd., S. 159–161); zur »Polyphonie« des Liebeszweifels gehört sicherlich auch, dass Zweifel und Selbstzweifel in der Moderne zu trivialen Äußerungsformen werden können ohne dass dabei ihre existentielle Glaubwürdigkeit in Frage gestellt werden kann (vgl. die Ausführungen über das komplexe Zweifelsystem im Georgekreis und dessen künstlerische Reflexe bei Braungart, Oestersandfort, Walter, Andres, Platonisierende Eroskonzeption, bes. S. 241–242 und 256ff).
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spektion vorherrschend: in Hinblick auf die eigenen Grenzen (die Grenzen des Körpers und des Bewusstseins, II 6, 579,14–15, das Gefühl der Sterblichkeit, II 6, 579,16–18, das der moralischen Unzulänglichkeit, II 6, 579,19–20) ebenso wie auf die eigene Position in einer Welt, die zumindest noch heilsgeschichtliche Residuen hat: »Der Frühling und mein Leben fiengen mit einander an und der gütige Schöpfer wolte, daß sie noch mehrere Aehnlichkeiten hatten« (II 6, 579,23–25). Noch Jahrzehnte später wird Richter sein autobiographisches Fragment einer »Selberlebensbeschreibung« mit diesem Gedanken initiieren,146 der indes im engeren zeitlichen Horizont des Tagebuchs und der alltäglichen Selbsterfahrung bald relativiert wird: »Ich kan beim schönsten Wetter zu keinem vollen Genus meiner selbst kommen« (II 6, 579,32–33). Der Resonanzraum der Wahrnehmungen des Subjekts bleibt also subjektlos: kosmisch, meteorologisch, botanisch. Immerhin können Erscheinungen, die diesen Sphären zuzuordnen sind, eine Beziehung zu anderen Subjekten (und zum anderen Geschlecht) vermitteln: »Freude« empfindet der Tagebuchschreiber daher »über den Gartenspaziergang mit Renata und ihr Blumengeschenk« (II 6, 579,29–30, 30.3.1791). In Hinblick auf die Schwestern Amöne und Caroline Herold findet dann, als sie Anfang Mai 1791 im Tagebuch auf- bzw. wiederauftauchen, eine Separierung der Wahrnehmungshorizonte statt. Im Anschluss an die Notiz über die Unmöglichkeit, zum vollen Selbstgenuss zu kommen, werden beide erwähnt, zuerst Caroline: »Eifersucht oder Kälte gegen C.« (II 6, 580,2). Die Reflexion bewegt sich hier also im Horizont der Selbstwahrnehmung und bleibt der Grundfigur von Zweifel und Selbstzweifel verhaftet; ähnlich und doch in einer wichtigen Hinsicht anders sind die Verhältnisse im Fall Amönes: »Mein Schwanken und Zweifeln was H[eroldin] von mir denkt« (II 6, 580,3). Die Fremdwahrnehmung hat zwei Modi: den Modus des Schwankens, der eine zuversichtliche Option enthält, und den Modus des Zweifelns, in dem der Mut sinkt. Erst letzteres aber bezieht ihren Wahrnehmungshorizont ins emotionale Kalkül mit ein. Selbst- und Fremdwahrnehmung werden dann erneut im Eintrag vom 15. Mai kombiniert: »neue Ueberzeugung, daß ich eitel und H[eroldin] kalt ist gegen mich: sonderbar! wäre sie’s nicht: so wär mirs nicht recht« (II 6, 580,14– 16). Entsprechende Formen einer reflektierten doppelten Buchführung der Selbst- und Fremdwahrnehmung147 wechseln von hier an in den Aufzeichnungen der folgenden Monate mit Formulierungen direkter, scheinbar spontaner Selbstwahrnehmung ab.148 Ein gemeinsames Merkmal dieser Passagen ist aber, dass in ihnen Textvarianten in deutlich erhöhter Zahl zu verzeichnen sind, besonders an Stellen, die die Wahrnehmung der Fremdwahrnehmung 146 147 148
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Vgl. II 4, 71,16ff. Vgl. II 6, 582,5–7, 13.6.1792. Vgl. II 6, 581,25, S. 583,5–6 und S. 584,26–28.
betreffen – dort korrigiert Richter die Zurechnung von Ehrlichkeit zugunsten der anderen Seite.149 Die scheinbar unmittelbaren Äußerungen tragen hingegen den eigenen Emotionen Rechnung, wobei ihre ›Unmittelbarkeit‹ in philologischer Perspektive gleichfalls durch die Tatsache relativiert wird, dass sie entweder nachträglich eingefügt,150 oder zunächst fehldatiert sind.151 Um den Jahreswechsel 1792/93 endet diese spekulative Phase der Wahrnehmungsbuchführung. An mehreren markanten Stellen fällt nun der auktoriale Gestus des Tagebuchschreibers gegenüber dem eigenen Leben auf – ein Gestus, der Lustempfindung ebenso wie Eifersucht unter die Fittiche einer prätendierten intro- und retrospektiven Allmacht nimmt, die Spekulation unter das Regime der Narration zu zwingen versucht: das eigene Leben, dem der Augenblick der Niederschrift doch nur als ein Moment zugehört, wird als Totalität begriffen. Der Weltbezug* wird durch den Habitus des Erzählers seiner selbst, der vorab bereits über seine Existenz als Ganzes verfügt, hergestellt: 27. Blieb in H[erolds] Hause bis 2 Uhr; schönste[r] Abend meines kargen Lebens; ein gesungnes Wort von ihr »die Tage sind nicht mehr« beklemt mich zu Thränen und reisset mich aus dem Hause. Aber der Mensch schreitet vom Gipfel seiner Freude alzeit in einen Abgrund: die grösste Freude frisset sogar die klein[en] auf. Schöner lezter Tag. Neujahrswunsch an H[eroldin].152
Das »gesungene Wort« kann allenfalls mit einem starken philologischen Vorbehalt als ›Fenster‹ zum Horizont von Amöne Herolds Empfindungen begriffen werden. Zu deutlich ist der Bezug des sentimentalischen Liedanfangs zu den Spekulationen des Ich-Verlustes durch Verschwinden der Erinnerung, mit denen der Tagebuchschreiber sich in der vorhergehenden Zeit getragen hat. Im totalisierenden Habitus gegenüber dem eigenen Leben knüpft diese Aufzeichnung von der Gipfelphase der Verleibtheit an ihren Anfang an, die berühmte Todesvision vom November 1790, die Richter nach Ausweis seiner späteren autobiographischen Reflexionen bis hin zur »Selberlebensbeschreibung« als grundlegend für seine spezifische FORM DES SELBST- UND WELTBEZUGS153 betrachten wird: 149
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So schreibt Richter zum Beispiel am 13. Juni 1792 zunächst: »Ich habe mich mit der H[eroldin] getäuscht, sie war in viel Punkten sehr aufrichtig und in 2 sehr falsch«, korrigiert dann aber »viel« zu »meisten« (II 6, 582,4–6). Dies ist der Fall beim Eintrag vom 22. August 1791: »bös mit A[möne]« (II 6, 581,25). So im Falle des zunächst auf den 21. Dezember datierten Eintrags vom 24.12.1792, die Freude über das Zusammensein mit Amöne Herold betreffend, vgl. II 6, 584,25– 28. II 6, 584,29–585,4. Die Spannung von Welt- und Selbstbezug (Außen- und Innenwelt) ist ein grundlegendes Bezugsschema von Bohrers Deutung des »romantischen Briefs«, vgl. hierzu Anderegg, Schreibe mir oft, S. 93–96; zur Tendenz, in Liebesverhältnissen die Innenwelt der Liebe zum exklusiven Welt-Raum werden zu lassen vgl. Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 65–67, ihre auf eine genauen Lektüre der Korrespondenz Mereau/Brentano gegründete Kritik an Bohrer ebd., S. 115–120. Für Luhmann hin-
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15. Nov. Wichtigste[r] Abend meines Lebens: denn ich empfand den Gedanken des Todes, daß es schlechterdings kein Unterschied ist ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, daß alle Plane und alles mir davonschwindet und daß ich die armen Menschen lieben sol, die sobald mit ihrem Bisgen Leben niedersinken – der Gedanke gieng bis zur Gleichgültigkeit in allen Geschäften.154
Die Akzentverlagerung vom »wichtigsten« Abend (1790) zum »schönsten« (1792) hat jedoch nicht nur atmosphärische Relevanz: der »wichtigste« Abend beansprucht seine Geltung für alle Zukunft, der »schönste« ist durch Vergleich mit allen bisherigen Abenden hinreichend bestimmt. Dass die im Tagebuch referierte Reaktion auf das »gesungene[] Wort« Amöne Herolds zunächst ein Akt der Kommunikationsverweigerung ist, folgt der emotionalen Logik des Tagebuchs insgesamt. Verglichen mit den Verhältnissen zu Renate Wirth und Helene Köhler, die – nach Ausweis des Tagebuchs155 – deutlich stärker in kommunikative Kontexte (Briefe, Gespräche) eingebunden sind, bleibt dasjenige zu Amöne Herold weiterhin kommunikationskarg. Hält man zusätzlich die immer wieder auftauchenden Notate des Tagebuchschreibers daneben, die auf Stimmungen des amourösen Mangels verweisen: (»Seltne Gefühle zu deren Ausströmung mir ein 2tes Herz fehlte, das sie aufnahm – meine Empfindsamkeit immer stärker —«, II 6, 581,22–24, 29.7.1791; »Sehnsucht, ein weibliches Herz zu finden, das mir gehört. Ich wil nicht das schönste Gesicht, aber das schönste Herz und ich kan an jenem alle Flecken, aber an diesem keine übersehen«, II 6, 583,12–15, 31.7.1792), dann lässt sich diese fortgesetzte Beschränkung des Wahrnehmungshorizontes auf die eigene Perspektive und auf Spekulation – bei gleichzeitig eklatanter Verliebtheit – wohl nur als Figurationen einer Angst, sich dem GEFÜHL DER ZURÜCKWEISUNG156 ausgesetzt zu sehen, gelesen werden. Dass dieses Gefühl durchschossen ist von einem ins Kosmische ausgreifenden Gefühl der eigenen Nichtigkeit, ist dabei natürlich nicht zu vernachlässigen, muss aber im Horizont der Liebesbriefkultur als eine Verflechtung des (inneren) Liebesgesprächs mit anderen Diskursen* aufgefasst werden, namentlich den Zeitströmungen eines ›vorro-
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gegen ist Intimität, die als wechselseitige Partizipation an den Weltverhältnissen des jeweils anderen verstanden wird, ein theoretisch nicht hinreichend ergründbares Konzept (Liebe als Passion, S. 200), das durch idealistische oder mystische Entwürfe (wie das der unio mystica) eher verunklärt denn durchschaubar gemacht wird (ebd., S. 219), das aber gleichwohl eine Voraussetzung für das Erleben von Liebe in sozialen Systemen darstellt und in der Romantik eine Radikalisierung erfährt, indem die Einzigartigkeit der Welt des anderen (und nicht nur deren Eigenschaften) vorbehaltlos angenommen werden (ebd., S. 166–168). II 6, 577,20–25. Die Zahl der überlieferten Briefe an alle drei als philologische Evidenz zu nehmen, verbietet die erwähnte spezifische Überlieferungssituation. Vgl. Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 70–71.
mantischen‹ Nihilismus.157 Hierauf zielt denn auch die eingeschobene Reflexion: »der Mensch schreitet vom Gipfel seiner Freude alzeit in einen Abgrund: die grösste Freude frisset [aus: nimt] die klei[nen] auf.« Das Gefühl der Furcht vor Zurückweisung wird in ein Lebensgesetz umformuliert, zu dessen Festschreibung literarische Mühe aufgewendet wird: die der Suche nach dem passenden Wort, der angemessenen Variante. Die den Eintrag schließenden Bemerkungen binden die Reflexion dann aber doch ans Erleben zurück und öffnen – wohl einem anderen Datum vorgreifend oder zuzurechnen – den kommunikativen Horizont: »Schöner lezter Tag. Neujahrswunsch an H[eroldin].« Es sind drei Briefe Richters an Amöne Herold aus dieser Zeit überliefert, die mit Ausnahme des letzten, des »Neujahrswunsches«, nicht im Tagebuch vermerkt sind. Durch das Tagebuch werden jedoch die äußeren Schreibanlässe* deutlicher, die für diese Versuche, das monologische Liebesgespräch in ein dialogisches zu transponieren, unerlässlich gewesen zu sein scheinen. Der erste Brief (III 1, Nr. 360) ist einen Tag nach der Tagebuchnotiz »Die Liebe zu H[eroldin] wächst oder entsteht« niedergeschrieben und wäre dem Kontext des Entdeckens der Liebe durch Schreiben* zuzuordnen, würde denn dieses Entdecken in irgendeiner Form die kontinuierliche Entfaltung und Kommunikation des Gefühls nach sich ziehen. Dies ist aber keineswegs der Fall: Die oben zitierten Tagebucheintragungen, in denen sich Wunsch und Sehnsucht nach einem »zweiten Herzen« etc. ausdrückt, stammen aus der Folgezeit und in der Reihe der überlieferten Briefe findet sich ein nächster Brief an Amöne Herold erst im Oktober 1792; Hinweise auf Antwortbriefe gibt es nicht. Der erste Brief vom 2. Februar 1791 lautet: Ich bin begierig, was ich in diesem Zwillings- und Doppelsonaten-Briefe vorbringen werde. Da ich mündlich mit Ihnen hinter Ihrem Tischgen sprechen darf: so darf ichs auch wol schriftlich hinter meinem. Darf ichs nicht: so müsen Sie mit mir zanken; und dieses wil [ich], weil ich Ihnen dadurch ein Paar Worte und Minen mehr abgewinne. – Der niederströmende Himmel wolte mich ersäufen; er konte aber niemand beikommen als dem Frauenzimmer in meiner Tasche, der LA ROCHE. Und so ists auf diesem Erdkügelgen allemal: wenn ein Man und eine Frau beisammen sind: so nimt der Schmerz und die Plage keinen Arm als den weiblichen. Z.B. Wenn ich und Sie beisammen sind: so hat niemand Vergnügen als ich und niemand Plage als Sie. So ists beim Machen und Lesen dieses Briefs.158
Der Brief war einem Schreiben an Amöne Herolds Mutter Amöne Friederike Herold (1748–1794) beigelegt, worin Jean Paul ebenfalls auf das hier zum 157
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Entsprechende Konzepte werden vor allem in Hinblick auf den jungen Tieck diskutiert, vgl. z.B. zum William Lovell (1793) den Kommentar von Rainer Schmitz, in: Die ästhetische Prügeley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung, hg. von R. Schmitz, Göttingen 1991, S. 331. III 1, 323, Nr. 360 vom 2.2.1791; Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift im Briefkopierbuch.
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Schreibanlass* genommene Werk Sophie La Roches Bezug nimmt: Briefe an Lina als Mädchen und Mutter,159 ein Werk, das aus Kolumnen aus Sophie La Roches Zeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter bestand, die, der Buchhändleranzeige des Journals zufolge »die Punkte berühren, welche eine Tochter von guter Erziehung für ihren Verstand, ihr moralisches Gefühl, und Haushaltungskunst wissen soll.«160 Dem »Wachsen oder Entstehen« der Liebe wird also epistolärer Nachdruck durch Einbeziehung der familiären Mitspracherechte* und durch ein Angebot zum Lieben nach Texten* verliehen, ein Angebot, das vielleicht strategisch weniger abwegig war, als es der moderne Blick wahrzunehmen bereit ist; wenn die Werbung ohne vorzeigbaren Erfolg blieb (ein Antwortbrief Amöne Herolds ist nicht überliefert und lässt sich auch nicht erschließen), so wohl weniger aufgrund der Zumutung, eine konventionelle Rolle zugewiesen bekommen zu haben, als vielmehr in Anbetracht der Diskrepanz, die zwischen dieser Zumutung und Richters in seinem Wohnort höchst umstrittenem Künstler-Habitus in Kleidung und Frisur bestand.161 Ohne Zweifel war zu erwarten, dass sich häusliche und töchterliche Tugenden beim bedächtigen Juristen Christian Otto besser investieren ließen als beim schwärmerischen Artisten Richter. Der nächste, nunmehr in der Originalhandschrift überlieferte Brief Richters stammt vom 15. Oktober 1792, dem Tag, zu welchem das Tagebuch verzeichnet: »meteorologisch und psychisch heitrer Tag. Freu[en] vor Kirchweih« (II 6, 584,13–14). Dieser Brief lautet: Madmoiselle,
Schwarzenbach d. 15 OcT. 1792
Der J e a n P a u l wäre gar zu undankbar, wenn er, da er immer nur bekömt und Sie immer nur geben, nicht wenigstens eine Dankadresse gäbe für die rekrutierten und für die abgedankten Noten. Ich wünsche, daß mir die Komponisten so gefallen wie die Lieferantin derselben oder wie die heutige es so gut meinende Sonne, die – gleich dem Geschlecht, das man mit ihr vergleicht – vor ihrem Winter und ihrem Umwölken den heitern Nachsommer vorausschikt. – Der Himmel möge Ihnen für alles einen Athem, den Sie so gut anwenden Sie mögen singen oder reden (wenigstens mit mir), ohne Stiche geben und Ihre Lungenflügeln so gesund wie das Herz ist machen, das sie einfassen und verhüllen. Ich bin und bleibe, so lange meines etwas taugt, Ihr gehorsamster Diener Fr. Richter N.S. Verzeihen Sie daß ich eilig im Schreiben und nicht eilig im Schicken war. 100,000,000,000,000 Empfehlungen.162
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3 Bde., Mannheim 1785–1787. Zit. nach Armin Strohmeyr, Sophie von la Roche, Leipzig 2006, S. 210. Vgl. II 6, 578,3 und Erläuterung. III 1, 367, Nr. 409.
Die scheinbar willkürlich hohe Zahl an »Empfehlungen« ist natürlich verschleudert: eine Steigerung der Empfehlungen hat, sofern damit kein Wagnis von der Art verbunden ist, wie es die Anrede »Madmoissele« verspricht (also zumindest eine entsprechende Summe geschriebener Küsse) keinen Effekt der Intensivierung*. Allenfalls die bei Jean Paul seltene dialektale* Abweichung (»Ihre Lungenflügeln« anstelle von »Ihre Lungenflügel«) verweist auf eine die Fesseln der Konventionalität sprengende emotionale Beteiligung, die sich in diesem Falle offenbar auf reale Empfindungen oder hypochondrische Anwandlungen der Adressatin bezieht. Der Körper lässt sich nur als Ort der Krankheit thematisieren.163 Die Komplimente stehen gleichwohl noch immer in einem Missverhältnis zu den im Tagebuch geäußerten amourösen Erwartungen; der okkasionelle Schreibanlass* – Austausch von Notenblättern – wird gerade dadurch, dass er als Anlass mit großem rhetorischen Aufwand gerechtfertig wird, nicht zur Brücke zwischen Empfindung und Mitteilung des Gefühls, das der Schreiber beim Anhören gesungener Liedzeilen aus Amöne Herolds Mund entwickeln kann, so wie dies der Tagebucheintrag vom 27. Dezember festhält. Auch im Falle dieses Briefes lässt sich keine briefliche Antwort Amöne Herolds nachweisen. Damit ist für den Werbenden die Zeit reif für einen epistolären Strategiewechsel, der mit der Suche nach einem neuen Schreibanlass* verbunden ist: Gegen Ende des Jahres schreibt Richter den im Tagebuch unter dem Datum des 27. Dezember erwähnten Neujahrswunsch, der nicht »an« Amöne gerichtet, sondern nur »FÜR MEINE FREUNDIN | AMOENE | AM ENDE DES JAHRES 1792« überschrieben ist – eine Adressierungsweise, die keine Antwort voraussetzt. Der Brief ist dreigeteilt und hat dabei eine emblematische Struktur: Der Inscriptio der oben zitierten Formel »FÜR MEINE FREUNDIN (…)«, die danach noch in einigen überleitenden Zeilen ausgeführt wird, folgt als Pictura/Symbolon eine »DER GENIUS« überschriebene ProsaPhantasie, die zunächst auf die Occasio, den Jahreswechsel, Bezug nimmt: In der Mitternacht, die zwischen zwei Jahren liegt, wird die Sanduhr des alten umgestürzt – Alle Genien der schlafenden Menschen ziehen in den Mond und fallen nieder vor einem Thron, um den ein ewiger Schimmer und Zephyr flattert; für den, der sich darauf verhüllt, hat der Endliche keinen Namen. Jeder Genius führet hinter sich die 365 Wolken, durch die er seinen Menschen zog … 164
Auf überraschende Weise ruft Richter dann einen anderen, einen weltpolitischen Diskurs im Liebesgespräch auf: das abgelaufene »Schreckensjahr« der Französischen Revolution wird zum Hintergrundbild der allegorisierten Vertrauenswerbung: 163 164
Auch dies entspricht einem literarischen Muster der Zeit, vgl. Birgit Wägebaur, Die Pathologie der Liebe. Literarische Weiblichkeitsentwürfe um 1800, Berlin 1996. III 1, 369,10–16, Nr. 412.
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Ich wende mein Auge mit Schauer von den andern Genien dieses Jahres, die mit volgebluteten Wolken, auf welche Leichname und Glieder geworfen waren, vor den stummen Thron des Schiksals giengen, und ich sehe blos den friedlichen Genius an, der Deine Wolken, A., beherrschte und leitete.165
Im Kontrast zu diesem Schreckensszenario lassen sich nun auch die körperbezogenen Ängste der Adressatin eindrucksvoller entkräften als zuvor bei Gelegenheit eines Notenblätter-Rücktauschs: »und ach wenn die wiederkömmt, die Gewitterwolke, die schwarz über der gequälten Brust und über dem gedrükten Athem steht, o so lege dafür in sie das frische reine Wehen des abgekühlten Himmels« (III 1, 370,6–9). Auf der Ebene der Metaphorik von Aggregatzuständen, die auch diesem Text zugrunde liegt, bildet Kondensation den Zielpunkt: die Seelen-Wolken werden zuletzt gezwungen, sich abzuweinen. Im vorliegenden Zusammenhang ist weniger diese Metaphorik interessant – sie ist bei implizit sexualisierten Texten der Empfindsamkeit üblich;166 außergewöhnlich ist vielmehr die Deutlichkeit, mit der innerhalb der Prosa-Phantasie Grenzen der Kommunikation abgesteckt werden: »Das Schiksal antwortet nie«, so heißt es resümierend (III 1, 370,16). Dementsprechend enthält auch die subscriptio »Tausend Neujahrswünsche! | Fried. Richter« (III 1, 370,25–26) nun keinen kommunikativen Appell mehr (wie zuvor, im Brief vom Oktober des Jahres, die unabzählbaren »Empfehlungen«) – und wird gerade dadurch zur ersten wirklichen Gefühlsmitteilung. Ob diese Wendung nur zu spät kam oder von Beginn an aussichtslos war, muss angesichts der philologischen terra incognita vor Amöne Herolds Wahrnehmungshorizont offen bleiben. Jedenfalls nimmt Richters am gleichen Tag im Tagebuch verzeichnete Autoreflexion »der Mensch schreitet vom Gipfel seiner Freude alzeit in einen Abgrund«, so literarisch (und damit beschwörend) sie zum Zeitpunkt der Niederschrift auch gemeint sein mag, das Weitere doch bereits vorweg. Das im Diarium der folgenden Tage verzeichnete blinde Tappen des Verliebten bekommt einen fast komödienhaften Anstrich, wenn der Leser weiß, dass sich Amöne Herold indessen bereits für Christian Otto entschieden hat. Im Tagebuch heißt es am 2. Januar: »Lauter Fehlschlagungen – in der obern Stube allein mit A[moene], überrascht – die schöne Mitternachtsstunde verhindert« (II 6, 585,10–12); und wenige Tage später, am Dreikönigstag, erneut mit einer vielsagenden Ellipse: »Abends bei A[moene] – wieder eine durch Scherz und durch A[moenens] Lachen verhindert – kan zu Nachts vor Sorgen nicht schlafen« (II 6, 585,13–15). Aber noch immer ist es
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III 1, 369,17–2. Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 130–140 und 214–218 sowie Franz Meier, Die Verschriftlichung des Gefühls im englischen Briefroman des 18. Jahrhunderts: Richardsons ›Pamela‹. In: Der Liebesbrief, S. 273–292.
nicht (oder erst allmählich, sich einschleichend) die EIFERSUCHT,167 die das Regiment unter den Affekten übernommen hat. Und daher lassen sich die Affektaufwallungen zu diesem Zeitpunkt noch immer dämpfen. Am 9. Januar heißt es: »Ein Brief von A[moene] giebt die Ruhe wieder« (II 6, 585,16) – dieses erste bezeugte Schreiben ist, wie fast alle Briefe Amöne Herolds an Richter – nicht überliefert, ebensowenig wie ein Brief vom 13. oder 14. Januar, zu dem das Tagebuch vermerkt: »Ihr Brief beruhigt mich wieder« (II 6, 585,23, vgl. IV 1, EB 48 und 49); dazwischen liegen relativ unverbunden die Stichworte »Thränen«, »Entschuldigung«, »Verhärtung«, »Qual«, »nehme kaum gute Nacht«, die nun durchgängig auf kommunikative Situationen verweisen. Aber erst die Eintragungen vom 16. und 17. Januar lassen erkennen, dass jetzt tatsächlich ein Abgleich der eigenen Erwartungen mit den Wünschen der Gegenseite stattfindet oder stattgefunden hat – die nicht überlieferten Briefe Amöne Herolds hatten demnach immer noch genug Spielraum zur Wunschprojektion gelassen. Nun aber heißt es: Merkwürd[igster] Abend meines Lebens, da ich im Konzert unter dem Taumel, den Musik und Tanz über mich häuften, ich ihr eine – doppelte Entdeckung machte und ein vom Schiksal zerschnitt[enes] Herz wider meinen Willen zusammenquetschte.168
In der »Genius«-Sequenz des Briefes an Amöne Herold zum Jahreswechsel 1792/93 hatte Richter geschrieben: »O daß doch den Menschen das Schiksal so zusammendrükt, daß er sein Glük weniger nach der Farbe als nach der Zahl seiner Wolken schäzen muß!« (III 1, 370,21–22) Der Tagebucheintrag vom 17. zeigt nun die »Seele« in ihrer realistischen, nicht in ihrer literarisch idealisierten Gestalt: »Gieng ich am Morgen zu ihr: rothe Augen und die Fiebernacht zeigten die jammernde Seele.« (II 6, 585,29–30) Und erst auf der Grundlage der hier erstmals erkennbaren sinnlichen, nicht-idealisierten Erkenntnis – die nicht durch briefliche Mitteilung sondern unmittelbar stattfindet – scheint es ihm nun möglich, die Figur jenes Dritten wahrzunehmen, der als entscheidender Akteur in den Reigen einzubeziehen ist und dessen Existenz der Geliebten die körperlich erkennbaren Seelenqualen bereitet. Auch dieser Dritte – Christian Otto – ist in Richters Kasuistik der Liebe bis zu diesem Zeitpunkt nur eine imaginäre Größe gewesen, dessen Neutralität er 167
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Vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 72–74; Demmerling, Landwehr, Philosophie der Gefühle, S. 211–218; in Bezug auf den Liebesbrief fällt auf, dass Eifersucht stärker auf weiblicher Seite analysierbar zu sein scheint, womit die Gleichverteilung des Gefühls zwischen den Geschlechtern, die sozialpsychologisch wahrscheinlich ist, auf signifikante Weise umgewichtet wird (vgl. exemplarisch die Beiträge von Roman Lach, Andrea Hübener und Barbara Potthast in: Der Liebesbrief). Die unterschiedliche Repräsentation von Eifersucht in Richters Briefen und in seinem Tagebuch kann als Indiz für die Klärung dieser Abweichung betrachtet werden: Im kommunikativen Kontext scheint männlichen Schreibern das Eingeständnis von Eifersucht schwerzufallen. II 6, 585,24–28.
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mehr oder weniger gewünscht oder unterstellt hat. Unter dem 19. Januar steht im Tagebuch: 19. Jenn. sagt ich meinem theuren Freund die Entdeckung. – Mein Zurükprallen, da meine Vermuthungen falsch und meine Hofnungen zertrümmert waren – Ich rase zu ihr und bekenne alles und wil mich trennen von der geliebten Gestalt auf ewig. Ich laufe durch die Nachtkälte hin und her – mit den bittersten Thränen; leg mich im Finstern aufs Ott[oische] Klavier. Die Augen wurden von etwas anderm bedekt als von Schlaf.169
Die nun offen ausgebrochene Eifersucht wird durch ein äußeres Ereignis kompensiert. Während Jean Paul noch am 20. Januar den Entschluss vermerkt, »sich aus allen Banden zu reissen« (II 6.1, 586,6–7), heißt es dann am 23. Januar: 23. Jenn. bin schon wieder in Hof. Ich bezwang, indem ich mir nachgab. Innere Kämpfe meines unedlern Ichs mit dem andern. Endlich auf dem Weg nach Hof siegt der Entschluss, lieber alle meine Freud[en] zu zerstören als eine fremde oder als nicht aufrichtig zu sein. Und in Hof hatte der ewige Genius einen blauen Himmel für mich aufgethan: 1) meine Entschlüsse waren unnöthig 2) mein Buch war [da]. Meine Freude war fast Andacht. Zwei seelige Tage bei Durchlesung des Buchs.170
Die Lektüre der Druckfahnen – oder eines Vorabexemplars – des Romanerstlings Die unsichtbare Loge bannt für einige Tage den Affektsturm, der sich dann aber doch noch einmal, wenn auch bereits abgeschwächt, erhebt. Die Hoffnungen werden im Tagebuch zwar benannt, zugleich aber auch in Hinblick auf die Differenz von Wahrnehmungshorizonten zurückgenommen: »26. Jenn. Ich machte von den Zeichen ihrer Freundschaft zu eigennüzige Auslegungen« (II 6, 586,17–18). Am Sonntag, den 10. Februar, heißt es dann: »Das Spiel ist aus. Ich zerrütte alles durch meine Wuth alles entschieden zu sehen« (II 6, 586,19–20) Die nachgerade anti-literarische, stilistisch zumindest höchst fragwürdige Dopplung des Worts »alles« benennt als Trope des Lebens und seiner Widersprüche präzise die nun zu Tage getretene Unvereinbarkeit der Wahrnehmungshorizonte: an der ersten Stelle – »Ich zerrütte alles« – geht es um das »Alles« der existentiellen Realität: es ist die Seifenblase, die platzt; an der zweiten Stelle »alles entschieden zu sehen« transportiert das Wort »alles«, gleichsam nachtragend, den Wunsch, dessen Erfüllung die erzwungene Entscheidung ermöglichen soll. Das Fazit ist aber bereits vorab gezogen: »Das Spiel ist aus.« Als nächste Eintragung findet sich dann die Notiz: »12. März. Völlige Gleichgültigkeit gegen sie.« (II 6.1, 586,21) Das diaristische Netz der Ataraxie, das sich an die Todesvision knüpft, fängt die Gefühle auf. Da danach ein Eintrag mit der historisch verifizierbaren Datierung auf den 21. Februar folgt, dem Todestag der Mutter Christian Ottos, handelt es sich bei der Datierung auf den 12. März offenbar um einen Irrtum, mit größter Wahr169 170
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II 6, 585,31–586,5. II 6, 586,9–16.
scheinlichkeit ist stattdessen der 12. Februar als Tag der Niederschrift anzunehmen.171 Ein an diesem Tag begonnener und am Folgetag, dem Aschermittwoch 1793 abgeschlossener ausführlicher Brief an Amöne Herold ist zu Beginn »Am Fastnachtsmorgen. 93« datiert, umgeht also die Benennung des Tages, der somit auf doppelte Weise aus dem Kalender der Leidenschaft getilgt ist. Der Brief selbst sagt, indem er über Eifersucht und das Erkalten* ebenso wie das Nicht-Erkalten der Gefühle spricht, zugleich sehr viel über den Liebesbrief im Allgemeinen aus und bestätigt die Annahme, dass Liebesbriefkultur sich unter Umständen am deutlichsten zeigt in Formationen des Abbruchs, der Abgrenzung, des Entsagens und der Trennung. Er beginnt ohne Anrede: Am Fastnachtsmorgen. 93. Der Sontags Abend war das stürmende Aequinokzium, das allemal den Uebergang von einer Jahreszeit in die andre macht und auf das jezt der stillere sanfte wolkenlose vom J u l i u s und J a n u a r gleich weit entfernte N a c h s o m m e r erfolgt. Meine Vorwürfe und Launen sind jezt geendigt und Ihre Plagen. Ich konte Sie nur misverstehen, weil ich Ihnen Widersprüche zutrauete – und diese kont’ ich nur zutrauen und verzeihen, weil ich selber (wenigstens in leidenschaftlichen Stunden) daraus bestehe.172
Die Abgleichung der Wahrnehmungshorizonte soll möglichst ohne Rest aufgehen. Richter nimmt dabei Motive auf, die er in den galanten Briefen von 1792 verwendet hatte: den Nachsommer, das Aufrechnen der Plagen etc. Die damals nach dem Zeugnis des Tagebuchs durchaus schon vorhandene Leidenschaft wird somit rückwirkend relativiert, die Verwirrungen der zurückliegenden Wochen zugleich marginalisiert: sie erscheinen nun als zwischenzeitliche Exaltationen, nicht als Ausbruch einer lange schon schwelenden Glut. Die Widersprüche sind, in anthropologischer Einkleidung, Launen des humoralen Charakters und keine Äußerungen des innersten Gefühls: Z. B. mein gröster [Widerspruch] ist, daß allemal in der ersten Nacht nach einem Sontage mein Blut höher fortsiedet – und daß es in der zweiten erkaltet. Ich war nie am Montag vernünftig, aber am Dienstag wurd’ ichs allemal. Gestern wars noch mein erster Entschlus, Hof lange, und Sie noch länger, nicht zu sehen; und heute dank’ ich dem Himmel, daß ich noch niemand mein Wort darauf gegeben als blos einem, um den ich mich gar nichts scheere – nämlich mir selbst. Also an dem Fastnachtstage, wo andre Leute ihre Narheit anfangen, beschliess’ ich die meinige.173
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Der Kommentar vermerkt: »Richter meint wohl den 12. Februar und nicht den 12. März 1793« (II 6, Apparat, S. 150), doch lässt sich bezweifeln, dass die Zuschreibung der propositionalen Einstellung des Meinens eine angemessene philologische Repräsentation des Sachverhaltes darstellt. Richters »Meinung« war es ja ganz offenbar gerade, den 12. März zum Datum der Ertötung seiner Leidenschaft zu machen. III 1, 370,28–36, Nr. 413. III 1, 370,36–371,8.
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Die Fortsetzung des Briefes benennt die Einseitigkeit der Liebeskonstruktion als hermeneutisches Verfahren, das die Möglichkeit des Irrtums einschließt: Es wäre aber eine blosse Fortsetzung derselben [d.i. der »Narheit«], wenn ich meinem ersten Entschlusse, Sie nicht zu sehen, folgte. Ich würde dan nicht blos viele fremde, und meine eigne Freuden zerrütten, Zusammenkünfte stören und alle schönen Oerter fliehen müssen: sondern dieser Entschlus wäre nichts als eine verstekte Absicht, mich zu rächen und Sie zu quälen — — Das wil ich nie, das kan ich nie, das hat die Person nie verdient, die mir so viele schöne Stunden gegeben und der ich nichts vorzuwerfen habe als – meine Ungenügsamkeit. — — (Ich ersuche Sie, mir im Konzert dieses Blat zurükzugeben, weil in Ihrem Hause weder schriftliche noch mündliche Geheimnisse eine Freistätte haben.) Mein zweiter Entschluss war, Sie zugleich zu sehen und zu vergessen, meine Augen und meine Worte in Schnee zu vergraben und zu sagen, es war gar keines da — — Ach das kan ich noch weniger als gar nicht kommen; wenn ich nur eine elende Konzert-Anglaise hörte, wenn ich an einem Sommerabend neben Ihnen stände, wenn ich einen Gesang hörte oder wenn nur zufälligerweise in mir ein Traum aufstiege »so war es sonst nicht«: dan würde mich die Vergangenheit mit ihren magischen Qualen niederdrücken, ich würde von allen weggezognen Tagen noch einmal mit vollen Augen Abschied nehmen und ich würde zu viel leiden — — Nein! Sondern es bleibe lieber wie es war, d.h. ich habe nichts verloren als meine Auslegungen. Die bisherigen Zeichen Ihrer Freundschaft dauern fort und ändern blos die Bedeutung, die ich in sie legte; Sie sind die Henriette gegen mich (Jakobi[s] Sch[ri]ft[en]), die zwar nicht im Werthe aber doch im Verhältnis einen Woldemar an mir findet. – Auch ich brauche mein bisheriges Betragen nicht zu ändern, da Sie ihm sonst die Auslegung gaben, die ich dem Ihrigen versagte. Und wenn ichs auch brauchte, so könt’ ich nicht; und ich hoffe, Sie und das Schiksal werden mich zu keinem neuen Riß und nicht zum ersten Entschlusse verurtheilen.174
Hat der Tagebucheintrag zwei Tage zuvor noch ein »Alles« statuiert, von dem durch die Zerrüttung nichts mehr übriggeblieben ist (II 6, 586,19–20), so ermöglicht nun der Abgleich der Wahrnehmungshorizonte die Restitution einer Lebenswelt, in der »Freuden«, »Zusammenkünfte« und Schauplätze des Glücks von der »Zerrüttung« verschont bleiben. Freilich macht der Verweis auf Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar von 1779 (eine grundlegende Neubearbeitung erscheint 1794) doch auch die empfindsame Harmonisierungstendenz des Briefes wiederum fragwürdig, ist doch dieses Buch ein Dokument des übersteigert empfindsamen Zweifels an der Zuverlässigkeit empfindsamer Zeichen.175 Richters Angebot einer 174 175
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III 1, 371,9–372,2. Von hier aus wäre, in Umkehrung der Tiefenkommentierung, auch die psychologisch schwer ergründbare Rücksichtslosigkeit Richters im späteren Umgang mit Frau von Kalb (in den Jahre nach 1796) zu erhellen. Gegenüber Christian Otto bezeichnet er sie – auf der Grundlage des persönlichen Eindrucks, als »Woldemarin« (III 2, 211,9), was Christian Otto auf der Basis seiner epistolaren Mitwisserschaft bestätigen zu können glaubt: »Sie ist, wie du sagst, woldemarisch; aber gnade Gotte ihrem Mann, wenn er kein Woldemar ist, nicht um seines Glüks, sondern um der Fortdauer ihrer Achtung willen« (IV 2, 201,12–15, Nr. 113). Die Verschiebung der Dativ-Endung von
hermeneutischen Korrektur in Form eines Sich-Besinnens und Entliebens nach Texten kann somit sehr unterschiedlich gelesen werden: als Zeichen der Resignation oder der Provokation. Wenn sich der Brief erneut in direkten Widerspruch zur Tagebuchnotiz vom »12. März [Februar]« (»Gleichgültigkeit«) begibt, dann stellte dies wohl gleichermaßen eine interne Bestärkung für Richter dafür dar, die Alternative der Resignation ernstzunehmen (die beiden Intimmedien können also, so zeigt sich, zuweilen entgegengesetzte Methoden der Gewährleistung zu gleichen Zwecken fordern): Aber es wäre Lüge, zu versichern, daß die Vernunft das mit ihrem Wasser ausgiessen werde, was höchstens die Zeit almählig zertragen und zerbrökeln kan — — Es war blos Unsin der Empfindung, zu versichern, daß ich eh ich noch alle unsre Gegenden verlasse, mein eignes Herz bezwungen haben werde – Ach wenn ich aus ihnen weiche, so werd’ ich noch ein volles und bewegtes für die Person aus ihnen tragen, der ich das ihrige nie hätte quälen sollen – –176
Die Unterschrift im Aschermittwochs-Abschnitt des Briefes bestätigt diese Einschätzung dann nur noch formell, fordert aber zugleich – und das ist wesentlich – entschieden die Kontrasignatur der Adressatin: »daß Sie mir mit drei Zeilen […] Ihre Zufriedenheit mit meiner Aenderung versichern möchten.« (III 1, 372,34–36) Möglicherweise ist Amöne Herold dem Wunsch Richters nur mündlich nachgekommen. Die »Aenderung« jedenfalls wird in den folgenden Jahrzehnten zur Grundlage der über verschiedene Verstimmungen und Krisen hinweg fortdauernden Freundschaftsbeziehung Richters mit Christian Otto. Dieser wird vom zunächst blind-eifersüchtig ignorierten, dann hellsichtig-eifersüchtig verfolgten Konkurrenten wieder zur Mittelsperson*, der in den von nun an programmatischen Abgleich der Wahrnehmungshorizonte einbezogen wird. Ein langer Brief Richters an Otto aus Schwarzenbach vom 13. Februar 1794 beginnt – nach Ortsangabe und Datum – mit den Worten: Mein guter Christian, | Mein Brief betrift die Amöne. | Ich schreib ihn f ü r , nicht w i d e r sie; aber mit der Niedergeschlagenheit, die mir den Unterschied zwischen den Schilderungen der erdichteten und der wahren Leiden zeigt. Wenn du einige meinen Brief beschliessende Stellen aus ihrem heurigen Tagebuch gelesen hast (sie führt seit Jahren eines): so wird deine Wärme sicher die meinige rechtfertigen.177
In ihrer Publikation des Otto/Jean-Paul-Briefwechsels hat Amöne Otto später diesen ersten, auf sie bezogenen Briefteil zu einem an sie selbst gerichteten Schreiben umgearbeitet und in den Brief Richters an sie vom Faschingsdiens-
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»Mann[e]« zu »Gotte« macht die Verunsicherung Ottos in der Frage deutlich, welche Instanz eine Verlässlichkeit empfindsamer Zeichen überhaupt noch verbürgen kann. Denkbar jedenfalls, dass Jean Paul gegenüber woldemarischen Unschärfen eine Verdeutlichung der Zeichenbedeutungen dann doch für nötig hielt. III 1, 372,4–12. III 2, 2,3–10, Nr. 3.
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tag/Aschermitwoch 1793 einmontiert. Damit gewährt sie an dieser einen, singulären Stelle des Umbruchs (nicht nur der Faschings- in die Fastenzeit, sondern auch im Lebenshorizont beider Korrespondenten) der Nachwelt Einblick in ihr inneres Leben, wobei sie aber die problematische Mittlerperson*, die zum fingierten Zeitpunkt der Briefniederschrift noch die Rolle des siegreichen Konkurrenten spielte, aus dem Text retuschiert. Der Anfang der Passage lautet in ihrer Fassung nun: »Ich habe mehremale Ihr Tagebuch gelesen; aber mit einer Niedergeschlagenheit, die mir den Unterschied zwischen den Schilderungen der erdichteten und der wahren Leiden zeigt, und sie selbst werden und müssen meine Wärme für sie rechtfertigen.«178 Den im Originalbrief beigelegten Tagebuchblättern geht eine ausführliche Apologie von Amönes Charakter voraus: Otto solle diesen nicht zu hart beurteilen, die »kleine[n] Symptomen ihres Temperaments« seien eine Folge harter Erziehung durch ihren tyrannischen Vater, der ihr, ebenso wie ihr Hofmeister, beigebracht habe, »sie wäre ›dum und häslich‹« (III 2, 2,19). Zum nicht geringen Teil scheint die Apologie eine Rechtfertigung Amönes gegen Ottos Eifersucht zu sein, denn Richter schreibt, Amönes »Unfähigkeit zur Verstellung« sowie ihr voreiliges Temperament gebe »ihrem Betragen gegen Personen, die b l o s ein höfliches verdienen, einen zu aufrichtigen Anstrich« (III 2, 2,33–37). Zugleich versucht Richter die Abneigung Amöne Herolds gegenüber Helene Köhler zu rechtfertigen, indem er die unterschiedlichen Wahrnehmungshorizonte umreißt: »Blos gegen eine Person (K) war sie ungerecht; aber wenn ich schon der K ä u s s e r l i c h e die Büste einnehmende Koketterie kaum mit ihren Briefen, häuslichen Verdiensten und vielfachen Beraubungen wie mit einem Mantel der Liebe zu bedecken weis, wie viel weniger kans s i e , nähere Rüksichten noch abgerechnet« (III 2, 3,3–7). Zu dem in den Brief an Otto eingerückten Tagebuchauszug Amönes vermerkt Richter dann, er habe die entsprechende Passage ohne Amönes Wissen abgeschrieben, »aber mit ihrem nachfolgenden weiblichen Ja-Nein« die Erlaubnis erhalten, sie Otto mitzuteilen (III 2, 3,34–36). Diese Mitteilung geschehe auf der Grundlage eines Einvernehmens und einer »himlischen Aufrichtigkeit ohne Gränzen«, wovon auf ihrer Seite nur die eine ausgenommen bliebe, »die Ihr die heiligste und unverlezlichste Weiblichkeit sezte«, auf seiner Seite nur jene, die auf einer Kenntnis »FREMDE[R] Geheimnisse« beruhten (III 2, 4,5–8). Der in einer separaten Kopie Richters überlieferte Tagebuchtext selbst, der von Abschriftvarianten auffällig frei ist, dokumentiert nun eine abweichende Form diaristischer Reflexion von Wahrnehmungshorizonten: Wie in Richters eigenen Aufzeichnungen bildet auch hier der Gedanke der Hinfälligkeit und Sterblichkeit den Ausgangspunkt: »Wie es Menschen geben kan, die von einem Jahr zum andern fortleben, ohne nur einmal daran 178
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Otto, Bd. 4, S. 219.
zu denken, daß mit ihm auch ein Theil von dem Ganzen unsers Lebens dahin ist, fält mir heute mehr auf als je« (III 2, 4,28–30). Während aber Richter den Horizont der Resignation stets zu generalisieren versucht (»Aber der Mensch schreitet vom Gipfel seiner Freude …«), fällt bei Amöne Herold ein rätselhaftes Changieren der diaristischen Perspektive auf: es werden virtuelle Gegenpositionen aufgebaut, die im Kollektiv adressiert werden (»Meine Wünsche sind sehr verschieden von den Eurigen«, III 2, 4,34–35), dann wieder ein nicht näher benanntes Du ansprechen (vgl. III 2, 4,35–39). Die Leichtfertigkeit der Anderen lasse sich, so äußert sich Amöne Herold (Richters Abschrift zufolge), an ihrer Weigerung erkennen, die aus der Vergangenheit hervorgegangenen Schmerzen und Enttäuschungen zu bedenken. An dieser Stelle wirft der Text nun auch ein Schlaglicht auf jene Zeit der amourösen Entscheidung, die zum Zeitpunkt der Niederschrift genau ein Jahr (zum Zeitpunkt der Abschrift etwas länger) zurückliegt: »›[…] Unwilkührlicher Schauer ergreift meinen Körper bei dem Gedanken an das Verhältnis, daß gerade vorm Jahr um diese Zeit mich um Seelen und Körper Ruhe, um Wünsche und Ansprüche auf die Zukunft brachte.‹ etc.« (III 2, 4,39–5,3). Das abschließende etc.-Zeichen lässt den Wahrnehmungshorizont offen, doch steht es – wie auch an anderen Stellen der Abschrift – außerhalb der von Richter als Zitat markierten Passage und verweist somit auf Zusammenhänge, die entweder als unter den Freunden bekannt vorausgesetzt werden können oder aber Otto gegenüber unterdrückt werden müssen. Ausführlich werden von Amöne Herold auch Phantasien und Träume reflektiert (III 2, 5,4–8 und Z. 40–41, Textgrundlage hier und im Folgenden jeweils die Abschrift Richters für Christian Otto), die, dem vorhergehenden Brieftext zufolge, an die Grenze der Selbstvernichtung reichen.179 Im Zentrum aber steht die Suche nach einem Gegenüber der Aussprache, in dem sich die quälenden Unsicherheiten des Selbst-, Fremd- und Weltbezugs (»In jedem Blik, in jedem Lachen glaub’ ich eine bittere Anmerkung für mich zu finden«, III 2, 5,28–29) klären ließen: »[…] ›Je weniger das Herz Gelegenheit hat, sich zu ergiessen, desto leerer wird es. So lang dem Drang, den jeder gute Mensch hat, sich an ein theilnehmendes Wesen zu schliessen, nicht Genugthuung geschieht, so lang bleibt jedes Gefühl einseitig, jedes Verlangen nach Mittheilung bleibt unerfült, jeder gute Gedanke wird in sich selbst erstikt, der sehnliche Wunsch wird zum minder sehnlichen, bis auch die reichhaltigste Quelle des Guten und Schönen sich zum Ausflus verschliesset und nach und nach eintroknet.‹ — etc.«180
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Vgl. III 2, 4,15–17; schon Berend weist darauf hin, dass die Annahme von Hans Bach in Jean Pauls Hesperus (Leipzig 1929), die Stelle beziehe sich auf einen realen Selbstmordversuch Amöne Herolds, ein Missverständnis ist (III 2, 393, Erläuterungen zu Nr. 4). III 2, 5,9–15.
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In dem vorangestellten Schreiben an Otto vom 13. Februar 1794 betont Richter, dass das Diarium Amöne Herolds qualitativ »als eine Abendarbeit, als ein Abendgebetläuten« an ihre Briefe zuletzt doch nicht heranreiche (III 2, 4,11– 14). In sein eigenes »Archiv der Liebe« hat er das Dokument später eingerückt, als ein Dokument der Erfüllung von Amöne Herolds Wünschen im Rahmen seiner Konstruktion einer in Briefen zirkulierenden Simultanliebe: Im Briefkopierbuch steht der Auszug erst im Anschluss an einen auf den 24. und 25. Januar 1796 aus Bayreuth datierten Brief an sie, der dieses Ideal einer Vereinigung im Medium mit den initialen Worten statuiert: »Freundin, | ich fange vielleicht, ohne wieder einzutunken, den Brief an Sie mit dem Tropfen Dinte an, womit ich den heitern an Otto [vom 23.–24.1.1796, III 2, Nr. 223] beschlos« (III 2, 147,25–26, Nr. 224, Textgrundlage: Originalhandschrift). Im selben Brief teilt er mit, dass seinem Bayreuther Freund Emanuel ihre Briefe »ausserordentlich« gefielen, er, Richter, diesem Freunde aber versichert habe, »noch bessere« von ihr gelesen zu haben (III 2, 149,11–13). Der Tagebuchaustausch bleibt gegenüber dem fortgesetzten und ständig erweiterten Briefaustausch ein episodisches Phänomen. Amöne Herolds einziger im Original vollständig überlieferter Brief an Richter bezieht sich noch einmal darauf, benennt auch noch einmal die einschlägigen Stichworte Schmerz und Träume, bleibt aber hinter den Ausdrucksmöglichkeiten des Briefverkehrs zurück: Zu schicken habe ich weiter nichts, als was ich eben izt schreibe. Gestern Abend machte ich wohl den Anfang zu einem Gegenstück aber ich war zu erschöpft vom Schmerz. Dafür hatte ich eine rechte gute, sanfte Nacht, seelige Träume und ein heiteres Erwachen, welches ich Ihnen die Hälfte zu danken habe. Die Zurückgabe wird nicht eher erfolgen als die Auswechslung und ich brauche das Meinige nicht sogleich und daher wird auch ienes nicht so bald geschehen. Schreiben Sie mir wieder was Sie heute Abend machen werden und überhaupt auch weil ich das Vergnügen wozu Sie den Anfang machten, gern fortgesezt wißen mögte. Amöne.181
Der Erwartungshorizont des hier bekundeten »Vergnügens« am Tagebuchaustausch wird von dem zu dieser Zeit stürmisch expandierenden Horizont der Simultanliebe aufgesogen. Oder, mit den vorsichtigeren Worten des Kommentars zu diesem Brief gesprochen: »Ob die von Amöne Herold gewünschte Fortsetzung des Tagebuchaustausches stattfand, ist nicht bekannt.«182
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IV 2, 35, Nr. 22, undatiert (vermutlich Januar 1795); Textgrundlage: Originalhandschrift. IV 2, 512, Erläuterung zu S. 35,32–33.
3. Sprachvermögen und Wahl der Liebessprache Amöne Herold · Henriette Herold · Sophie Völkel · Carl Christian Rolsch · Wilhelmine von Kropff · Hans Georg von Ahlefeldt · Charlotte von Kalb · Juliane von Krüdener
Als sich, Jahre später, die seit gut einem Jahr verheiratete Amöne Otto 1801 daran macht, unter Richters Vermittlung ein fiktives Tagebuch einer weiblichen Liebe in der von Cotta in Tübingen verlegten Zeitschrift Flora zu publizieren, gibt ihr Richter als der erfahrenere Schriftsteller den Rat: »Schreiben Sie das Tagebuch mit l o s g e l a s s e n e m F e u e r , aber auch o h n e den geringsten Wunsch irgend einer h i s t o r i s c h e n A e h n l i c h k e i t « (III 4, 121,26–28, Nr. 215 vom 27.11.1801; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift); an welches »Feuer« Richter bei diesem freundschaftlich-professionellen Hinweis zur Wahl der (introspektiven) Liebessprache gedacht hat, wird aus einer Äußerung gegenüber Christian Otto deutlich: »Sie hat (z.B. sonst in ihrem Höfer Tagebuch) ein grösseres Feuer als sie jezt auf dem Papier brennen lässet.« (III 4, 132,8–10, Nr. 238 vom 1.2.1802) Mit anderen Worten: Die Wahl der Liebessprache entspricht nach seiner Ansicht nicht dem amourösen Sprachvermögen der Verfasserin wie er es Jahre zuvor im Rahmen der Praxis des Tagebuchaustauschs kennengelernt hat. Ungeachtet dieser Vorbehalte hat Richter zu diesem Zeitpunkt bereits das Manuskript Amöne Herolds mit einer Empfehlung an den Verleger weitergeleitet. Dieser stellt Richters begleitenden Kommentar dann der zügig realisierten Publikation voran – Amöne Ottos Text erscheint, unterzeichnet mit der Sigle A. O., im ersten Vierteljahresheft der Zeitschrift Flora. Teutschlands Töchtern geweiht von Freunden und Freundinnen des schönen Geschlechts unter dem Titel »Tagebuch einer weiblichen Liebe. Mitgeteilt von J. P. Richter mit folgendem Urtheil: ›Das ganze zarte Gemälde verräth die weibliche Hand, die es machte, und das weibliche Herz, das dazu saß und schlug‹«.183 Das »Feuer«, mag es nun ein losgelassenes oder ein gebändigtes sein, bleibt in der publizierten Verlautbarung unerwähnt, es ist dem internen Liebesdiskurs vorbehalten. Das von Richter gewählte Verb »verrät« betont dabei die Seite der sprachlichen Disposition, das Sprachvermögen in einer im Kontext der Frage nach Verhältnis und Dynamik der Geschlechter* modellierten Gestalt; dass im Entstehungsprozess des Textes auch eine bewusst wählende Festlegung auf eine Liebessprache stattgefunden hat, wird »Teutschlands Töchtern« mit Bedacht verschwiegen. Nicht anders verhält es sich im Falle kommunizierter Liebe: aus den Briefstellern dieser Zeit ist sie, so scheint es, verschwunden, jeder Hinweis auf eine wählende Festlegung widerspräche dem Authentizitätsgebot der Liebesrede, das dieses Verschwinden vermutlich erzwungen hat. Die in den Briefwechseln häufig anzutreffenden Formulierungen nach dem Muster »wie soll 183
Flora, 1802,1, S. 98–152, hier S. 98.
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ich es nur sagen/ausdrücken …«184 repräsentieren keine freie Wahl sondern ein Ringen mit dem eigenen Sprachvermögen um den zwingenden Ausdruck. Dass Richter dabei immer wieder die Rolle des durch seine Werke – und seinen Familiennamen – autorisierten Sprachrichters zugeschrieben wird (etwa wenn Renate Wirth an seine »richterliche Strenge« appeliert, IV 1, Nr. 134, oder wenn später Henriette von Schuckmann ihn um »Geduld […] mit allen was ich wähne und machen« bittet, IV 2, Nr. 181), ist dabei im Rahmen einer Untersuchung zur Philologie der intimen Kommunikation als ein spezifischer Modus des Liebessprechens zu verstehen, dem die Wahl einer entsprechend modellierten Redeweise vorausgeht. Gleiches gilt, wenn KindEltern-Verhältnisse simuliert werden (zum Beispiel, wenn die Fürstin von Anhalt-Zerbst an Richter schreibt: »Mit kindlichen Vertrauen in Deine Nachsicht […] überliefre ich Dir dieses Blatt. Blikke auf selbiges mit Schonung herab, wie ich mit Bewundrung zu Dir hinauf blikke«, IV 2, 340,30–33, Nr. 205) oder wenn eine Schüler-Lehrer-Relation evoziert wird (etwa wenn Henriette von Schuckmann ihn bittet, ihn zu lehren, ihre Gefühle sanfter auszudrücken, IV 2, 351, Nr. 213). Von all den mit (liebes-)sprachlicher Autorität versehenen Rollen, die Richter hier zugeschrieben werden, hat der juristische Studienabbrecher Richter, dessen erstes Kind erst 1802 zur Welt kommt, zunächst nur die des Lehrers im realen Leben eingenommen. Dass briefstellerische Übungen zu seinem pädagogischen Kurrikulum zählten, lässt sich belegen und entspricht auch den pädagogischen Erwartungen der Zeit: In seinem »Noth- und Hülfsbüchlein«, einer Art Tagebuch der Unterrichtsstunden, finden sich wiederholt entsprechende Aufzeichnungen.185 In den Briefwechseln, die mit dieser Rolle verknüpft sind, kann also mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Thematisierung von sprachlichen Wahlmöglichkeiten erwartet werden als in jenen, die außerhalb des pädagogischen Dispositivs entstanden sind, wie denn überhaupt die Briefe von aktuellen oder früheren Schülern und Schülerinnen unter anderen Voraussetzungen stehen. So spielt zum Beispiel der Nachweis eines angemessenen Schreibanlasses* hier eine geringere Rolle: jeder Brief kann zugleich als ›Hausaufgabe‹ begriffen werden und somit vorab gerechtfertigt sein, wobei ein reduziertes Sprachvermögen vorausgesetzt und zugestanden wird. Ein solcher Fall liegt vor in einem Brief, den Amöne Herolds jüngerer Schwester H e n r i e t t a (Jette) Regina Louisa Herold an Richter schreibt. 1782 geboren, ist sie die zweitjüngsten Tochter Johann Georg Herolds, des184 185
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Vgl. z.B. Juliane von Krüdener an Richter: »Ich weiß nicht ob ich mich deutlich mache, Sie wißen es wie unvollkommen ich Ihre Sprache besize« (IV 2, 229, Nr. 135). Vgl. II 6, 657,27–30 (»deutsche Briefe«), 658,23–24 (»Briefe über den Selbstmord«), 659,27–28, 662,30–33 (»Die Briefe, die sie nachmittags über den Tod und Frühling machten, waren beinahe einander gleich, d.h. alle gut, doch war Julie ihrer der längste und der gefühlvollste«); Hinweise auf Übungen zu Liebesbriefen fehlen (man möchte sagen: natürlicherweise).
sen Frau Amöna Friederika Dorothea am 30. Mai 1794 den Folgen eines in Herolds Manufaktur vorgefallenen Unfalls erlegen ist. Mutterlos zurückgeblieben sind damit im Herold'schen Hause fünf weibliche und zwei männliche Kinder im Alter zwischen zehn und zweiundzwanzig Jahren, Richters Leidenschaft zu Amöne Herold aber gehört zum Zeitpunkt, als Jette Herold an ihn – wohl 1795 oder Anfang 1796 – schreibt,186 ebenso der Vergangenheit an wie sein Werben um Henriettes ältere Schwester Caroline. Ob Henriette offiziell an Richters Unterricht teilgenommen oder nur inoffiziell an den Lektionen partizipiert hat, ist unsicher. Eine amouröse Motivation für Henriette Herolds noch halb kindlichen Brief könnte sowohl in einem realen wie auch in einem nur imaginierten Lehrer-Schüler-Verhältnis begründet gewesen sein, verstärkt durch das Heranreifen in einer durch den Tod der Mutter emotional stark belasteten Situation. Die in der Familie zweifellos auf die eine oder andere Weise bekanntgewordenen amourösen Bemühungen Richters um die älteren Schwestern können zusätzlich als Katalysator für den Wunsch gewirkt haben, einen vertraulichen Brief an den Lehrer zu schreiben. Henriette Herolds Brief beginnt mit einer Formel, die den Verstoß gegen die briefstellerische Konvention einräumt: »Bester Herr Richter | Ob ich mich gleich nicht unterstehen sollte an Sie zu schreiben So überzeugen mich Ihre Liebe und Güte Sie um einen großen Gefallen zu bitten.« (IV 2, 149,21– 23, Nr. 76). Der Gefallen, um den sie bittet, ist ambivalent: Sie wünscht sich nämlich, Richter möge ihr schriftlicher Fürsprecher bei zwei ihrer Schwestern werden, die sie »so entsetzlich gekränkt« habe: An ihrer Statt möge der Lehrer diesen Schwestern Besserung der Schreiberin versprechen. Um welche der Schwestern es sich handelt, lässt der Brief offen beziehungsweise wird beim Adressaten als bekannt vorausgesetzt. Die Stellvertreterrolle, die der Lehrer einnehmen soll, geht offenkundig über den geringfügigen Anlass, über den ansonsten nichts bekannt ist, hinaus: Henriette Herold lanciert zugleich, so lässt sich vermuten, ihre eigene Immatrikulation in den Kreis der Schülerinnen und in den der Simultanliebe. Daher folgt erst auf diese Bitte um Vermittlung die direkte Bitte um emotionalen Ausgleich: »Und auch Sie will ich bitten daß Sie Ihren Zorn wider mich verlieren, denn ich sehe ein daß mein bisheriges Leben außerordentlich schlecht war.« (IV 2, 149,26–28) Wie ein Zurückschrecken vor der Kühnheit der emotionalen Unmittelbarkeit, zu der sie sich vorgewagt hat, wirkt dann der nächste Satz, in dem die Affekte wieder auf die initialen Projektionsfiguren, die Schwestern, zurückgespiegelt werden: »seyn Sie auch so gütig und versichern Sie sie [d.h. die Schwestern, Anm. J.P.] daß mir ihr Zorn tief eingeprägt würde« (IV 2, 149,28–29). In dieser Bitte um Mitteilung der Affektübertragung findet die Psychogramm-Miniatur des Briefes ihren Höhepunkt. »Zorn« ist schlechterdings nicht das von einer Krän186
Vgl. IV 2, 619, Kommentar zu Nr. 76, Abschnitt Datum.
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kung zuerst hervorgerufene Gefühl. Angesichts der Schwierigkeiten Henriette Herolds, durch Groß- und Kleinschreibung von Sie/sie bzw. Ihr/ihr die syntaktischen Bezüge sicherzustellen,187 lässt der Satz zumindest die Option offen, ihn auch als eine Einfordern von Richters Zorn zu verstehen – denn eine angemessene pädagogische Reaktion des Lehrers auf das schwesterliche Fehlverhalten, das sich Henriette zuschreibt, ist Zorn ja durchaus; zugleich aber öffnet es als ›starkes Gefühl‹ einen Kanal der emotionalen Kommunikation, worauf es Henriette Herold abgesehen haben könnte. In dem unmittelbar anschließenden floskelhaften Schlusssatz: »Werden Sie so gütig seyn und mir diesen großen Großen Gefallen [aus: Gevallen] so wird ihn niemals wieder vergessen können | Jette Herold« (IV 2, 149,30–32) treten auf engem Raum mehrere syntaktische und orthographische Bruchlinien zu Tage: das ausgelassene Verb ›tun‹, die Verdoppelung des Wortes »großen/Großen« und die nachträglich berichtigte Fehlschreibung »Gevallen«. Der Wechsel auf die Zukunft (»niemals wieder vergessen«) gründet sich also auf eine offenkundig prekäre Erwartung, die aber philologisch wiederum stark repräsentiert ist. Im allgemeinen Kommentar zu dem Brief lässt sich eine solche epistolare Kasuistik kaum ausbuchstabieren. Dem Kommentator fällt die Rolle des herzlosen Lehrers zu, der die Schreibfehler verzeichnet und sachlich das Fehlen einer schriftlichen Reaktion Richters konstatiert.188 Die doppelte epistolare Logik, auf die der Brief baut, erlaubt dabei auch für dieses Schweigen eine weitere (und die philologische Repräsentation erweiternde) Auslegung: indem Richter schweigt, zieht er sich auf die Rolle des Korrektors zurück, der Briefe – wie im Unterricht – nicht beantwortet sondern verbessert. Allerdings ist er in diesem Fall nicht so weit gegangen, seine Korrekturen auf dem Briefpapier zu realisieren (eine Verfahrensweise, die sich in anderen Zusammenhängen belegen lässt). Das hypothetische amouröse Motiv wird damit jedenfalls an der potentiellen Entfaltung gehindert, was in einem allgemeinen Kommentar auch nicht entwickelt zu werden braucht; als repräsentationswürdiges Indiz für die Aufrichtigkeit der Formel des »Niemals-wieder-vergessen«-Könnens kann aber doch gewertet werden, dass Henriette Herold zu jenen Frauen im Umfeld Richters gehörte, die ihr Privatleben auch nach dessen Wegzug aus Hof mit seiner Welt in Beziehung setzen: Im September 1808 heiratet sie den mit Richter befreundeten und von ihm stark beeinflussten Philologen, Orientalisten und Publizisten Johann Arnold Kanne (1773–1824), verbindet sich also mit einer Person, die sozusagen in einem sprachlichen, wissenschaftlichen und publizistischen Rapport zu Richter steht. Richter schätzt zwar Kannes wissenschaftlichen Spekulationsgeist, hat aber gegenüber dessen unstetem und unberechenbarem Charakter mancherlei Vorbehalte. In Fragen des Ehelebens und Überlebens bleibt er später Jette Herolds epistolärer Fürsprecher 187 188
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Vgl. IV 2, 619, Varianten zu Nr. 76. IV 2, 618, Erläuterung zu S. 149,23–24.
in einer für sie nun tatsächlich lebensentscheidenden Epoche: Im Februar 1809, als die junge Ehe bereits einer ersten schweren Bewährungsprobe ausgesetzt ist, schreibt er an Christian Otto: »Über den Retour von KANNE möcht’ ich nach den neuesten Nachrichten viel mit dir reden. Sei der edlen JETTE Seelsorger und Vormund« (III 6, 9,31–32, Nr. 27). Und noch nach Kannes Tod im Jahr 1824 bleiben Jean Paul und Caroline Richter Anwälte ihrer Ansprüche. Ein anderer Brief aus dieser Zeit, dessen amouröse Motivation erfolglos blieb (wenn sie denn eine solche gewesen ist), stammt von Johanna Sophia (Sophie) Katharina Henrietta Völkel. Datiert ist dieser Brief auf einen Schalttag, den 29. Februar 1796, also auf einen Tag, der gleichsam außerhalb der kalendarischen Normalität steht und in Richters Biographie insofern Epoche macht, als an diesem Tag auch Charlotte von Kalb in Weimar ihren für Richters intellektuelle und amouröse Biographie so unerhört bedeutungsvollen ersten Brief an den Dichter schreibt. Was ihre Stellung in der Welt und ihr Sprachvermögen betrifft, steht Sophie Völkel Charlotte von Kalb jedoch denkbar fern. Zum Zeitpunkt, als sie den Brief schreibt, ist sie 20 Jahre alt und das älteste von insgesamt neun Kindern des Diakons Johann Samuel Völkel, der 1780 als Nachfolger von Richters Vater Pfarrer in Schwarzenbach an der Saale geworden ist und auf Richters intellektuelle Ausbildung einen großen Einfluss ausgeübt hat,189 und dessen erster Ehefrau Margaretha Amöna geb. Grimm. Beide Eltern leben nicht mehr, die Mutter ist 1790 gestorben (im ›Gründungsdokument‹ der ›Simultanliebe‹, dem Brief Richters an Friederike Wirth vom 24. Oktober 1790, wird ihr Tod und die dadurch bedingte »Folter« ihres Mannes erwähnt), der Vater 1795, nachdem er im Jahr zuvor noch ein zweites Mal geheiratet hat. Die Waise ist dann von ihrem Paten Johann Wilhelm Vogel (1753–1806), Aktuar und seit 1789 Kommissionsrat in Schwarzenbach, an Kindes Statt angenommen worden.190 Dort übernimmt sie die Pflege von Vogels gemütskranker Frau. Als Sophie Völkel zu Vogel kommt, ist dessen älteste Tochter bereits verheiratet, sein Sohn Leo Karl Gottfried Friedrich (1776–1809), der wie Sophie Völkels Brüder Johann Christoph K a r l Flamin und E m i l Friedrich Wilhelm Gottlieb ein Schüler Richters gewesen ist,191 besucht seit Frühjahr 1793 das Gymnasium in Hof. Aus den Briefen geht hervor, dass auch Sophie Völkel an Richters Unterricht partizipiert hat, obwohl sie in dessen den Unterricht betreffenden Aufzeichnungen nicht ausdrücklich erwähnt wird. Als Sophie Völkel im Februar 1796 die Aufnahme des Briefgesprächs mit Richter sucht, ist das Verhältnis zwischen beiden mithin schon in vielerlei Hinsicht vorgeprägt: intern durch den Gradienten in der Amtshierarchie der Väter (Sophie Völkels Vater war ja nur 189 190 191
Vgl. IV 1, einleitende Erläuterung zu Nr. 50. Vgl. IV 1, einleitende Erläuterung zu Nr. 47. Vgl. IV 2, Erläuterung zu S. 1,4–5.
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Diakon), durch das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen ihrem Vater und dem jungen Richter, durch das Lehrer-Schülerin-Verhältnis zwischen dem etwas älter gewordenen Richter und ihr; extern durch das amourös (nach Außen hin) vorläufig noch unklare Verhältnis zu ihrem verheirateten Paten Vogel und vermutlich auch durch Richters sogenannte »erotische Akademie« um die Geschwister Herold, Renate Wirth etc., deren Existenz und Eigenart in dem nur eine kurze Wegstrecke von Hof entfernten Schwarzenbach zweifellos zur Kenntnis genommen wird. Der Initialbrief Sophie Völkels lautet (nach der Originalhandschrift): Schwarzenbach den 29 F. Da ich das Unglück habe, Krankenwärterin zu seyn und mich dieses in den Fall sezt, alle Gesellschaft zu meiden; so will ich mir wenigstens, das Vergnügen nicht rauben, an einen Freund, und was noch mehr ist, an einen ehemalichen Lehrer, den ich; so alle Hochachtung schultig bin, zu schreiben. mein letzter Ausgang war auf Hof dieses ist bereits 15 Wochen, diese ganze Zeit also, wenn es immer nicht mit meinen Charakter übereinstimmen wollte, mußte ich, beinah keiner 1/4 Stunde entledigt bei meiner kranken Frau Path zubringen, bei dieser Seelen Krankheit, vermögen schlechterdings, Doktores nichts. auch nicht die geringste, Spur von Wiedergenessung, hat sich uns je gezeigt, und Gott weis den Ausgang davon, was wir diese Zeit litten will ich Ihrer Empfindung überlassen. Die Anwendung, das Unwahrheit, den größten Theil der Frauenzimmer begleitet, können Sie, ohne in Verlegenheit zu kommen, nicht mehr machen, wie oft versprachen Sie, nach Schwarzenbach zu kommen, und daselbst bei uns zu bleiben; aber leider, ist das erste Versprechen, mit den lezten davon gelaufen. Mein Herr Path wünschte Sie gerne zu sprechen, und that ihm nicht wenig leid, das er gerathe nicht zu Hause war. Kein Buch habe ich lange nicht gelesen, ausser Heute schenckte mir die Frau Pfarrerin 2, da bekämm ich gewiß Bücher, weil sie gerne ließt; und hätte auch eine recht gute Freundin an ihr gefunden, leider aber ist keine rechte Harmonie, zwischen meinen Herrn Pflege Vater, und den Herrn Pfarrer, und da komm ich, wie Sie leicht denken, nicht oft in die Pfarre. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Mama, und leben Sie wohl eben wie es wünscht Ihre Freundin Sophiea Heinriethe Völkel192
Der Schreibanlass* wird im ersten Absatz des Briefes verquickt mit der persönlichen Situation der Krankenpflege bei einer Frau, die der möglicherweise bereits entstehenden Liebe zu deren Ehemann im Wege steht, was aber natürlich ebensowenig ausgesprochen wird wie der möglicherweise amouröse Affektbezug zum ehemaligen Lehrer. »Hochachtung« und »Vergnügen« sind die verbalen, aus rhetorischen Trümmern der Briefsteller errichteten Affektschranken, die gegenüber dem amourösen Motiv errichtet werden. Die Un192
176
IV 2, 148–149, Nr. 75.
möglichkeit, der »Seelen Krankheit« therapeutisch begegnen zu können, delegiert die Verantwortung für die konkurrierende amouröse Situation, das mutmaßliche Verhältnis zum Vormund, an eine diffuse Instanz jenseits medizinischer Wissenschaft und gesellschaftlicher Konvention. Die Summe des Dilemmas steht als Schlagwort am Anfang des Briefes: »Unglück«. Der Appell an Richters mitfühlende »Empfindung« (IV 2, 148,31) verknüpft die Sphären miteinander im literarisch (und nicht mehr briefstellerisch) präformierten Medium der Empfindsamkeit. Der Vorwurf mangelnder Zuverlässigkeit, als Geschlechterstereotyp gekennzeichnet, wird an den männlichen Korrespondenten zurückgegeben. Das Argument wird durch die Verwendung des Wortes »Anwendung« (im Sinne von Nutzanwendung193) als rhetorisches markiert, erst die geschlechterbezogene Spiegelung macht aus der rhetorischen Figur einen quasi literarischen Schachzug, dessen Pointe im anschaulich gemachten fahnenflüchtigen Davonlaufen des Versprechens (in Wahrheit des Versprechenden) liegt. Dass diese Fahnenflucht sogleich als symbolische Verletzung des Vormunds (dem das Verfehlen »leid« tut) und nicht der Briefschreiberin interpretiert wird, deren Affektreaktion ganz in der ironischen Reverberation des Stereotyps aufgehoben bleibt, stärkt durchaus den Verdacht einer amourösen Motivation, ist aber zugleich auch eine Figur der WECHSELSEITIGEN SPRACHLICHEN BEEINFLUSSUNG (I) 194 die sich auf ihrer Seite erneut jenen väterlichen Einfluss auf Richters Denken und Schreiben berufen kann, die Richter später in der Autobiographie benennen wird.195 Im Kommentar von Band IV 2 wird allerdings, strikt an den Einzelformulierungen orientiert, allein die rhetorische Begrifflichkeit (»Anwendung«) erläutert. Damit ist die affektive Realität nicht allein unterrepräsentiert, sondern geradezu auf den Kopf gestellt: die rhetorische Floskel steht ja antagonistisch zur Affekttendenz (selbst dann, wenn keine amouröse Motivation im engen Sinne unterstellt wird). In einem spezifischen Kommentar käme es zuallererst darauf an, diesen Ausgleich herzustellen. Vom affektverminten Gelände von Versprechen und Glaubwürdigkeit, das wohl allzu nahe an das vom Authentizitätsdiskurs dominierte des Liebesbriefes im engeren Sinne grenzt, wechselt Sophie Völkel bald auf das neutra193 194
195
Vgl. IV 2, Erläuterung zu S. 148,32–149,1. Vgl. Lach, »Die todeselenden englischen Gedichte«, S. 129ff., der die These Baasners vom monologischen Charakter des Briefs im 19. Jahrhundert bestreitet (vgl. Rainer Baasner, Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: Briefkultur im 19. Jahrhundert, hg. von R. Baasner, Tübingen 1999, S. 1–36, hier S. 25); Katalysatoren der wechselseitgen sprachlichen Beeinflussung im Falle Bismarcks und seiner Braut sind wiederum literarische Texte: in ihrem Falle v.a. solche Jean Pauls, in seinem die nach ihrem Gefühl »todeselenden« Gedichte Byrons, vgl. auch Roman Lach, Der maskierte Eros. Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter. Berlin, New York 2012. Vgl. II 4, 122,23–126,10 sowie IV 1, 456, einleitende Erläuterung zu Nr. 50.
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lere des Lektüremangels. Inwiefern die fehlende Harmonie zwischen ihrem Vormund und dem Schwarzenbacher Pfarrer Johann Matthäus Wagner ihrerseits auf moralischen Vorbehalten des Ortsgeistlichen in Ansehung des ZweiFrauen-Haushaltes beruht hat, muss aus Mangel an Belegmaterial dahingestellt bleiben. Die abschließende Empfehlung an Richters Mutter jedenfalls ist mehrfach codiert: Sophie Rosine Richter war Sophie Völkels Patin, die ›Empfehlung‹ an sie aber ist zugleich Gruß und Werbung ad personam, in eigener Sache und im Verhältnis zur wichtigsten familiär mitspracheberechtigten* Person in Richters Leben dieser Zeit. Richters Antwort von Anfang März 1796 ist leider weder als Originaldokument überliefert noch in seinem Briefkopierbuch festgehalten,196 lässt sich aber zuverlässig erschließen; Sophie Völkels Brief vom 5. März 1796 zufolge scheint Richter zunächst die Frage der Bücherversorgung als primären Bezug aufgegriffen zu haben: Er sendet Bände des von Andreas Georg Friedrich Rebmann herausgegebenen Journals Das neue graue Ungeheuer (Altona: Ritter 1795–1797) nach Schwarzenbach (möglicherweise auch abgelaufene Jahrgänge des vorausgehenden Grauen Ungeheuers, das Wilhelm Ludwig Wekherlin von 1784 bis 1787 herausgegeben hatte); einer Reaktion auf die hypothetische amouröse Motivation des Völkel’schen Schreibens wird er durch günstige Gelegenheit enthoben: Seiner Antwort legt er einen ganz unzweifelhaft amourösen Werbungsbrief eines anderen ehemaligen Schülers, des Badergesellen Carl Christian Rolsch, an Sophie Völkel bei. In ihrer Antwort an Richter weist Sophie Völkel die Werbung des Mitschülers schroff (aber nicht vollkommen eindeutig) zurück. Da für diese Zurückweisung soziale Differenzen ausschlaggebend sind, die sich als Differenz in der dialektalen Liebessprache nachweisen lassen, wird dieser Misserfolg des Werbens* an anderer Stelle untersucht (nämlich im Zusammenhang mit der Bedeutung von Dialekten* bzw. Stilebenen*). Gegenüber Richter nimmt Sophie Völkel in ihrem Folgebrief jedenfalls den Diskurs über zu haltende Versprechungen wieder auf. Eingeleitet wird dies durch zwei Hinweise Sophie Völkels: Das Graue Ungeheuer, so schreibt sie nun, habe sie gelesen und sie habe es »entsezlich« gefunden, »wie dieser [der Herausgeber der Zeitschrift] seinen Wüz auf Kosten anderer, aufdischet«; sie wünsche, so fährt sie fort, »den Verfasser zu können [gemeint ist: zu kennen]« (IV 2, 152,32–153,1, Nr. 78). Indirekt ist damit natürlich auch auf Richter, der ihr diese Bücher zugesandt hat, angespielt, dieser wird denn auch unmittelbar im Folgesatz in seiner Rolle als selbsternannter Wetter-Prophet seines Freundeskreises angesprochen: »Sie haben doch, keinen Theil an der Prophezeiung, des jezt erst eingetretnen Winter« (IV 2, 153,1–2). Das Thema der Unzuverlässigkeit des Wettervorhersagers leitet unmittelbar über zu dem der Unzuverlässigkeit des Hausfreundes – ob auch ein Vorwurf bezüglich der Unzuverläs196
178
Vgl. III 2, 533–534, Fehlender Brief 6.
sigkeit eines in der Phantasie erdachten Geliebten mitschwingt, bleibt auf der Basis des Textes unentscheidbar und kann daher philologisch auch auf einer spezifizierten Kommentarebene nicht zuverlässig entschieden werden: […] Sie wissen doch was Sie in den lezten Brief, wieder versprochen haben, entlädigen Sie sich, so bald als es Zeit und Umstände erlauben, Ihren Versprechen – und meinen Vorwürfen. Empfehlen Sie mich meiner lieben Frau Path – auch aber bin mit der größten Hochachtung /Ihre / Freundin Sophiea Völkell / Eil197
Der im Vergleich zum vorhergehenden Brief eher schroffere Tonfall, der Wechsel von »Ihre Frau Mama« zu »meiner lieben Frau Path« sowie der Zeilenumbruch zwischen dem Vor- und dem Familiennamen, wodurch die Unterschrift einen formelleren Charakter erhält, sind zumindest bemerkenswert, da alle drei Textphänomene auf affektive Ernüchterung verweisen. Der unter die Unterschrift geschriebene Vermerk »Eil« (IV 2, 153,13) verweist auf eine Instanz, die dem intimen Briefverkehr ein äußeres Zeitreglement vorschreibt. Diese Instanz bleibt freilich geisterhaft unsichtbar und entzieht sich jeder Kommentierung, hat aber gleichwohl eine philologische Spur hinterlassen: Der Brief ist auf der Rückseite des vierten beschriebenen Blattes an »Ihro | Des Herrn Kandidats | Richter | Hochedelgebohrn | zu | Hof | gelegenheit« adressiert.198 Für den Empfänger des Schreibens wird der unbekannte, gelegenheitliche Überbringer (bzw. die Überbringerin) zu einem Sendboten, der, vielleicht ohne sein Wissen, die Tendenz des Briefes fortschreibt: Als derjenige, dessen Zeitregiment sich die Absenderin in »Eil« unterworfen hat, ist er zum Zuträger der hochachtungsvollen Distanzierung geworden. Im ersten Teil ihres Briefes bezieht sich Sophie Völkel, wie bereits angedeutet, auf eine Person, die sie umwirbt, deren Werben sie aber Richter gegenüber entschieden von sich weist. Sie schreibt zu Beginn: Schwarzenbach den 5 Merz 1796 Alles was je von Ihnen, kommen ist, war mir theuer, dieses aber iezt dopelt werth. Mein Herr Path gab mir das Paqiet, und sagte auch gleich das es von Ihnen seyn müsse, ich ohne lange darüber nachzudenken, erbrach es, in beiseyn meines Herrn Paths, und seigte ihm das Buch, ohne den Brief, in der Hofnung das es von Ihnen ist, er durchblätterte es, und ließ noch einen Brief in die Stube fallen, verstohlens nahm ich ihm auf, und o Himmel wie erschrack ich, als ich die Unterschrift las. – und überhaupt die Ausdrücke, die ein sehr Gemeinschaftlicher Umgang voraussezen, am Ende dankte er mir gar, über die Beantwortung seiner Briefe, und ich dachte in meinen Leben nicht daran, ihn eine Zeile zu schreiben, ich weis überhaupt nicht was ich iezt damit anfangen soll, inschwießen es gefällt mir ich behalte es.199
197 198 199
IV 2, 153,3–12, Nr. 78; Textgrundlage: Originalhandschrift. IV 2, 621, Kommentar zu Nr. 78, Abschnitt Überlieferung. IV 2, 152–153, Nr. 78.
179
Absender des im Brief erwähnten Briefes ist der Badergeselle Carl Christian Rolsch, der wie sie am Unterricht Richters in Schwarzenbach partizipierte, ohne offiziell zu den Schülern, für deren Unterricht Richter bezahlt wurde, zu gehören. Mit dem Hinweis auf die ungehörige Ausdrucksweise Rolschs wird auch die in dessen Briefen an Richter nachweisbare dialektale Färbung gemeint sein; dass sein Brief im Kontext des amourösen Werbens zu sehen ist, ergibt sich aus der Geheimniskrämerei, durch die der Pate und spätere Ehemann aus dem Spiel gehalten werden soll. Wenn man davon ausgeht, dass der Brief Rolschs unversiegelt beigelegt war, so kann man die Tatsache, dass Sophie Völkel bestreitet, zuvor Briefe an Rolsch geschrieben zu haben, als eine gegenüber dem Lehrer als einer mitsprachberechtigten Person* ausgesprochene Distanzierung von Rolsch unter Berufung auf dessen Sprachvermögen und namentlich unter Hinweis auf die BEDEUTUNG VON DIALEKTEN UND STILEBENEN200 interpretieren. Carl Christian Rolsch ist der Sohn einfacher Leute aus dem Fränkischen. In den überlieferten Kirchbüchern der Region ist weder von ihm noch von seinen nahen Verwandten eine Spur überliefert. Im Unterschied zu seinen ehemaligen Mitschülern steht Rolsch, der vermutlich kostenlos an den Lektionen partizipieren durfte, die Möglichkeit des anschließenden Gymnasialbesuchs nicht offen. Als die anderen Schüler das Gymnasium beziehen und der Unterricht Richters endet, begibt sich Rolsch als Barbiergeselle auf eine Wanderschaft in Richtung Norden (mit Ziel Berlin), die sich zugleich als das Zerrbild 200
180
In briefstellerischer Hinsicht ist zwischen diesen beiden Aspekten für die Zeit um 1800 schwer zu unterscheiden, auch wenn sie in der sozialen Codierung später deutlich voneinander abweichen; die strikte Ablehnung von Dialekten und Stilschwankungen in den Briefstellern des 18. Jahrhunderts wird schon bei Karl Philipp Moritz brüchig, der z.B. hinsichtlich der »Unterscheidung des Akkusativs und Dativs« mit aller stilkritischen Konsequenz vorgeht, die befruchtende Wirkung von »Provinzialismen« aber hervorhebt (Allgemeiner deutscher Briefsteller, S. 122–149184–187), in aktuellen Studien zur Liebeskommunikation gelten Dialekte als Zeichen der Nähe und Vertrautheit (vgl. Ulla Günther, Eva Lia Wyss, E-Mail-Briefe – eine neue Textsorte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Textstrukturen im Medienwandel, hg. von Ernst W.B. Hess-Lüttich, Werner Holly, Ulrich Püschel, Frankfurt/M. u.a. 1996, S. 61–86, hier S. 70). Leisi betrachtet sie hingegen (anders als Fremdsprachen) noch primär als ›Störungs‹-Faktoren in Liebesbeziehungen (Paar und Sprache, S. 117–122 und S. 127–128) und behandelt sie in dieser Hinsicht ebenso wie die sprachliche StilDifferenzen (ebd., S. 121–132); zu »Stilebenen« vgl. auch die Hinweise zur Diskussion um geschlechterspezifisch stereotypisierten Stilebenen in Anm. 21 auf S. 312–313 der vorliegenden Arbeit sowie grundlegend: Reinhard M.G. Nickisch, Die Stilprinzipien der deutschen Briefsteller des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800), Diss. Göttingen 1969, und (ohne spezifizierenden Bezug auf Liebeskorrespondenzen) Gotthard Lerchner, Stilideale literarischer Epochen, Epochenstile und Sprachgeschichte. Trivialisierungstendenzen in der deutschen Briefkultur des 18./19. Jahrhunderts (in: Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte: Über Epochen-, Gattungs- und Autorenstile, hg. von Ulla Fix, Hans Wellmann, Heidelberg 1997, S. 41–54).
einer Bildungsreise erkennen lässt. Wo dem vornehmen Bildungsreisenden die Türen zu den Prominentenhäusern offen stehen, da muss der Barbiergeselle vorliebnehmen mit Nachrichten, die auf der Dienstbotenebene ausgetauscht werden. Eine ergänzende ›innere‹ Bildungsreise findet in paralleler Lektüre statt, die Briefe an den Lehrer in Hof sind die Dokumentation dieser Bildungserfahrung. Eine Beschreibung des Weimarer Ilmparks wird daher durch Leseerfahrung ergänzt: »ich bin auf reißen und das in Idalien auf allen Spazier gängen mache ich Don Juan Andres Reisen«.201 Richter ist gleichsam der unsichtbare Begleiter dieser Tour. In oft kaum nachvollziehbar in Schrift umgesetztem Oberfränkisch berichtet Rolsch von seinen Erlebnissen auf den Stationen seiner Wanderschaft, namentlich in den kulturellen Zentren Weimar und Berlin. Das Leitmotiv, das sich durch alle Briefe zieht, ist die Aufforderung an Richter, ihm nachzureisen und das Vor-Erlebte und im Medium des Briefes Mitgeteilte nachzuvollziehen, die Maulwurfsperspektive von unten durch den Umgang unter Gleichen zu ergänzen – mit diesem Perspektivwechsel nimmt er zugleich eines der wichtigen Motive von Richters Dichtung auf: das Wechselspiel der Anschauungen aus der Vogel- und aus der Insektenbzw. Wühltier-Perspektive, von Weit- und Nahsicht.202 EXKURS ZUR FRAGE DES DIALEKTS: DER SCHREIBSTIL DES ›INFAMEN MENSCHEN‹ – So geht es denn auch in dem erwähnten Brief aus Weimar zunächst vor allem um den Schatten, den die Größen der Klassiker-Stadt aufs Schreibpapier werfen: Wieland, Herder, Goethe, deren Frisuren und Fama von Rolsch in diesem und einigen weiteren Briefen registriert und dabei in einer eigentümlichen Anverwandlung von Richters Metaphernsprache charak201
202
Brief vom 8. Juni 1795, IV 2, Nr. 39 (Textgrundlage hier und bei allen Briefen Carl Rolschs: Originalhandschrift). Rolsch bezieht sich auf die Reisebeschreibung des spanischen Jesuiten und Professors in Mantua Juan Andrés y Morell Cartas familiares del Abate D. Juan Andrés a su hermano D. Carlos Andrés dandole noticie del viage que hizo a varias ciudades de Italia en el año 1785 (3 Bände, Madrid 1785–1790); von diesem Buch erschien 1792 eine zweibändige deutsche Übersetzung von Ernst August Schmid im Verlag des Industrie Comptoirs in Weimar unter dem Titel Don Juan Andres Reisen durch verschiedene Städte Italiens in den Jahren 1785 und 1788 in vertrauten Briefen an seinen Bruder Don Carlos Andres. In Ulrike Hagels Darstellung der Idyllen-Poetologie Jean Pauls wird dieser räumliche Aspekt durch den zeitlichen überdeckt, wobei die »Zeit schaffenden Figuren« von solchen, die auf eine »tierische Gegenwart« beschränkt sind, geschieden werden und somit der Bereich des Animalischen auseinanderdividiert wird (Ulrike Hagel, Elliptische Zeiträume des Erzählens. Jean Paul und die Aporien der Idylle, Würzburg 2003, S. 11–17); daran hält sie auch dort fest, wo Jean Paul selbst ausdrücklich Raum und Zeit als Kategorien der Welterfahrung in makro- und mikroskopischer Perspektive betrachtet – weshalb denn auch die poetologische Metapher der Vogelschau für Hagel zur »Vogelstellerei« einschrumpft (vgl. ebd., S. 254–258); zur animalischen Beteiligung an der Perspektive auf die kleinen Dinge bei Jean Paul (und zu den universellen Konsequenzen dieser Perspektivierung) vgl. Ralf Simon, Jean Pauls Idyllentiere oder Hermeneutik der Welt-als-Idylle. In: JbJPG 44, 2009, S. 63–80.
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terisiert werden: Goethe zum Beispiel trage den Kopf »erhaben«, die Haare »Englisch«, Wieland hingegen »diefsinnent, die Haare stat einner Stustparocke«, also einer kurzen Stutzperücke (IV 2, 61,19–22, Nr. 33).203 Im Postskriptum seines Briefes vom 15. Juni 1795 aus Weimar aber verweist er, unter Rückgriff auf die individuelle Erfahrung im privatissimum des Schwarzenbacher Schulzimmers, zugleich auf Richters jüngsten Beitrag zur Literatur, den Roman Hesperus, dessen drei »Heftlein« unmittelbar zuvor im Verlag Carl Matzdorffs (des Schwagers von Karl Philipp Moritz) in Berlin erschienen sind: »Auf dem Wege nach der Post«, so Rolsch, »holle ich mir ihr Buch mit, um die schöne Geschichte, die Sie uns mahl erzählden selbst erzählen zu kennen« (IV 2, 82,33–35, Nr. 41). Damit übernimmt der Barbier die Rolle des Apostels, der mündlich die Parousie des bewunderten Lehrers vorbereiten hilft. Rolsch ist, ausweislich dieser Textstelle, der erste uns bekannte Käufer dieses Romans, der Jean Paul berühmt machte. In den nachfolgenden Jahren werden ihm unzählige weitere nachfolgen. Die Käufer im Verbund mit den Lesern und Leserinnen machen den Hesperus zum erfolgreichsten deutschsprachigen Roman der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts und als Richter dann genau ein Jahr später tatsächlich selbst nach Weimar kommt, ist das Buch dort bereits in aller Munde – das diesen Besuch umrankende weimarjenaische Stadtgespräch (Goethes und Schillers Einverständniserklärung über den »Tragelafen«-Charakter des Werkes, also seine inhomogene ›Bockshirsch‹Gestalt, die Parteinahme Herders und Knebels etc.) gehören zu den zentralen Bezugspunkten der Jean-Paul-Forschung, namentlich dann, wenn es um seine Stellung zum Klassizismus geht.204 Soweit die Briefe Rolschs bisher für die Forschung zugänglich waren – Eduard Berend hat sie auszugsweise veröffentlicht205 –, bezog sich das Interesse nahezu ausschließlich auf diesen Kontext. Als Rolsch den Brief schreibt, sind Ruhm und Kritik des Hesperus indes noch unhörbare Zukunftsmusik. In dem Schreiben ist also gleichsam der
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Auch die Faszination an Frisuren als Requisiten, die metonymisch Personen oder Personengruppen (es seien solche der gelehrten Welt oder solche der Geschlechter) repräsentieren, kann als die Fortschreibung von entsprechenden Modellbildungen in Richters »Geschlechter-Werkstatt« begriffen werden, wie sie Elisabeth DengelPelloquin herausgearbeitet hat; für sie werden »Haubenköpfe« und andere Figurationen modischer Kopfbedeckung zu Emblemen »einer beschränkten, geist- und seelenlosen Weiblichkeit« (Elisabeth Dengel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt, Freiburg/Br. 1999, S. 188–190. Vgl. Peter Sprengel, Jean Pauls Antiklassizismuns – ein Rezeptionsphänomen? In: JbJPG 35/36, 2000/2001, S. 33–45, sowie Schneider, Klassizismus und Romantik. Eduard Berend, Ein Barbiergesell über Weimar. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 8, 1921, S. 174–176; wieder in: Exkursionen. Aufsätze von Eduard Berend. Ausgewählt und zu seinem 85. Geburtstag am 5. Dezember 1968 hg. vom Deutschen Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach, S. 39–41.
Augenblick der Windstille unmittelbar vor Ausbruch des landesweiten Hesperus-Enthusiasmus festgehalten. Es lautet nach der Originalhandschrift: Liebster Herr Richter,
Weimar den 15 Juni 95.
Fliegen SIE – fliegen SIE! SIE finden alle die SIE wünschen, Wielanden – Herdern – Göthen ebens komme ich aus deßen Hauße, mit der Nachricht daß Göthe mit Ende deß Monats – oder mit anfang des künfdigen verfliegt. O! hätte ich nur eine Brief Taube, um sie statt eines Courriers zu schicken, um SIE gleich mit zu nehmen, damit SIE noch zur Hochzeit bei Wielands kömmen. Auf den Donnerstag, wird eine Tochter mit den Buchhändler Gessener aus Zürch; von Herdern getraut. Vor zwei Stunden erwachte ich erst durch Ihren den mir so lieben Brief, ob ich im Erfurth oder hir wäre, weil meine Rappen sich noch nicht wieder mit der Neugierthe befriedigt haben, und dieße mit der Narheit der Hamster, die um ihre dicken Backen und aus gestopften Bäuchen, die heilige Dumheit underhalten, die vor sie wiehlen, um desto ruhiger im Loche stecken zu bleiben, wie ein anderes raub thier das nur aus geht wen es der Hunger zwingt, aber auch davon unterscheiden sich dieße, dieße rauben nicht einen fraß, um dem sie sich noch werden lange müßen bemihen und bewegen, sonder nur Verstand, das andere vor sie jagen, kauen, füthern. Es war das froh Leihnam, wo die alte Geschichte durch lebendige Marionetten ihr Weßen zum vorschein bringt. ZE: Golat hat sich in eine Junge von 10 Jahren verwantelt, Simson schlägt die Philister mit einen Prelates Kinbacken auf ein Breth todt: dießes Schauspiel muß man nun den Becken – Werthen – Wein sehen, die sich ganz genau um die größe dießer Rießen bekimmern, und daß sie nicht ihr Kupen – Schüßeln – Pouitellien, zu groß ein richten, und das sie nicht ersticken, und das die vielen 1000 Neugierichen sie bezahlen. Das geläute der Klocken, und getonnere der Kannonen muß man mit den Ohren bezahlen. Haben SIE Güte und meinen Vater ein COMP. und ob die Br[iefe ?] von meinen dortigen freunden noch nicht [eingetrof ?]fen wären, sangen zu laßen. Kommen Sie recht bald Ihr gehorsamster Diener Carl C. Rolsch NS. Auf dem Wege nach der Post holle ich mir Ihr Buch mit, um die schöne Geschichte die SIE uns mahl erzählden selbst erzählen zu kennen.
Der Brief ist in Reinschrift niedergeschrieben, so dass er, Zeichen für Zeichen, relativ gut gelesen werden kann. Dennoch ist er einer der Briefe in Band 2 der Briefe an Jean Paul, deren Textkonstitution und inhaltliche Klärung letzten Endes unsicher bleiben. Liegt dies nur daran, dass Rolsch Schwierigkeiten mit Orthographie und Grammatik hat? Die ersten Sätze bereiten keine Verständnisschwierigkeiten. Dies ändert sich jedoch mit der Erwähnung des in Weimar eingetroffenen Briefes von Richter. Indem Rolsch den Dialog mit dem Lehrer und Autor aufnimmt, entgleitet ihm die Syntax. Die nachfolgenden, auf Erfurt bezüglichen Passagen bleiben in Ihrem Gesamtduktus philologisch opak, die Textkonstitution im Einzelfall zweifelhaft. Von keiner klar erkennbaren Grammatik gestützt, gruppieren sich Vergleiche und Assoziationen zu unscharfen Feldern: zunächst Vergleiche der eigenen Existenz mit dem Tierleben, dann, im nächsten Absatz, Impressionen vom Erfurter Fron183
leichnamsumzug, die alle Erscheinungen ins Riesenhafte vergrößert aufs Papier projizieren. Der Editor findet in dieser Wortflut keinen Halt, an den sich die Textkonstitution festmachen ließe. Allerdings sind die Kriterien für editionsphilologische Klarheit, Erklärbarkeit und Klärungsbedürftigkeit nicht absolut. Sinnvoll entwickelt und praktiziert können sie nur im engeren oder weiteren Kontext von Editionsprojekten und deren Zielvorgaben werden. So auch im Falle Rolschs: eine Antwort Richters ist nicht überliefert, von dem Brief, den Rolsch beantwortet (datiert 6. Juni 1795), ist im Briefkopierbuch nur ein Satz dokumentiert: »Der Himmel geb’ Ihnen ausser Freude Kraft, sie zu entbehren, Standhaftigkeit und Gefühl, Härte gegen sich und Weichheit gegen andere« (III 2, 91, Nr. 123). Ein unmittelbar nachvollziehbarer Korrespondenzbezug fehlt uns also an dieser Stelle.206 Vollkommen in der Luft hängt indes die Korrespondenzstelle nicht, zumindest dann, wenn der Kontext von Richters Schulunterricht mit berücksichtigt wird. Aus verschiedenen gedruckten und handschriftlichen Quellen sind wir über Form und Inhalt dieses Unterrichts informiert. Der Lehrstoff wurde von Richter auf eigenwillige, seinen poetologischen und pädagogischen Ideen folgende Weise verschränkt: Seine Lernziele waren: 1. die Ausbildung der Fähigkeit zum Analogiedenken durch Sensibilisierung der Einbildungskraft, 2. eine Propädeutik der Welterschließung im Exzerpieren von Literatur aller Fächer sowie eine Art Kinder- und Jugend-Stoizismus in Verbindung mit Regeln zur Lebensführung, wozu auch die bereits erwähnten briefstellerischen Übungen im antibriefstellerischen Geist gehören. Grundlegend für den Stoizismus war Richters eigene frühe Lektüre von Epiktet und Marc Aurel.207 Sein zitierter Satz aus dem von Rolsch beantworteten Brief ist diesem Kontext zuzuordnen. Der Grundgedanke von Richters Erziehungslehre der Einbildungskraft schließlich, dem Rolschs Zusammenstellung von Tiervergleichen vermutlich nacheifert, findet sich im 16. »Sektor« der Unsichtbaren Loge; deren Erzählerfigur ist Erzieher der jugendlichen Hauptperson des Romans: Ich gewöhnte meinem Gustav an, die Aehnlichkeiten aus entlegnen Wissenschaften anzuhören, zu verstehen und dadurch – selber zu erfinden. Z.B. alles Große oder Wichtige bewegt sich langsam: also gehen gar nicht die orientalischen Fürsten – der
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Dass Jean Pauls Brief tatsächlich eine Korrespondenzstelle zum vorliegenden Brief darstellt, lässt sich allein aus der Erwähnung des Posteingangs und aus der Datierung im Briefkopierbuch erschließen (der postalische Anschluss Weimars ans Postnetz war namentlich in Richtung Süden, auf der berüchtigten Postrelation über Schleiz, sehr schlecht, so dass neun Tage Postweg durchaus die Regel darstellten). Vgl. Wulf Köpke, Erfolglosigkeit. Zum Frühwerk Jean Pauls, München 1977, S. 209– 216; Gustav Lohmann, Jean Paul. Entwicklung zum Dichter, Würzburg 1999, S. 331– 400.
Dalai Lama – die Sonne – der Seekrabben; weise Griechen gingen (nach Winkelmann) langsam, ferner das Stundenrad, der Ozean, die Wolken bei schönem Wetter.208
Wollte man der Erfurt-Passage in Rolschs Brief eine psychologisierende Interpretation unterlegen, die der Editor unter Umständen voraussetzen muss, um zu einer plausiblen Textkonstitution zu gelangen, könnte man annehmen, dass Rolsch das Empfangen von Richters Brief, der das Erziehungsprogramm vergegenwärtigt, zugleich als Ermahnung begreift, dieses Programm in seinem eigenen Brief umzusetzen. Am Anfang dieser Umsetzung steht der Versuch einer Selbstvergegenwärtigung in Raum und Zeit (»ob ich im Erfurth oder hir wäre«, die Referenz des »hir« ist durch die Ortsangabe in der Datumszeile bestimmt). Mit dem Kausalanschluss »weil« öffnet sich jedoch bereits der Weg ins Dickicht der Assoziationen der Einbildungskraft und der grammatikalisch und biologisch verschachtelten Exzerpträume. Die Schuhe (»Rappen«) als Organe des Verstandes sowie die verschiedenen Bezüge auf die Fauna sind Etuden des witzigen Vergleichens aus dem Geiste Richters (des Lehrers) bzw. »Jean Pauls« (des Dichters) in der Perspektive der Weltsicht vom Boden bzw. unter der Erde (in die sich die Hamster einwühlen). Der Zweck des zurückliegenden Erfurt-Besuchs wird dann im nachfolgenden Absatz näherungsweise deutlich gemacht: »es war das froh Leihnahm«. Der Status dieser Passage als unmittelbarer Erlebnisbericht war in der Editionsarbeit zunächst fraglich, denn Fronleichnam fiel im Jahr 1795 auf Donnerstag den 4. Juni, lag also zur Zeit der Abfassung des Briefes elf Tage zurück. Da Rolsch aber noch am 8. Juni aus Weimar einen Brief an Richter geschrieben hat (IV 2, 79–80, Nr. 39), nachdem er dort gerade erst, aus dem Fränkischen kommend, eingetroffen ist, kann er an Fronleichnam selbst nicht in Erfurt gewesen sein. Ist also die folgende Beschreibung des Fronleichnamsumzugs nur eine literarische Fiktion? Ist der vermeintliche Boden der ersten Realität, den zu beschreiten die Briefedition beansprucht, doch nur ein Schein-Boden (zum Beispiel aus Exzerpten einer Reisebeschreibung)? Aus der Perspektive von Richters pädagogischer Phantasielehre hätte sich diese Hypothese durchaus plausibel begründen lassen. Die pädagogischpoetologische Spekulation muss indes vor den lokalhistorischen Fakten kapitulieren: Bis 1802 fand in Erfurt das sogenannte »große Fronleichnamsfest« erst am 2. Sonntag nach Trinitatis, 1795 am 14. Juni, statt (»groß« in Abgrenzung zu dem von den Benediktinern begründeten »kleinen« Umzug, der eine Woche früher, am Sonntag nach Fronleichnam, stattfand). In fünf Abteilungen wurden beim »großen Umzug« Figuren und Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, der Kirchengeschichte und der Volksfrömmigkeit vor den Zuschauern aufgeführt,209 ganz übereinstimmend mit der Beschreibung Rol208 209
Die unsichtbare Loge (1793), S. 201; vgl. I 2, 125–126. Johann Michael Pabst, Die Feier des Frohnleichnamsfestes zu Erfurt geschichtlich treu beschrieben von seiner Glanzperiode an bis auf unsere Tage, Eisenberg 1847.
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schs, die gleichwohl gegen Ende zu einem sprachlich und inhaltlich kaum mehr entwirrbaren Knäuel wird. Dass es sich, wie ein Vergleich mit anderen Briefen Rolschs zeigt, um die Reinschrift eines zuvor sicherlich vorliegenden Konzepts handelt, muss dabei keinen Gewinn an Klarheit indizieren: möglicherweise sind beim konzentrierten Abschreiben sinnerhellende Passagen einfach vergessen worden. Von der extraeditorischen Reflexionsebene aus gesehen könnte man also die These aufstellen: Die Unmöglichkeit einer konsistenten Textkonstitution scheint in einem direkten Zusammenhang zur Schreibsituation zu stehen, genauer gesagt: zur Intervention des Lehrers als Erzähler in der Korrespondenz, die durch das Eintreffen des beantworteten Briefes markiert wird. Daran ließe sich die Frage anschließen: Wenn Richter immer wieder behauptet hat, (seine) Bücher seien nur dickere Bücher an das Publikum und (seine) Briefe nur dünnere Bücher für die Welt,210 konnte dies dann möglicherweise die Korrespondenten in ihrem Schreibstil beeinflussen, in Grenzfällen, wie dem Rolschs, auf eine Weise, die das mühsam Gelernte aus dem Ruder laufen ließ? Carl Christian Rolschs Lehr- und Wanderbriefe sind freilich mehr als nur Dienstleistungen für den Schriftsteller Jean Paul, die von Richter mit Korrekturen und Lebensmaximen, zuweilen auch mit lebenspraktischer Förderung aufgewogen werden (Rolsch strebt später an, in Berlin eine Ausbildung zum Wundarzt zu absolvieren, Richter unterstützt diese Absicht mit Empfehlungsbriefen). Zumindest ansatzweise erlauben sie auch, die der heutigen Forschung kaum mehr zugänglichen Figurationen der Liebesbriefkultur in jener Lebensform zu rekonstruieren, die Foucault die Sphäre des »infamen Lebens« genannt hat. Und dies außerhalb der gesellschaftlichen »Maschinerie«, mit der im 17. und 18. Jahrhundert, Foucault zufolge, von den Institutionen der Macht »der anonymen Masse der Leute Wörter, Wendungen und Sätze, Sprachrituale zur Verfügung gestellt« wurden, »damit sie von sich selber sprechen können.«211 Dass freilich auch innerhalb der von Jean Paul etablierten Simultan-Liebesbriefkultur wohldefinierte Dispositive der Macht als Schriftregime wirksam werden, erhellt u.a. aus der Deklination des Briefstils von Rolsch unter der (einseitigen?) sprachlichen Beeinflussung Richters, so dass gleichwohl auch für diesen Zusammenhang Foucaults Schlussfolgerung gültig bleibt, derzufolge zu bestimmten Zeiten, die in Abhängigkeit von Region und Umfeld stark variieren können, »die Verhältnisse zwischen dem Dis210
211
186
So Jean Paul in der Idylle Der Jubelsenior von 1797, vgl. I 5, 471,24–25; aus medientheoretischen Gründen beurteilt Bernhard Siegert die vor allem im 18. Jahrhundert postulierte Idee der Brief-Werk-Konvertabilität kritisch (Siegert, Relais, S. 33–35), ihre Fruchtbarkeit im literarischen Feld und für die Genese von Autorschaftsmodellen ist gleichwohl beträchtlich (vgl. Jacob, Briefe aus dem Jenseits, S. 8–10 und S. 22–23). Michel Foucault, Das Leben des infamen Menschen, S. 42f.
kurs, der Macht, dem Alltagsleben neu geknüpft« wurden und »darin auch die Literatur verwickelt war.«212 Richters Empfindsamkeitskonzept als pädagogisches zielte auf eine Empfindsamkeit ohne Privilegien. Im Briefwechsel mit Rolsch spürt er der Anwendbarkeit empfindsamer Chiffren im alltäglichen Leben nach. Unausweichlich muss sie daher auch die Korrespondenz von Liebesgefühlen mit einschließen. Bereits der zweite Brief, der von Rolschs Hand erhalten ist, geschrieben nur wenige Wochen nach Ende des Schulunterrichts in Schwarzenbach (also knapp ein Jahr vor dem zuvor zitierten Weimarer Brief), weist in diese Richtung. Rolsch schildert hier das Zerfallen des Schülerkreises, – ein Prozess, den er als eine Folge von Richters Weggang darstellt (die älteren Schüler sollten nunmehr höhere Bildungseinrichtungen besuchen, so dass Richters Aufgabe als erfüllt angesehen werden konnte). Rolsch stilisiert sich als den »letzten Schüler« Richters, stempelt sich zum Chronisten eine Epoche in der pädagogischen Provinz, die unter normalen Umständen jeder Archivierung Hohn spräche. Allein der Schreibakt selbst, verstanden als briefstellerische Übung, rechtfertigt die Dokumentation, und so schreibt Rolsch einleitend: »Zehn Bogen könte ich Ihnen zeigen, wo ich angefanen habe an Sie zu schreiben, aber kein mahl brachte ich es zu ende. Ich bin noch ganz alleine von den übrig die Sie zu Freunden machten« (IV 2, 2,12–16). Die Rolle des Lehrers wird verklärend dargestellt. Von einem der zum akademischen Studium prädestinierten Mitschüler geschrieben (und in eine wie auch immer kodifizierte »Schriftsprache« übersetzt), klänge die Dankbarkeitsbezeugung lächerlich. Aus der Feder des »infamen Menschen« gewinnt sie eine eigentümliche Glaubwürdigkeit: Sie wahren der, der mir in Schwarzenbach so viehl Wonne genießen ließ, aber jezt sind SIE auch um den ich oft Weine, den Ihrer Gegenward verlohren zu haben ist nüchts kleines, sie wahr daß, von der unßer ganzes vergnügen, ia unßere Simpathie abhing, iedem Ort macht sie uns, zum Himel, und SIE wahren bloß unßer Genius von allen, das mir hatten. Den wem haben wirs zu verdanken, das mir Menschen sind? Unßern Eltern? Ja! das leben haben mir von ihnen. aber was ist ein leben ohne gefühl, ohne Bildung des verstands nüchts als eine Sache die man nicht gehörig brauchen kan. Also wahren mir sie nur den Nahmen nach. SIE wahren aber der Genius, der unß zu den wahren schuf. Ach! waß sind mir Ihnen Schuldig, ewien Dank; das ist viehl zu wehnig, mir sind Ihnen viehl mehr schuldig als einen bloßen Dank, aber was können mir Ihnen geben, als einen, der auß wahrer Empfindung eines Herzen voll lieb komt. – Nehmen SIE dieß als die gröste belohnung an, Menschen glücklich zu machen. Den was kan auch größers sein, als die gewiße versicherung, die haben mir ihr Glück zu verdanken. Was hilft immer viehl Geld, wen ich nüchts da mit gestiftet habe, nehmlich das Wohl der ersten Geschäbfe. -213
212 213
Ebd. S. 44. IV 2, 2,24–3,10, Nr. 2.
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Gegen Ende des Briefes versucht sich Rolsch dann an einer empfindsamen Szene: Der Schülerkreis löst sich auf, den Schülern wird das ihnen bestimmte Schicksal gleichsam auf den Leib geschrieben: Der Karl ist iezt auf, den vohrgeberge seines schicksahls, oder auf der Hofnung der Ocademien, Er wird ganz vermuthlich in einer Klaße mit ein Rohlieret werden. Seine Trenung von uns war sehr empfindsam, jedes Weinde da er uns das lezt Lebe wohl aus den Wagen mit Taußen Küssen zu warf. O! was wahr das für ein rührender Anblick als die guten schönen, ihre Wangen mit Thränen glänzten, welche das vollempfinden bange Herz hervorpreste. Keinen himmlichen Auchenblick hätte ich mir gewünscht als sie abtrocknen zu können. Es wahren die Mademoisseln Völkeln, und die Demoisell Wernern, welche so voll rührung klänzten. Die Madmosell Fieke schien jetz die Aebtissen zu sein, welche den Schleiher um gehült haben, welcher wohl nicht eher verschwünden werd, bis sich wieder neuhe Gesichter zeigen werden. Ich muß abbrechen den, da ich nicht genoch Papier habe nehrere Gedancken nieter zu schreiben. Nehmen Sie nicht ungüetig, das ich stadt einen Mundium, Ihnen das Conzept schicke. Ich wünsche mir nücht als ferner, mehr lehren, und schätze nüchts Höher als Ihre Gevochenheit. Ich bin mit der grösten Hochachtung Dero gehorschanster Diener Carl Christian Rolsch.214
Die Textkonstitution des Briefes ist komplex: Rolschs eigene, vielfach inkonsequent durchgeführten Korrekturen werden überlagert von Verbesserungen von Richters Hand. Auch dialektale Wendungen werden dabei vom Lehrer korrigiert, so verbessert er zum Beispiel »Auchenblick« zu »Augenblick«, lässt aber andererseits »Ocademien« unverändert: in der Handschrift wohl absichtlich unklar geschrieben – auch die Lesart »Academien« wäre möglich – markiert das Wort für den Schreiber den linguistischen Limes, der seinen beruflichen wie auch seinen amourösen Ambitionen die Grenze setzt. Die Entscheidung, das Wort unberührt zu lassen, ist somit ein Akt des Respekts vor Rolschs doppelt motivierten Träumen. Die philologische Entscheidung für die Lesart »Ocademien« ist daher nicht nur eine für die lectio difficilior, sondern auch der Versuch, Sinn nicht von den Resultaten her zu konstruieren, sondern vom aktuellen (Wunsch-, Furcht- etc.)Potential der Schrift, gerade auch dann, wenn sich, wie im Falle Rolschs, die Wünsche gar nicht und die Furcht in vollem Umfang als begründet erweisen. Ein solches Verfahren lässt sich editorisch rechtfertigen auch durch das Raffinement des Begründens, das Rolsch auszeichnet. So bleibt zum Beispiel das briefliche Verstummen im Brief ambivalent. Ganz offensichtlich ist die Behauptung »da ich nicht genoch Papier habe« eine Scheinbehauptung – zumindest gemessen an den »zehn Bogen«, die der Briefschreiber schon angefangen zu haben behauptet – wenigstens Restpapier der von Rolsch ver214
188
IV 2, S. 3,11–32.
wendeten großen Bögen müsste somit doch in ausreichendem Umfang zur Verfügung gestanden haben. Dass also die »mehrere[n] Gedanken«, die sich Rolsch »nieter zu schreiben« verwehrt – und möglicherweise sogar ein beträchtlicher Teil der verworfenen Papierbögen – die Mitschülerin Sophie (»Fieke«) Völkel betrafen, deren Erwähnung dem Abbrechen vorausgeht, erscheint wahrscheinlich. Damit wird aus dem scheinbaren Zufall ein literarisch inspirierter Schachzug: der Hinweis auf das Verstummen nach Erwähnung der Mitschülerin wird zum Signal an den Lehrer, zum Bekenntnis. Richter antwortet, scheinbar begriffsstutzig, auf der Ebene der Anthropologie, der Kunst, der Literatur (unter dem Dach der Pädagogik): Die meisten Menschen bleiben so eckig und fleckig als sie sind, weil sie sich auf einmal ausflicken und aufbauen wollen. Aus dem Marmor schäälet man die schöne Statue durch Millionen Schläge heraus und doch wil der Mensch seiner mit Wust umklebten Seele mit einem einzigen Schlage die schöne Gestalt anzaubern und sich in 1 Stunde bessern, da er sich kaum in 1 verschlimmern kan. Jätet der Mensch nur jeden Monat einen Fehler aus, so braucht er nicht viele Jahre, um ein Mensch zu werden, und noch ein Paar dazu, um ein Engel zu werden. Ich wünsche, daß Sie mit Ihrem Purpursak um Ihre Hausthür flankieren, nicht um mir den Bart sondern die Fanny abzunehmen und daß Sie nicht w a r reden sondern w a h r und daß Sie auf der Himmelsleiter des Lernens immer von einer Sprosse auf die andere klettern.215
Die Eigenwilligkeit der »Höfer Orthographie« lässt dabei Ambiguitäten zu, zum Beispiel in der Großschreibung von »Paar«; und noch die an Carl Christian Rolsch gerichtete Forderung, Ambiguitäten zu klären (»daß Sie nicht w a r reden sondern w a h r «), enthält zugleich eine verdeckte Anerkennung des verborgenen doppelten Schriftsinns in Rolschs Brief. Denn worauf soll sich die Wahrheits-Forderung beziehen, wenn nicht auf das abgebrochene Geständnis. Der literarische Verweis schließlich öffnet die Tür zum freien Spiel der Interpretation: Die Sigle »Fanny« bezieht sich auf den anonym erschienenen Roman Geschichte der Miß Fanny Wilkes von Johann Timotheus Hermes,216 dessen Lektüre Rolsch offenbar mit einer anderen »Leserin«, höchstwahrscheinlich ist Sophie Völkel gemeint, teilen soll. Richters Brief akzeptiert mithin die Rolle der Literatur als Medium sympathetischer Verkuppelung, wie es dann auch Rolschs Gegenbrief nahelegt, in welchem tortz aller Ermahnungen an exponierter Stelle, nämlich bei Erwähnung der Wärme, die von den Händen der Vor-Leserin zurückgeblieben ist, die Wörter »wahren« und »waren« verwechselt bleiben:
215 216
III 2, 13, Nr. 10. 3. Aufl., 2 Bände, Leipzig: Junius 1781; zuerst: 2 Bände, Leipzig: Junius 1766.
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Schwarzenbach den 5 August 1794. Liebster Herr Richter, Sie erlauben doch der Fanni, daß sie sich noch ein bar Tage bey mir auf halten darf? Ach ia! Sie erlauben es ihr, Den SIE sind zu sanpft, als daß Sie so einen zarten Geschöpfe, eine unruhige Mine veruhrsachen solten. Seyn Sie nur nicht besorgt, den sie wird so viel Vergnügen haben, das jede Stunde im Freude, Freude im Wonne, Wonne im Eliseische entzüken wird sich verliehren. — Das Sie die Fanni nicht eher in Ihre Gesselschaft haben einschlüssen können, welche in um giebt wen die Gedanken in Schwindel übergehen, ist diesse Uhrsache – Den Sontag erhiel ich schon die Novellen wieder, da sie noch warm wahren, von den Händen der geschwinden Lesserin, so dachte ich du list [über gestr.: eilst bist] ein bissigen lansam, vieleicht ist die Wärme mit der Deinigen Simpatehtisch, du wilst sie gleich lessen, und es glückte mir. – O! wie lieb ist mir Ihr Brief. Zum Küssen lieb ich ihn; den er errinnerde mich an das, wo rinnen ich schon bald schlummerte. Jezt aber wache ich aber ganz. Schon habe ich an gefanen fortschritte zu machen welche er mir anleit. Ich habe jedes, meiner Pappiere in eine gewisse Ordnung gebracht. Zum g e d i c h t e n , habe ich ein Fach, welche ich exzerpiehrt habe, zum C o n z e p t e n , zum A u f s ä t z e n , zu verschiedenheiten, nehmlich gewisse Sätze welche ich mir abschreibe, u. so. w. An einen Monats Relatiev. arbeite ich noch, den ich will jeder Stunde eine gewisse Arbeit wählen. Nun Sie nehmen es nicht übel das ich so ungleich meinen Brief geförmt habe. Nein so sind so so voll güte. Ich muss schlüessen, den schon bin ich übertrüssig geworden, und um auch meiner Fannie die Stunde nicht lang zu machen welche ich ihr geschengt. – Nichts wünsche ich als Ihr liebe. Ich bin mit Hoachtung Ihro gehorschamster Diener Carl Christian Rolsch.217
Das Buch, das Sophie Völkel zuvor gelesen hat, wird hier zum Medium, dem – wie sonst Briefen – das Potential eines Transfers von Körperlichkeit* zugeschrieben wird: Wärme, emotionale Leitfähigkeit (in Gestalt einer sympathetischen Wirkung) und so weiter. Richter aber verzichtet in diesem Fall auf die schulmeisterliche Praxis des Korrigierens. Zu deutlich sind gerade an dieser Stelle die Spuren der Überblendung von Körperlichkeit und Textarbeit zu erkennen, zum Beispiel, indem Rolsch durch den mit einem orthographischen Fehler behafteten anagrammatischen Wechsel von »eilst« zu »list« der »geschwinden Lesserin« nachzukommen versucht: Die Fehler sind Zeugen der Unmittelbarkeit, ihre Korrektur wäre eher Korrektur von Körpersprache als von Schriftsprache. Der nachfolgende Brief Rolschs begreift die Lektion der Literatur als eine Lektion für das Leben:
217
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IV 2, 17, Nr. 5; Varianten sind im Text verzeichnet.
Schwarzenbach den 8 August. Unter allen dem Geschichten die ich gelessen, hat mich keine mehr aufmerksam gemacht als diess. Im dieser kan man recht sehen wie die Hofnungen gedäucht werden, als wie ein heuderer Morgen, wo man sich den schönsten Tag einbildet, dem aber auf steigende gewidter Wolken, zernichten, und die Hofnung in den Wint jagen. Nur wolte ich daß die 181 Seide nicht zum vorschein köme und noch weniger die 352. seiht., den so bin ich noch nicht empfintsam gewesen, baß wie bey den dencken, welchen Schmerz diesse Personen mögen gehabt haben. Unzufriedener war ich aber auch bey keiner als bey der 360sehten, den weil nichts mehr dasteht. – Ich bitte Ihnen recht sehr schicken SIE mir den tritten Band, und wen SIE Ihn [über gestr. Ihnen] gleich haben, so langen SIE ihn den Mann über Ihren Thron rauß: Sie sollen Ihn wieder auf Ihren Tisch haben, ehe SIE sich versehen. Meinen Brief Ende ich als wie ein PRO MEMORIAL wo man noch mahls die Bitte wieder holt. Leben SIE als wie unssere hiessigen Honeractionen [davor gestr. herrs] auf der Luckensburg sich werden heut befinden. Ich bin Ihr gehorschamster C C Rolsch.218
Tatsächlich muss die Lektüre des zweiten Bandes der Geschichte der Miß Fanny Wilkes ernüchternd für den Leser gewesen sein, und sein Brief markiert die entsprechenden Bruchstellen: Auf Seite 181 (der dritten Auflage) glaubt die eigentliche Romanheldin Jinny Heavy in einigen ihr zugespielten missverständlichen Briefen das »schreckliche Geheimnis« entdeckt zu haben, das ihr verbietet, ihren scheinbar tugendhaften Geliebten Handsom jemals heiraten zu können. Im letzten Kapitel des Romans offenbart sich dann, dass Jinny Heavy die Stieftochter ihres Verlobten Handsom ist (und dieser zugleich der Vater der Titelheldin Fanny Wilkes), weshalb sie ihn in der Tat nicht heiraten kann; auf Seite 352 kündigt sich dieser fatale Ausgang durch das Ausbleiben des Bräutigams am Hochzeitsmorgen an, auf Seite 360 endet der Roman mit dieser für den verliebten Rolsch wenig befriedigenden Situation. Seine Hoffnung auf einen dritten Band ist, angesichts der Tatsache, dass ein solcher Band nie erschienen ist, gleichfalls zum Scheitern verurteilt. Zur Entsagung ist er offenbar dennoch nicht bereit gewesen. In Rolschs Reisebriefen an Richter verstummen zwar zunächst die Anspielungen auf Sophie Völkel und Don Juan Andrés Reisen ersetzen Fanny Wilkes. In zwei Briefen, die vom Ziel der Reise, Berlin, abgeschickt werden, taucht die ehemalige Mitschülerin dann aber wieder auf, zusammen mit einer sehr deutlichen Rückkehr zum heimatlichen Dialekt, der zudem durch das Zitat einer mündlichen Äußerung Richters zur geheimen lingua franca erhoben wird. Die Sprache der Liebe ist allerdings zögerlich: sie bricht sich erst im Postskript Bahn, nachdem der Schreiber zuvor eine ganze Reihe von Rollen eingenommen hat: die des Nagetiers, des Lernenden und Lesenden, schließlich die einer Briefschreiberin. Aus dem Hause des Verlegers Carl Matzdorf, an den Richter ihn 218
IV 2, 18, Nr. 6; Varianten im Text verzeichnet.
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empfohlen hat, und der seinerseits Rolsch der Obhut seines Mitarbeiters Johann Christian Conrad Moritz anvertraut hat, meldet er: Ich befinde mich wohl, ob ich gleich im Winterschlaf schon liege; aber vieleicht raus gehe, wen andere ihn erst anfange. (Ich meune, das hinnestrecken auf der Stube, doch ich hoffe bald eine Kundschaft zu bekommen.) Nur das ist der Henker das ich nicht so viel fedt hinden habe wie der Dax um es abknauen zu kennen. Doch ich befinde mich so weit wohl da bei, den S i e sagten »ma därft es sich nur besser denken, als es wircklich ist, so befindet man sich glüklicher« nur wen man es nicht vielte. Nun dazu verhelfen mir die Bücher. – Ich mache es so, frühe thue ich ein bar Stunden Chirurgische lesen, und dabei fasse ich es in kürzern aufs Pappier, u desto länger im Kopf, dan nehme ich Naturlehre, wo ich dieses auch thue, dan nehme ich ein Romänigen, welche mir der Vater des Herrn MATZDOFFS immer giebt: aber daß muß ich auch bemerken, das ich die ersten 14 tage dises nicht that. Den da ließ es Ihr Hesperus nicht zu, u. heute dieser Brief, u. in 8 – 14 Tagen vieleicht einer von I h n e n – wie werde ich mich freuen. Herr Moritz versprach mir, einige Zeilen an I h n e n mit enzuschlüssen; nehmen SIE nicht ungietig, das ich wieder welche einschiebe u daher eine gedoppelte Einlage mache. – Mir geths wie den Wieber fangen die eimahl an zu schreiben so heren sie so balde nicht auf. Leben SIE wohl. – Empfehlen SIE mich den Herren Ottos. Ihr gehorsamster Carl Chr. Rolsch Doch ein PS. Was mus wohl die DEMOISELLE Fikchen machen?219
Berends Annahme, aus der »gedoppelte[n] Einlage« könne auf einen nicht überlieferten Brief Rolschs an Sophie Völkel geschlossen werden, erscheint plausibel.220 Richters Antwort, nur in Stichworten im Briefkopierbuch überliefert, scheint von Bedenklichkeiten verschiedener Art getragen: in Anbetracht der großen Stadt werden pädagogische Maximen von moralischen verdrängt, und auch die Eigenwilligkeit von Rolschs Orthographie erregt Anstoß (wobei die Mahnung ihm selbst zur orthographischen Falle wird, zumindest nach Ausweis des Briefkopierbuchs): […] Wenn Sie bisher einen AuxilliarGenius hatten: so haben Sie in den Berliner Strudeln und Ir-Klüften auf [der] rechten und linken Seite einen nöthig. In grossen Städten kan man alles leicht werden, gelehrt, reich und froh – nur nicht gros und gut. Das gute Schiksal bedecke Sie gegen den moralischen Gassenkot, der so leicht in grossen Städten an uns sprizt – Die wenigsten Mädgen haben eine Mutter. – Sie scheinen der Gellertschen Regel, daß ein Brief ein Gespräch mit Abwesenden sei, darin zu folgen, daß Sie Ihre Ortographie nach der Aussprache modeln. Schreiben Sie nur jede Woche 14 Wörter recht. Zum Rechtschreiben gehört langsam schreiben.221
Dass sich in der Mahnung zugleich eine Empfindlichkeit Richters angesichts der Verschriftlichung seines eigenen Dialekts verbirgt, muss Mutmaßung 219 220 221
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IV 2, 107,18–108,9, Nr. 55. Vgl. III 2, 433, Erläuterungen zu Nr. 191. III 2, 127, Nr. 191.
bleiben. Im ersten Briefteil kündigt er auch an, das Frühjahr werde ihn wahrscheinlich in »das sandige Arabien«, »die Gewässer der Spree und in die Wohnung [Matzdorffs]« ziehen (III 2, 127,4–6), und sein gleichzeitiger Brief an Matzdorff entwirft eine empfindsame Szenerie, die im Briefkopierbuch mit einer offenen Inquit-Formel endet, die wohl mehr Valenzen hat als nur die einer Überleitung zum Briefschluss: Ich male mir nie den Frühling und seine fliehenden Szenen heller und öfter als im November und Dezember […] Und eine von jenen eiligen Szenen hat kein andres Theater als Ihren Sand und den auf – Ihrer Diele. Ich male mir es jeden Abend auf dem Kopfkissen, mit welcher Freude ich […] unter die Ihrigen und an Sie eilen werden. Dan werde ich schöner als jezt [sagen], daß ich bin etc.222
Hierzu allerdings wird es erst Jahre später kommen; und auch, dass die »verklärten« Berolinismen der preußischen Offiziersgattin Wilhelmine von Kropff ihm in dem nachfolgenden Sommer – anstelle der Berlinreise – zur Sprache der Liebe werden, kann der Briefschreiber und pädagogische Briefsteller zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Im letzten überlieferten Brief Rolschs tritt der Badergeselle in mehrerlei Hinsicht aus der Rolle heraus, die er sich bis dahin selbst zugeschrieben hat: die Nagetierrolle früherer Briefe (Hamster, Dachs) wird ebenso abgestreift wie diejenige dessen, der seine Galanterie nur auf indirektem Weg, über die Literatur und über den Vermittler Jean Paul, zu artikulieren vermag: Theuerster Herr Richter!
Berlin den 31 JAN. 1796.
Meine murmelthierartige Rolle hat sich mit einem Theile der des ewigen Judens vertauscht; nehmlich statt daß ich vorher an der warmen Urne, dem Denkmale des Winters saß, die mich vor dem Erstarren schützte, und durch die Glasscheiben über das Wetter philosophirte thue ich es jetzt indem ich es zugleich fühle. D. h. ich bin jetzt bei einen andern Herrn wo ich die Bärte außer dem Hause weg zu sensen habe. SIE schrieben mir neulich MADEM. Völkelin wird schöner; daher bin ich so frei etwas an sie bey zu legen, das ihrer Schönheit vieleicht mehr Werth giebt; ich darf hoffen, daß SIE es ihr überreichen – oder über schicken werden. – 223
Der Weg des »infamen Menschen« in die Liebesbriefkultur bleibt indes eine Sackgasse. Richter erfüllt zwar den Wunsch Rolschs und übermittelte seine Sendung an Sophie Völkel;224 deren Reaktion bleibt indes, wie ihr bereits zitierter Brief vom 5. März 1796 dokumentiert, zwiespältig: einerseits artikuliert sie den unüberwindlichen Abstand, der durch keine großstädtische Metamorphose aus der Welt der Kleinstädterin zu schaffen ist, andererseits beschließt sie, das Dokument, das ihr gefällt, zu behalten und somit Richters Lebensmaximen, die das Zerstören von Briefen als Lebenszeugnissen nicht 222 223 224
III 2, 127,20–27, Nr. 192. IV 2, 139,3–14, Nr. 69. Der Begleitbrief Richters ist leider nicht überliefert, vgl. III 2, FB 6.
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zulassen, zu folgen. Zu einer weiteren Entfaltung des Briefwechsels kommt es dennoch nicht. Schon bald, nachdem Rolsch Mitte 1796, offenbar weil er Zunftbestimmungen verletzt hat, Berlin verlassen muss, erhält Richter durch Rolschs Vater die Nachricht vom Tod seines Schützlings.225 Sophie Völkel heiratet 1802 den Schwarzenbacher Kommissionsrat Johann Wilhelm Vogel, ihren »Herrn Path« und unachtsamen Zeugen des aus dem übersandten Buch zu Boden fallenden Liebesbriefversuchs von Carl Christian Rolsch.226 VERHÄLTNIS VON MÜNDLICHER UND SCHRIFTLICHER LIEBESREDE227 – Bei allen bisher betrachteten Korrespondenzen beruhte die Kommunikation 225 226
227
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Vgl. III 2, 231,21–23, Nr. 378. Die Ehe legitimierte ein zuvor gesellschaftlich umstrittenes Verhältnis, das Christian Otto in einem Brief an Richter vom 9. oder 11. bis 2. März 1800 anspricht: »Die Berichtigung einer mündlichen Erzählung den guten Vogel in Schwar[zenbach] betreffend, hätte ich dir schon lang geben sollen; vergaß es aber immer. An dem Kindergeschrei, das jezt in s. Hause ist, ist der arme Mann ganz unschuldig. Er hat nichts davon, als den Verdacht und die gröste u bitterste Kränkung über getäuschtes Zutrauen. Gewiß ist es, daß er für s. Pflegtochter eine Theilnahme hatte, die er vielleicht selbst nicht genau kannte u die für seine häuslich-einsame u verlassene Lage so natürlich u so nöthig war. Er hatte ein Zutrauen zu ihr, das sie nicht verdiente u das sie u ein gewißer Brebsius (?) hinterging, auf den V. fürchterlich aufgebracht ist. Er hatte, als er sehr spät erfuhr, wie sehr er getäuscht worden war, sehr traurige Tage u klagte, daß er nun keinen Menschen mehr habe, dem er vertrauen könne.« (IV 3.2, 193,22– 34, Nr. 328, Briefteil vom 15.2.1800. Die am 29. November 1799 geborene Tochter Sophie Völkels wurde später nachträglich als Tochter Vogels legitimiert. Während der Ehe wurden drei weitere Kinder geboren, nach Vogels Tod bringt Sophie Vogel am 6. August 1807 noch Vierlinge zur Welt, die jedoch nur wenige Tage überleben, vgl. III 5, 160,12–14, Nr. 386 und Erläuterung). In welcher Weise das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Liebesrede angelegt ist, kann als grundlegend für den gesamten Horizont der jeweils in Liebeskorrespondenzen sich entfaltenden Wünsche, Erwartungen und Ansprüche betrachtet werden; dies gilt unabhängig davon, ob man – Gellerts und Lessings Dogma, man solle so schreiben wie man redet, folgend – von einer primären, grundlegenden und unmittelbaren Sprachmächtigkeit des Mündlichen ausgeht (vgl. hierzu Karin Müller, »Schreibe, wie du sprichst!« Eine Maxime im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Eine historische und systematische Untersuchung, Frankfurt/M. 1990; eine vorgeschobene Position vertritt Roland Barthes, für den die Schrift zu einer förmlichen Auslöschung der »Stimme« führt, vgl. Barthes, Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannides, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 185–198, hier S. 185; hierzu auch Joachim Jacob, Briefe aus dem Jenseits. Der Tod des Autors in der Empfindsamkeit, in: Heinrich Detering [Hg.], Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002, S. 8–23, hier S. 8), oder ob man die beiden Modi der Liebesrede gleichermaßen als Äußerungsformen in verschiedenen Mediensystemen betrachtet (wie Luhmann, der auch die persönliche Begegnung als mediale Kommunikationsform betrachtet, vgl. ders., Liebe als Passion, S. 13–19); jedenfalls wird man von einer wechselseitigen Beeinflussung ausgehen müssen (vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 12, S. 190–196 u.ö., vgl. auch Uwe C. Steiner, Als Schrift der Liebe Nahrung wurde. Zur Alphabetisierung der Empfindsamkeit, in: Liebe komm. Botschaften des Herzens, hg. von Benedikt Burkard, Heidelberg 2003, S. 82–95, bes. S. 86–91): so lassen sich in Brief-
auf einem vorgängig mündlichen Austausch, dem sich ein schriftlicher anschließt. In diesen Fällen orientiert sich die schriftliche Liebesrede an den Vorgaben der mündlichen: die Wahl der Liebessprache kann entweder bewusst an die mündliche anschließen, sie kann sich aber auch dezidiert von ihr absetzen, etwa durch den Gebrauch von Fremdsprachen* (was freilich nicht heißt, dass der Gebrauch von Fremdsprachen nicht auch in der mündlichen Kommunikation bedeutsam sein kann). Zugleich kann das schriftliche Sprachvermögen* vom mündlichen abweichen und dabei durchaus eloquenter sein als dieses – zum Beispiel aufgrund von habitueller Unsicherheit im geselligen Leben –, aber es kann natürlich auch unbeholfener sein, was vor allem durch die Tatsache befördert wird, dass in der weiblichen Erziehung auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch dem gesellschaftlichkommunikativen Ausdrucksvermögen der Vorrang vor dem schriftlichliterarischen eingeräumt wird.228 Briefliche Äußerungen, die diesen Zusammenhang reflektieren, sind im Kontext der Hofer ›Simultanliebe‹ kaum anzutreffen. Zu gut war man bereits vor allem Briefverkehr miteinander vertraut. In der Zeit nach Erscheinen des Hesperus und im Windschatten des sich schnell ausbreitenden Ruhmes von Richter ändern sich jedoch die epistolaren Rahmenbedingungen. Zum Briefgespräch mit den Freunden und Freundinnen aus dem vertrauten Korrespondenzkreis treten nun Korrespondentinnen hinzu wie Charlotte von Kalb, Wilhelmine von Kropff, Juliane von Krüdener, Henriette von Schuckmann, Sophie von Brüningk, Emilie von Berlepsch und Esther Bernard, die durch ihre regionale und soziale Herkunft, ihre gesellschaftliche Stellung, ihren Bildungshintergrund und zum Teil auch ihre bereits erworbene Reputation in
228
wechseln immer wieder Figuren der kalkulierten medialen Inszenierung von Mündlichkeit beobachten, zurückgreifend auf die traditionelle sermo-abesentis-ad-absentem-Definition des Briefes (vgl. Anton, Authentizität als Fiktion, S. 8–9; Reinlein, Der Brief als Medium, S. 160–164, Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 109– 115, vgl. hierzu insgesamt: Robert Vellusig, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien u.a. 2000); in der E-Mail-Kommunikation der Gegenwart ist das mediale Changieren sogar zum tragenden Stilelement geworden (vgl. Günther, Wyss, E-Mail-Briefe – eine neue Textsorte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, passim; Christa Dürrscheid, Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: die Kommunikation im Internet, in: Papiere zur Linguistik 60,1, S. 17–30, eher skeptisch hingegen Ernest W.B. Hess-Lüttich, E-Epistolographie: Briefkultur im Medienwandel, in: Andreas Hepp, Rainer Winter [Hg.], Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Oppladen 1997, S. 225–246), wohingegen A. Bennholdt-Thomsen für den Chronotopos 1930 den Liebesbrief weiterhin als »unverzichtbare Alternative zum Gespräch« erkennt (Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs, S. 208–209). In der Favorisierung der geselligen gegenüber der gelehrten Bildung konnte allerdings das Briefschreiben als Modus des lebenspraktischen Schreibens noch zugestanden werden, vgl. Reinhard M.G. Nickisch, Briefkultur: Entwicklung und sozialgeschichtliche Bedeutung des Frauenbriefs im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen, hg. von Gisela Brinker-Gabler, München 1988, Bd. 1, S. 389–409, hier S. 389–391.
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der literarischen Welt kaum mit jenen zu vergleichen sind. Die Mehrzahl dieser Frauen sucht von sich aus den Kontakt zum plötzlich berühmt gewordenen Dichter. Unter dem Eindruck seiner Schriften bezeugen sie ein heftiges Verlangen danach, den Schöpfer dieser Werke, der sich seit der Unsichtbaren Loge selbst als Romanfigur Jean Paul auftreten lässt, in ihr Leben treten zu sehen, welches nahezu durchgängig von Empfindungen des Ungenügens an der prosaischen Realität (in beruflicher, sozialer und familiärer Hinsicht) geprägt ist. Ihr erklärtes Ziel ist es, in das System der ›Simultanliebe‹ einbezogen zu werden, das Richter zuvor im Hesperus publik gemacht und gleichsam für sich patentiert hat. In der ersten Auflage des Hesperus von 1795 lautet die entsprechende Passage: Die Tutti- oder Simultanliebe ist zu wenig bekannt. Es ist noch keine Definizion davon da als meine: in unsern Tagen sind nämlich die Lesekabineter, die Tanzsäle, die Konzertsäle, die Weinberge, die Koffee- und Theetische, diese sind die Treibhäuser unsers Herzens und die Reffinerien unserer Nerven, jenes wird zu gros, diese zu fein – wenn nun in diesen ehelustigen und ehelosen Zeiten ein Jüngling, der noch auf seine Messiasinn wie ein Jude passet und der noch ohne den Gegenstand des erotischen con brio des Herzens ist, von ungefähr mit einer Tanz-Moitistin etc. mit einer Klubistin oder Associee, oder Amtsschwester oder Litis-Konsortinn hundert Seiten in Salis oder Göthe lieset – oder mit ihr über den Klee- oder Seidenbau oder über Kants Prolegomena drei bis vier Briefe wechselt – oder ihr fünfmal den Puder mit dem Pudermesser von der Stirne kehrt – oder neben und mit ihr betäubende Säbelbohnen anbindet – oder gar in der Geisterstunde (die eben so oft zur Schäferstunde wird) über das erste Prinzip der Moral diskurirt: so ist so viel gewiß, daß der besagte Jüngling (wenn anders Feinheit, Gefühl und Besonnenheit einander die Wage in ihm halten) ein wenig toll thun und für die besagte Moitistin) wenn sie anders nicht mit Hökern des Kopfes oder Herzens an seine Fühlfäden stösset) etwas empfinden muß, das zu warm ist für die Freundschaft, zu unreif für die Liebe das an jene gränzt, weil es mehrere Gegenstände einschließt, und an diese, weil es an dieser stirbt. Und das ist eben nichts anders als meine Tutti-Liebe. Beyspiele sind verhast: sonst zög’ ich meines an. Diese Universalliebe ist ein ungegliederter Fausthandschuh, in den, weil keine Verschläge die vier Finger trennen, jede Hand leichtlich hineinfährt – in die Parzialliebe oder in den Fingerhandschuh drängt sich nur eine einzige Hand.229
Das Manuskript der Druckvorlage der Erstausgabe des Hesperus ist nicht überliefert, aber es ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die falsche Ausrichtung der Klammer nach den Worten »für die besagte Moitistin« dem Setzer anzulasten ist.230 Für eine Philologie der Intimität aus der Perspektive der Leserinnen Richters stellt die Desorganisation des Satzes allerdings ganz unabhängig von der Frage nach dem Verursacher ein Signal 229 230
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H 1, S. 274–276. Der die Ausrichtung der Klammern betreffende Druckfehler wurde in der obigen Wiedergabe der Textpassage beibehalten, da im vorliegenden Fall ja die Lesart der Leserinnen Jean Pauls in den Fokus gerückt wird. Weder die Historisch-kritische noch die Hanser-Ausgabe haben diese Auflage zur Textgrundlage gemacht, doch ist die Erstausgabe durch die HKA-Hesperus (hg. von Barbara Hunfeld) wieder zugänglich.
dar: Die schließenden Klammern überwiegen; zwischen den »besagte[n] Jüngling« und die Empfindungen, an die sich eine Korrespondenz anschließen ließe, drängt sich ein Ausschluss-Operator, der eine zusätzliche Hürde für eine mögliche Kontaktaufnahme darstellt. Und dies umso mehr, als es sich bei den von Jean Paul im Hesperus beschriebenen Praktiken der ›Simultanliebe‹ vor allem um mündliche Praktiken handelt – oder zumindest um solche, die, wenn sie sich auch sprachlos ereignen können, so doch unmittelbare Gegenwart voraussetzen. Die erwähnten Briefwechsel über den Klee- oder Seidenbau bzw. über Kants Prolegomena bleiben demgegenüber auch in amouröser Hinsicht allenfalls Prolegomena und sind zu abwegig, um daran mögliche Schreibanlässe* zur Initiation einer Korrespondenz zu knüpfen. Bevor sie sich mit einer Wahl der Liebessprache abgeben und sich um eine ansprechende Präsentation des eigenen Sprachvermögens bemühen können, müssen die ›neuen‹ Korrespondentinnen somit noch einen geeigneten Schreibanlass finden, der sich mit der im Hesperus umschriebenen Kultur simultaner Vertrautheit vereinbaren lässt. Strategien der Simulation, Rekapitulation und Vorwegnahme von Mündlichkeit spielen dabei gerade in der Initialphase der neuen Bekanntschaften eine bedeutsame Rolle. Auf der anderen Seite geriert Richter sich im etablierten Kreis als der Souverän des Urteils über Mündlichkeit und Schriftlichkeit der neuen Korrespondentinnen – an Christian Otto schreibt er zum Beispiel am 18. Mai 1796 bei Gelegenheit der Übersendung von Briefen Charlotte von Kalbs und Wilhelmine von Kropffs – und unmittelbar, nachdem er Frau von Kropff erstmals persönlich gesehen und gehört hat: Guten Abend! Lieber, hier send’ ich dir einstweilen ein Blüten- und Fruchtkörb[g]en. Nims aber der guten Minette [gemeint ist Wilhelmine von Kropff, Anm. J.P.] nicht übel, daß sie gegen die geistige ätherische K a l b hier so absticht: sie spricht freilich unendlich besser als sie schreibt [aus: spricht].231
Die Tatsache, dass sich Richter beim Schreiben des letzten Wortes zunächst verschreibt, mag ein Indiz für die Stärke des Eindrucks sein, den die unmittelbar vorausgegangene Begegnung mit Wilhelmine von Kropff bei ihm hinterlassen hat: Der Modus ihrer Rede ist von Mündlichkeit gar nicht zu trennen und es bedarf der bewussten Korrektur, um demgegenüber der Schriftlichkeit Geltung zu verschaffen. Der in diesem Billett mitgeteilten Offenbarung von Wilhelmine von Kropffs mündlichem Sprachvermögen ist aber eine lange Latenzphase vorausgegangen, in der die persönliche Begegnung immer weiter hinausgeschoben wurde. Und gemessen an der hier behaupteten Unzulänglichkeit von Wilhelmine von Kropffs Schreiben hat sich Richter dabei eine erstaunliche Mühe gegeben, durch eigene Briefe an sie das Ziel zu erreichen, möglichst 231
III 2, 195, Nr. 315; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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viele Briefe von ihr zu empfangen: »Ich bitte Sie sehr, mir recht viel Zeit zu rauben, da Sie mir etwas geben, was man oft durch die Zeit verliert, – Freude und das süsse Anschauen einer schönen Seele« (III 2, 183,5–7, Nr. 297), so schreibt er am 24. April 1796 an sie – und die hier angesprochene freudeschenkende Anschauung beruht doch auf nichts anderem als ihren Briefen. Die Genealogie des ersten Gesprächs mit Wilhelmine von Kropff im Mai 1796 ist kompliziert. Zumindest vier Personen sind daran beteiligt, deren Biographien durch asymmetrische amouröse Beziehungen miteinander verflochten sind: neben Richter zunächst natürlich Ernestine Johanne Friederike W i l h e l m i n e von Kropff geb. Adolphi selbst. 1769 in Berlin geboren, lebt sie seit Anfang 1796 als Gattin des sehr viel älteren, aus Braunschweig stammenden preußischen Offiziers H e i n r i c h Johann Theobald von Kropff (1739 [?] – 1819) in Bayreuth. Von den drei Kindern des Ehepaars ist der älteste Sohn Carl in Berlin zurückgeblieben, um dort seinen Erziehungsgang abzuschließen, seine Geschwister H e i n r i c h Friedrich Karl Alexander Wilhelm (*1790 in Potsdam) und Constanze leben bei den Eltern in Bayreuth. Vor dem Weggang der Kropffschen Familie von Berlin nach Bayreuth hat sich dort noch zwischen Wilhelmine und dem verheirateten Adjutanten Friedrich Wilhelm von Winterfeldt ein Liebesverhältnis entwickelt, an dem sie offenbar stärker festgehalten hat als dieser. Genau umgekehrt sind die Leidenschaften in Frau von Kropffs Verhältnis zum mit ihr gleichaltrigen Hans Georg von Ahlefeldt (1768 oder 1969 – 1828) verteilt, der ebenfalls in Berlin zurückgeblieben ist und seinerseits mit Winterfeldt befreundet ist. Ahlefeldt ist Justizassessor im Königlichen Manufaktur- und Kommerzienkollegium, leidet aber empfindlich unter der Bürde dieses Amtes, zumal es ihn seit dem Umzug der Familie Kropff von Berlin nach Bayreuth von der schwärmerisch umworbenen Wilhelmine trennt. In langen Briefen, die täglich fortgeschrieben, aber nur wöchentlich abgeschickt werden, beklagt er ihr gegenüber sein Schicksal und versichert ihr seine Treue. Nahezu jede dieser Sendungen enthält aber auch – in sehr doppeldeutige Gesten der Anteilnahme gekleidet – Nachrichten über Äußerungen der Gefühlskälte und Treulosigkeit Winterfeldts Wilhelmine gegenüber, so zum Beispiel am 8. März 1796: O ich bin von Herzen mißgestimmt meine theuerste Minona [gemeint ist Wilhelmine von Kropff, Anm. J.P.], so selten kann ich Dir etwas von Winterfeldt erzählen und wie ich mich einmal darauf freue Dir viel schönes zu berichten wendet sich das Blatt und ich muß zur Steuer der Wahrheit nur bittre Gefühle in Dir erwecken; so manches würde ich gern, gern verhüllen wenn es mir möglich wäre Dich zu täuschen.232
Dass Ahlefeldts Liebesbriefe überliefert sind, ist dem Proliferationssystem der ›Simultanliebe‹ zu verdanken, zu dem er sich Anfang 1796 recht eigenmächtig 232
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Hans Georg von Ahlefeldt an Wilhelmine von Kropff, Berlin 6.–12. März 1796, Briefteil vom 8. März; H: BJK, Berlin A.
Zugang gesucht hat. Im Herbst 1795 hat er sich für mehrere Wochen vom Dienst beurlauben lassen, um Frau von Kropff in Bayreuth zu besuchen. Auf der Rückfahrt nach Berlin spricht er dann am 11. Januar 1796 unangemeldet bei dem »genialischen HUMORISTEN Richter« 233 vor und nimmt sich somit eine Freiheit heraus, die allenfalls ihm als Mann im Rahmen der traditionellen Rollenmuster* der Geschlechter zugestanden wird. Aus der persönlichen Begegnung erwächst ein ausführlicher Briefwechsel mit Richter. Den ersten Brief schreibt dabei Ahlefeldt am 20. Februar 1796 aus Berlin. Bevor aber auf diese Weise der Freundschaftsbriefwechsel begründet wird, der die Korrespondenten bis ans Lebensende begleitet, informiert Ahlefeldt noch die Geliebte über das Ereignis. Eduard Berend hat diesen Briefbericht in seine Sammlung Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen aufgenommen.234 Als Zeugnis zur Biographie Richters ausgewählt, bleiben dabei aber die amourösen Kontexte und Implikationen des Schreibens spezifisch unterrepräsentiert – wird man doch annehmen müssen, dass bei dem (auch von Berend im Kommentar erwähnten) »Minnedienst« Ahlefeldts235 jede andere Personen betreffende Mitteilung nicht primärer Zweck, sondern Mittel der Kommunikation gewesen ist. Das Erlebnis wird offenkundig im Dienste einer amourösen Strategie der Intensivierung* ausgebeutet: Hervorstechendes Merkmal der Liebessprache Ahlefeldts ist die durchgängige Orientierung an literarischen Mustern. Seine individuelle Variante des Liebens nach Texten* spricht sich am deutlichsten aus in der Wahl des Namens »Minona« für Wilhelmine von Kropff. Er gibt der Umworbenen also den Namen einer Figur aus den OssianEpen James McPhersons,236 und zwar den der Schwester des Helden Morar, dessen Tod in den von Goethe in Straßburg unter dem Einfluss Herders übersetzten und dann in den Werther aufgenommenen »Songs of Selma« beklagt wird.237 Auch die Grundtonart der Briefe ist ein ossianisches Moll: Verlange es nicht Du Einzigste meiner Seele Dir den Zustand meines so ganz armen Herzens zu schildern […] Als ich in den so lang gefürchteten Wagen stieg und Dein letztes Lebewohl mich durchschnitt und nun meine rastlose Phantasie […] meine ganze Liebe, meine ganze Trauer und die Leiden meines vergangenen und künftigen Daseins, wie in einem Zauberspiegel vor meine Seele führte – o Minona, könntest Du
233 234 235 236
237
Hans Georg von Ahlefeldt an Wilhelmine von Kropff, Leipzig und Berlin, 15.– 23.1.1796, Briefteil vom 15. Januar; H: BJK, Berlin A. Persönlichkeit, S. 13–14, Nr. 19. Ebd., S. 395, Erläuterungen zu Nr. 19. Vgl. Wolf Gerhard Schmidt: »Homer des Nordens« und »Mutter der Romantik«. James Macphersons Ossians und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, 3 Bde., Berlin 2003 – zu Jean Pauls Partizipation am europäischen Ossianismus siehe insbes. Bd. 2, S. 880–900. Vgl. auch Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Melodram Minona oder Die Angelsachsen von 1785, vertont von Johann Abraham Peter Schulz.
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mir eine Thräne versagen, wenn Du Dir das alles nach Deiner Kenntniß von meinem Herzen und von meinen Gefühlen vergegenwärtigen wolltest?238
Die literarisierende Schreibeweise stößt aber immer wieder an kompositorische Grenzen. Da Ahlefeldt täglich schreibt und das Geschriebene niemals nachträglich redigiert, bilden die Briefe eine Art fortlaufenden Kommentar zu seinem Leben. Einheitsstiftend sind dabei die Figuren der Wiederholung*: die Beschwörung einer unwandelbaren Liebe zu »Minona« und die repetitive Selbstdarstellung* als ständig Scheiternder und Fremdling in einer bürokratischen Welt der Missgunst und der Missverständnisse. Diese Formeln grundieren das durch die Briefe vermittelte mechanische Fortschreiten der Zeit: Tage und Stunden werden gleichsam als Lemmata des Lebens am Briefrand verzeichnet. Im Brieftext wird demgegenüber immer wieder die Augenblickserfahrung hervorgehoben, die es dem Individuum erlaubt, sich der reißenden Zeit zu entheben. In genau dieses Raster ist nun auch die Schilderung der Begegnung mit Richter in Hof eingezeichnet: »in HOFF«, so schreibt Ahlefeldt an die Geliebte, »ergötzte ich mich an der süßen Nachricht daß die Post erst Nachts 12 Uhr weiter führe; es war mir soviel werth auf dieser Grenzlinie noch einige Stunden alle die himmlischen Düfte die mir von Dir herüberwehten einzuathmen, daß mir dieses Verweilen wie ein einheimischer Ruhepunkt vorkam auf welchem man sich zu einer weitern Reise stärkt.«239 Der Besuch bei Richter, so deutet Ahlefeldt an, ist eine Art Opfer für Wilhelmine, der Besuchte selbst, dessen Identität in Klammern noch geklärt werden muss, spielt dabei im Grunde die Nebenrolle: »Du, meine Ewiggeliebte, hättest Ursach mit mir zu schelten und ich Grund genug mit mir selber unzufrieden zu sein, wenn ich durch HOF gereist wäre ohne meinen genialischen HUMORISTEN Richter (den Verfasser der Hundsposttage pp) aufzusuchen.« Nur die hieran geknüpfte Genreszene ist es, die in Jean Pauls Persönlichkeit dokumentiert wird: das unangemeldete Hereintreten in der Halbdämmerung »zu dem Candidaten Richter«, die »ärmliche, geräumige und reinliche Stube«, in deren Vordergrund »ein altes zusammengetrocknetes Mütterchen (JEAN PAULS Mutter)« zu erkennen ist, und im Hintergrund, »zwischen zwei ganz einfachen Bücherrepositorien an einem simplen Schreibtisch«, schließlich der Schriftsteller selbst »mit der Feder in der Hand.«240 Soweit das Genre-Bild. Aus diesem Genre-Bild heraus springt nun der epiphanische Augenblick und macht die Idee der Simultanität erfahrbar, die sich mit Richters Idee der Simultanliebe, wie sie Ahlefeldt aus dem Hesperus kennt, verbindet: 238 239 240
200
Hans Georg von Ahlefeldt an Wilhelmine von Kropff, Leipzig und Berlin, 15.– 23.1.1796, Briefteil vom 15. Januar; H: BJK, Berlin A. Ebd. Ebd.
Wie aus einem phantastischen Traume sprang er (den Du in kurzem kennen lernen wirst) wenn Du ihn nicht schon kennst) auf, gerade eine Gestalt wie ich sie mir geträumt hatte, und empfing mich mit meinem Eintrittscompliment so ungeheuchelt herzlich und in einer so ekstatischen Wonne daß in den folgenden Minuten unsre Seelen wie Blitze ineinanderfuhren.241
Die Idee, die reale Gestalt einem geträumten Vor-Bild entsprechen zu lassen, folgt ganz der Poetologie der phantasiebewegten Vorwegnahme, die Richter kurz zuvor im Anhang zur Idylle Leben des Quintus Fixlein aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette von Jean Paul, Verfasser der Mumien und Hundsposttage unter der Überschrift »Ueber die natürliche Magie der Einbildungskraft« veröffentlicht hat.242 Ahlefeldt hat das Buch, wie er an Wilhelmine von Kropff schreibt, gerade während seines zurückliegenden Besuchs in Bayreuth gelesen.243 Im Schatten dieser poetologischen Assimilation weist der Brieftext Ahlefeldts jedoch noch eine weitere, unauffälligere Angleichung an Jean Pauls gedruckte Liebesphilosophie auf: Die unvollständige Einklammerung – in der Handschrift des Briefes handelt es sich, abweichend von der hier wiedergegebenen Transkription,244 um Querstriche, die aber gleichfalls dem Gesetz der Symmetrie unterworfen sind (erforderlich ist jeweils ein öffnender und ein schließender Querstrich) – entspricht exakt der ebenso asymmetrischen in der Passage zur Simultanliebe der HesperusErstausgabe, also jenem Buch, das Ahlefeldt Wilhelmine von Kropff als Referenztext der Begegnung nennt. Das im Brief geschilderte Ereignis wird somit ins Hesperus-Kalkül der Universalliebe übertragen. Ahlefeldt gesteht denn auch der Geliebten unmittelbar im Anschluss an diese Passage, dass er ungefragt auch Wilhelmine bereits ›eingemeindet‹ hat: »ohne eigentliche Geständnisse«, so schreibt er weiter, »sprach ich mit Enthusiasmus von Dir«, zwischen beide Phrasen aber fügt er noch in Klammern eine Klausel der vorbehaltlichen Intimität ein: »(denn das versteht sich von selbst daß ich die nicht that)« und fährt danach fort »[… von Dir] dem idealisirten Individuum meines Geistes, jedes Wort fiel in seiner Seele auf einen guten fruchtbaren Boden und nun gieng es an ein Schwärmen, dessen Wiedererzählung eigentlich unmöglich ist – kurz ich mußte ihm Deine ADRESSE aufschreiben und er wird Dich gewiß besuchen.«245 Von der chthonischen Metapher des »guten fruchtbaren Boden[s]« aus führt die Beschreibung der mündlichen Vereinigung zu Meta241 242 243 244
245
Ebd.; in Persönlichkeit hat Berend emendiert und die scheinbar überschüssige schließende Klammer durch ein Komma ersetzt. Vgl. QF 11, 329–353, vgl. I 5, 185–195. Hans Georg von Ahlefeldt an Wilhelmine von Kropff, Berlin, 14.–20.2.1796, Briefteil vom Sonnabend, den 20. Februar; H: BJK, Berlin A. Die Editionsrichtlinien der vierten Abteilunge der HKA, denen die Wiedergabe der Texte folgt, legen fest: »Alle Arten von Klammern im Text werden als runde Klammern wiedergegeben« (IV 1, S. 316). Ebd.
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phern des gasförmigen bzw. flüssigen Seelentaumels: »eine Flasche des schönsten CHAMPAGNERS vervielfachte die Wirksamkeit unsrer Seele, wir flogen von Sphäre zu Sphäre, unsre Trennung war wie das Auseinanderfließen zweier Ströme […]«. Damit kommt Ahlefeldt wieder in der ossianischen Grundtonart an, in der die Rede von den »Strömen« eine Grundformel ist. Dem Ossian wird nun aber »Jean Paul« zur Seite gestellt, und Wilhelmine wird zum Emblem dieser Vereinigung erkoren: »Was wir alles mit einander sprachen kann ich Dir nicht aufschreiben – aber eins ist meiner Seele meinem ganzen Wesen so nahe verwandt daß ichs Dir sagen kann und muß, denn Du warst es selbst. Du meine Minona, Du Ebenbild seiner Klotilde im Hesperus.«246 Damit ist es zu einer Neujustierung des Briefverhältnisses zwischen Ahlefeldt und Wilhelmine gekommen, in das Richter nunmehr als Mittelsmann* einbezogen wird. Fast alle Briefe, die Ahlefeldt und Frau von Kropff in der Folgezeit aneinander schreiben, werden im Voraus oder nachträglich Richter zur emotionalen Beglaubigung vorgelegt.247 Die Leichtigkeit, mit der diese Verschmelzung zweier Briefzirkel vonstatten geht, wird aber gleichfalls nicht hinreichend erklärt, wenn man sich allein auf die in der unmittelbaren Schilderung der Erstbegegnung dargebotene Metaphorik der Vereinigung bezieht. Erst der epistolare Gesamtkontext macht deutlich, dass die gegenseitige Belieferung mit Briefen Dritter auch zuvor schon zur Korrespondenzpraxis Kropffs und Ahlefeldts gehört hat. Namentlich Briefe Winterfeldts und Briefbeilagen, die sich auf ihn beziehen, gehören zur Grundausstattung der Briefe, wobei diese Strategien der Intensivierung* in diesem Fall eine bemerkenswerte Asymmetrie der Intentionen und Wirkungen aufweist: für Ahlefeldt sind die Beilagen und der an sie geheftete Transfer von Materialität ein Mittel, Winterfeldts fehlende Achtung für Wilhelmine zu belegen, sie hingegen empfängt sie weiterhin als Werkzeuge, mit denen sich die Realpräsenz des Geliebten denken lässt. Vor diesem Hintergrund muss der Versuch Ahlefeldts, ein Dreiecksverhältnis Kropff-Richter-Ahlefeldt im Medium des Briefwechsels herzustellen, auch als Versuch einer Verdrängung begriffen werden: Winterfeldt soll durch Richter ersetzt werden. Die Vereinigung der beiden Briefsysteme beginnt mit einem eklatanten Verstoß gegen die Konvention. Ahlefeldt beginnt seinen ersten Brief am 20. Februar mit den Worten: Länger, Du meiner Seele Liebling, und wenn ich Dir damit den Vorrang unter den Menschenkindern abgewinnen könnte, länger kann ichs, mag ichs nicht sparen Dich an das Blättchen Pappier zu mahnen, dem ich einst in einer der schönsten Abendminuten meines Lebens, mit Deiner eignen Feder meinen Nahmenszug eingrub – sollt es nur Deine Feder gewesen sein, sollt ich mich getäuscht haben, als ichs fühlte, daß 246 247
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Ebd. Die zwischen dem 15. Januar und dem 11. Juni 1796 geschriebenen Briefe Ahlefeldts an Wilhelmine von Kropff haben sich in Jean Pauls Nachlaß erhalten.
in jener Minute sich auch Dein Geist mit dem meinigen verband, als ich ihm auf jenem Blatte die Richtungslinie anwieß, nach welcher er sein Feuer in den meinigen überströmen sollte?248
Am 24. Februar erhält Richter den Brief und schreibt an Christian Otto: Buchstabiere den Brief von Ahlefeldt, der ein Wiederschein vom Chanpagner [Druck: Champagner] Abend ist und der wieder beim Weine gemacht zu sein scheint. Die Brüderschaft wurde/ist nicht getrunken sondern geschrieben: als Sie gieng er fort, als Du kömt er wieder.249
Das Ungewöhnliche an Ahlefeldts briefstellerischen Verstoß (dem Richter mit »kömt« einen die regionale Vertraulichkeit unterstreichenden dialektalen Verstoß gegen die Rechtschreibung entgegensetzt) ist, dass darin das konventionelle Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf den Kopf gestellt wird: kann doch im Normalfall eher im Mündlichen als im Schriftlichen der Fehler des nichtlegitimierten Duzens vorkommen. Richter folgt Ahlefeldt in dieser Unterwanderung der Konvention: Das rekursive Duzen wird trotz der für den Richter’schen Freundeskreis typischen Alternativformulierung »wurde/ist«, die ja doch die Ungültigkeit der Verbrüderung hervorhebt, in seinem Antwortbrief akzeptiert. Dem Druck als einzigem Textzeugen für den Briefanfang zufolge beginnt er mit den Worten: »Dein Brief gab mir die Palingenesie unserer ersten Stunde und jene heissen Stiche, die ich allemal bei grosser Freude in der Gegend des Herzens fühle« (III 2, 160,13–15, Nr. 252). Im Postskriptum des Briefes schreibt Richter dann: »Den Grus deiner Klotilde erwieder’ ich mit dem wärmsten, in dem der Wunsch ist, daß Ihr Leben jährlich 4 Frühlinge und 365 Pfingsttage habe« (III 2, 161,17–19). Er folgt somit Ahlefeldts neuer Nomenklatur der Liebe, die auf seinen (Richters) eigenen Roman gegründet ist, und verstärkt sie noch, indem er auf die zentralen verklärten »Pfingsttage« der Liebe im Hesperus anspielt, die Klotilde mit Viktor, dem Romanhelden, in Maienthal, dem idyllischsten Nebenhandlungsort des Romans, erlebt.250 Ahlefeldt sieht sein Wunschbild damit in Erfüllung gehen: Mit dem Versprechen, er werde sich gewiss augenblicklich in diese Klotilde verlieben, werde in ihr seine Romanheldin wiedererkennen, drängt er Richter energisch zu einer ersten Begegnung mit der Geliebten.251 Einem persönlichen Treffen mit Frau von Kropff geht Richter jedoch vorerst aus dem Weg; schon am 1. März hat er an Ahlefeldt geschrieben: »Zu deiner Klotilde hatt’ ich, da ich in BAYREUTH war, troz aller Sehnsucht nicht – weil ich nicht wuste, ob du mich ihr schon präsentieret hättest – den Muth« 248 249 250 251
IV 2, 143,4–13, Nr. 72; Textgrundlage: Originalhandschrift. III 2, 158, Nr. 245; Textgrundlage: Druck und Originalhandschrift. Vgl. insbesondere den 13. Hundsposttag der Erstauflage des Hesperus (Hesp. 1, 311– 321). Vgl. IV 2, 157,–159, Nr. 80.
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(III 2, 160,30–32, Nr. 252; Textgrundlage: Originalhandschrift252). Mit dem Wunsch nach vorheriger schriftlicher Präsentation ist die konventionelle Erwartung an die Rolle des Mittelsmanns* bezeichnet. Ob aber der Sachverhalt philologisch hinreichend repräsentiert ist, wenn man Richters Zaudern als Rücksicht auf die Konvention deutet und als solche unkommentiert lässt, bleibt zu bezweifeln: Denn mindestens ebenso deutlich ist in den folgenden Briefen das Bedürfnis nach Vorwegnahme und phantasierender Ausmalung der Begegnung zu erkennen, wodurch eine Konvention sui generis geprägt wird: die Konvention der verklärenden Antizipation, die Ahlefeldt zu Beginn der Begegnung unter Rückgriff auf Jean Pauls Poetologie der produktiv imaginativen »natürlichen Magie« vorgegeben hat.253 Auch Ahlefeldt spielt darauf an: Hat Dich Deine Phantasie so überflügelt, daß Du meine KLOTILDE in Bayreuth vergessen konntest […] O was hab ich ihr alles in dem lebendigen Feuer von Dir gesagt, wie hat sie seitdem die Straße gen Hof hinausgesehen nach dem Wandrer PAUL, wie hat sie in den Strahlen des HESPERUS sich gesonnt und des Geistes gedacht, der ihn schuf.254
Da nun aber Richter, wie er an Ahlefeldt schreibt, bei seinem Besuch in Bayreuth nicht »den Muth« gehabt hat, Frau von Kropff aufzusuchen, sendet Ahlefeldt Richters Schreiben, das dieses Bekenntnis enthält, an die Geliebte nach Bayreuth. Sie wiederum wendet sich nun ihrerseits brieflich an Richter, weil ihr Ahlefeldt zusammen mit Richters Brief und seinem eigenen Brief an sie einen Brief an Richter zugesandt hat, versehen mit der Bitte, diesen Brief mit einigen Begleitworten versehen an den Empfänger nach Hof weiter zuschicken. Der Mittelsmann hat damit seine Pflicht zunächst erfüllt. Frau von Kropff beginnt ihren Brief mit einer verschachtelten Folge von Klauseln, die den traditionellen Rollenmustern* im Geschlechterverhältnis Rechnung tragen, zugleich aber auch einen auffälligen Fehler in der literarischen Adressierung enthalten. Nach Ahlefeldts Vorbild auf den Hesperus bezugnehmend, schreibt sie: Baireuth den 5ten Appril Währe ich ein Mann so würde ich Ihnen schreiben, ongefehr wie HORION seinen EUGENINO, (oder wie i c h lieber ihm nenne) seinen DAHORE schrieb; – würde Ihnen sagen – das Sie mein Freund sein m ü s t e n , wie ich schon längst durch SeelenHarmonie verbunden, – Ihre Freundin war; – aber Ach! – ein Weib ist so manchen Konvenientzen unterthan, – von denen sie sich nicht lossagen darf, um ihres ä u ß e r n Friedens willen, – d a r u m freue ich mich, das ich durch beiliegenden Brief 252 253
254
204
Der erste Teil des Briefes ist nur im Druck, der zweite im Original überliefert. Vgl. zu dieser für Jean Paul charakteristischen poetologischen Figur den nach wie vor höchst lesenswerten Aufsatz von Kurt Wölfel: »Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt«. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie. In: Wölfel, Jean Paul-Studien, Frankfurt/M. 1989, S. 259–300, insbes. S. 268–273. IV 2, 143,32–144,3; Textgrundlage Originalhandschrift.
unseres Freundes, (der es wahrlich verdient der Ihre zu sein) eine Entschuldigung für diesen habe, und auch dadurch selbst in Ihren Augen gerechtfertiget bin, das ich so ungebeten mich Ihnen schriftlich Presentire, das Sie das nicht selbst schon längst Persöhnlich thaten, das – mögen Sie vor Ihren eigenen Gewißen – so gut Sie k ö n n e n , entschuldigen, – nur machen Sies’ bei Ihren nächsten Hiersein beßer, und gönnen Sie mir eben eine Bekandschaft, die ich so lange wünschte; –255
Dieser Briefanfang verwebt auf virtuose Weise eine Vielzahl von Kontextbezügen zu einer Rechtfertigung des Schreibanlasses* und damit zu einer Vorform des Werbens*: die Anspielung auf den platonischen Diskurs ursprünglicher Seelenverwandtschaft, die Einschränkungen durch die Geschlechterrolle sowie die Lizenz zu deren Überschreitung in der Figur des Mittelsmanns. Im Bezugstext aber unterläuft Frau von Kropff der schon erwähnte Fehler: die enigmatische Hesperus-Romanfigur Dahore trägt den Vornamen Emanuel, nicht Eugenius – dies ist der Name des Freundes und weisen Ratgebers in Laurence Sternes Romanen. Der Fehler ist also zugleich ein unfreiwilliges weltliterarisches Kompliment. Die Glaubwürdigkeit des Mittelsmanns Ahlefeldt mit seiner Neigung zur literarischen Überformung der Realität wird von Frau von Kropff im zweiten Teil des Briefes dann einerseits formell in Frage gestellt, andererseits aber, indem sie die Namensgebung »Klotilde« nun selbst aufnimmt, auch wieder bestätigt: Nur bitte ich sehr, rechnen Sie auf allen was Sie etwa durch unsern Ahlefeldt von dieser Baireuther Klotilde hörten n i c h t ; – er hat Ihnen gewis mein Bild, Phisisch und Moralisch, durch das alles verschönernde Kolorit der Liebe gezeichnet, einer Liebe, die nie erwiedert werden kann, ihm den guten Edlen unglüklich macht, und meine Tage oft trübt. – Leben Sie wohl es giebt Saiten, die wenn sie tönen, nur unangenehme Empfindungen hervorbringen,- darum ende ich hier; – werden Sie auch unbekandt mein Freund, wie ich schon längst Ihre Freundin war. – Wilhelmine v. Kropff256
Der Appell ist eindeutig: das Liebeswerben des Berliner Schwärmers ist aussichtslos, die Schreiberin präsentiert sich vor diesem Hintergrund zu Beginn der Briefbekanntschaft im Zustand der ›Verstimmung‹ (als musikalische Metapher mit dem Potential der psychologischen Übertragung), briefstellerisch eindeutig zu lesen als Aufforderung zur Restitution der natürlichen Harmonie durch den Korrespondenten. Richter aber antwortet nicht sogleich. Der unerwartete Brief Wilhelmine von Kropffs und der ihm beigelegte zweite Brief Ahlefeldts müssen zunächst ›verarbeitet‹ werden. Gesprächspartner hierfür ist erneut Christian Otto, an den Richter am 7. April 1796 schreibt: Jezt ist einmal die Brief-Weinlese, also auch die Billets-Postzeit. Der Ahlefeldische Brief ist schöner als der vorige. Über den weiblichen von einer Ehefrau hab ich mich 255 256
IV 2, 163,8–24, Nr. 84; Textgrundlage: Originalhandschrift. IV 2, 178,24–34; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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sehr – gewundert. Ich bekam die Briefe in 1 Couvert. Ich habe das eigne Schiksal in der Welt, daß ich von Bayreuth an […] bis nach LEIPZIG und BERLIN, ich mag sein wo ich wil, daß ich allemal zwischen 2 – Verliebten stehe als der 3te Mann mit einer schönen lichten Glaze. Bemerke wieder das das (UT).257
Auch hier also Hinweise auf Sprachwahl und Sprachvermögen der ›neuen‹, von Außen kommenden Korrespondenten – offen in Hinblick auf Ahlefeldt, verdeckt (im letzten Satz) in Hinblick auf Wilhelmine von Kropff: Der männliche Brief wird – das Geschlechterdispositiv kreuzend – nach seiner »Schönheit« beurteilt, der »weibliche[] von einer Ehefrau« hingegen nach seiner Logik und grammatikalischen Stimmigkeit: Das »das«, auf das Otto gestoßen wird (»Bemerke wieder«) – gemeint ist Wilhelmine von Kropffs Schreibweise von »daß« (lat.: ut) – wird von Richter nicht nur hier als spezifisch weiblicher Schreibfehler hervorgehoben.258 Philologisch bleibt der Fall gleichwohl prekär: die Vernachlässigung des Unterschiedes ist in der Zeit sehr verbreitet, eine Kommentierung des Fehlers – zum Beispiel bei seinem ersten Auftreten im Konsekutivsatz »das Sie mein Freund sein m ü s t e n « – käme einer philologischen Diskriminierung gleich, auch deshalb, weil Richters Bemerkung ja nicht an die Schreiberin gerichtet ist, sondern exklusiv an einen Dritten. Andererseits verweist Richters Wahrnehmung und Kommentierung des Fehlers im amourös eingefärbten Kontext ja keineswegs auf ein sprachliches Missfallen: »Bemerke […] das das« kann ebenso auf einen Reiz hindeuten, der sich mit der Verwunderung über den Mut der unbekannten Briefschreiberin paart. Ein spezifischer Kommentar im Rahmen einer Philologie der Intimität müsste also diese emotionale Offenheit der Wahrnehmung des Fehlers berücksichtigen. Richters Antwort vom 16. April 1796 ist nur abschriftlich im Briefkopierbuch sowie als Zitat in einem weiteren Brief an Christian Otto überliefert. Sie beginnt mit dem Satz: »Es kostet Sie blos 2 Seiten um einen Leser glüklich zu machen, indes ein Autor [es] in 400 kaum vermag« (III 2, 178,21–22) Was Frau von Kropff nicht wissen kann: Richter geizt hier in der Wahl seiner Liebessprache. Einen nahezu identischen Briefeinstieg hat er gut einen Monat zuvor in einem Brief an Charlotte von Kalb verwendet: »Wenn Ihnen JEAN [PAUL] mit seinen 300 Blättern soviel Vergnügen gegeben als Sie ihm mit Ihren 2 kleinen gaben: so durften Sie schon so nachsichtig auf beiden kleinen gegen litterarische Blumenrabatten sein als hätten Sie selber sie besäet und begossen« (III 2, 164,21–24, Nr. 261; Textgrundlage: eigenhändige Abschrift und Druck), doch steigert er dafür den Einsatz an Affekt- (von »Vergnügen« zu »glücklich«) und Druckseiten-Äquivalenten (von 300 zu 400). Dies dürfte 257 258
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III 2, 176,11–16. Berend verweist im Kommentar auf eine Parallelstelle in Richters Werken, vgl. III 2, 449, Erläuterungen zu Nr. 282.
allerdings kaum auf eine Bevorzugung der einen Korrespondentin gegenüber der anderen hinweisen – weder der einen noch der anderen ist Richter bis zu diesem Zeitpunkt begegnet – sondern einer inneren Dramaturgie folgen. Auf den empfindsamen Bescheidenheitstopos Frau von Kropffs antwortet Richter galant und doch seiner Liebesphilosophie des Enthusiasmus Rechnung tragend: [Ich werde H. Ahlefeldt immer mehr über Sie glauben als Ihnen selber:] ehe der Enthusiasmus grosse Schönheiten erdichtet, müssen sie schon dagewesen sei, um ihn zu erzeugen. Der Reiz einer schönen weiblichen Seele ist, da die Fassung so sehr als der Edelstein glänzt, almächtig. Sie wirft ihre Stralen durch eine schöne Hülle, die wie Vasen von Volterra Alabaster den Schimmer mildert, um ihn zu verschönern.259
Das Geschlechterverhältnis tritt hier wieder in seiner den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechenden Gestalt auf: Die weibliche Schönheit geht aller Phantasietätigkeit voraus. Darin liegt die ›Wahrheit‹ von Ahlefeldts Enthusiasmus. Von Sprachfehlern ist keine Rede mehr. Die Frage nach der Wahl der Liebessprache – im Gespräch und im Medium der Schrift – wird in der Folgezeit zwischen Wilhelmine von Kropff und Richter vor allem im Zusammenhang mit Ahlefeldt thematisiert: Welche Sprache soll sie wählen, um dessen Leidenschaft abzukühlen, ohne ihn dabei zu Grunde zu richten?260 Und welchen Beitrag kann Richter hierzu leisten?261 Gleichsam nebenbei stellt Richter die philologische Überlieferung der Dokumente von Ahlefeldts Liebe sicher. Auf Wilhelmines Bitte »Sie erhalten hier abermals einige seiner Blätter, die ich Sie beiläufig nach geschener Durchlesung zu v e r b r e n n e n bitte« (IV 2, 167,3–4; Textgrundlage: Originalhandschrift), antwortet er: »Sein Brief ist noch nicht in der Asche: es hätte mich zu sehr geschmerzt: ich erwarte jezt entweder die Wiederholung ihres Befehls oder die Dispensazion davon« und öffnet den Kreis der Eingeweihten zumindest prospektiv: »so lang ich lebe, sind alle Briefe bei mir so sicher als lägen sie noch in Ihrer Seele, und sterb’ ich, so sind sie in der Hand meines theuersten Freundes noch sicherer als in meiner.«262 Der Komparativ »sicherer« ist dabei angebrachter als Frau von Kropff geahnt haben mag, hat Richter doch längst auch Christian Otto, der hier gemeint ist, die vertraulichen Dokumente lesen lassen. Der Kern von Richters Zögern, die Offiziersgattin kennenzulernen, offenbart sich indes erst, als diese Begegnung unausweichlich bevorsteht. Je näher Richter diesem Moment kommt, desto länger wer259
260 261 262
III 2, 178,25–34; die Passage in eckigen Klammern ist in Richters Brief an Otto vom 23. April 1796 als Zitat überliefert, im Briefkopierbuch fehlt sie, vgl. III 2, 181,8–9, Nr. 295. Vgl. III 2, 181–183, Nr. 297 vom 24.4.1796. Vgl. IV 2, 166,14–167,3, Nr. 87 vom 26.4.1796, und III 2, 187,32–34, Nr. 304 vom 29.4.1796. III 2, 187,7–12, Nr. 304; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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den seine Sätze und desto ausführlicher seine Bezugnahme auf das Wetter, also auf einen Diskurs, mit dem er das Liebesgespräch mit Vorliebe verknüpft, um es gleichsam zu neutralisieren: Eiligst 96.
Hof 9. Mai abends um 7. Uhr
Immer ziehen über den Lebens-Mai meiner n e u e s t e n und t h e u e r s t e n Freundin die irdischen Gewitter so schnel und so leicht als das jezige über den 9ten wegflog! – Ihre Freundschaft, gnädige Frau, würde wo einen weniger grossen Enthusiasmus als ich für jede schöne und fehlende Seele habe, zwingen, alles zu vergessen, um sich einer einzigen Sache zu erinnern – das ist, ihres Wohlwollens. Eben gehen die Wolken stäter und das Barometer höher – und ich habe Hofnung, daß mir der Himmel gleich Ihnen die Erlaubnis giebt, Donnerstags in Bayreuth – wahrscheinlich im goldnen Adler, den ich gegen mein bisheriges Logis »die Sonne« vertauschte – und nachmittags um 5 Uhr bei dem schönen Herzen anzukommen, das meine Ehrfurcht gegen dasselbe mit jedem neuen Briefe zu wachsen zwang und das mir, wenn ich erscheine, folgendes zu verzeihen hat – meine durch meine Verhältnisse und durch meine Anstrengungen hinter dem Schreibtische verrenkte und bejahrte Aussenseite, sogar meine anerzogne Aussprache.263
Die Scham über Defizite des mündlichen Sprachvermögens kommt zuallerletzt zur Sprache – und hat umso mehr Gewicht. Denn im Schämen sprechen auch jene Äußerungen mit, die er gar nicht an die Adressatin gerichtet hat, sondern an Dritte, namentlich an Christian Otto, den Adressaten von Richters Briefstilkritik: mit seiner Kritik der weiblichen Schreibweise hat er einen Sprachstandard zur Norm erhoben, den er im Mündlichen selbst nur eingeschränkt erfüllen kann.264 Von der schließlich stattfindenden Begegnung gibt es zwei Berichte Richters, einen an Christian Otto gerichteten, mit dem Richter den heimischen Dialekt teilt, und einen an Ahlefeldt gerichteten, der Wilhelmine von Kropffs berlinische »anerzogne Aussprache« teilt. Beide Briefe sind vom Pfingstsonntag, den 15. Mai 1796, derjenige an Otto wird am Pfingstmontag noch fortgesetzt. Im Brief an Ahlefeldt bedient sich Richter eines bereits aus Zeiten der intensiven Korrespondenz mit Renate Wirth bewährten Tricks: Richter fingiert einen Brief, den Ahlefeldt an ihn geschrieben haben soll, demzufolge der Berliner im Traum – und somit wieder im Medium der »Magie der Einbildungskraft« – die Bayreuther Begegnung zwischen Richter und Wilhelmine miterlebt: »Mir träumte, du wärest gestern nach Bayreuth gekommen. Du 263 264
208
III 2, 188,19–189,1, Nr. 308; Textgrundlage: Originalhandschrift. Er macht sich dabei als Scham-Subjekt eine neutrale Perspektive zueigen, die sein voriges Handeln in einem anderen Licht erscheinen lässt; die Perspektive der Zeugin Wilhelmine von Kropff wird dabei kontrafaktisch vorausgesetzt (vgl. Demmerling, Landweer, Philosophie der Gefühle, S. 230–231); die auf gegenseitig imaginierte Präsenz gegründete ›Simultanliebe‹ zeigt hier ihre Schattenseite, produziert dabei aber – asymmetrisch – keine Simultanscham.
schiktest sogleich den Frachtzettel deiner Ankunft an meine Klotilde; und sie dir ein Entreébillet. Dan trabtest du um 3 Uhr in ihr Haus, das grünende Schönheiten umgeben, wie es eine blühende bewohnet« (III 2, 190,26–29, Nr. 312, Textgrundlage: Originalhandschrift). Der fingierte Brief trägt dabei das Datum des realen, nur der Ort ist ersetzt: »BAYREUTH d. 15 Mai 96« lautet es in diesem Fall (III 2, 190,14, Nr. 312), »BERLIN d. 15 Mai 96« in jenem (III 2, 190,23). Die Pointe der Schilderung besteht im traumwandlerischen Schweigen, das den Geträumten (also Richter) umfängt, der vom »als Geist in der Luft« schwebenden Träumer (also Ahlefeldt) beobachtet wird. Die schriftliche Kommunikation hingegen ist unbeeinträchtigt. Wilhelmine von Kropffs Stimme (»mit der holden Stimme, womit nur das Herz spricht und das zweite bezwingt«, III 2, 191,2–3) und Habitus (ihr »Anstand und Ton, den nur die Welt giebt«, III 2, 1913) werden sodann ausführlich charakterisiert; dem Geträumten aber ist »Recht elend […] zu Muthe«, so dass er »über das Ansehen das Anreden« vergisst und sich »von einer Stunde zur andern zwingen [muss]«, »nicht zu stum« zu sein (III 2, 191,7–9). Dass Richter bei all dem in dem Ahlefeldt zugeschriebenen Brief seine »Höfer Orthographie«, namentlich den Verzicht auf Doppelkonsonanten, beibehält, macht die strikte Trennung deutlich, die er zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit zieht. Schwerlich hätte er sonst in diesem Dokument der mündlichen Sprachscham das schriftliche Analogon dessen, wofür er sich schämt, zugelassen. Otto gegenüber beschreibt Richter die Begebenheit im Klartext und im eigenen Namen: Sonabends früh war nach meiner Ankunft mein erster Grif nach einer Feder, um mich auf 5 Uhr selber vorzuladen. Sie sandte mir sogleich durch den Bedienten ein Billet, worin sie meinen Stundenzeiger um 2 Stunden zurückdrehte: »wir wollen alle beide um 3 Uhr durch die Eremitage fahren.« Ich trabte dann ins untere Stokwerk des Reizenst[einischen] Hauses und trat durch zwei schöne Zimmer ins dritte, wo sie neben 2 Nachtigallen und neben dem halb verhangnen und überblümten Fenster sas. Ich sage dir, könt’ ich sie schildern, so hättest du einen ganz neuen weiblichen Karakter im Kopf oder gar im Herzen. Sie hat eine majestätische Länge – meine fast – 27 Jahre – eine weder gebogne noch gerade sondern wellenhafte Nase – einen halb übers Gesicht zergangenen Wiederschein der Morgenröthe und nichts als Schönheiten auf dem Gesicht, dem blos ein wenig das weibliche Oval abgeht – die schönste veredelte Berliner Aussprache […].265
Dass die Bedeutung des Dialektes* hier eine vielfach codierte ist, folgt nicht nur aus Richters im Vorfeld geäußerter Sprachscham. Sie ist tief verwurzelt in und verwoben mit den geographischen, kultur- und machtpolitischen Rahmenbedingungen der Korrespondenz* – ebenso wie die Tatsache, dass Richter in seinem Billet vom 18. Mai 1796 Wilhelmine von Kropffs Sprachvermögen mit dem Charlotte von Kalbs vergleicht, vor dem Hintergrund einer 265
III 2, 193,17–31.
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Konkurrenz der beiden großen, ihn magnetischen anziehenden Kulturzentren Weimar und Berlin zu sehen ist. In die Sphäre des politischen Zentrums Berlin ist Richter zu diesem Zeitpunkt erst vor kurzem getreten: Ende 1791 hat Markgraf Christian Friedrich Carl Alexander abdankt, wodurch die ehemaligen Fürstentümer Ansbach und Bayreuth an Preußen gefallen sind. Berlin wird damit zur Regierungsstadt des Ansbach-Bayreuthischen Landeskindes Richter (dieser Vorgang ist auch die historische Voraussetzung für die Versetzung des Majors von Kropff nach Bayreuth). Die Provinz wird nun vom leitenden Minister Karl August von Hardenberg regiert und gegen heftige Widerstände (vor allem aus den Reihen der fränkischen Reichsritterschaft) modernisiert. In Ahlefeldts Briefen an Frau von Kropff spielt Hardenberg eine wichtige Rolle als Hoffnungsträger, von dem er seine Versetzung nach Franken zu erlangen hofft.266 Doch schon lange vor dieser Neuordnung im Feld der Macht ist für Richter die preußische »Fraktur-, Regal- und Imperialstadt« (III 2, 15,12–13) zu einem Fixpunkt im literarischen Feld geworden. Nicht nur sind die Bände von Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutschen Bibliothek, die er sich aus den Regalen seines Mentors, des Pfarrers Erhard Friedrich Vogel, entliehen hat, bereits in der Schulzeit zum Kurriculum seiner universalistisch ausgerichteten Weltaneignung geworden. In Berlin ist 1783 auch beim renommierten Verleger Christian Friedrich Voß sein erstes Buch erschienen. Und nach Berlin hat er ein Jahrzehnt später auch seinen Romanerstling Die unsichtbare Loge (1793) geschickt, und zwar an den verehrten Dichter Karl Philipp Moritz, der das Werk mit grenzenlosem Erstaunen und leidenschaftlicher Bewunderung gelesen und an seinen Schwager, den Verlagsbuchhändler und Lotterieeinnehmer Matzdorff, vermittelt hat.267 Auf das Publikum ist indes der Funke der Begeisterung zumindest nicht unmittelbar übergesprungen, so dass Matzdorff, als er sich zum Verlag des Nachfolgewerks Hesperus entschieden hat, keineswegs hat wissen können, dass er damit den meistgelesenen deutschsprachigen Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Druck befördert. Matzdorffs Hausautor August Heinrich Lafontaine (1758–1831), dessen Novellensammlung Die Gewalt der Liebe (4 Tle, 1791–94) bis dahin der Erfolgstitel im Verlagsprogramm gewesen ist, wird gleichsam über Nacht in die zweite Reihe verwiesen.268 266 267 268
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Vgl. z.B. Ahlefeldts Brief an Wilhelmine von Kropff vom 21.–27. Februar 1796, Briefteil vom 22.2.1796; H: BJK, Berlin A. Vgl. IV 1, Nr. 136, 137, 138 und Erläuterungen. Vgl. Dirk Sangmeister, August Lafontaine oder Die Vergänglichkeit des Erfolges: Leben und Werk eines Bestsellerautors der Spätaufklärung, Tübingen 1998, sowie: August Lafontaine (1758–1831), ein Erfolgsautor zwischen Spätaufklärung und Romantik, hg. von Cord-Friedrich Berghahn und Dirk Sangmeister, Bielefeld 2010. Zum Aspekt der Liebeskommunikation vgl. darin den Aufsatz von Andrea Hübener, Co-
Auch der Wunsch, Berlin zu besuchen, reicht bis in die Anfangszeit der Richter’schen Versuche zurück, sich als Schriftsteller zu etablieren; eine Realisierung dieses Planes hat er jedoch immer wieder zurückstellen müssen, zuletzt im Sommer 1794, als er das Hesperus-Manuskript eigenhändig »als Protektor und Schirmvogt« nach Berlin bringen wollte, um die »Bedingungen des Verlags« direkt mit dem Verleger auszuhandeln und um vor Ort »alles mündlich und friedlich ab[zumachen], ohne einen Tropfen Dinte zu vergiessen« (III 2, 15,8–14). Das (sicherlich utopische) pazifizierende Modell der Provinz, die unmittelbare, persönliche Gegenwart, wird dabei zur Strategie im Stellungskrieg des literarischen Feldes.269 Damit wird das ökonomisch bereits überlebte Modell des Tauschbuchhandels in literarischer Idealisierung weiter tradiert. Aber auch ohne die persönliche Anwesenheit Richters wird Berlin nach dem Erscheinen des Hesperus in kurzer Zeit zum Epizentrum des sich rasant ausbreitenden Jean-Paul-Enthusiasmus. Begünstigt wird dies durch Voraussetzungen im politischen und wirtschaftlichen Umfeld. Politisch gewährt bekanntlich der Separatfrieden von Basel (1795) Preußen eine Frist, in der die sich überschneidenden Diskurse der Spätaufklärung, der Empfindsamkeit und der Autonomieästhetik ihrerseits Spielräume der Autonomisierung gewähren können.270 Wirtschaftlich korrespondiert dem ein fruchtbares Zusammenspiel von bewährten und innovativen Praktiken im Verlagssektor: die Entfaltung neuartiger Produktions- und Distributionsformen kann auf das von den Berliner Aufklärern etablierte Zusammenspiel von Autoren, Verlegern, Kritikern und Lesern und auf Erträge der friederizianischen Wirtschaftspolitik zurückgreifen.271 Matzdorffs erfolgreiche Strategie einer Kombination von Lotterie- und Verlagsgeschäft ist hierfür ein Beispiel.272
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dierung von Liebe und Intimität in Lafontaines Klara du Plessis und Klairant, S. 183– 201. Das leibhaftige Auftreten des Autors samt Manuskript vor dem Verleger ist eine der frühen Effekt-Ideen Richters aus der Satiren-Zeit (man findet sie übrigens auch bei Lichtenberg), die er später – zum Beispiel in den Flegeljahren – literarisch fortschriebt, vgl. hierzu Jörg Paulus, Jean Paul: Flegeljahre. In: Weltliteratur II, S. 209–228. Vgl. hierzu Berghahn, Das Wagnis der Autonomie. Gemessen an der Anziehungskraft dieses Ortes ist die Rolle Berlins für Richter in der Forschung entschieden vernachlässigt worden; vgl. Jörg Paulus, Jean Pauls Berliner Universum. In FAZ, Berliner Seiten, 19.2.2001, B1; Helmut Pfotenhauer, Vergesellschaftungseffekte. Moritz in der Akademie, Jean Paul im Salon, zwei Beispiele für Berlin als ästhetisch-literarischer Katalysator. In: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 10, 2006, S. 255–271. Vgl. Lexikon des gesamten Buchwesens (Neuausgabe), Bd. 1, Stuttgart 1987, S. 307. Zur Verlagsgeschichte vgl. Harry Matzdorff, Die alte Stechbahn und ihre Bewohner. Aus Familienpapieren. In: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins 53, 1936, S. 114–122. Vgl. weiterhin: Georg Wilhelm Meister, Jean Paul und sein Verleger Carl August Matzdorff. In: Hesperus 27, 1964, S. 30–38.
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Die zahlreichen Bindungen, durch die Wilhelmine von Kropffs Leben auf diese für Richter so bedeutsame wie – zu dieser Zeit – unerreichbare kulturelle Topographie bezogen bleibt, tauchen in ihren Briefen an den Dichter so gut wie gar nicht auf. Einzig gelegentliche Anspielungen auf noch nicht verheilte seelische Verwundungen lassen den Hauptstadt-Hintergrund schemenhaft aufscheinen.273 Erst aus den Briefen Ahlefeldts an sie lässt sich diese Dimension erschließen – und erst vor diesem Hintergrund kann auch der amouröse Faktor, den Richter in ihrem Leben ausmacht, näherungsweise bestimmt werden. Allerdings sind ihre Briefe an Ahlefeldt nicht überliefert. Da Ahlefeldt aber jedes von ihr eingehende Lebenszeichen ekstatisch begrüßt, sind für den Zeitraum zwischen Januar und Juni 1796 – dies der Zeitraum der überlieferten Briefe Ahlefeldts an sie – auch ihre Briefe und damit der gesamte Rhythmus der Korrespondenz* erschließbar. 23 überlieferten Briefen Ahlefeldts stehen dabei 17 erschließbare Schreiben Frau von Kropffs gegenüber. Fast alle Briefe Ahlefeldts werden am Samstagabend zur Post gegeben, diejenigen Frau von Kropffs treffen in der Mehrzahl freitags oder samstags bei ihm ein, der Postlauf ist zumeist eine Woche. Zunächst erhält sie seine Briefe noch nicht, noch Anfang Februar fragt sie ihn in ihrem ersten erschließbaren Brief, warum er gar nicht schreibe,274 kurz darauf aber sendet sie ihm, seinem Flehen nachkommend, ihr Portrait.275 Damit hat der Briefwechsel seinen Rhythmus gefunden. Dieser Rhythmus zwingt Ahlefeldt dazu, in seinen Sonn- und Werktagsabschnitten aus seinem alltäglichen Leben zu berichten, samstags muss er dann in aller Eile den Brief Wilhelmines beantworten, bevor er seinen eigenen auf die Post gibt. Natürlich lässt sich von Ahlefeldts Antworten aus nur auf einen Ausschnitt aus den Briefen Wilhelmine von Kropffs schließen – eben auf jene Teile, durch die er sich angesprochen fühlt (entweder emotional oder durch Nachdruck von ihrer Seite). Diesen verallgemeinerbaren Vorbehalt gegenüber dem Verfahren der philologischen Erschließung von nicht überlieferten Korrespondenzteilen vorausgesetzt, lässt sich konstatieren, dass selbst in den Mitteilungen, in denen »Jean Paul« noch die größte Rolle gespielt zu haben scheint, seiner Person doch nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommt. Das Erkenntnisinteresse im vorliegenden Zusammenhang dieser Arbeit bezieht sich nun auf die Frage, in wiefern aus der Verschiebung von Wahrnehmunghorizonten* auf Veränderungen in der Wahl der Liebessprache geschlossen werden kann. Hierfür sind in der Korrespondenz Ahle273 274 275
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Vgl. z.B. ihren Brief vom 14. August 1796 an Richter, IV 2, 223,30–224,2, Nr. 131 und die dazugehörige Erläuterung, IV 2, 720. Vgl. Hans Georg von Ahlefeldts Brief an sie vom 7. bis 13. Februar 1796, Briefteil vom 9.2.; H: BJK, Berlin A. Vgl. ebd., Briefteil vom 13.2., »Nachmittags 4 Uhr«; H: BJK, Berlin A.
feldt/Kropff drei Zeitabschnitte zu unterscheiden: Der Versuch, Richter in die Kommunikation zwischen Verehrer und Umworbener einzubeziehen, wird bereits mit Ahlefeldts erstem Brief (vom 15.–23.1.1796) ins Werk gesetzt, den Frau von Kropff, als sie ihren ersten an Ahlefeldt schreibt, jedoch noch nicht erhalten hat. Richter befindet sich dabei für sie, obgleich nur wenige Stunden Fußweg entfernt lebend, noch weit hinter dem epistolaren Horizont. Die Relevanz Richters für die Korrespondenz beginnt erst, als auch Frau von Kropff zur Kenntnis nimmt, dass ihre Adresse nun in Richters Händen ist. Dieser Stand ist erst in einem Brief von ihr vom 13. Februar erreicht, auf dessen Erhalt Ahlefeldt am 20. des Monats reagiert. Im sich anschließenden ersten Abschnitt muss vorausgesetzt werden, dass Frau von Kropff eine Kontaktaufnahme Richters erwartet, die indes nicht eintrifft. Auch ihr Initialbrief vom 5. April ist noch diesem Abschnitt zuzurechnen, da in ihm ja noch keine wechselseitige sprachliche Beeinflussung* auf der Ebene des Briefverkehrs umgesetzt sein kann. Der zweite Abschnitt beginnt somit erst zu dem Zeitpunkt, als Frau von Kropff Richters Antwort vom 16. April in Händen hat. Der erste erschlossene Brief in der Korrespondenz Kropff/Ahlefeldt, für den dies vorausgesetzt werden kann, stammt – Ahlefeldts Vermerk im Antwortbrief zufolge – vom 23. April.276 Der Beginn des dritten Abschnitts schließlich ist mit dem Tag der Erstbegegnung am 14. Mai anzusetzen. Diese Begegnung findet erstmals in einem kurzen Brief Erwähnung, dessen Empfang Ahlefeldt am Dienstag, den 24. Mai meldet.277 Der erste Brief des ersten Abschnitts stammt, wie erwähnt, vom 13. Februar. Frau von Kropff hat nun erfahren, dass Richter von Ahlefeldt aufgefordert ist, sie zu besuchen. Dass er dies nicht tun wird, ohne zuvor schriftlich anzufragen, ist selbstverständlich. Die Freiheit, die Ahlefeldt sich nehmen konnte, als er unangemeldet bei Richter vorgesprochen hat, steht ihm, Richter, in dieser Konstellation nicht an. Was lässt sich aus Ahlefeldts Antwort über die Reaktion Wilhelmine von Kropffs erschließen? Zunächst einmal auffallend wenig. Erst wenn man die Verschiebungen und Verschachtelungen in den privaten Liebesökonomien erschließt, werden die Zusammenhänge deutlicher. Der diesbezügliche Teil von Ahlefeldts Briefes umfasst acht Seiten. Zu Beginn rechtfertigt er sich dafür, dass er – angeblich versehentlich – einen der Briefe Winterfeldts, die er sonst an Frau von Kropff weiterschickte, verbrannt habe. Ob diese Äußerungen auf einen Vorwurf ihrerseits reagieren, lässt sich nicht sicher sagen. Dass aber im Brief Wilhelmines primär der von ihr geliebte 276 277
Vgl. Ahlefeldts Brief vom 24.–30. April 1796, Briefteil vom 29.4., »NachMittag 6 Uhr«; H: BJK, Berlin A. Vgl. Ahlefeldts Brief vom 22.–27 Mai 1796, Briefteil vom 24.5., H: BJK, Berlin A.
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Winterfeldt thematisiert wurde, geht aus einer daran anschließenden Äußerung Ahlefeldts hervor: Noch bis jetzt ist W[interfeldt] nicht bei mir gewesen, hat auch auf mein letztes Billet nicht geantwortet – Du meinst, mein gutes, liebenswürdiges Wesen, in meiner Stelle giengst Du gerade zu ihm – ich glaube aber Du thätest es just nicht wenn Du in meinem Platz stündest, denn so würdest Du genau wissen, wie ganz bestimmt seine Erklärung war ihn nicht zu besuchen.278
Indem Ahlefeldt auf die Differenz der Wahrnehmungshorizonte* abhebt, gerät er in den Sog unauflöslicher Missverständnisse*. Frau von Kropffs Interesse ist ja Eigeninteresse. Ahlefeldts Gründe verfehlen all die wesentlichen, von ihr nicht ausgesprochenen Intentionen; ihre im Brief offenbar mitgeteilten Vorwände, mit denen er bei Winterfeldt vorsprechen könnte – eine Hunde- und eine Heirats-Angelegenheit – will er »auf eine bequemere Gelegenheit versparen«.279 Als Zugeständnis schreibt er jedoch: »Eins will ich noch versuchen, Dir zu Liebe, ich will an Frau v W. schreiben, oder an ihn schreiben und in diesem Brief an ihn, ihn selber bitten seiner Frau in meinem Nahmen die Hand zur Versöhnung zu bieten«.280 Dieser schriftliche Akt dürfte aber kaum Frau von Kropffs Absicht entsprochen haben, da sie allenfalls hoffen kann, dass sich die festgefahrene Situation durch die Macht der stellvertretenden Präsenz im Mündlichen zu ihren Gunsten wenden könnte. »Dir zu Liebe« wäre also eher ihr zum Trotz. Ob hinter dem Disput bereits die ähnlich gelagerte Problematik der Kontaktaufnahme zu Richter lauert – beide Männer zaudern ja, die Schritte, die ihnen nahegelegt worden sind, auch zu tun –, muss bezweifelt werden. Umgekehrt scheint das Argument plausibler: Wenn Wilhelmine von Kropff einige Wochen später ihren Initialbrief an Richter mit den Worten beginnen lässt: »Währe ich ein Mann so würde ich Ihnen schreiben …«,281 dann verarbeitet sie zugleich eine Situation, in die sie sich in der Korrespondenz mit Ahlefeldt und im Zusammenhang mit ihrer Liebe zu Winterfeldt hineingedacht hat. Richter wird im Rahmen einer Verschiebung im Verhältnis von Realem und Imaginärem* zum Statthalter Winterfeldts. Der nächste zu erschließende Punkt in Wilhelmine von Kropffs Brief betrifft finanzielle Transaktionen, die Ahlefeldt für sie in Berlin zu erledigen hat. Diese werden in allen Briefen Ahlefeldts ausführlich thematisiert. Erst nachdem dies abgehandelt ist, tritt schließlich auch »Jean Paul« in Erscheinung. Aus Ahlefeldts Äußerungen geht hervor, dass Wilhelmine von Kropff angefragt hat, ob er etwas von Richter gehört habe. Er unterbricht sich im Ant278 279 280 281
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Ahlefeldt an Wilhelmine von Kropff, Berlin, 14.–20.2.1796, Briefteil vom 20. 2. H: BJK, Berlin A. Ebd. Ebd. IV 2, 163,9.
worten aber zunächst selbst, um auf eine »Fete« an ihrem Geburtstag zu sprechen zu kommen, an der nicht teilgenommen zu haben er bedauert. Weiterhin scheint ihr Brief Mitteilungen über einen in Bayreuth eingetretenen Todesfall enthalten zu haben sowie die Ankündigung, (Alexander von) Humboldt – er ist zu dieser Zeit Oberbergmeister in Ansbach-Bayreuth – werde bald nach Berlin kommen, woraus sich eine Gelegenheit ergeben könnte, um Ahlefeldts Versetzung nach Bayreuth zu bitten. Dann erst kommt Ahlefeldt nochmals auf Richter zu sprechen und zählt – offenbar eine Nachfrage ihrerseits beantwortend – alle Werke Jean Pauls auf, die er gelesen hat, beginnend mit dem Hesperus und insbesondere den Quintus Fixlein hervorhebend, den er bei ihr gelesen hat. Wenn die Reihenfolge der Antworten Ahlefeldts derjenigen von Wilhelmine von Kropffs Fragen entspricht, so endete ihr Schreiben mit Fragen zum Berliner Gesellschaftsleben und der Nachfrage, ob möglicherweise Briefe verloren gegangen sein könnten. Wilhelmine von Kropffs Antwortbrief ist auf den 23. April 1796 datiert. Mit ihm wird der epistoläre Drei-Personen-Zirkel (nach Richters vorausgehender Antwort vom 16. April auf ihren Initialbrief) geschlossen: Jeder hat nun an jeden einmal geschrieben. Das ändert aber nichts daran, dass zwischen Ahlefeldt und Wilhelmine von Kropff das bereits etablierte Schriftregime fortbesteht. Der Reihenfolge von Ahlefeldts Antworten zufolge werden in ihrem Brief folgende Punkte angesprochen: Sie versichert dem Verehrer, dass sie guter Gesundheit ist und bestätigt das Eintreffen seiner vorausgehenden Postsendung. Sie verspricht ihm, eine Nachricht über Winterfeldt mitzuteilen, was Ahlefeldt einigermaßen missvergnügt als Beweis ihres »unvergänglichen Vertrauens« zur Kenntnis nimmt, verbunden mit dem leichten Vorwurf, sie hätte doch wenigstens summarisch die Mitteilung vorwegnehmen können. Erneut bleibt die Rolle, die Richter spielt, gegenüber der Winterfeldt-Affäre unscheinbar. Ahlefeldt, der dies zu ändern versucht, schreibt in Bezug auf Wilhelmines Mitteilungen: »J.P. Brief hat mich königlich ergötzt, und ich bin auf eure nähere Bekanntschaft eben so begierig als Du selbst; wollte Gott daß ich dabei sein könnte; das sollte ein TRIO werden wie es MOZART nie hervorgebracht hat.«282 Der anschließende Satz Ahlefeldts – »Du forderst meine Schlußrechnung […]« – bezieht sich, wörtlich genommen, erneut auf die erwähnten ökonomischen Transaktionen, ist aber doch in seiner finalen Schroffheit auffällig. Der Grund dafür ist wohl die Tatsache, dass Wilhelmine von Kropff Ahlefeldt im Brief, den er zuvor von ihr erhalten hat, noch einmal deutlich gemacht hat, dass seine Gefühle für sie »nie erwiedert werden kön-
282
Ahlefeldt an Wilhelmine von Kropff, Berlin, 24.–30.4.1796, Briefteil vom 29.4. H: BJK, Berlin A.
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nen«, dass er nur auf Freundschaft, nie auf Liebe werde Anspruch erheben können.283 Die Beiläufigkeit, mit der Wilhelmine dem von Ahlefeldt forcierten Zusammenschluss mit Richter zunächst begegnet, scheint indes in der dritten Phase, nachdem sie Richter am 14. Mai gesprochen hat, umzuschlagen, aber nicht, wie Ahlefeldt erwartet haben mag, in epistoläre Gesprächigkeit, sondern in Verschwiegenheit. Am 24. Mai schreibt er an sie: »Dein Blättchen, meine Theuerste hätt ich gern um eine Elle verlängert gesehen, gern Dein ausführliches Urtheil über ihn gehört«;284 auch hebt er demgegenüber die Pracht von Richters Briefen hervor, namentlich desjenigen, in dem dieser die Erstbegegnung als Traumphantasie beschreibt. Ihm selbst bleibt nur, sich im Sprachspiel der Wette einzuschalten – »ich wette Du hast alle seine idealischen Klotilden in den Schatten gestellt« – und erneut das ihr unterstellte Fühlvermögen (welches in Sprachvermögen umzusetzen sie ihm in diesem Zusammenhang verweigert) einzuklagen: »wüßte ich nicht daß Du recht deutlich und besser als ichs Dir sagen kann, fühlst wie mir ist dann würde ich noch lange Bogen über diesen Gegenstand schreiben.«285 Absatzlos, getrennt nur durch einen Bindestrich, geht er dann wieder zum Thema Finanzen über. Und auch ein Brief, den er drei Tage später erhält, kann ihn nicht schadlos halten: »die Gesellschaft, die Dich so oft in Deinem Briefe unterbrochen hat meine völlige Ungnade, Du hättest mir vielleicht sonst mehr und ausführlicher über J.P. geschrieben.«286 Mehr wird er aber auch später nicht von ihr erfahren. Was Richter betrifft, besteht ihre Wahl der Liebessprache darin, gegenüber Ahlefeldt zu schweigen. Die Kommunikationsform, die zwischen Ahlefeldt und Frau von Kropff etabliert ist, steht der in und um Hof etablierten des Jean-Paul-Kreises denkbar fern, auch wenn viele ihrer Rituale sich gleichen (zum Beispiel das Weiterreichen von Dokumenten, die Beilage von Liebeszeichen, ja sogar die Idee der Simultanität). Der Unterschied liegt wohl im unterschiedlichen Wert, der auf Verbindlichkeit gelegt wird. In dieser Hinsicht unterscheiden sich denn auch die jeweiligen Strategien des Zauderns (Richters Zaudern, Frau von Kropff aufzusuchen, Ahlefeldts Zaudern, sich direkt an Winterfeldt zu wenden) voneinander: bei Ahlefeldt verläuft das Ganze schließlich im Sande, während Richter dann doch zuletzt den Wunsch Ahlefeldts erfüllt. Der Abstand lässt sich auch ermessen an dem Widerwillen, mit dem sich Richter einer Bitte Wilhelmine von Kropffs gleichwohl fügt, sein Sprachvermögen in 283 284 285 286
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Vgl. Ahlefeldts Brief an Wilhelmine von Kropff vom 17.–23. April 1796, Briefteile vom 20.–21.4., H: BJK, Berlin A. Ahlefeldt an Wilhelmine von Kropff, Berlin, 22.–27.5.1796, Briefteil vom 24.5. H: BJK, Berlin A. Ebd. Ebd., Briefteil vom 27.5.1796.
den Dienst der Gesellschafts-Konversation zu stellen, die doch sonst in allen seinen Schriften nachgerade Anathema ist.287 Vorgetragen hat sie diese Bitte in einem Brief vom 20. Mai 1796: »Abends 11 Uhr« schreibt sie an ihn: »Werden Sie mir verzeihen mein Theurer Freund, wenn ich gegen Ihren Raht, und mein Versprechen (das ich jedoch nur bedingungsweise that) sündige, und einen Theil dieser m i t t e r n ä c h t l i c h e n Stunde mit Ihnen verplaudere« (IV 2, 176,27–31, Nr. 94; Textgrundlage: Originalhandschrift). Dass sie dabei die nächtlichen Schreibaktionen Ahlefeldts nachahmt, verschweigt sie dabei. Auch die Art und Weise, wie sie unmittelbar auf Richters am Abend erhaltenen Brief reagiert, zeigt den Einfluss des Berliner Verehrers, dessen Strategie, Erfahrungen simultan und protokollarisch festzuhalten. Nach einigem Gesellschaftsgeplauder beendet sie den Brief mit der Bitte, Richter möge für sie ein beigelegtes Sprachspiel ausführen, das im Ganzen »ein zärtliches s c h ö n e s MOTTO für einen G e l i e b t e n – Freund« ergeben soll. Zumindest im Gesellschaftsspiel wird Richter damit das zugestanden, was Ahlefeldt ausdrücklich verwehrt bleibt: die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe offen zu halten. Richter spielt – mit professionellem Vorbehalt gegenüber einer solchen spielerischen Wahl der Liebessprache* – das Spiel mit: Hier beste Freundin, haben Sie die Nelkenabsenker meiner armen Phantasie: ich wolte durch die Menge den Werth ersetzen. Ich bin zu nichts in der Welt ungeschikter – das Tanzen ausgenommen – als zu solchen schönen Spielen: ich besorge, meine Einfälle sind noch dümmer als ich selber. Sie haben aber einen so langen und schönen Szepter über mich ausgestrekt, daß ich für Sie nicht blos die rühmlichsten Handlungen begehen könte, sondern auch die sonderbarsten.288
Als Kontrapunkt zu diesem Zugeständnis bei der Wahl der Liebessprache fügt er dann eine Art Bekenntnis in den Brief ein, mit dem er Wilhelmines Anfrage im beantworteten Brief, wohin sie ihm denn bei seiner bevorstehenden Weimarreise schreiben solle, beantwortet: »Ich gehe nach WEIMAR den 30ten Mai abends. Sie sezen blos meinen Namen und die Worte auf den Brief: abzugeben bei Fr. VON KALB gebohrne V. MARSCHALK. Ich hoffe Ihnen noch einmal zu schreiben« (III 2, 198,10–13). Zwar erfüllt er sich selbst diese Hoffnung, da sich seine Abreise wetterbedingt verzögert. Für Weimar selbst aber schafft er sich einen Freiraum: »Da ich in Weimar beinahe nur Zeit zu zwei Dingen habe, zum Ankommen und Abgehen: so werden Sie wohl meinen ersten Brief wieder aus – d i e s e m Dintenfas erhalten« (III 2, 200,19–21, Nr. 324; Textgrundlage: Originalhandschrift). Dem kulturellen Dispositiv Weimar wird eine andere Tinte vorbehalten als demjenigen von Bayreuth – oder vielmehr: gar keine Tinte. Die Zeit, die Richter für Weimar veranschlagt, soll gelebte, nicht erschriebene Zeit werden. Der hier angekündigte Wechsel 287 288
Vgl. Kurt Wölfel, Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift. In: Jean Paul-Studien, S. 72–101. III 2, 197,35–198,5, Nr. 318; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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vom Schriftlichen zum Mündlichen* hängt eng mit der eigenständigen Vorgeschichte der Beziehung zu Charlotte von Kalb zusammen, deren ausführliche Benennung in der Adressangabe für Wilhelmine von Kropff (mit dem Zusatz des Geburtsnamens) wohl auch die Empfängerin überrascht haben dürfte. Der Briefkontakt zwischen Richter und C h a r l o t t e Sophie Juliane von Kalb geb. Freiin Marschalk von Ostheim (1761–1843), der vormaligen Vertrauten Friedrich Schillers,289 wird am 29. Februar 1796 von ihr initiiert. Ihr Brief thematisiert in zwei Stufen Schreibanlässe*. Auf das Datum »Weimar, den 29. Febr. 96« folgt ohne Grußformel die Bezugnahme auf Zeit und Ort: »In den letzten Monaten wurden hier Ihre Schriften bekannt; sie erregten Aufmerksamkeit, und vielen waren sie eine sehr willkommene Erscheinung« (IV 2, 147,4–7, Nr. 74, Textgrundlage: Druck unter Einbeziehung von Kollationen Eduard Berends).290 Nicht die Person, das schreibende Individuum als Individuum, tritt in Erscheinung, das Individuum inszeniert sich vielmehr als Medium des genius loci. Erst danach erfolgt die individuelle Bezugnahme, wird die persönliche Erfahrung kommuniziert: Mir gaben sie die angenehmsten Unterhaltung, und die schönsten Stunden in dieser Vergangenheit verdanke ich dieser Lektüre, bei der ich gerne verweilte, und in diesem Gedankentraume schwanden die Bildungen Ihrer Phantasie gleich lieblichen Phantomen aus dem Geisterreiche meiner Seele vorüber.291
In der Mitteilung des individuellen Eindrucks wird signifikant der imaginäre Anteil herausgestellt: Traum, Phantasie, Phantome, Geisterreich sind die Schlagworte, durch die der individuelle Erfahrungshorizont bezeichnet wird. Das Wort »Erscheinung«, in dem die kollektive Erfahrung am Symbolort Weimar zusammengefasst wird, ist hingegen ambivalent: im Sinne von ›Phänomen‹ hat es Teil an den imaginären, im Sinne von ›Publikation‹ (von Druckschriften) aber auch Teil an den realen Weltverhältnissen. Im neutralen Begriff der »Aufmerksamkeit« wird vorab von Charlotte von Kalb bereits die Summe aus realen und imaginären Rezeptionsmomenten gezogen. Der Übergang von der einerseits kollektiven und andererseits individuellen Erfahrung zum prätendierten unmittelbaren Schreibanlass wird erst im zweiten Absatz des Briefes vollzogen – und zwar über ein retrospektives 289
290 291
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Vgl. Johann Ludwig Klarmann, Geschichte der Familie von Kalb auf Kalbsrieth. Mit besonderer Rücksicht auf Charlotte von Kalb und ihre nächsten Angehörigen, Erlangen 1902; Ursula Naumann, Urania in Ketten. Jean Pauls »Titaniden« (mit einem Anhang: Fünf Briefe der Charlotte von Kalb). In: JbJPG 15, 1980, S. 82–130; Ursula Naumann, Charlotte von Kalb. Eine Lebensgeschichte (1761–1843), Stuttgart 1985; Erich Kleinschmidt, »Wie ein Aug im Gewölk«. Die vergessene Autorschaft Charlotte von Kalbs. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 46, 2002, S. 160–183; Bürger, Leben Schreiben, S. 17–32. Zur komplexen Überlieferungssituation vgl. IV 2, 612–613, Kommentar zu Nr. 74, Abschnitt Textgrundlage. IV 2, 147,7–12.
Zaudern: »oft ward ich durch den Reiz und Reichtum Ihrer Ideen so innigst beglückt, dankbar ergriff ich die Feder. Aber wie unbedeutend wäre dies einzelne Zeichen von einer unbekannten gewesen! Also untersagte ich mir, an Sie zu schreiben, […]« (IV 2, 147,13–16); erst hier, nach dem Komma, nimmt der Satz die entscheidende Wendung: »[…] bis in einer glücklichen Stunde ich Ihr Lob von Männern hörte, die sie längst kennen und verehren. Dann ward der Vorsatz von neuem in mir rege.« (IV 2, 147,16–19). Die Struktur der epistolären Bezugnahme aus dem ersten Absatz wird gespiegelt und spezifiziert: die Ordnung der Erfahrung (1. gemeinsame Erfahrung, 2. individuelle Erfahrung) wird nun, da es um den Schreibanlass geht, umgekehrt: aus (3.) individuellem Erfahrungsausdruck geht (4.) gemeinsamer Erfahrungsausdruck hervor. Das briefstellerische Ziel dieser hysteron-proteron-Konstruktion ist der performative Akt des Briefschreibens selbst: Im Tintenfluss fließen die imaginären und realen sowie die individuellen und kollektiven Erfahrungen zusammen. Der Grund für diesen rhetorischen Umweg ist offensichtlich ein geschlechterspezifischer: Die individuelle, weiblich bestimmte Erfahrung der imaginären Welt, die in Jean Pauls Schriften präsent gemacht wird, ist kein hinreichender Schreibanlass, die männlich bestimmte gemeinsame aber gibt dem Wunsch der Kontaktaufnahme einen festen Boden. Dies ist jedoch geographisch nicht verallgemeinerbar: Weimar ist nicht Posemuckel und der Boden ist einer, auf dem sich singulär »glückliche Stunden« ereignen können (wie jenes zum Zeitpunkt der Niederschrift des Briefes 1 1/2 Jahre zurückliegende berühmte Jenaer Gespräch zwischen Goethe und Schiller vom Juli 1794, das Goethe später in den Schriften zur Morphologie als »Glückliches Ereignis« beschrieben hat). Der Brief selbst erhält dadurch einen anderen Status: er wird zum Zeichen einer überindividuellen Anerkennung, die adelige Schreiberin zu Medium und Muse, der Adressat zu einem fränkischen Tasso: »Jetzo ist es nicht mehr die einsame Blume der Bewunderung, die ich Ihnen übersende, sondern der unverwelkliche Kranz, den Beifall und Achtung von Wieland und Herder Ihnen wand!« (IV 2, 147,19–22). Die nachfolgenden Teile des Briefes bewegen sich durchgängig auf dem emotional und briefkonventionell abgesicherten Fundament, das hiermit gelegt ist. Das sinnliche Begehren, das die Schriften Richters ganz offenkundig bei vielen Leserinnen auslöste, wird briefstellerisch virtuos sublimiert – konsequent bis hin zum letzten Vollverb des Briefes, das »veredeln« lautet. Dennoch wird die Neutralisierung des Begehrens nur bis zu einem bestimmten Grad zugelassen. Charlotte von Kalb zählt die Namen der Weimarer Bewunderer »Jean Pauls« auf: Herder, Wieland, Knebel, Einsiedel und Kalb. Dass es sich bei dem Zuletztgenannten indes um ihren Ehemann handelt, verschweigt sie. Damit bleibt im Unausgesprochenen ein Rest des unmittelbaren Begehrens erhalten: Die 1783 auf Schloss Dankenfeld geschlossene Ehe mit dem Major in französischen Diensten Heinrich von Kalb (1752– 1806) war zweifellos hauptsächlich eine Konventionsehe, aus der aber gleich219
wohl noch ein gutes halbes Jahr, bevor Frau von Kalb ihren ersten Brief an Jean Paul schreibt, ein fünftes und letztes Kind hervorgegangen ist (die am 12. Juni 1795 geborene Tochter Eleonore Susanne Amalie Henriette, die aber bereits am 3. Juli 1795 gestorben ist). Auch mit der Kontrasignatur formuliert Charlotte von Kalb am Ende des Briefes ein mehrdeutiges Zeichen (sofern der Druck sie korrekt wiedergibt): sie unterschreibt als »C h a r l o t t e v o n K a l b , geb. | M a r s c h a l k v o n O s t h e i m « und bekennt sich damit einerseits – konventionell unumgehbar – zum Ehestand, der jedoch durch den Zeilenwechsel relativiert wird, da der Geburtsname durch die Freistellung wiederum Eigenständigkeit erlangt, zumal er ja von der abgekürzten Bestimmung »geb.« abgetrennt wird (IV 2, 148,11–15). Die Autonomie der Liebe* wird auf diese Weise unauffällig aber entschieden proklamiert. Editorisch lassen sich viele der für eine solche, in Hinblick auf eine Philologie der Intimität spezifizierte Analyse relevanten Informationen in der Ersterläuterung zur Person Charlotte von Kalbs darstellen,292 aber sicher nicht alle. Die Signifikanz der Kontrasignatur zum Beispiel lässt sich wohl nur in einem spezifischen Kommentar philologisch repräsentieren, und zwar unter Berücksichtigung des philologischen Belegs, dass Richter selbst verunsichert auf diesen unkonventionellen Umgang mit dem Familien- und Geburtsnamen reagiert: er spricht gegenüber dem Vertrauten Otto zunächst nur anonymisierend vom »überraschenden Brief« (III 2, 164,17), dann vom »WEIMAR[ISCHEN] Brief« (III 2, 165,34), später dann, in Bezug auf ein weiteres Schreiben Charlotte von Kalbs, vom »Brief der OSTHEIM« (III 2, 176,4), von ihr selbst aber spricht er, bevor er sie kennenlernt als von der »geistige[n] ätherische[n] K a l b « (195,10; Textgrundlage in allen Fällen: Originalhandschrift). Insgesamt besteht die Gefahr, dass der Kommentar das rhetorische Oberflächenprofil verstärkt, also die Überhöhung der männlichen Instanzen, auf die sich Frau von Kalb beruft, und die Verschleierung des eigenen epistolären Interesses (gleichgültig, ob dieses bereits, lektüreinduziert, erotisch gefärbt ist oder nicht): Eine solche Überhöhung ergibt sich zum Beispiel, indem die von Frau von Kalb benannten Zeugen für die Beliebtheit des Schriftstellers Jean Paul in Weimar (Herder, Wieland etc.) sowie die signifikant ausgesparten Repräsentanten (Schiller und Goethe) mit Meinungsäußerungen zu Jean Paul, die von ihnen aus anderen Zusammenhängen überliefert sind, zu Wort kommen,293 während die Stellungnahme Frau von Kalbs, die sich im Brief hinter den großen Namen verbirgt, im Kommentar vollends verschwindet; eine Kommentierung mit Schwerpunkt auf der Liebesbriefkultur müsste demgegenüber gerade den verschleierten Schreibanlass des Briefes konturieren. Partiell kann dies bereits auf der Ebene der Text-Text-Bezüge 292 293
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Vgl. IV 2, 613–615, einleitende Erläuterung zu Nr. 74. Vgl. IV 2, 615–617, Erläuterungen zu S. 147,5–7 und zu S. 147,17–28.
geleistet werden: Denn Richters Antwortbrief setzt die Akzente nun tatsächlich so, wie es die implizite Lesart des Kalb-Briefes nahelegt beziehungsweise verlangt: die Schreibanlass-Akzidentialien werden wenn nicht ignoriert, so doch in den Hintergrund gedrängt. Nicht die männlichen Zeugen, sondern Frau von Kalbs individuelles Zeugnis und Bekenntnis stehen im Zentrum des (allerdings nur abschriftlich im Briefkopierbuch Richters überlieferten) Briefes. Dieser Antwortbrief wird außerdem flankiert von zwei kurzen Briefmitteilungen Richters an Christian Otto, die deutlich machen, dass Charlotte von Kalbs Brief sowie Richters Antwort im oberfränkischen Freundeskreis in Umlauf gebracht wurden. Am 8. März 1796 schreibt er an Otto: »Sei so gut und remittiere mir diesen überraschenden Brief ungefähr um 11 Uhr.« (III 2, 164,16–17); Otto vermerkt (vielleicht erst später) am Rand des Billetts: »Brief der Fr. v. Kalb in Weimar.« Nach elf Uhr, so darf man annehmen, formuliert Richter sein Antwortschreiben, das er am Folgetag an Otto sendet mit dem Kommentar: »Ob ich gleich dein Urtheil über den WEIM[arischen] Brief nicht weis: so schick’ ich dir doch meines, das du mir um 3 Uhr zurükgeben magst. Bedenke aber, daß der Brief an eine Frau ist.« (III 2, 165,34–36, Nr. 262) Die Rückspiegelung des Schreibanlasses wird also dezidiert geschlechterspezifisch modelliert. Tatsächlich geht Richter im Antwortbrief zunächst nicht auf die von Frau von Kalb benannten Multiplikatoren seines Ruhmes (Wieland, Herder etc.) ein. Er definiert das Briefgespräch von Anfang an als Zwiegespräch (denn die Einbindung in sein privates Briefnetzwerk verschweigt er, was später zu Verstimmungen im Briefverkehr mit Frau von Kalb führen wird). Die Nennung der einschlägigen Namen spiegelt sich allerdings indirekt in der Tatsache wider, dass Richter sich zu Beginn des Briefes objektivierend in der dritten Person auftreten lässt, also als ein Akteur unter Akteuren auf dem literarischen Feld. Der Satz wurde schon im Zusammenhang der KropffKorrespondenz zitiert: »Wenn Ihnen JEAN [Paul] mit seinen 300 Blättern soviel Vergnügen gegeben als Sie ihm mit Ihren 2 kleinen gaben: so durften Sie schon so nachsichtig auf beiden kleinen gegen litterarische Blumenrabatten sein als hätten Sie selber sie besäet und begossen.« (III 2, 164,21–24, Nr. 261) Erst der Folgesatz lässt das Ich des Briefschreibers zu Wort kommen – und auch dies noch immer von einem gleichsam externen Standpunkt aus: »Ich wünsche, daß Sie recht viele Personen loben, damit Sie recht viele fröhlich machen« (S. 164,24–26). Damit wird eine Verhältnisgleichung eröffnet, in der die rational-kritische Arbeit des Lobens mit der affektiven der Freude abgeglichen wird. Rationalität und Affekt werden sodann geschlechterspezifisch (um-)gewertet: Ein deutscher Autor hat nur Rezensenten, keine Rezensentinnen, nur Kunstrichter, selten eine Kunstrichterin, er kan daher wenig hoffen, ein anderes Geschlecht zu interessieren oder zu befriedigen als seines. Das Ihrige erhält von dem unsrigen so gar wenig, nicht einmal Bücher d. h. nicht einmal Träume. Und doch bedarf die weibliche Wirklichkeit das magische Mondlicht der Dichtkunst so sehr. Es solte ein besserer Autor sich hinsezen und so zu sich sagen: nun da ich die Weiber so gut kenne […] da
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ich besser als 100 andre sehe, daß dem weiblichen H e r z e n , das eben so gut dichterisch und idealisch ist als der K o p f , die Erde wenig mehr zu geben hat als Seufzer und Wünsche – da ihr Mai des Lebens, anstat daß unsrer so schön ist wie ein gallischer, so naskalt und bereift ist wie ein deutscher, besonders der heurige […]: was könte ich schöners thun als die Feder nehmen und ihnen […] Morgenträume und sanftere Seufzer geben als ihnen das Leben abzwingt. Und wenn ich nur einer einzigen über den regnerischen Morgen ihres Lebens einen Regenbogen ziehe – wenn ich nur einem Herzen, für das die Freundinnen zu u n m ä n l i c h , Freunde zu u n w e i b l i c h sind, den schönen so lang begehrten Engel der Liebe im Wolkenhimmel der Dichtkunst zeige […] so hab’ ich genug gelebt und geschrieben.294
Diese ins Bekenntnishafte sich steigernden Äußerungen sind sicherlich im Lichte der bereits zitierten Äußerung gegenüber Otto zu lesen und damit auch zu relativieren (»Bedenke aber, daß der Brief an eine Frau ist«) – aber sind nicht umgekehrt auch die Worte an Otto im Lichte der Tatsache zu relativieren, dass Richters Kommentar Teil eines Briefes an einen Mann ist? In der nachfolgenden Passage des Briefs an Frau von Kalb weicht Richter jedenfalls zunächst etwas zurück vom Bekenntnis-Terrain auf den Boden einer scheinbaren Objektivierung: »Unser selbstgesprächiger Autor kan sich damit entschuldigen, daß er nicht wuste, daß Sie ihm zuhören« (III 2, 165,17–18) Das ›subjektive‹ Selbstgespräch wird also der ›objektiven‹ Instanz »Autor« zugeschrieben, wird dabei aber, im Durchgang durch die objektivierende Instanz, in seiner subjektiven Intensität verstärkt. Dies erweist sich als rhetorische Introduktion zu einem mehr oder weniger konventionellen Gedanken der Briefkultur, dem Primat der Mündlichkeit:295 »Ich habe Mühe meinen Dank abzubrechen, da ich nicht weis, ob ich Ihnen f r ü h e r e Antworten geben darf als mündliche« (III 2, 165,18–20) Erst unter dem Vorbehalt einer dergestalt in Aussicht gestellten persönlichen Begegnung können nun auch die sekundären Zeugen aus Frau von Kalbs Brief ihre Rolle im Antwortbrief übernehmen. Anders als das Briefgespräch mit Frau von Kalb mit seinem erträumten Ausufern in mündliche Rede endet die imaginierte Begegnung mit den Weimarer Größen aber in Sprachlosigkeit: »Wenn ich die hohe Dreieinigkeit der drei [grössern] Weisen als je aus dem Orient zogen, hören und sehen werde: so werd ich kaum beides mehr können, sondern vor Liebe und Rührung verstummen« (III 2, 165,20–23). Der Mangel an Galanterie, der darin besteht, dass die empfindsamen Stichworte Liebe und Rührung – und das spekulative Verstummen – hier nicht auf die Begegnung mit der Empfängerin sondern auf das in der Phantasie vorweggenommene Zusammentreffen mit den Weimarer Größen bezogen wird (gemeint sind wohl Wieland, Herder und Goethe, vgl. auch III 2, 447, Erläuterungen), soll im folgenden Satz sogleich kompensiert werden: Die erhoffte Bekanntschaft mit Frau von Kalb wird nun zum Exempel von Richters idealistischer Poetik stilisiert, schriftstel294 295
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III 2, 164,26–165,16, Nr. 261. Siehe oben.
lerische Produktion und Lektüre (von Jean Pauls Roman Blumen- Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel296) sind zwei durch eine Art geisterhafter Fernwirkung verbundene Aspekte im Verweisungssystem des idealistischen »hohen Geistergesprächs«:297 Wolte der Himmel ich wüste die Tagszeit, wo Sie die Blumenstücke lesen: ich würde nicht arbeiten, sondern im Freien herumgehen und nach dem Fürstenthum Weimar sehen und Zeile vor Zeile nachlesen und halb recht froh, halb recht furchtsam sein. Das Schiksal ahme, wie die Dichter die Wirklichkeit in ihren Dichtungen verschönernd kopieren, umgekehrt in Ihrer jenen nach und verwandle jede rothe Rose des Lebens, wenn Sie sie weglegen, in die weise der Erinnerung, damit, wenn Sie nach vielen Jahren sich umwenden, ein grosser weiser Rosengarten hinter Ihnen blühe.298
In ihrem Antwortbrief vom 26. bis 28. März protokolliert Charlotte von Kalb, Richters Wunsch wörtlich nehmend, die Eindrücke ihrer Lektüre des ersten Siebenkäs-Bandes, den Richters ihr offenbar unabhängig von seinem Brief hat zukommen lassen. Der Brief wird damit zum Kommentar der Lektüre, die Lektüre zur Vorschule des Gesprächs. Der Brief beginnt medias in res: »Eben habe ich Ihre Blumenstücke erhalten« (IV 2, 159,12, Nr. 81; Textgrundlage: Druck und Abschrift). Damit läuft die Uhr für das von Richter gewünschte Experiment. Im nächsten Satz wird der innere Ausgangszustand der Leserin zu Beginn der Lektüre festgestellt: »Ich bin heute nicht ganz wohl, wie von einem dichten Nebel ist meine Seele umgeben, und doch wage ich es, die Feder zu nehmen und ohne Vorbereitung oder kalte Erwägung die ersten Einfälle und Eindrücke dieser Lektüre Ihnen mitzutheilen« (IV 2, 159,12–16). Der Brief wird damit aber – was Richter nicht ahnen kann – zur Fortsetzung eines anderen Briefgesprächs, das Frau von Kalb einen Tag zuvor geführt und damit für über einen Monat auch beendet hat. An diesem 25. März hat sie zwei kurze Briefe an Goethe geschrieben, in denen sie – im Zusammenhang mit Versuchen, sich selbst zu einer bei ihm gegebenen Gesellschaft ein- und dann gleich wieder auszuladen – ihre Verfassung als einen »Mittel Zustand zwischen Kranksein und Wohlsein« beschrieben und dies als Zeitphänomen gedeutet hat: »weniges ausgenommen so ist fast alles mäusetot: – Als da sind Liebe und Hass – Freude und Schmerz – Furcht und Hoffnung! – Und wir harren in Leichen Häusern auf Gots Bliz der uns erwecken werde […].«299 296 297
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Bd. 1: Berlin: Matzdorff 1796. Zu dieser geistesgeschichtlich ungeheuer wirkungsmächtigen Kommunikationsform vgl. Karl Otto Brogsitter, Das hohe Geistergespräch. Studien zur Geschichte der humanistischen Vorstellung von einer zeitlosen Gemeinschaft der großen Geister, Bonn 1958; den Versuch einer mediengeschichtlichen Einordnung der Kommunikationsform unternimmt Schneider, Liebe und Betrug, S. 247–253. III 2, 165,23–31. Briefe von Charlotte von Kalb an Goethe. In: Goethe-Jahrbuch 13, 1892, S. 41–79, hier S. 54–55, Nr. 15 und 16.
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Auch diese Briefe waren so etwas wie Simultanberichte gewesen – jedoch keine der simultanen Lektüre sondern solche der simultanen hypochondrischen Selbstbeobachtung. Mit einem Ausgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung hatte Charlotte diese Monologe dann im abschließenden Protokollschritt abgeschlossen: »Der D o c t o r war hier und sagte ich habe etwas Catharfieber – werfen Sie also dies ungemach zu den übrigen Unarten die Ihnen bekannt sind – und entschuldigen gefälligst die Tolheit Ihrer Verehrerin | C. Kalb.«300 »Ihren Brief«, so beginnt Charlotte von Kalb am Folgetag den zweiten Absatz des Briefes an Richter, »will ich Ihnen mündlich beantworten« (IV 2, 159,17–18). Sie nimmt also Richters Erwartungs-Szenario auf und bestätigt es. Dieses Zukunftsszenario wird nun aber mit dem inneren Affektleben der Briefschreiberin überblendet, für deren Charakterisierung schmerzhafte Erfahrungen in der Vergangenheit herbeizitiert werden. In einer Satzkaskade, die über die Schwellen verschiedener Interpunktionszeichen führt, entwickelt sich eine erstaunliche Affektdynamik, die von der knapp formulierten Vorfreude zur offensichtlich bedrängenden Furcht vor neuerlicher Enttäuschung führt: »Ich freue mich, Sie persönlich kennen zu lernen; schreiben Sie mir, wenn Sie kommen wollen, aber kommen Sie keinen Tag später. Der Mensch, dem das Erwarten eine so schmerzliche, tötende Sache ist, hat nach meiner Erfahrung viel gelitten.« (IV 2, 159,18–21) Die Affekt-Stromschnelle ist damit gleichsam überwunden: die Briefrede findet nun Sicherheit in gnomischen Formeln, in der Generalisierung des individuellen Eindrucks: Noch eine Bemerkung: Ich fand meist den Geist und Verstand der Männer völlig ähnlich im Umgang, den ich mir aus ihren Schriften machte, aber im praktischen Leben war’s ein ganz anderes Wesen. Auch auf den Stärksten, und just bei dem am tiefsten, nimmt doch endlich die Organisation das Gepräge an, welche das Schicksal ihm aufdrücken will; und das ist der sichtbare Mensch, (wer aber nur den mindesten Glauben an etwas Ewiges, Unsichtbares hat, gewinnt durch jedes Leiden, jede Erfahrung) der oft viel verloren zu haben scheint. Aber tief in der schweigenden Brust ruht doch noch das Ideal seines Glücks, immer wird’s affekt- und farbenloser, bis sie endlich ganz verschwinden, und die Idee nur zuletzt der Geist unseres Lebens ist. Sie haben mich verstanden, ob ich gleich zwei Ideen verband, die zwar verwandt, aber doch eine bestimmtere Zeichnung gefordert hätten: über dies mündlich! – 301
Frau von Kalbs Ausführungen über die Differenz zwischen dem Du der Imagination, das sich die Leserin im Lesen herstellt, und der realen Person Richter, die das Gelesene geschrieben hat, lassen sich ebenso gut auf Buchwie auf Brieflektüren beziehen, auch wenn vor der Hand mit »Schriften« natürlich Druckschriften gemeint zu sein scheinen. So wie der Briefwechsel angelegt ist, lässt sich das eine vom anderen jedoch nicht unterscheiden, auch 300 301
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Ebd., S. 55, Nr. 16. IV 2, 159,21–160,3, Nr. 81; Textgrundlage: Druck und Abschrift.
die Lektüre des Buches Siebenkäs ist ja Teil der Korrespondenz geworden und im Rahmen der Korrespondenz davon auch nicht mehr zu lösen. Charlotte von Kalb spricht hier also bereits jenes Thema an, das Richter einige Wochen später unmittelbar vor der ersten Begegnung mit Wilhelmine von Kropff ansprechen wird: die Unwägbarkeit des Abstands zwischen schreibender und lebendiger Persönlichkeit. Es ist nicht auszuschließen, dass ihn erst die Reflexionen Charlotte von Kalbs auf den Gedanken brachten, die andere Umworbene, Wilhelmine, in dieser Hinsicht ›vorzuwarnen‹. Das »Gepräge« der alltäglichen »Organisation« wird er dann als seine durch »Verhältnisse« und »Anstrengungen« »verrenkte und bejahrte Aussenseite« sowie seine »anerzogne Aussprache« beschreiben (III 2, 188,32–189,1).302 Die Passage im Brief der Frau von Kalb formuliert aber auch einen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber der Idee eines Entdeckens der Liebe durch Schreiben*, der zugleich auch ein Vorbehalt gegenüber der Idee des Liebens nach Texten* ist (verquickt auch noch mit einem Vorbehalt hinsichtlich der Durchsetzungsfähigkeit eines platonischen Idealismus im realen Leben). Dass diese Vorbehalte geschlechterspezifisch modelliert sind – Frau von Kalb spricht ja ausdrücklich vom Briefverkehr mit Männern – schließt den Brief erneut an denjenigen vom Vortag an Goethe an: »Wenn ich nicht [bei der Gesellschaft in Goethes Haus, Erg. J.P.] Willkommen bin – so lassen Sie mir nur sagen ich möchte zu Hause bleiben und so will ich im Glauben leben – und nicht im Schaun; denn nach meiner Erfahrung ist der Glaube das beste was uns werden kann, und express für uns Frauens in die Welt gekommen«303 – eben jener Glaube, so wäre zu ergänzen, wenn man die beiden Briefe verklammert, der gegenüber Richter zur Grundlage der Lebenserfahrung auch im Leiden gemacht wird. Eine Leerzeile, die allerdings aufgrund des Kriegsverlustes der Originalhandschrift philologisch nur im Druck des Briefes repräsentiert ist, unterbricht nach »mündlich! –« den Brieffluss. In ihr schlägt sich symbolisch die Lektürezeit nieder. Der Wiedereinsatz verfährt erneut protokollarisch: Ich habe Ihr Buch vollendet, den 28. März früh um 11 Uhr. Am Sonnabend las ich die Vorrede und die beiden Blumenstücke, die Vor- und Nachrede ist ganz allerliebst, jetzo las ich wieder, und dann lese ich sie Herdern vor, wenn ich einmal einen recht lieblichen, heiteren Tag habe. Aber ich lese es auch mit Ihnen; Ihnen kann man nichts schreiben, bei Ihnen sind alle Gedanken und sie ahnden sie von fernen. Ach wie viele vergangene Ideen meiner Seele habe ich in Ihren Schriften wiedergefunden, wie viele neue, belebende, erquickende haben Sie mir gegeben! Sie sind – schreiben; ich bin – lese! Wir werden sein! – 304
302 303 304
Siehe oben, S. 208. Briefe von Charlotte von Kalb an Goethe, S. 55. IV 2, 160,4–13.
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In diesen Passagen verlässt nun die Schreiberin die Spur, die im vorausgehenden Briefgespräch mit Goethe gebahnt war: Richters Schriften koinzidieren mit ihrer Vergangenheit und Zukunft, nicht aber mit der Gegenwart, in der Goethe der Hauptgesprächspartner gewesen ist.305 Daher ist es wohl auch Herder, der Repräsentant der ästhetischen Opposition (zu Goethe und Schiller) in Weimar, der als potentieller Teilhaber am Lektüreeindruck genannt wird. Die folgenden Ausführungen Frau von Kalbs versuchen diesen Wechsel in ein ästhetisches und ein existentielles System zu übersetzen: die Gotik der Jenaer Universitätskirche, sowie Michelangelo und Raffael als gleichberechtigte künstlerische Symbolfiguren auf der einen Seite, die Verbindung der ästhetischen Erfahrung mit der Verarbeitung familiären und amourösen Glücks und Unglücks auf der anderen. Beides entspricht sehr viel eher Herders Humanitätskonzept als dem klassizistischen Autonomiedenken Goethes und Schillers. Auf ungewöhnliche Weise werden am Ende des Briefes denn wiederum persönliche Motive laut, die Teil einer eigenwilligen Brief-Ästhetik werden: Charlotte von Kalb spekuliert über Richters Geburtstag und die mögliche Altersdifferenz*, die sich daraus ergeben würde: »Ist Ihr Geburtstag den 10. April, so bin ich älter wie Sie« (IV 2, 161,20–21). Wie sie auf das falsche Datum gekommen ist, bleibt unklar – möglicherweise spekuliert sie auf den 10. April als Empfangsdatum des Briefes, das zum Geburtstag einer neu begründeten Briefbeziehung würde – in Anbetracht der von Weimar aus notorisch langsamen Postwege eine durchaus realistische Postweg-Schätzung. Nach dem Satz folgt – dem Druck zufolge – ein Zeilenumbruch. Im daran anschließenden Schlussabsatz wird die Spekulation über Vergangenheit und Zukunft fortgesetzt und ins Ominöse gesteigert: »Mir ahnden zwei Dinge von Ihnen, eins ist vorüber, das zweite wird noch kommen, die Art nämlich Ihrer künftigen Arbeiten – aber ich darf’s nicht sagen – sonst wäre die Ahndung nicht mehr.« (IV 2, 161,22–24). Die Option des Ominösen öffnet zugleich einen Spielraum für Verführungsstrategien*. Der Schlusssatz dringt noch ein kleines Stück weiter in diesen Bereich vor, indem er auch auf Seiten Richters einen Teil der Lebenswelt für das Geheimnis der Intimität in Anspruch nimmt, wenn auch nur in Gestalt einer dringlichen Frage: »Nicht wahr, niemand, niemand sieht meine Briefe?« (IV 2, 161,25) Bezieht sich der hier eingeforderte Schutz der epistolaren Intimität vor allem auf die zuletzt ausgesprochene »Ahndung«? oder auf den zuvor vollzogenen Seitenwechsel von Schiller/Goethe zu Herder? Es ist charakteristisch für Charlotte von Kalbs Schreibweise, dass sie Antworten auf Fragen wie diese dem Gang der Korrespondenz anheimstellt.
305
226
Vgl. auch die Einleitung von Eduard von der Hellen zu Briefe von Charlotte von Kalb an Goethe.
Die oft berufene »Schneckenpost« von Weimar erreicht Richter bereits am 6. April. An Christian Otto schreibt er sogleich, Charlotte von Kalbs Bitte um Vertraulichkeit missachtend: Ich kan dich nicht besser für deine Emballier-Mühe belohnen, als durch den Brief der OSTHEIM, dessen geschmierte unleserliche Züge ein besseres Sternbild ihrer Seele geben als der vorige. Sie ist aus HERDERS Schule und ich mögte ein 1/2 Jahr in ihre gehen. Blos einigemal urtheilt sie als Frauenzimmer.306
Man wird Richter hier kaum widersprechen. Sowohl in Hinblick auf die »Schule« Herders als auch in Hinblick auf das geschlechterspezifische Urteil, mit dem er freilich offene Türen einrennt, denn dieses Urteil war ja ganz ausdrücklich aus weiblicher Perspektive geschrieben. Richter kommt nun aber in der Folgezeit nicht zum Antworten, oder er will nicht dazu kommen – am Folgetag, dem 7. April 1796, erhält er jedenfalls den Erstbrief Wilhelmine von Kropffs, deren Sprachvermögen er im Billet an Otto von diesem Tag – unter Männern – beurteilt (»Bemerke wieder das das«). Ihr wird er sieben Briefe schreiben, ehe er endlich auch wieder an Frau von Kalb schreibt. Als er dies am 19. Mai tut, hat Charlotte ihm bereits ein weiteres Mal geschrieben. Bei diesem Brief vom 13. Mai 1796 handelt es sich um einen von zwei Briefen, die in einem Faksimile des Originals überliefert sind; diese Briefe nehmen somit aus philologischer Sicht eine Sonderstellung ein: Weimar d. 13ten MAY: — Zwey drittel des F r ü h l i n g s sind vorüber (wie ich eben in Kalender sehe.) Die Baeume stehn noch unbelaubt, in schönen Park – die Nachtigal hat noch nicht gesungen – und Sie waren noch nicht hier: Alle Zeichen des Frühlings bleiben aus! Welches erwartet die andern?? — E r [über gestr. Sie] könnte kommen mit allen Reiz – der Bäume Pracht der Blüthen Duft, der Vögel lieb gesang — der Lüfte lindes Fächeln. – Für Ihre Freunde wär er nicht gewesen. – Wenn SIE uns nicht erscheinen! – O laßen Sie mir IHNEN, von IHREN FREUNDEN sagen – oder von SIE. Sie sind der Geist unserer Verbindung! Reich sind wir alle. durch die Achtung – Bewunderung – u Hoffnung – die Ihre Schriften, – erregt. – an ähnlicher anerkennung Ihres Werths, erkennen wir – die unsere Freunde sind, oder werden können! — Keines weiß, u d a r f e s w i ß e n daß Sie mir geschrieben. u ich an Sie – als mein Mann – der auch jetzo trauret daß er vergeblich Sie erwartet hat, in 8 Tagen muß er verreisen. – Keines weiß als ich [als ich nachtr. über der Zeile] daß wir – Sie hier in WEIMAR erwarten dürfen — doch ist es fast das Zeichen unseres Gruses: Ist Richter denn noch nicht hier?? Sind Sie krank – oder haben Sie nicht meinen Brief von 1. oder 2ten APRILL erhalten?? — IFLAND ist fort, u WIELAND reißt in wenigen Tagen nach der Schweitz in SEPT will er wieder hier sein. — HERDER KNEBEL EINSIEDEL sind hier drey Wesen die einer unbefangnen hohen Freude über die Volkommenheit eines andern fähig sind. – Sie sind ein tiefer Forscher, ein ferne Seher. – in Zeit u Zukunft: Ein PHAENOMEN in dieser Zeit, die Sie – bedarf: Krieg und Kampf ist überall – oder ödes dotes 306
III 2, 176, Nr. 281.
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kaltes nichts: Schale Form, kein Inhalt – In IHNEN erscheint uns aber ein Geist Herz u Seele – der 1000de die Schlafen, aus ihren Todesschlummer weken könnte. Unsere Erwartungen sind nicht zu kühn. — viele unter uns wünschten ein Schauspiel von Sie bearbeitet zu wißen. Leicht muß es Ihnen sein – von diesen reichenhohen Stamm einen Ast hinüber zu biegen in jenes Gefild. – Das war es was ich schon bemerken lies! Verzeihen Sie? meiner Schreibseelichkeit – u damit ich nicht wieder frage – so – schenken Sie dieser Frage, ein Wort! – starr wird m Hand – wenn ich mir Sie als einen SATIRISCHEN Schriftsteller denke. und mir ists’ selbst ein Räthsell p — Aber leider vergeße ich immer – über den schönern GENIUS der Sie begleidet, den Mächtigern durch den Sie herschen! Charlotte.307
Das Schriftbild ist zerklüftet und von Ungeduld gezeichnet, die Schriftzeichen häufig schwer entzifferbar. Hier wird philologisch nachvollziehbar, was Richter vor Augen steht, wenn er aus ihren »unleserliche[n] Züge[n]« auf das »Sternbild ihrer Seele« zu schließen versucht. Im Vergleich zu den gleichzeitigen Briefen Wilhelmine von Kropffs an Richter unterscheiden sich diejenigen Charlotte von Kalbs vor allem in der Art und Weise, die eigene Umwelt einzubeziehen. Während Wilhelmine von Kropff ihre Lebenswelt – und namentliche diejenige Berlins, an die sie durch mehrfache Bande geknüpft ist – weitgehend ausblendet, tritt das Weimar Charlotte von Kalbs deutlich in Erscheinung – allerdings mit markanter Aussparung der Sphären Goethes und Schillers. Zugleich versucht sie ihre Korrespondenz mit Richter exklusiv zu halten (wohingegen Frau von Kropff keinerlei entsprechende Vorbehalte hat): zwei der drei Varianten des Brieftextes sind diesem Versuch zuzuordnen, sich selbst und das Verhältnis zu Richter vom gesellschaftlichen Diskurs abzuheben: »als ich« steht separiert über der Zeile, die Streichung des Wortes »denn« eliminiert ein Moment der Responsabilität: in der Frage »ist Richter denn noch nicht hier?« wird der Gefragten mehr von der Last der Ungeduld auferlegt als in der Version: »ist Richter noch nicht hier?«, die gleichsam in den leeren Raum gesprochen ist. Und während Richter den Wunsch Charlotte von Kalbs grob missachtet (siehe seine Mitteilung an Otto vom 6. April), hält sich Charlotte von Kalb an ihre Vorgaben. Zumindest taucht Richter in ihren Briefen an Goethe und Schiller aus dieser Zeit nicht auf.308 Richters Antwort auf den Brief vom 13. Mai ist nur in Kopie beziehungsweise Konzept, zum Teil auch nur im Druck überliefert. Diesen Textzeugen zufolge entschuldigt er sich für sein Schweigen damit, dass er Charlotte erst jetzt, am 19. Mai, den genauen Zeitpunkt seiner Ankunft in Weimar 307 308
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IV 2, 172–172, Nr. 91 (Textgrundlage: Faksimile der Originalhandschrift, in: Kalb, Anhang). Vgl. ihren Brief an Schiller vom 14. Mai 1796, in: SNA 36.1 (Briefe an Schiller 1795– 1797), 206, Nr. 168, sowie die zwischen dem 26. April und dem 21. Mai geschriebenen Briefe an Goethe. In: Goethe-Jahrbuch 13, 1882, S. 55–65.
mitteilen könne. Erneut – wie schon im Falle der Frau von Kropff – versucht er, die Erwartung an seine Person herunterzustimmen: Ich kenne […] nur Eine Person, die meine Ankunft auf dieser glüklichen Insel kaum erwarten kan und die am meisten dabei gewint, und das ist meine eigne. Sie hingegen und der Kreis um Sie werden den Unterschied zwischen dem Menschen und dem Autor, so klein lezter ist, dennoch gros finden.309
Der Abstand zwischen Autor und Mensch wird nun aber nicht mehr, wie noch bei Frau von Kropff, am Dialekt, dem Zeichen eines spezifisch eingeschränkten mündlichen Sprachvermögens, festgemacht. Stattdessen schreibt Richter allgemein: »Ein solcher Mensch hat stat der glatten Birke eine rauhe Borke« (III 2, 197,13–14; Textgrundlage: eigenhändige Abschrift).310 Mit diesem neuerlichen Versuch, zwischen schriftlichem und mündlichem Sprachvermögen einen Vorab-Ausgleich herzustellen, enden die briefstellerischen Prolegomena der Beziehung jedoch noch nicht. Richter versucht diesen Ausgleich nun auch nach der ersten persönlichen Begegnung herzustellen, und zwar auf ihrer Seite. An Otto schreibt er am 12. Juni 1796, Frau von Kalb habe […] zwei grosse Dinge, grosse Augen wie ich noch keine sah, und eine grosse Seele. Sie spricht g e r a d e s o wie Herder in den Briefen der Humanität schreibt. Sie ist stark, vol, auch das Gesicht – ich wil dir sie schon schildern. 3/4 der Zeit brachte sie mit Lachen hin – dessen Hälfte aber nur Nervenschwäche ist – und 1/4 mit Ernst, wobei sie die grossen fast ganz zugesunknen Augenlieder himlisch in die Höhe hebt, wie wenn Wolken den Mond wechselweise verhüllen und entblössen […] »Sie sind ein sonderbarer Mensch« das sagte sie mir dreissigmal.311
Der Mitteilungsmodus der mündlichen Rede wird auf den der Schriftlichkeit zurückprojiziert: sie spricht so, wie Herder schreibt. Das Gelächter bildet den Kontrapunkt zu diesem Geist der ausgesprochenen Humanität, und aus der exzessiv die Sonderbarkeit des Gastes beschwörenden Figur der Wiederholung* zieht Richter schließlich den Schluss: »Ach hier sind Weiber!« (III 2, 206,33), wozu er auf einem anderen Blatt des Briefs in einer Fußnote verdeut309 310
311
III 2, 197,3–12, Nr. 317; Textgrundlage: Druck. Über Charlotte von Kalbs Versuch, die Briefbeziehung exklusiv zu halten, schreibt Richter an sie: »Die Gründe [Ihres Stilschweigens über unsere briefstellerische Verbindung] kan ich leichter voraussezen als errathen – [ich würde aber gewinnen, wenn Sie meine Beichte vor mehrere brächten. (…)]« (III 2, 197,22–24; Textgrundlage: Konzept und Druck). Geradezu ins Gegenteil verkehrt erscheinen seine Forderungen aber, als er dann drei Wochen später tatsächlich in Weimar eingetroffen ist: nun verbittet er sich für das erste mündliche Gespräch die Sprachzeugen: »Ich bin noch nicht aus der Reisekruste heraus, so nehme ich schon die Feder zur bittenden Frage, welche einsame Stunde – denn zwischen dem ersten Sehen solte nie das dritte Paar Augen stehen – Sie mir vergönnen … daß ich vor zitternder Freude so unordentlich rede als schreibe« (III 2, 206,4–8, Nr. 336; Textgrundlage: Konzept). III 2, 206,23–30, Nr. 337.
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licht: »Von solchen Weibern wie die Ostheim und [Caroline] Herder hat man ohne Umgang gar keinen Begrif, so sprechen und so fühlen sie« (III 2, 207,35–36). Etwas überraschend ist zunächst die Schlusswendung des Briefes an Otto: Richter bezieht seine Erfahrungen auf die Konstellation des Höfer Kreises der Simultanliebe zurück und reflektiert dabei erneut seinen »Muth« mit anderen »zu sprechen«. Erst jetzt, so schreibt er (zunächst etwas dunkel), getraue er sich, »mit dem 44ten Hern zu sprechen und noch mehr mit dem Bürgermeister Oertel, Köhler und deren Sipschaft« (III 2, 208,26–28). Erst in Weimar und im Umgang mit »Weibern wie der Ostheim« werden so die geheimen egalitären Ideale der Simultanliebe aus der Zeit des Umgangs mit der Familie Helene Köhlers zur Realität. WECHSELSEITIGE SPRACHLICHE BEEINFLUSSUNG II – Eine philologische Analyse der Wahl der Liebessprache und des Sprachvermögens bewegt sich stets im Bannkreis der Gefahr, sprachliche und außersprachliche Normen an die Texte heranzutragen. Dies gilt nicht nur – aber doch besonders stark – für geschlechterspezifische Vor- und Nebenannahmen, aber auch für ethnische, schichtspezifische und weitere Zusammenhänge. Verstärkt wird diese Gefahr natürlich durch die Tatsache, dass die ›philologisierten‹ Texte selbst solche Urteile enthalten oder doch unterschwellig transportieren können. Auch der philologische Positivismus konnte sich dieser Gefahr nie entziehen. In seinem Vorwort zu den von ihm herausgegebenen Briefen Charlotte von Kalbs an Goethe schreibt der Mitarbeiter Bernhard Suphans und nachmalige Hauptherausgeber der Jubiläumsausgabe von Goethes Werken Eduard von der Hellen 1882: »Goethes Freundschaft mit Frau Charlotte v. Kalb fällt in die Zeit zwischen ihrer rücksichtslos leidenschaftlichen Liebe zu Schiller und deren fast noch gesteigerter Wiederholung in ihrem Verhältnisse zu Jean Paul.«312 Diesem weiblichen Zugriff der Rücksichtslosigkeit auf die Integrität der Dichter, konnte, so legt von der Hellen dem Leser nahe, nur ein Goethe sich entziehen, weil seine und ihre »Naturen entschiedene Gegensätze darstellen: Klarheit und Verwirrung, Stätigkeit und Schwärmerei«.313 Auf Grundlage dieser Spannung aber, so glaubt von der Hellen erkennen zu können, habe sich eine für die »an Leib und Seele kranke Frau« heilsame wechselseitige seelische Beeinflussung ergeben, die freilich durch Jean Pauls gegenläufigen Einfluss wieder zunichte gemacht worden sei: Gab sie sich Goethe gegenüber anders, als wir sie sonst kennen? Vermochte sie sich im Verkehr mit ihm zu befreien von der zügellosen Sprunghaftigkeit ihrer Gedanken, der krankhaften Selbstbespiegelung ihres Gemüths? Man könnte das vermuthen, zumal ja Charlotte auch in ihren ersten Briefen an Jean Paul eine klare Beherrschung zeigt, die mit ihrem sonstigen Wesen im Widerspruch erscheint und die erst dann in Verwirrung und Leidenschaft mehr und mehr sich verliert, als Jean Paul antwortend 312 313
230
Briefe von Charlotte von Kalb an Goethe, S. 41. Ebd.
ihr die Fesseln löst, die sie sich angelegt, als er nach Weimar kommt und diese Reise seine Himmelfahrt zu ihr nennt.314
Von der Hellen postuliert einen (verderbten) Wesenskern der Persönlichkeit, der unter verderblichem Einfluss hervortritt. Der verderbliche Einfluss aber, so ist aus von der Hellens Ausführungen zu folgern, vollzieht sich genau durch wechselseitige sprachliche Beeinflussung – sowohl im Mündlichen, durch Richters Gegenwart in Weimar, als auch im Schriftlichen, durch Übertreibungen wie die von der Himmelfahrt zu ihr. Es mag unsinnig erscheinen, sich kritisch auf eine über hundert Jahre abgehangene philologische Position zu beziehen, die sich noch auf der Nachtseite einer inzwischen durch die Kritik an allem Essentialismus in Gender- und anderen Fragen erhellten wissenschaftlichen Welt zu bewegen scheint. Was eine Auseinandersetzung mit der Position von der Hellens gleichwohl interessant macht, ist die Rückkoppelung solcher Überlegungen an Fragen der philologischen Repräsentation und Repräsentierbarkeit. Von der Hellen glaubt jedenfalls, auf seine zuvor geäußerten und oben wiedergegebenen Thesen und Vermuthungen »[v]on ihren Briefen […] Antwort erwarten [zu] dürfen«; dies nimmt die philologische Darstellung in die Pflicht, unabhängig von der »rein stoffliche[n] Abschätzung ihres Werthes« zu verfahren, namentlich in Hinsicht auf die integrale Wiedergabe des Textes.315 Man kann dies durchaus als ein philologisches Schlupfloch zu einem Interpretationshorizont betrachten, der einen freieren Blick auf Optionen philologischer Repräsentation erlaubt als es eine antiessentialistische Lektüre zunächst für möglich halten mag. Das erwähnte Schlagwort von der Himmelfahrt findet sich in einem Brief Richters vom 10. Juni 1796, aus dem ein anderer Abschnitt bereits zitiert wurde.316 Das Motiv der Himmelfahrt bildet den Rahmen zu jenen Sätzen, mit denen Richter den Wunsch nach einem initialen Gespräch unter vier Augen vorträgt sowie die Unordentlichkeit seines Redens vorab im Spiegel seines unordentlichen Schreibens rechtfertigt. Hinterlegt man diesen Sätzen die Äußerungen im Billet an Christian Otto über die »geschmierten unleserlichen Züge« in Frau von Kalbs Brief von Ende März, so kann man bereits hierin eine Form der wechselseitigen Beeinflussung im Medium der Schrift sehen: seine »zitternde[] Freude« ahmt die ihre nach und nimmt die Unordentlichkeit seiner mündlichen Rede vorweg: Endlich, gnädige Frau, hab’ ich die Himmelsthore aufgedrükt und stehe mitten in Weimar. – Ich bin noch nicht aus der Reisekruste heraus, so nehme ich schon die Feder zur bittenden Frage, welche einsame Stunde – denn zwischen dem ersten Sehen solte nie das dritte Paar Augen stehen – Sie mir vergönnen … daß ich vor zitternder
314 315 316
Ebd. Ebd., S. 42. Siehe oben.
231
Freude so unordentlich rede als schreibe. Sie können zu meiner Himmelfarth zu Ihnen jede Minute, sogar die heutige, bestimmen.317
So wird man also gegen von der Hellen, wenn schon, dann in ihrer Schreibund Sprechweise den Ausgangspunkt des Beeinflussungsprozesses suchen müssen. Auffällig ist weiterhin, dass Richter nicht schreibt »[ein] dritte[s] Paar Augen« sondern »das dritte Paar Augen«. Diese Festlegung beim Ausschluss von Augenzeugen kann sich nun aber nur auf ein Augenpaar beziehen, nämlich dasjenige des Ehemanns Heinrich von Kalb, denn nur er sollte ja, Charlottes Wunsch gemäß, in die Exklusivität des Verhältnisses vorab eingeweiht sein.318 Richters Wunsch, den Ehemann dennoch von der erbetenen Begegnung auszuschließen, ist gleichwohl kein eigenmächtiger: er folgt darin den versteckten Angeboten Charlottes, die alle Briefe, die sie bis zu diesem Zeitpunkt an ihn geschickt hat, mit Dispens-Formeln vom Ehestand unterschrieben hat. Hinter dem religiösen Szenario der »Himmelsthore« und der »Himmelfarth« scheint sich also ein amouröses zu verbergen, zumindest insofern, als die Personenkonstellation noch einmal reduziert wird. Von der Hellens Mutmaßung, Richter habe »antwortend die Fesseln« von Frau von Kalbs Beherrschung gelöst, – eine Mutmaßung, die ja mit etwas unaufrichtig erscheinender philologischer Dezenz auf den erotischen Kontext hinweist –, scheint also nicht unbegründet. Und doch ist damit noch nicht der gesamte Spielraum epistolarer Bezüge ausgeschöpft. Denn zumindest in einem anderen Zusammenhang – demjenigen der Ahlefeldt’schen Leidenschaft – hat Richter der Zweisamkeit einen ganz anderen, gleichsam erotikdämpfenden Effekt zugeschrieben. An Frau von Kropff hat er am 24. April 1796 geschrieben: Können Sie keine lange litterarische Arbeit von ihm [gemeint ist Ahlefeldt, Anm. J.P.] fodern, die seinem Kopf einen Spielraum gäbe, die aber freilich nicht zu nahe an die wunde Stelle seines Herzens gränzen müste? – Käm er freilich wieder nach Bayreuth: so wäre fast kein Gegen-Mittel – ausgenommen zwei kleine, die aber unser Geschlecht leichter gebrauchen kan als das Ihrige, erstlich keine Minute ernsthaft, und zweitens i m m e r o h n e Zeugen zu sein. Man liebt eine Person stärker, wenn der Zwang der Visitten-Nachbarschaft die Zunge bindet, daher junge Männer ihre Flitterwochenbräute wieder stärker lieben, wenn sie mit ihnen an fremden Orten und mit Zeugen sind.319
Für die spezifische Kommentierung einer Passage wie derjenigen aus dem Brief Richters an Frau von Kalb, die ein Treffen unter Ausschluss des Ehemanns nahelegt, bedeutet dies: eine kommentierende Festlegung auf amouröse Intentionen muss immer die Option von Neben- oder Hintergrundintentionen in Rechnung stellen; da aber der intentionale Raum nie mit Gewissheit 317 318 319
232
III 2, 206,3–10, Nr. 336; Textgrundlage: Konzept. Vgl. IV 2, 172,17–19, Nr. 91. III 2, 182,19–29, Nr. 297; Textgrundlage: Originalhandschrift.
als philologisch vollständig erschlossen und somit abgeschlossen angesehen werden kann, bleibt im Zweifelsfall tatsächlich oft nur der Fortgang der Ereignisse als Maßstab für das philologische aptum. Festzuhalten gilt es aber zugleich auch erneut, dass gerade bei der philologischen Erschließung von Gefühlskulturen die Kenntnis des zeitlichen Fort- und Ausgangs nicht die Darstellung des jeweils zu begreifenden Augenblicks dominieren darf. Nachdem sich Charlotte von Kalb und Richter am Vormittag des 11. Juni zum ersten Mal gesehen haben, seinem Wunsch gemäß unter vier Augen, 320 sind es, wie schon erwähnt, die »grosse[n] Augen« und die »grosse Seele«, die Richter gegenüber Otto hervorhebt (III 2, 206,23–25, Nr. 337). Beim Zwiegespräch der Augen war nun aber, wie sich im Brief an Otto herausstellt, dennoch ein weiteres Paar Augen anwesend. Seiner eiligen Schilderung für den Freund stellt Richter nämlich die Bemerkung voran: »Gestern gieng ich um elf Uhr – weil ihr Einladungsbillet mich zweimal verfehlte – zur Ostheim (es ist die Schwester der Bayreutherin und ich glaube, fast meine auch) Ich hatte mir im Billet eine e i n s a m e M i n u t e zur ersten ausbedungen, ein COEURÀ-COEUR/TÊTE-À`-TÊTE« (III 2, 206,19–23). Drei Phänomene sind im Geschriebenen hervorzuheben (und hervorgehoben): die eingeklammerten, die unterstrichenen und die als Alternative formulierten Wörter. Die beiden als Alternativen. durch Sprachwechsel* hervorgehobenen Bezeichnungen für das Treffen unter vier Augen beschreiben die intime Begegnung zugleich als konventionelle; indem der Charakter der Begegnung schon dadurch hinreichend profiliert erscheint, stellt sich die Frage, warum die »einsame Minute« zusätzlich unterstrichen (im Druck: gesperrt) ist. Otto gegenüber müsste Richter dieser Forderung ja keinen Nachdruck verleihen. Somit beabsichtigt er mit der Unterstreichung keinen rhetorischen Effekt, sondern kennzeichnet unter Eingeweihten ein Sinn-Zitat: Otto, so wäre zu folgern, ist in seine Argumentation die Einsamkeit von Verliebten betreffend eingeweiht. Und er ist es tatsächlich: Am 25. April hat Richter ihm das entsprechende Schreiben an Frau von Kropff mit dem Kommentar zukommen lassen: »Hier ist mein Brief an die Bayreutherin, der aber aus Mangel an Zeit, mit vernachlässigter Einkleidung geschrieben ist« (III 2, 183,22–23, Nr. 299; Textgrundlage: Originalhandschrift). Und damit wird schließlich auch der Bezug des eingeklammerten Halbsatzes deutlicher: die »Bayreutherin« ist die, an die der hier (im Brief vom 25.4. an Otto) erwähnte Brief gerichtet war, Wilhelmine von Kropff. Durch drei Formen der schriftlichen Markierung übermittelt Richter somit so etwas wie eine Geheimbotschaft. Seine Schilderung des Eindrucks, den Frau von Kalb auf ihn gemacht hat, schließt er mit einer weiteren, auf Sprachreflexion* zielenden Bemerkung in Klammern: »(Ich scheere mich um keine Richtigkeit des Ausdruks aus Mangel der Zeit, ich wil dir blos v i e l schreiben)« (III 2, 320
Vgl. III 2, 206,19–35, Nr. 337.
233
206,30–32). Damit folgt er seiner gegenüber Wilhelmine von Kropff statuierten Forderung, das Erleben werde in Weimar gegenüber dem Beschreiben Vorrang erhalten. Die Mitteilungsweise in den Briefen nach Hof bleibt auch weiterhin in diesem Schnellschreibmodus: Richter legt seinen nächsten Brief an Otto als ein sogenanntes »Gastwirths-Protokol« an, worin zum Beispiel für Donnerstag, den 16. Juni vermerkt wird: »Tieffurth, bei der Herzogin, O s t h e i m , Ostheim, Ostheim« (III 2, 216,15–16, Nr. 343). Mehr ist über die Begegnung nicht überliefert. An dieser und den weiteren entsprechenden Stellen des Briefes zeigt sich somit eine andere Figur der wechselseitigen sprachlichen Beeinflussung: Das Vorbild der Berliner Alltags-Protokolle Ahlefeldts in seinen Liebesbriefen an Frau von Kropff ist hier wiederzuerkennen. Der Schriftverkehr, der mit dem unmittelbaren Erleben vor Ort zusammenhängt, bleibt davon jedoch unberührt. Und in diesem Zusammenhang nehmen die Dinge dann doch einen eigenständigen Lauf. Während sich das Verhältnis zwischen Richter und Wilhelmine von Kropff durch die wiederholten Begegnungen in Bayreuth zunächst wenig wandelt, verändert sich seine Beziehung zu Charlotte von Kalb während des dreieinhalbwöchigen Weimaraufenthaltes substantiell. »Wenn Sie auf heute Mittag von niemand gebeten sind, so kommen Sie lieber zu mir, als daß Sie unter Fremden im Gasthofe wären. | Charlotte Ostheim«, so lautet das erste Billett, das aus der Weimarer Zeit überliefert ist (IV 2, 182, Nr. 98 vom 12. oder 13. Juni 1796; Textgrundlage: Druck). Bereits im nächsten Brief, der überliefert ist, lässt sich jedoch ein Hinübergleiten vom fürsorglichen Habitus in eine Sphäre der aktiven Affektinteraktion beobachten, in der sich nun auch Verführungsstrategien* entfalten können. Zwar beginnt der Brief noch behutsam-führsorglich mit den Worten »Sie haben doch wohl geschlafen? Die Freundschaft hat Ihnen ja diese Ruhestätte bereitet – mir ist’s wirklich sehr lieb, daß ich Sie nicht mehr im Gasthof weiß.«321 Die nachfolgenden drastischen Bilder aber, mit denen Charlotte von Kalb das Leben in Gasthäusern charakterisiert, treiben das Briefgespräch weit weg vom häuslich-mütterlichen Bereich und exponieren den Körper im Modus seiner Verletzlichkeit: »Ach, sind wir nicht immer in Gast- und Fleischhäusern, wo alles nur aus grobem Interesse gethan wird! Das mordet das Herz« (IV 2, 183,23–25). Der Verletzlichkeit, ja Entblößtheit des reisenden Körpers wird nun aber das Konzept der Anteilnahme entgegengestellt: »Sie haben mir auch gesagt, daß Sie gar nicht leben könnten, wenn man nicht als Wesen an Sie Anteil nähme, ich verstehe es. Unter Guten wird man gut, unter Liebenden glücklich.« (S. 183,27–28). Mit anderen Worten: die empfangende Liebe re321
234
IV 2, 183, 21–23, Nr. 100; Jean Paul war am 14. Juni ins Haus Ludwig von Oertels gezogen (vgl. die einleitende Erläuterung zu IV 2, Nr. 99). Der Brief Charlotte von Kalbs wurde demnach höchstwahrscheinlich am Morgen des 15. Juni geschrieben.
produziert nicht einfach die Affekt-Qualität der gebenden Liebe, sondern sie bringt eine neue Affekt-Qualität hervor (»glücklich«). Was nun folgt, ist eine Art Spiegelung dessen, was bisher auf dem Papier stand. Hatte Charlotte von Kalb bis zu diesem Punkt die Person Richters fokussiert – zunächst im Modus des Entblößtseins (im Gasthaus), dann in Hinblick auf das Konzept der Anteilnahme –, so wird in den folgenden Sätzen ihre eigene Lage zwischen Anteilnahme und Entblößung umrissen. Der Überleitungssatz stellt dabei wohl den eigentlichen intentionalen Kern des Briefes dar: »Kommen Sie heute ja bald zu mir« (IV 2, 183,28). Daran schließt sich an: »Sagen, schreiben Sie mir aber den Augenblick, damit ich nicht warte. Alles Warten zerstört mich; ich habe lieber Schmerz des Körpers und der Seele als Warten« (IV 2, 183,28– 31). Warten erscheint somit als antagonistischer Affekt zum Lieben, angesiedelt jenseits der Sphäre des Körperlichen und Psychischen bzw. beide Sphären destruktiv integrierend. »Ich habe Ihnen sehr viel zu erzählen« heißt es dann, um es gleichwohl nur bei Andeutungen bewenden zu lassen: (»1) von der Herzogin, 2) daß ich Ottos Brief, […] lesen muß, 3) daß ich eine Schrift von Hamann haben will, 4) daß ich eifersüchtig bin, 5) daß ich jetzo gern stehle, –«, IV 2, 183,31– 184,1). Fast wirkt es so, als habe Charlotte von Kalb Richters Strategie der Verführungsabwehr durchschaut – vielleicht bezieht sich auf diese Form des Sich-Beeinflussen-Lassens sogar das »gern stehle[n]« –, so energisch scheint sie nun ihrerseits die Zweisamkeit verhindern zu wollen: unter Punkt »6)« folgt nämlich eine ganze Kaskade von Namen, die als Zeugen bei der nächsten Begegnung anwesend sein könnten. Der Brief aber endet mit einer Komplementärfigur zu dem von Richter statuierten Gedanken: In Hinblick auf all die zuvor genannten potentiellen Zeugen ihrer Begegnung schreibt Charlotte von Kalb: »Ich glaube, man wird Sie hier nicht fortlassen«; sie selbst aber tut das Gegenteil davon: »Ich lasse Sie fort – bei mir muß alles so notwendig sein, wie die Gesetze der Natur« (IV 2, 184,6–9). Man kann diese Passagen als Figurationen einer strategischen Liebessprache interpretieren. Der zuvor mitgeteilte und auch an anderer Stelle immer wieder beschworene Abscheu vor dem Warten würde dann ein Element darstellen, das sich gegen die liebesstrategische Funktionalisierung sträubt. Die Mitteilung der Bereitschaft zum Loslassen müsste ja eigentlich auch eine solche der Bereitschaft zum Abwarten zur liebesstrategischen Maxime der Wahl machen. Zu einem so weitgehenden Verstoß gegen die eigenen Wünsche zugunsten der amourösen Taktik ist Frau von Kalb jedoch nicht bereit. In ihrem nächsten Brief, verfasst am Freitag, den 17. Juni, fällt erneut eine solche Überkreuzung von strategischen und unvermittelten Forderungen ins Auge. Dies geht mit einer Verschiebung in der Wahl der Liebessprache* einher:
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den 17. Juni. Diesen Morgen erwachte ich, es dämmerte noch, aber ich konnte die Farben um mich unterscheiden. Ich bin auf – Billet sehr verlangend – und ich schreibe, ehe ich es bekomme, damit ich, soviel ich kann, nüchtern schreibe. Ach, mein Gott, da ist – Billet, ich habe schmälen wollen über die Stunde von gestern von 8. 9, der Teufel mag’s nun thun. Aber um Gottes willen, zeige – keinem andern als mir; alle, die – fassen, werden für – sterben wollen. Nein, um Gottes willen nicht; wie in einem Spiegelzimmer stehst Du da und wirfst über alle Deine Gestalt, blickst aus ihr mit Deinem Geist, Gemüth; aber wir, wir sind keine Spiegel, so glatt und kalt, nein, nein, nein! Eine idealische Schilderung liebt die Seele, einen idealischen Menschen liebt das Herz – und will es, und will es, und will ihn. Lieber, rede mit der Schrödern, sie hatte auch gestern sich Mühe gegeben und für – schon gesungen. Sie zieht mich herab, ich gehe nie allein mit ihr, aber sie ist mir gut. Die Imhoff ist ein Kunstfräulein, sie kann alles mit Kunst, ihre Mutter hat sie aber gewiß – pfui ich will aufhören, es ist häßlich von mir, abscheulich. Gerne zerriß ich dies Blatt; aber ich hab keine Zeit mehr – ich habe zu thun; ich fahre heut noch nach Jena. Knebel kommt dahin und Sie – und Sie – ich will morgen schon wieder schreiben. Der Knebel hat Sie sehr lieb – er war gestern ordentlich schöner, das heißt, es war so ein Wiederschein auf seinem Gesicht von seinem Gefühl für –, dies gefiel mir; gehen Sie zu ihm, zu Böttiger, der Ihnen alles zu Gefallen thun wird. Morgen gehen Sie mit Böttiger in die Komödie, zu Herder, Einsiedel; alle Welt will ihn haben, bei Gott, alle Welt. Nein, nein, nein, sie soll ihn nicht haben oder ich will vergehen; ich will erst vernichtet sein, dann kann sie ihn haben! Wie oft war ich nicht schon vernichtet, wie oft! Ach, nichts als die allerfeinste Diät der Seele, die reinsten, wärmsten Genüsse können mich wieder bessern und erquicken in dem Dreiklang Otto, Jean Paul und Lotte. Sie stehen zwischen uns, so, glaube ich, tönen reine Harmonieen, da fließt der Strom des Lebens silberhelle vorüber.322
Um den Empfänger des Briefes anzureden, nutzt Charlotte von Kalb hier nicht weniger als vier verschiedene Modalitäten: Das förmliche »Sie« wird zunächst verabschiedet; an seine Stelle tritt jedoch zu Beginn noch nicht das vertrauliche »Du«, sondern ein symbolischer Statthalter, der Gedankenstrich. Im weiteren Verlauf des Briefes spricht sie Richter dann aber doch auch mit »Du« an, zuletzt tritt auch das »Sie« wieder in Erscheinung, daneben wird auch die Anrede durch ein Sprechen ersetzt, das sich auf eine dritte Person zu beziehen scheint. Würde das »Sie« hier einfach durch ein »Du« abgelöst, so würde man wohl sagen können: die Sprache der Verführung ist durch die Sprache der Erfüllung abgelöst worden. So aber bleibt alles in der Schwebe, namentlich bezüglich der Ereignisse in der von Frau von Kalb hervorgehobenen abendlichen »Stunde […] von 8. 9« des Vortags. Die Affektsprache liegt hier also im Widerstreit mit sich selbst: Die »Diät der Seele«, die in der Bereitschaft besteht, den Geliebten mit anderen zu teilen, sowie die vorübergehende Bändigung des »Du« zum »Sie« folgen den Maximen der Taktik; aber das Verlangen nach etwas Geschriebenem, das Bedürfnis, zu »schmälen«, die Deutlichkeit, mit der die Eifersucht und die individuellen Ansprüche artikuliert (»wir sind keine Spiegel, so glatt und kalt«) 322
236
IV 2, 184–185, Nr. 101; Textgrundlage: Druck und Abschrift.
und verfochten (»nein, nein, nein!«) werden – all dies verweist auf eine Sphäre jenseits der Diätetik hin bzw. zurück: auf diejenige der offenen Aussprache über Begehren respektive über Erfüllung und Verweigerung des Begehrens: »und will es, und will es, und will ihn«. Zwei Tage später schickt Richter diesen, wie er sagt, »inostensibeln« Brief Charlotte von Kalbs an Christian Otto mit der Bemerkung: »Er ist ein Räthsel, das ich dir mündlich löse« (III 2, 211,10–13, Nr. 340). Bis dahin hält er sich jedoch noch beinahe zwei Wochen im Bannkreis der Charlotte von Kalb auf. Durch die in ihrem Brief angekündigte Reise nach Jena und Richters Entschluss, ihr mit einigen Tagen Verzögerung dorthin zu folgen, ergibt sich nun eine neue Konstellation, in der sich offensichtlich neue Spielräume für Varianten der Liebessprache eröffnen. Charlotte von Kalb reist am 17. Juni in die Universitätsstadt, um ihrer Tante Susanna Wilhelmine Elisabeth bei einer Operation beizustehen, Richter folgt ihr eine Woche später nach. Nach einem ersten, unmittelbar nach der Ankunft in Jena verfassten Brief Charlotte von Kalbs (IV 2, 185–187, Nr. 103) fehlen zunächst weitere Korrespondenzzeugnisse. Am 23. Juni schreibt sie kurz, um sich der Tatsache zu versichern, dass ihr Brief Richter erreicht hat.323 Die Strategie, Erwartung zu schüren, wird hier zunächst wieder, genau wie in Frau von Kalbs allererstem Brief an Richter, delegiert an einen Dritten, in diesem Falle an Schiller: Jena, den 23. Juni. Am Sonnabend erhielt ich einen Brief von Sie; am Sonntag schrieb ich; auf diesen hab’ ich noch keine Antwort erhalten. Ist’s möglich, so noch so lang zu schweigen? Mein Gott, da schickt mir Einsiedel Ihren Brief. – Ist denn ein Brief verloren gegangen von Sie an mich? ich hab’ Ihnen nur einmal geschrieben und diesen Brief gab Ihnen die Herdern. Meine Seele ist immer um Sie. Ich bin zerstreut, aber auch gesund, heiter und sehnsuchtsvoll; den 26. oder 27. kommt mein Mann nach Weimar, — ich hab’ Ihnen ein lustiges Projekt mitzuteilen, wenn’s Ihnen gefällt, wollen wir’s ausführen. Schiller kann Ihre Ankunft nun nicht erwarten. Goethe muß sehr interessant von Ihnen geschrieben haben. Ich kann nicht schreiben, ich bin durch Ihren Brief beklemmt; ich verdiene nichts und ich habe das Höchste, was im kühnsten Flug meine Seele sich nur ersinnen konnte. O, zweifle nicht länger! Charlotte In Eil. Dieser Brief ist gestern durch mein Kindchen vergessen worden, es tritt oft ein besessenes Genie zwischen uns. Heute schicke ich das ganze Paket ans Thor, damit ein Wanderer es mitnehme. Ich bin nicht immer mit mir zufrieden. Das Leben ist mir hier zu lau, das erschlafft mich; wie wird's werden mit der Zukunft, wie wird’s werden?
323
Es gab zwischen Jena und Weimar keine direkte Postverbindung (Relais-Station war Naumburg). Zumeist wurden Briefe durch Privatpersonen übermittelt.
237
Ja wir werden uns allein sprechen; wir wollen die Thäler und Berge besuchen und auf dem hohen Dach unter dem Sternenhimmel verweilen. ADIO.324
Als Richter dann aber in Jena eingetroffen ist, erfolgt ein auffälliger SPRACHDas Französische als literarisch präformiertes Idiom der Verführung soll offenbar das erotische Potential der Beziehung reaktivieren, der Sprachwechsel kann mithin auch hier als »sensibler Gradmesser für die Intimität der Paarbeziehung« aufgefasst werden:326
WECHSEL:325
à 8 heures du soir. Ce moment l’on me donne votre billet – je ne puis quitter la société; deux de mes cousines sont arrivées; après 9 heures je serai chez moi! Vous êtes attendu pour le souper chez Monsieur d’Einsiedel; il n’aimera pas vous voir partir si tôt. – Sans vous défendre de venir chez moi, je ne veux pourtemp pas vous attendre – car je ne veux ravir votre société à personne et surtout point d’éclat. Si vous pouvez facilement venir avant les 10 h. après 9 heures, votre amie vous dira à qui elle a pensé ses huit jours. Charlotte. Demain toute la matinée aussi je suis chez moi et demeure auf dem Markt im Salzmannischen Haus.327
Es handelt sich um die Wiederholung eines bereits bekannten Musters: Scheinbar beiläufiger Verlockungsfloskeln in Gestalt von unverfänglichverfänglichen Andeutungen (« votre amie vous dira à qui elle a pensé ses huit jours ») stehen neben pragmatischen Arrangements, deren Pragmatik aber im Anspielungshorizont gleichfalls doppelbödig wird. All dies wird durch die für Verführungskorrespondenz charakteristische Absicherung der äußeren Umstände abgerundet: Wann, wie und unter welchen Umständen kann eine Begegnung zuverlässig stattfinden (»Demain toute la matinée aussi je suis chez moi et demeure auf dem Markt im Salzmannischen Haus«). Nach Rückkehr Richters und Frau von Kalbs nach Weimar, wo inzwischen auch Charlottes Ehemann eingetroffen ist, wandelt sich der Tonfall erneut: Nunmehr herrscht ein Tonfall familiärer Freundschaft vor. Dritte, zum Beispiel Richters Gastherr Ludwig von Oertel, werden ausdrücklich einbezogen:
324 325
326 327
238
IV 2, 193–194, Nr. 108. Sprachwechsel werden häufig in Briefen nicht reflektiert und können somit in mancherlei Hinsicht als Komplementärphänomene zur Figur der SPRACHREFLEXION aufgefasst werden, die sich – zumeist kritisch – auf die rousseauistische Grundfigur der Aufrichtigkeit bezieht (vgl. Stauf, »Wen ich nicht behandeln kann …«, S. 342). Zur Verschränkung von Sprachwechsel- und Sprachreflexion sowie zur Signifikanz von Sprachwechsel-Phänomenen vgl. Stauf, »Erklär mir, Liebe«, bes. S. 406ff., allgemein zum Sprachwechsel in Briefen vgl. Schneider, Liebe und Betrug, S. 361f. Stauf, »Erklär mir, Liebe«, S. 406. IV 2, 194, Nr. 109; Textgrundlage: Druck und Abschrift.
W e i m a r , den 29. Abends um 8 Uhr. Gestern hätte ich Ihnen schreiben sollen und fand keinen ruhigen Augenblick – ach, warum erfüllt man nicht gleich seine besseren Wünsche und Pflichten! Hätte ich es gethan, so wüßten Sie schon meine Ankunft und wären vielleicht schon bei uns. Heinrich kann Ihre Bekanntschaft nicht erwarten und ich nicht das Wiedersehen. Sie sind in Tieffurt; sobald Sie können und frei sind, kommen Sie zu uns. Morgen Abend sind wir mit Ihnen bei Herders. Morgen Mittag wünsche ich, Sie könnten mit Oertel mein Gast sein. Antworten Sie mir bald. Sind Sie vielleicht schon hier, so kommen Sie noch diesen Abend. Ihren Brief habe ich erhalten. 1000 Lebewohl! Adieu. Charlotte Ostheim
Stellt man die Befunde zur Wahl der Liebessprache in den Dienst der philologischen Textkritik, dann lassen sich zumindest für Datierungsfragen Differenzierungen vornehmen: So sind aus der Zeit von Richters erstem WeimarAufenthalt drei Billetts von Charlotte von Kalb überliefert, die alle nur im Druck überliefert sind, da Berend in diesen Fällen keine Korrekturen nach den Handschriften in sein Handexemplar der jeweiligen Drucke eingetragen hat.328 Das erste Billett lautet: Sind Sie Ihres Versprechens eingedenk? Kommen Sie heute und um welche Minute? Ich habe Ihnen viel zu sagen. Charlotte K.329
Beurteilt in der Perspektive einer Philologie intimer Korrespondenz, dürfte das Schreiben schwerlich in dieser Form nach dem Jena-Aufenthalt geschrieben sein. Weder die Unterschrift noch die Form der Anrede sind nach dem Durchgang durch die Prozedur des Sprachwechsels so noch vorstellbar. Gleiches gilt für das zweite der drei Billetts (IV 2, Nr. 116). Das längste der Billetts hingegen (IV 2, Nr. 117), nur »Weimar, im Junius 1796« datiert, ist eindeutig bereits ein Dokument des Resümierens. Die epistolären Permutationen (der Anrede, der Grundsprache, der Unterschrift) sind nun durchgespielt, die Sprache des Ich nun vollkommen mit der des Du verschmolzen – dort, wo die Schreiberin noch »ich« schreibt, wird das Wort sogleich durch ein »wir« neutralisiert. Den Kulminationspunkt erreicht diese Demonstration einer wechselseitigen sprachlichen Beeinflussung* als einer sprachlichen Durchdringung im einmontierten Jean-Paul-Zitat, dessen Herkunft von der Schreiberin nicht ausgewiesen wird:
328
329
Vgl. IV 2, 203–204, Nr. 115–117 sowie S. 687–688 (Kommentar); die beiden ersten Briefe waren bis zum Zweiten Weltkrieg noch im Autographenbestand der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek nachweisbar, der dritte ist nur durch den Druck in Denkwürdigkeiten (Bd. 2, S. 16–17) überliefert. IV 2, 203, Nr. 115.
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W e i m a r , im Junius 1796. So bezeuge ich nun, wie durch unser Erkennen ich eine Erneuerung, eine sanftere Belebung des Gemüths gefunden – wir wissen nicht, was wir sein können und die Strahlen der Seligkeit verdunkeln wir durch Zerstreuung und Unglauben. Die Schule des innern Lebens kann uns allein erziehen, wir sind es nicht gewohnt uns als Kinder des Heils zu betrachten, daher sinkt bald das aufflammende Leben wieder nieder. Mißbrauch hemmt uns auch und solche Tage sind nicht aus dem Leben zu nehmen – der Irrthum, den wir tragen, ist nicht der Erde, er ist dem Himmel gesündigt – ich darf mit J. P. aussprechen: »wir sind alle geboren, um männliche Jungfrauen zu sein!« – in der Welt lernen wir es nicht, nur in der Einsamkeit. – Dieß Loos verleiht eine geistige Fügung, wenn es die Ergebenheit zu verstehen vermag. Wir erkennen in dem, was uns begegnet, die absolute Nothwendigkeit. Jedes Wesen, mit dem ich das Leben geführt, ist mir durch die Leiden, die es ertragen, geheiligt worden. Charlotte.
Möglicherweise bezieht sich Frau von Kalb auf den ersten Brief, den sie von Richter erhalten hat (als Antwort auf ihr Schreiben vom Schalttag des Jahres 1796): »wenn ich nur einem Herzen, für das die Freundinnen zu u n m ä n l i c h , Freunde zu u n w e i b l i c h sind, den schönen so lang begehrten Engel der Liebe im Wolkenhimmel der Dichtkunst zeige […] so hab’ ich genug gelebt und geschrieben«, so konnte sie damals in dem Brief lesen, den sie im März erhalten hat. Dies war in Hinblick auf das literarische Leben gesagt. Charlotte von Kalb verallgemeinert nun den Gedanken. Das Leben selbst formt den Menschen zu jenem Wesen, das Richter als »Engel der Liebe im Wolkenhimmel der Dichtkunst« seinen Leserinnen zuschreiben will. Charlotte von Kalb aber spricht nicht vom literarischen Himmel, sondern vom innerweltlichen, lebensnahen. An die Stelle von Verführungsstrategien treten damit Entsagungsstrategien. So auch in ihrem Brief von Anfang Juli 1796 (IV 2, Nr. 119): Die Anwesenheit des Geliebten wird im Modus seiner Unerreichbarkeit anerkannt, und diese Entsagung zugleich in sinnlicher Erfahrung zu einem »Reiz« erklärt (beziehungsweise verklärt), während zugleich noch einmal jener andere Reiz ›Du‹ zu sagen durch einen langen Gedankenstrich simultan manifestiert und unterdrückt wird: den 1. JULIUS Es hat einen Reiz für mich, den ersten Brief den Ihnen die Post überbringen soll – wärend Ihres hierseins noch anzufangen. – ich werde Sie heute noch sehen – aber ich habe so viel dann zu sagen – und so wenig – daß ich meyne ich thue beßer Ihnen jetzo schon den F a d e n z u r e i c h e n – d e r v o n m i r u n d – – g e h a l t e n – ü b e r – d u r c h d a s L A B I R I N T H – die getrennten f ü h r e n s o l l t e – das B a n d der Gedanken – der Gesinnung – der Gefühle – die die Wahrheit zum
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Zeuchen und Richter anruft – Leide uns durch das Leben u. führe uns wieder – wenn wir sein werden? zu derselben Quelle des SEYNS, u. dem Bekenntnis! – 330
Die daran anschließenden Passagen sind bereits jenseits aller Verführung angesiedelt und exerzieren vor der Folie der Lektüre Frau von Kalbs eine ›Entsagung nach Texten‹ nach dem Modell eines Liebens nach Texten*. Bezugstext bilden dabei die Memoiren der französischen Mystikerin und Quietistin Jeanne Marie Bouvier de la Mothe (Motte) Guyon (1648–1717): La vie de Madame J. M. B. de la Mothe Guion écrite par elle-même.331 Die Fremdsprache Französisch, die in Jena für sie noch ein Medium der Verlockung auf fremdem Terrain gewesen ist, wird nun zur gemeinsamen Sprache, um gegenseitiges Entsagen zu beschreiben und zu fordern: sie (Frau von Kalb/Madame Guyon) entsagt dem liebenden Verständnis, er (Richter/Jean Paul) dem lesenden Verständnis der Mitwelt, aber im Einvernehmen darüber lieben und verstehen sie sich, so die Pointe des Arguments, untereinander dann doch: Was sie [Madame Guyon, Anm. J.P.] über die Geistliche Redekunst sagt ist auch sehr verstandig u. hat sich auch bey J. P. bewärth gefunden. – SIL-Y-A DANS LE MONDE UNE AME INTERIEURE IL SEMBLE QUE BIEN DES MEAUX LUI SONTS RESERVÉE – Y QUE L’ORAISON EST PEU AVANCÉE – SI ELLE EST APLAUDI QUELLE À DE LA PUISSANCE DANS LES SENS – MAIS NON PAS DANS LE CENTRE –332
Während die hier zitierte französische Passage wohl nur überlieferungsbedingt am Ende des Briefes steht, endet ein anderer Brief, den Charlotte von Kalb später als jenen zu schreiben beginnt, aber früher beendet (er stammt vom 2. Juli 1796), mit einem französischen Satz, der eindeutig die Schlussformel ersetzt: Soll ich noch ein Zeichen geben? Wie fanden sich heute, entfernt, doch unsere Gemüter! Wir waren uns näher, als da wir nahe waren. Ich habe eine heitere, frohe Stimmung ohne Sie und möchte Sie um alles nicht vermissen. Es ist gut daß ich mich so gewohne, daß meine Seele immer da ist es wird mir eine so darstellende Sprache geben, und in Ideen wird sich meine Existenz verwandeln, wie die laut und mit Worten beten, die der Gottheit persönliche Eigenschaften geben. Aber der Glaube an die Unsichtbaren hat sich leider vermindert. Es ist nicht gut für uns, denn die Freunde und Liebhaber haben sich darum nicht vermehrt, und die Ideale des Gemüts und der Phantasie sind seltener worden. Also bald wieder sichtbar, bald, wie wäre es anders möglich, wenn nicht alles ein Rauch ist. Mein Mann dankt herzlich für Ihr Andenken, er ist heute sehr heiter, ich schreib’ morgen wieder und Montag geb’ ich den Brief auf die Post. —
330
331 332
IV 2, 205,15–25, Nr. 120; Textgrundlage: Abschrift Eduard Berends, eingelegt in sein Handexemplar von Briefe von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin, hg. von Paul Nerrlich, Berlin 1882, h: SNM Marbach, Nachlass Berend. 3 Bde., Köln: Jean de La Pierre 1720. IV 2, 207,5–10.
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Dem Herrn von Oertel meine Empfehlung. er bringt mir vielleicht etwas von Iena mit, das wäre ein Morgen Gruß. QUE LE TEMPS ME DURE PASSÉ LOIN DE TOI!333
Mit diesem Brief antwortet Frau von Kalb auf Richters Abschiedsbillet, das nicht überliefert ist, aber aus ihren Dankesworten – auch im Namen ihres Mannes – erschlossen werden kann.334 Sie weiß, dass Richter ihr nicht mehr aus Weimar wird antworten können: Unmittelbar, nachdem er das Schreiben empfangen hat, bricht er in Begleitung seines Gastgebers Ludwig von Oertel in Richtung Jena zum Heimweg nach Hof auf. Wie im gleichzeitig fortgeschriebenen Brief zur Guyon-Lektüre, der in diesem Brief erwähnt wird als jener, der am Montag auf die Post gegeben wird, hat sich auch hier in der französischen Passage des Schlussabsatzes die affektive Funktion der Fremdsprache im Zeichen des Abschieds gegenüber dem Jenaer Brief vom 24. Juni verändert. Frau von Kalb weiß aber, als sie diesen Brief absendet, dass Richter sich noch im Einflussbereich der Residenzstadt aufhält, dem »Ereignisraum« Weimar/Jena,335 und also signalisiert sie ihm an dieser Stelle just das Gegenteil dessen, was sie gleichzeitig im Brief mitteilt, der noch in Arbeit ist und den er erst in Hof erhalten soll: wo dort Entsagung versprochen wird, wird hier Nicht-Entsagung postuliert. Ausdrucksmedium der Nichtentsagung ist ein Lied: Charlotte von Kalb zitiert nach den Anfangsversen des berühmten, sich nur im Umfang dreier Töne bewegenden Liedes, das 1781 unter dem Titel Air de trois Notes in Jean Jacques Rousseaus Liedersammlung Les Consolations des Misères de ma Vie, ou Recueil d’Airs, Romances et Duos ohne Nennung des Textdichters erschienen ist (der Anfang lautet im Original: « Que le jour me dure | Passé loin de toi! »).336 Das Lied wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt und von zahlreichen Komponisten neu vertont, unter anderem von der Weimarer Kammersängerin Corona Schröter.337 Vielleicht hatte diese ihre Vertonung am 16. Juni, jenem für die Beziehung zwischen Charlotte von Kalb und Richter so denkwürdigen Tag, für ihn gesungen.338 Frau von Kalb aber betrachtete Corona Schröter, wie sie an anderer Stelle gegenüber Richter bekennt, als Freundin und als Konkurrentin: »Sie zieht mich herab, ich gehe nie allein mit ihr«, so hat sie
333 334 335
336
337 338
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III 2, 204–205, Nr. 119; Textgrundlage: Druck und Abschrift. Vgl. III 2, 534, Fehlender Brief 13. Vgl. Klaus Manger, Dichter und Schriftsteller. Schreibende Bürger, Nationalautoren und Weltbürger im Ereignisraum von Weimar und Jena um 1800. In: Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800, hg. von Gonthier-Louis Fink, Andreas Klinger, Frankfurt/M. u.a. 2004, S. 155–200. Les Consolations des Misères de ma Vie, ou Recueil d’Airs, Romances et Duos, Paris: De Roullede de la Chevardiere, S. 97, Nr 53. Der Text des um 1800 sehr geschätzten »Trichordiums« stammt vermutlich von Rousseau selbst. Vgl. Corona Schröter, Gesaenge mit Begleitung des Fortepiano, Weimar 1794, Nr. 8. Vgl. IV 2, 661, Erläuterung zu S. 184,27–29; vgl. auch III 2, 223,1–2, Nr. 356.
ihm in jenen Zeilen gestanden, deren Indezenz sie dann sogleich bedauert.339 Nun zitiert sie das Lied aber nicht in der deutschen Übersetzung Johann Friedrich Wilhelm Gotters, die Corona Schröter ihrer Vertonung zugrundelegt (»Wie der Tag mir schleichet«, so lautet dort der Anfang des Liedes);340 im Namen des französischen Originals beansprucht sie auch den Affekt des Liedes für sich – gegen die Konkurrentin, die das Privileg erhalten hatte, Richter zum Abschied zu portraitieren. Jene mag Richters Bildnis haben, sie aber teilt die fremdsprachigen Schlüssel-Worte mit ihm, in denen sich das Verlangen aussprechen darf. Damit wird der aus Weimar scheidende Richter noch einmal in das System einer verschlüsselten Liebesbriefkultur eingebunden, die das Leben im Ereignisraum grundiert und durchwebt.341 Allerdings handelt die Strategie der Intensivierung* in Gestalt eines Liebens nach (Lied-)Texten* mit einem öffentlichen Gut. Rousseaus Lied ist publiziert und in unzähligen Abschriften als eine Art Samisdat der Liebe verbreitet. Auch Charlotte von Kalb scheint Richter in einem nicht erhaltenen Brief die Zusendung des Liedes versprochen zu haben.342 Von der Erfüllung dieses Versprechens aber lässt sie sich dann aber durch das Auftreten einer neuen Konkurrentin um die Gunst Richters abhalten, die einige Monate nach seiner Rückkehr aus Weimar in sein Leben tritt: die aus dem Baltikum stammende Freifrau von Krüdener. FREMDSPRACHIGKEIT343 – Barbara J u l i a n e von Krüdener besucht Richter aus eigener Initiative im August 1796 in Hof. Am 22. November 1764344 in Riga als Tochter des Barons Otto Hermann von Vietinghoff und
339 340 341
342 343
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IV 2, 184,29–30, Nr. 101. Vgl. Johann Friedrich Wilhelm Gotter, Gedichte, Bd. 1, Gotha: Ettinger 1787, S. 235 und Corona Schröter, Gesaenge, Nr. 8. Corona Schröters teilweise chiffrierter Liebesbriefwechsel ist fragmentarisch im Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik-Stiftung Weimar samt den Konkordanzen zu den verwendeten Chiffren überliefert (GSA 14/96 und 14/110); auf dieser Grundlage wurden sie von Caroline Gille entschlüsselt und veröffentlicht, vgl. Rolle des Lebens. Corona Schröter zum 250. Geburtstag, hg. von Caroline Gille und Bettina Werche, Stiftung Weimarer Klassik, Goethe-Nationalmuseum 2001, S. 52–67. Vgl. IV 2, 434, EB 51. Leisi betrachtet Fremdsprachigkeit als einen begünstigenden Faktor des Verliebens (Paar und Sprache, S. 15 und 111–114), doch sollte in historischer Perspektive (und zumindest auf den deutschsprachigen Raum bezogen) nicht übersehen werden, dass für Briefkommunikation, die bei Leisi weitgehend ausgeblendet wird, der Sprachmodus der Muttersprache erst briefstellerisch gegenüber der Fremdsprachigkeit durchgesetzt werden musste (vgl. Anderegg, Schreibe mir oft, S. 12–13 und S. 19). Vgl. auch Erich Unglaub, Liebesbriefe in fremder Sprache. Rainer Maria Rilkes Briefe an Adelmina Romanelli. In: Der Liebesbrief, S. 181–204. Am 11. November nach dem damals in Russland noch gültigen Julianischen Kalender; aufgrund der Umrechnung vom Julianischen zum Gregorianischen Kalender finden sich in der Literatur abweichende Daten; da im Julianischen Kalender das Jahr
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dessen Ehefrau Anna Ulrika von Vietinghoff geb. von Münnich geboren, wird ihre Biographie von Anfang an aus geographischen, soziologischen und historischen Gründen von einer Sprachpluralität und daraus resultierenden Sprachunsicherheit geprägt. Ihre Eltern stammten aus traditionsreichen deutsch-baltischen Adelsfamilien; sie ist die zweitälteste Tochter von insgesamt sieben Kindern des Paares. Ihrem Stand gemäß wächst sie zumindest zweisprachig (deutsch und französisch) auf. Ihre Kindheit, Jugend und ersten Ehejahre verlaufen in der Bahn eines mondänen und vielsprachigen Adelslebens in ganz Europa. 1782 heiratet sie den russischen Gesandten Baron Burchard Alexis Constantin von Krüdener (1744–1802), am 31. Januar 1784 wird der Sohn Paul (†1858) als Halbbruder der aus einer der beiden geschiedenen Ehen des Barons stammenden Tochter Sophie (*1773) geboren, 1787 wird die Tochter Juliette geboren. Ehedifferenzen und (möglicherweise nur vorgeschobene) Gesundheitsprobleme Julianes führen im Mai 1789 zu einer ersten vorläufigen Trennung des Ehepaares; Juliane begibt sich zunächst nach Frankreich, wo sie sich in Paris, später in Montpellier und dem Badeort Barèges in den Pyrenäen aufhält. Dabei lernt sie neben anderen Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern den Schriftsteller Bernardin de Saint-Pierre kennen, dessen Werke bis zur Bekanntschaft mit Richter ihr literarisches Leitbild sind, und geht ein zweijähriges leidenschaftliches Liebesverhältnis mit dem Husarenoffizier Charles de Frégeville ein. Da sich ihr Mann trotz verschiedener öffentlich bekannter Liebschaften Frau von Krüdeners weigert, einer Scheidung zuzustimmen, begibt sie sich nach dem Frankreichaufenthalt wieder auf ihr Gut in der Nähe von Riga, kehrt von dort mehrfach für kurze Zeit zu ihrem Mann zurück oder hält sich zwischen 1793 und 1796 außer in Hannover hauptsächlich in Leipzig auf, wo ihr Sohn erzogen wird.345 Am 17. August 1796 macht Frau von Krüdener auf einer ihrer Reisen Station in Hof, um dort Jean Paul Richter aufzusuchen, der im Namen, mit dem er die Vorreden seiner Bücher unterzeichnet, die beiden Umgangssprachen Frau von Krüdeners vereint. Damit wagt sie den Schritt, den zu Beginn des Jahres auch Ahlefeldt unternommen hat: die unvorbereitete, initiative Kontaktaufnahme zum Dichter. Der Briefwechsel, der aus der Begegnung erwächst, wird schon sehr schnell als Liebesbriefwechsel kommuniziert und wahrgenommen. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Charlotte von Kalb, seit der persönlichen Bekanntschaft mit Richter im Frühsommer 1796 dessen privilegierte Gefühls-Korrespondentin, bereits in ihrem Brief vom 29. August 1796 eine spezifische Form der brieflichen Artikulation von Eifersucht* zu erken-
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1800 ein Schaltjahr war, vergrößert sich der Abstand zwischen den Kalendern nach diesem Datum um einen Tag. Die Darstellung folgt der einleitenden Erläuterung zu IV 2, Nr. 135, sowie Francis Ley, Madame de Krüdener et son temps. 1764–1824, Paris 1961; vgl. ders.: Madame de Krüdener. 1764–1824, Paris 1994.
nen gibt, nämlich die Weigerung, Richter die Noten zu Rousseaus Air de trois notes von Weimar nach Hof zu senden: »Ich habe L’AIR À TROIS NOTES, aber dieß kann ich nun nicht aus meinen Händen geben, daß damit aus Jean Paul’s Herzen eine andere Sehnsucht ausgedrückt werde. Noch nicht, aber bald bin ich vielleicht resigniert genug« (IV 2, 233,15–18, Nr. 136). Charlotte von Kalbs in der Folgezeit forcierte Lektüre französischsprachiger Texte, namentlich aber der Schrift De l’influence des passions sur le bonheur des individues et des nations der Madame de Staël,346 die sie als spezifisch weibliche Solidaritätsbekundung in Buchform begreift (IV 2, 265,23–28, Nr. 161, vgl. den Abschnitt Emanzipationsansprüche*), kann mithin auch als Reaktion auf die Konkurrenz Juliane von Krüdeners und deren Zweisprachigkeit sowie den Richter unterstellten Wunsch gedeutet werden, das französische Sehnsuchtslied in ein konkurrierendes System intimer Kommunikation einzubauen. Frau von Kalbs Eifersucht ist wohl nicht unbegründet. Dass in den ersten charakterisierenden Mitteilungen, die Richter gegenüber Dritten über Frau von Krüdener vorträgt, die Fremd- bzw. Zweisprachigkeit allenfalls eine Nebenrolle spielt, ist in dieser Hinsicht kaum verwunderlich. An Christian Otto schreibt er: »Vormittags war die Gemahlin des russischen Gesandten in Dänemark (KRÜDNER) bei mir und gab mir eine trunkne Freude und Rührung wie ich noch bei keiner Frau gehabt, weil sie ist wie keine« (III 2, 231,17–19, Nr. 378). Der Akzent liegt erneut, wie schon im Falle der Frau von Kalb, auf einer Verschiebung im Geschlechterverhältnis*. Der Begründungssatz »weil sie ist wie keine« ist doppeldeutig, da er – namentlich in dialektaler Lesart* – auch als ›weil sie ist als wäre sie keine‹ verstanden werden kann. Allenfalls die Tatsache, dass Richter den Namen Juliane von Krüdeners in lateinischer Schrift schreibt, kann als Nebenhinweis auf die Schwierigkeit gelesen werden, die neue Bekannte sprachlich einzuordnen, doch verfährt Richter in anderen Fällen, die nicht diese Besonderheit aufweisen, ähnlich. Im Übrigen behandelt Richter den Familiennamen der neuen Bekannten so, wie er es bei Frau von Kalb kennengelernt hat: er wird – in diesem Falle durch die Klammer – mit einer Art Bann, der der Institution Ehe gilt, belegt, von dem die Ehefrau, die den Namen trägt, freigesprochen wird, da die Ehe nur durch Konvention legitimiert ist. Im Vordergrund der Briefberichterstattung Richters steht jedoch ganz offensichtlich der Versuch, einem Vordringen des schlechten Leumunds, der Frau von Krüdener vorauseilt, brieflich zuvorzukommen und ihn vorbeugend in Abrede zu stellen. An Caroline Herder schreibt Richter nach Weimar, wohin Frau von Krüdener angeblich reisen will (was dann aber doch nicht in die Tat umgesetzt wird):347 346 347
Lausanne: Mourer 1796. Seine Informationspolitik zielt dabei auf nichts weniger als auf eine emotionale Schonung der Konkurrentin Charlotte von Kalb: Der Brief an Caroline Herder geht mit
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Die Gemahlin des russischen Gesandten in Dänemark (KRÜDNER) die bei mir war und vor diesem Briefe bei Ihnen ankommen wird, giebt meiner wärmsten Achtung für Ihr Geschlecht, die im J u n y wie andere Blumen so sehr wuchs, gleichsam neue schirmende Blumenstäbe. Die Engel in Ihrem Geschlecht sind nicht gefallen, sondern bedekt wie Portici und die Schnitte der Kultur, die oft dem Manne den Birkensaft abnehmen, geben blos der vollen weiblichen Nelkenknospe eine rhythmische Entfaltung. Jene Frau verdient Ihre Umarmung.348
Richter klammert erneut den Ehestand ein (beziehungsweise aus), setzt aber in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis* einen anderen oder zumindest einen eindeutigeren Akzent als im Brief an Otto: Unter Verweis auf den JuniBesuch in Weimar – und besonders natürlich bei der mit den Herders befreundeten Frau von Kalb, deren Name gleichwohl nicht genannt wird –, versucht er eine Neubestimmung seines eigenen Verhältnisses im Geschlechterverhältnis. Der floralen Metaphorik mit ihren konventionellen UnschuldsKonnotationen liegt ein verdeckter Komplementärbezug zugrunde, derjenige zum Ruf erotischer Freizügigkeit, der Frau von Krüdener vorauseilt – ob real oder nur in den Befürchtungen Richters, ist zweitrangig. Die Erwähnung der gefallenen Engel spielt auf diesen Kontext an. Da sich aber die vielsprachige, mondäne Juliane von Krüdener schwerlich ins Bild der Frau als Naturwesen einpassen lässt, wird die Idee ursprünglicher Natur auf eine – untergründig dann doch sexualisierte – Gärtnerei-Metaphorik übertragen. Die neutralisierende Schlussfolgerung »Jene Frau verdient Ihre Umarmung«, die erneut ein Szenario der Unschuld aufruft (im Sinne etwa der in Garten-Szenerien eingefügten Genrebilder natürlicher Affekte bei Chodowiecki), gleicht die eigentlich unvereinbaren Argumentationslinien mehr oder weniger gewaltsam aus. Richter muss jedoch seine Taktik geschlechterspezifisch anpassen, wenn er an Friedrich von Oertel, den Bruder des Weimarer Gastgebers Ludwig von Oertel, nach Leipzig schreibt, wohin Frau von Krüdener ebenfalls reisen will; hier wird der Ehestand nicht mehr in Klammern gesetzt, der Name aber doch weiterhin in strikte Verbindung mit dem Ehemann gebracht: D. 17ten war die Frau des russischen Gesandten in Dänemark bei mir, eben diese Krüdner, die vielleicht wieder von WEIMAR in LEIPZIG ist. Sie ist eine Seele, wie ich sie kaum noch im Pantheon der Ideale gesehen: die NOTAE CARACTERISTICAE an ihr sind ewiger Friede und Freude in sich – ob sie gleich alles genossen – eine weite Menschenliebe, die nichts mit sentimentalischem erotischem Eigennuz gemein hat – und eine gute Meinung, die sie von andern, Andere von ihr haben. Sie müssen dieses warme Herz, dem meine Bücher sein Italien und sein Eden fast wiederholet haben, kennen lernen: äusserlich ist sie unbedeutend, das klare reine warme Auge ausgenommen, das sich in 5/4 Stunden bei mir so oft in Thränen verklärte, denen meine
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gleicher Post wie einer an Frau von Kalb und vermutlich auch als inkludierende oder inkludierte Sendung nach Weimar ab. Richter muss dabei davon ausgehen, dass zumindest der Brief an Caroline Herder von Frau von Kalb zur Kenntnis genommen werden wird (ob umgekehrt auch das Schreiben an diese durch jene, bleibt ungewiss). III 2, 233,27–35, Nr. 380; Textgrundlage: Originalhandschrift.
folgten. Sobald sie in LEIPZIG ist, komm ich nach Leipzig: ich habe nun ein doppeltes Ziel, eine doppelte Freude. Ich weis, ich lobe jeden, und noch mehr jede in der ersten Minute zu sehr, in der mittlern zu wenig, in der lezten gerade recht; aber wie sol ich anders?349
Der Briefwechsel Richters mit Frau von Krüdener setzt gleichzeitig mit dem Brief an Oertel ein: Mit gleicher Post schreibt er an sie nach Leipzig – und man muss sich klar machen, dass die beiden Briefe tatsächlich zusammen transportiert wurden, wobei allerdings zu beachten bleibt, dass Richters Mitteilung an sie im Unterschied zum Brief an Oertel nur im Briefkopierbuch überliefert ist: Die Stunde worin ich Sie hörte, fliesset wie ein Abendroth immer weiter unter den Horizont, Ihr Brief mus ihr wieder Farbe geben. Sie kamen wie ein Traum, Sie flohen wie ein Traum und ich lebe noch in einem Traum. Saturnin [sagt,] die Engel hätten Menschen geschaffen wie Gott, hätten sie aber nicht in die Höhe richten können, bis Gott durch einen Funken sie beseelte und aufstelte. Solche liegende Menschen sind die meisten – Gott schlug in wenige einen Funken, der sie aufrichtet. In Ihrer Seele glüht dieser Sonnenfunke und Ihr innerer Mensch steht unter den liegenden kalten Gestalten aufrecht und sein weiter Blik geniesset zugleich den Himmel und die Erde. Grosse Tugenden sind in irdischen Augen Fehler, wie die Fluren des Mondes sich uns in der Ferne als Flecken darstellen. – Der Glaube an Vernichtung – diese Seelen Guillottine und Füssilade. Ich wolte, heute wäre der 1 Januar, damit mein Herz sich in gerechtf[ertigte] Wünsche für Ihres auflös[ete]. Aber jeder Tag ist für mich ein erster Januar und alles was in die laue Nacht dieses flatternden Lebens Mondlicht und Violenblüten wirft und alles was ins einfärbige Grün auf dem stehenden Wasser unsers Daseins einzelne Blumen flicht etc.350
Auch hier wird offenkundig gegen den Leumund angeschrieben, indem das Ideal des »hohen Menschen« gegen die »liegende« Menschheit in Stellung gebracht wird. Hinsichtlich Textkonstitution und Kommentierung des Briefes, für die durchgängig der Vorbehalt der abschriftlichen Überlieferung zu beachten ist, gibt es zumindest einen Aspekt, der im Zusammenhang mit der muttersprachlichen Differenz zwischen Richter und Frau von Krüdener zu bemerken ist. Dies betrifft nicht die Ergänzungen in den Wörtern »gerechtf[ertigte]« und »auflös[ete]« beziehunsgweise die Konjektur »sagt,«, die mit großer Wahrscheinlichkeit im Originalbrief vollständig auf dem Papier standen, sondern den Namen Saturnin. Berend vermerkt im Kommentar »richtig Saturnil« (III 2, 471) und verzeichnet die Stelle im Gesamtregister der Dritten Abteilung der HKA unter dem Namen des zu Anfang des 2. Jahrhunderts lebenden und aus Antiochia stammenden Gnostikers Saturnil,351 der allerdings in der theologischen Überlieferung zumindest gleichgewichtig auch unter dem Namen Saturnin tradiert wird (Berend trägt dem Rechnung, indem 349 350 351
III 2, 235,27–236,3, Nr. 385; Textgrundlage: Originalhandschrift. III 2, 235, Nr. 384. III 9, 250.
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er diese Namensform in Klammern beifügt). Nur scheinbar aber, so ließe sich argumentieren, wird die von Jean Paul bezeichnete Person durch Berends Kommentar angemessen repräsentiert. Denn durch die Wahl der Namensform »Saturnin« schwingt im Brief zugleich der Name von Juliane von Krüdeners literarischem Idol Bernardin (de Saint-Pierre) mit, gleichsam dem Vorgänger Richters als Idealdichter Frau von Krüdeners.352 Damit wird die Stelle zu einem Kreuzungspunkt der Kräfteverhältnisse im literarischen und amourösen Feld. Dass Richter Frau von Krüdeners ehemalige literarische Vorliebe mit ihrer Person assoziierte, belegt ein wenig später geschriebener Brief an Charlotte von Kalb, in dem er schreibt: »Durch die Krüdner sind mir die ETUDES DE LA NATURE von St. Pierre bekant worden. Sie kennen sie wohl? Rousseau hat auf ihn gewirkt, aber nach ihm hat auch keiner weder schöner noch wahrer geschrieben« (III 2, 270,30–32, Nr. 456 vom 8.11.1796; Textgrundlage: Kopie und Konzept). Aus philologisch und psychologisch nachvollziehbaren Gründen geht Charlotte von Kalb auf diesen Hinweis nicht ein, der ihren Versuch der Positionswahrung auf dem Gebiet des Französischen und der Koalition mit Rousseau durch die Rückendeckung Madame de Staëls unterläuft. In einer historisch-kritischen Ausgabe allerdings würde der Hinweis auf Bernardin im Kommentar gleichwohl zu einer philologischen Überrepräsentation führen, zumal Richter später auch im Jubelsenior (1797) den Hinweis auf die menschenschaffenden Engel unter der Namensform »Saturnin« einrückt.353 In einem auf Liebesbriefkultur hin orientierten erweiterten Kommentar hingegen wäre die Nuance zu vermerken. In Juliane von Krüdeners Antwortbrief aus Leipzig ist auf Text- und Kommentarebene die Frage ihrer allenfalls partiellen, vom Französischen überlagerten Muttersprachlichkeit sehr viel konkreter fassbar. Nicht allein die Tatsache, dass sie den Brief mit der Ortsangabe »Leipsig, den 27 august« versieht (IV 2, 232,12, Nr. 135; Textgrundlage: Originalhandschrift) macht ihre Unsicherheit deutlich. In der Anfangspassage des Schreibens, deren Bezugspunkt vermutlich eine Bemerkung Richters ist, die entweder in der Kopie seines Briefes nicht enthalten ist oder von Frau von Krüdener seinen Sätzen als implizite Aussage zugeschrieben wurde, schreibt sie: Auch Sie werden mir unvergeßlich seyn, mehr noch aus dem, was ich sahe, aus dem was ich fühlte, als ich sie sahe; als aus dem, was ich laß, als ich in Ihren Werken so offt mit tiefer Rührung Sie bewunderte: unvergeßlich ist mir die Stunde, wo Ihr Auge, der Ton Ihrer Stimme, daß unbeschreibliche Ganze Ihrer Empfindungen in Ausdruck
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Zur Rolle Bernardin de Saint-Pierres als dem neben Rousseau führenden (und heute weniger bekannten) Vorbild für ein »Lieben nach Texten« vgl. Leisi, Paar und Sprache, S. 81; zur Rezeption des Romans Paul et Virginie vgl. Hinrich Hudde, Bernardin de Saint-Pierre. Paul et Virginie. Studien zum Roman und seiner Wirkung, München 1975. Vgl. I 5, 505,34–36.
und ACCENTEN übertragen; mir die schönste der HARMONIEN darstellte — Erckentniß mit Gefühl verbunden — 354
Die Betonung des rhythmischen und musikalischen Aspektes der Kommunikation (Akzente, Harmonien) verweist auf eine Unschärfe der erinnerten sprachlichen Wahrnehmung. Diese Unschärfe geht dann nahezu unmerklich (auf der Brücke des Gedankenstrichs) über in die Konfession der eignen sprachlichen Halbmächtigkeit: Ich weiß nicht ob ich mich deutlich mache, Sie wißen es wie unvollkommen ich Ihre Sprache besize; Sie werden es aber ahnden was ich dencke, denn ich fühle es mit unbeschreiblicher Zufriedenheit daß Sie mich ganz begreifen können; und daß das wenige was Sie von mir sahen hinreichend war, um Ihren Blick bis in daß innerste meines herzens zu leiten; o wie wenige Menschen können mich verstehen.355
Auch Juliane von Krüdener geht es mithin um eine Zurückweisung des üblen Leumunds, der ihr vorauseilt. Die Übereinstimmung mit Richter in einer ›höheren‹ sprachlosen Sympathie depotenziert den Leumund, die mangelnde Sprachkompetenz wird dabei vom Nachteil zum Vorteil. Das rhetorische Muster einer Umkehrung von Defizienz in Überschuss bildet ein Leitmotiv des Briefes, der zugleich Richters Gesellschaftslehre vom höheren und gemeinen Menschen aufnimmt: Aus fehlern die ich begieng bildete sich mein CHARACKTER – Unglück führte mich zu erhabnen Genüßen; so wie fehltritte mich lehrten beßer zu gehen, Ich sagte Ihnen ich wäre nie betrogen worden, selten wenigstens. ich meyne von Menschen, von solchen in denen auch nur ein funcken Empfindung lag u. die ich rühren konte — von einer niedrigeren Gattung wurde ich offt beleidigt, INSECTEN stachen mich offt; u. dise Stiche sind vergeßen so wie ich es mir nicht mehr erinnere wenn ich von Mücken beschwert wurde […] Ich habe den Berg erklimmt, den kleinere Geister nicht die krafft haben zu ersteigen, u. wo so gar der Schall ihrer Stimme meinem Ohr nicht mehr DISHARMONIE ist, wo ich ihn nicht mehr höre.356
Undeutliche Erinnerungen an die Alpen und Pyrenäen (S. 230,32–231,4; ob Richter über ihre dortige leidenschaftliche Pyrenäen-Affäre mit Charles de Frégeville informiert war, ist unklar, es ist aber eher unwahrscheinlich) führen sie dann erneut zurück zur Beschwörung der durch genialische Intuition zu überbrückenden Sprachdifferenz: O könte ich Ihnen doch daß mit den farben vortragen die in meinem herzen sind; u. die ich meiner Sprache nicht geben kan ich komm mir selbst vor wie eine reiche Gold Grube die ihren Werth zwar kennt; sich aber selber nicht sichtbar machen kan, so trage ich zwar einen Schatz u. lebe von ihm, aber nur daß Auge des PHILOSOPHEN, das die schönen thränen des Gefühls kennt, nur dises Auge, kan mich durchschauen u. konte den Gedancken meines I c h s aus der Wiege nehmen worin es für die Men354 355 356
IV 2, 229,13–19; Textgrundlage: Originalhandschrift (so auch bei allen anderen im Folgenden zitierten Briefen Juliane von Krüdeners an Richter). IV 2, 229, 13–26. IV 2, 230,9–24.
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schen schlummerte ihn den menschen zeigen fühlbar machen, u. meine duncklen Gefühle den stempel der Deutlichkeit aufprägen; daß kan die hand des GENIES — aber auch dem GENIE ist es gegeben, alle Moralische NUANCEN, alle schöne obgleich dunckle Gefühle, zu begreifen zu entfalten, zu fühlen — u. so weiß ich daß Sie mich verstehen werden; selbst in meiner undeutlichen Sprache; Mein herz schreibt ihnen, u. meine feder fließt.357
Richters Antwort aus Hof vom 3. September 1796 ist gleichsam ein Echo dieser Überlegungen: Auch er analogisiert die erhabene Gebirgsnatur und die hohe Menschennatur: »Ich wohne unter Eisbergen und Eisthälern, darum hab’ ich eine schöne Vergangenheit so lieb – wenn die warme Sonne längst über meine Gletscher hinuntergezogen ist, so glimt an diesen der durchsichtige Purpur der bedekten Göttin nach« (III 2, 240,21–24, Nr. 397; Textgrundlage: Kopie) Dann aber erhält die Frage der sprachlichen Halbkräftigkeit Frau von Krüdeners eine neue Wendung: »Sie schreiben nicht wie eine Deutsche sondern wie ein Deutscher, nämlich besser als jene« (III 2, 240,24–25). Berend kommentiert hierzu: »Frau von Krüdener, die gewohnt war, französisch zu schreiben, entschuldigt sich in B [beantworteter Brief] wegen ihrer unvollkommenen Sprache« (III 2, 474). Ein in Hinblick auf Liebesbriefkultur erweiterter Kommentar müsste an dieser Stelle erneut auf die Konkurrenzsituation zu Frau von Kalb eingehen, deren Deutsch in Orthographie und Grammatik zumindest ebenso eigenwillig war wie dasjenige Frau von Krüdeners. Als Gegenstimme erhebt sich zugleich eine Bemerkung Georg Christian Ottos, der vermutlich ungefähr gleichzeitig an Richter schreibt: »Die Kalb ist bei alle dem geistreicher [als Juliane von Krüdener, von der im Brief Ottos zuvor die Rede ist, Anm. J.P.]« (IV 2, 235,6–7). Demungeachtet nimmt Juliane von Krüdener von nun an die mangelnde Sprachkompetenz als eine Art privilegierte Zugangsberechtigung zur ästhetischen Welt Richters für sich in Anspruch. Im nächsten Brief an ihn, der nunmehr (teils verbessert, teils verschlechtert) »Leipzig den 9te September« datiert ist, schreibt sie: Sobald also es mir meine Geschäffte erlauben meine Rückreise nach BAREUTH anzutreten hoffe ich es zu thun u. Sie in HOF zu sehen […] möge ich es imer werth seyn in disen schönen Paradise NATURALISIRT zu werden: u. Ihnen zu zeigen daß die schönen Bilder der Tugend die seeligen Empfindungen die in Ihren Wercken sind auch in meinen herzen leben […] Mitten im Geräusch den man um mich macht schreibe ich flüchtig dise Zeilen um die Post nicht zu versäumen […] werden Sie disen unzusammenhängenden, Brief verstehen können u. Mitten unter mein fehlerhafften Art mich auszudrücken in einer Sprache die ich fehlerhafft schreibe. werden Sie meine Gedancken folgen, doch ich bemächtige mich Ihrer Nachsicht, noch ehe ich selbige verdient habe, denn die Tugenden des Weisen sind, daß Eigenthum des ganzen Menschengeschlechts.358 357 358
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IV 2, 231,5–19. IV 2, 235,33–236,23, Nr. 139; Textgrundlage: Originalhandschrift.
Dass das Paradies, in dem Juliane von Krüdener auf Naturalisierung hofft, nicht bei Bayreuth sondern bei »Bareuth« liegt, macht die Korrektur von Leipsig zu Leipzig zumindest wett. Tatsächlich trifft sie im Oktober wieder in Oberfranken ein, um von dort aus in die französische Schweiz weiterzureisen. Nach zumindest zwei Begegnungen in Bayreuth (am 15. und 16. Oktober 1796) wird der Briefwechsel wieder aufgenommen. Die Perspektive ins frankophone Ausland prägt nun auch die intime Briefaussprache um. Das Leitmotiv der Alpen setzt sich fort, wird jetzt aber zu einem konkreten Zeichen: »Die hohe Natur wird Sie mit Pharusthürmen der Gletscher und mit den unbelebten Titanen der Alpen umfassen und verhüllen – und ich werde von Ihrer vollen Seele nichts haben als die Hülle ihrer Hülle – einen FarbenWiderschein, Ihr Bild«, so schreibt Richter am 19. Oktober 1796 (III 2, 260,18–21, Nr. 437; Textgrundlage: Kopie). Auch die Sprache wird nun zu einem gleichsam körperlichen Zeichen und umgekehrt werden die körperlichen Zeichen zu buchstabenlosen Briefen: »Briefe [sind] Silhouetten der Seele. […] ich bitte Sie gleich stark um einen Brief und um e[inen] französ[ischen]. Ihre Locke würd’ ich nicht wie Bereni[zens] ihre in den Himmel versezen: denn sie ist mir einer« (III 2, 260,25–27). Wenn die Sprache mit gleicher Macht Gegenwart repräsentieren soll wie Bild und Haarlocke, dann muss sie den aktuellen Aufenthaltsort repräsentieren: Der Brief darf also nicht die Sprache des vergangenen und verlassenen »Paradieses« Bayreuth sprechen, sondern muss die des entfernten helvetischen annehmen, dessen Grundsprache (auch in der Deutschschweiz) für Richter die Sprache Rousseaus, nicht diejenige Pestalozzis ist. In dieser vielfach (geographisch, literarisch, linguistisch) codierten Konstellation kommt es nahezu zwangsläufig zu einer Unterrepräsentation der briefstellerischen Phänomene im Kommentar. Berend verweist zur Erläuterung auf Frau von Krüdeners Antwort, welche in der Handschrift lautet: »aus ZURICH hoffe ich Ihnen zu schreiben u. nunmehro französisch« (IV 2, 245,22–23). Berend indes zitiert den Satz in orthographisch bereinigter Form: »Zürich« (in deutscher Schrift) statt »ZURICH« (lateinische Schrift), »und« statt »u.« sowie »nunmehr« statt »nunmehro« (III 2, 480, Erläuterungen zu Nr. 437). Damit werden zwei wichtige Sprachmerkmale im Kommentar unkenntlich gemacht: das Ausweichen in die Fremdsprache im Falle von »ZURICH« sowie die gleichsam kompensierende deutsch-archaisierende Form »nunmehro«. Es handelt sich in diesem Falle um eine fundamentale textkritische philologische Unterrepräsentation eines Sachverhaltes. In der Tat schreibt Juliane von Krüdener wenige Woche später von der Schweizer Grenze aus in französischer Sprache an Richter. Der Brief, beidseitig mit dicker Tinte auf transparentes Papier geschrieben, muss bereits für den Adressaten äußerst schwer entzifferbar gewesen sein, da sich Schrift und Spiegelschrift permanent ineinander verschlingen. Zahlreiche Wörter und Wendungen wiederholt Richter deshalb über bzw. zwischen den Zeilen, ganz 251
offensichtlich, um den Brief beim wiederholten Lesen flüssig und im Zusammenhang lesen zu können. Der Brief ist »Constance le 12 Nov 1796« datiert. Wie beinahe alle Briefe Juliane von Krüdeners an Richter aus dieser Zeit ohne Grußformel (auch diese Eigenart wird, wenn sie in den Erläuterungen zu IV 2 unkommentiert bleibt, damit zumindest spezifisch – in Hinblick auf Liebesbriefkultur – unterrepräsentiert), ist auch er nicht frei von Unklarheiten und Fehlern im damals bereits sehr viel stärker vereinheitlichten Französischen.359 Erneut wird die Inkommensurabilität von Gefühlen beschworen, doch wird sie an diesem Ort nicht mehr mit der individuellen sprachlichen Defizienz begründet, sondern grundsätzlich: Mais où me suis-je laissée entrainer, je ne Vous ai encore rien dit de ce que je voulais; Mais je ne veux pas Vous parler de mon amitié, elle doit être sentie et non point dépeinte, Vous savés comme j’aime La Verité et La simplicité il doit être de l’amitié comme des ouvrages achevés de l’art, Elle est sans ornement, et sa sublime beauté descend dans le coeur, y laisse L’Empreinte des Vertus et des Charmes qui embellissent L’Existence; Comme Le ciseau de Praxitèle en produisant Ces belles formes, laissait l’empreinte de la beauté. je ne Vous dirai donc rien sinon que mon amitié, est liée à Vos vertus; et qu’elle devient par làimmortelle.360
Trotz der erkennbaren – und der Schreiberin offenbar auch bewussten – größeren Schreibfertigkeit im Französischen schreibt Juliane von Krüdener ihre weiteren Briefe aus der Schweiz dann doch wieder auf Deutsch. Da Richter zunächst nicht auf ihre Briefe antwortet, treten zunehmend Beunruhigung beziehungsweise Vorwürfe in den Vordergrund, zu deren Dämpfung oder Eindämmung die Mittelsperson* Henriette von Schuckmann in Bayreuth eingeschaltet wird: Kein Wort, keine Zeile von Ihnen Lieber RICHTER und doch schreibt mir fr. SCHUCKMAN Sie hätten meine Briefe erhalten, o sagen Sie was hindert Ihr schreiben, Sie sind nicht kranck, nein, ich hätte es erfahren, man kennt die innige theilnahme die ich an Ihren Schicksale nehme, Sie sind nicht ungestimmt, könten Sie eine freundschafft verläugnen, die Ihre ganze Seele durchdrang, oder könten Sie an der meinigen zweifeln nie werde ich auch nur durch den geringsten Argwohn Ihre Seele beleidigen.361
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Für diesbezügliche Hinweise danke ich Rebecca Partouche, Berlin. IV 2, 254,13–22, Nr. 152 (Übersetzung: Doch wohin habe ich mich treiben lassen. Ich habe Ihnen noch nichts von dem gesagt, was ich sagen wollte, doch möchte ich Ihnen nicht von meiner Freundschaft sprechen; diese muß gefühlt, nicht beschrieben werden. Sie wissen, wie sehr ich Wahrheit und Einfachheit liebe. Die Freundschaft muß wie die vollendeten Kunstwerke sein: ohne Ornament; und ihre erhabene Schönheit ergreift das Herz und hinterläßt dort die Spur der Tugend und des Zaubers, der unsere Existenz verschönt; so, wie der Meißel des Praxiteles beim Herausschälen dieser schönen Formen den Abdruck der Schönheit zurückläßt. Ich sage Ihnen also nur das eine, daß meine Freundschaft mit Ihren Tugenden verbunden und dadurch unsterblich ist. IV 2, 756). IV 2, 294,14–21, Nr. 176 vom 1.3.1797.
Das sprachliche Defizit wird nun nicht mehr erwähnt. Offenbar hat es seinen Ort nur in einer Situation unbeeinträchtigter Kommunikation gehabt. Sobald kommunikative Brüche entstehen, wird das Eingeständnis der sprachlichen Defizienz zurückgedrängt. Schließlich antwortet Richter doch auf die immer dringlicheren Bitten Frau von Krüdeners um ein Lebens- und Liebeszeichen. Mit seinem Brief vom 4. April 1797 hat er nun jedoch drei Briefe auf einmal zu beantworten (die Briefe vom 12.11.1796, 17.12.1796 und vom 1.3.1797 aus Konstanz bzw. Lausanne, IV 2, Nr. 152, 162, 176). Dementsprechend schwer fällt es, die Korrespondenzbezüge philologisch angemessen zu repräsentieren, zumal der Brief nur abschriftlich im Briefkopierbuch überliefert ist. Jedenfalls betont Richter nun deutlicher als zuvor den Unterschied zwischen einer unmittelbaren und einer brieflichen Kommunikation: »Wie todtenbleich sind Briefe gegen die lebend[ige] Gegenwart. Der mit Dinte gemalte Wiederschein des innern Feuers hat nicht die Wärme, nur die Farbe des Feuers« (III 2, 319,26–29, Nr. 579 vom 4.4.1797; Textgrundlage: Kopie). Bedenkt man, dass Jean Paul in seinen vorgehenden brieflichen Evokationen der Erstbegegnung stets die außersprachliche Signifikanz des gegenseitigen Erkennens hervorgehoben hat (die Sprache der Augen, der Tränen und der Mimik), so muss dieser ernüchternde Hinweis auf die gesunkene Kommunikationstemperatur des Briefwechsels auch auf dessen sprachliche Verfasstheit bezogen werden, also auf jenen Aspekt, über den Juliane von Krüdener inzwischen beredt zu schweigen begonnen hat. Es ist allerdings unklar, ob der im Briefkopierbuch Richters überlieferte Text als realer Brief die Adressatin tatsächlich erreicht hat.362 Ihr vorerst letzter Brief an ihn von Mitte Mai 1797 beginnt jedenfalls erstmals mit einer Grußformel – die Akzeptanz der Konvention wird zugleich zum Zeichen der Resignation, die abschließende frankophone Adressangabe zugleich – trotz der zuvor ausgesprochenen formellen Aufrechterhaltung der Einladung in die Schweiz – zur Geste der stolzen epistolären Abgrenzung. Hinter diesen Fassaden der Distanz aber bemüht sie sich gleichwohl um Annäherung bzw. um Reanimation der alten Vertrautheit: Lieber Richter; Henriette hat mir geschrieben Sie hätten Ihr gesagt Sie hätten mir einen Brief geschickt und ich habe nichts erhalten nichts von Richter, der mir unvergesslich ist. Lieber Freund Ihr Herz kan mich nicht vergessen, ich bin davon überzeugt. Ich überlasse mich den neuen schmeichlerischen Hofnungen die meine liebe H. mir giebt. Sie kommen vieleicht nach Zürich o sagen Sie es mir lieber Richter, wie lieb wäre es mir, wie unendlich froh wäre ich Sie dort wiederzusehen ich käme hin: und vieliecht [sic] könte ich Sie bereden einige Zeit mit mir in der Schweitz zuzubringen ich habe eins der angenehmsten Häuser bei Lausanne was aussicht und Lage betrifft. Sie würden mich würklich sehr erfreuen, wenn Sie ein Zimmer darin annähmen dort ganz ohne Zwang mit Ihren Büchern unter dem Schatten der Alpen, lebten, u. Ihrer Freundin so einige Zeit Ihres Lebens schenken mit ofnem wahren Zutrauen das kei362
Vgl. die Erläuterung Berends, III 2, 505.
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nen Prunk kent bietet Ihnen mein Herz dises an, u. ich wäre sehr glücklich, wenn sie ja sagten Leben Sie wohl; vergessen Sie mich nicht u. schreiben Sie bald, damit ich weiss ob u. wann Sie nach Zürich kommen. Meine adresse hier ist à Mad. la Baronne de Krüder Maison Montagny à Lausanne.363
Der verschachtelte Eingangssatz, der sich direkt an die Grußformel anschließt, führt, ausgehend vom Zeugnis der Mittelsperson, kaskadenartig ins Zentrum der Empfindung, den Ort der Erinnerung an den ›Unvergesslichen‹. Daraus wird – unter Berufung auf die Evidenz des Herzens – auf einen korrespondierenden Kern in seiner Person geschlossen. Hier schreibt Frau von Krüdener nun aber »Zürich«, nicht mehr »Zurich«, wie bis dahin durchgängig in ihren Briefen an Richter.364 Die Kopplung von geographischem und sprachlichem Standort des Ichs wird also aufgehoben: sie schreibt zwar als »Mad. la Baronne de Krüder« im »Maison Montagny à Lausanne«,365 aber dies ist nur der formelle, postalische Ort ihres Herzens. Das Land und der erhoffte Ort der Wiederbegegnung lauten aber so, wie sie in seiner Sprache heißen, und dort erwartet ihn ein »Herz«, das auch sprachlich »keinen Prunk« mehr kennen will. Ihr Ruf bleibt jedoch ohne Resonanz: Richter, der zeitlebens von der Schweiz fasziniert war, kommt nicht nach Lausanne und er wird überhaupt in seinem Leben den eidgenössischen Boden nicht betreten.366
363
364 365
366
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IV 2, 331, Nr. 198 von Anfang oder Mitte Mai 1997; Textgrundlage: Abschrift Eduard Berends (h: SNM, Nachlass Berend); die Erstdrucke des Briefes geben den Text nach Berends Abschrift wieder, aber in modernisierter Schreibung und Zeichensetzung. Da einer dieser Erstdrucke von Berend selbst stammt (Eduard Berend, Jean Paul und die Schweiz, Frauenfeld und Leipzig 1943, S. 39), ist davon auszugehen, dass seine im Nachlass überlieferte Abschrift diplomatisch ist. Vgl. IV 2, 245,22, 254,25, 295,2. Das spätbarocke Maison Montagny – das heutige »Musée de l’Elysée« – war Anfang der achtziger Jahre von Abraham Fraisse für den Major Henri de Mollins de Montagny in der Nähe von Ouchy bei Lausanne auf einem Grundstück über dem Genfer See errichtet worden (vgl. Marcel Grandjean, Les monuments d’art et d’histoire du canton de Vaud, Bd. 4: Lausanne: villages, hameaux et maisons de l’ancienne campangne Lausannoise, Basel 1981, S. 17–25). Frau von Krüdener wohnte dort seit Ende November 1796. Den Sommer 1797 verbrachte sie in Aix-les-Bains. Im November 1797 kehrte sie nach Lausanne zurück, ehe sie sich aus Furcht vor der durchziehenden französischen Armee nach Rheineck begab (vgl. Ley, Madame de Krüdener et son temps, S. 137–138). »Wie Moses hat er das Gelobte Land nur von weitem gesehen« (Eduard Berend, Jean Paul und die Schweiz, S. 15).
4. Formen des Scheiterns und Gelingens Juliane von Krüdener · Wilhelmine von Kropff · Franz Wambold von Umstadt · Emilie von Berlepsch · Charlotte von Kalb · Esther Bernard
Es wurde schon betont, dass es schwierig ist, Kriterien für das Scheitern und das Gelingen von Liebesbriefverhältnissen zu finden. Folgt man den späteren Briefstellern, so würde das Gelingen durch die Stiftung einer Ehe bestätigt, das Scheitern durch die Aufhebung des Briefverhältnisses.367 Eine solche Aufhebung ist mehr als ein Abbruch. Prätendierte Intimität wird damit nachträglich annihiliert. ›Scheiternde‹ Liebesbriefverhältnisse gibt es im Dispositiv der bürgerlichen Briefsteller gar nicht: wenn sie scheitern, dann sind sie keine Liebesbriefe. Die Realität der Briefkommunikation im Umfeld Jean Paul Friedrich Richters zeigt ein mehr oder weniger scharfes Kontrastbild zum Idealismus der Briefsteller. Aus liebesbriefhistorischer Sicht interessant sind dabei jene Konstellationen, in denen mögliche Gründe für einen Abbruch aber auch Möglichkeiten der (ehelichen) Legalisierung umgangen werden. Im Falle der Juliane von Krüdener ist die einschlägige epistolare Figur die der Generalpause im RHYTHMUS DER KORRESPONDENZ.368 Erst dreieinhalb Jahre nach ihrem vergeblichen Lockruf in die Schweiz wird sie an den Stand vor der Pause anknüpfen, und zwar ganz offensichtlich mit einem Bruch briefstellerischer Konventionen. Dieser Verstoß ist zwar nicht direkt nachweisbar, aber philologisch erschließbar. Als Frau von Krüdeners Ehemann im Jahr 1800 Botschafter in Berlin wird, zieht sie in die preußische Hauptstadt, 367
368
Für beide Konstellationen bieten die Briefsteller Beispielbriefe an, vgl. z.B. die »Brautwerbungsschreiben« im Hannoverischen Briefsteller von 1808 (S. 261–264) oder die »Abschlägige Antwort auf einen Heiratsantrag (Von einem Vater)« in Ramlers Universal-Briefsteller (S. 220), die mit der Zusicherung endet: »Von Ihrem Briefe erfährt niemand etwas, selbst meine Tochter nicht« (ebd.): Der erfolglose Werbungsbrief wird behandelt, als wäre er nie geschrieben worden. Vgl. – in systematischer Perspektive – Bray, Treize propos sur la lettre d’amour, S. 43, Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 204–206 (Stummbleiben, Verspätete Antworten), Brenot, De la lettre d’amour, S. 94–99 (auch hier hauptsächlich über die Schmerzen der Unregelmäßigkeit, die Arrhythmie von Liebeskorrespondenzen), sowie – in Bezug auf den liebesbriefhistorischen Wandel – Joseph Leighton, Das Nichtschreiben von Briefen: Eine Glosse zur Briefkunst des achtzehnten Jahrhunderts. In: Texte, Motive und Gestalten der Goethezeit. Festschrift für Hans Reiss, hg. von John L. Hibberd, Tübingen 1989, S. 1–11 (über die Möglichkeit, in Lücken und Arrythmien in Freundschafts- und Liebesverhältnissen auszugleichen, zur Figur der »Pause« im Rhythmus der Korrespondenz vgl. auch Clauss, Liebeskunst, S. 88–108 und Bettina Marxer, »Liebesbriefe, und was nun einmal so genannt wird«. Korrespondenzen zwischen Arthur Schnitzler, Olga Waissnix und Marie Reinhard: Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Lektüre, Würzburg 2001, S. 204ff) – bis hin zur Gegenwart: vgl. Wölfle, Liebeskommunikation in E-Mails, passim.
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wo auch Richter zu dieser Zeit lebt. Von ihrem Initialbrief zur zweiten Phase der Korrespondenz ist nur der Schluss in der Originalhandschrift überliefert. Der Anfang des auf den 8. und 9. Januar 1801 zu datierenden Briefes liegt in einer vermutlich erst später, vielleicht nach Richters Tod, angefertigten Kopie von der Hand Caroline Richters geb. Mayer (seit Mai 1801 Richters Ehefrau) vor. Zu dem Zeitpunkt, als Frau von Krüdener die Korrespondenz mit Richter wiederaufnimmt, ist Caroline Mayer noch dessen Verlobte. Wenn Briefe in teilweiser Abschrift Caroline Richters vorliegen, so ist nahezu durchgängig davon auszugehen, dass es sich um Textfassungen handelt, in denen Verstöße gegen die Konvention nachträglich getilgt worden sind. Somit kann das Vorliegen entsprechender Briefabschriften als recht zuverlässiges Indiz für das Vorliegen eines solchen Verstoßes gewertet werden. Auch in der Abschrift Caroline Richters beginnt der Brief Frau von Krüdeners wieder informell mit den Worten »JEAN PAUL kann mich nicht ganz vergessen haben […]«,369 also mit einem Anknüpfen an ihren lange zurückliegenden, unbeantwortet gebliebenen Brief aus Lausanne. Soviel Unkonventionalität war offenbar auch aus Sicht der Braut (bzw. der Ehefrau oder Witwe, die redigierend den status sponsalis zu restituieren versucht), noch zu erdulden. Nach einigen Sätzen, in denen Frau von Krüdener um die Erneuerung des Umgangs mit Richter bittet, folgt dann aber die Lücke; erst den Schluss des Briefes wollte Caroline Richter offenbar der Nachwelt im Original zumuten: Der Brief endet mit der Mitteilung Frau von Krüdeners, sie habe erst am Vortag erfahren, dass Richter »schon verheyrathet« sei. Sie beglückwünscht ihn und hofft, auch seine Frau bald kennenzulernen. Dennoch war Juliane von Krüdener offenkundig nicht dazu bereit, das, was sie am 8. Januar vor dem Erhalt dieser Information geschrieben hatte, »aufzuheben«, also zurückzuhalten oder zu vernichten. Die nun folgenden Briefe sind vollständig überliefert, sie sind nun allerdings auch mit Grußformeln ausgestattet. Caroline Richters Brautbriefe aus dieser Zeit verzichten auf diese Formalität. Somit kann ein Scheitern der Korrespondenz zu dieser Zeit durch gegenseitige unausgesprochene Zugeständnisse zwischen den Verlobten vermieden werden. Entsprechende Kompromisspraktiken finden sich durchaus bereits im Kontext der ›Simultanliebe‹. Eine Stelle im Briefwechsel Richters, worin der biographische Hintergrund der Eifersuchts-Szenen des Hesperus berührt wird, ist in der Korrespondenz mit Christian Otto überliefert, der, wie schon im Falle der Unsichtbaren Loge, als Erstleser des Romanmanuskripts um sein Urteil und um seine Kritik gebeten wird. Otto ist dabei freilich nicht nur Korrespondent und »Rezensent« des Buches, sondern auch die Person, auf den sich Richters Urerlebnis der Eifersucht vormals bezogen hat (in der Konkurrenz 369
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H: BJK, Berlin A.
um Amöne Herold). Otto schreibt im Rahmen seiner ausführlichen Begutachtung des fertiggestellten Manuskripts am 8. Juli 1794: Es fiel mir bei einigen Stellen deines Buchs schwer aufs Herz, daß ich dir noch eine Erklärung wegen einer Begebenheit schuldig bin, bei welcher mich nur deine allzuschonende Beurtheilung gegen den Verdacht des Eigennuzzes, (außer einer eigenen Voreiligkeit und einem Misverständniß) schüzzen kann. Vielleicht finde ich einmal den Muth, wenigstens zu einer schriftlichen Erklärung. Liebe mich aber doch und traue mir jede Aenderung, die von mir abhängt u auch eine Aufopferung zu.370
Diese Passage bezieht sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Ereignis im Zusammenhang mit Richters und Ottos Konkurrenz um die Gunst Amönes, das demnach in einer der Eifersuchtsszenen zwischen den beiden RomanProtagonisten Flamin und Viktor wiederzuerkennen war. Richter antwortete hierauf in höchst ungewöhnlicher Weise, indem er nämlich die Erklärung Ottos ausführlich wiederzitiert und dann anfügt: Lieber Otto! keine einzige Stelle in meinem Buche konte bei deiner und meiner Denkungsart dich mehr als die Stelle irgend eines fremden Buches zu jener Bemerkung veranlassen. Die Probe der Aufopferung hast du längst abgelegt und der Gegenstand davon macht keinen Unterschied als den zu deiner Ehre. N a c h jenem A b e n d e thatest du keinen Schrit, wofür dich nicht mein besseres Innere ehrte; und übrigens weist du ja, wie flatternd – sobald keine Pflichten fixieren – und froh und phantastisch dein Freund ist.371
Damit wird die vormalige persönliche Eifersucht, die eine ›Aufhebung‹ der Vergangenheit fordern würde, aufs literarische Feld verlagert, wo sie einen neutralen Ort wie in »irgend eine[m] fremden Buch« einnehmen kann. Im Hesperus wird sie als eine anthropologische Grundkraft beschrieben, die den pazifiziernden Allegorien der Kultur und Religion widersteht: »Einen Eifersüchtigen bekehren die zwölf Apostel und die zwölf kleinen Propheten nicht; – wenn er am Sonntage kuriert ist: so wird er am Montage wieder krank, am Dienstage raset er, und am Mittwoche könnt ihr ihn wieder losbinden; er ist matt und klug und – – passet nur auf« (I 1, 987). Im Roman wird Flamin freilich von der Raserei der Eifersucht geheilt, und der unbekannte Leser oder die anonyme Leserin außerhalb Hofs, für die nun wiederum der Hesperus die Stelle »irgend eines fremden Buches« einnimmt, kann sich dieser Variante
370
371
IV 2, 13,24–31, Nr. 3; Textgrundlage: Originalhandschrift und Abschrift; die Abschrift eines Teils des Briefes stammt von Amöne Otto geb. Herold, die hier, wie an anderer Stelle Caroline Richter, den Nachlass im Geist des briefstellerischen aptums korrigiert und dabei nachträglich Passagen entfernt und ergänzt hat (vgl. IV 1, 693– 694, Kommentar zu Nr. 147, Abschnitt Textgrundlage, und Bd. 2, S. 477–478, Kommentar zu Nr. 3, Abschnitt Textgrundlage). III 2, 16,37–17,8.
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einer »epischen Schwärmerkur« nach der Poetik des anthropologischen Romans anschließen.372 Die Akten der ›Simultanliebe‹ müssen daher nicht vernichtet werden und bleiben so lange unversehrt bis sich die Hinterbliebenen nach dem Tod Ottos und Richters dann doch aufgerufen sehen, einen Teil der Zeugnisse im Geiste der Briefsteller des 19. Jahrhunderts zu annihilieren.373 Lässt sich nun aber auch diese Simultanliebespraxis der Ausnahme von der Konvention vom kleineren auf den erweiterten epistolaren Kontext übertragen? Und wie geht Richter später mit Situationen um, wenn er selbst per Post Signale empfängt, die seine Eifersucht erregen könnten? Es fällt zunächst schwer, im Briefwechsel von 1794 bis 1797 (III 2 und IV 2) solche Zeichen zu finden. Fast scheint es ein gemeinsames Merkmal der Liebesbriefbeziehungen Richters aus dieser Zeit zu sein, dass die Korrespondentinnen von der Erwähnung potentiell eifersuchtserregender dritter Personen absehen. Auf deren Existenz lässt sich nur in Einzelfällen aufgrund von Kontexthinweisen schließen. So zum Beispiel taucht im Verhältnis zwischen Wilhelmine von Kropff und Richter im Herbst 1796 ein dritter Mann auf (im Grunde genommen natürlich ein vierter, aber Ahlefeldt steht als Initiator und zentraler Gesprächsgegenstand der Briefbeziehung Kropff/Richter außerhalb des Eifersuchtsdispositivs): der Freiherr Franz von Paula, Wambold von Umstadt (1769–1842), seit 1781 Domherr in Würzburg. Es ist anzunehmen, dass Frau von Kropff den Domherrn während ihrer Kur in Karlsbad im Sommer 1796 kennengelernt hat. In den Briefen, die zwischen ihrem Kuraufenthalt und der nächsten persönlichen Begegnung mit Richter im Herbst 1796 in Bayreuth gewechselt werden, fehlen jedoch auf beiden Seiten Hinweise auf neue amouröse Konstellationen. Vielmehr wird beiderseits der bewährte Dreibund mit Ahlefeldt beschworen: Richter schreibt: »Ich wolte […] ich hätte an meiner linken Hand die seine und könte so nach Bayreuth gehen und die Ihrige in die rechte nehmen« (III 2, 225,18–20, Nr. 360); sie antwortet, dass sie »diesen Herbst, oder Winter« wieder »Hand in Hand« zwischen Richter und dem »biedern Ahlefeldt« zu stehen hoffe, um dann die Beschreibung von Richters Weimar-Reise zu hören (IV 2, 223,16–20). Das amouröse Profil beider Reisen aber – das von Richters Bildungsreise nach Weimar und das von Wilhelmines Kuraufenthalt in Karlsbad – bleibt in den Briefen diffus. Dieses Festhalten an der bewährten Konstellation ermöglicht es Richter dann später, dem ursprünglichen dritten Mann der Briefbeziehung, Ahlefeldt, die Last einer Affektverarbeitung der neuen 372
373
258
Vgl. Hans-Jürgen Schings, Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung. In: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, hg. von Bernhard Fabian, München 1980, S. 247–275; Isabel Knautz, Epische Schwärmerkuren. Johann Karl Wezels Romane gegen die Melancholie, Würzburg 1990. Vgl. Anm. 370, S. 257.
Konstellation exklusiv zuzuschreiben. Über die Veränderungen, die er bei seinem und Ahlefeldts Besuch in Bayreuth vorfindet, berichtet er im Oktober 1796 an Christian Otto nach Hof: Ich habe einen sehr schönen und klugen Domhern (Rambold) bei der Kropf fast jeden Tag gesehen. Bei dieser ists das alte Himmelsleben: nur daß Rambold ihr PASTOR FIDO ist, wodurch Ahlefeld ein PASTOR INFIDO geworden. Dieser hat sich von seiner erotischen Auszehrung erholt und sieht ganz gut aus.374
Abgesehen vielleicht vom »Schreib- oder Hörfehler« (Berend), der Richter »Rambold« anstelle von »Wambold« schreiben lässt, enthält sich der Dichter einer negativen persönlichen Stellungnahme, verbirgt sie gleichsam hinter einer Darstellung der glänzenden äußeren Fassade des katholischen Geistlichen (der sieben Jahre jünger ist als Richter und gleichaltrig mit Wilhelmine von Kropff) und der literarischen Anspielung auf Guarinis Pastoraldrama Il Pastor fido, dessen komplexes erotisches Beziehungsgefüge stellvertretend in den zwei konkurrierenden männlichen Protagonisten des Ehedramas gespiegelt wird – unter Aussparung des Ehemanns und des emotional durchaus involvierten Briefschreibers. Auch im weiteren Briefverkehr mit Wilhelmine von Kropff wird der Domherr zunächst ignoriert. Allerdings geht Richter nun offener um mit der Erwähnung der anderen Frauen, die zu dieser Zeit in seinem Leben eine Rolle spielen. Am 30. Januar 1797 schreibt er nach Bayreuth und versucht sein längeres briefliches Schweigen im Rhythmus der Korrespondenz zu rechtfertigen: Meinen Fehler entschuldigt am besten seine Wiederholung. Der Fr. von KRÜDNER schrieb ich nach – BAYREUTH, weiter nicht, sie aber einmal aus Konstanz, einmal aus LAUSANNE an mich – unserm guten Ahlefeld hab’ ich seit seiner Abreise aus Bayreuth nicht geschrieben. Der lieben KALB in WEIMAR seit Monaten nicht. Bei Gelegenheit! welche schöne Dreifaltigkeit von 3 Personen in 1 Gotheit der Freundschaft hab’ ich, die immer mit K anfängt: KROPF, KALB, KRÜDNER.375
Frau von Kropff aber reagierte offenbar gekränkt; ihr Antwortbrief ist nicht überliefert,376 von Richters Gegenantwort hat sich nur eine Zeile erhalten, die jedoch deutlich auf den Bruch hinweist: er spricht dort von ihrem Brief, »der so niedlich und schön wie ein Fächer gemacht ist und den Sie auch wie einen Fächer gebrauchen, (nämlich zum Schlagen des armen J.P.)« (III 2, 299, Nr. 532; Textgrundlage: Kopie) Das allmähliche Erkalten der Gefühle* lässt sich von hier an noch bis zum Sommer 1797 in gelegentlichen Versuchen Richters nachvollziehen, den Briefverkehr, an äußere Anlässe geknüpft, wieder aufzunehmen – wiederholt äußert er dabei die Hoffnung, es möge nicht an Wilhelmines Gesundheit liegen, dass sie ihm gegenüber schweige (und wenn man 374 375 376
III 2, 255,22–27, Nr. 429. III 2, 294,3–10, Nr. 517. IV 2, EB 88.
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will, kann man den schönen und klugen geistlichen Kurschatten als Projektionsfigur dieser Sorge ausmachen). Auch sein vorerst letzter Brief vom Sommer 1797 muss sich auf einen äußeren Schreibanlass* berufen: Der Brief beginnt mit Bemerkungen zu einem von Frau von Kropff übermittelten hausfraulichen Wunsch, der sich auf Dritte (nämlich Flachsspinnerinnen in der Textil-Stadt Hof) bezieht. Daran knüpft Richter eine galante Floskel, greift dann aber zu einer einigermaßen riskanten Modifikation des galanten Schemas, um der Korrespondenz noch einmal Leben einzuhauchen: »Mein herzlicher Wunsch ist«, so schreibt er, »daß Sie sich – nicht wohl befänden, damit das gute Schiksal und der schlimme Körper Sie nach Karlsbad bereden und bringen, und zwar blos darum wünsch’ ichs, weil ich dieses mal selber dahin reise, ob ich gleich gesunder hingehe als andere abreisen: denn ich habe dort nichts zu suchen als – stat der Arzneien – Freuden, und darum wünschet Sie meine Seele hin.« (III 2, 339,4–9, Nr. 632) Richter mochte Frau von Kropff freilich genügend Hellhörigkeit zutrauen, zu erkennen, dass seine Reise ins Bad, wenn sie denn keinen medizinischen Grund hatte, amourös motiviert sein musste. Gleichsam als vorweggenommenes Friedensangebot fügt er dem Schreiben an Frau von Kropff daher noch hinzu: »Sie werden mir schon dieses Pläzgen zugestehen, damit ich darauf meine freundschaftlichen Grüsse und Erinnerungen an H. V. WAMBOLD niederlege. Geben Sie ihm in Ihrem Briefe auch ein solches Spielpläzgen für die Freundschaft« (III 2, 339,15–18, Nr. 632). Frau von Kropff antwortet hierauf nicht. Bezieht man das Abbrechen der Korrespondenz auf den Kontext der Eifersucht*, so ließe sich von hier aus ein philologischer Fernbezug konstruieren, an den eine Tiefenkommentierung anknüpfen könnte. Ein Zeugnis von Heinrich Voss aus dem Jahr 1817 macht im Spiegel einer beiläufigen Wiederbegegnung Richters und Wambolds in Heidelberg plötzlich einen ganz anderen Bereich im Affektspektrum nachweisbar: eine Eifersucht, die sich nicht mehr auf ›geistige‹ sondern auf real vollzogene TREUE- UND EHEBRÜCHE bezieht.377 Voß schreibt am 18. bis 22. August 1817 an seinen Bruder Abraham Voß: Richter ist einer der feinsten Menschenkenner, und wo er Schlechtigkeit wittert, da wendet er sein Antlitz oder macht sich einen Spaß, dergleichen Gegenstände mit beißendem Spott zu überziehen. so erging’s dem armen Wambold, den er irgendwo traf. Und als ich ihn nachher fragte, warum diesmal so gar unbarmherzig, sagte er: »Ich kenne den Kauz schon seit zwanzig Jahren, er ist ein schändlicher Ehebrecher fremder Ehen: er hätte noch zehnmal mehr verdient, aber die Gesellschaft mußte geschont werden.«378
377 378
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Zum Thema ›Treue- und Ehebrüche‹ vgl. Schneider, Liebe und Betrug, passim; Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München, Wien 1989. Persönlichkeit 190,20–28, Nr. 221.
Ob sich Richter erst nachträglich der ›ehebrecherischen‹ Natur der Beziehung Kropff/Wambold bewusst wurde, oder ob er zu dieser Zeit – 1817 – seine Einstellung gegenüber außerehelicher Sexualität geändert hat, lässt sich auf der Grundlage des bisher erschlossenen Briefwechsels nicht eindeutig klären – Wambold taucht nicht mehr auf, und die wenigen Erwähnungen Frau von Kropffs in Richters Briefen nach 1797 lassen keine eindeutige Tendenz erkennen. Einerseits hält Richter an einem gelegenheitlichen direkten Briefverkehr mit ihr sowie an der Konvention galanter Grußmitteilung über Dritte fest; andererseits verlieren sich diese Grußformeln, nachdem er von einer weiteren früheren Affäre Frau von Kropffs (neben der mit dem Adjutanten von Winterfeldt) erfahren hat, derjenigen mit dem Schriftsteller Michael Kosmeli;379 dies würde wohl für die erste der erwähnten Optionen sprechen, wäre der Übermittler der Nachricht nicht Christian Otto, der, wie Richter sehr wohl weiß, gegen Frau von Kropff bereits seit seiner Erstbegegnung mit ihr negativ voreingenommen ist.380 Zudem sind auch danach weitere sporadische Besuche bei Frau von Kropff sowie vereinzelte Briefe belegbar. Auf einer philologisch ›weichen‹ Argumentationsgrundlage schließlich ließe sich argumentieren, dass in den Briefen normalerweise auch dort, wo der nichtplatonische Charakter außerehelicher Verhältnisse evident ist, der Sachverhalt selbst selten direkt beim Namen genannt wird. Das frappierendste Beispiel hierfür ist die nichteheliche Lebensgemeinschaft des Bayreuther Hofrats Gottfried Schäfer, über die im Briefwechsel so rücksichtsvoll gesprochen wird, dass der ›skandalöse‹ Charakter der Beziehung selbst der exzeptionellen philologischen Hellhörigkeit und Scharfsichtigkeit Eduard Berends entgangen ist.381 Die Frage nach dem Scheitern oder Gelingen von Briefbeziehungen bleibt im Korrespondenzkreis häufig in der Schwebe. Vieles spricht dafür, dass es dieser Schwebezustand ist, der als der eigentliche Modus der ›Simultanliebe‹ im Ruhezustand angesehen werden kann: Die konventionellen Prinzipien, also entweder Abbruch oder Eheschluss, werden suspendiert, eine Reaktivierung ist jederzeit möglich und findet jeweils bei Gelegenheit statt. Frau von Kropff und Frau von Krüdener (und eine ganze Reihe weiterer Korrespondentinnen wie zum Beispiel Esther Bernard) können gleichsam als stumme Zeuginnen für diesen Schwebezustand zu betrachten. Andere ›Simul379 380
381
Vgl. III 4, Erläuterung zu S. 173,20. Vgl. IV 2, 368,28–369,12; Otto profiliert dort gegen den negativen Eindruck, den er von Wilhelmine von Kropff gewonnen hat, den positiven, den die Fürstin Lichnowski auf ihn gemacht habe mit dem Argument des »tadellosen Lebens« der letzteren (S. 369,14). Vgl. III 2, 415–416, Erläuterungen zu Nr. 105, IV 2, 536–538, einleitende Erläuterung zu Nr. 35, sowie Jörg Paulus, Gerüchteküche und Geistergesprächswerkstatt. Zur Poetisierung des Skandalösen bei Jean Paul (am Beispiel einer Fußnote im ›Siebenkäs‹). In: JbJPG 41, 2006, S. 113–130.
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tangeliebte‹ Richters finden und ergreifen eine Gelegenheit, das schlummernde Briefgespräch zu aktivieren – sei es sporadisch oder regelmäßig. Letzteres gilt insbesondere für Charlotte von Kalb aber auch für Caroline Herder (auch wenn das Briefgespräch mit ihr nur unter Vorbehalt als Liebesbriefwechsel betrachtet werden kann; unter dem Aspekt der Rolle von Mittlerpersonen* bleibt es jedoch weiterhin höchst bedeutsam). Aus der Zeit der Hofer ›Simultanliebe‹ setzt sich zum Beispiel das Briefgespräch mit Renate Otto gelegenheitlich fort. In all diesen Fällen wird der spezifische Kommentar die Frage zu klären haben, wie dabei die konventionelle Forderung umgangen wird, sich angesichts beiderseitiger Ehebündnisse zwischen Scheitern und Gelingen zu entscheiden. Es ist im Allgemeinen nicht Richter, der diese Gelegenheiten sucht, seinen alten Idealen fortgesetzte Gültigkeit zu verschaffen. Der Impuls geht in der Mehrzahl der Fälle von den Korrespondentinnen aus. Am konsequentesten wird diese Fortsetzung des Simultanliebesgesprächs wohl von Charlotte von Kalb betrieben, die sich auch von der Unzuverlässigkeit nicht beirren lässt, mit der Richter den Takt im Rhythmus der Korrespondenz einhält. Für die gut vier Jahre von Spätsommer 1804 bis Ende 1808 (Bd. IV 5) sind acht Briefe von ihr dokumentiert, gegenüber nur vier Antwortbriefen Richters. Noch bedingungsloser als Frau von Kalb aber hält jene Frau an der Fortsetzung des Briefgesprächs fest, die in der Reihe der von Richter später als »Titaniden« literarisierten Geliebten der Jahre 1794 bis 1797 den Abschluss bildet: Emilie von Berlepsch, geb. von Oppel. E m i l i e Dorothea Friederike von Berlepsch geb. von Oppel wird im November 1755 in Gotha geboren (ihr Tauftag war der 26.11.1755).382 Im Alter von sechzehn Jahren heiratet sie am 2. März 1772 den in hannoverischen Diensten stehenden Juristen Friedrich Ludwig von Berlepsch (1749– 1818), der durch seinen gegen die eigene Regierung vor dem Reichskammergericht in Wetzlar angestrengten Prozess gegen seine Entlassung als Landesverräter Bekanntheit erlangt hat.383. Gemeinsam haben sie drei Kinder, L o u i s e Charlotte (*1774), Friedrich (Fritz) (1775–1802) und Caroline (1777–1780). Seit Anfang der achtziger Jahre leben die Eheleute getrennt. 1795, im Erscheinungsjahr des Hesperus, wird die Ehe auf ihren Wunsch hin geschieden. Auf ihren Reisen – u.a. nach Weimar, Göttingen und insbesondere in die Schweiz – kommt Emilie von Berlepsch mit einer Reihe von wichtigen literarischen bzw. akademischen Zirkeln des 18. Jahrhunderts in Berührung, darunter dem Göttinger Kreis um Christian Gottlob Heyne und dem Weimarer um 382 383
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Zur Biographie vgl. Otto Sievers, Zur Biographie der Emilie von Berlepsch, der Freundin Jean Pauls. In: Vossische Zeitung, 13.9.1885, Sonntagsbeilage. Vgl. Heiko Leerhoff, Friedrich Ludwig v. Berlepsch, hannoverscher Hofrichter, Landund Schatzrat und Publizist. 1749–1818, Hildesheim 1970.
Herder. Für sie selbst am prägendsten sind zweifellos ihre Beziehungen zur Schweiz gewesen.384 Mitte der achtziger Jahre hat sie sich erstmals dort aufgehalten (vgl. ihre Gedichte Die Peters-Insel. Im Bieler See (1786) und Tells Capelle am Vierwaldstädter See385), von 1793 bis 1796 dann hat sie abwechselnd in Bern und Zürich gelebt, in Bern im Hause der verwitweten Tochter Albrecht von Hallers, Charlotte Zeerleder. Zu ihrem damaligen, teilweise bereits auf Göttinger Freundschaften gegründeten Bekanntenkreis zählten unter anderem der kosmopolitische Schriftsteller Carl Victor von Bonstetten (1745–1832) und der Literat und Theologe Philipp Albert Stapfer (1760–1840), der spätere eidgenössische Gesandte in Paris.386 Auch der aus Genf stammende und aus Paris geflohene antirevolutionäre Publizist Jacques Mallet du Pan (1749–1800) gehörte zu ihren damaligen Vertrauten. Für den Kreis um Richter bedeutet dieser weltläufige Bekanntschaftshintergrund eine Erweiterung neuer Art. Erstmals ergibt sich eine persönliche Beziehung zu einer Person, die mit dem literarischen Umfeld Rousseaus in unmittelbarer Verbindung gestanden hat. Zudem ist Emilie von Berlepsch – anders als Frau von Kalb und Frau von Krüdener, die erst später literarisch in Erscheinung treten – bereits als Schriftstellerin hervorgetreten, zunächst anonym mit Reiseberichten im Hannoverschen Magazin und der Olla Potrida, später mit Gedichten im Göttinger Musenalmanach und zu Beginn der 90er Jahre mit Beiträgen zu Wielands Neuem Teutschen Merkur. 1787 kam bei Johann Christian Dieterich in Göttingen die Sammlung kleiner Schriften und Poesien heraus, 1794 in Zürich bei Orell, Geßner und Füßli eine weitere Sammlung von Gedichten und poetologischen Reflexionen mit dem Titel Sommerstunden.387 Der erste Kontakt zwischen Emilie von Berlepsch und Richter ergibt sich über dessen Leipziger Freund, den Schriftsteller und Übersetzer Friedrich von Oertel (1767–1807), der wie sie Mitarbeiter des Neuen Teutschen Merkur ist.388 Bereits ihre erste Erwähnung in einem Brief Richters (an Oertel) steht – noch vor der ersten persönlichen Begegnung – im Zeichen einer Kalkulation der Zukunftsaussichten, einer Reflexion über die mögliche DAUER DER BEZIEHUNG.389 In dieser Kalkulation wird von Beginn an die literarische Prä384
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Zu Emilie von Berlepschs Beziehungen zur Schweiz vgl. Hans Utz, Bern – die Liebeserklärung der Emilie von Berlepsch (1755–1830). In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 49, 1987, S. 57–115. [Göttinger] Musenalmanach auf das Jahr 1791, S. 130–139; Emilie von Berlepsch, Sommerstunden, Zürich: Orell, Geßner und Füßli 1795, S. 77–110. Zu Emilie von Berlepschs Beziehung zu Stapfer vgl. Adolf Rohr, Albert Stapfer, Bern 1998, S. 217–233. Vgl. auch IV 2, 856–858, einleitende Erläuterung zu Nr. 214. Zu Friedrich von Oertel vgl. IV 2, 702–704, einleitende Erläuterung zu Nr 125. Vgl. Leisi, Paar und Sprache, S. 71 (über die grundlegende Bedeutung von Liebesbriefkommunikation für das Dauerhaftmachen von Beziehungen – eine der wenigen Passagen, in denen Leisi den Liebesbrief spezifisch beachtet) und S. 146 (über Spra-
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senz in ein Verhältnis zur – hier noch vorweggenommenen – Realpräsenz der Person gesetzt: Ich wollte, die BERLEPSCH bliebe einen Abend hier: sonst lohnt es sich kaum der Mühe. Ich weis voraus, sie wird mich zu sehr einnehmen. Das doppelte Lesegeld gäb’ ich darum, hätt’ ich nur eines ihrer Werke gelesen oder wüste die Titelblätter auswendig.390
Bereits in der Nachschrift zu diesem Brief vom 21. Juni 1797 muss Richter aber seinen Zeitplan – und somit auch seine Kalkulation – revidieren, die Parousie, die als Ausweis der Genialität dient, duldet keinen Aufschub, für eine vorbereitende Lektüre bleibt ihm somit keine Zeit: Eine Freundin von mir, Fr. v. SCHUKMAN war bei dieser BERLEPSCH und dieser kündigte sie den Besuch auf die Z u r ü k r e i s e an. Jezt auf der H e r r e i s e ! Das ist ein weiblich-genialischer [genialischer nachtr. üdZ] Zug. »Wir wollen morgen fort – nein heut Abends – ach jezt!«391
Die durch eine Freundin mitgeteilte Besuchsankündigung Emilie von Berlepschs, die Richter hier erwähnt, ist dokumentiert: Die Mittelsfrau*, die aus Mecklenburg stammende Luise H e n r i e t t e von Schuckmann (1752–1824), ist drei Jahre älter als Frau von Berlepsch und lebt unverheiratet im Hause ihres jüngeren Bruders, des Bayreuther Kammerpräsidenten und späteren Preußischen Staatsministers Kaspar Friedrich von Schuckmann (1755–1834) in Bayreuth.392 Mit Richter ist sie seit Mai 1796 bekannt, ihr erster Brief an ihn stammt aber erst vom Oktober 1796 und ist anlässlich der Abreise ihrer vertrauten Freundin Juliane von Krüdener geschrieben,393 deren Charakter sie in ihren Briefen wiederholt gegen die moralischen Vorurteile verteidigt, die über sie umgehen.394 Ihren eigenen Ort im Rahmen der traditionellen und neuen Rollenmuster* beschreibt sie selbst als einen Ort außerhalb der Konvention. Nie habe sie sich wünschen können verheiratet zu sein, so schreibt sie im Juli 1797 an Richter, das »Schicksal der verheirahteten Weiber« wie sie es bei ihrer Mutter miterlebt habe sei eine notwendige Folge des Versuchs, »die konventionellen Verhältniße erfüllen [zu] wollen«.395 Auch mit Blick auf die anvisierte
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che als ›Konservierungsmedium‹ von Liebe); Luhmann, Liebe als Passion, S. 90–96 (über die Idee, Liebe als Prozess zu begreifen), S. 116–118 (über »typische Verlaufsgeschichte[n] der Liebe«) und S. 178 (über das neue Ideal der Dauer in der romantischen Liebe). III 2, 344,15–19, Nr. 648; Textgrundlage: Originalhandschrift. III 2, 345,6–9. Vgl. Julius von Schuckmann, Nachrichten über die Familie von Schuckmann von 1582 bis 1888, Berlin 1888. IV 2, 246–247, Nr. 148. Vgl. IV 2, 255,4–28, Nr. 153. Vgl. IV 2, 352,19–27, Nr. 213; in ihrem Brief vom 19. August 1797 finden sich weitere bemerkenswerte Überlegungen zum Thema von Emanzipationsansprüchen* im Verhältnis der Geschlechter: »Einige jahre weiter bin ich, wan ich lebe, ein altes Mäd-
Dauer der Beziehung weisen ihre Briefe ein eigenes Profil auf. Die ersten Briefe verlangen niemals mehr als nur die sporadische, gelegenheitliche Zuwendung des Dichters. Die Absenderin berechnet ihre Ansprüche auf seine Zeit nicht nach Ewigkeiten sondern nach Stunden.396 Auch relativiert sie ihre Ansprüche immer wieder: »Sein Sie mein Freund, nicht mehr, nicht minder als ich es verdiene«, so bittet sie Richter am 10. März 1797 (IV 2, 304,16–17, Nr. 181; Textgrundlage hier und bei den weiteren zitierten Briefen Henriette von Schuckmanns: Originalhandschrift). Als sie aber im Mai 1797 nach Mecklenburg reist, um ihrem im Sterben liegenden Vater beizustehen, bittet sie Richter um ein erstes Zeichen der Beständigkeit: um seinen »Händedruk« (IV 2, 315,13, Nr. 187); und aus der Ferne Mecklenburgs macht sie ihn dann zum Mittelsmann ihres Kummers, den sie über die Disproportion im Rhythmus ihrer Korrespondenz* mit Juliane von Krüdener empfindet. Seit sechs Wochen schon habe sie von dieser nichts mehr gehört, obgleich sie selbst schon dreimal an sie geschrieben habe: »Dies ist eine unerträgliche Lükke, sie giebt Schmerzen« (IV 2, 336,30–32, Nr. 202). In dieser verzweifelten Situation fordert nun auch sie von Richter das ein, was zum Beispiel ihre Freundin Juliane vom ersten Brief an verlangt hat: »Sie vergeßen mich nicht […]« (IV 2, 336,5); und sie versichert ihm: »So lange ich hier im Erdenleben walle bin ich mit ganzer | Seele Ihre Freundin | Henriette« (IV 2, 35311–13). Dies der Hintergrund zur vermittelten Ankündigung Frau von Berlepschs, die Richter gegenüber Oertel erwähnt. Henriette von Schuckmann schreibt in der betreffenden Passage am 7. Juni 1797 aus »Mölln | bei Neubrandenburg«: chen und doch wird jede Satyre OLD MAID, alte jungfer, UNA VECCHIA NON MARITATA, in Rüksicht eigner Anwendung mir so fremd sein, als in meinem 18 jahre. Warum es Ihnen nicht sagen, daß ich mehr und beßer gebildet habe als wenn es meine töchter gewesen wären. Da habe ich mein tagewerk vollendet, izt lebe ich mir selbst. Ich ziehe Ihr Geschlecht im allgemeinen dem meinigen weit vor, ich bin durch Männer erzogen, sie haben mein Herz und meinen kopf gebildet und Richtung gegeben, aber, mein Bester, so ein Mann hat mich nicht zum Weibe verlanget, dem ich freudig gehorsam gelobet hätte; so ein Mann habe ich auf meinem Wege nicht getroffen, der sinnliche liebe und Reinheit vereinen konte. Ich habe nur einen gesehen und der war nicht reich genug mich ernähren zu können es wurd mir zu früh klar, daß die Ehe den eigentlichen Menschen, d. h. im individuellen Fall für mich, nicht beförderte und also, lieber Freund, bin ich wohl nicht d u r c h e i g n e , n o c h f r e m d e S c h u l d z u e i n s a m . Ich danke den Männern den begrif und auch das feste über den eigentlichen Menschen in mir; ich sah das es nichts verschlug, ob ich heirathete, da es doch ein möglicher Fall war daß ich ohne Kinder blieb und nun — o lieber, erhöhter lebensgenuß, vermehrte Summe der Freuden ist ganz gewis pflicht, aber ein Loth Freude und ein [Pfund] Schmuz, kan das EQUIVALENT sein? EQUIVALENT für die Leibeigenschaft in der wir uns hingeben? Ach, warum habe ich so manche Ehe nah bei gesehen und fand in freiwillige Verbindungen mehr Delikateße!« (IV 2, 374,7–33, Nr. 224; Textgrundlage: Originalhandschrift). Vgl. IV 2, 246,22ff. (»In dieser drükenden finstern Stunde …«); S. 255,34ff. (»… daß Sie mir noch eine Stunde schenken möchten …«). VIELLE POUÇELLE,
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Sie werden künftigen Monat, oder doch im Anfang des August Monats von Frau von Berlepsch besucht werden. Sie geht von Karlsbad nach Eger, um ihrer Unangenehmen und gewis nicht gut gebildeten tochter, wo möglich Gesundheit zu verschaffen. bei ihrer Rükreise nach Dresden geht sie über Bayreuth und Hof und da will sie meinen Freund von Angesicht zu Angesicht kennen. Was Sie sehen werden, was Sie an und in dieser Poetischen Frau finden werden, daß mein lieber, sollen S i e mir, wenn wir uns sehen, selbst sagen. Ich will Frau v Berlepsch nicht beurteilen, ich kann es auch nicht, denn ich kenne sie beinahe gar nicht, aber doch würde ich auch nicht mal eine Skizze entwerfen wollen. Die Dame bat mich in Dresden sie Ihnen zu empfehlen, auch das thue ich nicht, aber ihren Besuch den will ich Ihnen verkündigen, und wenn ich Sie sehe, rede ich Ihnen von meinem mit ihr verlebten Abend.397
Die Zurückweisung von Frau von Berlepschs Bitte um Empfehlung an Richter – gemeint ist ein die Vorsprechende begleitendes Empfehlungsschreiben – ist ein bewusster Konventionsbruch. Der im selben Brief vorgetragene Wunsch nach einem definierten Platz in Richters »Herzen« und in seinem »Gedächtnis« (IV 2, 336,3–4) erlaubt offenbar keine gleichzeitige Anbahnung eines weiteren Zugangs. Wenn nun aber Richter gegenüber Oertel den Wunsch äußert, »die BERLEPSCH« möge »einen Abend« in Hof bleiben, so leitet er einen Impuls aus dem Brief Henriette von Schuckmanns weiter, den er dabei ins Gegenteil verwandelt: der starke und offenbar nicht nur positive Eindruck, der diese zur Nicht-Mitteilung über den mit Frau von Berlepsch »verlebten Abend« treibt, verwandelt sich in den Wunsch nach einer entsprechenden realen Erfahrung, die dem parteiischen Bericht Frau von Schuckmanns das Wasser abgräbt. Wie der Sinneswandel Frau von Berlepschs, Richter nun doch so bald als möglich – »ach jezt« – zu sehen, kommuniziert worden ist, bleibt unklar, da ihre entsprechenden Mitteilungen nicht überliefert sind. Das in der Äußerung Richters mitgeteilte ›Zitat‹ »Wir wollen morgen fort – nein heut Abends – ach jezt!« kann schwerlich zusammenhängend so in einem Brief von ihr gestanden haben; nicht nur aufgrund der »Höfer Orthographie« (»jezt«), sondern auch, weil die Zeitraffung von Morgen, Abend und Jetzt in einem Brief nicht wahrscheinlich ist. Das Zitat mutet vielmehr wie eine literarische Fiktion an. Dass Richter das Wort »genialischer« nachträglich einfügt, kann als Bekräftigung dieser Literarisierung verstanden werden. Auch dies ist eine Art Wechsel auf die Zukunft und auf die erhoffte Dauer der Beziehung. Das erwartete Erlebnis wird bereits vorab idealisiert, die weibliche Eile in ein narratives Accelerando übertragen. Richters Beitrag zu dieser literarischen Gütergemeinschaft schreibt sich von seinem Romanerstling her, der Unsichtbaren Loge, in der der Erzähler den gleichfalls ›genialischen‹ Versuch unternimmt, die erzählte Zeit einzuholen. Zu Beginn noch in einiger zeitlicher Distanz zu den von ihm berichteten Ereignissen stehend, endet das Romanfragment, das Richter spä-
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IV 2, 337,3–17.
ter als eine »geborene Ruine« bezeichnen wird,398 schließlich in der unmittelbaren Gegenwart des Geschehens, wird zum fiktiven Protokoll. Damit nähert sich der Erzähler dem Briefschreiber an bzw. der Fiktion des Briefromans. Aber: Auch als »geborene Ruine« bleibt der Roman ein gültiges Dokument, bleibt Kapital im literarischen Feld; der im Brief dokumentierte Wechsel auf die Dauer der Beziehung hingegen, die noch gar nicht begonnen hat, ist bei aller Literarisierung nicht gedeckt. Denn an ihr schreiben stets zwei Personen mit, und keine weiß von der jeweils anderen, ob sie nicht unter entsprechenden Umständen zu einer briefstellerischen Aufhebung des Verhältnisses entschlossen wäre. Die Kontingenz der individuellen Entscheidungen lässt sich im Briefverkehr nicht durch narrativen Handstreich bändigen.399 Auch im Brief an Oertel hat Richter versucht, die Gefahr der Kontingenz zu kompensieren, indem er sie in seine eigene literarische Strategie einbindet. Dies geschieht als Reaktion auf eine Kritik Oertels an den »genialischen« Frauen von der Art Frau von Krüdeners und (wohl auch) Frau von Berlepschs – und hier findet sich nun auch der Ankerpunkt, auf den Richters nachträgliche Einfügung des Komparativs »genialischer« zielt. Richter repliziert: Über die Klasse der KRÜDNER – wozu, nur mit neuen Fehlern, auch AMÖNE gehört – bin ich mit Rüksicht der B e o b a c h t u n g e n (deine in einem Briefe an Amöne darüber sind vortreflich und erschöpfend) mehr einig als du meinst, nur nicht in Rüksicht der S c h l ü s s e daraus. Kurz es ist die Klasse der poetischen Genies, und am andern Geschlecht fallen die egoistischen Mängel nur mehr auf. Mein 1/2 Titan streitet gegen diese Götter und Göttinnen; eben diesem Titan verdank’ ich eine Aufklärung und einen ewigen Ruhepunkt, der meiner Seele bisher fehlte.400
Auf seinen »Kardinalroman« Titan wird sich Richter auch in seinem ersten Brief an Frau von Berlepsch berufen. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Versuch zu handeln, die Beziehung bereits vorab in die Bahn eines Liebens nach Texten* zu leiten. Der Text, nach dem hier geliebt werden soll, ist nun aber zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht publiziert. Seit einigen Jahren befindet sich das Werk, das dann in vier Bänden von 1800 bis 1803 bei Carl Matzdorff in Berlin unter dem Titel Titan | von Jean Paul erscheinen wird, in 398 399
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I 1/1, S. 13,5. Zur Kontingenzbewältigung im Roman Die unsichtbare Loge vgl. Nicolas Pethes, »Unterirdisches Pädagogium«. Kontingenzmanagement durch Fiktionalisierung in Jean Pauls Erziehungsexperiment Die unsichtbare Loge. In: Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750–1830, hg. von Torsten Hahn, Erich Kleinschmidt, Nicolas Pethes, Würzburg 2004, S. 81–100; Grundsätzliches zum Thema »Kontingenz« in der Einleitung zu diesem Band: Torsten Hahn, Nicolas Pethes, Kontingenz und Steuerung: Perspektiven auf eine funktionale Dimension der Literatur um 1800, ebd., S. 7–12. IV 2, 344, Nr 648; der hier erwähnte Brief Oertels an Amöne Herold ist gleichfalls überliefert (H: Veste Coburg).
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Planung, Entwurf und Ausführung. Aber erst jenem Tag, an dem Richter den zitierten Brief an Oertel schreibt, schlägt der Dichter im großen Lebensprotokoll seiner schriftstellerischen Arbeiten, dem sogenannten »Vaterblatt« (im Original: »Geburtstag meiner Kinder oder Vaterblat in einer alten Bibel«), den Beginn der Arbeit am Hauptwerk zu: »Erster Band von Titan den 21. Jun. 97 angefangen«, so hält er dort fest.401 Der Text folgt also – zumindest nach Maßgabe der Schreibhandlung – dem Liebesprojekt, nicht das Lieben dem Text. Oertel wirft er nun andererseits vor, literarische und reale Liebe zu vermischen. Sein Urteil über lebendige Liebende dürfe sich nicht von Lektüreeindrücken leiten lassen. Dass Richter sich an diese Maxime auch selbst halten will, macht die anschließende Beteuerung deutlich, seine literarische Kritik richte sich grundsätzlich gegen die Fehler »der Gattung«, niemals »gegen die eines Individuums« (III 2, 344,33–34). Um jeder Möglichkeit, sein Leben als ein ›Leben nach (eigenen) Texten‹ zu deuten, aus dem Weg zu gehen, will er, wie er an Oertel weiter schreibt, es sogar vermeiden, in eine große Residenzstadt zu ziehen, die man mit dem Haupthandlungsort des Titan in Beziehung bringen könnte.402 Und doch wird er ein gutes Jahr später eben diese Lebensentscheidung wesentlich als Liebesentscheidung unter dem Einfluss Emilie von Berlepschs treffen. Über das erste Zusammentreffen mit ihr – vermutlich am 3. Juli 1796 – sind wir nur aus der Perspektive Richters informiert: Nüchtern berichtet er an diesem Tag dem Freund Otto: »Die BERLEPSCH bleibt auch heute hier« (III 2, 348,4–5, Nr. 657; Textgrundlage: Originalhandschrift). Nichts deutet auf einen Eindruck hin, welcher auch nur annähernd dem rhetorischen Aufwand und epistolären Sturm, der sich im Vorfeld erhoben hat, entspräche. In einem Brief an Oertel vom 17. Juli – Emilie von Berlepsch ist indessen nach Franzensbad weitergereist – macht er dem Leipziger Freund jedoch eine überraschende Offenbarung: »Die BERLEPSCH deren Lob ich verspare, wil mich im August nach LEIPZIG mitnehmen: sie ist moralischer und schöner [und schöner nachtr. üdZ] als die KRÜDNER und KALB, aber nicht so genialisch« (III 2, 350,30–32, Nr. 663; Textgrundlage: Originalhandschrift). Die im vorausgegangenen Brief nachträglich ergänzte Bestimmung »genialischer« wird nun also eingeschränkt und durch eine – gleichfalls nachträgliche – Kennzeichnung als »schöner« ersetzt. Der Nachtrag hat einigen Nachdruck: einerseits deshalb, weil Oertel Frau von Berlepsch ja kennt und somit weiß, wie sie aussieht; vor diesem Hintergrund gewinnt die Aussage Richters Bekenntnischarakter, denn sie dient nicht der Beschreibung sondern dem Ausdruck der Empfindung. Zum anderen kennt Oertel – und inzwischen vielleicht auch Richter – die Beiträge Frau von Berlepschs im Neuen teutschen Merkur. In die401 402
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II 6, 882,17, vgl. I 8, XLI. Vgl. III 2, 345,2–4.
sen Beiträgen aber hat die Verfasserin sehr deutlich auf den körperlichen Aspekt beim Entstehen von Liebe abgehoben – im Sinne einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung derselben: »Ich glaube es in der Erfahrung bestätigt«, so schreibt sie dort, »daß wenn ohne Zuthuung, ohne Wahrnehmung und Rücksicht auf körperliche Vollkommenheit, bloß und allein durch innere, eine Zuneigung zu einem Gegenstande vom andern Geschlecht entsteht, dies blos Freundschaft, nie Liebe sey, noch genennet werden könne.«403 Emilie von Berlepschs Erkenntnisinteresse in ihrem Aufsatz richtete sich auf die »Dignität« des Phänomens Liebe, weniger auf deren Dauer unter dem Aspekt des Scheiterns und Gelingens.404 Er ist metaphysisch ausgerichtet (und sucht dabei einen Mittelweg zwischen Platonismus und Epikureismus), nicht pragmatisch. Die pragmatische Frage nach der Dauer hat sie in einem anderen Zusammenhang essayistisch behandelt, nämlich einem gleichfalls im Merkur publizierten Beitrag »Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze«,405 worin nun wiederum umgekehrt die »körperliche Vollkommenheit« keine signifikante Rolle spielt. Bezeichnenderweise ist dabei der erste der beiden Aufsätze, welcher die Frage der Dauer weitgehend ignoriert, mit einem männlich konnotierten Habitus verbunden: dem Habitus der Vorlesung;406 der zweite aber, der das Glück als eine Frage der Dauer im Horizont des Scheiterns und Gelingens diskutiert, folgt einem weiblichen Schreibmuster: es handelt sich um schwesterliche Brautbriefe. Diese Differenz im Verhältnis und in der Dynamik der Geschlechter* fortschreibend, gründet sich die Argumentation des Liebes-Aufsatzes vor allem 403
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[Emilie von] B[erlepsch], Ueber Liebe als Leidenschaft, und den Grundsatz zur Beurtheilung ihrer Dignität. Eine Vorlesung. In: Der Neue Teutsche Merkur, Dezember 1790, S. 411–438, hier S. 419. Vollkommen ausgespart bliebt dieser Aspekt allerdings nicht, vgl. [Emilie von] B[erlepsch], Ueber Liebe als Leidenschaft, S. 435. E[milie] v[on] B[erlepsch], Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze. In: Der Neue Teutsche Merkur, Mai und Juni 1791, S. 63–102 und S. 113–134. Zeitliche Aspekte spielen in dem Aufsatz jedoch eine Rolle als mögliche Horizonte anthropologischer Aufklärung: »[…] unserm Jahrzehend wird es hoffentlich gelingen, uns auf den Standpunkt zu setzen, von welchem wir das Wesen des Menschen in seiner eigenthümlichen Gestalt, wenn auch nicht im vollen Lichte erblicken. Die Zunft der Philosophen wird sich darüber vereinigen, daß die Formen der Sinnlichkeit sowohl, als des Verstandes und der Vernunft, nichts anders sind, als besondere Formen unsers Vorstellungsvermögens, und daß jene sowohl als diese vor aller Erfahrung im Gemüthe vorhanden, der Stoff ihnen allen aber in der Erfahrung gegeben sein müsse; und daß also die Sinnlichkeit eine eben so nothwendige wesentliche Eigenschaft des Menschen sey, als die Vernunft und der Mittler zwischen beyden, der Verstand und der Mensch also – M e n s c h seyn müsse. Sinnlichkeit, in welchem, (nur reinen) Verstande des Worts sie auch genommen werde, wird uns also keineswegs herabwürdigen.« ([Emilie von] B[erlepsch], Ueber Liebe als Leidenschaft, S. 412).
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auf literarische Evidenzen,407 während der Ehe-Aufsatz dem Einfluss von Büchern weitgehend skeptisch gegenübersteht. Zurück zu Richters überraschender Mitteilung an Oertel. Der von Richter ausgeplauderte Vorschlag Emilies, ihn »nach LEIPZIG mit[zu]nehmen«, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, auch Oertel gegenüber werden UmzugsOptionen im Allgemeinen und auf Leipzig gerichtete im Besonderen angesprochen. Diese Umzugsoptionen stehen aber nur in Klammern zu amourösen Optionen, die als solche zunächst nicht zu erkennen sind: »Wenn ich wähle, und das thu’ ich bald (ausser Hof, das ich nun in einem 1/2 Jahr verlasse, daher ich dich um einen Rath zum Aussuchen einer Stadt – aber auf einem besondern Blätgen – bitte) so wähl ich wie du« (III 2, 350,25–28). Dass sich die Hauptwahlentscheitung, die außerhalb der Klammern behandelt wird, auf amouröse Optionen bezieht, ergibt sich aus dem Briefkontext: Richter gratuliert Oertel mit seinem Schreiben zur Hochzeit, wenn auch zu einer, die unter ungewissen Vorzeichen hinsichtlich innerer und äußerer Gefährdungen* steht.408 Ein Brief, worin Frau von Berlepsch den erwähnten Leipzig-Vorschlag lanciert, ist nicht überliefert. Wenn es sich nicht um eine mündlich vorgebrachte Idee gehandelt hat, ist das entsprechende Dokument vielleicht gleichfalls der späteren Purifikation von Richters Briefnachlass zum Opfer gefallen. Unabhängig von der Frage, in welchem Medium der Vorschlag stattgefunden hat, handelt es sich aber bei der Option eines gemeinsamen neuen Wohnortes in Hinblick auf mögliche Formen des Scheiterns und Gelingens um eine sehr weitreichende Option. Auch auf die Ereignisse der folgenden Tage fallen von den Korrespondenzen aus allenfalls Schlaglichter, die aber wichtige Zusammenhänge, die offenbar im Gespräch vereinbart werden, im Dunkeln lassen.
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Insbesondere auf Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) als dem Grundtext des Liebesdiskurses im 18. Jahrhundert, sowie auf Johann Friedrich Ernst Albrechts Rousseau-Fortschreibung Lauretta Pisana. Leben einer italienischen Buhlerin (Leipzig: Walther 1789). Oertel hatte am 3. Juli 1797, dem Tag der ersten Begegnung Richters mit Frau von Berlepsch, in Leipzig seine Verlobte Friederike Sophie geb. Petersen geheiratet, war jedoch (oder fühlte sich zumindest) nicht zum Vollzug der Ehe fähig; dabei handelte es sich vermutlich weniger um einen Mangel an den von Emilie von Berlepsch behandelten »nothwenigen Eigenschaften und Grundsätze[n]« zum »Glück der Ehe«, sondern um Folgen einer Geschlechtskrankheit (vgl. den Abschnitt »Innere und äußere Gefährdungen und Krisen der Beziehung: Krankheiten*«), was Richter den Entschluss abverlangt, Oertels Briefe zu einem großen Teil zu verbrennen. Die Assimilation der amourösen Wahl (»so wähl ich wie du«) bezieht sich also auf Friederike Sophie Petersen, die Richter indes zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen hat, so dass hier, in den unausgesprochenen Kriterien seines Wählens, offenbar das »schöner« gegen das »moralischer« zurücksteht.
Am 23. Juli erhält Richter offenbar einen (nicht überlieferten) Brief von Frau von Berlepsch, worin sie ihm sein Schweigen zu einem weiteren Brief, den sie ihm gesandt hat, vorwirft.409 Sie gibt also von Beginn an zu erkennen, dass ihr ein regelmäßiger Rhythmus der Korrespondenz* wichtig ist. Überhaupt geht aus Richters Antwort deutlich hervor, dass sie nachdrücklich ein Geständnis bezüglich der Beständigkeit und den Perspektiven seiner Gefühle zu ihr fordert. Er gibt ihr daher zu Beginn und zum Abschluss seines Antwortschreibens genau Rechenschaft, um seine Zuverlässigkeit im formalen Akt der Kommunikation zu beweisen (daher auch die Unterstreichung des Tages im Datum, die eine Verknüpfung zum gleichfalls unterstrichenen Wort »zuverlässig« im Brieftext herstellt), im Hauptteil des Briefes aber formuliert er seine am Leben des »innern […] Menschen« orientierte Lebensphilosophie: Hof d. 2 3 Jul. 97. Ich stelle meine zwei Entschuldigungen, theuere Freundin, sogleich voraus, um unbefangner mit Ihnen fortzusprechen: Ihren ersten Brief bekam ich nicht, den andern heute; und meine Reise wurde durch die Brustwassersucht meiner Mutter verschoben. – Ihre Vermuthungen sind eben so viele Schmerzen für mich, nicht weil ich unschuldig bin sondern weil Sie [aus: sie] trübe sind. Nein, Theuerste, so leicht vergess’ ich nicht, und so leicht werden Sie nicht vergessen. Aus meinem Herzen durfte nie eine schöne Seele weichen, und keine, die ich liebte, und keine, die gelitten hatte – wie könte Ihr Bild, bei der Vereinigung dieser drei Beziehungen, je in meinem Geiste verschwinden oder erbleichen? Ich dachte oft an Sie, auch ohne meine 3 Lieblingsgesänge von Ihnen, aber immer beklommen, weil ich so viele Stunden Ihres Lebens denen ähnlich fand, die man auf zu hohen Bergen verlebt, in dünner oder leerer Luft, schwerathmend, um uns einsam und kalt, oben der stumme [aus: nakte] Himmel, drunten der Glanz und die Kälte der Gebirge. — — Ach, möcht’ es mein Titan so klar darstellen, als es in mir steht, daß die ganze ideale Welt nur vom innern, nicht vom äussern Menschen betreten und beschauet werden kan – daß der Irthum, sie zu verkörpern, der Wunsch, sie zu be- und erleben [be- und nachtr. üdZ], noch widersprechender ist als die Sitte der Nordamerikaner, die jeden Traum erfüllen zu müssen glauben, und daß es so viel ist als Geister in Körper, Gott in die Welt, Idyllen in Schäfereien verwandeln wollen. Auch mich haben diese Irthümer lange verwundet, aber endlich bekehrt. — Am Dienstags abends [abends nachtr. üdZ] komm’ ich gewis, w e n n das Wetter und meine sieche Mutter es nicht verbieten: liesse sie es aber nicht zu, so komm’ ich während Ihrer 4 Wochen zwar z u v e r l ä s s i g , aber ich meld’ es nicht vorher; denn im Nothfalle könt ich ja in Eger so lange wohnen, bis Sie mir die schöne Nachbarschaft zubereitet hätten. — Recht viel Grüsse an Ihre guten Kinder! Leben Sie wohl, liebe Emilie, der Himmel stille das bewegte Herz mit seinem Frieden und nehm’ ihm alle Thränen weg, die nicht der Freude und der süssen Sehnsucht gehören! JEAN PAUL Fr. Richter 409
Vgl. IV 2, 453, EB 104 und 105.
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N.S. Der Kutscher übergab Ihren ersten Brief dem Hausknecht; dieser ist in Bayreuth; morgen abends [abends nachtr. üdZ] kömt er und hoffentlich Ihr Brief.410
Das Argument im Zentrum des Briefes ist vertrackt und dazu noch mit Positionen Frau von Berlepschs verquickt. Richter erkennt die Gefahr an, dass man sich durch Lektüre in Widersprüche zur Wirklichkeit verstricken könne – dies ist auch die Position Emilie von Berlepschs in Hinblick auf die Dauer von Beziehungen (das »Glück der Ehe«); zugleich aber soll doch auch eine Lektüre, nämlich die seines geplanten »Kardinalromans« in diesem Punkt zur Kur für Leserinnen und Leser werden – dies ist bei ihr der Aspekt der »Dignität«, der den Zeitaspekt unterschlägt. Für die besondere Leserin seines Briefes fingiert er dabei einen imaginären Ort, den des eisigen, menschenfernen (helvetischen) Gebirgsgipfels. Dies ist jedoch eine Phantasie, der nur auf ihrer Seite eine reale Erfahrung (aus ihren eidgenössischen Jahren) entspricht, auf seiner Seite aber sich ebenso auf Papier gründet wie es später seine Schilderungen Roms und Neapels im Titan tun werden, die sich im Wesentlichen an Johann Jacob Volkmanns Historisch-kritischen Nachrichten von Italien orientieren.411 Dass sich Richters Reflexionen zugleich aber auch auf Lektüreeindrücke der Schriften Frau von Berlepschs beziehen, geht – verborgen und daher von Berend auch nicht kommentiert – aus seinem Hinweis auf die »3 Lieblingsgesänge[]« von ihr hervor, der die Hochgebirgsphantasie präludiert. In ihrem in die Sommerstunden aufgenommenen »Berglied« wird genau jene Gipfel-Erfahrung ausgemalt, die Richter hier mit dem Index des »zu oft« versieht.412 Richter lässt also eine Überlagerung der literarischen Topographien aus seiner und aus ihrer Hand zu. Aus weiter Ferne zeichnet sich vor diesem Phantasie-Panorama somit bereits die singuläre Tatsache ab, dass Frau von Berlepsch später einmal die einzige weibliche Mitsprachberechtigte* sein wird, der Richter die Aufgabe überträgt, eines seiner Manuskripte kritisch zu »rezensieren«, nämlich dasjenige des Titan.413 Durch die komplexe Struktur, so möchte man sagen, sind Potentiale des amourösen Gelingens* ebenso vorbereitet wie unauflösliche Missverständnisse*. 410 411 412
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III 2, 352, Nr. 666; Textgrundlage: Originalhandschrift. 3 Bde., Leipzig 1770–1771. Vgl. Berlepsch, Sommerstunden, S. 45–53 – möglicherweise gab es auch eine Vertonung; insgesamt fällt in diesem Zusammenhang das Desinteresse des glänzenden Textphilologen Berend an Fragen der Verflechtung des Briefgesprächs mit anderen Diskursen* in Bezug auf die Musik auf, vgl. auch Jörg Paulus, »Gespräch zwischen den beiden Gesichtern des Janus«. Jean Paul und der Dilettantismus in der Zeit des ›Hesperus‹. In: Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst in Klassizismus und Romantik, hg. von Jutta Müller-Tamm, Cornelia Ortlieb, Freiburg 2004, S. 265–282, bes. S. 271–274. Die entsprechende Brief-Rezension Emilie von Berlepschs ist leider nicht überliefert, vgl. aber III 3, 8,28, Nr. 9 und Erläuterung.
Wie im Brief angekündigt, begibt sich Richter am Dienstag, den 25. Juli zu Fuß nach Franzensbad.414 Kaum eingetroffen, erreicht ihn aber die Nachricht vom Tod seiner Mutter, so dass er eilig (vermutlich am nächsten Morgen) nach Hof zurückkehrt und dies Emilie von Berlepsch in einem nicht erhaltenen Schreiben vom Abend des 25. oder vom Morgen des 26. Juli mitteilt. Das nächste Lebenszeichen, das sie von Richter erhält, ist ein vermutlich mündlich übermittelter Auftrag, den er dem nach Böhmen reisenden Kaufmann Johann Georg Herold, dem Vater Amöne Herolds, mitgegeben hat. Der Auftrag besteht darin, einen in Franzensbad bei Frau von Berlepsch zurückgelassenen Rock nach Hof zu bringen. Diese Forderung wird von Emilie offenbar als das Entreißen eines symbolischen Liebespfandes verstanden. In einem Brief an ihn macht sie dies deutlich. Vermutlich ist Herold der Briefträger auch dieses ersten Schreibens an Richter, das aus der Hand Emilie von Berlepschs überliefert ist. Bereits mit der Datierung »Franzenbad am Freitag Abend« – dies ist der 28. Juli 1797 – bezieht sie sich auf Prätexte des Augenblicks, und zwar konvergierend und abweichend zugleich: einerseits stimmt Emilie mit ein in Richters Abendstunden-Enthusiasmus, den er in seinem Brief vom 23. Juli noch einmal durch die zweifache nachträgliche Einfügung des Wortes »abends« herausgestrichen hat; andererseits widerspricht die Betonung des Abends dem Gebot der ruhigen Zuverlässigkeit, das nach (Post-)Tagen rechnet, nicht nach Tageszeiten. Der »Abend« signalisiert also akuten epistolären Handlungsbedarf auf Seiten der Schreiberin. Den Grund für die Not, so eilig noch zur Feder zu greifen, erfährt Richter gleich in den ersten Zeilen des Briefes, mit denen Frau von Berlepsch all seine philosophischen Ratschläge in den Wind schlägt: Guter, lieber JEAN PAUL! Unvergesliche Erscheinung aus jener verschleierten, selig geahndeten Welt. Werden Sie es mir verzeihen, wenn ich wieder klage? – nicht über Sie, o nein der wärmste Dank für Ihr Kommen wird nie in mir auslöschen – aber über mein unbegreiflich hartes Schicksal das Sie weil ich wieder gezüchtigt werden sollte mit treffen mußte – und wieder bitte? O ich habe recht viel zu bitten, und was ists in mir das mich abhalten will? das415 mich beinah hindert so ganz unbefangen, ganz mit offener Seele auf diesem Papier zu sprechen, zu leben, wie ich es doch in Ihrer Gegenwart that?416
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Der Kommentar zu Bd. IV 2 ist in dieser Hinsicht an zwei Stellen zu korrigieren: S. 859, Erläuterung zu S. 355,3–4, und S. 863, Erläuterung zu S. 357,13 (jeweils muss »Juli« anstelle von »August« stehen). Die Schreibweise dieses Wortes ist in Bd. IV 2, 353,24 gleichfalls zu korrigieren (dort: »daß«); ich danke Prof. Dr. Takao Tsunekawa (Tokio) für diesen Hinweis; der korrekte Texte ist erstmals gedruckt in: Jörg Paulus, Liebesbriefkultur. Zur Kommunikation der Gefühle im 19. Jahrhundert, Tokio 2008 (Meiji University, International Exchange Programs, Guest Lecture Series). H: BJK Berlin A; vgl. IV 2, 353,17–26, Nr. 214.
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Richter, »Jean Paul« genannt, wird als Erscheinung aus einer anderen Welt angesprochen, zu der – so wäre zu ergänzen – zunächst seine Romane und nun auch seine Briefe den Zugang vermitteln. Dem wird die beklagenswerte Realität entgegengestellt, der Tod seiner Mutter, ein Ereignis, das ihn ihr als ihr »hartes Schicksal« so schnell wieder entrissen hat. Es liegt auf der Hand, dass er ihr diesen Gedanken als eigennützig auslegen könnte – und damit gerät ihre Klage schon wieder ins Kraftfeld einer Verflechtung des brieflichen Liebesgesprächs mit anderen Diskursen*, in diesem Falle dem Diskurs der beiderseitigen Publizistik und epistolaren Lebensphilosophie. Bereits im Aufsatz Ueber Liebe als Leidenschaft hat Frau von Berlepsch das Thema des Egoismus in der Liebe berührt und dabei dem Egoismus auch eine Berechtigung zugestanden. In einem Brief an Johann Gottfried und Caroline Herder hat sie dazu geschrieben: »Aber Liebe ist ein egoistisches allverschlingendes Ding. Liebe verschlang mich, meine Ruh, mein Glük beinah meine Existenz und gab mir am Ende – Nichts«.417 Zugleich reagiert sie im Brief an Richter aber auch auf Jean Pauls Reflexionen über Liebe und Egoismus in der Abhandlung »Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen« aus dem Anhang zum Quintus Fixlein,418 den sie gelesen hat, wie ein anderer Brief an den Dichter belegt.419 Entschieden verteidigt sie nun aber ihre theoretische Position und damit auch ihr praktisches, das heißt epistolares und epistoläres Handeln: Weis ichs denn nicht daß k e i n e Liebe ganz rein von Egoismus ist, und ists nicht Härte gegen mich selbst daß ich mir vorwerfe ich liebte Sie nicht uneigenüzig genug, da ich den Gedanken fast nicht zu ertragen vermag, daß Sie nicht wieder herkommen mögten, obgleich ich selbst dazu rathen müßte wenn Sie es irgend nicht ganz gern, ganz leicht und sich unschädlich thun können.420
Auf der Basis ihrer theoretischen Vorüberlegungen bewegen sich auch die folgenden Mitteilungen Frau von Berlepschs. Die Körperlichkeit bleibt Grundlage der Empfindungen, so wie sie es im ersten der beiden MerkurAufsätze formuliert hat: »Ich habe hier von Liebe, insofern sie Leidenschaft bedeutet, zu reden, und da sie nothwendig auf einen äussern Gegenstand unmittelbar sich beziehet, so wird sie unstreitig auf Sinnlichkeit sich gründen.«421 Sinnliche Zeichen sind es denn auch, denen die Empfindung und die Schrift folgen, seien es solche des Gleichgewichtssinns, solche der sinnlich wirksamen Phantasie oder solche der Erinnerung an »Hand« und »Wort« Richters, die ihr seine baldige Rückkehr zugesagt haben. Die Rückforderung seines 417 418 419 420 421
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Brief vom 5. Mai 1792 H: BJK, Berlin A, vgl. IV 2, 858, Erläuterung zu S. 353,26–27. Vgl. I 5, 208–213. Vgl. IV 2, 401,35 und Erläuterung. H: BJK Berlin A; vgl. IV 2, 353,26–32. [Emilie von] B[erlepsch], Ueber Liebe als Leidenschaft, S. 413.
symbolischen Körpers aber, des Rocks, zerstört das labile Gleichgewicht zwischen Empfindungen und Hoffnungen und affiziert dabei erneut den Leib: Ach ich bin seit Ihrer Abreise, oder vielmehr seit Ihrer Ankunft – gar nicht wieder ins Gleichgewicht gekommen. Ich mag Ihnen nicht ausmahlen wie Sie mir vorgeschwebt haben, wie ich mit und für sie empfand, und mich für Sie ängstigte, denn der hohe Muth mit dem Sie hier Ihre Schmerzen bestritten täuschte mich nicht. Aber Sie ließen mir eine große Hoffnung, Sie gaben mir Ihr Wort und Ihre Hand daß Sie wiederkommen würden; ich suchte meinen kleinmüthigen Zweifel zu besiegen, ich war es würklich meiner Gesundheit schuldig zu hoffen, zu glauben, und ich thats bis heute Ihr Freund422 kam. Kein Unmuth, kein Vorwurf drüber daß nicht eine einzige Zeile den Bogen begleitete; solche Forderungen der Zärtlichkeit muß man unterdrüken können – aber wie Ihr Freund mir Ihren hier gelaßenen Rok abfoderte, ward ich blas, mußte mich anstüzen, und vermögte kaum die Frage: ob Sie denn nicht wiederkommen würden? Sehr kalt und hart antwortete er mir, er zweifele daran; und ich glaube warlich keinen schärfern Schmerz in meinem so schmerz- und täuschungsvollen Leben gefühlt zu haben. Was soll ich Ihnen drüber sagen? Und was würde es nüzen wenn ich Ihnen, großer Kenner wahrer und starker Gefühle das schildern wollte, was Sie schon wißen müßen wenn Sie mich würklich durchgeblickt haben, wenn Sie nur einen Augenblick an meine Freude zurück denken wollen.423
Philologisch opak bleibt hier die Lesart des Wortes »Bogen«. Gegenüber der Wucht ihres Zweifels mag diese Unsicherheit unbedeutend erscheinen, zumal das Wort in einer konzedierenden Phrase steht: dafür (»darüber«), dass kein Brief den »Bogen« begleitet, macht Frau von Berlepsch Richter ja ausdrücklich »kein[en] Vorwurf«. Der Vorwurf steht aber dennoch (auch als verneinter) auf dem Papier und produziert somit einen Widerspruch. Entweder die Lesart »Bogen« ist richtig, dann wäre der (Papier-)Bogen ja ein Schreiben, dessen Ausbleiben zugleich eingeklagt wird. Möglich ist natürlich, dass Richter seine Forderung nur formell – zum Beispiel als eine Art Vollmacht für Herold – formuliert hat, ohne persönliche Bezugname auf das, was sich zuvor während seines Besuchs ereignet hat. Mindestens ebenso wahrscheinlich erscheint aber die Annahme, dass Emilie von Berlepsch sich verschrieben hat und »Bogen« anstelle von »Boten« aufs Papier gebracht hat. In diesem Falle wäre der Brief als ein Dokument zu deuten, das den grundlegenden Wechsel zwischen der vor-postalischen Mitteilungsform und der postalischen aus dem Speicher des kulturellen Gedächtnisses zitiert und dabei einen Verlust einklagt:424 Weder das zeitgemäße Mitteilungsmedium, der Brief (Bogen), noch das traditionelle, der Bote, ist Zuträger der ersehnten Botschaft. Eine Emendation an dieser Stelle wäre nicht nur für eine spezifische Textkonstitution, 422 423 424
Gemeint ist Johann Georg Herold. H: BJK Berlin A; vgl. IV 2, 353,33–354,21. Vgl. Horst Wenzel, Boten und Briefe. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, hg. von Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten, Reinbeck 2002, S. 136–142 (vgl. den Abschnitt über das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Liebesrede*).
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sondern grundsätzlich unangemessen, da ja der Brieftext selbst auf die Zeichen der körperlichen Desorientierung abhebt.425 Die philologische Aufhebung des Widerspruchs würde also zugleich einen neuen Widerspruch produzieren. Der zweite Teil des Briefes steht im Zeichen einer Vorab-Berechnung des künftigen Beziehungsverlaufs. Das Raisonnement nimmt dabei seinen Ausgang bei den unmittelbar anstehenden Entscheidungen, richtet dann im Schlaglicht eines eingeschobenen Schiller-Zitats den Blick auf die »Ewigkeit«, um schließlich mit der Dauer ihres Kuraufenthaltes einen kalkulierbaren emotionalen Erwartungshorizont zu schaffen. Auffällig unter der Fragestellung nach der anvisierten Dauer der Beziehung ist, dass die Frage der gemeinsamen Zukunft in Leipzig, die doch laut Richters Brief vom 17. Juli an Oertel schon im Raum steht, hier ausgespart bleibt. Möglicherweise würde er im labilen Gleichgewicht zwischen Enttäuschung und Hoffnung ein allzu schweres Gewicht haben: Und doch bitte ich nicht daß Sie kommen mögten. Ich kann mich schon nicht drüber trösten daß ich Sie zu der Ihnen so fatalen beschwerlichen, unnüzen Reise, so dringend genöthigt hatte. Folgen Sie Ihrem Herzen; – wenn d a s für mich spricht – können Sie mir sagen warum, all Ihrer Güte, Hingebung und Mittheilung ohnerachtet, ein Etwas in mir ist daß immer zweifeln will? – so gehen Sie nicht nach kleinen Hinderniße und äuseren Abhaltungen. »Was wir von der Minute ausgeschlagen, / giebt keine Ewigkeit zurück«426 Das gilt bey mir einzig nur von ächten reinen Seelenfreuden, und glauben Sie es mir, es kann für mich in k e i n e m Leben eine h ö h e r e geben, als der unmittelbare Seelenumgang mit Ihnen, treflicher Mensch. Ach wir haben uns ja noch nichts gesagt. Heute über 3 Wochen gehe ich von hier – das ist entsezlich lange wenn Sie nicht kommen. Jeder Tag jede Zeit da Sie kommen wollen und können ist mir recht und lieb. Richten Sie’s so ein, daß wir zusammen nach Hof zurükgehen. Es geht sehr gut an daß wir zusammen fahren, ich habe schon eine Einrichtung darnach gemacht. Aber nur herreisen sollen Sie n i c h t w i e d a s e r s t e m a h l . Schreiben Sie mir einen b e s t i m m t e n Tag, und i c h hole Sie in Asch ab. I c h w i l l e s s o , laßen Sie mich einmahl ein wenig despotisiren. Auch sollen Sie hier mehr Freiheit und Bequemlichkeit haben, ein einzelnes Stübchen oben, und Kaffee um 6 Uhr.427
In der Coda des Briefes überlagern sich dann beide Elemente, die die Organisation des Briefes bis dahin bestimmt haben: das der Körperlichkeit und das der Zeitlichkeit. Der Rock taucht noch einmal auf und wird dabei wie eine 425
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Im Kommentar zu dem Brief in Bd. IV 2 wurde daher auf eine entsprechende Lesart verzichtet und die Möglichkeit des Schreibfehlers in den Erläuterungen angesprochen, vgl. S. 859, Erläuterung zu S. 354,9. Die Verse stammen aus Schillers Gedicht »Resignation«, das 1786 im zweiten Heft des ersten Bandes der Thalia (S. 64–69) erschienen war (vgl. SNA 1, 166–169, V. 99– 100). H: BJK Berlin A; vgl. IV 2, 354,22–355,8.
Person behandelt, der Bote steht drängelnd im Hintergrund, die Federzüge zeichnen den vom Brunnenwasser hervorgerufenen Schwindel nach, aber all diesen schwindelerregenden Erfahrungen wird die Beschwörung einer Fortsetzung des Briefgesprächs entgegengestellt, durch die sich die Schreiberin dann doch zuletzt auf einen festen Boden zu schreiben vermag: O Ihr fataler Rock, eben holte ich ihn her, und sah ihn sehr finster an; wenn der nicht wäre könnte ich noch in Hoffnung glücklich seyn! Ich hätte noch einiges mir sehr wichtiges auf Ihren gleich nach Ihrer Abreise mit Thränen geleßnen Brief zu sagen; aber Herr Herold treibt mich, mein Kopf ist berauscht und schwindlich vom Brunnen, ich sehe kaum meine Federzüge. Recht bald schreibe ich wieder. Ihr Freund, der mir ein sehr braver und vernünftiger Mann zu seyn scheint wird einen Brief hierher an mich so besorgen, wenn Sie ihm solchen geben, daß er mir gleich und richtig zukommt. Vergeßen Sie nicht, daß Sie mir versprachen sich zu schonen, und welche heiligere Pflicht kann Ihnen Ihre Menschenliebe auflegen?428
Die Bestimmtheit dieses Briefschlusses wird indes wieder unscharf, wenn man auch diese Passage philologisch seziert: Zum einen bringt die hier behauptete frische Nachwirkung des grundsätzlich morgens einzunehmenden Brunnentrunks429 die Datierung »Franzensbad am Freitag Abend«, die im Übrigen durch Überschreibung entstanden ist (»Freitag« aus Mitt[woch]«), doch ins Wanken. Oder es liegt dabei eine Art Verschiebung von einer inneren Veranlassung auf einen äußeren Grund vor, den Genuss des üblicherweise als ›Egerwasser‹ bezeichneten Franzensbader Sauerbrunnens. Ein weiteres philologisches Vakuum bildet sich aus der fehlenden Schlussformel und/oder Unterschrift am Ende des Briefes. Textphilologisch kann diese Leerstelle ebensowenig repräsentiert werden wie der Widerstreit zwischen Datierung und Morgentrunk, in diesem Falle einfach deshalb, weil kein entsprechender Text vorhanden ist. Auch für die Kommentierung ergibt sich kein Angriffspunkt, es wäre denn ein Lemma der Leere, obgleich doch der Sachverhalt auf eine fundamentale Unsicherheit innerhalb einer Liebeskorrespondenz verweist. Richters Antwortbrief-Einsatz vom 30. Juli 1797 aus Hof »Gute Emilie! So nenn’ ich Sie künftig« (III 2, 354,25, Nr. 670, Textgrundlage: Originalhandschrift) ließe sich freilich als unmittelbare Korrespondenzstelle zu dieser Leerstelle behandeln (und entsprechend spezifisch kommentieren). Auch in diesem Antwortbrief spielt der Zukunftsplan keine erkennbare Rolle. Er beginnt vielmehr mit einer Garantieerklärung auf Rechnung der eigenen Vergangenheit: Gute Emilie! So nenn’ ich Sie künftig: schon in meiner Kindheit klang der Name Emilie meinem Herzen weissagend-schön. – Ich setze eilig voraus, daß Sie bei mir die 428 429
H: BJK Berlin A; vgl. IV 2, 353–355, Nr. 214. Vgl. Carl Eduard Hoser, Beschreibung von Franzensbrunn bey Eger, Prag 1799.
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moralische Unmöglichkeit voraussetzen, gegen mein Ehren-Wort – das ich meinem blossen Worte weit vorziehe – oder gegen irgend eine freundliche Erwartung eines Menschen (geschweige eines geliebten) zu handeln: sonst hätt’ ich weder durch mein Schweigen noch durch den zurükgefoderten Rok Ihre liebenden Irthümer verdoppelt.430
Der Verweis auf die onomatoprophetische Kraft des Namens Emilie in der Kindheit des Briefschreibers erweist sich philologisch zugleich als eine durch Literatur vermittelte Verstärkung der Verbundenheit: kannte doch jeder Leser und jede Leserin »Jean Pauls« die Verankerung der Glücksempfindung, die den »hohen Menschen« seiner Romane zuteil wird, in der Kindheitsahnung.431 Das Echo dieser kindlichen Sprachmagie im Brief des Erwachsenen ist das Wortspiel: »Emilies« Habitus der Erwartung und Enttäuschung wird in der figura etymologica zum sprechenden Zeichen der Liebe (»Erwartung […] eines geliebten [Menschen]« und »Ihre liebenden Irthümer«), die durch die Zusicherung von Richters erwachsenem »Ehren-Wort« erwidert wird. Das »EhrenWort« verpflichtet ihn nun aber auch zu exakten Angaben für die nahe Zukunft: Er werde, so schreibt er, am »5ten August (Sonabends) […] von 10 Uhr morgends an« auf sie »in Asch im Wirtshaus mit einem Rosse glaub’ ich bezeichnet« auf sie warten und acht Tage in Franzensbad bleiben; nur bei Regenwetter wolle er die Reise verschieben.432 Dass aber Wochentag und Monatstag in doppelter Buchführung verzeichnet sind, verrät doch wohl, dass auch Richter die Datums-Unschärfe im beantworteten Brief nicht entgangen ist. Nach einem weiteren, nun auf eine Woche ausgedehnten Besuch Richters in Franzensbad, nimmt Emilie von Berlepsch ihr Wanderleben zunächst wieder auf. Richter wiederum seinerseits nimmt die Umzugspläne nach Leipzig in Angriff. Er gibt Oertel genaue Anweisungen für eine Wohnung, die er für ihn aussuchen soll und umrahmt diese Anweisungen mit Lobpreisungen Emilies: «Sie ist die erste genialische Frau, bei der mein Herz keine moralische Schmerzen litt.«433 Damit ist die Variable der Genialität in ein neues Verhältnis gebracht. Zugleich teilt Richter dem Freund eine Lebensmaxime mit, die er für bewährt befindet, die ihn aber in den amourösen Kontexten der Folgezeit nicht selten in Schwierigkeiten bringen wird: »Meine ewige Regel für lange 430 431
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III 2, 354, Nr 670, vgl. das Faksimile des Briefes zwischen S. 360 und 361. So zum Beispiel in einer der berühmtesten Passagen des Hesperus, in der Victor und Klotilde sich am zweiten Pfingsttag auf der »Insel der Seligen« Maientals finden: sie ist im Nebelland von Victors »Kinderträumen« präfiguriert, das Schweigen der Liebenden dort lässt sich – wie dasjenige Emilies unter ihrem Brief – als Artikulation des unaussprechlichen Affekts und als profaniertes Pfingstwunder im unscharf codierten Kommunikationssystem der Liebenden lesen. Zur Kindheit als literarisierbarem Erfahrungsraum um 1800 vgl. Anette Simonis, Kindheit in Romanen um 1800, Bielefeld 1993. III 2, 355,4–6. III 2, 360–361, Nr. 676; Textgrundlage: Originalhandschrift.
[lange nachtr. üdZ] fortwirkende Entschlüsse [aus: CONCLUSA] ist: zu z ö g e r n . Denn der Zufal gab mir immer bei wichtigen Dingen das Räderwerk und ich brauchte es nur aufzudrehen« (III 2, 360,37–361,2, Nr. 676). Richters Zögern zeigt sich im Rhythmus der Korrespondenz* nach Emilies Abreise aus Hof deutlich. Als Korrespondenz-Schema dargestellt, ergibt sich dabei folgendes Bild: EvB an R, Treben bei Altenburg, 3.9.1797 (IV 2, Nr. 228) EvB an R, Naumburg, 16.9.1797 (IV 2, Nr. R an EvB, Hof und Bayreuth, 10.–12.9.1797 (III 2, Nr. 697, Antwort auf IV 2, Nr. 228, 232, sich kreuzend mit III 2, Nr. 697) sich kreuzend mit Nr. 232) EVB an R, Weimar, 23.9.1797 (IV 2, Nr. 233, Antwort auf III 2, Nr. 697) R an EvB, Hof, 2.–4.10.1797 (III 2, Nr. 707, Antwort auf IV 2, Nr. 232 und 233) EvB am R, Weimar, 15.–19.10.1797 (IV 2, Nr. 243, Antwort auf III 2, Nr. 707)) Umzug Richters nach Leipzig: 28. Oktober 1797 EvB an R, Weimar, 16.11.1797 (IV 3.1, EB 8) R an EvB, Leipzig, 17.–19.11.1797 (III 3, Nr. 10, Antwort auf IV 3.1, EB 8) EvB an R, Weimar, vor dem 19.12.1797 (IV 3.1, EB 16) Umzug Emilie von Berlepschs nach Leipzig: 20. Dezember 1797
Sechs Briefe Emilie von Berlepschs stehen vier von Richters Hand gegenüber, einige ihrer Briefe werden gar nicht beantwortet, so dass sie ihn sicherlich zu Recht wiederholt über sein »Schweigen zur Rede« sezt (III 3, 25,30, Nr. 27). Vergleicht man das Korrespondenzmuster der Berlepsch/RichterKorrespondenz mit demjenigen des Briefwechsels von Richter und Charlotte von Kalb, dann ergeben sich Übereinstimmungen und Abweichungen. Auch im Kalb-Briefwechsel fallen anfängliche Überkreuzungen auf, auch hier ist es die Briefschreiberin, die nach der Überkreuzung die Initiative ergreift, um das epistoläre Patt zu überwinden. Im Laufe der Zeit stellt sich dann aber ein regelmäßiges Korrespondenzmuster ein, das dann sehr viel dauerhafter ist als im Berlepsch-Briefwechsel:
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CvK an R, Weimar, 1.–4.(?)7.1796 (IV 2, Nr. 120) (noch während Jean Pauls Anwesenheit begonnen, nach seiner Abreise beendet) CvK an R, Jena, 9.–11.7.1796 (IV 2, Nr. 121), sich überkreuzend mit III 2, Nr. 356 CvK an R, Weimar oder Jena, 16.7.1796 (IV 2, Nr. 122) CvK an R, Weimar, Ende Juli, Anf. August 1796 (IV 2, EB 51), sich überkreuzend mit III 2, Nr. 369 CvK, Weimar nach dem 3. und vor dem 17.8.1796 (IV 2, EB 52)
R an CvK, Hof, 11.7.1796 (III 2, Nr. 356), sich überkreuzend mit IV 2, Nr. 121
R an CvK, Hof, 3.8.1796 (III 2, Nr. 369) (A zu Nr. 121 und 122), sich überkreuzend mit IV 2, EB 51
R an CvK, Hof, 17.8.1796 (III 2, Nr. 381) CvK an R, Weimar, 29.8.1796 (IV 2, Nr. 136) CvK an R, Weimar Anf. Sept. 1796 (IV 2, EB 56) sich überkreuzend mit III 2, Nr. 396 CvK an R, Weimar, vor dem 12.9.1796 (IV 2, EB 58), sich überkreuzend mit III 2, Nr. 407
R an CvK, Hof, 1.9.1796 (III 2, Nr. 396), sich überkreuzend mit IV 2, EB 56 R an CvK, Hof, 13.9.1796 (III 2, Nr. 407) (A zu Nr. 136 und EB 56), sich überkreuzend mit IV 2, EB 58
CvK an R, Weimar 16.10.1796 (IV 2, Nr. 144) CvK an R, Weimar, nach dem 15.9. und vor dem 26.10.1796 (IV 2, EB 74) R an CvK, Hof, 8.11.1796 (III 2, Nr. 456) CvK an R, Weimar 22.–23.11.1796 (IV 2, Nr. 155) R an CvK, Hof, 5.12.1796 (III 2, Nr. 477) CvK an R, Weimar 12.12.1796 (IV 2, Nr. 161) R an CvK, Ende 1796 bis 29.1.1797 (III 2, Nr. 515) CvK an R, Weimar 5.2.1796 (IV 2, EB 86) (ob A zu Nr. 515 ist unsicher) R an CvK, Hof, 21.2.1796 (III 2, Nr. 539) CvK an R, Weimar nach dem 21.2. und vor dem 3.4.1797 (IV 2, EB 93) R an CvK, Hof, 3.4.1797 (III 2, Nr. 576) CvK an R, Weimar nach dem 3. und vor dem 17.4.1797 (IV 2, EB 96)
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R an CvK, Hof, 17.4.1797 (III 2, Nr. 590) R an CvK, Hof, 7.6.1797 (III 2, Nr. 633) CvK an R, Weimar, 21.6.1797 (?) (IV 2, Nr. 206) R an CvK, Hof, 3.8.1797 (III 2, Nr. 674) R an CvK, Hof, 21.10.1797 (III 2, Nr. 727)
Allerdings sagt ein isoliertes Korrespondenzschema alleine noch nicht sehr viel über die Perspektiven des Scheiterns und Gelingens einer Beziehung aus. Wie der Briefwechsel zwischen Richter und Esther Bernard zeigt, der fast gleichzeitig mit dem Berlepsch-Briefwechsel beginnt, jedoch einen ganz anderen Verlauf nimmt, müssen Korrespondenzmuster stets in den Zusammenhang mit anderen Korrespondenzmustern gestellt werden. Für sich betrachtet ergibt sich folgendes Bild der Briefbeziehung zu Esther Bernard: EB an R, Franzensbad, 29.7.1797 (IV 2, Nr. 216)
R an EB, Hof, 30.7.1797 (III 2, Nr. 671)
EB an R, Breslau, 28.10.1797 (IV 2, Nr. 247)434 EB an R, Breslau, 2.12.1797 (IV 3.1, Nr. 7) R an EB, nach dem 19.12.1797 (vgl. III 2, Nr. 26)
Hinter dem scheinbar regelmäßigen Muster verbergen sich jedoch schroffe Brüche im amourösen Dialog: Esther Bernard geb. Gad (um 1767 – nach 1833) stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, ihr Vater ist ein zunächst durch jährliche Abgaben, später durch ein Generalprivileg geschützter Kaufmann in Breslau, ihre Mutter ist eine Tochter des berühmten Hamburger Oberrabbiners Jonathan Eibenschütz (1690–1764). Wie die deutlich ältere Emilie von Berlepsch ist auch Esther Bernard geschieden (seit 1796) und hält sich, als sie Richter kennenlernt, mit ihren Kindern, dem Sohn Jonas (geb. um 1791) und der Tochter Jeanette (Nettchen) (geb. um 1795), zur Kur in Franzensbad auf. Auch sie ist seit Anfang der neunziger Jahre schriftstellerisch hervorgetreten – unter anderem mit Schriften, die dezidiert Emanzipationsansprüche* im Rahmen des Geschlechterverhältnisses anmelden.435 434
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Diesem Brief wird in IV 2 nicht derjenige Richters vom 30. Juli als Korrespondenzstelle zugerechnet; im amourösen Briefgespräch gebieten es aber gerade die Brüche, die zwischen den Briefen statthaben, von einem Korrespondenzzusammenhang auszugehen. Vgl. ihren Beitrag Einige Aeußerungen über Hrn. Kampe’ns Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend in der von Christian Daniel Voß in Halle herausgegebenen Zeitschrift Der Kosmopolit (Bd. 3. Halle: Renger 1798, S. 577–590); zur Biobibliographie Esther Bernards vgl. zusammenfassend IV 2, 861–862, einleitende Erläuterung zu Nr. 216,
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Von Anfang an steht ihre Beziehung zu Richter unter dem ungünstigen Stern einer konkurrierenden anderen Liebesbeziehung*, eben derjenigen zu Emilie von Berlepsch. Ihr erster Brief an ihn kaschiert die Konkurrenz allerdings noch. Nachdem Richter, dessen Bücher sie verehrt, seinen ersten Franzensbadaufenthalt wegen des Todes seiner Mutter unvermittelt abgebrochen hat, bleibt ihr zunächst allein die Genugtuung, in Richters Informationspolitik wenigstens nicht benachteiligt worden zu sein: Fräulein Berlepsch sagte mir auf dem Ball daß Sie fort wären, und warum. Ich danke es Ihnen daß Sie schon am Morgen etwas davon erwähnten. Ein unerwartetes Uebel ist nicht schwerer, aber es preßt mehr; als wenn es einen härtern Körper hätte als ein Erwartetes.436
Bezüglich der Wünsche, die an den Empfänger gerichtet werden, ähnelt der Brief den ersten überlieferten Briefen Emilie von Berlepschs: Esther Bernard bittet um Richters Rückkehr nach Franzensbad, teilt ihm die verbleibende Zeit ihres Kuraufenthaltes mit, erwägt, falls er nicht nach Böhmen kommen kann, ihn in Hof zu besuchen, und erwähnt schließlich – ohne einen Namen zu nennen – Johann Georg Herold als möglichen Boten. Anders als im Falle Frau von Berlepschs bezieht sie jedoch noch weitere Personen in ihr Netzwerk der Wünsche mit ein, namentlich ihren Bruder, der, wie sie schreibt, sich aus der Ferne mit ihr über Richters Gegenwart freuen werde. Daneben gibt sie aber auch ein Signal der amourösen Bindung: sie wolle, so schreibt sie, in Hof »im brandenburgschen Hause« – wo später auch Emilie von Berlepsch wohnen wird – absteigen, dabei, so fährt sie fort, »bringe [ich] meinen Freund mit, dem ich Sie so rapsodisch präsentirte, dessen nordisches Herz südliche Gefühle hat.«437
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sowie Peter Beer, Esther Bernard, geb. Gad. Eine biographische Skizze. In: Sulamith 5, 1817, Bd. 1, Heft 4, S. 252–258; Bernhard Brilling, Eibenschütziana, in: Hebrew Union College Annual 35, 1964, S. 255–273; Karin Rudert, Die Wiederentdeckung einer ›deutschen Wollstonecraft‹: Esther Gad Bernard Domeier für Gleichberechtigung der Frauen und Juden. In: Quaderni 10, 1988, S. 213–264; Barbara Hahn, »Geliebtester Schriftsteller«. Esther Gads Korrespondenz mit Jean Paul. In: JbJPG 16, 1990, S. 7–42. Shirley Brückner, Religion und Geschlecht. Zur Bildungsidee jüdischer Frauen um 1800 (Magister Arbeit Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) 2003; Andrea Albrecht, Bildung und Ehe »genialer Weiber«. Jean Pauls »Diesjährige Nachlesung an die Dichtinnen« als Erwiderung auf Esther Gad und Rahel Levin Varnhagen. In: DVjs 80, 2006, S. 378–407. IV 2, 357,19–23, Nr. 216; Textgrundlage: Originalhandschrift. Im Zuge der Recherchen für Band 2 der Briefe an Jean Paul habe ich im Regionalarchiv Cheb eine Liste der Badegäste in Franzensbad aufgefunden (bei diesem »Verzeichnüß deren Pl. Tit. Herren Kurgästen auf dem Kaiser Franzensbad 1797« handelt es sich um das älteste überlieferte Verzeichnis dieser Art für Franzensbad), die es erlaubt, den von Barbara Hahn bereits gemutmaßten Freund Esther Bernards zu identifizieren: dort wird als Begleiter Esther Bernards »Herr Friedrich v. Blandow aus Schwedisch Pommern« verzeichnet; er war ein Freund des Berliner kantianischen Philosophen Jo-
Das Szenario, das der Brief entwirft, besteht also aus zwei Figuren, die beim Namen genannt werden: »Fräulein Berlepsch« und die Verfasserin des Briefes selbst: »Meine Addreße ist wie meine Unterschrift: […] E. Bernard | geborene Gad« (IV 2, 35827–30), wobei die Akzentuierung des Geburtsnamens eine Art formale Freistellung vom Ehestand anzeigt. Im Hintergrund des Briefes bewegen sich – namenlos – die Kontextfiguren: der Bruder, der Bote, der Liebhaber, die Verstorbene, von der als von einer »guten alten Frau« die Rede ist (IV 5, 358,1). Der Name des Adressaten wird gleichfalls verschwiegen, Esther Bernard spricht ihn nur indirekt als den »Verfaßer des Hesperus« an. Richters Antwort vom Folgetag ist nur abschriftlich im Briefkopierbuch überliefert. Dieser Abschrift und der darin dokumentierten blumenreichen Ausdrucksweise zufolge bleibt Richter briefstellerisch hier nun in der Tat ganz Schriftsteller, »Verfaßer des Hesperus«, »Jean Paul«, und respektiert durch diese Variante in der Wahl der Liebessprache* Esther Bernards Signal der Gebundenheit, trägt aber sicherlich auch seinem gleichzeitigen SichEinlassen auf die viel kompromisslosere Werbung Emilie von Berlepschs Rechnung: »Die scharfe Eisenkette des Schiksals ris mich hart von Ihnen ab, aber die weiche Blumenkette der Liebe – deren Kette länger dauert als ihre Blumen – zieht mich sanft zurük« (III 2, 355,24–26, Nr. 671). Zur briefstellerischen Strategie der literarisierten Liebessprache gehört es nun aber, das schriftstellerische Licht unter den Scheffel zu stellen: die Kopie im Briefkopierbuch endet mit dem Satz: »Leben Sie froh im lichten Himmel Ihres Wesens, ich kenne Sie nur genug, um Sie zu lieben, aber nicht, um Sie zu schildern« (III 2, 355,31–33). Ihren zweiten Brief an Richter schreibt Esther Bernard erst nach einer beträchtlichen Pause im Rhythmus der Korrespondenz*, beginnt ihn nun aber – am 28. Oktober in Breslau – mit einem nur notdürftig in eine Klammer eingeschlossenen Liebesgeständnis, womit ein direkter Korrespondenzbezug bereits hergestellt ist: Ich habe mich niemals mit so leerem Kopf und so vollem Herzen zum schreiben gesezt als heute – außer als ich verliebt war. (zanken Sie nicht über das w a r mit mir, heben Sie es mit dem v e r auf.)438
Schon nach wenigen Zeilen kommt in ihrem Brief jedoch das Gefühl der Zurücksetzung zur Geltung, das sie während Richters zweitem Franzensbadaufenthalt offenbar empfunden hat. Der Person aber, die sie in ihrem ersten Brief noch exklusiv beim Namen genannt hat – wenn auch etwas distanziert als »Fräulein Berlepsch« – wird nun eine namentliche Erwähnung zunächst
438
hann Gottfried Kiesewetter (StaCh, Verzeichnüß (1797), Bl. 4v, vgl. IV 2, 863, Erläuterung zu S. 358,12). IV 2, 408,4–7, Nr. 247; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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konsequent verweigert. Eine Gefühlsaufstellung findet nur zwischen Schreiberin und Empfänger statt, alle anderen Einflüsse und Verursacher der nun offen zu Tage tretenden Eifersucht* bleiben anonym: »Sie haben sich in mich geirrt, oder vielmehr sich verirren laßen – das ists eben was ich aufm Herzen habe: ich will Ihnen I h r e Fehler beichten, aber ich muß bey mir anfangen« (IV 2, 408,13–15, Nr. 247; Textgrundlage: Originalhandschrift). Im weiteren Verlauf des Briefes ist dann entsprechend von »einer Andern« die Rede, die dann schließlich doch unter der Sigle B konkretisiert wird, was aber wiederum dadurch neutralisiert wird, dass nunmehr auch Esther Bernrads intimem Vertrauten Blandow diese Sigle zugewiesen wird. Damit werden die beiden wichtigsten Mitspracheberechtigten symbolisch in ein Konjugalverhältnis gebracht. Unter den schützenden Bedingungen dieses Arrangements beruft sich Esther Bernard nun auf angeblich getroffene mündliche Absprachen, in denen Rhythmus und Dauer der Bekanntschaft vorstrukturiert worden sein sollen. Richters Verhalten wird ihm daher als Treuebruch angelastet: ich frage Sie blos ob Sie sich unseres allerersten Morgensprächs erinnern, wo ich Sie bat, mir blos d i e Stunden zu widmen, die man Sie ohnehin nicht um sie haben könnte, weil ich Ihre Muße als ein fremdes Eigenthum betrachtete, in welches ich aus Delikatesse und – Gott weiß, auch aus Guthmüthigkeit – keine Eingriffe machen wollte, wenn ich auch könnte? Sie hielten dieß anfangs für Satyre, bald drauf aber sagten Sie, ich sähe so aus als wenn es keine seyn könnte, und Sie wären durch nichts gebunden, wollten ganz Ihrem Genuß leben, und mich wenigstens 2 Mal Täglich sehen. Bald nachher aber – Ihre Inkonsequenz hätte mich gekränkt auch wenn ich nicht ihr Gegenstand und Opfer gewesen wäre – bald nachher aber verlohr ich Sie, und Sie sich selbst, und ich weiß nichts, was mich damahls hätte mehr schmerzen können.439
Richter erhält den Brief erst in Leipzig, in einer Phase, in der seine Beziehung zu Emilie von Berlepsch neu bestimmt wird. Er schweigt zunächst. In einem weiteren Brief aus Breslau versucht Esther Bernard, die zu recht eine Verstimmung annimmt, das Briefverhältnis neu zu justieren: aus »B.« wird nun wieder »Fr. v. B.«, die Aussicht auf eine zuverlässige Dauer der Beziehung wird, angesichts des möglichen vollständigen Scheiterns, in den Vordergrund gestellt und die amourösen Ansprüche dafür zurückgeschraubt: Wenn Sie Verehrungswürdigster wüsten, wie ich in meinem jezigen öden Leben nach kleinen Freuden geizen muß, so würden Sie mir die gröste nicht so lange vorenthalten: Ihre Antwort auf meinen Brief vom 28t e n 8ber. Jeden Dienstag und Freytag sehe ich dem Briefträger sehnsuchtsvoll entgegen, aber wenn er auch kömmt, er bringt mir nicht, was ich so innigst wünsche. Und Sie, Kenner aller zarten Gefühle, Sie wißen wie schmerzlich solche aufgeregten, und dann getäuschten Erwartungen sind; aufgeregt durch Ihre Zusagen. Mein Enthusiasmus für Sie, wächst täglich, weil ich jezt alle Ihre Schriften lese, und so mache ich mir unzählige Vorwürfe über meinen Brief an Sie: denn ich schließe von der Wirkung auf die Ursache; er muß etwas schlimmes enthalten haben, weil Sie Verehrungswürdigster, ihn so grausam rügen, durch Ihr Stillschweigen. 439
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IV 2, 409,26–410,2.
Verzeihen Sie mir was es auch seyn mag. Gott weiß, ich habe kein Arges, am wenigsten gegen Sie. Sogar der Fr. v. B. habe ich längst verziehen, wenn ich auch blos durch ihre Schuld Ihren Umgang weniger genoßen haben sollte. Reißen Sie mich aus meinen Muthmaßungen, von denen keine angenehm ist. Ich werde Sie gewiß niemals mit Briefe überhäufen, denn ich weiß Ihre Muße zu schäzen, die allen Menschen heilig seyn sollte; meine Pretänsionen sollen mäßig bleiben, aber entziehen Sie mir nicht ganz Ihr Andenken Verehrungswürdigster. Wenn ich auch auf diesen Briefe keine Antwort bekomme, so wird es mich recht innigst schmerzen.440
»Fr. v. B.«, der hier so großzügig ›verziehen‹ wird, ist indes noch in Weimar, Richters Beziehung zu ihr ungeklärt, die Frage ihrer »Schuld« somit nicht entscheidbar. Aus einem eingeschränkten Wahrnehmungshorizont* im Verständnis vom Ich und vom Anderen* erwächst so exemplarisch ein UNAUFLÖSLICHES MISSVERSTÄNDNIS.441 Richter formuliert am 8. Dezember ein Antwortschreiben, das sich in seinem Nachlass erhalten hat: LEIPZIG D. 8. DEC. 97. Mein Auszug aus HOF – zu Anfange Novembers – lies mir Ihre Briefe, Madame, blos später zukommen. Ihr erster gab mir durch seine Einkleidung und durch seinen Geist, durch Zeichnung und Kolorit (wie die menschlichen [menschlichen nachtr. üdZ] Gespräche) gerade so viel Freude – in sofern er Sachen betraf – als er mir nahm – in so fern er Personen angieng. Die leztern sind – ich und Fr. V. B.: in dieser hätten Sie wenigstens den – Freund derselben schonen sollen. Die Vorwürfe, die blos mich betreffen – da Sie mir moraliche Irthümer schuldgeben, indes Sie höchstens von intellektuellen gewis sein konten – ertrug ich lieber mit dem [dem nachtr. üdZ] Schweigen, das Ihr zweiter Brief beschlos. Jedoch sogar dieser enthält die ungerechte und kühne Stelle: »Solte nur in Ihren Schriften Ihr Herz Ihres Kopfes würdig s c h e i n e n ?« Zu dieser Frage giebt ein blosses Schweigen Recht? – Auch verlangten Sie viele und schnelle Antworten: beides untersagen mir meine Verhältnisse. Aber ich bitte Sie, mich in keinem von beiden [aus gestr.: nie] nachzuahmen.
440 441
Textgrundlage: Originalhandschrift (BJK, Berlin A); vgl. IV 3.1, 19,3–27, Nr. 7. Zu Missverständnissen in Liebeskorrespondenzen vgl. Brenot, De la lettre d’amour, S. 80–86, für den Missverständnisse vor allem eine Quelle der Beschädigung von Liebesverhältnissen darstellen (vor allem als ein unausweichliches Missverstehen der Geschlechter); für Luhmann hingegen ist die Unvermeidbarkeit des Missverstehens eine Grundsignatur der Liebe im 18. Jahrhundert; eine der wenigen Passagen von Liebe als Passion, die ausdrücklich auf Liebesbriefkommunikation bezogen ist (wenn auch primär auf deren literarisierte Version als Briefroman), folgt dieser Spur, die als eine der wenigen unverwechselbaren Spuren im Dickicht der vom historischen Material durchschossenen Epochenbegriffe betrachtet wird (S. 153 und 158; vgl. hierzu Meier, Die Verschriftlichung des Gefühls, S. 285–291). Auch Ernst Leisi betrachtet – ähnlich wie im Falle von Fremdsprachen – Missverständnisse als produktives Ferment in Liebesbeziehungen, unabhängig davon, ob sie aus Verwerfungen der Kompetenz oder der Performanz (bzw. aus Störungen im Code oder aus Störungen in den Sprechakten) hervorgehen (Paar und Sprache, S. 112–144). Missverständnisse als artistischästhetische Inszenierungen bei Bennholdt-Thomsen, Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs, S. 198–199.
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Aber Ihre Dornen haben oft oben und an den äussern Zweigen die weichen Rosen der Freundschaft; und darum – und Ihres zweiten Briefes wegen – und weil Ihr Wohlwollen zu viel Werth auf dieses Blätgen legt, – komt es geflogen.442
In der Argumentation nimmt er diejenige des vorausgehenden BernardBriefes auf: die reduktionistische Darstellungs- und Betrachtungsweise der Beziehung unter Zurückdrängung der jeweils mitsprachberechtigten Dritten. Der Brief, der mit dem deutlichen Signal der Distanzierung durch einen Sprachwechsel* (»Madame«) einsetzt, wird jedoch von Richter nicht abgeschickt. Die vermehrten ausstreichenden Korrekturen gegen Ende verwandeln die Reinschrift fast schon zum Konzept – spätestens mit der noch leserlichen Korrektur von »nie« zu »in keinem von beiden« ist dem Brief im Grunde die Unabschickbarkeit eingeschrieben. Die anschließende, stilistisch problematische Wiederholung des Satzanfangs »Aber« fällt somit bereits in den Entwurfsmodus, und die konventionelle Schlusswendung wird eher als selbstbezügliches Zeichen des Unmuts zu deuten sein denn als kommunikativer Stich gegen die »Dornen« der zu dieser Zeit unwillkommenen Verehrerin. Wenig später, Mitte Dezember 1797, erhält Richter einen Brief von Charlotte von Kalb, die ihm gleichfalls seine neue Beziehung vorhält: Die Berlepsch wird bald bei Ihnen sein, sie hat mich nehmlich besucht. Einige Ihrer Briefe hat sie in einer Gesellschaft vorgelesen, und diese werden nun häufig bei den Theegesellschaften recitiert. Sie ist mehr eitel als klug! und äußerst geschwätzig über das neue himmlische Leben, welches sich ihr mit Ihnen eröffnet. – Nennen Sie mich nicht, und schreiben Sie mir noch weniger; – der Ruhm wird meinen Namen nicht tragen, und das Gerücht soll ihn nicht mißbrauchen! – Reden Sie mir recht wahr über Ihre Stimmung und Verhältnisse ohne Bekleidung – das trockne Wort. Werden Sie heirathen? – Als die B. bei uns war, hat mein Mann eine kleine Posse gemacht, und der B. gesagt: er hätte gehört, Sie würden nächstens heirathen – dies brachte sie aus der Fassung, und sie sagte ganz betroffen: »so weit würde es noch nicht sein.« Ich wünsche Ihnen, wenn Sie eine Frau nöthig haben, daß Sie ein ordentliches sanftes thätiges Mädchen wählen, und Freunde die nicht mit Ihnen prunken. 443
Auch auf diesen Brief antwortet Richter nicht sofort. Am Tag bevor Emilie von Berlepsch nach Leipzig kommt spricht er sich jedoch brieflich mit Christian Otto aus: Von Emilie von Berlepsch schreibt er: »Ich wurde noch von keinem Weibe so sehr und so rein geliebt wie von dieser« (III 3, 25,20–21, Nr. 27; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift). Vor dem Hintergrund dieses Bekenntnisses müssen die Einsprüche der Konkurrentinnen zurückgewiesen werden: »Die KALB schrieb mir über die Wahl Leipzigs einen kalten Brief, dan, als ich schwieg, einen wärmern, worin sie mir die Lüge ihres Mannes an die BERLEPSCH erzählt, daß ich – bald heirathe, und die Verlegenheit 442 443
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Textgrundlage: Originalhandschrift (BJK, Berlin A), vgl. III 2, 23–24, Nr. 26. IV 3.1, 24,25–25,10, Nr. 10; Textgrundlage: Druck.
der B. über meine Zurükhaltung« (III 3, 25,26–29);444 schärfer fällt seine Reaktion auf den Brief Esther Bernards aus, die »über die B« zanke; er wolle aber »über ihren Mangel an Achtung für Freundinnen eines Freundes« nach Breslau zurückzanken (III 3, 25,30–33). In welcher Form dies geschehen ist, ist nicht bekannt,445 vermutlich jedoch nicht entscheidend milder als in der nichtabgeschickten Variante; im Unterschied zur Korrespondenz mit Charlotte von Kalb, die auf Richters Antwortbrief vom 22. Dezember bald wieder antwortet, verstummt das Briefgespräch mit Esther Bernard bis auf weiteres. Als Form des Scheiterns* muss dies freilich nicht gewertet werden. Eher schon als ein Suspendieren. Gegenüber Otto zieht Richter das Resümee der verzwickten Liebhaberinnen-Aufstellung in Form eines grundsätzlichen Bekenntnisses, worin die Körperlichkeit (wohl auch im sexuellen Sinn) als das ›Andere‹ der Literatur (hier durch Richters Schrift Palingenesien von 1798 repräsentiert) in Erscheinung tritt: Es ist wieder derselbe wiederkehrende Zufal, daß in mein wirkliches Leben wenigstens etwas von meinem biographischen [d.i. literarischen in dem Sinne, in dem Richter seine Romane »Biographien« zu nennen pflegt, Anm. J.P.] immer komt, denn in meinen »Palingenesien« hab’ ich eine Frau. Ach wie lieb’ ich, wie kenn’ ich diese und ich sah doch nicht ihr Bild, besonders ihr körperliches Apropos!446
Esther Bernard tritt erst im Juni 1800 wieder in Kontakt zu dem zu dieser Zeit in Berlin weilenden Richter (es ist sein erster Berliner Aufenthalt, dem sich einige Monate später ein zweiter anschließen wird). Dies geschieht wenige Tage, bevor dieser zum ersten Mal seiner späteren Ehefrau begegnet. Nun aber stilisiert sie die Korrespondenz von sich aus zur Postfiguration der Literatur, und erschreibt sich damit einen Spielraum, der ihr auch weitere Briefe an den Dichter ermöglicht: Geehrtester! Ich heisse Sie froh und warm willkommen, in einer Stadt, die ich wegen der Erziehung meines Sohnes seit mehr als einem Jahre meinen Wohnort nenne. Sie haben mich vergessen; aber was thut das? Ich Sie nicht, ewig nicht. Ich war von Ihnen entfernt, aber Sie nicht von mir, und ausser meiner Eigenliebe verwundet dies keins meiner übrigen Gefühle. Wer einen Schriftsteller liebt, liebt immer ohne Gegenliebe (ein hebräisches Sprichwort sagt: ein allgemeines Mißgeschick, ist ein Trost für eigenes) und wenn Jean Paul alle Weiber lieben wollte, die Ihn lieben – dann möchte ich nicht einmahl von Ihm geliebt seyn. – Sehen muß ich Sie! Wenn Sie nicht zu mir kommen, so komme ich zu Ihnen. Wissen Sie, daß mich a u c h Titan nicht dem Hesperus untreu machen kann? Es war 444 445
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Der erste der beiden hier erwähnten Briefe ist der Antwortbrief auf den im Korrespondenzschema zuletzt aufgeführten Richters (III 2, Nr. 727). Dass Richter einen Brief an Esther Bernard abschickte, schließt Berend aus der Erwähnung eines durch Richters Hände gehenden »Blätgen[s]« an Johann Georg Herold, vgl. III 3, 47,36–37 und Erläuterung. III 3, 25,33–37.
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meine e r s t e Liebe! – Wie erwarte ich Sie! […] Trinken Sie morgen früh um 5 Kaffe bey mir (den besten den Menschenhände machen können) dann versetzen Sie mich nach Eger, und machen mich um drey Jahre jünger – das Höchste was man für eine Frau thun kann […] Ich sehe Ihrem Besuch entgegen, als wenn mich Victor besuchen sollte. Gings heute nicht mehr? Bernard geborene Gad. Thiergarten bey Blankhorn den 1t e n Juny.447
Auch in der Bereitschaft zur Sprachreflexion*, namentlich zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit* sowie in der Reflexion von Körperlichkeit geht sie sehr unkonventionell mit ihrer äußerlich gescheiterten Beziehung um: Wissen Sie was ich unter die größten Glüksfälle meines Lebens rechne? Daß ich Sie nicht dutzte. Wenn das d u über meine Lippen ist, dann weiß ich nicht ob ich mir noch gehörte. In einem Briefe könnte ich Sie vielleicht du nennen, aber m ü n d l i c h – Gott behüte uns beyde dafür! – Erklären Sie mir diesen Widerspruch. Lieber Bester kommen Sie heute recht zeitig zu mir, damit ich Sie erst h ö r e , ehe ich Sie bey der Herz s e h e .448
Nicht zuletzt diese außerordentlichen Dokumente mögen Richter später dazu veranlasst haben, Esther Bernard gegenüber seinem Freund Emanuel als eine der »redlichsten und uneigennützigsten« unter seinen Freundinnen zu bezeichnen (III 4, 297,24–25, Nr. 471) und ihre Briefe mit einem Sondervermerk seinem Briefarchiv anzuvertrauen: »Briefe meiner herrlichen Gad«, so notiert er just auf dem Brief vom 28. Oktober 1797, der das Briefverhältnis im Spätherbst 1797 an den Rand des Scheiterns geführt hat. Nachdem die Einspruchs-Briefe Charlotte von Kalbs und Esther Bernards solchermaßen beantwortet sind, entwickelt sich das Brief- und Lebensverhältnis zu Emilie von Berlepsch im Rhythmus der Korrespondenz* wie folgt weiter: R an EvB, Leipzig, 25.12.1797 (III 3, Nr. 31a) R an EvB, Leipzig, 29.12.1797 (III 3, Nr. 33) EvB an R, Leipzig, nach dem 20.12.1797 und R an EvB, Leipzig, 7.1.1798 (III 3, Nr. 41) vor dem 10. oder 13.1.1798 (IV 3.1, EB 24 und EB 25) Tag des gegenseitigen Heiratsversprechens: Tag des gegenseitigen Heiratsversprechens: 13.1.1798 13.1.1798 R an EvB (?), Leipzig, Ende Januar 1798 (III 3, Nr. 48) 447 448
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IV 3.2, 302, Nr. 386; Textgrundlage: Originalhandschrift. IV 3.2, 306,21–24, Nr. 388; Textgrundlage: Originalhandschrift.
EvB an R, Leipzig, 18.2.1798 (IV 3.1, Nr. 30) EvB an R, Leipzig nach dem 10. oder 13.1. und vor dem 27.2.1798 (IV 3.1, EB 29) Rücknahme des Eheversprechens: Ende Februar oder Anfang März R an EvB, Leipzig, Ende Februar oder Anfang März 1798 (III 3, Nr. 67) R an EvB, Leipzig, 22.3.1798 (III 3, Nr. 75) EvB an R, Vippachedelhausen, 11.4.1798 (IV R an EvB, Hof um den 10.4.1798 (III 3, 3.1, Nr. 45) FB 6) EvB an R, Weimar, 16.4.1798 (IV 3.1, Nr. 50) R an EvB, Hof, 21.4.1798 (III 3, Nr. 87)
Das am 13. Januar 1798 gegebene Eheversprechen sowie Richters Ende Februar oder Anfang März 1798 ausgesprochene Rücknahme dieses Versprechens stellen erstmals seit den Tagen des Verlöbnisses mit Sophie Ellrodt markante Einschnitte seiner Biographie im konventionellen Erwartungshorizont zwischen Scheitern und Gelingen* von Liebesbeziehungen dar. Leider sind die unmittelbar auf diese Ereignisse bezüglichen Dokumente offenbar zu einem großen Teil vernichtet worden. Die erhaltenen Dokumente des eigentlichen Liebesbriefwechsels geben kaum darüber Auskunft. Die entscheidenden Informationen fließen erneut über Christian Otto, obgleich auch dabei nur zögerlich. Auffällig ist, wie sich die Konnotation der Leitmetapher wandelt. Hatte Richter vor dem Umzug nach Leipzig an Oertel noch geschrieben: »der Zufal« gebe ihm »immer bei wichtigen Dingen das Räderwerk«, das er »nur aufzudrehen« brauche (III 2, 361,1–2), so fühlt er sich nun, laut OttoBrief, auf ein »Schiksal« zurückgeworfen: »Für mich spint das Schiksal (denn ich höre die Räder) ein Flechtwerk, das über mein ganzes Leben gehen wird. Du erfährst alles, aber ich weis nicht wenn« (III 3, 35,24–26, Nr. 43). Noch am Vortag der Verlobung klingt er in seinem Brief an Otto vom 12. bis 17. Januar skeptisch: Unter den hiesigen Männern ist [Oertel] mein Nächster, wie die Berlepsch meine Nächste – wofür ich doch nicht ganz hafte. – Ich finde in ihr eine Seele, die noch nicht einmal unter meine Ideale kam und ich wäre ganz glüklich mit ihr, wenn sie es nicht zu sehr durch mich werden wolte. Du weist, wie ich jenes moralische Übergeben zur Hand und Halfter fliehe. —449
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III 3, 35,27–32, Nr. 43, Briefteil vom 12.1.1798; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift (der Schluss des Briefes fehlt und ist, wahrscheinlich nachträglich redigiert, nur im Erstdruck überliefert).
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Im anschließenden Briefteil vom 17. Januar findet sich indes kein Wort über das inzwischen vorgefallene Ereignis. Richters Korrespondenzen mit Otto und anderen Vertrauenspersonen beiderlei Geschlechts werden fortgesetzt, als wäre nichts passiert, auch dann, wenn Frau von Berlepsch erwähnt wird, wie zum Beispiel gegenüber Amöne Herold (»Endlich, Geliebte, kan ich Sie wieder anreden. Ich war neulich mit der Berlepsch in Belgershain einige Tage«, III 3, 42,8–9, Nr. 55). Erst in einem langen Brief an Christian Otto vom 21. bis 26. Februar kommt Richter, nachdem zuvor zahlreiche andere Themen angesprochen worden sind, auf das Verhältnis zu Emilie zu sprechen, nun aber auch in aller Ausführlichkeit: Ich komme jezt auf meine wichtigste Aera und Epoche in Leipzig, die ausser Oertel niemand weis und erfährt wie du. Harpokrates lege seinen d.i. deinen Finger darüber auf deinen Mund! Ich gebe dir hier nur den Extrakt aus einem künftig mündlichen dicken [aus: dikern] Protokol. Von der*[FN: Des Zufals wegen, es ist die mir in Eger 3 Gläser schenkte und die du nebst Sohn und Tochter im Gasthof sprachst.] ist die Rede, deren Seele die reinste, am wenigsten sinliche [am wenigsten sinliche nachtr. üdZ], idealischste, festeste weibliche ist, die ich je kante, die aber eine egoistische Kälte der Menschenliebe hat und überal nichts fodert und liebt als — Volendung. Sie erfült alle Pflichten der Menschenliebe, ohne diese. Ich behandelte sie in Eger mit einer mir ungewöhnlichen unsinlichen [aus: nicht sinlichen] Zurükhaltung und nahm — selten [davor gestr. kaum] ihre Hand — nur den weichsten Antheil an ihrem harten Geschik. Sie schlug mir ein schönes reiches höchst moralisches Mädgen in Zürich/HEIDEGGER, Landvogts Tochter, ihre Freundin, zur Frau vor, für welche kein Werber bisher rein und gut genug gewesen. Sie zeigte mir [am Rand: SILE!] darauf Briefe von einem Professor St[apfer] in Bern, den sie nicht so wohl liebte als heirathen wolte und vor dessen moralisch-edler aber hypochondrischer Seele sie wie ein erhöhter Engel stand. — In einem einsamen Abend las ich ihr das erste Kapitel des Titans vor [am Rand: SILE!] und s i e umarmte mich im Enthusiasmus: der meinige hatt’ es nie gethan. — In Hof [am Rand: ETC.] darauf sagt ich ihr, daß ich sie wohl oft in 8 Tagen in Leipzig wegen meiner dir zu bekanten Unart nicht sehen würde. Sie nahm das Schnupftuch vor die Augen vol Schmerz und mir war als säh ich ihre stechende schneidende Vergangenheit gewafnet wieder vor ihrem Herzen vorrüberziehen. Ich sah aber auch das Übermaas ihrer Foderungen. Ach diese Geschichte braucht Aktenfaszikel; auch lässet sie das Schiksal so unvolendet als ich hier. Einige Hauptzüge darin sind noch: da Sie von Weimar wiederkam, wolte sie ihr, der Heidegger und mein Vermögen zusammenwerfen zu einem Landhaus und ich solte die mitlere heirathen und sie wolte bei uns ewig bleiben. Dan fühlte sie die Widersprüche dieses seltenen Verhältnisses, die ich ihr zeigte. Ihre Seele hieng an meiner heisser als ich an ihrer. Sie bekam über einige meiner Erklärungen Blutspeinen, Ohnmachten, fürchterliche Zustände: ich erlebte Szenen, die noch keine Feder gemalt. Einmal an einem Morgen/d. 13 Jenn. unter dem Machen einer Satire von Leibgeber gieng mein Inneres auseinander: ich kam abends und sagte ihr die Ehe zu. Sie wil thun was ich wil, wil mir das Landgut kaufen wo ich wil, am Neckar, am Rhein, in der Schweiz, im Voigtland. So lieben und achten wird mich keine mehr wie diese — und doch ist mein Schiksal noch nicht entschieden von — mir. Ich schicke dir 2 Briefe [aus: einen Brief] v o r , und die andern n a c h dem Zusagen der Ehe. Ach wie oft und wie zuerst dacht ich in jenen Tagen an dich, an dein Kommen zu mir und wie ich ein Paar frohe Minuten wie Blumentöpfe um dich stellen könte. — Aber noch ist
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die Sache (insofern sie von mir abhängt) nicht entschieden. Ich habe Oertel alles erzählt, er muste mein ganzes Betragen billigen, das nie gegen ein Weib so moralisch war: glaube also wenn ich von Nichtentscheidung rede, daß ich aus Gründen und nach Faktis [und nach Faktis nachtr. üdZ] handle, die nicht in dieser 1/32tel Erzählung vorkamen. — In so fern Grösse und Reinheit der Seele und metallischer Reichthum beglücken können: so wär’ ichs dan; aber etc. etc. etc. — Fälle aber doch aus diesem Schattenris eines Schattens ein Urtheil über ein Stük in Lebensgrösse.450
Erneut sind es – ausdrücklich benannt – Abendstunden, in welche die zwei entscheidenden Ereignisse fallen: die Titan-Lesung und das Eheversprechen. In der dramatischen Phase zwischen Neujahr und Rücknahmedatum des Eheversprechens scheint Emilie von Berlepsch zahlreiche Varianten der Lebensführung vorgeschlagen zu haben, um einer möglichen AUFKÜNDIGUNG DER LIEBE und allen vorstellbaren Varianten des Abschieds* von Seiten Richters zuvorzukommen.451 Man verkennt aber wohl den Charakter dieser Vorschläge, wenn man sie, wie bisher stets getan, als Figurationen der weiblichen Exaltiertheit wenn nicht gar der hysterischen Torschlusspanik interpretiert. Dies gilt namentlich für den Vorschlag der ›Ehe zu dritt‹. Der direkte Briefwechsel zwischen Richter und Emilie von Berlepsch aus der Zeit zwischen ihrer Ankunft in Leipzig und der Aufhebung des Verlöbnisses ist nur in sehr bruchstückhafter Form überliefert. Somit bleibt auch jener Aspekt unterbelichtet, den Richter im Brief an Otto herausstellt, wenn er Briefe aus der Zeit vor und nach der ›Krise‹ des Eheversprechens zum Vergleich beilegt, die den Wandel in der Wahl der Liebessprache* vor und nach der Verlobung demonstrieren sollen.452 Richters Mitteilung an Otto zur Frage der Ehe lässt es auf der anderen Seite offen, ob es sich um ein in Briefen oder in Gesprächen ausgehandeltes Thema handelt. Eine auf den 7. Januar datierte Abschrift im Briefkopierbuch macht aber klar, dass es zumindest auch im Briefwechsel diskutiert worden ist – und zwar, anders als gegenüber Otto behauptet, erst im zeitlichen Umfeld der Verlobungsaktion: Nicht wir sondern das Schiksal stellet uns gegen einander in Streit. Meine medizinische, ästhetische etc. Lage fodern von mir dieses getheilte algegenwärtige Leben. Die Unähnlichkeiten, die jezt zwischen uns nur Schranken sind, würden einmal, wenn Ihr schöner Traum keiner wäre, zu Klüften werden, worin 3 Menschen untergiengen. Der 450 451 452
III 2, 46,10–47,28; Textgrundlage: Originalhandschrift. Siehe unten. Vgl. IV 3.1, EB 24, 25 und 29; auch von den Mitteilungen Richters an Emilie aus dieser Zeit ist in Originalhandschrift kein einziger, in integraler Gestalt nur ein Brief in einem auf die Originalhandschrift zurückgehenden Druck überliefert, nämlich der erste vom 25. Dezember 1797 (in: Briefe von Jean Paul [Friedrich Richter] an Emilie von Berlepsch [nachherige Harms], geb. v. Oppel. Aus den Jahren 1797 bis 1804, als Supplement zu seinen Werken und seiner Biographie. In: Der Salon, 1841, Nr. 6, vgl. III 3, 30, Nr. 30a), die anderen nur abschriftlich im Briefkopierbuch. Ob es sich um längere Briefe oder – wie bei dem gedruckten – um Billette gehandelt hat, ist unsicher.
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vom Geschik gebotene Zwischenraum macht die dissonierenden Intervalle unserer inneren Töne erträglicher und sanfter. Ich sehne mich fast von der Hand zu leiden, die so viel leidet.453
Der musikalische Vergleich gehört – als Form der Verflechtung des Liebesgesprächs mit anderen Diskursen* – zum Grundinventar der Gefühlskommunikation zwischen Richter und Emilie von Berlepsch.454 Dass aber die intime Kommunikation der Töne und Stimmungen niemals exklusiv zweistimmig sein kann, gehört zu seinen Grundprinzipien seit den Tagen der ›Simultanliebe‹. Warum also beschwört er nun plötzlich einen Abgrund herauf, wenn Frau von Berlepsch einen Vorschlag macht, von dem er glaubt, dass er ein »schöner Traum« bleiben müsse? Der entscheidende Punkt ist, dass Frau von Berlepsch – verheiratet, geschieden, alleinstehend – die Ehe als Rechtsverhältnis ins Spiel bringt und damit die Rahmenbedingungen* der Korrespondenz mit rechtlichen Schranken* absteckt. Als Präliminareheverhältnis gilt dies auch für die Verlobung,455 und es ist sehr wahrscheinlich die Wirkung dieser Verschiebung der Rahmenbedingung, auf die Richter abhebt, wenn er dem Freund Georg Christian Otto Prä- und Post-Verlobungsbriefe Emilie von Berlepschs zum Vergleichen zuschickt. Wenigstens einer ihrer Briefe aus der Zeit zwischen der Verlobung und deren Aufhebung hat sich erhalten, er stammt wahrscheinlich vom Sonntag, den 18. Februar 1798:456 453 454
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IV 2, 34, Nr. 41. Die differenzierte Codierung von Gefühlskonvergenzen und Gefühlsdivergenzen als harmonische Verhältnisse nimmt dabei ihren Ausgangspunkt bei Herder, auf den sich Emilie von Berlepsch in ihrem Aufsatz »Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze bezieht«: »[die Frau] muß wissen, daß sie, auf ihre eigene Vernunft gestützt, manchen rauhen, steilen oder gleitenden Pfad zu gehen hat. Wenn sie dieses weiß, wird sie ihren Verstand bilden, ihre Beurtheilungskraft zu schärfen, ihren Charakter zu stärken suchen, und dadurch werden die c o n s o n e n Töne hervorgebracht werden, welche, wie Herder sagt, eine reinere und dauerndere Harmonie als unisone geben« (S. 101); auf diese Metapher des Eheglücks greift sie dann einige Jahre später zurück, um in ihrem Brief vom 15. bis 19. Oktober 1797 auf einen musikalischen Vergleich Richters zu antworten: Auf seine (im Umkreis der Titan-Tendenz einer Kritik der »Einkräftigkeit« stehende) Behauptung, der Mensch halte »oft die Uebermacht Einer Kraft für Harmonie aller Kräfte, und den freien Anklang aller Töne für Disharmonie« (III 2, 371–9–14), entgegnet sie: »Liebe kann und darf innere Unähnlichkeiten haben, consonn mehr als unisonn tönen – ob ich doch gleich sehr viel auf leztre halte – aber sie muß sich deßen recht klar bewußt seyn muß immer nach Verähnlichung streben, und den sanften Dämpfer der Simpathie, der Schonung, der freundlichen Täuschung auf das Instrument sezen wenn es disharmonisch klingen will« (IV 2, 402,14–20, Nr. 243; Textgrundlage: Originalhandschrift). Vgl. die Artikel »Verlöbniß« und »Verlobung« in Johann Georg Krünitz’ Oeconomischer Encyclopädie, oder allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft, in alphabetischer Ordnung (eingesehen in der Online-Version der Universität Trier, 29.12.2008). Zur Datierung vgl. IV 3.1, 477, Kommentar zu Nr. 30, Abschnitt Datum.
Sonntag um 10 Uhr Abends. Ich bin schon wieder mit einer Einladung da, von der ich voraus sehe, daß sie ausgeschlagen wird Morgen vormittag 1/2 eilfe kömmt die Gräfin zu mir. Sie wünscht auch sehr einmahl ruhiger e i n f ö r m i g e r mit Ihnen zu sprechen; wir werden allein seyn. Ich hab ihr nicht viel Hoffnung machen können, aber doch versprochen Sie zu bitten uns ein paar Stunden zu schenken. Essen Sie dann mit mir um nicht um 12 wegzumüßen. Ich schreibe eilig damit Sie den Zettel Morgen früh genug bekommen. Ubermorgen reißt sie ab, und Morgen Abend muß ich wieder zu ihr. Ich bitte um Antwort.457
Eine Antwort auf das Billet ist nicht überliefert, doch ist es zu einer Begegnung mit der hier erwähnten, aber nicht namentlich genannten Gräfin (Amalie zu Münster-Meinhövel) dennoch gekommen. Damit könnte man dies scheinbar wenig aussagekräftige Dokument vielleicht zu den Akten legen, ließe sich dahinter nicht eine singuläre Strategie der De-Intensivierung erahnen, die erst deutlich wird, wenn man den Brief – wie es Richter im OttoBrief vorschlägt – mit älteren Schreiben Emilies vergleicht. Das Stichwort »Abends« fällt erneut – doch was folgt, ist – taghelle Nüchternheit anstelle des sonst üblichen »Berlepsch-Tons«, in dem jeder Wunsch, jede Forderung, jede Feststellung eines Missverständnisses an die eigene Befindlichkeit und ein ausführliches Durchdeklinieren der Gefühle gekoppelt wird. Die schwärmerische Kasuistik der Affekte wird durch eine pragmatische Kasuistik der Handlungsoptionen ersetzt. Der einzige Affekt, der beim Namen genannt wird, ist die Hoffnung, aber nicht die der Briefschreiberin, sondern die der Gräfin. Emilie von Berlepsch macht sich hier gleichsam zur Vormünderin ihrer selbst, zur Anwältin ihrer Ansprüche, die sie auf Andere, Dritte überträgt (in diesem Falle die Gräfin, im vorausgegangenen die Schweizerin Heidegger), nicht um sie abzutreten, sondern um sie klarer bestimmen zu können. Sie erfüllt damit auf unkonventionelle Weise eine Konvention, ja eine briefstellerische Norm: die Verlobungszeit ist eine Zeit der ökonomischen, religiösen, sittlichen Orientierung, welche das Ausharmonisieren der Emotionen voraussetzt, nicht erst zu leisten hat. Die Aufhebung der Verlobung Ende Februar oder Anfang März findet, Richters brieflichem Bekenntnis an Otto zufolge, mündlich statt. Am 13. März schreibt er an den Freund in Hof: Das was du über die – sagst, ist aus den tiefsten Mysterien d i e s e r Lage geholt. Aber schon eh mein lezter Brief g e s c h r i e b e n war, hatt’ ich e n t s c h i e d e n und [e n t s c h i e d e n und nachtr. üdZ] ihr gesagt, daß ich keine Leidenschaft für sie hätte und wir nicht zusammengehörten. Ich hatte 2 aus der glühendsten Hölle gehobene Tage und nun schliesset sich ihr zerschnittenes Herz sanft wieder zu und blutet weniger – ich bin frei, frei, frei und seelig, geb ihr aber was ich kan. Meine Rechtfertigung seze voraus – in HOF hörst du sie recht weitläufig. Doch käm’ es sogar n a c h meinen 457
IV 3.1, 49, Nr. 30; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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[aus: diesen] CONFESSIONS vor ihr [vor ihr nachtr. üdZ] nur auf meinen Willen an, mit ihr ein bürgerliches ewiges Band zu knüpfen. – 458
Das unauflösliche Missverständnis* ist also naturgemäß beiderseitig: Emilie von Berlepsch hat Richter bei einem Wort, einem Versprechen, genommen, das für sie rechtliche Implikationen hat, für ihn aber in einem rein voluntaristischen Zusammenhang bleibt: seinem »Willen« stehen noch immer aller Optionen offen. Emilie bedient sich, vielleicht auch für Richter überraschend schnell, anderer Optionen: In ihrem Brief vom 11. April aus Vippachedelhausen bittet sie noch, Richter möge bald mit ihr in Weimar zusammentreffen, und sei es auch nur, um den »in Weimar allgemein aufgenomnen Schnack« zu widerlegen, sie und er »seyen aufs auserste mit einander zerfallen« (IV 3.1, 76,21–24, Nr. 45; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift). Aber schon wenig später steht eine andere Wunsch/Leumund-Konstellation im Vordergrund. Über Weimar heißt es nun: Keine Freude, keine Liebe, keine Schönheit rund umher. Nicht der leiseste Wunsch in mir Göthen nur zu sehn – geschweige — Ach – ein jeder spricht nur von MACDONALD und unsrer Freundschaft – woher doch die Inspection und Alles-wißerey der Weimaraner?459
Damit reaktiviert sie eine Bekanntschaft aus der Zeit vor ihrer Beziehung zu Richter: den schottischen Theologen James Macdonald (1771–1810) hat sie bereits Ende 1796 bei Herder kennengelernt, Richter hat ihn Ende Februar in Leipzig getroffen.460 Schon im Anschluss an diese Begegnung scheint er ihr diese schottische Option auf dem amourösen und literarischen Feld in einem nur fragmentarisch überlieferten Brief nahegelegt zu haben: »Das Schiksal lasse die Sonne in die Fingals Höle Ihrer Phantasie scheinen und lasse Ihnen auf dem Boden der ossianischen Träume frohere wachsen als diese« (III 2, 50, Nr. 67; Textgrundlage des Drucks: eigenhändige Abschrift). In Erfüllung wird allerdings nur der literarische Wunsch gehen: Von 1799 bis 1800 unternimmt Emilie von Berlepsch eine Reise nach Schottland, wohin Macdonald indessen zurückgekehrt ist, von dessen Verhalten sie sich jedoch bald enttäuscht zeigt. Literarisches Resultat ihres Aufenthaltes aber ist die vierbändige Reisebeschreibung Caledonia, in der sie Informationen zur Landeskunde in ein poetisches Stimmungsbild aus ossianischem Geist einbettet. Die Schrift endet mit einer ausführlichen Würdigung der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und einem »Nachruf auf Herder«.461 Vor ihrer Abreise zieht sie als eine bestimm458 459 460 461
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III 3, 51,26–35, Nr. 71; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift. IV 3.1, 90,32–91,3, Nr. 50; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift. Vgl. IV 3.1, 509–510, Erläuterung zu S. 91,1–2. Emilie von Berlepsch, Caledonia, Hamburg: Benjamin Gottlob Hoffmann 1802– 1804, Bd. 4, S. 250–283 und S. 284–287.
tere VARIANTE DES ABSCHIEDS462 insofern einen Schlussstrich unter die Beziehung zu Richter, als sie von ihm ihre Briefe zurückfordert. Auch für diesen Brief wählt sie die Liebessprache* der Nüchternheit: Da ich vermuthe daß Sie Leipzig nächstens ganz verlaßen werden, so will ich nicht länger mit einer Bitte anstehn, die ich Ihnen schon längst würde gethan haben, hätte ich gewußt wo ich Sie antreffen würde. Es betrift einen Gegenstand der gewis zu unbedeutend für Sie ist, als daß ich nöthig hätte meiner Bitte Grund und Entschuldigungen beizufügen. – H a b e n S i e d i e G ü t e m i r d i e B r i e f e d i e i c h I h n e n s c h r i e b z u r ü c k z u s c h i k e n . — Wenn Sie, wie ich nicht vermuthe diese Briefe die ich glaubte an einen Freund zu schreiben, mir etwa selbst wieder bringen, so darf J e a n P a u l gewis auf den Empfang rechnen den ein großer Schriftsteller verdient. Vielleicht machen es einige über uns ausgestreute Gerüchte zur Pflicht der Klugheit und Delicatesse, uns zu sehen, aber ich überlasse es Ihnen gänzlich, denn auch darüber habe ich gelernt gleichgültig zu seyn. Emilie v Berlepsch. Sonnabend Mittag
Der Mittag dieser vormaligen »Abend[s]«-Beziehung ist zur Stunde des proklamierten ERKALTENS DER GEFÜHLE geworden,463 der Briefdiskurs wird dezidiert auf einen anderen Diskurs*, den der Literatur, verschoben, weshalb Richter denn auch – unterstrichen – »Jean Paul« genannt wird. Dessen Reaktion ist vielschichtig: Einerseits kommentiert er den Vorgang am 9. Oktober 1798 aus Leipzig an Otto: »Die BERLEPSCH ist hier, sie hat ihre Briefe abgefodert. Ihr und mein Betragen ist abgemessen – Gott gebe, daß es so rastädtisch und regenspurgisch bleibe – Darin steckt mein Friede« (III 3, 105,26–28) – und verlagert den Diskurs des Erkaltens der Gefühle damit seinerseits, auf das Feld der Politik: Seit Dezember 1797 wird in Rastatt über die Abtretung des linken Rheinufers und die Entschädigung der deutschen Fürsten verhandelt, die Friedensverhandlungen scheinen also ad infinitum zu dauern – und auf diese Dauer, wie auf die des »immerwährenden« Regensburger Reichstags, richtet sich Richters Auslegung des Berlepsch’schen Verlangens: Das »Zaudersystem« (J. Vogl) der Simultanliebe wird auf unbestimmte Zukunft hin ausgedenht. Auf der anderen Seite scheint er ihren Wunsch nach einer Aufrechterhaltung des Scheins akzeptiert zu haben. In den Folgetagen kommt es zu einem Treffen,464 ihre Briefe bleiben ihm (und weitgehend auch der Nachwelt) erhalten, der Briefwechsel wird fortgesetzt. 462
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Vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 151–152 (»Katastrophe«), Bennholdt-Thomsen, Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs, hier bes. S. 196–198 und S. 208ff. Figuren des Erkaltens von Gefühlen in Liebesbriefkontexten untersuchen u.a. – systematisch – Roland Barthes (Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 193–195), Luhmann (Liebe als Passion), S. 116–118, und Leisi, Paar und Sprache, S. 125–126; für Liebesbriefwechsel und ihre historischen Figurationen vgl. Marxer, »Liebesbriefe, und was nun einmal so genannt wird«, S. 111–124. Vgl. IV 3.1, 589, Erläuterung zu S. 165,22–24.
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5. Figuren der Wiederholung und Strategien der Intensivierung465 Amöne Herold · Sophie von Brüningk · Sophie Ellrodt · Emilie von Berlepsch · Charlotte von Kalb · Elisabeth Hänel · Dorothea Weiße · Josephine von Sydow
Figuren der Wiederholung466 können in Liebeskorrespondenzen als autoreflexive Beobachtungen von Wiederholungsphänomenen auftreten, aber auch in der Gestalt von repetierten Schreibakten, Sprachformeln etc., über deren Wiederholungscharakter die Briefschreiber im Allgemeinen nicht reflektieren. In beiden Fällen können sie sowohl auf Formen des Gelingens* als auch auf Formen des Scheiterns* oder zumindest auf solche der Verkomplizierung der Beziehung bezogen sein. Die negative Assoziation scheint dabei der häufigere Fall zu sein, so wenn Richter über das ihm »eigne Schiksal in der Welt« nachdenkt, »allemal zwischen 2 – Verliebten« zu stehen »als der 3te Mann mit einer schönen lichten Glaze« (III 2, 176,13–16, Nr. 282), wenn Charlotte von Kalb schreibt: »Ach, ich sollte doch endlich mein Schicksal verstehen lernen, wie es immer dieselben Wunden wiederholt« (IV 2, 233,19–20, Nr. 136) oder wenn Emilie von Berlepsch bekennt: »Werden Sie es mir verzeihen, wenn ich wieder klage […] über mein unbegreiflich hartes Schicksal das Sie weil ich wieder gezüchtigt werden sollte mit treffen mußte?« (IV 2, 353,18–22, Nr. 214) Solchen zumeist resignativen retrospektiven Figuren des Konstatierens von Wiederholungen stehen zukunftsgerichtete gegenüber, die auf die Ritualisierung als Mittel zur Stabilisierung einer Beziehung setzen; dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Amöne Herold Richter bittet: »Schreiben Sie mir wieder was Sie heute Abend machen werden und überhaupt auch weil ich das Vergnügen wozu Sie den Anfang machten, gern fortgesezt wißen mögte« (IV 2, 465
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Charakteristische Intensivierungsfiguren sieht Luhmann im Zerdehnen von Liebeskonstellationen, in der bereits bei Aristoteles thematisierten Reduktion auf Zweierbeziehungen, in der (nicht-exklusiven) Berücksichtigung von Sinnlichkeit sowie – im Rahmen der Denk- Empfindungs- und Handlungsfigur der ›romantischen Liebe‹ – in der freiwilligen oder unfreiwilligen Trennung, Entfernung, Distanzierung (vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 93, S. 124, 148, 172). Zu Wiederholungsfiguren vgl. Bernd Kiefer, Wiederlesen – Wiederholen – Wieder holen: Fragmente über Liebesbriefe. In: Die Wiederholung, hg. von Jürgen Felix, Bernd Kiefer, Marburg 2001, S. 26–58; vgl. weiterhin Leisi, Paar und Sprache, S. 118 und S. 132–138, der auch Wiederholungsfiguren vor allem unter dem Aspekt der Störungsfunktion betrachtet, sowie, positiver wertend, Wölfle, Liebeskommunikation in E-Mails, S. 202–203; als charakteristisch für den Liebesbrief betrachtet die Wiederholungsfigur auch Anderegg (Schreibe mir oft, S. 89), der indes unter einem Liebesbrief eher eine briefstellerisch normierte Gattung zu begreifen scheint, die Abweichungen von der Konvention ausschließt (vgl. ebd., S. 90), wohingegen der Versuch, einzigartig zu sein, gerade als ein liebesbriefstellerisches Postulat im briefstellerischen Vakuum der Zeit um 1800 betrachtet werden kann. Vor solch höheren Ansprüche an Liebeskorrespondenz verlieren Wiederholungsfiguren wiederum an Glanz, vgl. Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 121–122.
35,31–33, Nr. 22). Das Selbstbewusstsein, mit dem Amöne Herold ihren zurückgewiesenen Verehrer zum Ritual bittet, ist jedoch eher die Ausnahme. Häufig gehen entsprechende Wiederholungswünsche mit einer Überhöhung des Dichters einher, namentlich in amourös offenen Konstellationen, denen aber die Kürze der Lebenszeit entgegengestellt wird. Es müssen im Übrigen nicht exklusiv Rituale der epistolaren Kommunikation sein, die in Briefen zu Wunschbildern der Wiederholung werden. Solange die reale Präsenz des Anderen möglich ist, kann auch diese im Vordergrund stehen, der Lebenshorizont engt sich dann zum Horizont der Ortsansässigkeit ein. So zum Beispiel, wenn die auf dem Rittergut Hohenberg bei Regnitzlosau – ca. 10 km von Hof entfernt – lebende Sophie von Brüningk (1750–1804), die Richter später als die neben Esther Bernard »redlichste und uneingennützigste« seiner Freundinnen bezeichnen wird (III 4, 297,24–25), am 30. September 1797 an ihn schreibt: Ihr Geist – Ihr Herz – Ihre Satire – alles ist so einzig so edel, so unnachahmlich daß Sie mir die ich für dies alles so schwärmerisch fühle, schon durch geschenkte Minuten Schätze mittheilen wiederholen Sie also Bester Mann, diese Freigebigkeit noch oft – nur zu bald trennt uns Ihre Entfernung – u. selbst schon jetzt sind Sie mir zwar nahe u. doch so fern.467
Die Mitteilung von Wiederholungswünschen scheint somit häufiger der Darstellung des Anderen als der Selbstdarstellung zu dienen. Ausdrückliche Wiederholung im eigenen Interesse hingegen macht eher verdächtig. So im Falle Sophie Ellrodts, Richters erster Verlobten, wenn sie von ihm unter einem Vorwand seinen Ring zurückfordert: »Doch um mich aus diesen Verdacht zu bringen, so wiederhole nochmalen meine Bitte. Da ich von Ihrer Liebe hinlänglich überzeugt bin so hofe ich auch eine baldige Antwort nebst dem verlangten Ringe« (IV 1, 39, Nr. 23), worin der Angesprochene jedoch ein Zeichen des Erkaltens der Gefühle* erkennen zu können glaubt. Der Umgang mit Figuren der Wiederholung kann so auch zum Gradmesser der amourösen Erudition werden. Denkbar groß jedenfalls ist der Abstand zwischen Sophie Ellrodts für die Beziehung fataler Wiederholungsbitte und der virtuosen, auf Intensivierung* zielenden Hermeneutik der Wiederholung in den Briefen der Emilie von Berlepsch: »Sehen Sie, das war mir eigentlich so schmerzhaft und kränkend in Ihren Auserungen daß Sie glaubten nöthig zu haben, Sie zu thun, und vollends schriftlich zu wiederholen«, so schreibt sie in ihrem Brief vom 15. bis 19. Oktober 1797 (IV 2, 402,9–12, Nr. 243; Textgrundlage: Originalhandschrift468). Was hier den Verdacht der Liebenden 467 468
IV 2, 389,30–390,2, Nr. 234; Textgrundlage: Originalhandschrift. Im Auszug aus dem Brief, den Berend in den Kommentar eines von Emilie von Berlepsch beantworteten Briefes einrückt (B2, vgl. III 2, 527–528, Kommentar zu Nr. 707 bzw. IV 2, 901, Kommentar zu Nr. 243), steht die – als solche unausgewiesene –
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erregt hat, ist nicht – wie vormals bei Sophie Ellrodt – eine zweifelhafte Forderung, sondern ganz im Gegenteil ein Bekenntnis. In seinem Brief vom 2. Oktober hat Richter gegen Ende geschrieben: »Leben Sie glücklicher als Ihr lezter Brief beweiset! Sie wissen nicht, wie ich Sie liebe« (III 2, 377,36–37, Nr. 707; Textgrundlage: Originalhandschrift), womit sie Überlegungen zum Charakter des Liebesverhältnisses, die er in einem vorausgegangenen Brief angestellt hat, zusammenzufassen versucht. Aber genau das »wie« wird nun zum neuralgischen Begriff für Emilie: Sie selbst wiederholt diese Formel immer wieder, jedoch, intensivierend, indem sie das Wort »wie« unterstreicht und damit gleichsam zu durchleuchten versucht: Ihre Worte »Sie wißen nicht wie ich Sie liebe« – klingen unaufhörlich in meinem Innern, und beschäftigen mich so heilsam, daß vielleicht nur einzig dieser Gedanke fähig war mein Gemüth daß sich ängstlich zu verwikeln und zu verstimmen anfing, in Klarheit und Harmonie zu erhalten. Ich denke viel nach über das wie. Das ist wieder so ein unerreichbarer Punkt eine ewig-verhüllte Gestalt die alles Sehnen der liebenden Seele nicht zu ergreifen, zu enthüllen vermag. Wissen S i e denn, w i e ich Sie liebe, Sie die so viel wissen? Gewis nicht.469
In den Vorüberlegungen zum Satz über das Kränkende in Richters wiederholten Äußerungen zur Differenz ihrer Liebesarten transponiert Emilie von Berlepsch den Satz erneut in ihren Brieftext, wiederholt also ihrerseits seine Wiederholungen: […] wie ich meine Liebe zur Gottheit mit der ihrigen zu mir [über gestr. ihr] nicht meßen noch vergleichen kann, so bin ich auch – nemlich in meinen besten, vernünftigsten Stunden – über die Verschiedenheit Ihres W i e und meines W i e , die ich deutlich ahnde, gar nicht unruhig; und Sie haben mich wie ich glaube misverstanden wenn Sie die Foderung der völligen Ubereinstimmung dieser W i e s in mir vermutheten.470
Damit wiederholt sie nun aber ihrerseits eine Formulierung, deren Wiederholung von seiner Seite sie sich in einem vorherigen Brief (vom 23. September 1797) entschieden verbeten hat:
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Lesart »Äußerungen«, womit jedoch die epistoläre Distanzierung der Schreiberin von eben diesen ›Äußerungen‹ verloren geht. Textgrundlage: Originalhandschrift (H: BJK, Berlin A), vgl. IV 2, 401,13–22; in der vierten Abteilung der HKA sind die doppelten Unterstreichungen nur als Lesarten verzeichnet, da einfache und mehrfache Unterstreichungen einheitlich als Sperrungen wiedergegeben werden; in gleicher Weise ist auch der Schluss des Zitats ein Beispiel für die Grenzen philologischer Repräsentierbarkeit im traditionellen Druck: Das – entscheidende – Spatium zwischen »wissen?« und »Gewis« befindet sich aus drucktechnischen Gründen am Zeilenende und fällt daher kaum auf, bleibt somit aus zwar medienbedingten Gründen, gleichwohl aber zumindest im Horizont einer Philologie der Intimität spezifisch unterrepräsentiert (vgl. IV 2, 401,21–22). Textgrundlage: Originalhandschrift (H: BJK, Berlin A), vgl. IV 2, 402,4–9.
Leben Sie wohl, mein Theurer, und wenn Sie mir ein wenig gut sind, wenn Sie es mir nicht durchaus unmöglich machen wollen Ihnen mit einiger Offenheit zu schreiben, so gebrauchen Sie den Ausdruck »I h r e F o d e r u n g e n « niemals wieder. Emilie471
Einfach unterstrichen (im Druck: gesperrt) sind hier das Zitat aus Richters Brief vom 10. bis 12. September472 und jener Vorname, auf den Richter einige Monate zuvor den initialen Akt der Intensivierung* gegründet hat: »Gute Emilie! So nenn’ ich Sie künftig […]« (III 2, 354,25). Damit wird die Wiederholung an dieser Stelle dann doch zu einer Geste der Selbstbehauptung. In seinem damaligen Brief hat Richter die Magie des Namens Emilie aus dem Erfahrungsraum seiner Kindheit hergeleitet. Die Unterstreichung des Namens und die Verwahrung gegenüber der Unterstellung des ›Forderns‹ markieren demgegenüber eine Position, die das Verhältnis von Realem und Imaginärem* abweichend bestimmt, keinesfalls aber als »Aehnlichkeit« mit dem eigenen Geschlecht. Entsprechende FIGUREN der sprachlichen oder gestischen SELBSTDARSTELLUNG,473 zu denen natürlich auch erotische Selbstdarstellungen treten können, weisen fast immer über den binär-amourösen Kontext hinaus und dabei primär nicht unbedingt in die Kindheit zurück (wie für Richter der »weissagend-schön[e]« Name »Emilie«), viel häufiger aber auf vorhergehende Beziehungen und darin präfigurierte Phänomene, die wiederholbar oder in der Wiederholung steigerbar sind. Aber natürlich finden Wiederholungen stets in sich wandelnden Räumen und Zeiten statt. Richters Begegnungen mit den sogenannten genialischen Titaniden ereignen sich auf vielfach codiertem Boden: Leipzig und Weimar, wo Richter sich, mit Unterbrechungen, von Spätherbst 1797 bis Herbst 1800 aufhält, sind für ihn biographische Erinnerungsorte; Berlin, wohin er sich, nach einem sommerlichen Vorabbesuch im 471 472
473
IV 2, 389,8–13, Nr. 233; Textgrundlage: Originalhandschrift. »Ihre Foderung (oder Ihre Unähnlichkeit mit mir in diesem Punkte) ist keine E i g e n h e i t Ihres Wesens, sondern eine Aehnlichkeit mit Ihrem Geschlechte« (III 2, 371,5–7, Nr. 697; Textgrundlage: Druck) (vgl. den Abschnitt »traditionelle und neue Rollenmuster«*). Bei Luhmann werden Figuren der Selbstdarstellung als spezifische Formen zeitgenössischer Liebeskonstellationen behandelt, die in besonderem Maße der sozialen Abstützung bedürfen (Liebe als Passion, S. 208–209); das vorliegende Beispiel zeigt, dass dies auch schon in den Übergangszeiten von ›vernünftiger‹, ›romantischer‹ und bürgerlich-verklärter Liebe gelten konnte. Gerade Emilie von Berlepsch verknüpft später sehr entschieden ihr Selbstbild mit einer öffentlichen Bestätigung der Paarbeziehung durch Richter, selbst dann noch, als das Scheitern dieser Beziehung intern längst ausgemacht ist. Auf dem weiten Feld der epistolaren Figurationen von Selbstdarstellung gedeihen natürlich zahlreiche besondere Formen; vgl. hierzu den besonders aufschlussreichen Beitrag von Andrea Hübener, Epistolarische Pflanzschule der Liebesund Gartenkunst. Hermann und Lucie von Pückler-Muskau. In: Der Liebesbrief, S. 329–352.
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Mai und Juni, im Oktober 1800 begibt, ein literarisch und durch Briefbeziehungen befrachteter Erwartungsort. Der zweite Leipziger Aufenthalt Richters steht zunächst, wie bereits deutlich wurde, im Zeichen der Beziehung zu Emilie von Berlepsch. Dies ist das Verhältnis, das auch in Weimar ruchbar wird. »Werden Sie heirathen?«, so erkundigt sich Charlotte von Kalb schon Anfang Dezember 1797 und fügt hinzu «Reden Sie mir recht wahr über Ihre Stimmung und Verhältnisse ohne Bekleidung – das trockne Wort« (3.1, 25,1–3, Nr. 10; Textgrundlage: Druck). Aber weder seine Stimmung noch seine »Verhältnisse« sind durch das »trockne Wort« darstellbar, und dies nicht allein, weil sie zu verworren sind – das auch –, sondern vor allem, weil das »trockne Wort« dem Prinzip der Intensivierung durch Sprache widerspricht, dem all seine Verhältnisse unterworfen werden. Dies gilt für die per se intensive Beziehung zu Emilie von Berlepsch ebenso wie für die flüchtigen Liebschaften zu der fast genau gleichaltrigen, unglücklich mit einem Kaufmann verheirateten Marianne E l i s a b e t h Hänel, geb. Obermann (1763–1805) und zur deutlich jüngeren, unverheirateten Juliana D o r o t h e a Weiße (1776–1806), der Tochter des LessingFreundes Christian Felix Weiße. All diese Verhältnisse werden – vor allem gegenüber Otto – »mit Bekleidung« in Sprachbilder übertragen, seien es nun große Historiengemälde der Leidenschaft wie das bereits zitierte über die Berlepsch-Verlobungszeit, oder seien es Genre-Miniaturen wie jene, worin die beiden bürgerlichen Leipziger Liebschaften festgehalten sind: Von LEIPZIG schied [ich] mit g a n z e m und fast k ü h l e m Herzen; und die Stadt [aus büsse es] wird durch die Ferne noch kleiner. Für DOROTHEA wurd’ ich kein HERMAN. — Eine andere heissere [andere heissere nachtr. üdZ] Verwickelung, die immer sinlicher wurde, löste sich gerade durch den Abschied, ohne es zu sehr geworden zu sein. Der Teufel zieht mir die verdamtesten Wolfsgruben über den Lebensweg — besonders dadurch, daß entweder nur die andere Person liebt, oder nur ich; jenes ist für das Gewissen gefährlicher, dieses für das Glük.474
Die Entstehungsvarianten der Passage legen es nahe, dass Richter im ersten Schreibimpuls unmittelbar vom Gestus des Scheidenden zur Figur der Wiederholung übergehen will: zur Buße, die in den immer wiederkehrenden Sisyphos- oder Prometheus-Akten der amourösen Verfehlung besteht. Dann aber verschiebt er diese zunächst und fügt das amouröse Resümee ein, das im einen Fall (Dorothea Weiße) in die Figur eines verhinderten Liebens nach lebenssynchronen Texten* gegossen wird (Goethes Versepos Hermann und Dorothea ist gleichzeitig mit Richters Umzug nach Leipzig im Taschenbuch für 1798 erschienen), im anderen (Elisabeth Hänel) aber in die der abgebrochenen sinnlichen Intensivierung. Philologisch repräsentiert ist diese Figur der Intensivierung nur ex negativo, durch Verlust der entsprechenden Dokumente: von Elisabeth Händels Briefe 474
300
III 3, 113,18–25, Nr. 149; Textgrundlage: Originalhandschrift.
sind nur die zwei ersten überliefert, die weiteren sind verloren gegangen.475 Wenn aber ein von Paul Nerrlich tradiertes Schlusswort Elisabeth Hänels authentisch sein sollte, so würde es als charakteristische Figur eines TRANSFERS VON KÖRPERLICHKEIT476 durchaus Richters Darstellung belegen: »Die Deinige bin ich bis zum letzten Hauch meines Lebens«.477 Kurze Zeit nach dieser auf den 9. Februar 1799 zu datierenden Mitteilung schreibt auch Dorothea Weiße einen wohl letzten Brief an den nach Weimar übergesiedelten Richter, worin aber ein vorwurfsvoll-galantes Angebot der Intensivierung, das Richter ihr unterbreitet hat, von ihrer Seite mit »kühlem Herzen« unterlaufen wird: Auf seine Anrede: »Gute sanfte weiche scheue fromme holde Freundin! ›disputierende‹ lass’ ich weg, weil sich das auf Akademien von selbst versteht; vielleicht solt’ ich auch Freundin weglassen; denn welche a[nderen] Beweise hab’ ich als meine Wünsche« (III 3, 154,26–29, Nr. 205; Textgrundlage: eigenhändige Abschrift) und auf sein daran anschließendes Raisonnement über das Verhältnis der Geschlechter* antwortet sie scharf vorrechnend: Wie, mein theuerster Freund, Sie wollten mich nicht Ihre Freundin nennen? Sollte ich Ihnen nicht hinlängliche Veranlassung dazu gegeben haben? – In der That wenn dieses Ihr Ernst wäre, so müßte ich Bedenken tragen Ihnen zu schreiben, denn welche Sicherheit hätte ich daß Sie dieses Briefchen nicht so wohl mit der schonenden Nachsicht eines Freundes, als vielmehr mit der strengen Satyre eines Critickers beurtheilen würden? Vielleicht Ihre Uberzeugung daß unser schwaches Geschlecht ungefähr so handelt denkt, empfindet (und wahrscheinlich auch so schreibt) wie Ihr starkes kraftvolles im Traum? – Ach nein, das Vertrauen zu jener giebt mir mehr Muth, als diese eben nicht sehr günstige Meynung von meinem Geschlechte.478
An Zeichen, die solch kühle Gesten kompensieren, fehlt es indes auch zu dieser Zeit nicht, Zeichen nämlich, die durch die Beschwörung von Kälte gerade deren Gegenteil im empfindsamen Körpercode zu provozieren versuchen,479 wie bei Charlotte von Kalb, wenn sie schreibt: »Ich fange an zu zittern und Todeskälte umfaßt mich. Ich kann nichts thun, bis ich weiß, ob Sie den Abend kommen« (IV 3.1, 210,7–8, Nr. 111). In ihrer Bereitschaft zur Intensivierung geht sie soweit, sich von ihrem Mann trennen zu wollen, um an seiner Stelle Richter zu heiraten. Für ihn aber findet die Intensivierung nicht im Leben statt, sondern in der Literatur; das Angebot und seine körperlichen Vorzeichen werden in einem Briefabschnitt vom 28. Dezember 1798 an Christian Otto mit Blick auf den Titan und die darin auftretenden Heroinen – sowie mit einem Seiten-Rückblick auf die Leipziger Elisabeth-Hänel475 476
477 478 479
Vgl. IV 3.1, 521, einleitende Erläuterung zu Nr. 58 sowie S. 378–382, EB 54–65. Zur grundlegenden Idee eines epistolaren Transfers von Körperlichkeit vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, passim; Reinlein, Der Brief als Medium der Empfindsamkeit, S. 51–52; Wyss, Sprache, Subjekt und Identität, S. 199–200. IV 3.1, 382. IV 3.1, 268,31–34, Nr. 153; Textgrundlage: Originalhandschrift. Zur Figur der Kälte vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 152 u.ö.
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Affäre – analysiert. Dabei konkretisiert Richter das Ereignis in einer Sofortkorrektur: Jene [aus Eine] Frau — künftig heisse sie die T i t a n i d e , weil ich dem Zufal nicht traue — die von WEIMAR zuerst nach HOF an mich schrieb, die ich dir bei meinem ersten Hiersein als eine Titanide malte, mit der ich wie du weist, eimal eine Szene hatt, wo ich (wie in Leipzig) im Pulvermagazin Tabak rauchte, diese ist seit einigen Wochen vom Lande zurük und wil mich heirathen und sich scheiden. Nim diesen Leichtsin nicht falsch.
Das Spiel mit dem Feuer wird als Wiederholungsfigur beschrieben, die in eine Schreibpause mündet; erst nach einem Umbruch des Tages und der Briefzeile setzt Richter seine Mitteilung fort, rekapituliert dabei aber zunächst die Umstände des Heiratsantrags. Die Hochschätzung Johann Gottfried Herders sowie dessen Mit-Affiziertheit sprechen dabei für Frau von Kalb: D. 29. DEC. Weiter! Die alte Lebensweise kehrte bald um, nur verklärter. Kurz nach einem SOUPER bei HERDER und einem bei ihr, wo er bei ihr war (er achtet sie tief und höher als die B[erleps]CH und küste sie sogar im Feuer, neben [aus vor] seiner Frau) und als [als nachtr. üdZ] der Wiederschein dieser [aus dieses] Aetnas Flamme auf mich fiel, sagte sie mir es geradezu. Sonderbar, ich möchte lieber 3 Tage mit dir reden als 1 Minute darüber schreiben […]. Meine Moralischen Einwürfe gegen die Scheidung wurden durch die 10jährige Entfernung des Mannes widerlegt, und durch den frühern Vorsaz für SCHILLER — von den 3 Kindern bliebe nur eines, das schönste klügste Mädgen — alle Güter sind die ihrigen — und als ich auf kameralistische Indemnisazion des Mannes und der Kinder (präliminarisch) drang, war alles ihre Meinung. […] Mit drei Worten! O ich sagte der hohen heissen Seele einige Tage darauf N e i n ! Und da ich eine Grösse, Gluth, Beredsamkeit hörte wie nie: so bestand ich eisern darauf, daß sie keinen Schrit f ü r wie ich g e g e n [aus dagegen] die Sache thun solle. Denn sie glaubt, ihre Schwester und deren Man, der Präsident, und ihre Verwandten würden alles thun, ach im März wäre alles vorbei, nämlich die Hochzeit. Ich habe endlich Festigkeit des Herzens gelernt — ich bin ganz schuldlos — ich sehe die hohe genial[ische] Liebe, die ich dir hier nicht mit diesem schwarzen Wasser malen kan — aber es passet nicht zu meinen Träumen. — O Emilie, du sprachst mir die Liebe ab, und nur dieser opfer’ ich Stand und Reichthum schon zum 2ten mal!480
Auch wenn Richter hier die letztlich scheiternde Eheverhandlung als Figur der Wiederholung derjenigen mit Emilie von Berlepsch darstellt: seine Überlegungen beziehen nun doch sehr viel konkreter das Verhältnis zwischen der Erfahrung der Liebe und der Realität des sozialen Lebens* mit ein als zuvor. Das unterstrichene »Nein« wird damit auch zu einem Signal des non plus ultra gegenüber dieser Sphäre und markiert ein retardierendes Moment in seiner Biographie. Mit diesem Signal sichert er sich noch einmal eine Frist der verlängerten Simultanliebe, eine Frist, die auch noch einmal neue Intensivierungspotentiale eröffnet, welche ihre Energien – in den Beziehungen zu Josephine von Sydow und Henriette von Schlabrendorff – nun wieder aus der 480
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III 3, 139,28–140,29, Nr. 179; Textgrundlage: Originalhandschrift.
Welt des Adels schöpfen: Die französische Schriftstellerin Josephine von Sydow geb. Peyrennit de l'Escun (Lescun), geschiedene de Monbart (1758 oder 1761 – 1829) baut im März 1799 von sich aus den Kontakt zu Richter auf mit der französischen Ouverture: »Si j’étois reine, l’auteur d’H e s p é r u s , serait mon premier ministre«.481 Sie präsentiert sich als Übersetzerin eines Salis-Gedichts im Hesperus (das sie irrtümlich für eine Dichtung Richters hält), wodurch sie ihr Sprachvermögen* in seiner Muttersprache zu beweisen versucht, bittet ihn jedoch, seine Antwortbriefe nicht in deutscher Kurrent- sondern in lateinischer Schreibschrift zu schreiben.482 Der Prozess der Intensivierung vollzieht sich in ihrem Fall durchgängig im Medium des Briefes, wohingegen der dichte Rhythmus der Korrespondenz nach der Erstbegegnung im Mai 1800 in Berlin deutlich nachlässt.483 Auf Steigerung angelegt ist das Briefverhältnis zum einen durch die Tatsache, dass sich die Sprachen gegenseitig durchschießen: in ihre Briefe sind (in größerer Schrift) deutsche, in seine Briefe wiederum französische Einschlüsse gefügt; zum anderen durch bedeutungsreiche und voluminöse Beilagen oder Beisendungen von ihrer Seite (ein selbstverfasstes Epitaph ad se ipsum, Publikationen, ein großformatiges Portrait), vor allem aber durch eine durchgängige Zentrierung des Schreibens auf das Liebesthema, das vor allem bei ihr auch ganz unverblümt den eigenen amourösen Status und den des Korrespondenten anspricht und in mythologische oder literarische Maskeraden überträgt, die unzweideutig der erotischen Selbstdarstellung dienen: vous seul vous savéz peindre l’amour comme je le sens. puisse votre tendre cœur être plus heureux que le mien, vous écrivés dites vous pour oublier que vous n êtes pas amant, ah si jamais vous l êtes, puissies vous plus fortuné que moi, ne jamais revenir à vos feuilles. […]si vous n êtes qu’un homme, vous êtes dumoins un G o t t m e n s c h recevéz l’assurance de l’immortelle amitié de votre amie josephine de sydow mon adresse der Frau von sydow gebohrene v. lescun zu Belgard in hinter Pommern si jamais Daphné rencontre appollon elle ne fuira pas devant lui 484
In ihrer mythologischen Anspielung auf den Apollo/Daphne-Mythos treibt Josephine von Sydow selbst ein metamorphotisches Spiel: sie schließt dabei eine Anspielung aus Richters Brief, die in einem imaginären Denkraum angesiedelt ist, mit einer Äußerung von seiner Seite kurz, die auf Realpräsenz zielt. In Richters Brief steht zunächst – dem Druck zufolge: Ein Lorbeer hat grössern Werth, wenn man ihn aus einer w e i b l i c h e n und einer a u s l ä n d i s c h e n Hand zugleich empfängt. Gleichwohl hoff’ ich und wünsch’ ich, daß der Lorbeer (umgekehrt nach der Mythologie) in eine Daphne sich verwandle; – 481 482 483 484
IV 2, 271,23, Nr. 155; Textgrundlage: Druck. Vgl. IV 2, Nr. 155 und Nr. 176. Vgl. IV 3.1, 715, einleitende Erläuterung zu Nr. 155. IV 3.1, 297,19–33, Nr. 176; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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ich meine, ich bitte Sie um Ihren Namen und um alle versprochene OEUVRES, worunter Sie ihn sezen.485
Mehrere Bezugsebenen lassen sich hier unterscheiden: der philologische Primärbezug ist natürlich die Korrespondenzstelle im beantworteten Initial-Brief Josephines, namentlich dessen Auftakt »Si j’étois reine, l’auteur d’H e s p é r u s , serait mon premier ministre« – eine imaginative Handlung, die Josephine von Sydow zunächst an den Eindruck geknüpft hat, den Jean Pauls Schriften auf sie gemacht haben (IV 3.1, 155,23–27). Dieser Eindruck ist von ihr sogleich aber auch ad personam ausgeweitet worden, indem sie auf das Portrait, das in der 1798 erschienenen zweiten Auflage des Hesperus vor dem Titelblatt eingebunden ist, verwiesen hat. Diese Verständigung über Schriftund Bildzeichen ist auch von ihr zunächst mit Indizes des Imaginären versehen worden: sie erfreue sich nicht mehr des Alters, in dem sie entsprechende Bekenntnisse nicht hätte wagen dürfen, und überhaupt werde sie der Urheber ihrer Empfindungen gewiss nie zu Gesicht bekommen (IV 3.1, 271,26–33). Ebenso asymmetrisch wie die Perspektive der wechselseitigen Anschauung hat sie in ihrem Brief das Verhältnis der gegenseitigen Lektüre dargestellt: Sie habe nicht den Hochmut, zu glauben, Richter könne ihre Werke kennen, wohingegen sie mit seinen Werken völlig vertraut sei, deren unnachahmliche Mischung (»mélange inimitable«) aus Scherz und Empfindsamkeit Deutschland zur Ehre gereiche (IV 3.1, 271,33–272,4). Die »Hommage«, die sie ihm darbringe, sei nun aber umso aufrichtiger, als sie nicht seine Landsmännin und bislang gegen die deutsche Literatur voreingenommen gewesen sei (IV 3.1, 272,4–7). Was macht Richter in seiner Antwort mit den Zeichen und Andeutungen, die zugleich ins Imaginäre und ins Reale verweisen? Zunächst erlaubt er sich, den Brief als Medium eines Transfers von Körperlichkeit* zu begreifen: an die Stelle des Portraits, auf das nur sie sich beziehen konnte, bezieht er sich auf ihre »Hand«, die gleichermaßen für die Schreiberhand wie für die Handschrift steht. Zugleich lässt er diese Hand zum Werkzeug einer Fortschreibung von Literatur, eines LIEBENS NACH TEXTEN486 werden: Ihre 485 486
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III 3, 171,16–21, Nr. 229. Vgl. (systematisch) Leisi, Paar und Sprache, S. 74–109 (Leisi unterscheidet dabei zwischen einem »gesamthaften Nachvollzug« und einem »punktuellen Nachvollzug« von literarischen Mustern in Liebesbeziehungen), sowie (historisch) Anton, Authentizität als Fiktion, S. 33–57 (in einer etwas weiter gefassten Version des epistolaren »Nachempfindens« von Liebesverhältnissen), und Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 162–167; zu den Bedingungen und Widersprüchen des Nachvollzugs vgl. auch Jacob, Briefe aus dem Jenseits. Umgekehrt können auch literarische Texte als Postfigurationen von realen Liebeskorrespondenzen begriffen werden, ohne dass ein direkter Transfer stattfände (vgl. z.B. Sheila Osborne, Dorothy Osborne’s Love Letters: Novelistic Glimmerings and the Ovidian Self. In: Prose Studies. History, Theory, Criticism, 19, 1996, S. 149–159, die in den von ihr untersuchten Briefen die Konstellation von Richardsons Clarissa vorgebildet sieht) – Bezugspunkt der Li-
Hommage folgt in seiner Lesart der Dichterkrönung im ersten Aufzug von Goethes Schauspiel Torquato Tasso (I,3), in dem das Empfangen des Lorbeerkranzes aus weiblicher Hand (dort derjenigen der Prinzessin Leonore von Este) szenisch präfiguriert ist; dieser Typus wird variiert, indem die weibliche Hand zugleich als »ausländische« Hand erkannt wird. Der Wunsch nach einer Metamorphose wiederum, der gegen die kanonische Lesung des Mythos eingefordert wird, wagt sich nicht bis ins Reale vor, sondern fokussiert zwei symbolische Instanzen: ihren vollen Namen (sie hat im ersten Brief nur ihren Vornamen zu erkennen gegeben) und ihre Schriften. Auf diese Weise wird zunächst Symmetrie hergestellt. Bei aller Seelenverwandtschaft und bei allem Enthusiasmus des ›Geistergesprächs‹ kann aber das Briefgespräch nicht durch den empfindsamen Äther stattfinden. Liebesbriefe sind wie jede andere Post auf einen Briefträger angewiesen.487 Auch diese Notwendigkeit hat die unterschreibende »Josephine« in ihrem InitialBrief auf das System der literarischen Freiheit bezogen: Wenn sie mit Spitzius Hoffmann, dem Briefträger-Hund aus Richters Hesperus oder 45 Hundsposttage bekannt wäre, so würde sie ihm ihren Brief anvertrauen. Was sie damit sagen will, ist schlicht, dass sie Richters Adresse nicht kennt: »J’ignore votre véritable adresse, mais Jean Paul doit être connu à Leipzig« (IV 3.1, 27231–32). Hierauf nun antwortet Richter aus Weimar, indem er seinerseits auf den Hesperus und die Kapitel der Pfingsttagesliebe Bezug nimmt: »Meine Adresse war die rechte (Leipzig ausgenommen) – ich bin nichts als ein Mensch, nur ein Autor – noch nicht einmal ein Verlobter; daher ich Pfingstkapitel schreibe, um es zu vergessen« (III 3, 171,31–33). Der Verlobung (beziehungsweise der Ehe) im Ordnungssystem des bürgerlichen Lebens entspricht die reguläre Adressierung im Dispositiv der Post. Die Produktion von Literatur wird in beiden Bezugssystemen als eine Form der Ausnahme begriffen: der Autor lebt im postalischen Niemandsland, und seine Ausgenommenheit vom bürgerlichen Leben ist Bedingung seiner Lizenz zur literarischen Ehestiftung. Dies ist der Satz, auf den sich Frau von Sydow beziehen wird, wenn sie schreibt: »vous écrivés dites vous pour oublier que vous n êtes pas amant« (IV 3.1, 297,21). Die Korrespondenten beziehen sich an dieser Stelle auf unterschiedliche soziale Realitäten und auf unterschiedliche Schreibakte: Josephine auf den allgemeinen des schriftstellerischen Schreibens und auf die allgemeine des Liebeslebens, Richter auf den konkreten des Liebeskapitelschreibens und die konkrete des institutionellen Lebens. Er fügt seiner Bemerkung hinzu: »Leben Sie froh, gute Seele! Aber sagen Sie mir nicht mehr, daß ich Sie niemals sehen
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terarisierung bilden in beiderlei Richtung Grundtexte des neuzeitlichen amourösen Briefdiskurses wie die Heroides des Ovid (vgl. ebd., S. 153–157 und Jacob, Briefe aus dem Jenseits, S. 10–12). Zum Wechsel vom ätherischen zum postalischen Dispositiv vgl. Schneider, Liebe und Betrug, S. 247–263.
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werde. Die lebendige Gestalt volendet die irdische Freundschaft; sonst könte man eben so gut die Freunde vor der Sündfluth lieben« (III 3, 171,32–36). Damit erhält Frau von Sydow die Lizenz zur Doppeldeutigkeit, mit der sie auch – in der Apoll/Daphne-Anspielung – ihren Antwortbrief enden lässt. Für Richter aber steht entgegen aller Selbststilisierung das, worüber sich Josephine von Sydow leichtfüßig hinwegmythologisiert, zu dieser Zeit im Zentrum seines Handels – und zwar nicht nur seines lebenspraktischen, sondern auch seines literarischen: 1799 ist bei Wilhelm Heinsius in Gera und Leipzig sein Buch Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf erschienen, in dessen zweitem Teil, der »Konjektural-Biographie«, seine »w a h r e , künftige (muthmasliche)« Lebensgeschichte mitsamt »Heirath, Haushalt, Alter, Tod« vorausschauend dargestellt wird.488 Damit hat er sich selbst in Zugzwang gebracht, und immer häufiger äußert er nun in seinen Briefen den Wunsch, die von ihm selbst statuierte Voraussetzung seines Schreibens zu unterwandern bzw. das darin entworfene Wunschbild zu erfüllen, das heißt: eine reale Ehefrau zu finden. So schreibt er zum Beispiel an Friedrich Heinrich Jacobi: […] hätt’ ich eine Braut oder Frau, so wär’ alles – leicht […] Ich kenne nun das Leben, besonders das auflösende bei [aus mit] genialischen Weibern, die zugleich [zugleich nachtr. üdZ] verwirren und zersezen und verspäten – nein, ich wil ein einfaches stilleres Herz, damit meine Kindheit und das Leben bei meinen Eltern wiederkomme und alles, was das erinnernde Herz ewig vormalt …489
Das Miteinander der Verlobungszeit mit Emilie von Berlepsch und der gleichzeitigen und nachfolgenden Liebesaffären wird durch Korrektur zum Beieinander heruntertransformiert. Auf der anderen Seite aber wird Simultanität – das »zugleich« – im Korrekturmodus eingefügt, aber nicht auf der Seite des Zusammenführens wie vormals in der Simultanliebe, sondern auf der des Auflösens, Verwirrens, Zersetzens und Verspätens. Das erträumte Eheleben hat hier einen Bezug im Zwischenbereich zwischen dem Realen und dem Imaginären*: im Wunsch nach Wiederholung der Kindheit und deren Projektionen. Je ernsthafter Richter nun daran arbeitet, diese Lebensutopie zu finden, desto stärker musste die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Erfahrung der Liebe und der Realität des sozialen Lebens für sein individuelles Leben und seine Briefwechsel bestimmend werden.
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Vgl. III 3, 104,12–13, Nr. 135. III 3, 200,4–10, Nr. 274.
II.3 Erfahrungen der Liebe und Realität des sozialen Lebens
Zusammenfassung Die Beantwortung von Fragen nach der Erfahrung von Liebe im Verhältnis zur sozialen Realität scheint mit strikt philologisch orientierten Fragestellungen zunächst nur schwer vereinbar zu sein. Zumindest müssen von philologischer Seite dabei stärker deutende Hypothesen mitberücksichtigt werden als dies bei Fragen nach dem Ausdruck von Liebeserfahrungen in Briefen der Fall ist. Unter den vermittelnden Konzepte, die aufgerufen werden können, sind vor allem solche, die das Verhältnis von Realem und Imaginärem reflektieren, von Bedeutung. So kann zum Beispiel im Falle der letztlich scheiternden Verlobung zwischen Jean Paul und Caroline von Feuchtersleben die Unvereinbarkeit von Ansprüchen nachgewiesen werden, die voneinander abweichend auf imaginäre und reale Verhältnisse zielen. Dabei lassen sich auf philologischer Basis durchaus Korrekturen von Einseitigkeiten in der Beurteilung von individuellen und sozialen Konstellationen vornehmen. Dies erlaubt, die Liebesbriefforschung auf eine breitere und objektivierbarere Basis zu stellen. Josephine von Sydow · Caroline von Feuchtersleben ·Georg Christian Otto · Herzogin Charlotte von Sachsen-Hildburghausen · · Johann Gottfried Herder · Caroline Herder · Emilie von Berlepsch · Henriette von Schlabrendorff Caroline Mayer · Johann Siegfried Mayer
1. Rahmenbedingungen der Korrespondenz Fragen nach dem Verhältnis zwischen der Erfahrung der Liebe und der Realität des sozialen Lebens bleiben im weiteren Briefwechsel mit Josephine von Sydow zunächst unberücksichtigt – im Vordergrund steht weiterhin das Thema des Liebens im Allgemeinen. Erst in einem Brief vom 5. September 1799 lässt Josephine von Sydow das Thema im Anschluss an eine Stelle aus Richters Kampaner Thal anklingen, 1 in seiner Antwort darauf vom 26. September 1799 spricht Richter dann direkt seine Einstellung zu den Institutionen der Liebe an:2 1 2
IV 3.2, 62,32–63,34, Nr. 253; Textgrundlage; Originalhandschrift; der entsprechende Korrespondenzbezug wäre im Kommentar zu dem Brief zu ergänzen. Zum Verhältnis zwischen den Prolegomena des Liebeslebens (im bürgerlichen Sinne) und dessen Institutionalisierungsformen (Verlobung, Ehe, Eheleben) vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 60–61 (über die Ehe als ›Beginn der Freiheit‹ im Zeichen der vorbürgerlichen ‚amour passion‹); S. 126–136 (über die Liebe als Ehevoraussetzung in der bürgerlich austarierten ›vernünftigen Liebe‹), S. 183–196 (über das Hinfälligwer-
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Über die Liebe denk’ ich wie Sie. Früher im zwanzigsten Jahr dacht’ ich nicht wie Sie; ich glaubte, die Ehe zerquetsche mit harter Hand die weichen Blütenblätter der Liebe, indem sie sie pflükke [aus plüke und pflücke]; aber jezt glaub’ ich, daß das wechselseitige Hingeben und Aufopfern und, das die Ehe fodert [aus fordert], das gemeinschaftliche Aufopfern für das Kinderglük, das Tragen von einerlei Leiden, das Streben nach einerlei Zwecken auch die heiligste Liebe, die vorher blühte, noch mehr heilige und die festeste verewige; selber die Freundschaft kan nicht so innig lieben wie die Ehe. 3
Wie im ungefähr gleichzeitigen Geständnis an Jacobi4 werden hier Bestimmungen des Liebeslebens durch Korrektur umgeordnet. Die Aufopferung wird jedoch vom »Hingeben« getrennt und mit dem »Kinderglük« verknüpft, die Ehe selbst aber – erneut korrigierend – unter das Regime jenes Wortes gestellt, das die Beziehung zu Emilie von Berlepsch so unheilvoll begleitet hat: das Wort »Foderungen«. Richters Annäherung an die hier herausgestellte Figur des Realen, den Ehestand, die mit seinem eigenen Ehebund am 27. Mai 1801 ihren biographischen Endpunkt findet (beziehungsweise zu finden scheint), führt ihn jedoch vorerst noch auf Umwegen durchs Reich der Zwänge und Notwendigkeiten. Eine für Richter kaum erwartete Bedeutung gewinnen zunächst die Fragen der SOZIALEN und der FAMILIÄREN AKZEPTANZ, aufgrund derer EINSPRÜCHE UND MITSPRACHERECHTE als Rahmenbedingungen der Korrespondenz spürbar werden,5 als er im Jahr 1799 seine dritte Verlobung – nach Sophie Ellrodt und Emilie von Berlepsch – eingeht. Der Anfang der entsprechenden ›Geschichte‹ liegt noch vor der Briefkontaktaufnahme Josephine von Sydows: Im Spätherbst 1798 wendet sich die zu diesem Zeitpunkt 25jährige C a r o l i n e Henriette Susanne Friederike von Feuchterlsleben (1774–1842), Hofdame der Herzogin Charlotte von Hildburghausen (1769–1818), an Richter, um ihm ihre Bewunderung für seine Werke auszusprechen.6 Da der entsprechende Brief nicht erhalten ist und auch Caroline von Feuchterslebens Tagebücher, die ansonsten über weite Strecken überliefert sind,7 für die betreffende Zeit vernichtet wurden,8 lässt sich die Motivation für diese gegen die Konvention
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den der Gründe gegen Liebesheiraten und den alsbald eintretenden Sieg der ideologischen Verklärung der Ehe jenseits des romantischen ›Augenblicks‹ einer »Freigabe der Eheschließung aus gesellschaftlichen und familiären Zwängen«). III 3, 231,10–19, Nr. 318 und Varianten, S. 472; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift. Vgl. oben, Anm. 839. Zur – oft unerwünschten – Kontrolle durch Mitsprache vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 138–139. Vgl. IV 3.1, 380, EB 58. H: Slg. Kippenberg; Kopie in der Arbeitsstelle der Jean-Paul-Edition an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Vgl. Eduard Berend, Karoline von Feuchtersleben. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 2, 1922, S. 113–157, hier S. 114; liebesbriefhistorisch bemerkenswert ist, dass im Nachlass Caroline von Feuchterslebens die Gedichte, die sich auf die Zeit und die
von ihrer Seite aus erfolgte Kontaktaufnahme nur unsicher aus nachträglichen Äußerungen zurückverfolgen. Diese Äußerungen allerdings müssen mit Vorbehalt gelesen werden, da in ihnen jeweils unterschiedliche Interessen in Hinblick auf die mögliche Legitimation der Beziehung* vorherrschen. Caroline von Feuchtersleben selbst schreibt am 15. April 1800 – also eineinhalb Jahre nach dem epistolären Akt, auf den sie sich bezieht, an Richter: In unsern Bündnis erkenne ich überal die Fügungen des Unendlichen, der seine Menschen erziehet und beglükt; und zusammenführt mit unsichtbarer Hand, die Selen die er für einander bestimt. – Hätte man mir nicht so oft und so bestimt gesagt: du seiest verheirathet, und hät’ ich es nicht so fest geglaubt daß ich eine Wette darüber – verlor: – ich hätte sicher n i e den Muth gehabt, dir zu e r s t zu schreiben.9
Caroline von Feuchtersleben sichert ihren Schritt nachträglich doppelt ab: er ist gerechtfertigt aufgrund der »bestimmt[en]« Überzeugung von Personen ihres Umfelds, die man ihr vermittelt habe, sowie als göttliche Fügung, die aus dem sozialen Irrtum eine existentielle Wahrheit macht. Die natürliche Person hinter dem »man« wird man wohl in der Herzogin selbst sehen müssen, die gleichfalls eine begeisterte Jean-Paul-Leserin ist und sich auch in der Folgezeit, als die soziale Akzeptanz seiner Rolle als möglicher Ehemann der Hofdame diskutiert wird, auf seine Seite schlägt. Neben dem Mitspracherecht der höfischen Sphäre in Person der Herzogin besteht aber – in zunehmender Konkurrenz zu jener – eines der Familie, und als Caroline ihre retrospektive Rechtfertigung schreibt, ist der Kampf ihrer Verwandtschaft gegen das angestrebte Ehebündnis mit Richter längst entbrannt und noch immer nicht entschieden. Verkompliziert wird dieser Kampf durch die Tatsache, dass das familiäre Pendant zu jener göttlichen Instanz, die den Menschen ›erzieht, beglückt und zusammenführt‹ als lebender Akteur nicht mehr anrufbar ist: Carolines Vater Christoph Erdmann Feuchter von Feuchtersleben ist 1796 als Geheimer Kammerrat und Generaladjutant des Herzogs Friedrich von Sachsen-Hildburghausen gestorben. Als seine Hinterbliebenen leben die Witwe Rosine (Rosalie) Sophie Marie von Feuchtersleben, eine geborene Schott von Schottenstein (1738–1805), und die drei jüngsten Kinder aus der zweiten Ehe (Heinrich, Luise und Caroline) noch im elterlichen Haus in Hildburghausen; Heinrich und Caroline sind am Hof angestellt, Caroline hat jedoch die Hofdamen-Stelle nur vertretungsweise übernommen, Heinrich hingegen ist fest angestellter herzoglicher Jägermeister. Die übrigen Söhne stehen andernorts in Militärdiensten. Der gesellschaftliche Anspruch, der von allen geltend ge-
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Akte der Beziehung einschließlich der Verlobung und ihrer Auflösung beziehen, erhalten sind, offenbar also einem anderen Dokumenten-Vernichtungs-Regime unterworfen sind als die Briefe. Berend hat im erwähnten Aufsatz eine Reihe dieser Dokumente veröffentlicht, darunter auch das die Verlobung reflektierende Gedicht Der Bund. IV 3.2, 270,17–23, Nr. 365; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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macht wird, ist indes noch nicht tief verwurzelt: der Adelstitel, den der Vater erworben hat, stammt erst aus dem Jahr 1765.10 Beim ortsansässigen Bruder Konrad H e i n r i c h Karl (1770–1813) findet sich nun – unter diesen Vorzeichen – eine ganz andere Darstellung der Briefanknüpfung. An den älteren Halbbruder Ernst von Feuchtersleben (1765– 1834)11 in Krakau schreibt er am 3. Dezember 1799: Ein neuer weimarischer Gelehrter, Namens Richter, der sich durch einige Schriften der lesenden Welt unter dem Namen Jean Paul bekannt machte, fand Gelegenheit die Caroline durch Briefwechsel kennen zu lernen, die ich weis nicht warum, sich erbot, für die Herrschaft [gemeint ist die Herzogin, Anm. J.P.] Bücher von ihm zu verschreiben.12
Der Bücherwunsch der Herzogin steht also am Anfang allen Unglücks, denn als ein solches betrachtet der Bruder die Verbindung. Deutlich wird der bürgerliche Name des Werbers markiert. Sein Familienstand hingegen spielt aus der Sicht des Bruders gar keine Rolle mehr. Die Gelegenheit, die der Gelehrte findet, macht ihn zum briefstellerischen Dieb der Standesehre. Diese aber glaubt der Bruder mit allen Mitteln verteidigen zu müssen. Für seine Schwester hingegen ist die dem Briefwechsel vorausgehende Lektüreerfahrung von Richters Werken standesunabhängig. In der Fortsetzung der bereits zitierten Passage des Briefes vom April 1800 schreibt sie an Richter: O wenn ich mit KÜHNER [ihrem bürgerlichen Erzieher, Anm. J.P.] in den Hesperus oder den Kampaner Thal las (er lehrte mich decklamiren, und – dich lieben) wie verstumten wir oft im hohen Staunen über den Verfaßer, und riefen wie aus einen Mund und mit dem Tone der höchsten Achtung: »D e n Man muß ich sehen!« O wie liebten wir dich in deinen Werken, wie sehnten wir uns nach dir!13
Dieser Enthusiasmus lässt sich durch entsprechende Tagebucheintragungen aus der Zeit vor der Kontaktaufnahme mit Richter belegen.14 Bemerkenswert ist dabei, dass diese Lektüre-Protokolle offenbar vom Auodafé der die Liebesbeziehung betreffenden Tagebuchteile ausgenommen wurden. Erklärbar könnte dies dadurch sein, dass dort der heilsame Schmerz, den Caroline von 10
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Bei Franz Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben (in: Euphorion 11, 1904, S. 493–503, hier S. 494) ist somit irrtümlich von einem »sächsischen Adelsgeschlecht« die Rede; der Hinweis auf den Neu-Adel der Familie fehlt auch bei Berend, vgl. aber Monika Firla, Franz Joseph Gall, Angelo Soliman und die Afrikaner-Büsten im Rollettmuseum in Baden bei Wien. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 2008, S. 320– 330, hier S. 323; der entsprechende wichtige sozialgeschichtliche Hinweis wäre auch in der HKA in der Ersterläuterung zu Caroline von Feuchtersleben (vgl. IV 3.2, 536– 537) zu ergänzen. Die Lebensdaten sind im Register zu Bd. IV 3.2, S. 859 zu ergänzen; vgl. NDB 5, S. 106. Zitiert nach: Franz Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 498. IV 3.2, 270,24–29. Vgl. Berend, Karoline von Feuchtersleben, S. 119.
Feuchtersleben mit der Lektüre von Richters Werken verbindet, ganz offensichtlich mit dem Schmerz über den Tod des Vaters verbunden wird, dessen posthume Mitsprache darin deutlich wird: »Die Wunden, die Jean Paul erneut, d e n Schmerz, den er erregt, den heilt die Welt nicht mehr«.15 Von Richters Antwortbrief auf das Initialschreiben Caroline von Feuchterslebens zeugt nur ein Satz im Briefkopierbuch, der »Feuchtersleben 17 Dec.« überschrieben ist und in keinerlei Hinsicht den Rückschluss zulässt, dass er der Hofdame aus Hildburghausen in anderer Weise antwortet als er dies in ähnlichen Fällen sonst tut: zugleich enthusiastisch und unverbindlich. Bis in den Sommer 1799 hinein beharrt der Briefwechsel offenbar in dieser fast paradoxen Allgemeinheit, der Rhythmus der Korrespondenz* bleibt dabei langsam. Aber Richter bekommt so – wie Heinrich von Feuchtersleben gehässig aber zutreffend schreibt – »Gelegenheit«, die Hofdame »durch Briefwechsel kennen zu lernen«. Aus seiner – des Bruders – Sicht liegt dem Ganzen eine infame Strategie des Gelehrten zugrunde: »Bald darauf«, so fährt er in seinem Brief an den Krakauer Bruder fort, »reiste er her, kam unter dem Vorwand, daß er keine andere Bekanntschaft in der Stadt hätte, viel ins Haus, gefiel sich und wahrscheinlich auch Carolinen – war, wie fast jeder gelehrte Schuß zudringlich und wurde sehr vertraut mit ihr.«16 Die Mutter habe dies als »Anhänglichkeit für die LECTURE« missverstanden und zugelassen. Am Hofe aber habe der Gelehrte »durch sein auffallendes Betragen, seine sonderbare Attitude« vor allem »Gelächter« erregt.17 Aus Richters Sicht stellt sich die erste Begegnung im Mai 1799 in Hildburghausen, wohin Caroline von Feuchtersleben ihn eingeladen hat, natürlich ganz anders dar. An Christian Otto schreibt er noch zurückhaltend, lässt aber, wenn auch im Modus des Ausschließens, den Gedanken an Ehe bereits anklingen, indem er ihn gleichzeitig von sich weist: HILDBURGHAUSEN d. 24 oder 25 Mai. 99. — Aber in Weimar schick’ ich den Brief erst fort. Hier siz ich nun seit einer Woche, und recht weich. Es ist und war so: Ich korrespondierte [aus korrespondiere] schon mehrmal mit einer CAROLINE V. FEUCHTERSLEBEN, die hier ist, und dieser versprach ich zu kommen. (Denke nur nicht, daß jezt etwas Wichtiges komt, nämlich eine Braut!)18
Dass dem Briefschreiber das, was – im Brief – nicht kommt, dann aber doch wichtig ist, sagt der Brief selbst und sagen auch viele Kontextbriefe aus dieser Zeit. Zwar macht die Tempus-Korrektur deutlich, dass es sich bis auf weite15 16 17 18
Ebd.; zur Idee einer epistolaren Mitsprache der Toten aus dem Jenseits heraus vgl. Jacob, Briefe aus dem Jenseits. Zitiert nach: Franz Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 498. Ebd. III 3, 193,13–18, Nr. 267 und Variante, S. 459; Textgrundlage: Originalhandschrift.
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res um eine abgeschlossene Geschichte handeln soll, sie stellt aber als Korrektur eben dies zugleich in Frage. Eine weitere Korrektur am Anfang der im Brief folgenden Passage dürfte wohl stilistisch motiviert sein, nämlich um eine Wiederholung des Satzanfangs (»Es ist …«) zu vermeiden;19 die stilistische Retusche zieht aber gleichwohl auch einen weiteren Wechsel nach sich, indem nun das Geschlecht nicht mehr grammatikalisch ans Neutrum des Wortes »Mädgen« gebunden bleibt, sondern dem natürlichen Geschlecht der neuen Bekannten angepasst wird: Sie [aus Es] ist ein edles, tieffühlendes, mänlich-festes [mänlich-festes nachtr.], vom Schiksal verwundetes, ziemlich schönes Mädgen […] Fatal ists – und im Grunde gar nicht –, daß sie im Sprechen [Fußnote Richters: aber absichtlich mit mir; und sie gestand mir die Ursache: »weil man ein Schauspiel leichter vergisset als ein Drama« und fuhr fort.] zu spielend und leicht ist, wie im Schreiben zu ernst.20
Die Einfügung der Charakterisierung »mänlich-festes« hat, wie schon angedeutet, vielleicht kompensierende Funktion: die vom Stil erzwungene Festschreibung des Geschlechts wird damit sozusagen neutralisiert. In der offenbar erst nach Niederschrift der ganzen Phrase über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit* eingefügten Fußnote aber kommt erstmals im Überlieferungsstrang Caroline von Feuchtersleben selbst zu Wort – im Zitat: Sie spricht dabei nur für sich selbst und, wie Richter gegenüber Otto hervorhebt, exklusiv an ihn, und dies im Register der spielerischen Leichtigkeit, das der Brieftext selbst thematisiert. Aber das Zwiegespräch ist natürlich trotz dieser Beteuerung der Exklusivität in die Realität des sozialen Lebens und deren Diskurse eingebunden. Die Sprachregister Leichtigkeit versus Ernst beziehungsweise Tiefsinn sind dabei – implizit – geschlechterspezifisch codiert:21 Diese Codierung im Rahmen der sozialen Realität des Geschlech19 20 21
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Dies wurde als Verstoß gegen das briefstellerische aptum betrachtet, vgl. Fulda, Hallischer Briefsteller, S. 113–114. III 3, 193,18–25 und Varianten, S. 459. Zur Koppelung der Geschlechterstereotypen des Weiblichen mit dem Stereotyp der Leichtigkeit und des Männlichen mit dem des Tiefsinns bzw. der Ernsthaftigkeit vgl. z.B. Kants Ausführungen zum Gefühl des Schönen und Erhabenen im »Gegenverhältnis beider Geschlechter«; das »schöne Geschlecht«, so heißt es dort, habe »ebensowohl Verstand als das männliche nur ist es ein schöner Verstand«, und zur »Schönheit aller Handlungen« (und somit auch der sprachlichen) gehöre, »daß sie Leichtigkeit an sich« zeigten, wohingegen der männliche Verstand »ein tiefer Verstand« sei; »[t]iefes Nachsinnen« aber »und eine lange fortgesetzte Betrachtung sind edel, aber schwer, und schicken sich nicht wohl für eine Person, bei der die ungezwungenen Reize nichts anders als eine schöne Natur zeigen sollen. Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln, wenn es gleich ein Frauenzimmer darin hoch bringen sollte, vertilgen die Vorzüge, die ihrem Geschlechte eigentümlich sind […]« (I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 1764. In: Immanuel Kants Werke, hg. von Ernst Cassirer, Bd. 2, Vorkritische Schriften II, hg. von Artur Buchenau, Berlin 1922, S. 270–271; in den Vorlesungen zur »Menschen und Weltkenntniß« vom Winter 1790/91 schreibt Kant der Frau dann ausdrücklich die Rolle der »Unterhaltung« und
terverhältnisses wird aber von Caroline – explizit – mit Codierungen in einem der anderen Diskurse*, mit denen Liebesgespräche verwoben sein können, verknüpft: dem des Theaters. Die Gattungsbegriffe, auf die sie dabei zurückgreift, sind nicht die der klassischen Dramenästhetik (Tragödie und Komödie), sondern solche der bürgerlichen Theaterkultur: Schauspiel und Drama. Dabei ist wohl die Leichtigkeit dem »Schauspiel« zugeordnet – wegen der Möglichkeit einer positiven Lösung des dramatischen Konfliktes –,22 der
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»Zerstreuung« zu, siehe: Anweisung zur Menschen- und Weltkenntniß. In: Friedrich Christian Starke [Hg.], Kants Menschenkunde. Nach handschriftlichen Vorlesungen, Leipzig 1831, Nachdr. Hildesheim, New York 1976, S. 65; zur Rezeption von Kants Stereotypen im Liebesbrief vgl. Inge Pohl, »Das schöne Geschlecht hat ebenso wohl Verstand als das Männliche, nur ist es ein schöner Verstand, der unsrige soll ein tiefer Verstand sein« – Immanuel Kants Schmeichelei im Spiegel alter und neuer Liebesbriefe. In: Jahrbuch Ostrava – Erfurt 2, 1996, S. 151–170). Noch Wilhelm von Humboldt vertritt in seinem Aufsatz »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues« von 1827–29 eine solche geschlechterspezifische Differenzierung der mündlichen und schriftlichen Stilebenen (vgl. Anton, Authentizität als Fiktion, S. 19–20). In den Briefstellern des 18. Jahrhunderts werden entsprechende Stereotype zwar nicht unbedingt statuiert, aber doch in den Beispielen performativ befolgt (indem nämlich in den Briefbeispielen von männlichen Schreibern auf philosophischen Tiefsinn abgehoben wird, wohingegen Beispiele von Frauen-Briefen wenn möglich die Heiterkeit bzw. »Innigkeit« des Gemüts belegen sollen, vgl. z.B. Johann Christoph Stockhausens Sammlung vermischter Briefe, S. 120–121 und Fulda, Hallischer Briefsteller, S. 98 und 103); diese Beobachtung spricht gegen die These Karin Hausens, derzufolge die Definition von »Geschlechtscharakteren« erst im ausgehenden 18. Jahrhundert an die Stelle von Zuschreibungen auf der Basis von Standesdefinitionen getreten sei (Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtercharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 367–393, hier S. 370). Zu den in Richters Brief zentralen theatralischen Inszenierungen der entsprechenden Stereotype sowie zu den Spielräumen ihrer (theatralischen) Unterwanderung im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. die Beiträge von Michael Niehaus (Voreilige Reden, zurückhaltende Worte. Familienkommunikation bei Iffland) und Martin Kagel (»Unglückliche Weiber haben wir heutiges Tages ohnehin genug«. Erziehung der Geschlechter in Marianne Ehrmanns ›Leichtsinn und gutes Herz‹) in: Das Unterhaltungsstück um 1800. Literaturhistorische Konfigurationen – Signaturen der Moderne, hg. von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter, Hannover 2007, S. 121–143 und S. 144–165). Zur charakteristischen und dramenhistorisch fruchtbaren Verschmelzung von Ernst und Komik vgl. auch die aufschlussreiche Studie von Roman Lach, Characters in Motion. Einbildungskraft und Identität in der empfindsamen Komödie der Spätaufklärung, Heidelberg 2004. Modell für das »Schauspiel«, wie es Caroline von Feuchtersleben vorgeschwebt haben mag, dürften Ifflands »Schauspiele« gewesen sein, die in Hildburghausen ebenso wie im gesamten deutschsprachigen Raum vielfach aufgeführt wurden, mit besonderem Erfolg in den 90er Jahren die »Schauspiele« Die Mündel (1783), Elise von Valberg (1792) und Friedrich von Oesterreich (1791) sowie das »ernsthafte Familiengemählde« Verbrechen aus Ehrsucht (vgl. Gerhard Steiner, Geschichte des Theaters zu Hildburghausen. Spezieller Beitrag zur Kulturgeschichte des thüringisch-fränkischen Raumes und der theatergeschichtlichen Beziehungen Coburg-Meiningen, Rodach bei Coburg 1990, S. 77– 78 und S. 82, zu den Stücken vgl. vgl. Ifflands Dramen. Ein Lexikon, hg. von Mark-
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Ernst hingegen dem »Drama«.23 Damit entkräftet sie ein mögliches Vorurteil: im Rahmen der sozialen Erwartungen, namentlich im bürgerlichen Verständnis, das sie bei ihrem Ansprechpartner voraussetzen muss, ließe sich ja ihr Sprechen im Register der Leichtigkeit und Unverbindlichkeit (das, was »man […] leichter vergisset«) als Sprechweise des Adels interpretieren. Sie bekennt sich also zum bürgerlichen Vorurteil, das ihrem Stand gilt, erhebt es aber zugleich in die ästhetische Sphäre, spricht es frei und macht es zu einem autonomen Sprechen. Die von Richter der Fußnote angefügte Coda »… und fuhr fort« ist zwar mit leichter Ironie gefärbt, im Haupttext aber folgt seine weitere Darstellung ganz treu dem bürgerlichen Szenario eines Familiengemäldes im Iffland-Stil, erkennbar daran, dass der Aufenthaltsmodus des Bürgers Richter ein standesfrei sitzender ist: »Sie lebt bei ihrer Mutter, Schwester und dem Bruder, und ich size meistens dort, wenn ich nicht am Hofe bin, welches ausser den Maalen häufig der Fal ist« (III 3, 193,25–27). In der epistolären Familienaufstellung nimmt Richter den vakanten Vaterstuhl ein. Dass er sich dabei vorschnell positioniert, wird erst der weitere Verlauf der Beziehung zeigen, in dem gerade die Vaterlosigkeit der Familie zur Belastung wird. Für Richter scheint der Sitzplatz in der Familie niederen Adels zunächst vor allem einen sozialen Rückhalt darzustellen bei der gleichzeitigen Anbahnung seines Verhältnisses zum hohen: er beginnt den nächsten Absatz mit dem Hinweis »Hier fängt es an, almählig wichtig zu werden« (III 3, 193,28), womit in verdächtiger Beiläufigkeit die Unwichtigkeit des Vorigen noch einmal herausgestellt werden soll, und fährt dann fort: Erstlich denke dir, male dir die himlische Herzogin mit schönen kindlichen Augen – das ganze Gesicht vol Liebe und Reiz und Jugend – mit einer Nachtigallen-Stimrize – und einem Mutterherz – dan denke dir die noch schönere Schwester, die Fürstin von Solms, und eben so gut – und die dritte Schwester, die Fürstin von Thurn und Taxis, welche beide mit mir an einem Tage und den gesunden frohen Kindern ankamen (Erlasse mir die Männer!) Mit der von Solms wolt’ ich in einem Kohlenbergwerk hausen, dürft’ ich ihren Galan vorstellen. […]24
Auch die hochadelige Frauengesellschaft – als abwesende vierte Schwester ist Königin Louise von Preußen hinzuzudenken – wird mit bürgerlichen Attributen ausgestattet. Im Zentrum der ›Güte‹ schlägt ein »Mutterherz« – aber auch mit einer literarisierten und erotisierten Phantasie befrachtet, die wiederum an das höfische Modell anschließt und es zugleich aufhebt: der Dichter als »Galan« im Kohlenbergwerk, wo die Nachtschwärze alle sozialen Unterschiede
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Georg Dehrmann und Alexander Košenina, Hannover 2009, S. 183–186, 56–61, 97– 100 und 234–239). Paradigma des als Gattungsbezeichnung zu dieser Zeit eher selten auftretenden »Dramas« sind entweder lyrische Dramen mit Musik oder Trauerspiele – auch in diesem Fall wäre vor allem wieder an die Iffland’schen sowie diejenigen Kotzebues zu denken. III 3, 193,28–194,5.
unsichtbar werden lässt, die in der Realität für Richter – im Verhältnis zum fürstlichen Stand – nun doch ganz und gar unüberwindlich sind. Die Beziehung zur fürstlichen Männerwelt, die zuvor in die Klammer verbannt und aus dem epistolären Diskurs ausgeschlossen worden ist, hat demgegenüber eine konkretere Basis: Der Herzog, (ein wenig borniert, aber gutmüthig) machte anfangs nicht viel FAIT von mir; aber jezt ist er mir recht gut, und er merkte an, daß ich mir zu wenig Spargel genommen und gab mir ausser diesem noch die ersten Hirschkolben zu essen, die nicht sonderlich sind.25
Zusammengeführt werden dann die weiblich-erotische und die männlichkulinarische Sphäre des Hofes sowie die erotisch und kulinarisch zugleich affizierte des bürgerlichen Dichters in einem Dreischritt. Die Kontexte, in denen sich diese Synthese vollzieht, sind Musik, Religion und Literatur: Gestern hab’ ich vor dem Hofe – phantasiert. Du erschrikst; aber ich habe seit 1 1/2 Jahren phantasiert vor Gleim, Weisse, Herder, vor der Herzogin Mutter PASSIMQUE. – Auch hier hab ich eine anständige Brüder- und Schwestergemeinde; und kan der Zinzendorf sein. – Nein, es wäre Undank, wenn ich nicht die Liebe meiner Deutschen für den reichsten Lohn meiner Federfechterei hielte.26
Im ersten Kontext, dem der Musik, ist der Klavierspieler Richter gemeint, ein berüchtigter Dilettant (daher der gedanklich vorausgesetzte Schrecken des Freundes), und er nimmt sich, indem er dennoch am Hof »phantasiert«, die Freiheit des Adelsdilettanten heraus, dessen Lizenz darin besteht, nicht als Künstler sondern als Regent zu musizieren.27 Richters klavierdilettantische Lizenz hingegen schreibt sich von jener Souveränität her, die erst unter dem Strich, im dritten Satz genannt wird;28 im zweiten Kontext, dem religiösen, setzt er zunächst auf den ›Anstand‹ als nivellierendes Prinzip: die zinzendorfischen »Brüder und Schwestern« sind sozial und – als ›Geschwister‹ – auch sexuell neutralisiert. Die Literatur aber verrichtet er in der hohen Schule der »Federfechterei« und sie richtet sich an alle Deutschen, die der Schriftsteller, abermals wie ein Regent, als die »seinen« anspricht. Von dieser Warte aus wird er dann auch wenig später ohne falsche Bescheidenheit den ersten Band seines Titan »Den vier schönen und edeln Schwestern auf dem Thron« zueignen, von denen er in diesen Hildburghauser Tagen drei kennenlernt. 25 26 27
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III 3, 194,9–13; vgl. auch die entsprechenden Passagen in einem Brief an Friedrich von Oertel, III 3, 211–214, Nr. 292, besonders S. 213,18–214,2. III 3, 194,13–18. Vgl. Kerstin Merkel, Fürstliche Dilettantinnen. In: Hofkultur und aufklärerische Reformen in Thüringen, die Bedeutung des Hofes im späten 18. Jahrhundert, hg. von Marcus Ventzke, Köln 2002, S. 34–51. Vgl. Julia Cloot, Geheime Texte. Jean Paul und die Musik, Berlin, New York 2001, S. 47–55, sowie ergänzend dazu: Jörg Paulus, »Gespräch zwischen den beiden Gesichtern des Janus«, S. 271–273.
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Im Gegenglanz zur Erotik des Hochadels scheint die Anziehungskraft der Caroline von Feuchtersleben in ihrer Sphäre eines ins Bürgerliche zurückfallenden Adels zunächst zu verblassen. Zwar taucht die Beziehung zu ihr in der Fortsetzung des Briefes an Otto vom Folgetag noch einmal auf, doch es bleibt unklar, wie weit die Anteilnahme des Schreibers an der Person, über die er schreibt, wirklich reicht: »Was hätt’ ich dir nicht über dieses originelle Wesen zu sagen […]«, so beginnt Richter noch in Hildburghausen, und fährt dann in Weimar fort: »Aber dazu – zumal bei ihren sonderbaren Verhältnissen zu mir – gehörte mehr Zeit und Lust als ich jezt habe […]« (III 3, 194,34– 195,3). Auch die Frage, wie sich diese »sonderbaren Verhältnisse[]« von ihrer, Carolines, Seite aus darstellen, ist für diesen Zeitpunkt unklar. Sehr deutlich aber äußert sich erneut – wenngleich retrospektiv – der Bruder: Er bat um einen Character – reiste ab und fieng nun den Briefwechsel wieder an. – Diese [gemeint ist Caroline von Feuchtersleben, Anm. J.P.] gab mir die Ersten seiner Briefe zu lesen, worauf ich sie bat, ihn die unschicklichen, freyen, vertrauten Ausdrücke darinnen zu verweisen, was ihr zwar ohnfehlbar ihr Selbstgefühl auch gesagt haben wird – aber sie unterdrückte es und fand nun Bewegungsgründe, die Sache nur noch geheimer zu verhandeln.29
Die Bitte um einen »Charakter« – Heinrich von Feuchtersleben verwendet das Wort hier im Sinne von Rang, Titel – unterstellt Richter eine strategische Absicht, die zumindest für diesen Zeitpunkt und in dieser unvermittelten Gestalt nicht nachweisbar ist. Er bezieht sich dabei – im Rückblick – auf die spätere Ernennung Richters zum Legationsrat, die vor allem auf Betreiben der Herzogin geschah. Die vom Bruder getadelte Wahl der Briefsprache, hinter der er offenbar die strategische Wahl einer Liebessprache* vermutet, hat ihr Gegenstück in Richters Reflexionen über die Briefsprache Caroline von Feuchterslebens: In einem nicht überlieferten Brief vom Juni 1799 scheint sie ihre Freundschaft zu Richter beteuert und abermals den ernsten Tonfall gewählt zu haben, letzteres wie schon in einem vorausgehenden Brief in Hinblick auf den Tod ihres Vaters.30 Richters Antwortbrief vom 17. Juni – als Abschrift mit der Überschrift »Carol. F. 17 Jun.« im Briefkopierbuch überliefert – scheint in einem fast theologischen Abwägen der Bereiche Schmerz und Freude, Glück und Unglück, Leichtigkeit und Ernst bestanden zu haben.31 Eine Antwort Carolines hierauf lässt sich nur vermuten, jedenfalls aber bleibt auch die nächste, erneut im Briefkopierbuch Richters nachweisbare Spur der Korrespondenz diesem Schema verhaftet, dem nun aber ein medizinischer Akzent hinzugefügt wird: »Irgend ein Felsstük, das das Geschik in den sanften Flus Ihres Lebens geworfen, giebt ihm diese Wellen, die Ihre Ge29 30 31
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Ilwolf, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 498. Vgl. IV 3.1, 385, EB 73 und S. 388, EB 81. Vgl. III 3, 204–205, und S. 462, Nr. 282.
sundheit wegspühlen« (III 3, 216,13–15, Nr. 295). Im Briefkopierbuch ist das entsprechende Bruchstück »F e u c h t e r s l e . 15 Jul.« überschrieben. Nach dem Eintrag zum ersten Brief an sie (»F e u c h t e r s l e b e n «) sind alle Formen ihres Namens Abkürzungen gewesen, wobei sich keine davon wiederholt hat: »C a r o l . v . F e u c h t e r s l e b . d . 1 5 A p r « , »Feuchtersleb. 11 Mai«, »Carol. Feucht. eod. [=18. Mai 1799]«, »Caroline Feuchtersleb. 3. Jun.«, »Carol. F. 17 Jun.« Im Anschluss an die Reihe dieser Briefe, bei deren Verzeichnung die Namensform permutiert wird, folgt nun im Briefkopierbuch unmittelbar die Abschrift eines Briefes, der den Ernstfall eintreten lässt. Verzeichnet ist er mit dem Vermerk »Dieselbe 29 Jul.« Das Liebesbekenntnis des Briefes enthält – der Abschrift zufolge – scheinbar keinerlei Bezug zu Fragen der Realität des sozialen Lebens. Jener Mangel, den Richter nach Ausweis der Briefe an Jacobi und andere Vertrauenspersonen zu dieser Zeit so dringlich spürt, das Bedürfnis nach institutioneller Begründung von Liebe in der Realität des sozialen Lebens, wird vollständig in Geistigkeit zweiseitiger Seelenliebe aufgelöst: Wenn ich eine Stunde bei Ihnen hätte, wie sie für uns gehört, eine Stunde, wo die Seele verklärt und zerfliessend sich der ähnlichen zeigt und öfnet, und wo einmal um uns nichts wäre als eine untergehende Sonne oder ein aufgehender Mond – als ich auf der Wartburg stand und über die aufgerolte Karte von Wäldern und Bergen hinsah und als ich mit der Menge durch einen herunterwachsenden Hain nach Hause gieng, worin die Abendsonne vergoldete Bäume und Zweige pflanzte und als mein Herz in Jugendkraft die Welt aufnahm: so drang doch ein Seufzer in die glükliche Brust und er fragte mich, warum bist du allein –32
So strikt wird der soziale Bezug restringiert, dass noch nicht einmal ein tritos anthropos, ein dritter Mensch, zugelassen wird. Die »Menge« der anderen Individuen tritt vielmehr als sprachlose Naturerscheinung auf; Vermittlungsinstanz zwischen den Liebenden ist kein Mensch, sondern ein Seufzer. Auch der zum Du übergehende Nachsatz zur Frage des Seufzers weist noch nicht eindeutig in Richtung Zukunft, Ehe und soziales Leben: »Neben dir hätt’ er mich nicht gefragt« (III 3, 216,27). Erst eine Korrektur in der Kopie des Briefes, die sich im darauf folgenden Satz findet, lässt sich als Festlegung des Bekenntnisses in Richtung sozialer Begründung lesen. Richter schreibt nämlich:
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III 3, 216,18–27, Nr. 296.
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Nein, wir müssen noch einmal in der grossen Natur neben einander stehen und ein ganzes Leben in 1 Minute verleben und dan mit abgewandten Augen scheiden und weinen. Gute Seele, weist denn [denn nachtr.] du, wie ich dich liebe33
Durch die Tilgung des »noch« wird aus der Erwartung der Wiederholung die Erwartung einer Singularität. Es ist denkbar, dass die ursprüngliche Formulierung »noch einmal« auch im Brief zunächst so stand, dass Richter also erst nachträglich die Korrektur im Schreiben an Caroline und in seiner Abschrift geändert hat. Jedenfalls erhält durch diese Variante der Übergang zu jenem »Du«, das der Seufzer dem Schreiber einflüstert, eine zusätzliche Qualität und Richtung. Die Einfügung des Wortes »denn« verstärkt noch die kommunikative Öffnung der Rede zum Du hin (so wie umgekehrt ein durchstrichenes »denn« in Charlotte von Kalbs erstem Brief an Richter die Exklusivität der Kommunikation verstärkt hat34). Für die Empfängerin deuten nun tatsächlich die epistolären Signale in die Zukunft. Unerkennbar für sie bleibt aber ein verborgener Vergangenheitsbezug, der sich im Schlusssatz ausspricht. Erneut ist es die gescheiterte Beziehung zu Emilie von Berlepsch, die hier in der »verklärten« Liebesrede laut wird. An sie hat Richter im Oktober 1797 geschrieben: »Sie wissen nicht, wie ich Sie liebe« (III 2, 377,36–37, Nr. 707) und damit eine weitläufige briefliche Diskussion ausgelöst.35 Nun, gegenüber Caroline von Feuchtersleben, macht er den Satz zum Fragesatz und richtet ihn an ein im Brief definiertes Du. Die Wiederholungsfigur* dient somit weniger der Intensivierung* als der Vorbeugung. Ein neuerliches Scheitern wie das, in dem die Verlobung mit Emilie von Berlepsch endete, soll verhindert werden, indem die möglichen Reaktionen der Angesprochenen bereits vorab berücksichtigt werden. Wie die epistoläre Reaktion Caroline von Feuchterslebens ausgefallen ist, ist jedoch nicht überliefert. Bis weit in den Herbst 1799 hinein sind Briefe von ihr, die die Konkretisierung des von Richter entworfenen Institutionalisierungsprozesses der Liebe begleiten, nur indirekt erschließbar. Der Prozess selbst bezieht nun aber sehr weitläufig die Realitäten des sozialen Lebens mit ein. Zunächst veranlasst die Herzogin, dass Richter nun tatsächlich einen »Charakter« erhält. Im August 1799 wird er durch den Herzog zum Legationsrat ernannt. Richter wird das Diplom in Weimar überreicht. In einem Brief an Christian Otto deutet er das Ereignis als glückliche Fügung des Schicksals, indem er es mit anderen Geschehnissen dieser Tage in Verbindung bringt: einer Geburt und einem Geburtstag im Hause Herder, der Absendung des Titan-Manuskripts nach Berlin, einem freundlichen Umspringen des Wetterglases. Die juristische Auslegung der Ernennung überträgt er nun dem Freund, um selbst den bestmöglichen Nutzen daraus ziehen zu können: 33 34 35
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III 3, 216,27–30. Vgl. S. 227. Vgl. S. 298.
Das Diplom verlangt, daß ich »von männiglich alle von diesem Karakter abhängende Prärogativen und Personalfreiheiten geniessen solle.« Ich kenne noch keine einzige von diesen Personallizenzen und habe noch wenig [aus nichts] davon genossen; mache mich damit bekant; damit ich darauf bestehe [aus bestehen kan].36
In welche Hinsicht Richters Auskunftsbegehren nach den ihm nun zustehenden »Personalfreiheiten« zielt, ist zunächst nicht ersichtlich. Dass er aber eine bestimmte Vorstellung mit den entsprechenden Freiheiten verbindet, wird durch die Korrektur deutlich, da aus »nichts« sonst nicht »wenig« werden könnte. Die zweite Korrektur markiert zudem die Entschlossenheit, von der Freiheit nicht nur potentiellen, sondern realen Gebrauch zu machen. Von der Möglichkeit, RECHTLICHE SCHRANKEN37 im Liebesverhältnis zu Caroline von Feuchtersleben nunmehr leichter überwinden zu können, ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht die Rede. Allenfalls die wiederholte Erwähnung Herders, der in der Folgezeit die moralische Mittlerperson* auf Richters Seite in der Auseinandersetzung mit der Familie von Feuchtersleben sein wird, deutet in diese Richtung. Herder, so schreibt Richter, habe »die meiste Freude« über die Ernennung gehabt (III 3, 228,13–15). Im Postskript des Briefes an Otto jedoch kommt Richter erneut auf die Ehrung zu sprechen. Die Wiederaufnahme des eigentlich – mit der Frage an Otto – schon abgehakten Themas verweist nun doch darauf, dass der Briefschreiber noch einen Klärungsbedarf sieht, der über die juristischen Implikationen hinausgeht. Er beginnt das wiederaufgenommene Raisonnement mit einer Wiederholungsfigur*: »Sieh wieder das sonderbare Schiksalsspiel«, so setzt er unter der Unterschrift »R.« noch einmal an; die erste Assoziation führt ihn dann zum soeben an den Verleger gesandten Roman: […] im TITAN macht’ ich mich zu einem Legaten und Hafenreffer ist wirkl[icher] Legazionsrath [und Hafenreffer bis Legazionsrath nachtr.]. Indes änder’ ich darum nichts. – Ich bekomme [aus ziehe] so ein Stük des bürgerlichen Lebens nach dem andern auf den Leib [den Leib nachtr.].38
Der Mittelsatz »Indes änder’ ich darum nichts« bildet eine Brücke von der Sphäre des Imaginären (des Romans) zur Sphäre des Realen (des sozialen Lebens); dass aber der Landungspunkt der Assoziation der soziale »Leib« des Briefschreibers ist, erweist sich – unter Berücksichtigung der Varianten – als ein Resultat des Schreibvorgangs. Auch dieser Leib aber befindet sich in einem sozialen Anpassungsprozess, und um diesen Anpassungsprozess am Leitfaden des Leibes zu würdigen, scheut Richter dem Freund und Rechtsberater gegenüber auch nicht vor der Peinlichkeit des körperbezogenen Geständnisses zurück: 36 37 38
III 3, 228,9–13, Nr. 310; Textgrundlage des Drucks: Originalhandschrift. Das Allgemeine Landrecht hatte bereits fünf Jahre zuvor das Recht auf freie Partnerwahl formuliert, vgl. hierzu Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 26–27. III 3, 228,23–26.
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Vorgestern lies ich mir Moralitätshosen (Unterhosen) anmessen, weil ich bisher nicht klug werden konte, warum gerade meine Hosen so verdamt indezent aussahen, ich mocht’ es karten wie ich wolte, – niemand kan für Segen -, bis ich den D. fragte, der ein Wort zu seiner Zeit fallen lies. Und eine Woche vorher, eh’ ich das Wort fallen hören, hatt’ ich mich heftig gegen diese enge eitle Einhülsung erklärt. So wird der Mensch erzogen und geplagt. ADDIO!39
Der Übergang zu den »Unterziehsachen«, die Richter sowohl eine Woche wie auch zwei Jahre zuvor noch abgelehnt hatte,40 betrifft nun zweifellos schon stärker das Ich in seiner Verlobungsentschlossenheit sowie mögliche SITTLICHE und MEDIZINISCHE VORBEHALTE. Am gleichen Tag – und mit gleicher Post – schreibt er an Friederike Otto, die gleichfalls vor ihrer Verlobung steht: »Der Legazionsrath ist jezt ein g e m a c h t e r Man und ein lustiger Dieb« (III 3, 228,36–229,1; Textgrundlage: eigenhändige Abschrift im Briefkopierbuch). Die Hervorhebung markiert den Doppelsinn: der Verlobte ist ein soziales Konstrukt, aber als solches hofft er gleichwohl, möglichen Einsprüchen hinsichtlich der LEGITIMATION DER BEZIEHUNG gerecht zu werden.41 Allerdings breitet sich zu dieser Zeit auch das Gerücht einer anderweitigen Verlobung Richters aus. Daher fühlt er sich genötigt, Caroline von Feuchtersleben zu beruhigen: »Das Gerücht«, so schreibt er am 20. September 1799 an sie, »hat mich oft mit Bändern beschenkt, denen Knoten und Schleifen fehlten. – Das ist die wahre Geschichte dieser falschen Geschichte« (III 3, 229,28–30, Nr. 314; Textgrundlage: eigenhändige Abschrift im Briefkopierbuch). Und an Friedrich von Oertel meldet er wenig später: In EISENACH sol ich mich mit einem schönen Mädgen verlobet haben, wie man mich algemein versichert; mir wil die Sage nicht ein, ich glaube eher, daß ichs mit einem
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III 3, 228,26–33. Vgl. III 2, 366,26, Nr. 685. In Hinblick auf rechtliche Schranken* bewegte sich Richter mit seinen Verlobungen beständig zwischen den Sphären; seine erste Verlobung mit Sophie Ellrodt fand vor der Eingliederung Frankens in den preußischen Staat statt; Rechtsgrundlage der Verlobung bildeten ältere, lokale Rechtskodifikationen; seine zweite Verlobung mit Emilie von Berlepsch sowie die dritte mit Caroline von Feuchtersleben fanden nach Inkrafttreten des Allgemeinen Preußischen Landrechts (1794) statt, jedoch jenseits der preußischen Grenzen; auch hier waren also noch landes- bzw. stadtspezifische Rechtsordnungen relevant, wie sie Richter in den 1790er Jahren aus Johann Andreas Hofmanns Handbuch des teutschen Eherechts nach den allgemeinen Grundzügen des teutschen Rechts sowohl, als der besondern Landes- Stadt- und Ortsrechte (Jena: Akademische Buchhandlung 1789) exzerpierte (vgl. Götz Müller, Jean Pauls Exzerpte, Würzburg 1988, S. 162). Erst die Verlobung mit Caroline Mayer im Jahr 1800 fiel dann in den Bereich der preußischen Rechtsordnung. Zur Wechselwirkung von Legitimationsfragen und Liebessemantik, namentlich der Idee einer Autonomie der Liebe, auf die man sich berufen kann vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 120–122.
edeln Wesen (einem Fräulein V. FEUCHTERSLEBEN) in HILDBURGHAUSEN thue, wohin ich wieder reise.42
Die hier angekündigte zweite Reise findet dann im Oktober 1799 statt. Zwei Tage vor Caroline von Feuchterslebens 25. Geburtstag findet am 10. Oktober in Hildburghausen die Verlobung statt.43 Auch dieses Ereignis stellt sich jedoch aus den jeweiligen zeitlichen und subjektiv-persönlichen Perspektiven sehr unterschiedlich dar. Der erste postierte Reflex findet sich in einem Brief Caroline von Feuchterslebens vom 14. Oktober an ihren Krakauer Bruder Ernst, wenige Tage später geht ein Brief Richters an Christian Otto ab. Caroline von Feuchtersleben stellt der Nachricht über die Verlobung zunächst die Mitteilung voran, dass sie auf eine weitere Anstellung am Hof verzichten wolle. Mit ihrer Mutter befinde sie sich in diesem Punkt nicht im Einklang, weil diese fürchte, die Tochter könnte dadurch »zu weit von der äußern Welt« entfernt werden. Dieser Befürchtung eines Rückzugs aus der Realität des sozialen Lebens begegnet Caroline nun aber mit dem Hinweis auf ihr »jetziges Verhältnis mit einem edeln Mann«, der ihr seine Liebe geschenkt habe und die ihrige verdiene. Genau wie Richter gegenüber Otto interpretiert auch sie die Verbindung dann als eine höhere Fügung: »Ich will den Zusammenhang dieses Bundes sagen und Du wirst wie ich den Weg der Vorsehung erkennen«, und fährt dann in einem neuen Absatz fort: Jean Paul Friedrich Richter ist nach der algemeinen Stimme einer der größten und was noch mehr ist, der edelsten Männer unserer Zeit und seine Schriften durchlaufen mit ungetheiltem Beifal halb Europa. Ich kante ihn nur aus seinen Schriften, aber um seine neuesten Werke zu erhalten, schrieb ich im letzten April im Namen der Herzogin und im eignen ihm nach Weimar; er antwortete sehr artig – ich schrieb noch einmal und er sagte mir, daß er bey seiner Reise hiher kommen und mich besuchen wolle. Als er kam, fand er bey jedem Menschen den Beyfal, den sein Kopf und sein Herz verdienen – ich wurde seine Freundin, aber er ging und zeigte mir in allen seinen Briefen seine Liebe. Vor 8 Tagen ist er wieder hier gewesen und bat mich um mein Herz und um meine Hand, das erste hat er, das zweyte wird ihm weder unser Oncle noch unsere gute Mutter versagen und das Ganze wird in Kurzem entschieden sein.44
In mehrfacher Hinsicht wird hier die äußere Realität umgeschrieben. Zunächst wird die Kontaktaufnahme um ein halbes Jahr vor-, der Verlobungstag hingegen zurückdatiert. Auch das allmähliche Entdecken der Liebe durch Schreiben* wird retuschiert und die Ideallinie eines kontinuierlichen Liebens »in allen seinen Briefen« behauptet. Als Einspruch- und Mitspracheberechtigte treten die Mutter und der Onkel auf. Richters Brief an Georg Christian Otto, worin zunächst in langen Passagen, die sich an literarische Schilderungen anlehnen, die Gestalt und der Cha42 43 44
III 3, 234,20–24, Nr. 321; Textgrundlage: Originalhandschrift. Dass die Verlobung am Wohnort der Frau stattfindet, folgt der Rechtsordnung im Rahmen der sozialen Realität, vgl. Krünitz, Art. Verlobung. Zitiert nach Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 497.
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rakter Carolines ausmalt werden, kommt vor allem im Briefteil vom 17. Oktober auf die Realien der Verbindung zu sprechen: 25 J[ahre] wurde sie am Sonnabend, wo ich abreiste. Auf ihren Muth, künftig durch alle adeliche Verhaue durchzudringen, kan ich bauen; die feine Mutter erräth gewis alles; und da sie schweigt, bejaht sie.45
Auf den ALTERSUNTERSCHIED46 von 11 Jahren kommt Richter dann aber wieder in einem Zusammenhang zu sprechen, der stärker von literarischen Denk- und Handlungsfiguren bestimmt und – durch die nachträgliche Einfügung und Einschränkung »vor ihr« – ins soziale Sonderverhältnis der Zweisamkeits verwiesen ist: Ich darf dir alles sagen und geben; du köntest der Lieben durch 3 Worte 3 Himmel geben. Durch die Konjektural Biographie wurdest du ihr am nächsten gebracht. – Ihre Farbe ist weis und blasroth, die Stirn poetisch und weiblich-rund, die Augenbrauen stark (zu sehr fast) die Augen schwarz, die Nase das Gegentheil einer kleinlichen und kurzen, die Lippen originel beschnitten, das Kin kräftig erhoben [erhoben nachtr.]; kurz alles deutet auf Bestimtheit; troz der Schönheit – Von den [Haaren] lege eine Probe bei [aus ein], s o m i r w i e d e r z u r ü k e r b i t t e . – Ich zeige vor ihr [vor ihr nachtr.] – Gott weis wie, wenns nicht das 35te Jahr tut – eine regierende Festigkeit, und geniesse die jezigen Stunden nicht auf Kosten künftiger Jahre. – Und so bekam mein Leben seinen Zirkel, seinen Zauberkreis.47
Die soziale Realität in Person ihrer Agenten, des Onkels und der Tante sowie des Bruders Heinrich, zerstört jedoch bald den Wunsch nach magischer Abrundung der vorehelichen Existenz zum »Zauberkreis«. Der bereits zitierte Brief Heinrich von Feuchterslebens vom 3. Dezember macht den Familienstandpunkt unmissverständlich deutlich: Würklich sprach er bald darauf schriftlich die Caroline um ihre Hand an, die es aber noch einige Zeit verschwiegen hielt, weil sie wohl wuste, was eine solche Entdeckung bey der Mutter für einen Sturm erregen werde – doch endlich wagte sie es – – und ich kam dazu – eine solche Scene hoffe ich nie wieder zu sehen! – – ich will und brauche Dir keine Schilderung davon zu machen, weil Du dich unserer guten Mutter wohl noch erinnern wirst.48
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III 3, 241,15–19, Nr. 329; Textgrundlage: Originalhandschrift. Vgl. Die Bedeutung von Altersdifferenzen spielt z.B. in der Liebesbriefbeziehung Dietrich Bonhoeffers und Maria von Wedemeyers eine besondere Rolle, vgl. Stock, »Polyphonie des ganzen Lebens«, bes. S. 153 (in Hinblick auf familiäre Mitspracherechte); vgl. ebd. auch den Beitrag von Barbara Potthast zur Beziehung von Therese von Bacheracht und Karl Gutzkow, in der der Altersunterschied vor allem mit traditionellen Rollenmustern konfligiert (Barbara Potthast, Liebe als Revolutionssurrogat – Zum Briefwechsel zwischen Therese von Bacheracht und Karl Gutzkow 1848/49. In: Der Liebesbrief, S. 107–128). III 3, 241,18–29. Zitiert nach Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 498.
Zur Begründung der familiären Ablehnung wird erneut der unwiederbringlich abwesende Vater angeführt: Sie [die Mutter, Anm. J.P.] misbilligt [den Verlobungsschritt] ganz – weil ihr schon das vom guten seel. Vater gelernte Sprichwort (je gelehrter, je verkehrter) einen Abscheu für alle Gelehrte besonders gegen Tochter-Männer giebt – und weil dieser Gelehrte sowohl in Hinsicht seines Geistes sowohl als seines Körpers ein wahrer Sonderling ist, der äuserst auffällt – der nicht wissen kann, wie lange er den Beyfall der Leser behält, wie lange er sich an einem Ort aufhalten darf, der blos Phantast und nicht instruirender Schriftsteller ist – der nicht nach seinem Ableben seiner Frau und Kindern hinlänglich Unterhalt hinterlaßen kann – und weil die Caroline vielleicht noch eine bessere Partie tun kan, oder Aussicht hat, am Hof zu kommen, der ihr schon 50 f. jährlich Pension giebt – sich also nicht, ohne sich zu verbessern, dem Hohngelächter schadenfroher Leute aussetzen nöthig hat, indem sie in solch eine seldne Mariage entrirt.49
Der Kanon der sozialen Vorbehalte wird somit festgeschrieben:50 Der Bruder erhebt – im Namen der Mutter – Einspruch aufgrund der ÖKONOMISCHEN BEDINGUNGEN des Bewerbers,51 der BERUFLICHEN UND RÄUMLICHEN GEGEBENHEITEN und der Disproportion im Verhältnis von Realem und Imaginärem*. Die familiäre Akzeptanz* wird ihm infolge des vorausgesetzten Mangels an sozialer Akzeptabilität* versagt. Allerdings muss Heinrich von Feuchtersleben einschränkend zugeben, dass die Mutter doch »mit Gewalt es nicht verhindern würde«, der »Herr Oncle« aber werde sich der Sache annehmen – »freilich langsam.«52
2. Verhältnis und Dynamik der Geschlechter / Rollenmuster In der Jean-Paul-Biographistik wird Caroline von Feuchtersleben die Tauglichkeit zur Ehefrau abgesprochen, weil sie gerade nicht den Blick für das »Reelle« gehabt habe.53 Ihr eigener Brief an den Krakauer Bruder vom März 1800 indes, worin sie der innerfamiliären Intrige des Bruders entgegenzuarbeiten versucht, zeigt ein anderes Bild: das einer Frau, die im gesellschaftlichen Leben und namentlich auch im Verhältnis und in der Dynamik der Geschlechter durchaus nicht alles dem Imaginären und dem zuvor berufenen Schicksal überlässt. Ausgangspunkt ihres Schreibens bildet ein nicht überlie49 50
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Ebd., S. 499. Zu den gesellschaftlichen und literarischen Stereotypen und zur satirischen Überzeichnung des Gelehrten, die im Zitat deutlich wird, vgl. Alexander Košenina, Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Göttingen 2003. Vgl. Bennholdt-Thomsen, Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs, S. 200–201. Ebd. So bereits bei Berend, Caroline von Feuchtersleben, S. 128, und noch bei Helmut Pfotenhauer, Rezension der Bände 3.1 und 3.2 der vierten Abteilung der HKA. In: JJPG 45, 2010, S. 197–206.
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ferter Antwortbrief des Krakauer Bruders an den Hildburghausener. Hierauf bezugnehmend, schreibt sie: Nur meine äußeren Verhältnisse konten mich zu einem so ungewöhnlich langen Stilschweigen verdammen; weil ich mir einmal vorgenommen hatte, Dir nur dan zu schreiben, wenn ich es e n t s c h i e d e n thun könnte. – Man ist mir indessen mit der Schilderung meiner Lage zuvorgekommen (obwohl sehr einseitig) wie ich aus Deinem Briefe an Heinrich ersah; und es bliebe mir eigentl. nichts übrig, als Dir zu sagen, daß ich verlobt bin.54
Gegen die familiären Vorbehalte benennt sie Zeugen aus dem Geistesleben: Daß ich Richtern liebe und lange schon von ihm geliebt werde, weist Du, daß er als Originalgenie nicht blos unsern, sondern a l l e n Zeiten bekannt ist – must Du meinem Worte glauben, weil ich Zeugen nicht nach Pohlen schicken, sondern blos nennen kann, z.B. Herder – Wieland – Schiller – Göthe – geben ihm das Zeugnis – und gestehen zugleich, daß sein Herz größer ist als sein Geist.55
Dass den älteren Bruder diese Argumente überzeugt haben, ist, wenn er die väterliche Devise »je gelehrter, je verkehrter« auch nur annähernd so verinnerlicht hat wie sein jüngerer Bruder, unwahrscheinlich – wobei allerdings einschränkend auch auf die ganz offenkundige hohe Ausbildung Caroline von Feuchtersleben hingewiesen werden muss, die, notwendigerweise vom Vater befördert, bereits in der für eine Briefschreiberin ihrer Zeit außergewöhnlichen Fehlerfreiheit ihrer Briefe deutlich wird. Sehr realistisch stellt sie nun aber die »äußeren Verhältnisse« Richters dar, die sie als »weniger reizend« als sein Herz und seinen Geist, dennoch aber »nicht zurückschreckend« beschreibt. Im Detail führt sie aus: Da Du mehr vom Buchhandel verstehst als meine hiesigen Verwandten, so wirst Du selbst am besten urtheilen können und ich brauche Dir also nur den Preis zu nennen, den man auf seine Schriften legt, um Dir zu beweisen, daß er nicht wenig erwirbt – er bekommt für j e d e n B o g e n 5 6 Louisd’or schwer Geld, was nach unserem ohngefähr 32 rth. beträgt und er schreibt bey der größten Muse wöchentl. 1 Bogen. – Kapital hat er jetzt nur 2100 rth, etwas mehr also als ich. R e c h n e n u n s e l b s t . Sein S t a n d und seine U n a b h ä n g i g k e i t machen ihn von allen Anforderungen des leeren, aber t h e u e r n Lebens f r e y – und wir können uns nach Wilkühr einschränken, ohnerachtet die Madam Richter r e i c h e r sein wird, als das Fräulein v o n F e u c h t e r s l e b e n . – Man wendet ein, daß er mir kein Wittum geben könne, dagegen hab ich das Versprechen des e d e l n wahrhaften Mannes, daß mir einst diese traurige Unterstützung von einer Summe zukomme, die er in 5 – 6 Jahren für die sämtl. Ausgabe seiner Werke erhalten wird und welche sich auf 12 – 16000 rth beläuft.56
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Zitiert nach Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 500. Ebd. Ebd.; vgl. auch den Kommentar in IV 3.2, S. 636, wo diese Passage zitiert und bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen wird, dass Richter später 35.000 Taler für die Gesamtausgabe seiner Werke erhielt. Neben diese ›Hoch‹-Rechnung wäre allerdings
Weiterhin beruft sich Caroline von Feuchtersleben auf die Billigung des sachsen-hildburghausischen Hofes und namentlich der Herzogin, womit sie das Argument der sozialen Inakzeptanz zu widerlegen versucht. Im Geschlechterverhältnis ist sie ebenso wie im gesellschaftlichen bereit, gegen traditionelle Rollenmuster im Rahmen von Umstellungen im Verhältnis und in der Dynamik der Geschlechter zu verstoßen,57 indem sie einerseits bekennt: »mein Entschluß stand fest, wie ein Mann« und andererseits schreibt: »[nur] der Onkel in Heldburg ist unversöhnlich, doch ich achte diese Kleinigkeit nicht.« Am heftigsten aber setzt sie sich gegen die Handlungen und Forderungen des Bruders Heinrich zur Wehr. Sie tut dies auf eine Weise, die alle ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten des epistolären Kleinkriegs ausnützt. Das Hauptargument dabei gründet sich auf berufliche Gegebenheiten* – ihre eigenen und die des Bruders: Die Einwilligung des Hofes zur Ehe mit Richter, die mit dem Ausscheiden aus dem Hofdienst verbunden ist, könne »w e n i g e r a l s j e ein Nebeninteresse haben […] da die neue Hofdame schon seit einem Jahr hier ist – da ich nach meiner langen Erfahrung und Überzeugung n i e an Hof kommen konnte da sie mit der jezigen Hofdame nicht ganz zufrieden sind (den Tadel gegen die neue Hofdame streiche ich aus, wegen Heinrich, der sie
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auch der reduzierte Voranschlag zu setzen, den Richter wenig später gegenüber dem Vater seiner nächsten Verlobten, Caroline Mayer ansetzt. Zur Formation von traditionellen und neuen Rollenmustern um 1800 vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 172–173, sowie, in stärker ideengeschichtlicher Perspektive, Heidemarie Bennent, Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur, Frankfurt/M., New York 1985; bei der Neuformierung von Rollenmustern spielt der von Luhmann vernachlässigte Brief als Medium eine entscheidende Rolle, eröffnet er doch Wege zu weiblicher Autorschaft, die ansonsten unwegsam blieben vgl. Reinhard M.G. Nickisch, Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der deutschen Aufklärung. In: Wolfenbütteler Studien zur deutschen Aufklärung 3, 1976, S. 29–65, vgl. auch Anton, Authentizität als Fiktion, S. 107–112 und Barbara Hahn, »Weiber verstehen alles à la lettre«. Briefkultur im beginnenden 19. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 2, S. 13–27) Vgl. demgegenüber Eva Lia Wyss, Sprache, Subjekt und Identität. Theorie und Praxis sprachlicher Identität am Beispiel von Liebesbriefen aus dem 20. Jahrhundert. In: Neuere Ergebnisse der empirischen Genderforschung, hg. von Tamara Faschingbauer, Hildesheim u.a. 2002, S. 177–206, insbes. S. 188–192 (»Sprache und Genderidentität« und »Kulturelle Genderpraxis im Liebesbrief« im 20. Jahrhundert) sowie Peter Blumenthal, Argumentation im französischen Liebesbrief. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur CIV/2, 1994, S. 114–138, insbes. S. 128–131 (Rollenmuster in Konfliktsituationen in französischen Briefstellern). Leider nur an entlegenem Ort publiziert ist die kluge Studie von Inge Pohl, »Das schöne Geschlecht hat ebenso wohl Verstand …«, die von einer geschlechtsunabhängigen Determination von Liebesbriefen ausgeht und dabei hervorhebt, dass eine »Generalisierung für ein ganzes Jh. oder gar hinsichtlich geschlechtsspezifischer Polarisierungen« den »immensen Determinationszusammenhang von Liebesbriefen außer Acht« lassen würde, die mithin nur »in ihrer konkret-historischen Individualität singulär zu beschreiben« seien (S. 154). Zum Wechselverhältnis von Rollenmustern und Liebeskorrespondenz im 19. Jahrhundert vgl. Potthast, Liebe als Revolutionssurrogat, S. 107–128.
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liebt) – und ich wöchentl. 2 – 3 mal hinein beordert werde.«58 Mit ihren Äußerungen und dem Hinweis auf die spätere Ehefrau Heinrich von Feuchterslebens, die Comtesse Kospoth,59 fordert sie implizit ein geschlechterunabhängiges und vom Standesdünkel freies Urteil über Liebesverhältnisse ein. Auch der Adressat des Briefes, Ernst von Feuchtersleben, lebt in einer Ehe, die (vielleicht strärker aus heutiger denn aus zeitgenössischer, an sozialer Schichtung orientierter Sicht) unkonventionell und mutig erscheinen mag: seit 1797 ist er mit Josepha Soliman verheiratet, der Tochter des aus dem afrikanischen Stamm der Kanori stammenden Wiener Freimaurers Angelo Soliman.60 Sie und den Sohn Eduard grüßt Caroline von Feuchtersleben am Ende des Briefes: »Ich umarme Dein Weib und küße Deinen Eduard! Bleibt mir gut und liebt die Legationsräthin, wie ihr bisher die Schwester liebtet – die Schwester bleibt Euch immer treu und Caroline ist immer dieselbe. Adieu!«61
3. Innere imd äußere Gefährdungen der Beziehung Wie wirkt sich nun aber die Erfahrung dieser Realitäten des sozialen Lebens auf den Briefverkehr der Verlobten selbst aus? Wird sie zu einer Inneren oder äusseren Gefährdung der Beziehung oder ist sie sogar verantwortlich für deren bald darauf eintretende KRISE und abruptes Ende?62 Der erste im Original überlieferte Brief Caroline von Feuchterslebens an Richter stammt vom 31. Januar 1800.63 Mit ihm teilt sie ihm die Zustimmung ihrer Mutter zum Lebensbündnis mit Richter mit – zuvor hat sie über einen relativ langen Zeitraum nahezu gänzlich geschwiegen, da sie, wie Richter Otto mitteilt, nachdem sie ihrer Mutter im Dezember das Geständnis des Verhältnisses gemacht hat, nicht früher zu schreiben gelobt hat, als die Familie über deren Zukunft entschieden hat.64 Die Liebe im Zeichen des Ehewunschbildes, das gegen die familiären Widerstände durchgesetzt werden soll, erfährt darin eine doppelte Bekräftigung: einerseits durch Hervorhebungssignale im Schriftsystem, andererseits durch eine Verflechtung mit dem literarischen
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Zitat und Variante nach Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 501. Siehe ebd., S. 501, Anm. 1. Vgl. Firla, Franz Joseph Gall, Angelo Soliman und die Afrikaner-Büsten, S. 323. Zitiert nach Ilwof, Jean Paul und Karoline von Feuchtersleben, S. 501. Zur briefstellerischen und brieflichen Behandlung von Krisensituationen vgl. Blumenthal, Argumentation im französischen Liebesbrief, S. 128, Mattenklott, Deutsche Briefe 1750–1850, S. 95 und 237. Ein Billet vom 17. November 1799 ist nur noch in einer Abschrift Berends überliefert. Vgl. III 3, 289,26–28, Nr. 393 und IV 2, 434, EB 105.
Diskurs*. Der Brief beginnt mit dem Satz: »Geliebter, ich bin dein!«65 und fährt danach ohne Zeilenumbruch fort: […] O nimm meine Sele auf, und liebe mich ewig wie ich dich! – Vor einigen Stunden kamen die theuern ersehnten [aus ersehnden] Briefe, die das Glük unsers ganzen Lebens bestimmen – Dank! Geliebter, tausend Dank, für deine Schonung, deine Liebe. – Tausend Dank den edlen theuren HERDERS für ihre reine Freundschaft – W o r t e hab’ ich heute nicht, – nur L i e b e – aber um auch deine Freude und dein Glük nicht um eine Stunde zu verspäten; so eil’ ich dir die Versichrung zu geben, daß meine Sele und mein ganzes Leben auch v o r d e r W e l t d e i n sind; daß ich nun g a n z d e i n e H e r m i n e bin.66
Das Schreiben endet mit einem Postskript, welches lautet: »Ich, bin gesund und das Glük, die Hofnung und die Freude, werden mich meine Gesundheit b e f e s t i g e n . Sey froh! beste Sele! Dein Hermine ist es auch« (H: BJK, Berlin A). Aus liebesbriefhistorischer Sicht nicht rechtfertigen lässt sich die als Lesart verzeichnete interpunktorische ›Begradigung‹ des Eingangssatzes zum Postskriptum: »Ich bin gesund […]« (IV 3.2, 163,9). Das Komma nach dem »Ich« nämlich trennt in Analogie zum Eingangssatz des ganzen Briefes das Individuum syntaktisch von seinen Lizenzen und Pflichten ab – zu Beginn das Individuum des Geliebten, dessen Zugehörigkeit zum eigenen Individuum dann durch die doppelte Unterstreichung umso energischer besiegelt wird, am Ende das eigene, das sich gegen den sozialen Anspruch auf Gesundheit befestigt (Gefährdungen der Beziehung: Krankheiten*). Beide Absätze, der erste und der letzte, finden ihre epistoläre conclusio im Reich des Imaginären, das nun jedoch für die Realität in Anspruch genommen wird: Hermine Rosinette ist der Name von »Jean Pauls« künftiger Ehefrau in der kurz zuvor veröffentlichten Konjektural-Biographie. Der Anfangsabsatz und das Postskriptum bilden also eine Art Rahmen. Zwischen diesem Rahmen befinden sich vier kurze Absätze. Zwei dieser Absätze behandeln Fragen der familiären Akzeptanz der Liebe, die zwei anderen sind der internen, exklusiven Proklamation dieser Liebe gewidmet. So ergibt sich eine für einen Liebesbrief außerordentlich klar gefügte, fast amtliche Struktur des Schreibens. Die vier Binnenabsätze lauten: Das J a wort unsrer Mutter wirst du, (wenn auch nicht von ihr selbst geschrieben doch i n i h r e n N a m e n ) von meinem ONCLE erhalten; was sich aber verspäten könte da ich die Briefe erst nach HELDBURG sende und die Antwort von da zurük erwarten muß. O mein geliebter Richter, wir werden sehr, sehr glüklich sein! Gott segne dich und mich! – Ich achte und liebe dich unsäglich und wil dich so glüklich machen, als ich es durch meine Liebe kan. –
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H: BJK, Berlin A; vgl. IV 3.2, 162,15, Nr. 311; die doppelte Unterstreichung ist dort gemäß den Editionsrichtlinien der HKA nur als Lesart verzeichnet. H: BJK, Berlin A; vgl. IV 3.2, 162,15–24.
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Den verspäteten Brief meines ONCLES solt’ ich dir heute schicken als eben deiner ankam, der ihn nun s c h o n b e a n t w o r t e t hat. Ich kan nicht schreiben! Bald sollst du viel viel von mir und meinen künftigen Hofnungen hören. Leb’ wohl und froh und glüklich ich liebe dich ewig!67
Das Gegenstück zur epistolären Disziplin der Briefschreiberin bildet eine Spur des Empfängers auf dem Originalbrief: Richter hat alle Briefe Caroline von Feuchterslebens, die sich auf die Verlobungsverhandlungen beziehen, durchnumeriert (der zitierte trägt die Nummer 9) und an den juristischen Berater und Vertrauensmann Christian Otto geschickt. Der Liebesbrief wird damit in die Akten der Liebe einsortiert, zu denen auch bereits – wie im schon zitierten Brief vom 17. Oktober dokumentiert – eine Haarprobe der Geliebten gehört. Auf diese Weise wird die Beilage*, die im Liebesbriefgespräch normalerweise auf einen Transfer von Körperlichkeit* zielt, zum Medium eines Transfers von umstrittenen Rechtsansprüchen. Ob Richters Antwortbrief und seine nachfolgenden Briefbeiträge zum ›Prozess‹ der Liebe ähnlich streng geformt gewesen sind wie dieser Brief Caroline von Feuchterslebens, muss aufgrund der Überlieferungssituation offen bleiben: Seine Briefe sind von Caroline von Feuchtersleben als formales Zeichen des zuletzt unwiderruflichen Misserfolgs* des gegenseitigen Werbens vernichtet worden. Die überlieferten Auszüge Richters im Briefkopierbuch vermitteln jedenfalls vor allem den Eindruck der literarischen Elaboration, sie fügen sich zusammen zu einer Privatanthologie des intimen Gefühlesausdrucks, schwerlich aber einer Anthologie eines problematischen Legitimationsprozesses der Liebe.68 Rechts- und gesellschaftsrelevanten Sachverhalte werden nur in beschränktem Umfang festgehalten, und auch dies stets in 67
68
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H: BJK, Berlin A, vgl. IV 3.2, 162,25–163,6; da in der HKA Unterstreichungen im Druck als Sperrung wiedergegeben werden, ist die Teilunterstreichung im »Jawort« kaum zu erkennen. Aus den Antwortbriefen Caroline von Feuchtersleben lässt sich erschließen, dass Richter durchaus Fragen, die die Realität des sozialen Lebens betreffen, thematisiert, doch ist den Anknüpfungen stets ein Moment der briefstellerischen Interpretation und Spekulation beigemischt; so schreibt sie zum Beispiel am 31. März 1800 an ihn sehr pragmatisch: »Du scheinst eine zarte Sorge zu haben um meine Zufriedenheit mit unsren ökonomischen Verhältnißen – O Geliebter, thue mir nicht weh mit den kleinsten Verdacht dieser Art. Beim Himmel! ich fragte u frage danach nicht, und die H ä l f t e deiner Einahme reicht für uns; nur fremde Selen könnten hierüber dich und mich quälen. – Sage mir alles wenn es d i r Freude macht. – Aber Guter, wär es nicht beßer wenn du solche Einladungen wie sie k l e i n e Buchhändler oder S c h r e i b e r an dich senden, ablehntest? Könnte man nicht deinen Namen herab sezen, indem man [man nachtr. üdZ] durch ihn kleinliche Schreibereien zu erheben sucht?« (H: BJK, Berlin A; vgl. IV 3.2, 247,1–10, Nr. 355); aus dem hiermit beantworteten Brief hat Richter freilich nur einen Satz exzerpiert: »Titan, worin mein Geist brausend auffliegt und in die Welt der Ideale blikt« (III 3, 309, Nr. 429) – und an dieser Welt der Ideale, nicht an der der Realien scheint sich sein Liebesbrief-Abschreibsystem im Briefkopierbuch orientiert zu haben.
rhetorisch figurierter Einkleidung. So heißt es zum Beispiel im ersten Brief nach der Verlobung: »Diese Verdoppelung des Herzens macht die Pflichten zu Freuden und die Freuden zu Pflichten« (III 3, 243,25–27, Nr. 332); worin aber konkret die gemeinsam zu tragenden Pflichten bestehen sollen, bleibt undokumentiert und wahrscheinlich auch unausgesprochen, denn es muss ja unausgesprochen bleiben, wenn denn das Gegengewicht auf der empfindsamen Waage der Herzen, die Freude, nicht zerredet werden soll. Dennoch lassen sich aus den Extrakten Richters im Briefkopierbuch, die oft nur aus wenigen Sätzen bestehen, zwei Themen erschließen, die im Zusammenhang mit den sozialen Rahmenbedingungen der Beziehung stehen, auch wenn sie zunächst nur unmittelbar auf die Person der Geliebten bezogen zu sein scheinen. Wichtig sind diese Themen auch insofern, als sich in ihnen Motive für die bis heute nicht geklärte Auflösung der Verlobung von Seiten Richters verbergen könnten. Zum einen finden sich weiterhin Sätze in den Briefabschriften, die sich auf den Kontrast zwischen der mündlichen und schriftlichen Liebessprache* beziehen. So heißt es zum Beispiel in einem Brief vom 5. März 1800 in Bezug auf die Verlobte: »So mus man sein, im Busen tiefer Ernst und aussen für dieses kleine Leben nur Scherz und Spiel und Wegflattern« (III 3, 298,25–27, Nr. 411). Die zwei Tage später mitgeteilte Beteuerung: »Wenn man sich einander nur liebt: so hat und sieht man wenig Fehler« (III 3, 302,31–32, Nr. 413) mutet demgegenüber wie eine gewaltsame Ausharmonisierung dieser Irritation an. Der zweite Punkt betrifft die Gesundheit der Verlobten, die Gefährdung der Beziehung durch KRANKHEITEN,69 auf die Richter gleichfalls wiederholt zu sprechen kommt, zum Beispiel am 10. März 1800: »Kränklichkeit verdoppelt die Wolken« (III 3, 304,18, Nr. 417). Er antwortet mit diesem Satz auf Ausführungen Caroline von Feuchterslebens in einem Brief vom 5. März 1800, die ihrerseits sehr eng mit Fragen der sozialen Realität verknüpft sind. Denn diesem Brief hat sie ein Schreiben ihres Onkels und Vormunds, des Landkammerrats Johann Friedrich Ernst von Feuchtersleben in Heldburg beigelegt, dessen für das Zustandekommen der Ehe notwendige Zustimmung zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht vorlag. In ihrem im Original überlieferten Brief schreibt Caroline von Feuchtersleben: Theuerster! Ich komme wieder zu deinem Herzen, zu dem einzigen das mich liebt! – Hier ist der Brief meines ONCLES; die Antwort des Bruders wird bald folgen, ich wolte aber doch mit mit dem einen nicht auf die andere warten. Wie könt’ ich deine lange erduldeten Qualen, noch verlängern! – Wie mein ONCLE d i r geschrieben hat, kan ich nicht errathen; mir hat er seine Einwilligung gegeben, aber – seine Liebe genommen. 69
Vgl. Birgit Wägebaur, Die Pathologie der Liebe. Literarische Weiblichkeitsentwürfe um 1800, Berlin 1996, die eine Koppelung von Weiblichkeit und Kränklichkeit als auffälliges Merkmal des Liebesdispositivs um 1800 beobachtet.
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Es sey! – Ich werde sie wenigstens zu v e r d i e n e n suchen. O mein Richter, ich habe nun in der weiten Welt nichts mehr als Dich und von allen Herzen keines als deines – fühle nur wie unbegränzt ich Dich liebe, wie ich unter Millionen Wesen mit dir allein stehe, und in dir meine Welt umfaße. Aber ich mußte erst sehr unglüklich werden, ehe ich glüklich sein darf. –70
Die nachträglich korrigierte Verdoppelung des Wortes »mit« dokumentiert unwillkürlich die doppelte Last der familiären Beglaubigung: nachdem die Mutter ihre Zustimmung gegeben hat, stehen immer noch die Einverständniserklärungen des Bruders und des Onkels/Vormunds aus. Das eingeschlossene Dokument an Richter ist gleichfalls – mitsamt Siegel – überliefert, doch ist sein Inhalt der Briefschreiberin verborgen – als sie ihn beilegt, ist der Brief versiegelt: die darin abgehandelten ökonomischen Fragen, sind nach Maßgabe der zu dieser Zeit gültigen traditionellen Rollenmuster* Männersache.71 Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass Caroline von Feuchtersleben in ihrem bereits zitierten Brief an den Bruder in Krakau ausführlich die ökonomischen Darlegungen Richters referiert und damit innerhalb der Familie ihren EMANZIPATIONSANSPRUCH formuliert.72 Gegenüber Richter allerdings nimmt sie sich entsprechende Mitspracherechte* nicht heraus: Die Währung, über die 70 71
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IV 3,2, 212,14–16, Nr. 332. Der der Briefschreiberin verborgene Inhalt des Briefes in sehr förmlicher Urkundengestalt lautet: WOHLGEBOHRNER und HOCHGELAHRTER; Insonders hochgeehrtester Herr LEGATIONSRath! Den Brief, auf den EWR. WOHLGEBOHRN mich bey meinen Herrn NEVEN gewiesen, bin ich auch nicht im Stande, ganz zu beurtheilen, weil meine Känntniße nicht sehr weit darüber hinnaus gehen, als was in das OECONOMICUM und CAMERALE einschlägt. Inzwischen haben Sie ohne dies schon, durch die erhaltene Mütterliche Einwilligung in die Vereheligung deren Fräulein Tochter CAROLINE mit IHNEN, die von mir SUB 1 T. ELAB. überflüßig nachgesuchte Zufriedenheit, indem diese allezeit dem Mütterlichen Ja Wortt anklebend gewesen; und will dahero nur wünschen, daß IHNEN der Vorsatz zu einen so reichlichen Erwerb, als Sie in den Brief an meinen Herrn NEVEN erwehnet, vollkommen gelingen – und beyde Verlobte dabey so glücklich werden mögen, als sich Ihre Vorstellung zeithero darüber geschmeichelt hat. Ich erbitte mir von IHNEN so sichere Freünd- als nächst eintrettende Anverwandtschafft, und habe die Ehre mit aller Hochachtung zu verbleiben EWR. WOHLGEBOHRN gehorsamster Diener J F E FEUCHTERSLEBEN. Der Emanzipationsanspruch wird damit freilich relativ eng gefasst, jedenfalls im Verhältnis zu anderen Briefschreiberinnen der Zeit, die in dieser Hinsicht sehr viel exponiertere Positionen beziehen, sei es in Hinblick auf die männlich dominierte literarische Umwelt oder auf einen urbanen Kontext, der zwar größeren Spielraum erlauben mochte, dafür aber auch mit einer größeren ›Fallhöhe‹ befrachtet war, vgl. Bürger, Leben Schreiben, sowie Stauf, »Wen ich nicht behandeln kann …«, vgl. auch zu Richters (eher hilflosem) Umgang mit dieser doppelten Herausforderung: Andrea Albrecht, Bildung und Ehe »genialer Weiber«. Jean Pauls »Diesjährige Nachlesung an die Dichtinnen« als Erwiderung auf Esther Gad und Rahel Levin Varnhagen. In: DVjs 80, 2006, S. 378–407.
sie mit ihm verhandelt, ist nicht die der sozialen Realität sondern die der Empfindsamkeit: Credit und Debit der Herzen. Die soziale Isolation, die Caroline von Feuchtersleben zur Grundlage der gegenseitigen Herzensfindung macht, wird dabei ausdrücklich auf die eigene familiäre Umgebung bezogen: Ach Geliebter, vergieb mir meinen Schmerz, ich solte jezt vielleicht keinen mehr haben, oder wenigstens zeigen; aber mein Herz wird auch zu sehr gedrükt. – Daß an meinen Kummer niemand theil nahm, war ich gewohnt; aber daß mit mir sich niemand freut, giebt mir neue Qual. Wenn mein Herz zuweilen es wagt in Freude laut zu werden, so dringt ein fremder kalter Blik, ein Seufzen, – wie ein schneidendes Meßer durch meine Sele, und die Wallung der Freude wird zu einen Schauer des Schmerzes. Glaube meiner traurigen Erfahrung: auch n i c h t e i n , e i n z i g e s Wesen um mich, nimt wahren Antheil an meinen Glük – ach Getreuer, solche Erfahrungen thun fürchterlich weh – im Schmerz kont’ ich sie ertragen, jezt kan ich es kaum. –73
Die briefstellerische Schlussfolgerung, die Caroline von Feuchtersleben aus der Darstellung sozialer Ausgrenzung zieht, bezieht sich nun aber auf den Körper, ihre Gesundheit: Meine Gesundheit wankt; der Arzt schüzt sie, und ich, selbst [selbst nachtr. üdZ] habe eine höhere Achtung für mich, seit ich ein fremdes Eigenthum bin; ich schone mich weil ich dich liebe [aus Liebe] und jeder Schmerz den ich d i r gebe ein zweifacher vor mich ist. Wenn ich dich nur erst wieder sehe; Du wirst mir neuen Muth geben, und meiner Sele Kraft. – Du hast wol Recht: ich bin z u weich. –74
Erneut fällt die Absonderung des »ich« durch Interpunktion auf, an dieser Stelle noch verstärkt durch die Einfügung des Wortes »selbst« über der Zeile. Einer möglichen Gefährdung der Liebesbeziehung* und des Ichs wird vorgebeugt, indem die Gesundheit in die voreheliche Ausgleichsrechnung eingebracht wird. Der Körper wird dem Verlobten gleichsam überschrieben, bei gleichzeitigem Zugeständnis des ›Zu-Weich-Seins‹. Diese Überschreibung wird im Schlussabsatz des Briefes noch einmal unterstrichen und der Sphäre des Willens und Entscheidens zugerechnet; dies geschieht freilich nicht ohne ein »aber«, doch sind die Emanzipationsansprüche, die das Einspruchswort nach sich zieht, zunächst auf die Sphäre der Wünsche beschränkt, einzig die letzten drei Wörter, die sich auf die soziale Nah-Umgebung beziehen, sind dann doch dezidiert: »Noch einmal, betheure ich dir, du treue sanfte Sele, daß dein Wille meiner sein wird; aber daß es auch nun mein höchster Wunsch ist, dich wieder zu sehen – doch nicht hier. –« (H: BJK, Berlin A). Der erste Satz aus Richters Antwort-Extrakt wurde schon zitiert: »Kränklichkeit verdoppelt die Wolken«; durch einen langen Bindestrich verbunden fügt er dann noch, zweifellos auf die Haltung der Feuchtersleben-Familie 73 74
IV 3,2, 212,27–213,5. IV 3.2, 213,6–12.
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bezogen, an: »Steine in die Blumenbeete der Liebe werfen« (III 3, 304,18–19, Nr. 417) und bleibt so seiner Strategie der Literarisierung und Allegorisierung sozialer Härten treu. Längere Zeit zögert er nun das anstehende weitere persönliche Treffen mit Caroline hinaus. Dass er es dennoch ernst meint mit der Verlobung, scheint die »Veröffentlichung« der sich anbahnenden Familienstandsänderung gegenüber der Freundin Elisa Feind in Leipzig zu belegen, worin freilich gleichfalls das literarische Werk den finalen Bezugspunkt bildet: Ich hab’ Ihnen noch nicht den Namen meiner Braut genant [genant nachtr.], mit der ich im Sommer meinen einsiedlerischen Stand und auch WEIMAR verlasse, wie wohl ich den künftigen Ort noch suche: sie ist ein Fräul. VON FEUCHTERSLEBEN aus HILDBURGHAUSEN. Sie belohnt mich für alle Lorbeerkränze, die ich Ihrem Geschlecht in meinen Werken auf den Kopf-puz gesezt.75
Die nachträgliche Einfügung des Wortes »genant« ist vermutlich primär dem Umstand geschuldet, dass der Satz durch die Reihung der Bezüge zu weitläufig gerät, so dass eine Schließung des Hauptsatzes zu einer stilistischen Uneleganz geführt hätte. Zugleich aber verweist auch hier die durch die Zusammenrückung von »Namen« und »genant« entstehende figura etymologica auf die Tendenz hin, das Liebesverhältnis rhetorisch zu figurieren.76 Immerhin schreibt Richter den Namen der Verlobten hier, anders als lange Zeit im Briefkopierbuch, aus, doch kommt er gleichwohl ganz ohne Abkürzung nicht aus, wenigstens für die Standesbezeichnung »Fräul.« Eine erneute Zuspitzung erfährt die soziale Auseinandersetzung wenig später, als, nach Klärung der ökonomischen und rechtlichen Vorbehalte plötzlich SITTLICHE VORBEHALTE77 gegen den Bräutigam geltend gemacht werden. In ihrem Brief an Richter vom 22. und 23. April 1800 macht sich Caroline von Feuchtersleben schwere Vorwürfe, ohne zunächst den Grund dafür zu nennen: »Mein Guter! Heute muss ich mich wieder anklagen; es geschieht mit schwerem Herzen; aber ich mus, denn ich habe gefehlt« (IV 3,2, 275,24–25, Nr. 369) Dann führt sie aus: Vor 6 Tagen wurde mein Glaube an Menschentugend- und Würde (– d. h. an dich – auf die härteste Probe gestelt, durch einen Brief des Onkels, der einer Sage zu folge dein sittliches Betragen, während deines lezten Hierseins, in Zweifel zog, und der unwürdigen Nachricht, den n o c h u n w ü r d i g e r n Auftrag anhieng: ich solle der Wahrheit der Sache nach forschen l a ß e n .– 78
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III 3, 320,1–6, Nr. 442, Textgrundlage: Originalhandschrift. Zur etymologischen Verwandtschaft von Name und nennen vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 1. Aufl. Berlin und Leipzig 1934, S. 409. Sittliche Vorbehalte im Rahmen von Liebesbriefbeziehungen und die Möglichkeiten ihrer Verarbeitung thematisiert – u.a. im Rückgriff auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse – Bennholdt-Thomsen in Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs (S. 202–205). IV 3,2, 275,28–276,1.
Die in der Textkonstitution der HKA vorgenommene Ergänzung der von Caroline von Feuchtersleben vergessenen schließenden Klammer verändert den liebesbriefspezifischen Duktus. Ganz offensichtlich vermag sie nicht oder nicht konsequent, das »Du« des Verlobten von der Sphäre des Gerüchts zu trennen. Die durch Unterstreichung hervorgehobene Zumutung besteht in der Einbeziehung von dritten oder weiteren Personen. Dem Verlobten selbst wird von ihr mit allem körperlichen und rhetorischen Nachdruck eine moralische Superiorität zugeschrieben, eine Exklusivität von der sozialen Realität, welche von der Familie als Normalität begriffen wird: Mich ärgerte diese Verleumdung, und noch mehr der (vielleicht wohlmeinende) doch n i e d r i g e Rath des Onkels, so sehr, daß ich mit zürnenden Herzen und zitternder Hand ihm in kurzen Worten sagte: »Ich bedaure, daß man sich so viele Mühe gäbe, ihn mit unangenehmen Unwahrheiten zu unterhalten; aber weiter machten solche Nachrichten keinen Eindruk auf mich.« Gegen die Mutter und Schwestern verteidigte ich deine Unschuld mit Überzeugung; aber sie lachten und nanten mich ein leichtgläubiges Kind, und wolten mir beweisen daß du von einem so gewöhnlichen Fehler der Männer keine Ausnahme machen würdest, und daß ich den Geliebten mir nicht als einen Engel träumen dürfe. – Dagegen empörte sich mein Herz mit aller Kraft, O Mann, d u m u s t b e ß e r sein als alle, sonst wärst du Richter nicht! –79
Dennoch, so gesteht Caroline von Feuchtersleben, habe sie unter dem Einfluss ihrer Familie begonnen, wenn nicht die Wahrscheinlichkeit, so doch die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass der Onkel recht gehabt haben könnte. Dies bringt sie zu ausführlichen Selbstanklagen, deren Weitschweifigkeit von ihr durch die Observanz der briefstellerischen Konvention gerechtfertigt wird: Sie hätte dem Verlobten, so schreibt Caroline von Feuchtertsleben in diesem Brief weiter, durch Übersendung des vormundschaftlichen Briefs viel kürzer, den »Weg« zeigen können, der sie »zum Fehlen« gezwungen habe, weil dieser aber »gegen die weibliche Delicatesse« verstoße, habe sie ihn vernichtet (vgl. IV 3,2, 275–277, Nr. 369). Richter antwortet (laut Briefkopierbuch) wiederum bildlich unverbindlich: »Lasse das Gerücht in seinen Sümpfen versiegen« (III 3, 326,14, Nr. 453).80 Noch ehe Richter am 28. August diese Beschwichtigung schreibt und postiert, hat Caroline von Feuchtersleben bereits am 27. April einen weiteren Brief an ihn begonnen, der auf einen vorhergehenden Brief Richters (vom 22. April) Bezug nimmt; nach vier Absätzen lässt sie den Brief liegen und fährt fort, nachdem sie Richters Schreiben vom 28. erhalten hat: »Geliebter, Unschuldi79 80
IV 3.2, 276,2–14. Zu Funktionen und Medien des Gerüchts im Geflecht der die Liebe durchkreuzenden »Signalpost« vgl. Hans-Joachim Neubauer, Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 2009 (zuerst 1998), S. 59–73 (zur Zeit Ovids und Vergils) u.ö., sowie Augart, Eine romantische Liebe in Briefen, S. 71–72; zur Poetisierung des amourösen und nichtamourösen Gerüchts bei Jean Paul vgl. Jörg Paulus, Gerüchteküche und Geistergesprächswerkstatt.
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ger und Verkanter! O wie bist du so gros!« (IV 3.2, 287,26) – so allgemein dies auch ist, so wird doch eine wechselseitige sprachliche Beeinflussung* nicht zugelassen: Caroline von Feuchtersleben bleibt konkret und unterdrückt jede Ausweichbewegung ins Bildlich-Literarische. Noch einmal und ausführlicher kommt sie dann auf die »Verläumdung« zu sprechen, als sie wenig später die Nachricht Richters erhält, wann und wo das lange geplante und oft verschobene Treffen stattfinden soll: das »Gerücht« soll aus der Welt sein, ehe man sich sieht. Und mit einer Entschiedenheit, die im Widerspruch zur wiederholten Selbst-Attribution der »Weichheit« steht, dekretiert Caroline von Feuchtersleben: »Nun ist alles berichtigt.[aus berichtigt,]« – erneut wird die Interpunktion zum Werkzeug der sozialen Stellungnahme: nach dem Komma hätte der Satz fast zwangsläufig auf das Verhältnis von »Ich« und »Du« Bezug nehmen müssen, beziehungsweise auf das »Wir«, das dann, unterstrichen, nach dem Punkt aufs Papier gebracht wird. Die Korrektur des VerläumdungsDiskurses soll aber gerade nicht im intimen Raum von Ich und Du statthaben, sondern im sozial offenen des unpersönlichen Konstatierens: »Nun ist alles berichtigt«. Punktum. Was sich unmittelbar anschließt, findet also in einer durch ihr ›Dekret‹ geklärten Atmosphäre statt: »W i r k o m m e n – w i r s e h e n u n s «; die zeitliche Konkretisierung wird in eine Fußnote verbannt: »F r e i t a g s N a c h m i t t a g s « (H: BJK, Berlin A). Der hier anvisierte Freitag, der 2. Mai 1800, wird nun freilich zum schwarzen Freitag der Beziehung. Caroline wird von ihrer Halbschwester Caroline von Beck begleitet, Richters Sekundanten sind die Eheleute Herder. Das soziale Schema, das die Beziehung durchkreuzt, bleibt damit gewahrt. Über den Verlauf der Begegnung, die zur Auflösung der Verlobung führt, sind wir ausführlich aber doch auch einseitig durch einen Bericht Richters an Otto informiert. An ihn schreibt er am 3. Juli 1800: Ich habe nur den Kummer über ein Ganzes, nie (wenigstens nicht 24 Stunden) über einen Theil. Ich war nicht lange unter der Wolke. Lauter moralische kleine Ecken/Unähnlichkeiten, die aber das ganze Glük der Ehe nehmen (die der BERLEPSCH) trieben mich anfangs in ILMENAU in mein altes troziges Fieber. In einem alten [alten nachtr.] Brief an dich gab ich dir den Fingerzeig dieser Zukunft. Ein gewisses Absprechen, Unnachgiebigkeit etc. [Unnachgiebigkeit etc. nachtr.] und eine parziale Liebe gegen die nicht zugleich die kosmopolitische mit da [aus die nicht sofort die kosmopolitisch] ist, erduld’ ich schwer. HERDER und Sie [aus sie] beteten C. an; die BEK hatte von der bis dahin mir ganz [aus ewig mir] abspänstigen Mutter den Auftrag alles dem HERDERSCHEN Ausspruch zu übergeben. In diesen Auftrag fiel mein liebendes Zürnen, dem die HERDER die wahnsinnigste Ausdehnung gab, durch den Auftrag ratifiziert. Am dritten [aus zweiten] Tage hielt mir HERDER eine (leere, unrechtmässige aber) liebende Predigt vor C., mit Bescheidenheit, aber leider mit der Beredsamkeit seiner rührenden Stimme die die ihn ohnehin anbetende C. in hysterische Krämpfe stürzte, – aber er rieth und fragte, und entschied nicht (wenigstens nicht vor mir) – die HERDER hingegen zankte sich, während C. in Zuckungen lag, mit mir mit Furienaugen. Ich w a r ihr Freund. Ich wurde auch wild, aber nicht zu wild. Später nahm man zurük. Mein erster Brief (nach diesen räuberischen Griffen zwi-
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schen 2 entblöste Herzen) an C. stelte ihrem Entscheiden alles heim, legte ihr aber das Nein am nächsten; mein zweiter (nach ihrer Antwort aus HILDBURGHAUSEN, die hier folgt) sagte das Nein. Hier ist ihre aus WÜRZBURG. – HERDER schrieb mir auf C. Veranlassung [auf C. Veranlassung nachtr.] nach BERLIN f ü r C. und für die Verbindung; wenn ich den Brief habe, antwort’ ich der C. auf ihren lezten aus HILDBURGHAUSEN wieder das stillere lezte [lezte nachtr.] Nein [als Fußnote: Er liegt bei: ich habe das Nein fortgeschikt].81
Auch in der Trennung analysiert Richter die Dynamik der Beziehung als ein sozial weitgehend abgeschlossenes System. Außer den jeweiligen standesgemäßen Sekundanten, gibt es zwei Bezüge: den auf die Ehe »der Berlepsch«, die als Personifikation der Wiederholungsgefahr über der Begegnung schwebt, sowie den auf die Delegation der mütterlichen feuchterslebenschen Verantwortung an die Herders, deren Entscheidung, auch wenn sie eine bürgerliche ist, ratifiziert werden soll. Dieser die soziale Konstellation durchkreuzende mütterliche Auftrag aber ist es gerade, der die zerstörerische Dynamik der Situation steigert: die »wahnsinnigste Ausdehnung« des Verlobten-Zornes ist auch eine Folge des Transfers einer adelsstolzen Verantwortung an eine Bürgerliche, Caroline Herder,82 während umgekehrt die unverändert bürgerliche »Bescheidenheit« und pastorale »Beredsamkeit« Johann Gottfried Herders die Verlobte »in hysterische Krämpfe« stürzt. Das Resultat dieser Standesverwirrung aber wird erneut dem sozialen Dispositiv entzogen und stattdessen literarisch gerahmt: die »entblösten Herzen« sind »räuberischen Griffen« ausgesetzt, deren Zugriff jedoch weniger aus der Wirklichkeit heraus als vielmehr aus der räuberromantischen Populärkultur der Zeit erfolgt.83 All dies schreibt Richter aus Berlin, wo er wenig später eine neue Verlobungsgeschichte beginnen wird, die ein glücklicheres Ende nimmt. In der Öffnung der geschlossenen Liebesakten kehrt er dabei ganz zu den Praktiken der ›Simultanliebe‹ zurück. Der Freund Emanuel, so weist er Otto an, dürfe »CAROLINENS Briefe alle lesen« (III 3, 350,34), während diese den simultanen Übergang von der »parzialen« Liebe zur allgemeinen ja gerade verweigert hat.84 Richters Absagebrief an Caroline von Feuchtersleben ist so, wie er überliefert ist, dann aber doch aus Weimar postiert und auf den 8. Juli datiert. Dem Briefkopierbuch zufolge nimmt er darin erneut die musikalische Analogie auf, die bereits den Liebesdiskurs mit Emilie von Berlepsch dominiert 81 82 83 84
III 3, 348,13–349,2 und Z. 34, Nr. 482; Textgrundlage: Originalhandschrift. Die Adelung Johann Gottfried Herders erfolgt erst 1801 durch den bayerischen Kurfürsten Maximilian IV. Joseph. Vgl. Holger Dainat, Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland, Tübingen 1996. Am 1. April 1800 schreibt sie zum Beispiel: »Doch eine Bitte hab’ ich an meinen Richter: Guter, zeige mir keine Briefe mehr von deinen ü b r i g e n Freundinnen – JOSEPHINES [gemeint ist Josephine von Sydow, Anm. J.P.] Briefe ausgenommen. Liebe sie alle, schreibe an alle, sey ein warmer Freund aller guten weiblichen Selen, aber – s a g e mir n i c h t s mehr davon« (H: BJK, Berlin A; vgl. IV 3.2, 248,14–18, Nr. 355).
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(und in mancherlei Hinsicht unterminiert) hat: »Wir sind gleichförmig im höhern Streben, wir spielen die selbe höhere Melodie, aber jedes trägt sie in einer andern Tonart d.i. Individualität vor und dadurch wird das Aehnlichste das Unähnlichste; die Sekunde ist der gröste Miston« (III 3, 350,25–28, Nr. 483). Die daran anschließende Passage ist im Briefkopierbuch durchstrichen. Sie lautet: Die heftigsten Gefühle springen am leichtesten in ihr Gegentheil um und die höchste Liebe verwundet sich tödlich am kleinsten Unterschied. O es hilft nichts, daß der Mensch zu sich sagt, ich wil mich ändern. Er sezt sichs im Enthusiasmus der Liebe vor, aber die Aenderung würde er gerade im aufgehobnen Enthusiasmus zu machen haben und also nicht machen können.85
Die Durchstreichung gehört jedoch nur scheinbar dem Regime von Liebe und Trennung an. Wie Berend nachweist, handelt es sich vielmehr um ein Verwertungssignal: Die entsprechende Passage findet sich wieder im dritten Band des Titan (15. Jobelperiode, 67. Zykel) und lautet dort nahezu identisch.86 Die Akten der Liebe wandern auf diese Weise nach und nach in Manuskripte und Bücherregale. Für Caroline von Feuchtersleben wird die Enttäuschung, an der sie sehr viel schwerer trägt als er, zum Anlass, die traditionellen und neuen Rollenmuster* zu überdenken. Nach einer längeren Pause, für die nur ein verschollener Brief nachweisbar ist,87 schreibt sie am 14. September 1800 aus Seidingstadt an Richter und nimmt nun ihrerseits den Vergleich mit Emilie von Berlepsch, der Vorgänger-Verlobten, auf: »Die arme BER[LEPSCH] und ich, irren beide in einer Wüste, thöricht suchend, was [danach unleserlich durchstrichenes Wort] nie zu finden ist« (BJK, Berlin A; vgl. IV 3.2, 385,3–4, Nr. 424). In dieser Literarisierung der Lebenssituation kommt es also nach der Trennung dann doch zu einer wechselseitigen sprachlichen Beeinflussung* auf ihrer Seite, die aber zugleich dazu führt, dass auch Bezirke der briefstellerischen Undurchdringlichkeit entstehen wie die unlesbar gemachte Passage. Dem Geliebten gegenüber galt noch das Gebot der briefstellerischen Transparenz. Neben diese sprachliche Beeinflussung – und in Konkurrenz bzw. Kompensation dazu – tritt aber der Einfluss der Lektüre von Briefen und Schriften der hier erwähnten Emilie von Berlepsch, die im Mai 1800 an Caroline von Feuchtersleben geschrieben hat, und dabei betont, ihrer beider Seelen träfen »in einem Punct« zusammen, nämlich »in der Bewunderung und Anhänglichkeit für
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III 3, 350,29–351,1. Vgl. I 9, 23,18–23 und Anmerkung. Vgl. IV 3,2, 440–441, EB 127; Johann Gottfried Herder, durch dessen Hände der Brief geht, schließt aus der Wahl der Liebessprache* bzw. richtiger: der Trennungssprache, nämlich die französische Adressierung des Schreibens, auf die »Faßung« von Carolines Seele« (HB 8, 149,5–6, Nr. 139).
einen dritten Menschen«.88 In Frau von Berlepschs Schriften aber findet sie jene Position weiblicher Selbstvergewisserung, zu der ihre Briefe an Richter sich nun durchringen: Der Mann regirt die Zügel seines [aus des] Geschiks, und wenn sie reißen oder gerißen werden: [aus werden,] so hat er Kraft und Macht sie wieder zu knüpfen. Das arme, ohnmächtige Weib, k a n , d a r f dis nicht – Geht [aus Ist] des Mannes Pfad durch eine Wüste: – er hat doch f r e i e Wahl, o f f e n e Wege vor sich – unser G a r t e n l e b e n ist mit Mauern umschränkt wie unsre Wege, unsre Blike in die Welt. Nur von o b e n leuchtet die Sonne auf uns herab [aus hernieder], und wir s e h e n nichts als: Liebe und Tod – das eine erhalten wir selten, das andere – spät.89
Mit gleicher Post verlangt sie von Richter ihre Briefe zurück und fordert ihn auf, ein Datum für den Rückerhalt seiner eigenen zu nennen. Die entsprechende Passage ist über die rechtlich abgesicherte Forderung hinaus90 mit Schreibsignalen der Unnachgiebigkeit ausgestattet – jenem Charakterzug, den ihr Richter zum Vorwurf gemacht hat: Nun noch eine Bitte, Lieber, g e g e n deren Erfüllung ich k e i n e n Grund annehme. Senden Sie mir alle meine Briefe, e h e ’ S i e n a c h B E R L I N gehen und bestimmen Sie selbst die Zeit der R ü k g a b e – früh oder spät, ich halte Wort – [unleserl. Durchstreichung]. Und – I h r e A D D R E S S E n a c h B E R L I N !91
Nach dieser distanzierten und dezidierten Passage freilich geht sie wieder zum »Du« über, lässt seine Freunde grüßen und gesteht, dass sie sich von einem von Richter erhaltenen »schönen Tuche« dann doch noch nicht trennen könne. So bleiben auch in den Rechtsakten der Liebesauflösung Reste des Unauflöslichen bestehen, und dies gilt auch für Richters nachfolgenden Rechtsbruch, der darin besteht, ihr dann doch nicht, wie gefordert, alle ihre Briefe zurückzugeben, sondern ein Auswahl zurückzuhalten und vor der Vernichtung zu bewahren. Auch die Dokumente jener Beziehung, die sich bald nach der Trennung von Caroline von Feuchtersleben anbahnt, derjenigen zur späteren Ehefrau Caroline Mayer in Berlin, haben sich im Autographenbestand der ehemaligen 88 89 90
91
Der Brief ist wiedergegeben im Anhang zu Band IV 3.2 der HKA, S. 408–409, Anhang Nr. 3, die zitierte Stelle S. 408,9–12. BJK, Berlin A; vgl. IV 3.2, 385,24–32. Rechtlich gesehen befindet sich der postierte Brief in Besitz des Empfängers bzw. der Empfängerin (vgl. Siegert, Relais, S. 100 mit Hinweis auf Wolf Reichardt, Das Recht an Briefen, Diss. Leipzig 1905, S. 13); allerdings betrachteten die Verfasserinnen bzw. Verfasser die von ihnen geschriebenen Briefe zu dieser Zeit dennoch lange Zeit als Eigentum, was ihnen erlaubte, die Dokumente zurückzufordern (vgl. Wolfgang Bunzel, Schreib-/Leseszene. In: Der Brief – Ereignis & Objekt, S. 237–247, hier S. 244, mit Hinweis auf Hans-Peter Benöhr, Der Brief: Korrespondenz, menschlich und rechtlich gesehen. Ciceros Briefe an Atticus und die Rechte an Briefen in Rom. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 115, 1998, S. 115–149, hier S. 115). BHK, Berlin A; vgl. IV 3.2, 386,35–387,2.
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Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin in Krakau erhalten. Die Edition dieser Briefe geht ihrerseits einher mit der Erschließung komplexer sozialer und ökonomischer Zusammenhänge des Berlins um 1800, in das insbesondere der Vater der Braut, der Geheime Obertribunalsrat Johann Siegfried Wilhelm Mayer (1747–1819), einbezogen ist.92 Für Richter jedenfalls ist die Stadt der Ort, an dem das System der Simultanliebe kulminiert, wie er gegenüber Christian Otto im Zuge einer geographisch-moralischen Deduktion seines Lebenslaufs herausstellt: »bei Gott! ich bin physisch kalt und moralisch heis zugleich gegen Freundinnen wie in HOF gegen Mädgen«; der Ausweitung seines Ruhms entspricht ein erweiterter Radius der Simultanliebe: »Ich bekomme sie jezt nach der Apostel-Zahl in jeder Stadt; so in Gotha und überal. In BERLIN, bei der grössern (aber nicht unmoralischen) Freiheit küsten sogar Mädgen zuerst«.93 Leopoldine Friederike C a r o l i n e Mayer (*7.6.1777 in Berlin, gest. 28.1.1860 in Bayreuth) ist das zweite von insgesamt 3 Kindern (Schwestern) aus Mayers erster, 1774 oder 1775 geschlossener und 1782 geschiedener Ehe mit Caroline Germershausen (1753–1801); sie wird am 27. Mai 1801 Richters Ehefrau. Wie Caroline von Feuchtersleben hat auch sie vor der Verbindung mit Richter eine Reihe von eher unglücklichen Liebesbeziehungen gehabt. Mit einem Vetter, einem »guten einfachen Menschen« ist sie, wie sie in ihrem ersten Brief an Richter schreibt, noch verlobt.94 Sie scheint mit diesem Brief selbst die Initiative ergriffen zu haben, nachträglich hat sie zwischen Datum und Briefbeginn die Bemerkung eingefügt: »Der erste Brief, nach 2 Tagen unsrer Bekantschaft«.95 Dass sie in diesem Bekenntnisbrief ihr erstes zurückliegendes Liebesverhältnis in einer, wie sie selbst schreibt, fast romanhaften Art niederschreibt,96 hat nun freilich auch mit einer Offenlegung von Rechtsverhältnissen und -ansprüchen zu tun. Denn die Enttäuschung über die un92
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Die Erforschung dieser vieldimensionalen Zusammenhänge bildet einen zentralen Baustein der editorischen Erschließung der Jean-Paul-Korrespondenz um 1800; die Einleitung zu Band 4 der Briefe an Jean Paul verweist auf die wichtigsten Akteure, die diese Arbeiten initiiert und vorangetrieben haben, namentlich Dorothea Böck und Monika Meier, vgl. IV 4, S. XIII–XIV. III 3, 378,13–18, Nr. 523. Vgl. IV 3.2, 326,3, Nr. 392 und die dazugehörige Erläuterung, S. 733. IV 2, 322,17, Nr. 392; der Grund, der den Bandbearbeiter dazu bewogen hat, den Satz dem edierten Text zuzuschlagen, dürfte in seiner Bedeutung für die integrale Betrachtung des Liebesverhältnisses und im darin vermerkten Konventionsbruch liegen. Liebesgenealogisch gehört er freilich einer ganz anderen Schicht an; in dieser Hinsicht stört er, obgleich Teil des »Objekts« Brief, das »Ereignis«, das ihn begründet. Dies führt zu einer Art orthographischer Kompilation: im Brief selbst fügt sich Caroline Mayer noch nicht der »Höfer Orthographie« (wie in »Bekantschaft«), sondern folgt der Mehrheits-Konvention, wenn sie zum Beispiel »Erkenntnis« schreibt (IV 3.2, 323,10–11). Vgl. IV 3.2, 324,17.
glückliche Liebe wird zum Grund für die Einwilligung in die Verlobung mit dem erwähnten Vetter: […] ein guter einfacher Mensch fand in meinen Besiz den Kreis seiner Wünsche geschloßen – ich wankte, allein der Gedanke, daß die engen Verkettungen des häuslichen Lebens das Weib wahrhaft groß und gut machen, und daß durch einen Umweg über ein fremdes Herz [Herz nachtr. üdZ] es doch glücklich zu werden, möglich wäre hieß mich meinen irdischen Lebensweg unterschreiben.97
Die nachträgliche Einfügung des Wortes »Herz« ist eine Geste der Radikalaufrichtigkeit, der emotionalen Ökonomie in einem strikten Sinn; mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine Sofortkorrektur, durch die der Einsatz des eigenen Herzens syntaktisch vermieden wird, den eine vorläufige Auslassung des Wortes an dieser Stelle gefordert hätte (da ja die Phrase »ein fremdes« ohne Ergänzung durch das Nomen notwendig im nachfolgenden Verweis auf das eigene Herz ihre Auflösung finden müsste). Das »eigene Herz« wird also nicht angesprochen und auf diese Weise, lange vor der offiziellen Auflösung der Verlobung, bereits freigestellt. Kontrasigniert wird dies durch den Schlussabsatz des Briefes, der die Sigle »Herz« nun der Beziehung zu Richter zuschlägt und das »Unterschreiben« des Verlöbnisses durch eine doppelte Unterschrift konterkariert: Ich soll Sie nicht, großer Mensch, nennen, und doch sprech ich so in meinem Herzen – jene Verehrung die Sie mir einflößen, erhebt sich über alles was ich je vom seeligen Verein der Geister geträumt und ersehnt habe. in Ihrer Gegenwart ist meiner Seele so wohl, so heiter u die Menschheit steht gereinigt vor mir. — Caroline Maier C.98
Die Siglierung des Vornamens zum »C« ist nicht mehr und nicht weniger als die chiffrierte Aufhebung jener zuvor erwähnten Unterschrift unter den »irdischen Lebensweg« mit dem Vetter – eine Aufhebung, die dann im Oktober 1800 offen in Briefen zwischen den Liebenden verhandelt wird.99 Sie ist zu97 98 99
IV 3.2, 326,3–9; Textgrundlage: Originalhandschrift. IV 3.2, 326,10–16 (dort steht Z. 10 irrtümlich »nennn«). Vgl. Caroline Mayers Brief an Richter von Ende Oktober 1800 (IV 4, Nr. 16, vgl. den unzuverlässigen und unvollständigen Druck in: Denkwürdigkeiten 2, 273) sowie Richters Antwortbrief vom 30. Oktober 1800 (III 4, 13–14, Nr. 15). Richter beruft sich in dieser Antwort gleichermaßen auf Ansprüche des Rechts und des Gewissens: »e i n s e i t i g e Liebe ertheilt keine Rechte; wie schlimm wäre sonst jede schöne Gestalt daran [wie bis daran nachtr. üdZ]!« (III 4, 13,21–22); und: »Dies alles sagt Ihnen blos kalt mein Gewissen, das Sie fragten und das allein hier die Stimme haben durfte« (III 4, 14,15– 16). Mit der Exklusivitätsformel »allein« bezieht er sich zurück auf das Ende des vorausgehenden Abschnitts, wo er eine nachträglich durch Briefausschneidung ›zensierte‹ Kette von Argumenten gegen die Eheschließung der Geliebten in die Konklusion münden lässt: »[…] dazu der Wille des Vaters – die Hindernisse der bürgerlichen Verhältnisse, die nicht blos Sie allein [allein nachtr. üdZ] verwunden, alles ruft Sie von einem Altare weg, wo Sie Ihr Herz und Ihr Glük einer Gottheit opfern, die keine für Sie
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gleich die endgültige Überschreibung der anderen Caroline in Hildburghausen. In Bezug auf diese schreibt Richter wenige Tage, nachdem er Caroline Mayers Brief empfangen hat, aus Berlin an Gleim in Halberstadt: Allerdings heirath’ ich jenes Fräulein nicht, das die HERDERS viel zu partheiisch malen; nicht ihr Stand, sondern moralische Unähnlichkeiten scheiden uns. Aber die Ehe ist meinem Glük und meinem Gewissen unentbehrlich. Ausser der Ehe verstrikt man sich durch die Phantasie in so viele Verbindungen mit Weibern, die immer eine oder gar zwei Seelen auf einmal beklemmen und unglüklich machen. Mein Herz wil die häusliche Stille meiner Eltern, die nur die Ehe giebt. Es wil keine Heroine – denn ich bin kein Heros -, sondern nur ein liebendes sorgendes Mädgen; denn ich kenne jezt die Dornen an jenen Pracht- und Fackeldisteln, die man genialische Weiber nent. Ein Wesen wie Ihre Niece war, ist mein Wunsch. – Ohne Ehe, treib’ ich mich auf Kosten meiner Gesundheit in Städten und Zirkeln herum, wo ich zuviel spreche und trinke. 100
In der Abwägung des VERHÄLTNISSES VON REALEM UND IMAGINÄREM101 spricht sich Richter für eine Präponderanz des ersten Prinzips aus, freilich nicht ohne dies erneut an ein Wunschbild zu knüpfen, das zum Adressaten Gleim in einem analogen Verwandtschaftsverhältnis steht wie der Neffe zu Caroline Mayer. Und erneut wird in diesem qui pro quo der Verwandtschaftsund Liebesverhältnisse das »Herz« als einzig solide Währung des Willens anerkannt. Auch wenn es sich dabei um eine Metapher handelt, so steht sie doch in einem Umrechnungsverhältnis zu den Realien des Lebens und dessen Ökonomie. Wie bereits erwähnt, veranschlagt Richter in seinem Brief an Johann Siegfried Mayer vom 15. März 1801 den erwarteten Gewinn aus seinen für die Zukunft geplanten »opera omnia« auf 10.000 Reichstaler und setzt ihn damit um 2000 Reichstaler geringer an als gegenüber der Verwandtschaft Caroline von Feuchterslebens.102 Die Reduktion entspricht einem neuen Realismus der Ehe-Erwartungen. Die durch den Siebenkäs – immerhin einem wichtigen Stück der geplanten zukünftigen Gesamtausgabe – zu literarischer Bekanntheit gelangte »Witwenkasse« (ihre Prämie fällt durch den inszenierten Scheintod des Romanhelden dessen Ehefrau zu) kann daher gleichfalls in Erwägung gezogen werden. Mittelsperson dieser Erwägungen aber ist eine Frau, die für Richters ›neuen Realismus‹, der sich in der Zeit zwischen der Auflösung der FeuchterslebenVerlobung und der Verlobung mit Caroline Mayer entwickelt, von eigenstän-
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ist.« (III 4, 14,11–14). Damit sind das Herz der Geliebten und das Gewissen des Liebenden frei, auf sich »allein«, gestellt. III 3, 342,10–22, Nr. 477; Textgrundlage: Originalhandschrift. Vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 62–70 (über den Prozess der Ablösung der Idealfigur der Liebe durch die Figur des Aufschubs und die Entstehung einer paradoxen Figuration der Liebeskommunikation) und S. 94 (über den Korrosionsprozess dieser Figuration), sowie S. 115 (über den produktiven Beitrag des Imaginären und Illusionären im Kommunikationssystem Liebe); Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 263–272 und ff. Vgl. III 4, 55,3–24.
diger Bedeutung ist: die Gräfin Henriette von Schlabrendorff. Versteht man Intensivierung* als eine Figuration körperlichen Begehrens, dann müsste man sie wohl in den kryptischen Andeutungen der Kopien von Briefen an sie in Richters Briefbüchern verorten, worin die Währung des Herzens eine andere Gestalt hat: »Blüten magst du sonst genug ans Herz gestekt haben, aber waren nicht zuweilen einige von Giftbäumen gepflükt [aus gepflanzt]?«.103 Die Metaphernvariante schreibt der Korrespondentin eine bewusste Verführungsstrategie* zu, die in den gleichzeitigen und nachfolgenden epistolären Äußerungen gegenüber der Verlobten vollkommen fehlen. Intensivierung besteht dort vielmehr in dem, was das Gegenteil von Intensivierung zu sein scheint, in der Formalisierung eines Liebens nach Normen (d.h. insbesondere: nach Briefstellern). In kurzen Billets, die um Vertrauen werben, und schließlich im offiziellen Heiratsantragsschreiben, das unter der Adresse »Des Geheimen Obertribunals Rath MAYER Hochwohlgeb.« an den künftigen Schwiegervater gerichtet wird – eine altertümliche Adressierung, die implizit und in neuerer (etwa durch den Briefsteller von Moritz für gültig erklärter) Lesart zwei Adressaten enthält: die des Rats Mayer und die seiner Institution, des Geheimen Obertribunals. Demgegenüber erscheint der Bewerber als so etwas wie ein König ohne Land, denn sein Ehrentitel »Legationsrath« hat ihm ja nicht zugleich eine Gesandtschaft vermacht. Er bleibt also in Ehesachen sein eigener Gesandter, woraus sich die Demutsformel gegenüber dem erwünschten Schwiegervater herleitet. Der Antrag lautet einer Kopie von Hand der Braut sowie dem Druck zufolge: BERLIN d. 9 Nov. 1800. Alles, was dieser Brief von Ihnen bittet, haben meine Handlungen schon schweigend ausgesprochen. Die doppelte Achtung, die ich für Sie und Ihre CAROLINE habe, und die, welche jeder für sich tragen mus, erlaubte jenen keinen Doppelsin und das kindliche Herz enthülte sich dem väterlichen, dem es soviel verdankt, vielleicht früher oder eben so früh als dem fremden, das seinen Himmel von beiden nimt. Meine Neigung ist keine schnel auf- und eben so schnel vorüberflatternde – sie war vor einem halben Jahre lebendig in meiner Seele, aber ich muste meine Freiheit so lange bewahren, als ich einer fremden nicht gewis war – mein Auge ist jezt kein romantisches – Jahre und Verhältnisse mit Weibern von den genialischen an bis zu den prosaischen haben mich über den höhern weiblichen [im Druck: Werth] belehrt – und mein Urtheil über dieses zugleich so feste und so weiche, so reine, so zarte, so liebende Wesen kan sich vom väterlichen nur durch die kürzere Erfahrung unterscheiden.
103
III 3, 379,17–19, Nr. 524 vom 18.9.1800. Die ins Briefmedium übertragene Intensität des Begehrens und dessen Grenzen werden am deutlichsten in einem Brief an Christian Otto, in dem Richter eine Annäherungs-Situation beim vertraulichen »Bewohnen« des »Kanpee[s]« mit der Gräfin Schlabrendorff schildert (III 3, 375–379, Nr. 523 vom 11.–18.9.1800): »Ich hatte eine ½ Himmelskugel unter meiner halben Hauptkugel« (III 3, 377,29–20); der Schlussteil dieses Briefes an Otto ist auf den selben Tag datiert wie der zitierte an Henriette von Schlabrendorff.
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Jezt im Augenblicke meiner grösten Bitte sind alle andern Dinge zu klein, um von Ihnen oder mir berührt zu werden. Ich trete jezt zu dem Manne, für welchen die Achtung und Liebe, die ich schon ohne dieses Verhältnis fühlen würde, durch dieses so kindlich steigt, weil seine zugleich weiblich-zarte und mänlich-philosophische Einwirkung die Wurzeln dieser holden Sonnenblume fester machte; zu diesem guten Vater der guten Tochter trete ich und sage meine kurze und wichtigste Bitte: sei der Meinige [im Druck: meinige], Sie wird glüklich wie ich! – J. P. Fr. Richter104
Um dieses datierte Schreiben an den Schwiegervater gruppieren sich zahlreiche kurze Billets der Liebenden. In ihnen bestätigt sich Philippe Brenots und Conrad Wiedemanns unabhängig voneinander vertretene Hyypothese, dass gerade die Zeitlosigkeit, die sich im Verzicht auf Datierungen erkennen lässt, auf eine Ur-Form des Liebesbriefes verweise.105 Eine »Ur-Form«, die allerdings, so wäre zu ergänzen, im Rahmen der epistolaren Begleitbiographien des bürgerlichen Lebens zumeist Episode bleiben muss. Dieser episodische Charakter ist in der Edition der Briefe an Jean Paul auch statistisch nachvollziehbar: während in Band 4 der Briefe an Jean Paul insgesamt 60 Briefe oder Billette Caroline Mayers an Richter enthalten sind, wovon 57 auf die Initialbzw. Brautzeit zwischen Herbst 1800 und Mai 1801, hingegen nur drei auf die nachfolgende Zeit bis Sommer 1804 fallen, enthält der fünfte Band, der die ersten Jahre des Familienlebens im von da an festen Wohnsitz Bayreuth umfasst, keinen einzigen Brief der Ehefrau und Mutter der gemeinsamen Kinder. In den Briefen an die Freundinnen und Freunden in der fränkischen Heimat sowie denjenigen an die vormaligen Geliebten wird Caroline Mayer nach Auskunft der überlieferten Korrespondenzen zunächst nicht erwähnt. Und doch werden Caroline Mayer und ihre Schwestern Ernestine und Wilhelmine ins Netzwerk der epistolären Anspielungen eingeschrieben, allerdings nur gegenüber der Mittlerperson Hans Georg von Ahlefeldt; an diesen schreibt Richter im Juni 1800 aus Weimar, wohin er nach seinem ersten Berlinaufenthalt zwischenzeitlich zurückgekehrt ist: »Du hast mir tausend Dinge […] von dem melodischen AIR À T R O I S NOTES (so nenn’ ich die drei Herzensschwestern, die du zu grüssen hast) […] zu melden« (III 3,361,10–15, Nr. 501). Das in seiner amourösen Belegung umkämpfte Lied Rousseaus wird also abermals mit einem neuen Liebesbezug belegt. Dieser Bezug wird freilich legitimiert durch die Vorbildung der Töchter des Obertribunalsrates, welcher sie, wie Richter später, nach der Verlobung, an Christian Otto schreibt, mit der Lektüre von »Rousseau etc.« erzogen habe (III 4, 28,31, Nr. 48). Caroline Mayer ist damit in den vorgängigen Diskurs der Liebe eingebunden und kann doch zugleich von diesem ausgenommen werden. Richter geht denn auch zunächst sparsam um mit epistolären Gesten der Übersteigerung; am 6. Ok104 105
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III 4, 17, Nr. 23. Vgl. Brenot, De la lettre d’amour, S. 33–36; Conrad Wiedemann, Die Liebesbriefe Friedrich Wilhelms II. von Preußen an Wilhelmine Enke, S. 67–73.
tober 1800, drei Tage nach seiner zweiten Ankunft in Berlin und zu Beginn des etwas mehr als halbjährigen Aufenthaltes, der nunmehr mit Blick auf den Ehebund alles entscheiden soll, schreibt er an Caroline Mayer: Recht liebe Freundin! Mit Freuden eilt’ ich hieher, und überal find’ ich neue; heute Abend um 5 Uhr find’ ich grosse; d e n n i c h k o m m e z u I h n e n . Ich sehne mich in die Stube, wo ich so viele schöne Herzen fand. Grüssen Sie voraus Ihre zwei vortreflichen Schwestern und Ihren H. Vater. AHLEFELDT komt wahrscheinlich mit oder nach.106
Die Familienaufstellung ist deutlich von jener unterschieden, in deren Zeichen er bei der Familie Feuchtersleben eingetreten war; Richter »sitzt« nicht wie dort auf dem väterlichen Vacat-Platz in einem von der Mutter-TochterGeschwister-Konstellation bestimmten Haushalt, er kommt vielmehr in ein offenes Haus, zu dem er sich autonom positionieren muss. Die Grußformel unter dem Schreiben »ADIO CARA!« grundiert diese Konstellierung dann mit einer durch Sprachwechsel* markierten Modulation: die romanische Tonart des Rousseau-Liedes verdrängt die prosaische Sprache des Kommens und Gehens, der familiären Realität. Die Mittlerperson* Ahlefeldt, der in ein uneindeutiges Verhältnis zur Schwester Ernestine gerät, spielt nur in den ersten Briefen noch eine tragende Rolle als soziales Alibi. Gesellschaftliche Unterschiede werden dabei weitgehend ausgeblendet; dort, wo die äußeren Umstände eine Berücksichtigung sozialer Differenzen nahelegen, wird die soziale Platzierung verschleiert und durch die persönliche Beziehung aufgehoben, zum Beispiel anlässlich eines Opernbesuchs: »Heute möcht ich außer TAMERLAN die beiden Freunde sehen. Nur sehen darf ich sagen, denn wir steigen in die Höhe, weil man uns tiefer unten nicht PLACIREN kan NO 19 im 2ten Rang« (IV 4, 23,21–23, Nr. 12). Als Etappe im Vollzug der epistolären Annäherung greift Richter auch auf die Bekenntnisformel zurück, die im Briefwechsel mit Emilie von Berlepsch so umstritten war: »Sie wissen nicht, wie ich Ihr Herz […] achte und liebe«, so erweitert er das Bekenntnis, das er zudem noch auf die Herzen der »herlichen Schwestern« ausdehnt.107 Ein langer Brief Caroline Mayers von Ende Oktober wirft dann die Frage noch einmal auf, ob sie sich aus ihrer bereits bestehenden ANDEREN LIEBESBEZIEHUNG lösen dürfe. Der soziale Vorbehalt wird in diesem Brief dem Vater zugewiesen: »mein guter Vater sah weiter hinaus auf die Schwierigkeiten, die seine bürgerlichen Verhältniße unserer Verbindung entgegenstellten« (IV 4, 28,14–16, Nr. 16), die Entscheidung aber wird Richter anheimgestellt, dessen bürgerlicher Name hier wie schon zuvor in anderen Korrespondenzen wörtlich genommen wird: »Sie sind es an den ich Appelire. Einziger Mensch bestimmen Sie über mich – sprechen Sie mein Urtheil« (IV 4, 28,25–26). Der 106 107
III 4, 1, Nr. 2. III 4, 7,19-20, Nr. 9.
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Urteilsspruch Richters steht gleich zu Beginn des Antwortbriefes, wird jedoch als ein Urteil des Gewissens deklariert, die Rechtssphäre hingegen dem Vater als dem primär Mitspracheberechtigten* zugewiesen: Schöne Seele! So unpartheiisch und kalt, als hätt’ ich Sie nie gesehen, wil ich Ihnen die Antwort meines Gewissens geben. Sie ist: Sie dürfen sich trennen und Ihr H. Vater hat Recht.108
Dem folgt eine abwägende Begründung des Urteils, das nun allerdings ex negativo die Sphäre des Rechts streift: einseitige Liebe, so Richter, erteile keine Rechte; dieses Urteil wird jedoch zunächst pragmatisch begründet: »wie schlim wäre sonst jede schöne Gestalt daran!« (III 4, 13,19–20), nur in einer Fußnote beruft sich Richter auf die grundsätzliche Überlegung »Denn sie an sich ist kein Verdienst sondern ein Genuss; ausser durch Thaten und Opfer« (III 4, 13,34–35. Auf die in Carolines Brief erwähnte Problematik der bürgerlichen Verhältnisse geht Richter dann erst am Ende seines Briefes ein: »die Hindernisse der bürgerlichen Verhältnisse, die nicht blos Sie allein verwunden, alles ruft Sie von einem Altare weg, wo Sie Ihr Herz und Ihr Glük einer Gotheit opfern, die keine für Sie ist« (III 4, 14,11–14). Den Eingangssatz spiegelnd, endet Richter mit einer abschließenden Anrede an die Seele – war es dort die »schöne«, so ist es zuletzt die »gute« (III 4, 14,16–17). Caroline Mayers Brief vom 4. November schreibt diese Seelen-Kasuistik fort: »Ach immer ist es mir so unbegreiflich wie Deine hohe Seele sich zu mir neigen kann« (IV 4, 35,6–7, Nr. 21), sie fordert zugleich Richter auf: »aber ziehe den andern Menschen die dich lieben nichts ab – sey ihnen was du ihnen warst« (III 4, 35,11–12). Richter erfüllt diesen Wunsch im epistolaren Kontext mit etwas Verzögerung. Vorerst bleibt es beim internen Abgleich der Gefühlsdimensionen; Caroline Mayer appelliert am 4. November erneut an die Hand(schrift) des Geliebten: »Wenn Du mich heute noch liebst wie gestern, so gieb dem kleinen Briefträger ein Wort von Deiner Hand, für die arme Caroline, die Dich heute nicht sehn kann damit ich wieder glaube« (IV 4, 35,3–5, Nr. 21). Am 6. November bedankt sie sich dafür, dass Richter sie beruhigt habe, in den folgenden Tagen vor dem 9. November 1800 lässt sich vor allem auf ihrer Seite eine Verdichtung des epistolären Äußerungsbedürfnisses erkennen, das sich nun dazu gedrängt sieht, die Entscheidung zu thematisieren: »Du foderst von mir Vertrauen, und meines ist grenzenlos – darum vergieb mir, wenn ich dich bitte – entweder den Vater bald zu sprechen, oder ihm zu schreiben« (IV 4, 40,26–29, Nr. 25); sie fürchtet freilich, so schreibt sie am Abend, Richter verstimmt zu haben, bekennt aber in aller Deutlichkeit: »ich habe endlich in Dir gefunden – was als Ideal mir vorschwebte« (IV 4, 41,23–24, Nr. 26), überlegt am Folgetag, dem 8. November, in der Fortsetzung des Briefes, ob sie alles, was sie am Vortag sich »zu sagen 108
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III 4, 13,7–9, Nr. 15 vom 30.10.1800.
erlaubte« (IV 4, 42,20–21), wieder auslöschen solle, und bringt erneut die Person des Vaters ins Spiel (eingeleitet mit der Formel »[j]etzt will ich Dir etwas schweres sagen für mich« (IV 4, 43,14 und Z. 35): »Er hat mir jezt geradehin gesagt, daß er als Vater mein Herz der Gefahr einer Täuschung nicht ausstellen könnte« (IV 4, 43,20–21). Am Folgetag hält Richter dann »im Briefe« an den Obertribunalrat Mayer um Caroline Mayers Hand an, wobei er die Jahre der Simultanliebe zu einer Art Propädeutik des Ehelebens umdeutet: »Meine Neigung ist keine schnel auf- und eben so schnel vorüberflatternde […] Jahre und Verhältnisse mit Weibern von den genialischen an bis zu den prosaischen haben mich über den höhern weiblichen [Werth] belehrt« (III 4, 17,8–14, Nr. 23), die Umworbene schreibt an diesem Tag an Richter einen an langen Brief, der in seinem zweiten Teil gleichsam über der Unentschiedenheit der Situation schwebt: »Dein Brief liegt vor mir unerbrochen denn der Vater ist noch nicht zu Haus. ich möchte hinter die papierne Wand bliken, um zu wißen was du schreibst«; genau diese Situation erlaubt noch einmal ein Innehalten: Das Unenthüllte deßen Enthüllung doch so nahe ist, giebt mir immer ein sonderbares Gefühl – wie wird dir in einer Stunde zu Muthe seyn – da das Räthsel aufgelöst ist denk ich – und ich betrachte mich selbst als drittes Wesen – und beschaue mein innres Spiel.109
Richter schreibt an sie am Folgetag: Theuerste Karoline! Nach einer 3tägigen Unsichtbarkeit sehnet man sich nach dem fremden Auge. Aber ich kan heute nicht zu Ihnen, bis Sie mir nur mit einem Worte die Unwissenheit über das Schiksal meines gestrigen Briefes genommen haben. Das eine Wort besteh’ aus recht vielen! Adieu, liebe Seele! wie sehn’ ich mich zu dir! R. 110
Im Unterschied zu vorher ist das »Adieu« jetzt in Kurrentschrift geschrieben, die Adresse »Demoiselle Caroline Mayer« auf der Außenseite hingegen in lateinischer Schrift; die Differenz der Schriften bildet so den Gangunterschied zwischen der intimen und der sozialen Annäherung ab. Anders als von Richter gewünscht, schreibt ausführlich jedoch nur der Vater am 10. November; die Zeilen der Tochter sind der Konvention folgend als Beilage und Formalität behandelt, sogar das zuvor schon erschriebene »Du« wird noch einmal suspendiert: »Wie ich nun doppelt mein Glück fühle, seitdem der Seegen des besten Vaters meine Empfindungen heiligt, kann ich nicht ausdrücken. – Erlaßen Sie es mir, Ihnen mehr zu sagen – mein Herz ist zu voll […] Ihre Caroline« (IV 4, 50, Nr. 30). Die väterliche Antwort besteht aus zwei Teilen, in keinem von beiden geht er auf Richters Vorleben ein. Vielmehr umreißt er zunächst seinerseits das Szenario eines im bürgerlichen Leben realisierten Erziehungsideals: 109 110
IV 4, 45,34–45,2, Nr. 27. III 4, 17, Nr. 24.
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Es gehörte, wie ich Ihnen schon einmal beyläufig gesagt habe, in den Plan dieser Erziehung, meine Kinder durch eine Art von höherer CULTUR über die Linie zu erheben, die ihnen das Beyspiel der mütterlichen Sippschaft hätte ziehen können, und ich belud mich, unter Bedingungen, die nur im Gesichts Punkt dieses höheren Zwecks begreiflich sind, mit [mit nachtr. üdZ] der eignen Erziehung meiner Töchter, die mir jeder, eben wegen des in der That eintzigen Verhältnißes abrieth […] ich habe indeßen meinen Weg verfolgt, und ich bin dabey immer durch die Vorstellung aufrecht erhalten worden, daß es mir gelingen sollte, meine Töchter mit Männern zu verbinden, die, verzeyhen Sie mir diese Eitelkeit, ihren Werth zu schätzen wüsten […]. Sie, mein Freund, gewähren mir jetzt die Erreichung eines mir so theuer gewordenen Zwecks, und ich nehme keinen Anstand, Ihnen meine unbedingte Einwilligung in Ihre Verbindung mit meiner Tochter zu ertheilen, da ich sehe und aus dem Munde meiner Tochter selbst vernehme, daß sie mit Ihnen nicht nur einig, sondern auch Ihnen mit der gantzen Hertzlichkeit ergeben ist, die mich von der völligen Eintracht Ihrer Gemüther überzeugt, und mir Ihr beyderseitiges Glück sichert.111
Das Modell des Bildungsromans tritt hier unauffällig und doch nachdrücklich an die Stelle der Simultanliebe. Im zweiten Teil des Briefes werden dann exemplarisch die Forderungen des sozialen Lebens aufgerufen, zu deren »Eigenthümlichkeit« in Mayers Fall der gesellschaftliche Rang einerseits, die getrennte Lebensführung von der Mutter der Töchter andererseits gehören: Sehen Sie nunmehr mein Hauß als das Ihrige an, und erlauben Sie mir nur, bey der Eigenthümlichkeit meiner Lage, meinen Freunden unser ein Verhältniß mit der Convenientz mäßigen Anständigkeit bekannt zu machen, welches von nun an meinen Hauß genoßen nicht fremd bleiben darf, und welches jene nicht aus der dritten Hand erfahren dürfen, ohne der Achtung zu schaden, auf die wir alle beim Publico Anspruch machen.112
Auf fast zwei Wochen dehnt sich so der intime Augenblick der voroffiziellen Verlobung aus. Ein Zeitraum, in dem nicht zuletzt noch einmal die sozialen Rollenmuster* auf ihre Belastbarkeit, ihre Dehnbarkeit und Ersetzungsbedürftigkeit hin geprüft werden. So zum Beispiel, wenn die Braut sich am 18. November ins Logis Richters begibt, diesen nicht antrifft, und sich dann an seinen Schreibtisch setzt: »Wie macht es mich glüklich mit Deiner Feder zu schreiben, auf Deinem Stuhl zu sitzen – ich sehe aber nichts von Deinen Papieren an. ich kam blos ein Billet für null und nichtig zu erklären, daß ich Dir heute morgen schrieb« (IV 4, 56,15–18, Nr. 38), die Grenze zur gesellschaftlichen Realität wird permeabel: »Gab ich Dir nicht heut einen Beweis […] wie so gar nicht besonnen Deine C. ist. Kam ich nicht allein zu Dir? schrieb ich Dir nicht auf einem ofnen Blatt – gab ichs nicht dem treuen Bedienten – und reut es mich nicht jezt? Ach ich hätte Dich so gern heut gesehen und konnte dem Herzen nicht gebieten« (IV 4, 64,27–65,3, Nr. 42). Das Aufeinanderprallen von Freiheiten in der intimen und von Verbindlichkeiten in der öffentlichen Kommunikation, zugleich aber auch von libera111 112
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IV 4, 49, Nr. 29; Textgrundlage: Originalhandschrift. IV 4, 49,32–50,2.
ler »Simultanliebe« und sozialem Reglement, wird in den Tagen, bevor die Verbindung öffentlich gemacht wird, für Caroline Mayer noch einmal zum Zwiespalt: Ihr Vater wünscht, dass sie eine gesellschaftliche Einladung der Gräfin Henriette von Schlabrendorff absagt, weil die Verlobung noch nicht offiziell bekannt gemacht ist. Im Brief informiert sie den Verlobten über das Dilemma, sucht in ihm den Retter, der sie aus der »großen Verlegenheit« befreien soll. Richter überstimmt den Vater mit einer magischen Siebenzahl durchnummerierter Argumente, die das gesellschaftliche Aptum ebenso berücksichtigen wie die für ihn weiter gültigen Gebote der Simultanliebe, in der die geistig-moralische Wahrheit über der buchstäblichen angesiedelt ist: »Mündlich haben wir beide es [die Verlobung] ja überal bekant gemacht; und die erbärmlichen Druklettern können doch wahrlich nicht mehr entscheiden als der moralische Karakter von 3 Menschen« (III 4,20,20–23, Nr. 33). Am 22. November endlich sind dann die Verlobungsanzeigen in AntiquaLettern gedruckt, die Richter zunächst an Emanuel und an Otto, die engsten Freunde, schickt. Im Begleittext an Emanuel hebt er den epistolären Aspekt hervor: »Auf dieser Karte ist so viel Inhalt wie im längsten Brief«, in dem an Otto den des Druckbuchstabens: »TANDEM FELIX lies der edle Tessin auf sein Grab sezen; ich sez es ein wenig früher – hieher auf diese Karte, zu welcher die Lettern schon vor 3 Wochen vom Schiksal gegossen wurden« (III 4, 21, Nr. 34 und 35). Der Braut gegenüber wird bei dieser Gelegenheit die Grenze vollends überschritten, die briefliche Intimität vom öffentlichen Leben scheidet; im Gegenzug aber wird die soziale Welt zum Raum einer öffentlichen ästhetischen Inszenierung des Festes verklärt: Guten Morgen, Verbundne! Hier ist das Logenbillet für das schöne Melodram unsers Lebens. 16 [Anzeigen, erg. J.P.] nahm ich mir für einige Freunde, denen ich sie selber gebe; hier ist das Verzeichnis der andern, weil es der Vater so wil. Drücke ihn dankend in meinem Namen ans Herz. – Ich freue mich auf 6 ¾ Uhr und auf den goldnen Abend. Antworte!113
Caroline Mayers Antwort ist überliefert, doch bildet ihre Replik nur den Eingang zum Archipelagus jener zumeist undatierten Briefe und Billette, die in den Folgemonaten zwischen den Brautleuten gewechselt werden, begleitet von zahllosen Briefen an Freunde und Bekannte, die über den neuen Stand der Dinge informiert werden; Richter schreibt u.a. an Jacobi, an Gleim, an die Herders, an Emilie von Berlepsch, an Josephine von Sydow, an Caroline von Feuchtersleben, an Thieriot, an Juliane von Krüdener, an Friedrich von Oertel, an Friederike und Friedrich Wernlein, bis schließlich am 27. Mai 1801 die Hochzeit stattfindet. Deren Ort im sozialen Leben wird durch die in der Vossischen und der Haude- und Spenerschein Zeitung vom 30. Mai gedruckten Anzeige festgeschrieben: »Unsere Verbindung und unsere Abreise nach 113
IV 4, 21, Nr. 36.
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Meiningen machen wir unsern Freunden mit dem Dank für die vorige Liebe mit der Bitte um die künftige bekannt. Jean Paul Fr. Richter, Legationsrath. Leopoldine Karoline Richter, geb. Mayer« (III 4, 75, Nr. 140). Die Bitte um künftige Liebe bleibt als Tribut an die Simultanliebe bestehen – auch dort, wo diese nun gesellschaftlich verankert und somit restringiert ist. In der Briefund Dokumentensammlung Jean Paul Friedrich und Caroline Richters wurde konsequenterweise der handschriftliche Entwurf dieser Anzeige – gleichsam als ein Brief der Brautleute an sich selbst – aufbewahrt.114
114
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Vgl. IV 4, Abb. 7.
III Spuren der Simultanliebe
III.1 Verlaufsmuster: »an der Hand, im Briefe und im Buch«
1. Rekapitulation Doppelperspektive Jean Paus Idee der Simultanliebe prägt seinen Korrespondenzkreis zunächst implizit, dann auch explizit über nahezu zwei Jahrzehnte hinweg. Diese zwei Jahrzehnte, die das Epochenjahr der Französischen Revolution mehr oder weniger symmetrisch rahmen, bilden im individuellen Leben der in den Korrespondenzkreis einbezogenen Individuen eine Epoche der brieflich inszenierten Ausnahme, des versuchten Ausgenommenseins: Weder die Liebesheirat noch (in pragmatischer Variante) die Gründung einer bürgerlichen Existenzform werden dabei in den Korrespondenzen als primäre Lebensziele hervorgehoben. Dass dieser Versuch einer republikanisch angehauchten Liebes-Gemeinschaft in der Provinz und darüber hinaus seine Voraussetzung in einer zwischenzeitlichen Voraussetzungslosigkeit hat, wird durch einen Blick auf die Briefstellerliteratur der Zeit nahe gelegt: Das Individuum wird genau in dieser Zeit von liebesbriefstellerische Vorgaben weitgehend freigesprochen. Im voranstehenden Hauptteil dieser Arbeit wurden die kulturgeschichtlichen Leitfragen zur Erforschung von Liebesbriefkulturen zur philologischen und kulturgeschichtlichen Erschließung dieser spezifischen LiebesbriefSubkultur am Leitfaden der Biographie der Zentralgestalt aufgerufen. Beobachtungen, die sich aus anderen für die Liebesbriefkultur relevanten Zusammenhängen hierzu ergaben, wurden mit Hilfe des Index »*« angebunden. Dieses (im Folgenden fortgesetzte) Verfahren lässt die Frage offen, inwiefern die Beobachtungen zu den jeweiligen Einzelfällen verallgemeinerbar sind und die Besonderheiten ihrer philologischen Repräsentation ihrerseits repräsentativ im Rahmen des als Experimentalsystem zugrundegelegten Briefnetzwerkes sind. Die Registrierung der indizierten Fragen (vgl. Register) soll es dem Leser ermöglichen, repräsentative Vernetzungen zu (re)konstruieren. Im Folgenden wird, ausgegend von einem der Leitbegriffe, eine erste Integration der Leitfragen umrissen. Dem folgt das exemplarische Modell einer philologischen Repräsentation der Simultanliebeskultur in Gestalt eines Briefes aus der Zeit nach dem Eheschluss zwischen Jean Paul und Caroline Richter sowie eine mehrstufige metaphilologische Reflexion.
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Exemplarische Integration Schreibanlässe* sind Ereignisse im epistolären Prozess, die überhaupt erst die wie immer modellierten mentalen Prädispositionen auf einer oder auf beiden Seiten der Korrespondenz dem Wagnis der schriftlichen, nicht-flüchtigen Kommunikation aussetzen. In der exemplarisch betrachteten Initiation des Briefgesprächs mit Sophie Ellrodt fällt auf Richters Seite vor allem ein intern ausgetragener strategischer Abgleich zwischen den eigenen hohen Erwartungen und deren vorsichtiger Zurücknahme auf; zusätzlich findet eine Absicherung durch die Einbeziehung von Mittlerpersonen* (in diesem Falle die Mutter Richters) statt; die Korrespondentin erkennt und akzeptiert diese Mehrdeutigkeiten des mitgeteilten Schreibanlasses, arbeitet im Folgenden aber am Projekt einer epistolaren Verdeutlichung der Positionen, dem Richter sich jedoch nicht fügt, was mit zum Misserfolg* dieses ersten amourösen Versuchs beiträgt. In anderen Korrespondenzen wird hingegen der Rückgriff auf Schreibanlässe als Mittel zur Fortsetzung des Briefgesprächs akzeptiert, so bei Renate Wirth (S. 126); bei Richter wird insbesondere die zum Schreibanlass gemachte Berufung auf die Autorität in Sachen Wetterprognose nachgerade habituell. Neben diesen kommunizierten Schreibanlässen gibt es jedoch auch nichtkommunizierte, die zum Beispiel durch Abgleich mit Tagebucheintragungen erkennbar und philologisch repräsentierbar werden. Durchgängig wird jedenfalls die wechselseitige Akzeptanz von Schreibanlass-Praktiken zu einem wichtigen Gradmesser für die Tragfähigkeit des Briefverhältnisses. Diese Verlaufsform ist für das hier betrachtete Briefnetzwerk exemplarisch. Das ›System‹ der Simultanliebe integriert jene, die willens sind, sich dem Experiment einer abweichenden Lebensform auszusetzen. Die Bereitschaft dazu ist bemerkenswerterweise nicht an eine Generation gebunden: sie findet sich zum Beispiel sowohl bei der jüngeren (mit Richter ungefähr gleichaltrigen) wie bei der älteren Generation der Familien Herold, Wirth und Köhler in Hof. Bei den von außen hinzutrtenden Korrespondenten ist diese Generations-Offenheit eingeschränkt, aber nicht vollständig aufgehoben, in Hinblick auf soziale Schranken wird die Offenheit sogar noch ausgeweitet, wie das Hinzutreten von Personen aus höheren Ständen – zum Beispiel Wilhelmine von Kropff, Emilie von Berlepsch – sowie anderer Religion beziehungsweise Konfession wie Esther Bernard und Josephine von Sydow belegt. Im Rahmen dieser integralen Konstellation, die vom Leben des ›infamen Menschen‹ Carl Christian Rolsch bis zu dem Leben in fürstlichen Häusern wie dem der Herzogin von Hildburghausen und ihrer Schwestern reicht, ergeben sich erstaunliche Spielräume des Umgangs mit Wahrnehmungshorizonten*, Sprach- und Inszenierungsexperimenten, sowie in der Einbeziehung anderer Diskurse* in die Kommunikation. Festzuhalten ist freilich auch, dass bestimmte Diskurse restriktiv behandelt werden, insbesondere Fragen der 352
Sexualität*, die, zumindest nach Auskunft der überlieferten Dokumente, kaum im Briefwechsel zwischen den Geschlechtern verhandelt wird. Auch führt die Ausweitung und Intensivierung des ›Systems‹ wiederholt in Krisensituationen, die ihrerseits mit unterschiedlichen Wahrnehmungshorizonten* im Bereich jenseits der ›Simultanliebe‹ zusammenhängen, namentlich dann, wenn ein Verlöbnis und die damit verbundene Aussicht auf eine Ehe in den Blick kommen. Im Falle der Liebesbeziehung zu Caroline von Feuchtersleben lassen sich zwar die gemeinsamen imaginären Horizonte noch gegen Mitspracherechte* aus der Familie der Braut aufrechterhalten; in der Entscheidungssituation jedoch erweist sich das Fundament, so felsenfest die epistolären Beteuerungen auch geklungen haben mögen, als nicht hinreichend belastungsfähig. Dementsprechend vollzieht Caroline von Feuchtersleben in der Rückforderung ihrer Briefe eine soziale Geste, die zugleich eine resolute Aufkündigung des ›Simultanliebesverkehrs‹ und ein Verlassen des Briefnetzwerkes kommuniziert. Im Verhältnis zu Caroline Mayer wird hingegen das Fundament der Beziehung nicht allein auf die imaginäre Simultan-Idee Richters gegeündet, sondern auch auf den bildungsidealistischen Lebensentwurf Johann Siegfried Wilhelm Mayers. Dass das Braut- und Ehepaar Richter im bürgerlichen Leben einen dritten Weg zwischen den Forderungen sozialer Solidität und dem Ideal der Simultanität zu leben versucht, lässt sich auch philologisch nachweisen. Im Falle Emilie von Berlepschs führt – entgegen allen sozialen Reglements – weder das Scheitern der Verlobung mit Richter noch die Ehe Richters mit Caroline Mayer zu einem vollständigen Abbruch der Korrespondenz. Schon nach der Trennung von Richter greift sie immer wieder das Briefgespräch auf. Man könnte sagen, dass sich gerade in dieser weder konventionell-gesellschaftlich noch briefstellerisch vorgesehenen Freiheit zur Wiederaufnahme des Briefgesprächs die Ausnahmestellung des Systems erweist. Ein ausführlicher Brief der vormaligen Verlobten aus der Zeit nach Richters erstem und Emilie von Berlepschs zweitem Ehebund macht dies deutlich und offenbart zugleich in nuce die Möglichkeiten und Grenzen einer erweiterten philologischen Repräsentation von Gefühlskultur im Rahmen einer optional erweiterten Kommentierung, die natürlich an den jeweiligen Editionszusammenhang anzupassen ist. Emilie von Berlepsch schreibt den Brief aus der Schweiz, dem Land, das ihr immer wieder zum Rückzugsraum wird und das gerade deshalb, weil sie weiß, wie sehr Richter es schätzt ohne es zu kennen, einen besondere Qualität für sie in der Korrespondenzarbeit mit ihm hat, gleichsam einen briefstellerischen Standortvorteil. Text und Differentialkommentar zu diesem Brief werden im Folgenden sukzessiv dargestellt (mit eingefügter Seiten- und Zeilenzählung des Druckes), im Rahmen einer elektronischen Edition wäre dies den Möglichkeiten entsprechend anzupassen. 353
Text und Differenzialkommentar:1 Emilie Harmes an Jean Paul. Bern, 24. November bis 24. Dezember 1804 ten [23,23]Bern den (24 Nov. 1804 ten [23,24](24 Dez [23,25]Hätten wir nicht beide – oder vielmehr wir 4 – als wir uns in [23,26]Baireuth verließen sicher geglaubt daß wir uns bald schreiben [23,27]würden? Und was ist das für ein unerklärliches Wesen in uns, [23,2]Freund Richter, daß wir so herzlich und aufrichtig an einander [23,29]hängen mit unsern b e s t e n Gefühlen und Kräften, und doch ein [23,30]so Grabähnliches Schweigen gegen einander beobachten, und von [23,31]einander erdulden können, ohne daß jedoch die zarten geistigen [23,32]Bande zwischen uns zerreißen? – Kurz, ich habe seit dem schön-[24,1]en, frohen Abend in Baireuth nichts von Ihnen gesehen noch [24,2]gehört, und schreibe auch an Sie heute zum erstenmahl. Aber das [24,3]wahre Vergnügen mit welchem ich endlich diesen lang gefaßten [24,4]Entschluß ausführe, die Freude die gewis in Ihrem Auge glänzt, [24,5]wenn Sie diesen Brief eröfnen – bergen dafür daß unser Geistes-[24,6]Umgang ununterbrochener ist und bleibt als der briefliche. Wüßt [24,7]ich jezt nur, was Sie gern in diesem Briefe lesen möchten, außer der [24,8]Nachricht daß es uns immerfort sehr gut gegangen ist, daß [24,9]wir wohl und zufrieden sind? Im November – der doch auch hier [24,10]zwar weniger rauh aber doch nicht viel lustiger als bey Ihnen ist – [24,11]von Schweizer-Gegenden, von Entzükungen und Begeisterungen [24,12]zu sprechen die am Fuße des MONT BLANC, in den Thälern von [24,13]CHAMOUNY, MEIRINGEN GLARUS u s. w. über mich kamen, fällt [24,14]frostig und verblichen aus. Ich hatte würcklich für Sie eine [24,15]Beschreibung der Reise nach dem MONT BLANC angefangen, [24,16]aber ich habe leider wieder die unglückliche Trägheit Flüchtig-[24,17]keit, Zersplitterung der Ideen und Gefühle – wie soll ich den fata[24,18]len Zustand nennen, zu welchem mein Geist wie Sie wißen nur [24,19]zu sehr geneigt ist, und der mich – wen eben dieser moralische [24,20]SIROCCO weht, in meinen eignen Augen zu einem so schlaffen [24,21]unbedeutenden, trivialen Geschöpf macht, daß ich laut aus lachen [24,22]möchte wenn ich gewiße Lobpreisungen und Huldigungen auf [24,23]Rechnung meiner Schriftstellerey empfange. O Sie Liebling des [24,24]Prometheus, dem e r so viele Funken des unsterblichen Feuers in [24,25]NervenAdern, Gehirn und Herz fallen lies daß wir andern wahr-[24,26]scheinlich desto weniger bekamen, und daß bey Ihnen kein Still-[24,27]stand des kreisenden, sprühenden, leuchtenden Feuerwercks der [24,28]Imagination, des Humors, und des Wizes entstehen kann! S i e [24,29]Glücklicher haben gewis seit wir uns verließen wieder viel tau-[24,30]send Seelen gerührt electrisirt, bezaubert, belustigt, und – ge-[24,31]ärgert! Sagen Sie mir wodurch? den von den n e u s t e n deutschen [24,32]Producten, (besonders von denen die für die guten Kauderwel-[24,33]schen, mit und gegen ihren Willen G a l l i z i r t e n Schweizer fast so [24,34]unverständlich als Hebraisch sind) erfährt man nicht einmahl den [24,35]Namen. 1
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Der Differentialkommentar ist in diesem Beispiel halbfett wiedergegeben, der Grundkommentar, welcher mit Anpassungen dem in Band IV 5, 392–395 gedruckten Kommentar entspricht, normal. Herausgebertext ist kursiviert, Zitate Jean Pauls stehen recte.
Man ließt S i e eben nicht hier und kann es auch nicht [24,36]bey der Ungeübtheit im reinen – vollends hohen poetischen [24,37]Teutsch. Ich wollte ich könnte es den hiesigen Leuten begreiflich [25,1]machen wie sehr der Mangel an einer eigentlichen, sich allmählig [25,2]ausbildenden Sprache, sie in j e d e r Ausbildung zurücksezt. Ich [25,3]empfinde das jezt stärker als sonst, da die Männer die in frühern [25,4]Zeiten meinen hiesigen Kreis machten, und meist alle sehr gut [25,5]Teutsch sprachen, auch teutsche Litteratur kannten, aus einander [25,6]gesprengt, verschwunden sind. Ich will der Hauptperson ausführ[25,7]lich erwähnen. Stapfer hat fürcht' ich auf immer die Achtung, das [25,8]Zutrauen, die Liebe seiner Mitbürger verlohren, ja vielleicht sich [25,9]die Wiederkehr in sein Vaterland unmöglig gemacht. O wie hab’ [25,10]ich einst im prophetischen Geist ihm lehren und warnen wollen, [25,11]und wie theuer wird er vielleicht seine undankbare Verstokung [25,12]gegen mich noch büßen. Es schmerzt mich, die ihn so aufrichtig [25,13]schäzte doch recht sehr, wenn ich Anklagen, Beschuldigungen [25,14]gegen ihm höre, die kein edles Wesen, kein rechtschafner Mann, [25,15]am wenigsten ein tugendhafter Republicaner verdienen kann. Ich [25,16]weis daß auch in dem besten Mensch der PartheiGeist übertreibt [25,17]aber frey sprechen, entschuldigen kann ich Stapfern doch nicht. [25,18]Jezt lebt er unbeschäftigt, unbemerkt, und wie ich glaube gar [25,19]nicht glücklich in Paris. [25,20]Die ganze Parthei zu der er gehörte nemlich die bis 1802 herr-[25,21]schende, sogenannte Helvetische Regierung, welche durchaus [25,22]die Schweiz zur unzertrennlichen Einheits Republik ummodeln [25,23]wollte, hat wohl jezt alle Hofnung verlohren, jemals wieder ans [25,24]Ruder zu kommen. Nicht allein der durch die VermittlungsActe [25,25]des Allgewaltigen festgesezte jezige Zustand der Dinge, sondern [25,26]noch entschiedner der allgemeine Haß des Volks, hat jene Ephe-[25,27]meren Regenten unter welchen man freilich mit Bedauern einige [25,28]der besten und gebildetsten Köpfe der Nation zählen muß, ins [25,29]Dunkel zurückgeworfen und leider ihre großen GeistesKräfte die [25,30]so viel Gutes hätten wirken können nun in unüzen Groll, Neid [25,31]und Haß aufgelößt. O man lernt viel in diesem Lande, und hat [25,32]Stof genug Menschen- und Zeitkenntniß zu sammlen, aber war-[25,33]lich keine erfreulichen. [25,34]Ubrigens leben w i r , da wir immer genug an einander haben, [25,35]um viel weniger zu bedürfen als wir hier finden, sehr zufrieden. [25,36]Ich bin wie eine – Vaterlandsvertheidigerin, möchte ich sagen – [25,37]aufgenommen worden, und werde durchaus gütig, achtungsvoll [26,1]und freundlich behandelt. Ich muß nun wohl gestehen daß es mir [26,2]im Vergleich mit der erstarrenden Kälte die mich in Meklenburg [26,3]absties, und mit der schielenden, falschen Freundlichkeit mancher [26,4]teutschen Kreise, wo ich doch die Kazenklauen immer hervor-[26,5]züken sehe – recht sehr wohl thut. Liebenswürdig geistvoll und [26,6]begeisternd kann ich den Kreis nicht nennen, in welchem ich hier [26,7]lebe, aber warlich ich fühle jezt ganz wie thöricht es ist, m e h r als [26,8]Ruhe, Redlichkeit, und Frieden von den Menschen zu verlangen. [26,9]Dieses Resignationssistem gehört denn auch dazu, um es zu [26,10]ertragen daß Sie und ich auf einer und der nemlichen Weltkugel [26,11]leben, und uns so wenig sind. – Beschämt blik ich nach dem [26,12]Datum dieses Briefs --- und ach schon ist das Ende des Jahrs nahe! [26,13]Und d a r f ich denn doch um b a l dige, recht baldige Antwort bit[26,14]ten? [26,15]Daß ich Sie aber sehr wünsche darf ich doch wohl sagen, und [26,16]will es, weils eine recht tief gefühlte Wahrheit ist. Wenn Sie, Gei-[26,17]ziger, nur Minuten mir und dem Schreiben an mich zu geben [26,18]haben, so wende ich mich bittend an Ihre
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Karoline die auch ich, [26,19]m e i n e Karoline nennen würde, wenn die zärtlichste Achtung die [26,20]schwesterlichste Sympathie dazu berechtigte. Sie ist so gut, hin[26,21]gebend, theilnehmend, daß sie meine Theilnehmung an Ihrem [26,22]allseitigen Wohlergehn gewis ahnden, und die daraus entsprin-[26,23]gende Sehnsucht nach Nachricht, befriedigen wird. Ich lebe viel [26,24]in Gedanken mit Ihnen in Baireuth, in Ihrem so ausgezeichneten [26,25]Kreise. Könnt ich Sie hierher versezen in meine schönen gerau[26,26]migen Zimmern, aus welchen Sie die große erhabne jezt be-[26,27]schneyte Gegend, die pfeilschnell gleitende Aar, eine herrliche [26,28]Promenade die selten leer ist, und an jedem hellen Abend die [26,29]purpurnen Himmels Säulen der Alpen sehn würden. O wären Sie [26,30]hier, und möchten Sie n o c h l i e b e r als Alpen und Flüße sehen [26,31]Ihre wahre Freundin E. Harmes.
Differentialkommentar ÜBERLIEFERUNG H: BJK, Berlin A. 2 Dbl. 4°, 8 S. TEXTGRUNDLAGE Mit Korrekturen. LESARTEN 24,16 unglückliche] unglücklicher H 24,17 Zersplitterung] Zerplitterung H 25,5 Teutsch] Teusch H 25,28 gebildetsten] gebildesten H VARIANTEN 24,16 die unglückliche] aus den Zeitpunct unglücklicher H
26,29 würden] nachtr. üdZ H
ERLÄUTERUNGEN Die im November 1755 in Gotha geborene Schriftstellerin Emilie Harmes, geb. von Oppel, gesch. von Berlepsch (vgl. IV 2, einleitende Erläuterung zu Nr. 214, IV 3.1, einleitende Erläuterung zu Nr. 30 und IV 4, einleitende Erläuterung zu Nr. 1) hatte sich nach dem Scheitern ihrer Beziehung und kurzzeitigen Verlobung mit Jean Paul von Juni 1799 bis Ende 1800 in Schottland aufgehalten (der literarische Ertrag dieser Reise war die vierbändige Reisebeschreibung »Caledonia«, Hamburg: Hoffmann 1802– 1804). Unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Schottland, wohin sie ihre unerwiderte
Liebe zu dem Geistlichen James Macdonald (1771–1810) geführt hatte, war sie nach Redwin in Mecklenburg gereist. Dort hatte sie den sieben Jahre jüngeren Domänenrat August Ludwig Heinrich Harmes (1762–1839) kennengelernt und Jean Paul in einem ausführlichen Brief vom November 1800 (IV 4, Nr. 40) ihre Verlobung mit dem Mann angezeigt, der »keine adliche Geburt, wenig eigenes Vermögen, keinen Wiz, keine Gelehrsamkeit, und keinen einzigen Fehler als etwas Unthätigkeit« habe; einer denkbaren Skandalisierung der beträchtlichen Alterdifferenz* vorbeugend fährt sie fort: Harmes möge »2 oder 3 Jahre jünger seyn« als sie selbst, doch sehe er »gerade um so viel älter« aus. Da sie das Alter von Harmes dann aber im selben Brief korrekt mit 39 angibt, scheint sie bei ihrem ehemaligen Verlobten eine weitreichende Unkenntnis ihres eigenen Alters vorauszusetzen. Im Übrigen habe
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Harmes »eine sehr edle Gestalt eine angenehme Gefühlvolle Bildung, und ein Betragen das gleich beim ersten Blick durch Anstand und Sanftheit« einnehme. Ihrer Vorliebe für amouröse Tripelkonstellationen – auch in Schottland hatte sie, wie zuvor mit Jean Paul, eine ›menage à trois‹ einzufädeln versucht –, folgt sie auch im Brief, worin durch Unterstreichungen die Konstellation verdeutlicht wird: »Er hat was w i r moralischen Tact nennen, in so hohem Grad als Sie und ich, und dieser ist b e y i h m wegen der beständigen Stille der Leidenschaften, und einer auserordentlichen Bescheidenheit, vielleicht wegsamer, unverfälschter und A u t o c r a t i s c h e r als b e y u n s beiden.« Jean Paul hatte ihr im Gegenzug seine eigene Absicht, Caroline Mayer zu heiraten angezeigt, worauf sie sehr zwiespältig reagiert und ihn erneut an die Anfangszeit ihrer Liebe zu ihm sowie an ihre Nachfolgerin als Verlobte, Caroline von Feuchtersleben, erinnert hatte: »Zuerst meinen herzlichen Antheil an der Nachricht die sie mir mittheilen, und Wünsche – gewis so warm und treu als reine warme Freundschaft sie geben kann. Aber auch unbegränzte Offenherzigkeit. – Was es eigentlich in meinem Gefühl ist weis ich nicht, aber diese Ihre neue Verbindung thut mir nicht so wohl leuchtet mir so himmelsklar, herrlich und anziehend nicht ein, wies die vorige that. Jene Caroline gab mir ein simpathetisch-schwesterlich Gefühl, und es ist mir als müße ich trauern daß sie – verstoßen ward. | Kurz es ist etwas in dem Allen das mich schwermüthig macht, mich wenn ich an sie denke so ergreift als wäre mir Unrecht gethan. Aber mein Herz soll darum doch offen und warm Ihre Geliebte aufnehmen und wenn ich Sie glücklich sehe, wird das wunderliche Gefühl sich auch verlieren. | Höchst sonderbar ist doch warlich unser ganzes Verhältnis zu einander, und vom Schiksal seltsam geführt. Ich verliere mich zuweilen im Grübeln darüber. Wie wenig ahndeten wir von dem allen als wir uns im Brandenburger Hofe zum erstenmahl sahen?« (IV 4, 99,12–29, Nr. 63). Die Realitäten des sozialen Lebens hatte sie dabei so interpretiert, daß sich daraus fast notwendig eine Wiederannäherung ergeben mußte: »Was sind Ihre Lebensplane? Erlauben Sie mir Ihnen eine Sorge zu bezeugen. Der Ausdruk ›Geldmangel‹ in Ihren 2 lezten Briefen erschrekte mich, da ich ihn bey der fortlaufenden Ausgabe des Titans nicht begreife. Hat Ihre Braut Vermögen? wo gedenken Sie hinzuziehen? Vergeßen Sie nicht daß es im Reich ganz übertrieben theuer ist? Beschließen Sie vors erste doch noch nichts darüber, sondern kommen so bald Sie Berlin verlaßen nach Redewin. Wo Sie auch hingehn wollen liegts beinah auf ihrem Wege […]. Da laßen Sie uns unsre Hyblahonig Monate mit einander zubringen, in froher Unschuld, Eintracht und Liebe« (IV 4, 99,32–100,17). Dieser Wunsch war auch vom Wunsch geleitet, die befürchtete soziale und familiäre Nicht-Akzeptanz* ihrer eigenen Beziehung zu kompensieren: »Man wird mich bey der Gelegenheit gewis mishandeln, das hat keine Zweifel, meine Kinder werden ein Anathem über mich ausrufen, theils daß ich überhaupt heirathe, und – einen Bürgerlichen! – abscheulich! – einen Unbekanten, Unberühmten, Verbindungslosen Menschen in einem Winkel von Meklenburg! einen Pächter! Sein Oncle war Amtmann zu Berlepsch abscheulich! – Dies ist nun aber die Gelegenheit wo meine Freunde, alle Menschen die mich schäzen und lieben, alle gute Menschen laut für mich sprechen müßen, und den niedrigen Verleumdungen, den hämischen Anmerkungen wenn welche ins Publicum geworfen werden laut wiedersprechen. Dazu ists auch sehr gut wenn Sie lieber Richter bald zu uns kommen, und sehen,
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wie da alles ist. Ich werde auch meinen Schwager und einige andre gute Menschen einladen, denn Harmes wegen würden mich öffentliche verkleinernde lästernde Gerüchte sehr schmerzen […] Denken Sie daß ich diese niedrigen Bosheiten so sehr fürchte, daß ich sogar nicht wage, meinen Geliebten, meinen Bräutigam vor unsrer Verbindung zu sehn, und ihm nicht erlaube mich hier zu besuchen, aus Furcht man möchte schimpfliche Gründe meiner Heirath angeben. Gott! wenn ein so argloses Herz als das meinige zu solchen Vorsichten kommen kann, wie muß es in der Welt hergehen? […] Grüßen Sie mir mütterlich-freundlich Ihre Braut, und sagen mir mehr von Ihr« (IV 4, 101,6–103,17). Jean Paul hatte Emilie von Berlepschs Wahl gegen Christian Ottos Vorbehalte verteidigt: »nur dieser Man kan sie beglücken« (III 4, 59,10–11); und an sie selbst hatte er in Bezug auf Harmes geschrieben »alle Schilderungen legen ihm den Ehren-Namen Mann im höheren Sinne bei« (III 4, 285,33–34). Im vorliegenden Brief nun werden die Ehe-Verhältnisse von Absenderin und Empfänger wieder stärker ausgeblendet und das intime Gespräch mit geographischen, politischen und literarischen Diskursen verflochten. 23,25–26 beide bis verließen] Emilie Harmes hatte Jean Paul und Caroline Richter im Juni 1804 in Coburg besucht (vgl. III 4, 300,30, Nr. 477 vom 19.6.1804 an Christian Otto). Vermutlich sahen sie sich zu dieser Zeit auch in Füllbach bei Coburg, wo die Tochter von Emilie Harmes lebte. Sie hatte damals vor, ihre Reise, die mit diversen Umwegen und Zwischenaufenthalten in die Schweiz führen sollte, über Bayreuth fortzusetzen, wo sie auch Christian Otto treffen wollte (vgl. III 4, 301,16, Nr. 478 vom 21.6.1804 an Christian Otto). Ende Juli hielt sie sich dann in Franzensbad auf (vgl. Thieriots Brief an Emanuel vom 30.7.1804, H: Slg. Apelt); möglicherweise reiste sie, wie sie es Thieriot zufolge auch in Erwägung gezogen hatte, von dort aus noch einmal nach Bayreuth, wo es dann nochmals zu einer Begegnung mit Jean Paul und Caroline Richter gekommen sein könnte, nachdem diese am 12. August mit Kindern und Hund dorthin umgezogen waren. Die vierte Person, von der die Rede ist, ist wahrscheinlich August Ludwig Heinrich Harmes. Spätestes um die Mitte des Oktobers muß sie in Bern eingetroffen sein (vgl. Hans Utz, Bern – die Liebeserklärung der Emilie von Berlepsch (1755–1830), S. 98 in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 49, 1987, S. 57–115). Indem Emilie von Ber-
lepsch sich nur auf das Zweierverhältnis zum Adressaten bzw. auf das Viererverhältnis unter Einbeziehung der Ehegatten bezieht, klammert sie ihre bisherige Vorliebe für Dreierkonstellationen demonstrativ aus. Die Ausweitung des intimen Gesprächs wird dabei stufenweise vollzogen (zuerst: »wir beide«, dann erst: »wir 4«) und damit zugleich relativiert. Das Nachfolgende ist dann nämlich doch wieder auf das »wir-beide«-Dispositiv bezogen (in Gestalt der privilegierten »geistigen Bande«), womit freilich das Privileg der körperlichen Verbindung den jeweiligen Ehepartner zugestanden wird, wenn auch möglicherweise nur angesichts der Möglichkeit, dass diese den Brief lesen könnten. 23,27–32 was ist das bis zerreißen] Die Getrenntschreibung der Bestimmungen »an einander« und »gegen einander« macht die geographische und die sozial-amouröse Trennung zum sinnlichen Zeichen, die Begriffe »Grabähnliches Schweigen« sowie »Gefühle«, »Kräfte« und »geistige Bande« spezifizieren diese Differenz und deklarieren zugleich den emotionalen Zoll, den die Briefschreiberin zu entrichten hat. Es ist darin aber auch eine Bereitschaft zur emotionalen Neu-Konstellation, zur autopoetischen Reorganisation der Gefühle zu erkennen, ein ganz unempfindsames Sich-Arrangieren mit den Verhältnissen, das an Hegels Worte über den Briefwechsel zwischen Lessing und seiner Verlobten und späteren Ehefrau Eva König
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denken lässt: Das zentrale Thema dieses Briefwechsels stelle, so Hegel, »das hinlängliche Auskommen« dar, womit die praktischen Fragen des Lebens gemeint sind. Darin liege das Exzeptionelle des Briefwechsels, denn, so Hegel weiter, »[…] die Liebe ist nimmer so stark, daß man miteinander in Wüsteneien zieht, aller Bequemlichkeiten sich entschlägt und nur von der Liebe lebt«. 23,32–24,1 dem schönen bis Baireuth] Vgl. Erläuterung zu S. 23,25–26.
24,6–9 Wüßt ich bis zufrieden sind] Die epistoläre Ratlosigkeit Emilie von Berlepschs bezieht sich auf die zweite Stufe der Konversation (vgl. Erläuterung zu S. 23,27–32), also auf familiäre Mitteilungen unter Ausblendung des amourösen Prätextes. Die nachfolgenden Reiseeindrücke sind dem literarische Schreiben der Reiseschriftstellerin Emilie von Berlepsch zuzuordnen, also gleichsam öffentliche Rede, eingebettet in die intime Verflechtung mit anderen (in diesem Falle literarischen) Diskursen*. 24,13 CHAMOUNY] Das gletscherreiche Tal von Chamouny (heute: Chamonix) war im 18. Jahrhundert als touristische Attraktion entdeckt worden. 24,28–31 S i e Glücklicher bis wodurch] Am 30. August 1804 war in der »Zeitung für die elegante Welt« Jean Pauls auf den 15. August 1804 datierter Aufsatz »Rath zu urdeutschen Taufnamen« erschienen (Nr. 104, Sp. 827–831; vgl. I 13, 136–139). Im Oktober 1804 waren bei Perthes in Hamburg Band 1 und 2 der »Vorschule der Aesthetik« erschienen, Mitte November deren dritter Band. Probestücke daraus wurden in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht (vgl. Berend/Krogoll 10–11, Nr. 8a). Ebenfalls noch mit Erscheinungsjahr 1804 erschien im 2. Stück des von Christian Sigismund Krause herausgegebenen »Ansbach-baireutischen Armenfreunds« der auf den 17. November 1804 datierte Beitrag »Bitte für Unglückliche«, eine Bitte um Geldspenden für Arme (49. St., S. 353– 355). 24,29 seit wir uns verließen] Vgl. Erläuterung zu S. 23,25–26. 24,33 mit und gegen bis Schweizer] Vgl. Erläuterungen zu S. 25, 7–23. 25,3–4 in frühern bis machten] Emilie Harmes hatte sich bereits Mitte der achtziger Jahre, damals noch in Begleitung ihres ersten Ehemanns Friedrich Ludwig von Berlepsch, in der Schweiz aufgehalten (vgl. auch ihre Gedichte »Die Peters-Insel. Im Bieler See. (1786.)« und »Tells Capelle am VierwaldstädterSee«, beide abgedruckt in ihrer 1794 bei Orell, Geßner und Füßli in Zürich erschienenen Sammlung »Sommerstunden«, S. 77–100, das zweite Gedicht unter dem Titel »Der Vierwaldstädtersee« auch bereits im Göttinger »Musenalmanach« auf 1791, S. 130–139) (vgl. Utz, a.a.O., S. 60–65). Von 1793 bis 1796 hatte sie abwechselnd in Bern und in Zürich gelebt, in Bern im Hause der verwitweten jüngsten Tochter Albrecht von Hallers, Charlotte Zeerleder. Zu ihrem damaligen, teilweise bereits aus Göttinger Zeit herrührenden Bekanntenkreis zählten u.a. Hans Heinrich Füßli, Johann Bürkli, Paul Usteri, Albrecht Rengger, Johann Samuel Ith, Karl Viktor von Bonstetten und Philipp Albert Stapfer (vgl. Utz, a.a.O., S. 65–85 sowie Adolf Rohr, Philipp Albert Stapfer, Bern 1998, S. 217–233). Auch der aus Genf stammende und aus Paris geflohene antirevolutionäre Publizist Mallet du Pan gehörte zu ihren damaligen Bekannten. Wiederanknüpfen konnte sie an die Bekanntschaften mit Ith, mit dem sie, begleitet von Pestalozzi, nach Münchenbuchsee reiste, und Charlotte Zeerleder, die jedoch schwer erkrankt war und am 7. September 1805 starb. 25,7–19 Stapfer bis Paris] Emilie Harmes kannte den in Bern geborenen Theologen Philipp Albert Stapfer (Bern 14.9.1766 – 27.3.1840 Paris) bereits aus ihrer Göttinger Zeit, wo Stapfer von 1789 bis 1790 seine an der Berner Akademie begonnenen Studien fortgesetzt hatte. Zur Zeit ihres Schweizer Aufenthaltes in den neunziger Jahren wirkte er als akademischer Lehrer der Theologie, Philologie und Philosophie in seiner Heimatstadt. Der Plan einer gemeinsamen Italienreise zerschlug sich aus nicht näher
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bekannten Gründen (vgl. Rohr, a.a.O., S. 225–233). Emilie Harmes stand mit Stapfer in einem Briefwechsel, in den auch Jean Paul eingeweiht wurde, wie aus seinen Briefen an Christian Otto vom 21. bis 24. Februar 1798 und vom 18. bis 30. Juli 1798 hervorgeht. Am 24. Februar schreibt er: Sie zeigte mir (…) Briefe von einem Professor Stapfer in Bern, den sie nicht so wohl liebte als heirathen wolte und vor dessen moralisch-edler aber hypochondrischer Seele sie wie ein erhöhter Engel stand (III 3, 46,23–26, Nr 61). Jean Paul scheint ihr jedoch von einer Verbindung mit Stapfer abgeraten zu haben (vgl. III 3, 9,35–107 vom 17.–19.11.1797). Wenig später begann die Phase intensiver Beteiligung Stapfers am zu dieser Zeit stürmisch bewegten politischen Leben der Schweiz. Nach der Eroberung Berns durch französische Truppen am 5. März 1798 wurde er als Sekretär des außerordentlichen Berner Gesandten Samuel Friedrich Lüthardt nach Paris geschickt. Auf Briefe aus dieser Zeit bezieht sich Jean Paul im zweiten der erwähnten Briefe an Christian Otto vom Juli 1798: Was ich aus Stapfers Briefen über die moralische Atonie der Pariser, besonders der Trauerspiel-Direktoren höre, macht, daß man diese Stadt, die bekanntlich ganz auf einem unterhöhlten Boden steht, in ihr Souterrain hinabwünscht (III 3, 76,25–28). Vom Direktorium, der nach französischem Vorbild konstituierten Zentralregierung der »Helvetischen Republik« wurde Stapfer, noch während er sich in Paris aufhielt, zum »Minister der Wissenschaften und Künste, der öffentlichen Bauten und Straßen« berufen. Besondere Verdienste erwarb er sich durch seine Reform des Schulwesens, wohingegen seine Idee, eine Zentraluniversität zu schaffen, scheiterte. Von Sommer 1800 bis zum Ende der Helvetischen Republik 1802/03 lebte er in diplomatischer Mission in Paris. Im Streit zwischen Unitariern und Föderalisten trat er für eine gemäßigt-unitarische Politik ein. Nach dem von Napoleon bestimmten zwischenzeitlichen Rückzug der französischen Truppen aus der Schweiz sowie der nachfolgenden Wiederbesetzung des Landes nahm Stapfer im November/Dezember 1802 an den Beratungen über eine neue Verfassung für die Schweiz teil. In der »Mediationsakte« vom 19. Februar 1803 wurde jedoch nach dem Willen Napoleons eine föderalistische Verfassung festgeschrieben. Der Unitarier Stapfer wurde zum Präsidenten der Liquidationskommission der untergegangenen Helvetischen Republik ernannt. Nach kurzer Tätigkeit legte er dieses Amt nieder. Er zog sich aus der Politik zurück und kehrte als Privatmann nach Paris zurück, der Heimatstadt seiner Ehefrau Marie Madeleine Vincens, die er am 1. August 1798 geheiratet hatte. Zu seinem dortigen Freundes- und Bekanntenkreis zählten im Lauf der Zeit u. a. Benjamin Constant, Alexander von Humboldt und Mme de Staël. In die Schweiz und in seine Heimatstadt Bern, wo ihm von konservativen (»altgesinnten«) Kreisen sein Engagement für die Helvetik vorgeworfen wurde, kehrte Stapfer nur als Reisender zurück. Verschiedene Pläne, in ein Wissenschaftsoder Lehramt in der Schweiz zurückzukehren, zerschlugen sich. 25,20–23 Die ganze Parthei bis ummodeln wollte] Die führenden Politiker der Helvetischen Republik verfolgten im wesentlichen eine unitarische Politik. Die gemäßigten Unitarier, zu denen auch Stapfer gehörte, die sogenannten Republikaner, traten für eine zentrale Staatsführung durch das gebildete Bürgertum ein. 25,24–25 die VermittlungsActe des Allgewaltigen] Gemeint ist die Mediationsakte Napoleon Bonapartes (vgl. Erläuterung zu S. 25,7–19). 25,36 Vaterlandsvertheidigerin] Emilie Harmes bezieht sich auf ihre revolutionskritische Publikation von 1799 »Emilie von Berlepsch an eine Freundin: über die erzwungene Schweitzer-Revolution und Mallet du Pan’s Geschichte derselben«, die als Anhang zur deutschen Übersetzung von Jacques Mallet du Pans »Essai historique sur la destruction de la ligue et de la liberté helvétiques« (London: Spilsbury 1798, ursprünglich in Fortsetzung im »Mercure britannique«) erschienen war (Zerstörung des Schweitzer-Bundes und der Schweitzer-Freyheit; ein historischer Versuch von J. Mallet dü Pan, 2 Bde, Leipzig: Dykische Buchhandlung 1799, die »zweyte Hälfte« führt den Untertitel »Nebst einigen neuen Erörterungen und einem Briefe der Frau von Berlepsch über dies Werk«; der Aufsatz Emilie von Berlepschs auf S. 337–
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448). Der beigegebene politische Essay von Emilie Harmes erschien auch als ein – bis auf das Titelblatt und die Paginierung identischer – Separatdruck unter dem Titel »Einige Bemerkungen zur richtigern Beurtheilung der erzwungnen Schweitzer-Revolution und Mallet dü Pan’s Geschichte derselben« (Leipzig: Dykische Buchhandlung 1799). Jean Paul kannte und schätzte diese Schrift (vgl. III 6, 24,13–15, Nr. 73 vom 9.4.1800 an Emanuel sowie IV 3.1, 214,14–15, Nr 116 und Erläuterung).
26,9–11 Dieses Resignationssistem bis wenig sind] Mit dem Hinweis auf ihre Resignation knüpft Emilie von Berlepsch an Formeln an, durch die sie in Briefen der 1790er Jahre ihr Arrangement mit dem Gedanken der Simultanliebe umrissen hatte. 26,13–14 d a r f ich bis bitten] Jean Paul beantwortete den Brief Emilie von Berlepschs nicht. Auch in seinen von der Beziehung zu ihr unabhängigen Korrespondenzen taucht sie für längere Zeit nicht auf. Es bleibt wohl unentscheidbar, ob dies äußere Gründe hatte, oder ob es daran lag, dass Jean Paul sich zunächst weigerte, die emotionale VorabRechnung Frau von Berlepschs zu akzeptieren. Als sie dann im Dezember 1809 ihren Besuch in Deutschland ankündigt, spricht er sie (unter Hinweis auf ihre die Schweiz betreffenden Schriften) als »Vordichterin eines schweizerischen Festes« an und heißt sie als solche zunächst in der »deutschen Schweizerei« willkommen (III 6, 74, Nr. 206). Damit deklariert er im Horizont der politischen Rahmenbedingungen der Korrespondenz* sein Territorium im literarischen Feld als Provinz des ihrigen. Der letzte Brief, den er an sie schreibt, nimmt dieses Zugeständnis dann jedoch wieder energisch zurück und reklamiert einen exklusiven Schreibraum für sich:» […] versprechen Sie sich – zwar von meiner Frau und meinen Kindern vielerlei, ja viel – aber von dem wenig, der harten Sinnes, nur dem Publikum gibt und wenig andere Freuden mehr hat als die, bis zum Sterben zu schreiben und nicht blos von der Feder sondern auch für die Feder zu leben, müßt’ er sie sogar in eignes Blut eintunken« (III 6, 85,23–28, Nr. 223). Der eigentliche Grund für den Abbruch der Briefbeziehungen scheint indes in Äußerungen Emilie von Berlepschs über Jean Pauls Trinkgewohnheiten gelegen zu haben, Bemerkungen, die er ihr mit Ingrimm über Jahre hinweg nachtrug (vgl. III 6, 163,1–6, Nr. 410 und S. 333,33– 334,7, Nr. 775). 26,24–25 Ihrem bis Kreise] Gemeint sind die Bayreuther Freunde Jean Pauls, besonders Christian und Amöne Otto sowie Emanuel.
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2. Metaphilologische Analyse Abwägung der philologischen Optionen Um im Kommentar die Realien der ›Simultanliebe‹ angemessen zu repräsentieren, muss einerseits die Textkonstitution alle Optionen der Lesbarkeit bereitstellen und auch in Zweifelsfällen der Normierung (»an einander« / »gegen einander« versus »aneinander« und »gegeneinander«) die Lesart mit der höheren Optionalität bevorzugen. Der Kommentar als offenes System bleibt namentlich in Richtung Interpretation unabgegrenzt und kann die damit verbundene Subjektivierung des Kommentierens im Sinne einer unabschließbaren Approximation auch in Kauf nehmen, sofern Grund- und Differentialkommentar hinreichend unterscheidbar bleiben. Denn auch der Differentialkommentar mit interpretierender Tendenz kann Ergebnisse hervorbringen, die für die basale philologiesche Zuordnung eines Dokuments relevant sind (im vorliegenden Falle zum Beispiel die Adressierung des Schreibens betreffend, vgl. den spezifischen Kommentar zu IV 5, S. 23,25– 26). Je größer indes der Spielraum ist, der dem Kommentator in seiner Ausleuchtung der Hintergründe zugestanden wird, desto dringlicher wird die Frage, wie er sich selbst als Subjekt in diesem philologischen Experimentalsystem positioniert und welche Auswirkungen dies auf den Gegenstand des allgemeinen und spezifischen Kommentierens hat. Problem der Unhinterhegbarkeit Unabhängig davon, ob die philologische Frage, die an eine Liebesbriefkultur gerichtet wird, nun auf die in den Briefquellen mitgeteilte Erfahrung der Liebe und die Formen ihres Ausdrucks abzielt, auf die Realität des sozialen Lebens oder auf die Verflechtung des Liebesgesprächs mit anderen Diskursen, so gibt es doch eine Eigenschaft der betrachteten Texte, die sich der philologischen Repräsentation grundsätzlich zu entziehen scheint: die Eigenschaft des Intimen selbst. In dem Moment, in dem das Intime repräsentiert wird, verflüchtigt sich ja offenbar die Intimität. Muss dem Philologen, der das Intime ergründen will, das Wichtigste zuletzt also doch notwendigerweise entgehen? Zweifellos bleibt der Philologe dabei auf die Materialität der Texte angewiesen,2 und jeder Versuch, diese Grenze zu umgehen, scheint in aporetische Konstellationen zu führen. Ein weiteres Beispiel mag dies verdeutlichen. Innerhalb des Briefcorpus der ›Simultanliebe‹ ist die Überlieferungslage vor allem bei den durch Kriegseinwirkung verschollenen Briefen Charlotte von Kalbs an Jean Paul prekär. Über weite Strecken wird die Verlust-Erfahrung 2
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In dieser Hinsicht hat die Frankfurter Ausstellung über den Brief als Ereignis & Objekt in der Tat über das reichhaltige Anschauungsmaterial hinaus einen epistemologischen Meilenstein gesetzt.
(der Handschriften) dem Nutzer und auch dem Philologen, hat er sich einmal damit arrangiert, kaum bewusst, weil ja die Folie, vor der sich bestimmte Lesungen, Auslassungen, Konjekturen etc. problematisieren ließen – also eben die Handschrift –, nicht mehr zur Verfügung steht. Umso deutlicher aber macht sich die Überlieferungs-Leerstelle dann bemerkbar, wenn zwei abweichende Druckversionen vorliegen. Dies ist bei den ersten Briefen Charlotte von Kalbs an Richter relativ häufig der Fall und führt stets zu editorischen Kompromissen, da manchen Drucken zwar eine höhere Zuverlässigkeit zugestanden werden kann als anderen,3 dies aber nicht ausschließt, dass bei abweichenden Lesarten doch dem insgesamt unzuverlässigen Textzeugen der Vorzug gegeben werden muss. Die Briefe Charlotte von Kalbs nach 1800 sind dann aber zum größten Teil nur noch in einem – sozusagen konkurrenzlosen – Druck überliefert. Eduard Berend, der die verschollenen Briefe zu Beginn seiner Arbeit noch einsehen konnte, hat in seinem Handexemplar in vielen Fällen falsche Lesungen des jeweiligen Druckes korrigiert. Berend verfuhr bei dieser Praxis aber relativ großzügig und pragmatisch. Eine Verzeichnung der Korrigenda nach historisch-kritischen Kriterien beabsichtigte er ganz offensichtlich in diesem Zusammenhang nicht, konnte er damals doch den Verlust der Handschriften noch nicht voraussehen. So blieb denn auch im Brief Charlotte von Kalbs vom 30. Juni 1806 eine als unsicher ausgezeichnete, von Berend nicht korrigierte Lesung eines Namens stehen. Nerrlichs Version der entsprechenden Passage lautet: Das beiliegende Büchlein schickt Ihnen Erichson aus Stralsund, der Herausgeber dieser Gedichte, Anselm (?), ist Sinclair, der in Stuttgart verhaftet war. Alles was ich Ihnen von Lucian sagen könnte, wäre unbedeutend gegen das Urtheil Ihres scharfen Geistes. Aber E. hat mehr Eigenheit und Seelenkraft, als er hier ahnden läßt. Gedenken Sie seiner nicht eilend, reichhaltig und ernst; er wünscht Ihre persönliche Bekanntschaft; Sie sehen ihn vielleicht, wenn ich ihn vermissen werde.4
Die inhaltliche und biobibliographische Erschließung der in dieser Briefpassage angesprochenen Zusammenhänge macht die Lesung des Namens, bei der sich Nerrlich, wie das eingeklammerte Fragezeichen deutlich macht, nicht sicher war, nicht allein unwahrscheinlich, sondern scheint vielmehr sogar eine ›Rekonstruktion‹ des Namens zu erlauben, die auch die Fehllesung des älteren Editors plausibel macht: Bei dem von Erichson herausgegebenen »Büchlein« handelte es sich um die Schrift Glauben und Poesie. Zum Frühlinge des Jahres 1806. 3
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Im Falle der Kalb-Briefe ist im Allgemeinen die Ausgabe Paul Nerrlichs (Briefe von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin, Berlin 1882) als zuverlässiger zu betrachten als die Drucke in Wahrheit aus Jean Paul’s Leben (8 Bände, Breslau 1826– 1833) und Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter. Zur Feier seines hundertjährigen Geburtstags (4 Bände, München 1863); vgl. hierzu IV 2, 612–613, einleitende Erläuterung zu Nr. 74. Kalb, S. 130, vgl. IV 5, 130,12–19.
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Eine Sammlung von Dichtungen, und Bruchstücken in Prosa, von mehreren Verfassern, herausgegeben von Lucian.5 Der im Brieftext erwähnte, mit Charlotte von Kalb befreundete vormalige Hölderlin-Vertraute Isaac von Sinclair hat darin unter dem Pseudonym »Crisalin« »Gedichte nebst einer Abhandlung über dichterische Composition überhaupt, und über Lyrische insbesondere« publiziert.6 Die Fehllesung »Anselm« anstelle von »Crisalin« wird nachvollziehbar, wenn man sich beide Namen in Kurrentschrift geschrieben vorstellt: Das C und das A sind dann ebenso leicht verwechselbar wie das n und das r; da Charlotte von Kalb – ausweislich der Handschriften, die von ihr überliefert sind, häufig nachlässig in der Applikation von i-Punkten ist, ist es möglich, dass auch am Ende des Namens die Varianten »in« und »m« kaum unterscheidbar gewesen sind. Somit bliebe einzig das Binnen-i erklärungsbedürftig, das aber in Charlotte von Kalbs Handschrift sehr unauffällig sein konnte. Die gedankenexperimentelle Rekonstruktion der Handschrift macht es also sehr wahrscheinlich, dass Nerrlich Charlotte von Kalbs schwer leserliche Züge an dieser Stelle falsch gelesen hat. Die ›korrekte‹ Gestalt der Handschrift lässt sich – gleichsam mit den Chiffren der Unleserlichkeit (zum Beispiel den fehlenden i-Punkten) – rekonstruieren, der Text an dieser Stelle wiederherstellen, obwohl die Handschrift verschollen ist. Die Problematik eines solchen Verfahrens beruht nicht auf einem Defizit an Wahrscheinlichkeit. Es ist vielmehr der Raum möglicher Abweichungen, aus dem heraus die S(elbst)sicherheit philologischer Eingriffe bedroht wird. Denn es sind ja gerade die Abweichungen, Verschreibungen, Verzerrungen, die das philologische Studium (auch und gerade von Liebesbriefkulturen) unumgänglich machen. Eine mutmaßlich solcherart von Abweichungen gezeichnete, vielleicht sogar entstellte Stelle zu normieren, sollte also zumindest den philologischen Möglichkeitssinn des Editors zur Reflexion aufrufen. An dieser Stelle münden nun die aus spezifisch philologischen Fragen hervorgehenden Überlegungen ganz offensichtlich in den Strom der Grundfragen jener Theorien, die sich mit den Konsequenzen der technischwissenschaftlichen (industriellen und ›medialen‹ Moderne) insgesamt beschäftigen.7 Ihre innere Dynamik erhalten diese Überlegungen an der aktuellen Stelle durch die Tatsache, dass sie sich an dieser Stelle auf einen verschollenen Textzeugen beziehen, der durchaus an einem bislang unbekannten Ort wieder auftauchen könnte.8 Die Autographen der Buchstabengruppen von »His« bis 5 6 7
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Berlin [ohne Verlagsangabe] 1806. Ebd. S. 101–244. Zum Begriff der medialen Moderne vgl. Claus-Artur Scheier, Bilder, Etyms, Icons – philosophische Bemerkungen zur Optik der Postmoderne. In: Umstrittene Postmoderne. Lektüren, hg. von Andrea Hübener, Jörg Paulus und Renate Stauf, Heidelberg 2010, S. 47–60. So haben z.B. Jacques Lacan und Jacques Derrida bekanntlich eine ihrer zentralen Debatten über die Frage ausgefochten, in welcher Form ein Brief anwesend und ab-
»Kri« der im Krieg ausgelagerten Sammlung Autographa der ehemaligen preußischen Staatsbibliothek sind ja nicht ein für allemal als vernichtet zu betrachten, die Kiste mit den entsprechenden 15 archivalischen Kästen ist vielmehr nach wie vor als nur vorläufig vermisst anzusehen.9 Auch der i-Punkt jenes Schriftzugs, der vor über 100 Jahren von Paul Nerrlich mit Vorbehalt als »Anselm« entziffert wurde und der sich – mit weiteren Vorbehalten – als »Crisalin« auflösen lässt, existiert demnach in mutmaßlicher Unauffälligkeit auf dem Papier (und auch diese mutmaßliche Unauffälligkeit kann sehr unterschiedliche Modifikationen haben: er konnte von Frau von Kalb vergessen oder verschoben oder unterdrückt worden sein, er kann aber auch verblasst sein) an einem unbekannten Ort weiter, er kann aber auch an einem gleichfalls unbekannten Ort nach 1946 dann doch der Realpräsenz entrissen worden sein – sei es durch Feuer oder Wasser oder andere auflösende Prozesse. Liebesbriefe und Lebensformen Stößt hier nun der Versuch, Textkonstitution und Kommentar im DoppelRahmen von Philologie (Edition) und Kulturwissenschaft (des Liebesbriefs) zu fixieren, endgültig an seine Grenzen? Die Philologie kennt dieses Lied freilich schon aus der alltäglichen Praxis und muss es sich nicht unbedingt vorsingen lassen. Aus der obigen Analyse von Textkonstitutions- und Kommentierungsprozessen ergibt sich, dass Liebe und andere Gefühle nur im jeweiligen Zusammenhang verifizierbar und (optional) repräsentierbar sind. Wovon die Korrespondenten reden, wenn sie von Liebe reden, weiß mit letzter Gewissheit weder der Empfänger noch der Editor. Näheren (und doch auch dabei nur näherungsweisen) Aufschluss kann in erster Linie die Erschließung der Kontexte liefern, deren textuelles und außertextuelles Feld mit
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wesend sein kann und in welcher Weise diese An- und Abwesenheit mit dem Erkennen des Briefobjektes als Mitteilungsmedium verknüpft ist. Bezugspunkt für beide ist dabei Edgar Allan Poes Erzählung The purloined letter (»Der entwendete Brief«). Die Differenz zwischen den beiden Autoren liegt letzten Endes in der unterschiedlichen Auffassung von der Möglichkeit eines umfassenden Rahmens, in dem das Zirkulieren der Signifikanten, es finde nun auf Briefpapier oder auf bzw. in anderen Medien statt, sich endlich doch abschließen lasse. Während Lacan an der Annahme eines solchen Rahmens festhält und damit, wie Stefan Winter ausgeführt hat, zugleich einem Motiv der klassischen Moderne verhaftet bleibt, »öffnet Derrida die Kreisbahn des Signifikanten auf ein Schriftereignis, das disseminiert, offen ist für die Abdrift und den Zufall, den unabsehbaren Effekt.« Auch die philologische Suche sucht in diesem Sinne »Spuren von Spuren, Verweise auf Verweise ohne eine letzte Ankerung« und muss anerkennen, »dass die symbolische Ordnung selbst […] geschichtlich in Bewegung ist« (Stefan Winter, Auf den Spuren der Sprache. Lacans Poe-Lektüre. In: Umstrittene Postmoderne, S. 119–132, hier S. 132). Zum »Schicksal der Sammlung Autographa« vgl. Helga Döhn, Die Sammlung Autographa der ehemaligen preußischen Staatsbibliothek zu Berlin. Autographenkatalog auf CD-Rom, Wiesbaden 2005, S. 21–32 (die Seitenangabe bezieht sich auf den dazugehörigen Dokumentationsband).
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Wittgensteins Begriff der Lebensform beschrieben werden kann:10 Gefühle haben Familienähnlichkeiten in einem Sprachspiel, das als Teil einer Lebensform betrachtet werden kann. Um es an die liebesbriefphilologische Frage nach Schreibanlässen zurückzubinden: Eine der Stimmen in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen bemerkt zur Mitteilung des Intimen: Warum will ich [einem Anderen, Anm. J.P.] außer dem, was ich tat, auch noch eine Intention mitteilen? – Nicht, weil die Intention auch noch etwas war, was damals vor sich ging. Sondern, weil ich ihm etwas über mich mitteilen will, was über das hinausgeht, was damals geschah. Ich erschließe ihm mein Inneres, wenn ich sage, was ich tun wollte. – Nicht aber auf Grund einer Selbstbeobachtung, sondern durch eine Reaktion (man könnte es auch eine Intuition nennen).11 10
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Ob die Philologie aus diesem Grund auch weitergehende Ansprüche auf den LebensBegriff erheben sollte, bleibt freilich zu diskutieren. Zuerst war es Ottmar Ette, der 2004 im Namen der Philologie Einspruch erhob gegen die wissenschaftliche Usurpation des Lebensbegriffs im Zeichen der sogenannten life sciences. Auf der Ebene des Lebenswissens überschneide sich eben auch Wissenschaft und Literatur, welche »Heterotopien des Wissens« bildeten, die sich nicht einfach dem einen oder anderen Bereich zuordnen ließen. Als »Horizontbegriff« stelle Lebenswissen vielmehr »disziplinäre Grenzziehungen« in Frage und fordere uns auf, als integralen epistemologischen Bestandteil auch das literarische Wissen einzubeziehen (vgl. Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004, insbes. S. 14–20). Toni Tholen hat daran anschließend in einem programmatischen Beitrag zum Jubiläumsheft der Germanisch-Romanischen Monatsschrift, das der wissenschaftsvitalisierenden Wechselwirkung von Philologie und Kultur gewidmet ist (vgl. den einleitenden Text Philologie und Kultur. 100 Jahre ›Germanisch-Romanische Monatsschrift von Renate Stauf und CordFriedrich Berghahn, S. 9–13, bes. S. 11) den Stand der Diskussion zusammengefasst und erweitert. Sein Aufsatz trägt den Titel Philologie im Zeichen des Lebens und fordert erneut, die Philologie solle sich auf der Basis ihres »ungeheuer vielfältige[n] und breite[n]« Lebenswissens als eine relevante kulturelle Praxis in der Gegenwart situieren. Tholen schlägt im Anschluss an Giorgio Agamben vor, Philologie als »Lebens-Form« – bei Agamben anders als bei Wittgenstein getrennt und mit Bindestrich geschrieben – zu reformulieren, worin der unheilvolle Prozess einer Aufspaltung des Lebens in ungeformtes, bloßes Leben – zoé – und verwaltetes, politisch geformtes Leben – bios – überwunden wäre, also jene Unterscheidung, die Agambens ganze Philosophie grundiert (vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main 2002, S. 11–13; Agamben: Lebens-Form. In: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg 2001, S. 13–20). Als grundlegende philologische Praktiken innerhalb dieser Lebens-Form betrachtet Tholen Lesen und Schreiben. Der ideale Leser bildet sich dabei für ihn nach Maßgabe der wiederum an einer Proust-Lektüre formierten Ideal-Leserfigur von Roland Barthes. Dessen »Vorstellung des Lesens als kulturelle Praxis ziele vor allem darauf, durch die Arbeit der unentwegten Differenzierung und Nuancierung Texte sprechend zu machen, und zwar vor allem daraufhin sprechend zu machen, wo in ihnen die Praktiken, aber vor allem auch die Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume sowie die Affekte sichtbar, hörbar und genießbar werden, die ein Leben jenseits von Macht und Zwang ermöglichen« (Tholen, Philologie im Zeichen des Lebens, S. 60). Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/Main 1980 (zuerst 1970), S. 264 (Nr. 659).
Der Liebesbriefphilologe kann aufgrund der hier zugrundeliegenden Argumentationsfigur, die Wittgenstein an anderer Stelle auch gegenüber der Mitteilbarkeit generell geltend macht,12 entweder vom Wunsch nach philologischer Repräsentation von – zum Beispiel – Schreibanlässen – Abstand nehmen; er kann das sprach- und briefspielerische Herauskonturieren von Schreibanlässen aber auch als Teil eines Sprachspiels im Sinne Wittgensteins begreifen. Wenn er, der Philologe, dies aber tut, so kann er dies nicht, indem er sich selbst aus dem Sprachspiel ausnimmt. Wenn man Liebeskorrespondenz stets als eine lebenshermeneutische Praxis wird ansehen müssen, worin die Auslegung des Empfängers die Korrespondenz modelliert und sowohl dem Geschriebenen wie dem künftig zu Schreibenden seine wirkende Gestalt gibt, dann wird sich auch der Editor als Akteur begreifen müssen. Das Dilemma der Undarstellbarkeit des Intimen löst sich auf diese Weise durch intime Partizipation: Der Philologe erhält die Intimität insofern aufrecht, als er die Dokumente der Intimität überliefert, indem er sie erhält und somit die Bedingungen der Möglichkeit, ihre Intimität zu wahren, wahrt. Er rechtfertigt sein Tun als ein aktiv beteiligtes Aufspüren und Auslegen von »Spuren wohlgehüteter Intimität«. Blicken wir von hier aus noch einmal zurück: Als Resultat der theoretischen Vorüberlegungen wurde im Anfangsteil dieser Arbeit für die beiden grundlegenden philologischen Praktiken, die Textkonstitution und das Kommentieren, eine Ambiguität bestätigt, ein Auseinandertriften von (editions)philologischen Kulturen, das besonders deutlich wird, wenn man nach der epistemologischen Relevanz von Emotionen, Intuitionen, Gefühlen fragt. Die Suche nach einem epistemologischen Paradigma, in dem sich die jeweiligen ›blinden Flecken‹ oder vielmehr ›blinden Sehfelder‹ der unterschiedlichen philologischen Kulturen wieder zusammenführen ließen, erschien zunächst aussichtslos, weil die sich bekriegenden Positionen ja jeweils in einem der beiden philologischen Grundtätigkeitsbereiche das ausgleichen wollen, was im anderen defizitär bleibt. Die Hypothese vom Abbruch scheint sich somit zu bestätigen. Aus dieser Situation heraus wurde die Philologie von Liebesbriefen als mögliches Experimentalfeld ins Visier genommen, in dem sich Lebenshermeneutik und Wissenschaft wieder annähern könnten. Bei der Hermeneutik des Liebesbriefs liegt ein Spezialfall vor: Die philologischen Verstehensprozesse sind schlechterdings nicht rekonstruierbar, wenn nicht eine Interaktion der epistolaren und der editorischen Verstehensprozesse mitgedacht wird. Im weiteren Rahmen habe ich zuletzt nun, ähnlich wie Ette und Tholen, diese Erkenntnis als Formation des Wittgenstein’schen Konzeptes von Mitteilungen im Rahmen einer Lebensform gedeutet. Im Rahmen einer historischen 12
Vgl. ebd., S. 159, Nr. 298, S. 174, Nr. 348, u.ö. (vor allem im Kontext des sog. »Privatsprachenarguments«).
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Epistemologie der Philologie lässt sich die notwendige Interaktion der Felder freilich noch konkreter zuordnen, nämlich als spezifisch philologische Praxis eines Netzwerkes von bisher streng geschiedenen Aktanten. In den Analysen der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die Interaktion zwischen Philologie, Kultur- und Literaturgeschichte sowie den Gegenständen, mit denen sich diese Disziplinen beschäftigen (den »Geschichten«), neu zu verteilen. Zum Mittelsmann wurde dabei der wissenschaftsgeschichtlich zeitweise an den Rand gedrängte Editor gemacht, der zugleich Literaturhistoriker und eine Art »Teilnehmer« am Briefwechsel ist, um ihn zu verstehen. Für die epistemologische Form dieser Teilnahme des Editors an der Lebensform dessen, was er ediert, woraus seinerseits eine (wissenschaftliche) Lebensform hervorgeht, soll nun abschließend ein Modell vorgeschlagen und dessen Prämissen deklariert werden. Brief-Akten und Akteure Die auf Bruno Latour, Steve Woolgar und Michel Callon zurückgehende Actor Network Theory wird häufig als dezidiert konstruktivistischer Ansatz interpretiert.13 Sie lässt sich demgegenüber aber auch als eine vermittelnde Position deuten, worauf sich ein theoriebildender Ansatz gründen ließe, um die verschiedenen Ebenen, um die es in der vorliegenden Arbeit geht (Gefühlskultur versus Kommentiertechnik), aufeinander zu beziehen. Wie in den Arbeiten von Hacking und Lorraine Daston14 geht es auch bei Latour um eine Rehabilitation des Blicks auf die wissenschaftliche Praxis gegenüber der Theoriedominiertheit der Wissenschaftstheorie Thomas Kuhn’scher Prägung. Dieser Ansatz steht im Hintergrund dessen, was in der vorliegenden Arbeit versucht wurde: eine Philologie der Intimität als philologisches Experimentalsystem zu analysieren. 15 Latour selbst hat seine Feldforschungen vor allem im Bereich der Lebenswissenschaft angestellt, so zusammen mit Steve Woolgar in Laboratory Life, einem Bericht über die Praktiken in einem endokrinologischen Institut in Kalifornien, später dann am historischen Beispiel der Debatte zwischen Pasteur und Pouchet über die spontane Entstehung von Lebensformen.16 Das besondere Interesse Latours gilt dabei dem, was normalerweise als die »Objekte« der Wissenschaft, angesehen wird, die bei ihm aber gerade nicht als Objekte betrachtet werden; Menschen und Nichtmenschliches sind vielmehr 13 14 15 16
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Vgl. Collin: Konstruktivismus, S. 78–86. Zuletzt und besonders eindrücklich: Lorraine Daston und Peter Galison, Objektivität, Frankfurt/M. 2007. Vgl. Rheinberger, Historische Epistemologie, S. 120. Bruno Latour, Steve Woolgar, Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Princeton 1979; Bruno Latour, The Pasteurization of France, Cambridge 1988 (zuerst u.d. Titel Les microbes: guerre et paix suivi de irréductions, Paris 1984).
gleichberechtigte Akteure. Für Latour sind dabei, entsprechend seinen Untersuchungsbereichen, die nichtmenschlichen Akteure zumeist technische oder ökonomische Gegenstände: Geld, Apparate, wissenschaftliche Instrumente, aber auch Mikroben und Moleküle. Die menschlichen und nichtmenschlichen Akteure verbünden sich zu Netzwerken, die in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander stehen – Latour spricht von einer »symmetrischen Anthropologie«.17 Im Beispiel, durch das Latour berühmt wurde: Pasteur hat sich mit den Glaskolben und den Mikroorganismen verbündet, um die Französische Akademie von der Wahrheit seiner Hypothese, organisches Leben könne nur aus lebendem Material entstehen, zu überzeugen. Im Sinne dieses Ansatzes beantwortet Latour die Frage: »gab es […] Fermente [im obigen Beispiel müsste man sie durch Mikroben substituieren], bevor Pasteur sie gestaltete» mit »Nein, sie existierten nicht«18, doch gegenüber all jenen, die ihn auf Grund solcher Aussagen auf einen radikalen Konstruktivismus festlegen wollen,19 verweist Latour auf das entscheidende Wort »gestalten«: er will gerade die »Aufspaltung zwischen ontologischen und epistemologischen Fragen« aufheben: Pasteur macht seine Mikroben und die Mikroben machen ihren Pasteur.20 Auf dieser Ebene könne vielmehr, so Latour, der »Realismus […] mit Macht zurück[kehren]«:21 »Pasteur autorisiert die Hefe [bzw. die Mikroben], ihn zu autorisieren, in ihrem Namen zu sprechen.«22 Damit eröffnet sich für Latour der Blick auf ein Ensemble von Praktiken, in dem die moderne »Trennung der natur-, sozial- oder geisteswissenschaftlichen Reflexion der betreffenden Sachverhalte grundsätzlich in Frage« steht.23 Die narrative Form der Darstellung, die sich (nicht durchgängig, aber häufig) an das erzähltheoretische Vokabular von Greimas bzw. Propp anlehnt, sind ein schlagkräftiges Indiz hierfür: Unsere Welt ist, so Latour, von Netzwerken durchzogen, die »gleichzeitig real wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft sind.«24 In diesem Sinne lassen sich nun jedoch auch soziale Zusammenhänge als Räume hybrider Akteur-Ensembles (Menschen und Dingen) begreifen: »Nichtmenschliche Entitäten stabilisieren soziales Aushandeln. Sie sind gleichzeitig geschmeidig und dauerhaft; sie sind rasch
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Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/M. 2007. Bruno Latour, Die Geschichtlichkeit der Dinge. Wo waren die Mikroben vor Pasteur? In: Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 175 bzw. 177ff (Mikroben). Vgl. Collin, Konstruktivismus, S. 86. Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 25. Ebd. Ebd., S. 160. Rheinberger, Historische Epistemologie, S. 125. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 14; vgl. hierzu auch Rheinberger, Historische Epistemologie, S. 125.
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formbar und, sobald sie einmal da sind, sehr viel langlebiger als die Interaktionen, in denen sie hergestellt worden sind.«25 Projiziert man die Thesen Latours auf die doppelte Fragestellung dieser Arbeit, die sich auf Gefühlskultur und Editionstechnik bezieht, so eröffnet sich aus meiner Sicht folgende Möglichkeit: Die Actor Network Theory kann in doppelter Hinsicht für eine Philologie der Intimität bzw. der Gefühlskultur fruchtbar gemacht werden: einerseits dient sie der Beobachtung der philologischen Arbeitsweise im Umgang mit den philologischen Objekten (in diesem Falle Briefen, Tagebüchern und anderen Dokumenten der Gefühlskultur), andererseits liegt sie der Beobachtung der Akteure zugrunde, die sich in diese Objekte der Gefühlskultur inskribiert haben26 – das sind zum einen sicherlich die Liebenden selbst; aber diese Akteure sind nach Latour’schen Begriffen eben nicht nur die Subjekte der Leidenschaften und gedämpften Gefühle, sondern auch die Akteure, auf deren Rücken diese Gefühle ausgetragen werden und die sie ihrerseits ermöglichen: Schriftstücke, Postkutschen, Boten und so weiter. Diese Perspektive mag als vorläufige Begründung hinreichend sein, Akte des Kommentierens von Akten der Liebe (Liebesbriefen) beziehungsweise Akten der Freundschaft im Rahmen eines philologischen Experimentalsystems aufeinander zu beziehen und dabei die genannten Materialien, Umstände, Bedingungen und dergleichen als Aktanten im Sinne Latours miteinzubeziehen. Der Fragenkatalog des Braunschweiger Forschungsprojektes zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs kann in dieser Perspektive als ein komplexes Schema Latour’scher Prägung gelesen werden, in dem zum Beispiel die »Frage nach der in den Briefquellen mitgeteilten Erfahrung der Liebe und nach den Formen ihres Ausdrucks« und die »Frage nach dem Verhältnis zwischen der Erfahrung der Liebe und der Realität des sozialen Lebens« durch zahlreiche materielle und nichtmaterielle, menschliche und nichtmenschliche Akteure vermittelt werden. All dies wäre nun aber natürlich auch ohne Latour möglich. Der produktive Schritt ergibt sich erst dann, wenn die beiden Ebenen miteinander verbunden werden, wenn das Netzwerk des Kommentierens und das Netzwerk, das dem Kommentar als zu Kommentierendes gegenübersteht (also das Netzwerk der Gefühlskultur) miteinander korrespondieren und ein neues Netzwerk bilden.27
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Latour, Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen. In: Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 257. Von Vorgang der Inskription handeln Latour und Woolgar in Laboratory Life. Ein neues Netzwerk entsteht in der Actor Network Theory immer aus bereits existierenden, indem sich deren Interessen ›verbünden‹ so wie sich diejenigen der Mikroben mit denen Pasteurs verbündet hätten.
Was sich abstrakt anhört, hat nun in der Tat praktische Konsequenzen für die Kommentiertechnik: Betreibt man die Kommentierung von Ereignissen und Objekten der Gefühlskultur als eine Tätigkeit in einem Netzwerk, dann werden die Aktanten auf der Ebene des Kommentierten (die Briefe, ihre Schreiber und Schreiberinnen, deren beigelegte Haarlocken, ihre Boten und deren Fahrzeuge) zu Akteuren auf der Ebene des Kommentars, deren Forderungen auf dem ganzen Feld ihres Netzwerks erfüllt werden müssen. Wenn also (um zunächst ein Beispiel anzuführen) einem Brief um 1800 ein Wechsel beigelegt ist, so wird es zum Interesse des Kommentators, diesen Wechsel eingelöst zu sehen (im Kommentar) – und das heißt: seinen Weg so weit wie möglich zu verfolgen bzw. dort, wo sich die Spur, die »Inskription«, verliert, den Ort des Versickerns zu benennen. Der Kommentator wird gleichsam an den Einnahmen und Ausgaben der Akteure, mit denen er sich verbündet, beteiligt. Ein solches Verfahren mag in der etablierten Editionspraxis noch mehr oder weniger üblich sein, solange es um fällige Wechsel und dergleichen geht, da inzwischen auch in der Edition von Schriftsteller- und MusikerBriefwechseln die Tendenz als überwunden gelten kann, die Ökonomie zu vernachlässigen. Erstaunlicherweise aber haben sich die Editoren reziprok zu dieser Tendenz weitgehend aus der Kommentierung von Sachverhalten der Gefühlskultur zurückgezogen: an die Stelle des »pecunia olet« scheint die Scheu vor einer editorischen Verletzung von Gefühlen getreten zu sein. Genau hier aber wäre aus der Sicht einer editorischen Netzwerktheorie der Gefühle und des Kommentierens Einspruch zu erheben: der Kommentator hätte demnach ebenso der Anwalt der im Briefwechsel ausgetauschten Emotionen zu sein wie der Verwalter der zirkulierenden Gelder. In kaum einem kritischen Kommentar wird man eine Verzeichnung von Affekt-Relationen finden, obgleich der Ausdruck eines Gefühls in einem Brief nicht weniger stringent eine positive oder negative Einlösung erfordern kann als ein Wechsel. Freilich ließe sich einwenden: eine solche Ausweitung philologischer Nachweise auf Sachgehalte und Ereignisse der Gefühlskultur wäre auch ohne Rekurs auf ein Netzwerk-Konzept möglich und dieser Weg im Sinne einer szientifischen Ökonomie ausreichend. Dem wäre aber wiederum entgegenzuhalten, dass gerade mit den theoretischen Prämissen der Actor Network Theory die Möglichkeit gegeben ist, eine solche Ausweitung auch ohne den Rechtfertigungsdruck, den die Ontologie gegenüber der Epistemologie ausübt, vertreten zu können. Denn eine epistemologische Status-Differenz zwischen Akten und Akteuren des Gefühls und, zum Beispiel, der Ökonomie wird dabei hinfällig. Als die praktische Erprobung einer solchen statusneutralen Ausweitung des Kommentarbereichs ins Feld der Gefühlskultur unter der Frage, welche
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Akteure und Ressourcen dafür mobilisiert werden müssen und können, können die philologischen Analysen dieser Arbeit angesehen werden.
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III.2 Coda: »Aus einem Glase ins andere gießen«
1. Folgen einer Briefbegegnung Zwischen den beiden Kronzeugen der vorliegenden Arbeit – Jean Paul Friedrich Richter als dem Kronzeugen der intimen Briefkultur und August Böckh als dem Kronzeugen der Philologie – ist es nur in einer kurzen Phase der Jahre 1809 und 1810 zu einem Briefaustausch gekommen. Der Briefwechsel ergab sich aus Jean Pauls Mitarbeit an den Heidelbergischen Jahrbüchern (ab 1818 Heidelberger Jahrbücher), für die Böckh in seiner Heidelberger Zeit als Redakteur der fünften Abteilung tätig war. Von der Gesamtkorrespondenz sind insgesamt nur drei Briefe Richters überliefert und diese auch nur in Drucken aus der Zeit um 1900.1 Böckhs Briefe an Jean Paul müssen insgesamt als verschollen gelten. Ergänzt man den Drucktext der Jean-Paul-Briefe an Böckh durch die Abweichungen, die Eduard Berend in der HKA durch Abgleich mit Richters Brief-Kopierbüchern verzeichnet hat, lassen sich erneut kleine Gangunterschiede verzeichnen, die auf Unterschiede in der Wahrnehmungsweise und Diskursivierung von unterschwelligen Sachverhalten hinweisen, welche in den Briefen zu Ereignissen geworden sind. Zumindest die ersten dieser Briefe sind Dokumente eines Versuchs von Richters Seite, sich gegen Unheil abzusichern, das ihm vom publizistischen Leben her drohte. Solches Unheil war zu gewärtigen – und darauf hatte Böckh offenbar in einem vorausgehenden, nicht überlieferten Brief offenbar hingewiesen –, weil Richter in einer nach Heidelberg gelieferten Rezension von Friedrich de la Motte-Fouqués unter Pseudonym erschienenem Roman Alwin2 Friedrich Schlegel in eine unrühmliche Gesellschaft gestellt hatte: die Gesellschaft von Ästhetikern und Philologen, die aus ihrem Kunstverstand zugleich die Fähigkeit ableiteten, selbst Kunstwerke produzieren zu können. Böckh hatte Richter nun offenbar da-
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Reinhold Steig, Zeugnisse zur Pflege der deutschen Literatur in den Heidelberger Jahrbüchern. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 11, 1902, S. 180–284, hier S. 212–213, 219, 243. [Friedrich de la Motte-Fouqué], Alwin. Ein Roman in zwey Bänden von Pellegrin, Berlin: Braunes 1808.
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rum gebeten, den Namen Schlegels aus dieser Reihe herauszunehmen. Richter antwortete ihm am 31. Mai 1809: Sehr gern streich’ ich den Namen SCHLEGEL aus der Rezension. Nicht einmal meinen Feinden mag ich weher thun als es literarisch nothwendig ist; geschweige einem Manne wie Schlegel, dessen seltenen Kunstgeist ich so achte und den ich persönlich kenne.– So wie ich aber gerechten Tadel über mich nicht verzeihend aufnehme, sondern dankend: so setz’ ich freilich dieselbe Aufnahme [Gesinnung K] meiner wolwollenden Rügen zu leicht bei andern voraus.3
Da Richter dann aber auf dieses sein briefliches Einlenken in den folgenden Wochen keine Antwort von Böckh erhält, schreibt er sieben Wochen später in großer Besorgnis erneut nach Heidelberg: Verehrtester Herr Professor! Den 31. Mai hab ich Ihr gütiges Schreiben beantwortet. Da[her] […] vermuth’ ich, daß mein Brief, da der Krieg alles, also auch Briefe nimmt, nicht angekommen. Ich wiederhole ihn gern, da mir soviel an der Erfüllung Ihres Wunsches liegt, daß der Name SCHLEGEL aus der Rezension weggelassen werde. Er kam ohne bittere Beziehung hinein, da ich ihn als Kritiker und jetzt besonders als Mensch sehr achte und wir längst einander persönlich in Weimar liebgewonnen. Leben Sie wol! Was vielleicht jetzt leichter wird, da der Friede mit seiner Morgenröthe [seinem Morgenrothe K] heraufdämmert.4
Auch in diesen beiden Briefen finden sich die Spuren des Lebens in den Abweichungen. Die Wiederholung macht dabei aus der Gefälligkeit, die zugleich nach einer Rechtfertigung verlangt, einen Wunsch. Das komplizierte Gegeneinander-Abwägen weicht der schlichten Deklaration des LiebgewonnenHabens, und die Eile zieht zugleich eine Abweichung zwischen Brieftext und Abschrift nach sich – oder eine Unleserlichkeit des offenbar sehr eilig abgesandten Dokuments, wodurch die Fehllesung des ersten Herausgebers Reinhold Steig verursacht wurde. In der autographen Abschrift steht dabei die konkretere und damit lebensnähere Variante (»Morgenrothe«), im Druck die allgemeinere, ins Allegorische hinüberspielende (»Morgenröthe«), man könnte auch sagen die eine »Tendenz ins Generische« repräsentierende Variante, wie Goethe dies ungefähr gleichzeitig über sein damals entstehendes Stück Pandora schreibt, das gleichfalls die Kriegs-Erfahrung reflektiert.5 Richters Hoffnung auf eine Friedensmorgendämmerung erweist sich zwar vorerst als Illusion, da der fünfte Koalitionskrieg schon bald wieder über den Waffenstillstand vom Juli 1809 hinwegstürmt; aber seine dringliche Bitte erreichte Böckh offenbar noch rechtzeitig vor Drucklegung des Jahrbuchs. Als die Fouqué-Rezension erscheint, fehlt Schlegels Name tatsächlich. Der 3 4 5
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III 6, 35, Nr. 103; Textgrundlage: Druck (bei Steig, Zeugnisse) unter Einbeziehung der Kopie in Richters Briefkopierbuch. III 6, 41–42, Nr. 122; Textgrundlage: Druck unter Einbeziehung der Abschrift in Jean Pauls Briefkopierbuch. So Goethe im Gespräch mit Reimer, vgl. MA 9, S. 1149; vgl. Pandora von Goethe. Taschenbuch für das Jahr 1810. Wien und Triest: Geistinger’sche Buchhandlung.
typographische Zustand der Stelle offenbart jedoch auch die Spur des Eingriffs, da er erkennen lässt, dass aus den Zeilen etwas entfernt worden ist, was auf diese Weise nun zugleich vorhanden (in der Gestalt eines extrem weiten Drucksatzes, der sogar das »u. s. w.« ins Breite zieht und damit hervorhebt) und nicht mehr vorhanden ist.6 Zurück blieb der folgende Text, in dem das Zugeständnis des persönlichen Liebgewonnen-Habens die unsichtbare Lücke gerissen hat: Wie der Jüngling in der bloßen Lyrik seiner Empfindung von Liebe, Trauer, Leben die Schöpferkraft antrifft, diese Lyrik auch zu einer poetischen auszuschaffen: so halten mehre Chorschüler [der neueren romantischen Dichterschule, Anm. J.P.] ihren richtigern Kunstsinn, obwohl operirt von fremder Hand und Zeit, für Kunstmacht, ihre poetischen Empfindungen und Anschauungen schon für poetische Darstellungen derselben. Bey Werner, Ast, dem Verfasser der Niobe u. s. w. vererzet sich oft das wahre poetische Gold-Geäder in rauhes, graues, unförmliches Gestein. Kann man denn, wenn man auch nicht kernfaul ist, doch nicht rindenfaul seyn?7
Man kann den Akt des Herausnehmens von Friedrich Schlegels Namen als Akt der Intimität im Sinne der Freundschaftskultur des 18. Jahrhunderts begreifen;8 man kann weiterhin die Entscheidung dafür als ein Rücksichtnehmen auf moralische Vorbehalte im Rahmen der Realitäten des sozialen Lebens* deuten; und man kann schließlich die epistolären Assoziationen, die diese Entscheidung begleiten, als eine Form der Verflechtung des intimen Gesprächs mit anderen Diskursen* verstehen: einer Verflechtung mit den auch ihrerseits wieder verflochtenen Diskursen der Politik, des Krieges, der Literatur, der Natur, der Petrologie und Geolgie, der Botanik und der Biologie. Der Versuch, all dies philologisch zu repräsentieren, erscheint im angeführten Beispiel nicht allein möglich, sondern philologisch nachgerade geboten: Erst das Zusammenspiel der verschiedenen Fragenperspektiven fügt die Facetten zu einem winzigen Ausschnitt eines Epochenpanoramas zusammen, in dem die kriegerische Weltpolitik ebenso ihre Rolle spielt wie der Setzkasten des Druckers und das Gefühl schriftstellerischer Freundschaft und Verbundenheit, mithin ein ganzes Ensemble von Akteuren, die bei einer (hypothetischen) Neuedition der typographisch korrumpierten Stelle zu berücksichtigen sind.
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Vgl. Steig, Zeugnisse, S. 213. Heidelbergische Jahrbücher der Literatur für Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst (5. Abt.), 2. Jg. (1809), Heft 10, S. 49–52, hier S. 49–50, vgl. Jean Paul, SW, I 16, 353. Vgl. zu diesem Intimitätsbegriff Streisand, Intimität/intim, S. 183–185.
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2. Tritos Anthropos Ein weiterer Akteur in diesem philologischen Actor-network-Szenario erlaubt es nun, die im ersten Teil der vorliegenden Studie angestellten Überlegung zur Vor- und Abbruchsgeschichte der ›theoretischen Philologie‹ zumindest an einem Punkt zu schließen. Bei diesem Akteur handelt es sich um einen der hier durch die Aktion der Veröffentlichung, bei welcher die Post, der Autor, der Herausgeber, der Setzer und der Krieg kooperierten, Ausgegrenzten (im Unterschied zu dem durch Unterdrückung seines Namens gerade wieder eingeschlossenen Schlegel): Georg Anton Friedrich Ast (1778–1841). In die um den Namen Schlegel gekürzte Reihe der Philologen, die zugleich Dichter zu sein beanspruchen, ist dieser Klassische Philologe durch sein Trauerspiel Krösus geraten, das 1805 bei Böhme in Leipzig erschienen ist.9 In Böckhs Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, deren Grundkonzeption in jenen Monaten, als Richters Fouqué-Kritik in den Jahrbüchern erschien, gerade ausgeführt wurde, spielt Ast nur eine scheinbare Nebenrolle, die aber aufgewertet wird, wenn man noch einmal den versandenden Spuren des Konzepts ›theoretische Philologie‹ nachgeht. Böckh hat in der Einleitung zur Enzyklopädie ein Modell der philologischen Kontrolle vorgestellt, und zwar im Zusammenhang der Klärung des Verhältnisses von Philologie und Philosophie. Die Philologie, so schreibt er dort, setze einen Begriff der Philosophie voraus und wolle ihn zugleich (aus sich heraus) erzeugen. Damit verhalte sie sich zur Philosophie ebenso wie sich auf der anderen Seite die Naturwissenschaft zur Philosophie verhalte: es finde eine »Auflösung des Einen in das Andere« statt, und da »die empirische und philosophische Forschung den entgegengesetzten Gang nehmen und die eine da endet, wo die andere anfängt, so ist die eine die Probe der andern, wie Multiplication und Division«.10 Da nun aber, wie Boeckh schreibt, dieses gegenseitige Sich-Auflösen aus der Philologie heraus erzeugt werden könne (ebenso wie umgekehrt aus der Philosophie heraus), so spricht nichts dagegen, den Prozess auch als einen innerdisziplinären zu begreifen, mit anderen Worten: einen Prozess der internen Kontrolle von praktischer und theoretischer (oder philosophischer) Philologie und umgekehrt. Der Theoretischen Philologie 9
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Friedrich Ast, Krösus, ein Trauerspiel, Leipzig: Böhme 1805; die philologischpoetische Doppelbetätigung Asts wird in den Arbeiten, die sich jüngst integral oder partiell dem Verhältnis von Philologie und Poesie in der Goethezeit widmeten, nicht thematisiert, auch dort, wo Ast ausdrücklich zum Studiengegenstand gemacht wird wie in Matthias Buschmeiers kenntnisreicher, Arbeit Poesie und Philologie in der GoetheZeit. Studien zum Verhältnis der Literatur und ihrer Wissenschaft (Tübingen 2008, zu Ast S. 98–100); weder der Philologe noch der Dichter Ast tritt in der nicht minder gelehrten Studie von Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert (Berlin, New York 2007) in Erscheinung. Böckh, Enzyklopädie, S. 17–18.
käme die Aufgabe der Philosophie und damit auch deren Probe- beziehungsweise Kontrollfunktion im Rahmen der Philologie als Ganzes zu. Für August Böckh ergab sich hieraus das Postulat einer »historische[n] Construction des gesamten Lebens« als zentrale Aufgabe der Philologie, die »sämmtliche[] Bildungskreise und Erzeugnisse eines Volkes in seinen praktischen und geistigen Richtungen« zu thematisieren und sich mithin »eine[r] Unendlichkeit von Gegenständen, die kein Einzelner alle mit gleicher Tiefe wird ergründen können« anzunähern habe – weshalb denn auch, so Boeckh, die »Philologie eine unendliche Aufgabe« bleiben müsse, »deren Lösung wir durch Annäherung entgegengehen.« Und es war diese Passage aus der Philologen-Rede von 1850, in deren Zusammenhang sich Böckhs ursprüngliche Reflexion über das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philologie fand, das dann an der entsprechenden Stelle der Enzyklopädie-Einleitung weggelassen und an eine andere Stelle verschoben wurde. Die bereits im Eingangsteil dieser Arbeit erwähnte (aber noch nicht benannte und nachgewiesene) Stelle in der Enzylopädie-Einleitung Böckhs, an der die Reflexion über theoretische und praktische Philologie dann plötzlich wieder auftaucht, folgt unmittelbar auf eine Kritik des Friedrich-August-Wolf'schen philologischen Systems,11 in der Boeckh die Klassifikation der Philologen mit derjenigen der Physiker zum Nachteil der ersteren vergleicht. Die Physiker, so schreibt Böckh, seien sehr viel weiter in der »Classification« ihres Faches als die Philologen.12 Es liegt nahe, dass sich Boeckh an dieser Stelle auf die Etablierung der Teildisziplinen experimentelle und theoretische Physik bezieht, sei es nun vor der Folie ihrer zögerlichen Etablierung (in Analogie zur »Theoretischen Chemie«) um 1800, also zur Zeit, als Böckh seine Enzyklopädie zu entwerfen begann, oder sei es aus der Perspektive ihrer Integration ins ausdifferenzierte Wissenschaftssystem zur Zeit der Fertigstellung der Enzyklopädie um 1865.13 In den nachfolgenden Passagen fasst Böckh die älteren Systementwürfe der Philologie zusammen und kommt nach seinen Ausführungen zu Friedrich August Wolf nun auf ein Buch zu sprechen, das im Jahr 1808 erschienen ist, also genau zu Beginn von Böckhs akademischer Karriere. Bei diesem Buch handelt es sich um den Grundriss der Philologie des seit 1805 in Landshut lehrenden Georg Anton Friedrich Ast,14 der als Schelling-Schüler einen Hang zur 11
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Böckh bezieht sich auf Wolfs zunächst 1807 fragmentarisch veröffentlichte Darstellung der Alterthumswissenschaft (in: Museum der Alterthumswissenschaft 1, 1807) in den posthum veröffentlichten Fassungen von S. M. Stockmann (Friedrich August Wolf’s Encyklopädie der Philologie. Nach dessen Vorlesungen im Winterhalbjahre 1798–1799, Leipzig: Serig’sche Buchhandlung 1831 [2. Aufl. 1845] und von Johann Daniel Gürtler (Fr. Aug. Wolf’s Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, Leipzig: Lehnhold 1831–1839). Böckh, Enzyklopädie, S. 43. Vgl. Anm. 40. Friedrich Ast, Grundriss der Philologie, Landshut: Krüll 1808.
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spekulativen Theoriebildung nicht verleugnen kann. Im Zusammenhang mit Asts Buch tauchen nun jene Überlegungen Böckhs zur »praktischen« und »theoretischen« Philologie aus der Versammlungs-Rede von 1850 wieder auf. Zu Ast heißt es: Wir prüfen demnächst [im Sinne von: als nächstes] die A s t ' s c h e Ansicht. Ast geht mit einer mehr wissenschaftlichen Tendenz zu Werke. Er unterscheidet eine theoretische und praktische Philologie, letztere als Studium zum Beruf der freien Bildung des Menschen. Dieser Unterschied ist – wie wir gesehen haben – an sich gegründet, gehört aber nicht in unsere wissenschaftliche Darstellung und bildet auch keinen ausschließenden Gegensatz [also keinen kontradiktorischen Gegensatz im Unterschied zu einem konträren oder subkonträren; mit dem Verweis »gehört nicht in unsere wissenschaftliche Darstellung« bezieht sich Boeckh implizit auf die Berliner Rede, Anm. J.P.].15
Und weiter führt Böckh zu Asts System aus: Die theoretische Philologie theilt er [Ast] in vier Theile: 1) die politische Geschichte; 2) die Alterthumskunde; 3) die poetische Sphäre oder die Mythologie und Künste; 4) die Wissenschaften und die Philosophie. Was an dieser Eintheilung wahr ist, wird der Verfolg unserer Untersuchung zeigen; vorläufig erklären wir uns gegen die Stellung der Alterthümer, die wir, wie oben gesagt, gar nicht als etwas Bestimmtes, von der politischen Geschichte Gesondertes können gelten lassen. Ast hat im Uebrigen die Brauchbarkeit seines Buches durch einen unangenehmen, trockenen Formalismus verdunkelt.16
Bei einer kritischen Neulektüre des Ast’schen Werkes fällt freilich auf, dass die von Böckh hervorgehobene Entgegensetzung zunächst – abgesehen von einer rein pragmatischen Erwähnung im Vorwort – kaum eine Rolle spielt. Vorherrschend ist hingegen der Begriff des Lebens, der bei dem SchellingSchüler Ast in einem noch weit über Boeckh hinausgehenden und ins Spekulative ausgreifenden Maße die Überlegungen grundiert. Schon auf der ersten Seite taucht das Wort nicht weniger als siebenmal auf, das Wort »Geist« hingegen nur viermal, Philologie und Wissenschaft nur jeweils einmal. Allerdings bildet sich im Kräftefeld dieser Begriffe dann die spezifische Verbindung des »geistigen Lebens« als zentraler perspektivischer Bezugspunkt heraus, denn, so schreibt Ast, »das, was das Leben und die Form in allen Dingen vereinigt, ist der Geist, dessen Wirklichkeit eben das äussere Leben ist, und dessen Eigenheit und Charakter in der Form des Lebens sich offenbart.«17 15 16 17
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Böckh, Enzyklopädie, S. 44. Ebd. Der beiläufige Hinweis auf Asts Stil lässt sich natürlich auch als eine Fortsetzung der Jean-Paul’schen Attacke auf die Philologen-Dichter lesen. Ast, Grundriss der Philologie, S. 1; Hermann Patsch charakterisiert Asts Philologie daher auch – in Abgrenzung zur Friedrich August Wolf'schen Wissenschaftsauffassung – als »Geist-Philologie«, vgl. Hermann Patsch, Friedrich August Wolf und Friedrich Ast: Die Hermeneutik als Appendix der Philologie. In: Klassiker der Hermeneutik, hg. von Ulrich Nassen, Paderborn, München, Wien, Zürich 1982, S. 76–107, hier S. 91.
Nachdem er eine Art Geschichtsphilosophie der Philologie entworfen hat, die zugleich eine Geschichte der Menschheit ist, schreibt Ast dann: Nach dieser Ansicht der Geschichte der Menschheit ist das classische Alterthum nicht blos das Muster der künstlerischen und wissenschaftlichen Bildung, sondern des Lebens überhaupt. Nur dann kann unsere subjektive und in Individualität zerstreute Bildung sich vollenden, wenn sie in ein harmonisches, schön gebildetes Ganzes übergeht, die alte Welt also durch das organische Leben des Ganzen und die freie Bildung des Individuellen zur universellen Schönheit wieder erneut, und ihr zugleich durch den inneren und geistigen Charakter unserer Zeit einen höheren und reicheren Inhalt giebt. Das Ziel unserer Bildung ist also dieses, classisch zu werden, das heißt, es geht dahin, daß jedes individuell Gebildete nebst seinem eigenen Charakter, der nicht vertilgt werden darf, wenn nicht das Ganze eine geist- und charakterlose Allgemeinheit werden soll, zugleich den Geist des Ganzen, der ächten Nationaltugend und der reinen Menschheit abspiegle, so daß es neben seinem eigenen Leben zugleich in einer höheren Harmonie und Universalität lebe.18
In der mehr oder weniger klandestinen Neuauflage der Querelle über Wert und Bedeutung der Alten und der Modernen versucht also Ast zu vermitteln. Wenn das moderne Leben zu einem in sich gebildeten, organischen Ganzen wird, dann kann die Moderne zugleich die alte Welt erneuen und sich selbst bereichern. Umso erstaunlicher ist es dann allerdings, dass Ast – anders als Böckh – die nicht-klassischen Sprachen und Literaturen vom »eigentlichen« Begriff der Philologie ausschließt. Dies kann, vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten, nur eine pragmatische, also praktische Entscheidung sein (und damit eben keine der »theoretischen Philologie«). Und erst nachdem diese Entscheidung gefällt ist, statuiert Ast auch jene Unterscheidung, die Böckh in seinen enzyklopädischen Vorlesungen als die »Ast’sche Ansicht« charakterisieren wird. Wer das Altertum nur an sich, ohne Bezug auf unsere Bildung und Humanität betrachte, der vertrete, so Ast, den theoretischen Standpunkt in der Philologie. Da aber die »Wesenheit und Selbständigkeit eines Gegenstandes« nur in der »Gesamtheit seiner Theile« Gestalt werden könne, und »jede wahre Ansicht und Erkenntnis« eine »Gesamtanschauung« voraussetze, müsse man auch vom »ganzen, ungetheilten Leben der Griechen und Römer ausgehen«.19 Dies entspricht dem ersten Punkt in Böckhs Zusammenfassung. Punkt 2, die »Alterthümer«, deren privilegierte Betrachtung Böckh ja kritisiert, weil sie nach seiner Ansicht von der politischen Geschichte gar nicht getrennt werden können, erhält dabei bei Ast seine herausgehobene Bedeutung im Kontext des Schelling’schen kosmischen Idealismus: »so wie im Universum alles die Kraft des Producirens in sich trägt«, so schreibt er, und »so gewiß jedes Wesen eine eigene Seele und Tugend hat«, ebenso »strebt ein gesamtes Volk und in ihm jedes Individuum [danach,] die eigenste Kraft seines Wesens außer sich darzustellen, das ist, zu produziren, um, wenn es den Kreis seines 18 19
Ebd., S. 11–12. Ebd., S. 25.
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sich bildenden Lebens vollendet hat, sein Wesen in die Allheitssonne unterzutauchen, und mit dem Ewigen wiederum Eins zu werden«.20 Böckhs Kritik bezieht sich zunächst auf den spekulativen philosophischen Idealismus dieser Annahmen, dem er seinen sehr viel nüchterneren Begriff des gemeinsam approximativen Produzierens der Philologie entgegenstellt. Was in Böckhs Zusammenfassung allerdings nicht auftaucht, ist, dass bei Ast nicht die Theorie, sondern die philologische Praxis als die »allgemeine, ursprüngliche und höhere Bedeutung« der Philologie begriffen und auf diesen »höheren«, praktischen Begriff das philologische System gegründet wird. »Theoretische Philologie« bleibt also bei Ast sozusagen propädeutisch und unbedeutend, von Böckh hingegen wird sie gleichsam auf ein philologisches Abstellgleis verschoben, wo sie keinen Schaden anrichten kann, eben weil sie einen Widerspruch nahelegt, den er nicht anerkennt. Damit also konnte weder von der Position Asts noch von derjenigen Böckhs aus der Begriff einer ›theoretischen Philologie‹ zur Grundlage einer disziplinären »Classifikation« nach dem Vorbild der Chemie oder Physik werden. Der Schlüsselbegriff bei der Erklärung dieses disziplinären Sonderwegs könnte nun in der Tat der Begriff des Lebens sein. Mit ihm und mit dem an das Leben geknüpften Phänomen der Sprache bezieht sich die Philologie auf ein Konzept, das zumindest um 1800 noch aller szientifischen Theoretizität vorausgeht. Vielmehr ist er im Rahmen der neuen Wissensordnung, die Foucault zufolge in der Zeit vor 1800 etabliert wird, als Voraussetzung und Bezugspunkt der Episteme zu betrachten.21 Böckh schreibt: Der menschliche Geist theilt sich in allerlei Zeichen und Symbolen mit, aber der adäquateste Ausdruck der Erkenntniss ist die Sprache. Das gesprochene oder geschriebene W o r t zu erforschen, ist – wie der Name der Philologie besagt – der ursprünglichste philologische Trieb, dessen Allgemeinheit und Nothwendigkeit auch schon daraus klar ist, weil ohne Mitteilung die Wissenschaft überhaupt und selbst das Leben übel berathen wäre, so dass Philologie in der That eine der ersten Bedingungen des Lebens, ein Element ist, welches in der tiefsten Menschennatur und in der Kette der Cultur als ein ursprüngliches aufgefunden wird.22
Und noch bis ins 18. Jahrhundert hinein geht für Böckh die Philologie als »Lebensform« dem codifizierten Wissen der Philologie voraus: im Leben mehr als in ihren Schriften, so Böckh, hätten Bentley, Tiberius Hemsterhuys und Winckelmann zur großen Gemeinschaftsaufgabe der Philologie beigetragen.23
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Ebd., S. 27. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974. Böckh, Enzyklopädie, S. 11. Ebd., S. 16.
Im Unterschied zum Schelling-Schüler Ast ist der Lebensbegriff Böckhs jedoch nicht auf die »geistige« Sphäre beschränkt. Einer Theoretisierung dieses integralen Lebensbegriffs im Zeichen der Philologie ist er gleichwohl, wie wir gesehen haben, aus dem Wege gegangen. Theorien des Lebens entwarfen in der Folgezeit Philosophen und Psychologen wie Ernst von Feuchtersleben (ein Neffe Caroline von Feuchterslebens) mit seinen Beiträgen zur Literatur, Kunst- und Lebens-Theorie,24 die »Construction des gesamten Lebens« (in der Hegel nahestehenden Böckh’schen Variante) blieb philologiegeschichtlich hinter der Vollendung eines »Kreis[es]« des »sich bildenden Lebens« (in der an Schelling orientierten Ast’schen Variante) verborgen. Eine Theoretisierung des nicht-geistigen Lebens blieb demgegenüber eine noch längere Zeit unsichtbare Aufgabe, deren sich dann aber nicht mehr die Philologie, sondern die Naturwissenschaft annahm, als um das Jahr 1900 neben der Theoretischen Physik und der Theoretischen Chemie auch eine Theoretische Biologie etabliert wurde.25 Wenn Böckh in der Einleitung zur Enzyklopädie die Frage nach dem produktiven Aspekt des Philologisierens aufwirft, dann zitiert er erneut Literatur, nämlich einen Absatz aus dem 5. Buch von Laurence Sternes Tristram Shandy, der das Philologisieren mit einer ganzen Reihe von zum Teil sehr handfesten, zum Teil aber auch subtileren Lebenspraktiken ins Verhältnis setzt: »Sagt mir doch, ihr Gelehrten,« redet Tristram Shandy die Philologen an, »sollen wir denn nur immer in kleinere Münze verwechseln und das Capital so wenig vermehren? Sollen wir denn ewig neue Bücher machen, wie die Apotheker neue Mixturen, indem wir bloss aus einem Glase ins andere giessen? Sollen wir denn beständig dasselbe Seil spinnen und wieder aufdrehen, beständig im Seilergang gehen, beständig denselben Schritt? Sollen wir bis acht Tage nach Ewig immerfort, Festtag und Werkeltag sitzen, bestimmt die Reliquien der Gelehrsamkeit zu zeigen, wie Mönche die Reliquien ihrer Heiligen, ohne nur ein einziges Wunderwerk damit zu thun?«26
Böckh schreibt zu dieser professionellen Selbst-Infragestellung: »Dies ist wohl zu beherzigen, aber es passt nur auf die schlechte Philologie, die es nur auf die Tradition des Einzelnen absieht.«27 In Wahrheit habe die Philologie »einen höheren Zweck«, welcher in der »historischen Construction des ganzen Er24 25
26 27
Vgl. Karl Pisa, Ernst Freiherr von Feuchtersleben, Pionier der Psychoanalyse, Wien 1998. Als eine der Gründungsschriften kann angesehen werden: Johannes Reinke, Einleitung in die theoretische Biologie, Berlin: Paetel 1901. In dieser Hinsicht erscheinen die Usurpations-Vorwürfe gegenüber den Lebenswissenschaften, wie sie Ottmar Ette erhoben hat, wissenschaftshistorisch nicht ganz angemessen: haben die unter diesem Schlagwort versammelten Disziplinen doch nur ein Feld bebaut, das im idealistischen Kleinkrieg der Philologen des 19. Jahrhunderts aus dem Blick geraten und in Folge dessen vernachlässig worden ist. Böckh, Enzyklopädie, S. 14; vgl. Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, Vol. 1–9, London 1760–1763, hier Vol. V, 1. Böckh, Enzyklopädie, S. 14.
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kennens und seiner Theile und in dem Erkennen der Ideen, die in demselben ausgeprägt sind«, liege. Hier, so fährt Boeckh fort, sei »mehr Production in der Reproduction als in mancher Philosophie, welche rein zu produciren vermeint; auch in der Philologie ist das productive Vermögen eben die Hauptsache […] und dass die Reproduction ein grosser Fortschritt und eine wahre Vermehrung des wissenschaftlichen C a p i t a l s ist, zeigt schon die Erfahrung.«28 Damit zieht er eine betont nüchterne philologische Konsequenz aus der gelehrtenskeptischen Bemerkung des empfindsamen Dichters, die ja im Roman Sternes in ein pseudophilologisches Schwadronieren und schließlich in den berühmten Exkurs über Backenbärte übergeht. Die Beherzigung Böckhs wiederum gilt es zu berücksichtigen, wenn die Tradition von Liebeskorrespondenzmustern im Überschneidungsbereich zum Ansatz der Theoretischen Philologie betrachtet wird und die Ergebnisse dabei aus der Überlagerung von registrierten Einzelphänomenen erhoben werden. Als was sich dann der Versuch, Böckhs Begriff einer »theoretischen Philologie« wiederzubeleben erweist – als neue Perspektive oder als ein Umgießen »von einem Glase ins andere« –, wird sich in Übereinstimmung und in kritischer Auseinandersetzung mit Böckh an dieser urphilologischen Beherzigung messen lassen müssen.
28
382
Ebd., S. 14–15; Boeckh nimmt damit die merkantilische Metapher aus der Gleichnisserie Sternes auf, bezieht sich also auf einen Bereich, dem er sich durch seine Arbeit über den Staatshaushalt der Athener besonders verpflichtet weiß (vgl. August Böckh, Die Staatshaushaltung der Athener [zuerst 1817)], Bd. 1–2, Berlin 1886).
Siglen, Textauszeichnungen und Literaturverzeichnis
I Siglen für Aufbewahrungsorte von Handschriften BJK BJK, Berlin A SNM Berend UAH
Biblioteka Jagiellońska Krakau Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Autographa der Preußischen Staatsbibliothek Schiller-Nationalmuseum und Deutsches Literaturarchiv, Marbach/N., Nachlass Eduard Berend Universitätsarchiv Heidelberg
II Textauszeichnungen, Abkürzungen und Sonderzeichen bei der Wiedergabe und Beschreibung von Handschriften Textauszeichnungen recte KAPITÄLCHEN Sperrung [kursiv] [Kursivierung in eckigen Klammern] […] hold/herrlich (?) | Wort [Wort]
Brieftext Lateinische Schrift bzw. Antiqua Unterstreichung (in Manuskripten) bzw. Sperrung (in Drucken) Herausgebertext einschl. Herausgeberergänzungen bei der Auflösung von Abkürzungen Ergänzung bei Textverlust oder Unleserlichkeit der Quelle nicht ergänzbarer Textverlust alternative Formulierungen (im Original zuweilen auch übereinander angeordnet) unsichere Lesung, unsichere Korrektur oder unsichere Auflösung von Abkürzungen Zeilenumbruch durchgestrichenes Wort Variante
III Kurztitel und Siglen für Literatur 1. Siglen für Werke Jean Pauls Hesp.
Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie von Jean Paul, 3 Bde., Berlin: Matzdorff’sche Buchhandlung 1795
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2. Siglen für Jean-Paul-Ausgaben [HKA]
H
Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründet und herausgegeben von Eduard Berend et al., Weimar 1927ff.: Abteilung I: Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke; Abteilung II: Nachlaß; Abteilung III: Briefe; Abteilung IV: Briefe an Jean Paul (hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Norbert Miller, seit 2008 hg. von Christian Begemann, Markus Bernauer und Norbert Miller, Berlin 2003ff). Jean Paul: Sämtliche Werke, 10 Bde. in 2 Abteilungen, hg. von Norbert Miller, München Wien, 1959–1985
3. Siglen für weitere Werke und Zeitschriften Berend/Krogoll Berend, Postillon Denkwürdigkeiten DWB JbJPG Kalb Krünitz
MA
NDB Otto Persönlichkeit SNA
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Berend, Eduard: Jean-Paul-Bibliographie. Neu bearb. und erg. von Johannes Krogoll, Stuttgart 1963 Berend, Eduard: Jean Paul als Postillon d’amour. Eine Bayreuther Liebesgeschichte, in: Hesperus 8, 1954 Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter. Zur Feier seines hundertjährigen Geburtstages, hg. von Ernst Förster, 4 Bde., München 1863 Grimm, Jacob, Wilhelm Grimm u.a.: Deutsches Wörterbuch, 1854–1971, Reprint, 33 Bde, München 1984 Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft, hg. von Kurt Wölfel, seit 1999 von Helmut Pfotenhauer, Bayreuth u.a. 1966ff. Briefe von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin, hg. von Paul Nerrlich, Berlin 1882 Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft, in alphabetischer Ordnung (später: Oekonomischtechnologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Land-Wirthschaft), Berlin 1773– 1858 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (›Münchner Ausgabe‹), hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, 20 Bde., München 1985–1998 Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1–23, Aachen bis Schwarz, Berlin 1953–2007 Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto, Berlin: G. Reimer 1829–33 (Repr.: Berlin, New York 1978) Berend, Eduard: Jean Pauls Persönlichkeit. In Berichten der Zeitgenossen, Weimar 1956 Friedrich Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Schiller-Nationalmuseums von Norbert Oellers, Weimar 1943ff.
IV Nachschlagewerke Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck et al., Stuttgart 2000–2003 Encyclopaedia Judaica, 16 Bde, + 1 Registerbd, Jerusalem 1971–1978 Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Vol. 2, London, Chicago 2001 Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von Friedrich Jaeger, bisher 9 Bde., Stuttgart 2005–2009 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 1. Aufl. Berlin und Leipzig 1934 Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser. Deutscher Uradel. Gotha 1922 Handwörterbuch der Psychologie, hg. von Roland Asanger und Gerd Wenninger, 4., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, München, Weinheim 1988 Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Albert Erler et al., 5 Bde., 1971–1998, Neubearbeitung ab 2008, bisher ein Band Lexikon des gesamten Buchwesens, 8 Bde., Stuttgart 1987ff. Lexikon des Mittelalters, hg. von Robert-Henri Bautier et al., 9 Bde, München, Zürich 1980–1998 Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Freiburg, Basel, Wien 1993ff. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, 2. Auflage, Stuttgart, Weimar 2001 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Harald Fricke et al., 3 Bde., Berlin, New York 2007 Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, hg. von Georg Schöllgen et al., Stuttgart 22 Bde., 1950ff. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von Hans Dieter Betz et al, 8 Bde., Tübingen 1998–2007 Staatslexikon. Recht. Wirtschaft. Gesellschaft, hg. von der Görres-Gesellschaft, 5 Bde., Freiburg, Basel, Wien 1985–1989
V Quellen [Anonym]: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben, 2 Bände: Leipzig: Georg Joachim Göschen 1788 (2. Aufl. ebd. 1789) [Anonym]: Briefsteller für junge Militär-Personen, Potsdam: Carl Christian Horvath 1804 [Anonym]: Die Neu-Auffgerichtete Liebes-Cammer, darinn allerhand höflich verliebte Send-Schreiben an das löbliche und anmuthige Frauenzimmer, auch andre Personen, abgefaßt und beantwortet sind, Frankfurt/M.: Balthasar Christoph Wusts 1662 [Anonym]: Hannoverischer Briefsteller zugleich Handbuch der nothwendigsten Kenntnisse für junge Leute und Ungelehrte, Hannover: Hahn 1808 Albrecht, Johann Friedrich Ernst: Lauretta Pisana. Leben einer italienischen Buhlerin, Leipzig: Walther 1789
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Ast, Friedrich: Krösus, ein Trauerspiel, Leipzig: Böhme 1805 – Grundriss der Philologie, Landshut: Krüll 1808 Benjamin, Walter: Briefe, hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, 2 Bde., Frankfurt/M. 1966 – Deutsche Menschen – Eine Folge von Briefen. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno, Frankfurt/M. 1972 – Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920), hg. von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1973 Benn, Gottfried: Das Hauptwerk, Wiesbaden und München 1980 [B[erlepsch], Emilie von], Ueber Liebe als Leidenschaft, und den Grundsatz zur Beurtheilung ihrer Dignität. Eine Volesung, in: Der Neue Teutsche Merkur, Dezember 1790, S. 411–438 – Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze, in: Der Neue Teutsche Merkur, Mai und Juni 1791, S. 63–102 und S. 113–134 – Sommerstunden, Zürich: Orell, Geßner und Füßli 1794 – Emilie von Berlepsch an eine Freundin: über die erzwungene Schweitzer-Revolution und Mallet du Pan’s Geschichte derselben, in: Zerstörung des Schweitzer-Bundes und der Schweitzer-Freyheit; ein historischer Versuch von J. Mallet dü Pan, 2 Bde., Leipzig: Dykische Buchhandlung 1799, Bd. 2, S. 337–448 – Einige Bemerkungen zur richtigern Beurtheilung der erzwungnen SchweitzerRevolution und Mallet dü Pan’s Geschichte derselben Leipzig: Dykische Buchhandlung 1799 – Caledonia, Hamburg: Benjamin Gottlob Hoffmann 1802–1804, Bernard, Esther: Einige Aeußerungen über Hrn. Kampe’ns Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend, in: Der Kosmopolit, Bd. 3. Halle: Renger 1798, S. 577–590 Böckh, August: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften Leipzig: Teubner 1877; 2. Aufl., hg. von Rudolf Klussmann, Leipzig: Teubner 1886 (repr. Nachdr. Darmstadt 1966) – Gesammelte Kleine Schriften, Bd. 2, Reden, gehalten auf der Universität und in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Leipzig: Teubner 1859 – Die Staatshaushaltung der Athener (zuerst 1817), Bd. 1–2, Berlin 1886 [Bolte, Johann Heinrich]: Berlinischer Briefsteller, Berlin: Himburg 1783 Brauser, Wolfgang: Der Vielvermehrte und vollkommene Hurtige Briefsteller, Nürnberg o.J [um 1690] Briefe von Jean Paul (Friedrich Richter) an Emilie von Berlepsch (nachherige Harms), geb. v. Oppel. Aus den Jahren 1797 bis 1804, als Supplement zu seinen Werken und seiner Biographie, in: Der Salon, 1841, Nr. 6, vgl. III 3, 30, Nr. 30a Erasmus Desiderius von Rotterdam, De conscribendis epistolis. Anleitung zum Briefschreiben, in: Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Darmstadt 1980, Bd. 8, S. 240–242 [Erichson, Johann] (Hg.): Glauben und Poesie. Zum Frühlinge des Jahres 1806. Eine Sammlung von Dichtungen, und Bruchstücken in Prosa, von mehreren Verfassern, herausgegeben von Lucian, Berlin 1806 Förster, Brix (Hg.): Das Leben Emma Förster’s der Tochter Jean Pauls in ihren Briefen, Berlin: Hertz 1889 [de la Motte-Fouqué, Friedrich]: Alwin. Ein Roman in zwey Bänden von Pellegrin Berlin: Braunes 1808
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VII Internetadressen http://www.competence-site.de/cc/mitglieder.nsf/mitglied/S1146-Peter-Sprenger http://www.jean-paul-portal.uni-wuerzburg.de/aktuelle_editionen/nachlass_exzerpthefte http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Pauly3910060579_1367.html; http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2997>
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Register
1. Register der Leitbegriffe zur Liebesbriefforschung Kursivierte Seitenzahlen verweisen auf den jeweiligen Hauptabschnitt im Text. Abschiedsvarianten 291, 295 Akzeptanz, familiär u. sozial 124, 308, 323, 357 Altersdifferenz 95, 226, 322, 356 Andere Diskurse 352, 375 Literatur 144, 158, 295, 327, 359 Musik 272, 292 Philosophie 162, 274 Politik 125 Theater 313 Andere Liebesbeziehungen 282, 343 Aufkündigung 106, 108, 291 Autonomie der Liebe 220 Beilagen 328 Beruf 323, 325 Dauer 263 Dialekte 161, 178, 180, 209, 245 Eifersucht 139, 162, 244, 260, 284 Emanzipationsansprüche 245, 264, 281, 330 Entdecken der Liebe durch Schreiben 108, 110, 159, 225, 321 Erfolge und Misserfolge 89, 95, 99–100, 178, 328, 352 Erkalten der Gefühle 165, 259, 295, 297 Formen des Werbens 91, 178, 205 Fremdsprachen 139, 195, 243 Gefährdungen u. Krisen 270, 326,331 Geschlechterverhältnis 171, 245–246, 269, 301, 323
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Intensivierung 97, 104, 134, 161, 199, 202, 243, 296–297, 299, 318, 341 Körperlichkeit / Sexualität 117, 190, 301, 304, 328, 353 Krankheiten 270, 327, 329 Krisen 326 Legitimation der Beziehung 309, 320 Lieben nach Texten 160, 199, 225, 241, 243, 267, 300, 304 Missverständnisse 214, 272, 285, 294 Mitspracherechte 96, 112, 131, 160, 178, 180, 272, 308, 330, 344, 353 Mittlerpersonen 98, 100, 110–111, 121, 167–168, 202, 204, 252, 262, 264, 319, 343, 352 Mündlichkeit / Schriftlichkeit 132, 194, 218, 275, 288, 312–313, 328 Rahmenbedingungen 209, 292, 307, 361 Realität des soz. Lebens 302, 307, 375 Reales und Imaginäres 214, 299, 306, 323, 340 Rechtliche Schranken 292, 319–320 Rhythmus 212, 255, 265, 279, 283, 288, 311 Rollenmuster, geschlechterspez. 130, 199, 204, 264, 299, 323, 330, 336, 346 Scheitern u. Gelingen 150, 255, 272, 287, 289, 296
Schreibanlässe 91, 100, 130, 135, 154, 159–161, 172, 176, 197, 205, 218, 260, 352 Selbst- und Weltbezug 157 Selbstdarstellung 200, 299 Sprachliche Beeinflussung 177, 213, 230, 239, 334, 336 Sprachreflexion / Sprachwechsel 233, 238, 286, 288, 343 Sprachvermögen / Wahl der Liebessprache 171, 195, 217, 235, 283, 291, 295, 303, 316, 336 Stilebenen 178, 180
Verführung 125,142, 150, 226, 234, 341 Verständnis vom Ich u. Anderen 152, 285 Vorbehalte, sittliche 332 Vorbehalte, medizinische 320 Wahl der Liebessprache s. Sprachvermögen Wahrnehmungshorizonte 95, 139, 150, 212, 214, 285, 352–353 Wiederholung 200, 229, 296, 318–319 Zurückweisung 162 Zweifel u. Selbstzweifel 156
Treuebruch 260
2. Personenregister Aufgenommen sind die in der Arbeit behandelten Haupt-Korrespondentinnen und -Korrespondenten, bekannte Zeitgenossen sowie wichtige Personen der Philologiegeschichte. Um das Register nicht mit Nebenfiguren zu überfrachten, werden Bezugspersonen des privaten Lebens und des familiären Umfeldes der Korrespondentinnen und Korrespondenten nicht durchgängig einzeln aufgeführt, Familienangehörige gegebenenfalls unter der jeweils wichtigsten Person zusammengefasst. Ahlefeldt, H.G. 171, 198–217, 232, 234, 244, 258–259, 342–343 Anna Amalia v. Sachsen-Weimar 234– 235 Ast, G.A.F. 375–381
Böckh, A. 7, 10, 16–29, 39–40, 373–382 Bonstetten, C.V.v. 263, 359 Böttiger, K.A. 236 Brentano, C. 111, 152, 157 Brüningk, S.v. 195, 296–297
Beck, C.v. 334 Berend, E. 39–45, 59–60, 95–97, 100, 108–109, 120–121, 133–134, 141, 143, 147, 169, 182, 192, 199, 201, 206, 218, 239, 241, 247–248, 250, 251, 253–254, 259, 261, 272, 287, 297, 308–310, 323, 326, 336, 359, 363, 373 Berlepsch, E. u. Fam. 149, 195, 255, 262–308, 318, 320, 334–337, 343, 347, 352–353, 356–361 Bernard, E., geb. Gad u. Fam. 195, 255, 261, 281–288, 297, 352 Bernardin de Saint-Pierre, J.H. 244, 248 Blandow, F.v. 282, 284
Charlotte v. Sachsen-Hildburghausen u. Fam. 307–310, 314–316, 318–321, 325, 352 Christian Friedrich Carl Alexander v. Ansbach-Bayreuth 210 Constant, B. 360 Cotta, J. F. 154, 171 Einsiedel, F.H.v. 219, 227, 236–238 Ellrodt, S. u. Fam. 91–115, 289, 296– 298, 308, 320, 352 Ellrodt, Th.Ch. 81 Emanuel 170, 288, 335, 347, 358, 361 Epiktet 184 Eratosthenes 64 Erichson, J. 363
409
Feind, E. 332 Feuchtersleben, C.v. u. Fam. 45, 307– 340, 343, 347, 353, 357, 381 Förster, E. 151 Fouqué, F. de la Motte 373–374, 376 Frégeville, Ch.d. 244, 249
Heyne, Ch.G. 14, 262 Hoffmann, M. 23 Hölderlin, F. 54–57, 117, 364 Homer 64 Humboldt, A.v. 215, 360 Humboldt, W.v. 80, 131, 313
Gellert, Ch.F. 32, 77, 88, 93, 97, 101– 102, 192, 194 Geßner, H. 183 Gleim, J.W.L. 315, 340, 347 Goethe, J.W.v. 34, 48, 65, 95, 117, 152, 181–182, 199, 219–220, 222–223, 225–226, 228, 230, 237, 300, 305, 374, 376 Gotter, J.F.W. 243 Günderrode, C.v. 152 Guyon, J. 241–242
Iffland, A.W. 313–314 Imhoff, A. u. L. 236 Isenflamm, J.F. 147
Hagen, H.v.d. 47 Hagen, J.A. 98 Haller, A.v. 118–120, 263, 359 Hamann, J.G. 235 Hänel, E. 296, 300–302 Hardenberg, F.v. (Novalis) 1, 49, 51 Hardenberg, K.A.v. von 210 Harmes, A.L.H. 356–357 Harmes, E. s. Berlepsch, E. Hegel, G.F.W. 358–359, 381 Hellen, E.v.d. 226–232 Herder, C. 230, 239, 245–246, 262, 274, 307, 318, 327, 334–335, 340, 347 Herder, J. G. 47, 181–183, 199, 219– 220, 222, 225–227, 229, 236–237, 239, 245, 263, 292, 294, 304, 307, 315, 318, 324, 327, 334–336, 340, 347 Hermann, G. 19 Hermann, J.B. u. Fam. 91, 114–126 Hermes, J.T. 189–191 Herold, A. u. Fam. 123, 135–136, 139, 150–173, 176, 257, 267, 273, 290, 296–297, 352, 361 Herold, A.F. 153, 159 Herold, C. 154, 156, 173 Herold, H. 172–175 Herold, J.G. 121–122, 126, 153, 172, 273, 275, 277, 282, 287 Hesiod 64
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Jacobi, F.H. 166, 306, 308, 317, 347 Justinian 63, 70 Kalb, Ch.v. u. Fam. 76–77, 92, 166, 171, 175. 195, 197, 206, 209, 217–250, 255, 259, 262–263, 268, 279, 286– 288, 296, 300–302, 318, 362–365 Kanne, J.A. 174–175 Kant, I. 69, 196–197, 282, 312–313 Kiesewetter, J.G. 283 Kleist H.v. 91, 117, 152 Klopstock, F.G. 76, 79 Knebel, K.L.v. 182, 219, 227, 236 Köhler, H. u. Fam. 91, 123, 140–149, 158, 168, 230, 352 Kosmeli, M. 261 Kotzebue, A.v. 314 Kropff, W.v. u. Fam. 171 193, 195, 197–218, 221, 225, 227–229, 232– 234, 255, 258–261, 352 Krüdener, J. v. u. Fam. 171–172, 195, 243–256, 261, 263–265, 267, 347 La Roche, S. 163 Lachmann, C. 47–50, 61 Lafontaine, A.H. 210–211 Lessing, G.E. 24, 92, 190, 300, 358 Louise von Preußen 314 MacDonald, J. 294, 356 Marc Aurel 184 Marwitz, A.v. 77 Matzdorff, C. 184, 191, 195, 210–211, 267 Mayer, C. u. Fam. 140, 175, 256–257, 307, 320, 325, 337–348, 353, 355– 357 Mayer, J.S.W. 307, 338–347, 353 McPherson, J., 154, 199, 202, 294
Moller, M. 76, 79 Moritz, J. Ch. C. 192 Moritz, K.Ph. 80, 89, 98, 180, 182, 186, 210, 341 Motte-Fouqué s. Fouqué Mozart, W.A. 215 Napoleon Bonaparte 355, 360 Nicolai, F. 210 Nietzsche, F. 18–19, 332 Novalis s. Hardenberg Oertel, F.v. 246–247, 263–268, 270, 276, 278, 289–291, 315, 320 Oertel, L.v. 234, 238–239, 242, 246 Oerthel, A.L. 99–100, 115–116 Ossian s. McPherson Otto A. s. Herold A. Otto, Albr. 114–116 Otto, Ch. 137–139 Otto, G.Ch. u. Fam. 79, 91, 115, 123, 129–132, 137–147, 149–154, 160, 162–171, 175, 192, 194, 197, 203, 205–209, 220–222, 227–235, 237, 245–246, 250, 256–259, 261, 268, 286–287, 289–295, 300–302, 307, 311–312, 316, 318–322, 326, 328, 334–335, 338, 341–342, 347, 358, 360–361 Philostrat 32 Platon 24 Plotin 19 Quintilian 34 Raumer, R.v. 46–47 Rebmann, J.A. 178 Reichardt, H. 8, 21 Richardson, S. 162, 304 Richter C. s. Mayer, C. Richter, J.Ch. 93 175 Richter, S.R. 93–94, 96, 98, 102–103, 111–114, 123, 176, 178–179, 200, 271, 273–274, 282 Rolsch, C.Chr. 92, 171, 178–194, 352 Rousseau, J.J. 242–243, 245, 248, 251, 263, 270, 342–343 Schäfer, G. 261 Schelling, F.W.J. 45, 377–379, 381
Scherer, W. 48 Schiller, F. 182, 218–220, 226, 228, 230, 237, 276, 302, 324 Schlabrendorff 302, 307, 341, 347 Schlegel, F. 9–10, 16, 55–56, 373–376 Schleiermacher, F. 49–50, 76–77 Schnabel, J.G. 132 Schröder, C. 236, 242–243 Schuckmann, H.v. u. Fam. 172, 195, 252, 264–266 Schütze, Ch.H. 41 Schwarz, F.H.Ch. 81 Sinclair, I.v. 363–364 Soliman, A. u. J. 310, 326 Spangenberg, B.v. 99, 115 Saint-Pierre, Bernardin de s. Bernardin de Saint-Pierre Staël, G. 245, 248, 360 Stapfer, A. 263, 355, 359–360 Stein, Ch.v. 152 Sterne, L. 205, 381 Stockhausen, Ch. 88–89, 313 Suphan, B. 230 Sydow, F.v. 89 Sydow, J.v. 296, 302–307, 335, 347, 352 Täglichsbeck, J.F. 140 Thieriot, P.E. 347, 358 Tieck, L. 47, 51, 80, 159 Varnhagen, R. 77–78, 92, 152, 278 Vico, G.B. 22 Vogel, E.F. 98, 113, 210 Vogel, J.W. u. Fam. 175–177, 179, 194 Völkel, J.S. 133, 175 Völkel, S. u. Fam. 171, 175–180, 188– 194 Volkmann, J.J. 272 Voß, A. 260 Voß, Ch.F. 210 Voß, H. 260 Wagner, A. 47 Wambold v. Umstadt, F. 255, 258–261 Weckherlin, W.L 178 Weiße, D. 296, 300–301 Weiße, Ch.F. 300 Wernlein, K.F. 130–131, 144–145, 347 Wieland, Ch.M. 144, 181–183, 219–222, 227, 263, 324
411
Winckelmann, J.J. 14, 42, 380 Winterfeld, F.W.v. 198, 202, 213–216, 261 Wirth, F. 91, 123, 126–128, 130, 133, 175 Wirth, G.J. 123–126, 130
Wirth, R. u. Fam. 91, 123–140, 146, 158, 172, 176, 208, 262, 352 Witkowski, G. 44–51, 53 Wolf, F.A. 377–378 Wollstonecraft, M. 282, 294
3. Register der Werke Jean Pauls Bitte für Unglückliche 359 Briefe und bevorstehender Lebenslauf 79, 306 Flegeljahre 211 Der Genius 161 Grönländische Prozesse, oder Satirische Skizzen 93 Hesperus 44, 59–60, 123, 132, 145, 169, 182–183, 192, 195–197, 200–201, 203–205, 210–211, 215, 256–257, 262, 278, 283, 287, 303–305, 310 Der Jubelsenior 186, 248 Das Kampaner Thal 307, 310 Der Komet 139 Konjektural-Biographie 306, 322, 327 Levana 20
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Neujahrswunsch 157, 159, 161 Palingenesien 41, 287 Preisfrage an die erotische Akademie 122 Quintus Fixlein 41, 201, 215, 274 Rath zu urdeutschen Taufnamen 359 Rezension zu Fouqués Alwin 373–375 Selberlebensbeschreibung 156–157 Siebenkäs 45, 223, 225, 261, 340 Titan 267–268, 271–272, 287, 290–291, 299, 301, 315, 318–319, 328, 336, 357 Die unsichtbare Loge 131, 139, 144– 145, 149, 164, 184–185, 196, 210, 256, 266–267 Vorschule der Ästhetik 359