Geheime Texte: Jean Paul und die Musik [Reprint 2012 ed.] 9783110882414, 9783110168952

Das vielzitierte Musikalische in Jean Pauls Dichtung - seit 200 Jahren einer der wichtigsten Rezeptionstopoi in der Jean

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German Pages 355 [360] Year 2001

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Table of contents :
Einleitung
Erstes Vor-Kapitel. »Er ist der musikalische Dichter dieses Zeitalters«. Ein Rezeptionstopos und seine Folgen
Zweites Vor-Kapitel. Jean Paul und die Musiktheorie seiner Zeit
1. Quellen
2. Das merkwürdige musikalische Leben des jungen Richter: Musikalische Ausbildung
3. Musiktheoretische Notizen: Die Musik-Regeln und das Aufsatz-Fragment Über Musik
4. Jean Paul und die Beethoven-Rezeption
5. Empfinden und Erfinden: Fantasieren am Klavier als Weg zur Dichtung
6. Musikleben: »Oper das gröste«
ERSTER TEIL.
Kapitel I. Jean Paul und die Musikszene im empfindsamen Roman
1. Der Ausdrucksbegriff
2. »Die Liebe hat ihre eigne Sprache«: Musik als »Losung« in Goethes Werther und Millers Siegwart
3. Air à trois notes: Das Ideal des Natürlichen
4. »Wir suchten uns rührender zu machen«: Dokumente bewußter Wirkungssteigerung
5. Das Klavier als Seelenpartner, der Mensch als Resonanzboden
Kapitel II. »Alphabet der Empfindungen« oder »geheime Texte«? Musik als Sprache
1. Hartknopfs »Alphabet der Empfindungen«: Jean Paul und Karl Philipp Moritz
2. »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei«
3. Die reine Instrumentalmusik
4. »Geheime Texte«: Das wahre musikalische Hören?
Kapitel III. Ut musica poesis: Die Stellung der Künste
1. Simultane und sukzessive Zeichen
2. Die innere und die tönende Sukzession bei Daniel Webb, Herder und A.W. Schlegel
3. Kants Kritik am transitorischen Charakter der Musik und Herders Aufsatz Von Musik
4. Die Zeitlichkeit der Musik im Erzähltext: Vergangenheit und Zukunft
Kapitel IV. Die Evokationsfähigkeit der Musik: Musik als Medium der Selbstbegegnung
1. Erkennen und Empfinden: Auge und Ohr
2. Jean Pauls »Empfindbilder«
3. Das Innere hören: Musik als Medium der Selbstbegegnung bei Jean Paul, Hegel und Bloch
4. Metaphorik der Verflüchtigung: Töne in den Traumdichtungen
Kapitel V. Das »Musikalische« in der Landschaftsmalerei
1. Theorie der Landschaft
2. Das einheitstiftende Moment des »Tons«
3. Der Stimmungsbegriff
4. Die Kategorie des »Musikalischen« in der Malerei
Kapitel VI. Musik als Medium der Weltbegegnung: Die »musikalische Landschaft« der Dichter
1. Innen und Außen: Dichterische Landschaft
2. Die Definitionen Schillers und August Wilhelm Schlegels
3. Die Definition der Vorschule
4. Das Element der Bewegung in Jean Pauls Landschaften
5. Die Evokation des Raumes
Zusammenfassung
ZWEITER TEIL.
Kapitel VII. Unsichtbare Loge und Hesperus oder 45 Hundposttage Vorschein der anderen Welt
1. Gustavs »Auferstehung«: Vergehen an den Tönen
2. Abendröte: Ein Zeichen des Übertritts
3. Das Motiv der Blindheit
4. Harmonie der Welt und Echo des menschlichen Herzens: Jean Paul und die Sphärenharmonie
5. Das Konzert
6. Rührung oder Transzendenz?
Exkurs. Musica humana: Jean Pauls musikalische Metaphorologie
Kapitel VIII. Titan. Töne als Zeichen
1. »Aus der Seele muß man spielen«: Albanos Fantasieren
2. Inszenierte Natur: Im Flötental
3. Geisterinseln: Töne als Zeichen
4. Der Trauerspieler
5. Die Kunst der Verführung? Jean Paul und Mozart
Kapitel IX. Flegeljahre. Musik als dichterische Vision
1. Der deutsche Roman und die Rolle der Musik
2. Ein Paar »Herzohren« und ein Virtuose
3. Die Flöte als arkadisches Instrument
4. Die Stellung des Musikers
5. Die Macht der Musik
6. Die Melodram-These
7. Das Konzert
8. Musik der Musik
Schluß
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Geheime Texte: Jean Paul und die Musik [Reprint 2012 ed.]
 9783110882414, 9783110168952

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Julia Cloot Geheime Texte

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

17 (251)

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Geheime Texte Jean Paul und die Musik

von

Julia Cloot

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Gedruckt mit Unterstü tzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

D 188

© Gedruckt auf sä urefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm ü ber Haltbarkeit erfü 11t.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Cloot, Julia: Geheime Texte: Jean Paul und die Musik / von Julia Cloot. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 17 = (251)) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1999 ISBN 3-11-016895-2

ISSN 0946-9419 © Copyright 2001 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließ lieh aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschü tzt. Jede Verwertung auß erhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulä ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fü r Vervielfá ltigungen, Ü bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Hubert & Co., G ö ttingen Buchbinderische Verarbeitung: Lü deritz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Das Thema meiner Arbeit geht zurück auf ein Oberseminar meines akademischen Lehrers, Professor Peter Sprengel, in dem ich im Wintersemester 1993/94, noch vor meinem musikwissenschaftlichen Magisterexamen, erste Bekanntschaft mit Jean Paul Schloß. Professor Sprengel danke ich für seine kontinuierliche und umsichtige Betreuung, Professor Norbert Miller für die freundliche Aufnahme in sein Kolloquium und zahlreiche Anregungen. Bei meinem musikwissenschaftlichen Lehrer, Professor Albrecht Riethmüller, bedanke ich mich ebenfalls für die Aufnahme in sein Kolloquium, in dem ich mehrfach aus meiner germanistischen Forschung referieren durfte. Für mannigfachen Rat und fruchtbaren Austausch danke ich Dr. Thomas Betzwieser, Susanne Brauer, Oliver Busch, Dr. Susanne Fontaine, Verena Großkreutz, Annikki Scheu, Dr. Roland Schmenner, Bernhard Tempel und Thorsten Windt. Bei Dr. Christian Kipper bedanke ich mich für seine unermüdliche Unterstützung während der Promotionszeit und Hilfe bei den Korrekturen. Für die professionelle Gestaltung des Manuskripts danke ich Oliver Busch, der sich auch inhaltlichen Korrekturen in allerletzter Minute nicht abgeneigt zeigte. Danken möchte ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes für ein Doktorandenstipendium, das mir drei Jahre weitgehend ungestörter Forschungsarbeit ermöglichte, und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung einer Druckkostenbeihilfe.

Berlin, im Herbst 2000

Julia Cloot

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

Erstes Vor-Kapitel »Er ist der musikalische Dichter dieses Zeitalters« Ein Rezeptionstopos und seine Folgen

13

Zweites Vor-Kapitel Jean Paul und die Musiktheorie seiner Zeit 1. Quellen

27 27

2. Das merkwürdige musikalische Leben des jungen Richter: Musikalische Ausbildung 3. Musiktheoretische Notizen: Die

36 Musik-Regeln

und das Aufsatz-Fragment Uber Musik

40

4. Jean Paul und die Beethoven-Rezeption

44

5. Empfinden und Erfinden: Fantasieren am Klavier als Weg zur Dichtung 6. Musikleben: »Oper das gröste«

47 55

E R S T E R TEIL Kapitel I Jean Paul und die Musikszene im empfindsamen R o m a n 1. Der AusdrucksbegrifF 2. »Die Liebe hat ihre eigne Sprache«: Musik als »Losung« in Goethes Werther und Millers Siegwart 3. Air à trois notes: Das Ideal des Natürlichen 4. »Wir suchten uns rührender zu machen«: Dokumente bewußter Wirkungssteigerung 5. Das Klavier als Seelenpartner, der Mensch als Resonanzboden

63 65 68 75 79 81

Kapitel II »Alphabet der Empfindungen« oder »geheime Texte«? Musik als Sprache

85

1. Hartknopfs »Alphabet der Empfindungen«: Jean Paul und Karl Philipp Moritz

86

Vili

Inhaltsverzeichnis

2. »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« 3. Die reine Instrumentalmusik 4. »Geheime Texte«: Das wahre musikalische Hören? Kapitel III U t musica poesis: Die Stellung der Künste 1. Simultane und sukzessive Zeichen 2. Die innere und die tönende Sukzession bei Daniel Webb, Herder und A.W.Schlegel 3. Kants Kritik am transitorischen Charakter der Musik und Herders Aufsatz Von Musik 4. Die Zeitlichkeit der Musik im Erzähltext: Vergangenheit und Z u k u n f t

94 99 101

105 106 112 115 117

Kapitel IV Die Evokationsfähigkeit der Musik: Musik als M e d i u m der Selbstbegegnung 1. Erkennen und Empfinden: Auge und O h r 2. Jean Pauls »Empfindbilder« 3. Das Innere hören: Musik als M e d i u m der Selbstbegegnung bei Jean Paul, Hegel und Bloch 4. Metaphorik der Verflüchtigung: T ö n e in den Traumdichtungen

141

Kapitel V Das »Musikalische« in der Landschaftsmalerei 1. Theorie der Landschaft 2. Das einheitstiftende M o m e n t des »Tons« 3. Der Stimmungsbegriff 4. Die Kategorie des »Musikalischen« in der Malerei

151 152 157 159 161

Kapitel VI Musik als M e d i u m der Weltbegegnung: Die »musikalische Landschaft« der Dichter 1. Innen und Außen: Dichterische Landschaft 2. Die Definitionen Schillers und August Wilhelm Schlegels 3. Die Definition der Vorschule 4. Das Element der Bewegung in Jean Pauls Landschaften 5. Die Evokation des Raumes

165 166 168 171 177 187

Zusammenfassung

191

125 125 132 136

Inhaltsverzeichnis

IX

Z W E I T E R TEIL Kapitel VII Unsichtbare Loge u n d Hesperus oder 45

Hundposttage

Vorschein der anderen Welt 1. Gustavs »Auferstehung«: Vergehen an den Tönen 2. Abendröte: Ein Zeichen des Ubertritts 3. Das Motiv der Blindheit 4. Harmonie der Welt und Echo des menschlichen Herzens: Jean Paul und die Sphärenharmonie 5. Das Konzert 6. Rührung oder Transzendenz? Exkurs Musica humana: Jean Pauls musikalische Metaphorologie

197 200 207 210 212 218 223

227

Kapitel VIII Titan

Töne als Zeichen 1. »Aus der Seele muß man spielen«: Albanos Fantasieren 2. Inszenierte Natur: Im Flötental 3. Geisterinseln:Töne als Zeichen 4. Der Trauerspieler 5. Die Kunst der Verführung? Jean Paul und Mozart

237 237 248 255 260 267

Kapitel IX Flegeljahre

Musik als dichterische Vision 1. Der deutsche Roman und die Rolle der Musik 2. Ein Paar »Herzohren« und ein Virtuose 3. Die Flöte als arkadisches Instrument 4. Die Stellung des Musikers 5. Die Macht der Musik 6. Die Melodram-These 7. Das Konzert 8. Musik der Musik

273 275 277 283 285 287 294 296 303

Schluß

311

Literaturverzeichnis

317

Personenregister

341

MEINEN

ELTERN

Einleitung »Müssen wir d e n n nicht i m m e r den T ö n e n g e heime Texte, j a sogar Landschaften unterlegen, damit ihr N a c h k l a n g in uns stärker sei als ihr Vorklang außen?« 1

Erfreute sich das Thema »Jean Paul und die Musik« großer Beliebtheit zunächst zu des Dichters Lebzeiten und dann noch einmal in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, 2 so erlebte es in den letzten fünfzig Jahren eine Flaute. 3 Jean Pauls R o m a n e sind im Bewußtsein der heutigen Leser, seien es Laien oder Literaturwissenschaftler, mit Musik bei weitem nicht so fest verbunden wie die Werke seiner Zeitgenossen Wackenroder und Tieck, Novalis, August Wilhelm und Friedrich Schlegel oder E.T.A. Hoffmann. 4 Läßt man die Gattungsfrage einmal beiseite, so überragt Jean Pauls Beitrag — diese Bemerkung sei gestattet — schon mengenmäßig zumindest die Frühromantiker. Die Eingliederung des Dichters in die entsprechenden Forschungszusammenhänge ist dennoch bisher nur in vereinzelten A n sätzen erfolgt. 5 Eine umfassende Studie fehlt bis heute, denn Gustav Jägers materialreiche Dissertation Jean Paul und die Musik blieb unveröffentlicht und liegt nur maschinenschriftlich vor. 6 Der daraus hervorgegangene Aufsatz Jean Pauls poetischer Generalbaß mit seiner analytischen Zuspitzung der Dissertationsthesen zählt noch immer zu den seriösesten und informativsten Beiträgen zum Thema. 7

1

Das Zitat stammt aus Jean Pauls R e z e n s i o n des Deutschland-Buchs der M a d a m e de Staël (1814).

II, 3, S. 650 [Zur Zitierweise der Werke Jean Pauls vgl. Literaturverzeichnis S. 317]. 2

Einen Überblick über die Jean Pauls Verhältnis zur Musik g e w i d m e t e n Publikationen bis 1958

gibt Eduard Berend in seiner Jean-Paul-Bibliographie. N e u bearbeitet u n d ergänzt v o n Johannes Krogoll. Stuttgart 1963, S. 2 2 1 - 2 2 3 . Die Titel, zu d e n e n zahlreiche Zeitungsartikel gehören, k ö n n e n u n d m ü s sen hier nicht alle erwähnt werden. 3

Eine A u s n a h m e ist der Aufsatz von H a r t m u t Vinçon: Musik der Musik. Musikästhetische Notizen

zu

Jean Pauls >FlegeljahrenHesperusTon< des Sprechens über Musik« gefunden habe 4 0 und Gedanken Wackenroders vorwegnehme, der bisher als Initiator einer frühromantischen M u sikästhetik gegolten habe. 41 Der Gedanke, daß die Sprache derTöne, und zwar insbesondere die textlose einer reinen Instrumentalmusik, im Ausdruckswert vor der Wortsprache rangiere, wird nunmehr Jean Paul zugesprochen. 42 Seit Dahlhaus' und Millers Untersuchungen ist Jean Pauls Bedeutung in nichts Geringerem zu suchen als in der Übertragung des literarischen Unsagbarkeitstopos auf die T h e o rie der Instrumentalmusik. Dabei verstärkt und schließlich verabsolutiert Jean Paul eine Tendenz, die sich bereits in früheren Romanen bemerkbar macht: Der Frage, welche Musik die Wirkung auslöst, wird allenfalls sekundär Bedeutung beigemessen. 43 So steht die konkrete, »wirkliche« Musik der Konzerte neben der »unwirklichen« der Luft (-bewegung), deren Herkunft dunkel bleibt, sei sie aus diffuser Quelle entsprungen oder als Sphärenharmonie im Kosmos vorausgesetzt. Doch auch diese Unterscheidungen sind stets von sekundärer Bedeutung, wie die Analysen zeigen werden: Entscheidend ist nicht, was gehört wird, sondern wie es gehört wird und wer es hört, und die musikalische Wirkung in ihrer höchsten Potenz ist immer eine

39

1,1.S.776.

40

Dahlhaus (Hg.): Musik - zur Sprache gebracht, a.a.O., S. 175.

41

Vgl. ebd., S. 179.

42

»Die Musik spricht. Sie leistet, was die Dichtung nur auf sehr angestrengte und obendrein der

Musik abgelauschte Weise — durch die Sprachmusik zu evozieren versucht: die Beschwörung der U n endlichkeit.« Miller: Musik als Sprache, a.a.O., S. 273. 43

»Dabei genügen dann wenige Töne, die kunstlose Erinnerung an ein fur den Helden bedeutsa-

mes Motiv, die ihn befáhigt, seine eigenen Schmerzen oder Freuden in die Unendlichkeit zu ergießen.« Ebd., S. 271.

8

Einleitung

Transformation der tatsächlich erklingenden T ö n e im Inneren des Hörers, wo sie ihren »geheimen Text« empfangen. Fußend auf den Untersuchungen von Dahlhaus und Miller 44 hat R u t h E. Müller in ihrer Dissertation die Bedeutung von beschriebener Musik für die M u sikästhetik untersucht. 4 5 Die Autorin nimmt zwei Existenzweisen der Musik im R o m a n an, und zwar erstens als Bestandteil der äußeren Handlung und zweitens als Bestandteil der inneren Handlung. Im einen Fall handelt es sich um real erklingende Musik, im anderen Fall kann das nicht eindeutig entschieden werden. 4 6 Die Analyse beschriebener Musik ist daher Müller zufolge aus doppelter Perspektive zu bewerkstelligen: Sie erfordert zum einen die ästhetische Einordnung, zum anderen den Blick auf die erzählte Situation, also auf den Handlungskontext, in dem Musik auftritt. Müller analysiert Musik-, meist Konzertszenen aus vornehmlich empfindsamen R o m a n e n von Johann Martin Miller, Jung-Stilling und Wilhelm Heinse. Da Jean Paul sich — wie oben beschrieben und zitiert — aus dem musikalischen Empfindsamkeitsmuster löst, das Musik in erster Linie als Kommunikationsmittel verwandter Seelen vorsieht, sie also dort einsetzt, wo das Sagen in Worten gegen die Schicklichkeit verstößt, steht der Dichter an letzter Stelle in Müllers Buch - gewissermaßen als Vorschein künftiger (romantischer) Musikdichtung. Das Kapitel über die Unsichtbare Loge und den Hesperus nennt Müller »Entrückte Töne«, was zu meiner oben skizzierten These paßt, daß es Jean Paul u m die Transformation der T ö n e im Bewußtsein des Hörers zu tun ist. Wurde Jean Paul auf diese Weise in den Kanon jener Dichter integriert, die der zeitgenössischen Musikästhetik dichterisch nicht nur den Weg bereiteten, sondern sie entscheidend prägten, so hat er es innerhalb des komparatistischen Gebietes der Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Dichtung und Musik kaum zu Erwähnungen, geschweige denn zu Popularität gebracht. 47 Zwar hat der Aspekt der ohnehin vielberufenen Strukturverwandtschaft von Dichtung und Musik in den letzten Jahren erneut eine inflationsartige Steigerung auf der Beliebtheitsskala erfahren, 48 Jean Pauls Schaffen blieb jedoch von dieser Entwicklung unberührt.

44

Vgl. auch N o r b e r t Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 1 S.Jahr-

hunderts. M ü n c h e n 1968. 45

R u t h E. Müller: Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik

im späten 18. Jahrhundert. Stuttgart 1989

(zugl. Diss. Berlin 1988). 46

»(...) w o b e i m Auftreten von Musik nicht m e h r entschieden w e r d e n kann, o b sie in einer H a n d -

lung tatsächlich erklingt oder nur als Projektion einer Person existiert: d o r t ist die Schwelle zur r o m a n tischen Musikbeschreibung überschritten, die das ästhetische P h ä n o m e n Musik entmaterialisiert, in sich aufsaugt u n d u m g i e ß t in ein Element, das das Poetische schlechthin verkörpert.« Ebd., S. 37. 47

H i e r wäre einzig Johannes Mittenzwei zu n e n n e n , der Jean Paul ein Kapitel widmet. Das Musi-

kalische in der Literatur. Halle/Saale 1962. Bei Mittenzwei stehen inhaltliche Ü b e r l e g u n g e n im Vorderg r u n d , keine Strukturanalysen. 48

Vgl. etwa die Aufsatzsammlung: Musik und Literatur. Komparatistische Studien zur

schafi. H g . von Albert Gier u n d Gerold W. Gruber. F r a n k f u r t / M . 1995.

Strukturverwandt-

9

Einleitung

Das hängt paradoxerweise mit der letzten Renaissance seiner Werke zusammen: Seitdem die Romane Jean Pauls in ihrer Eigenart erkannt und vorbehaltlos gewürdigt werden, ist der Rekurs auf ihre »musikalische« Form unnötig geworden. Er war Symptom einer Literaturwissenschaft, die bei der Rechtfertigung des Neuartigen, Unerlaubten, vermeintlich Formlosen, in Digressionen Erstickenden auf die »Schwestergattung« der Musik zurückgreifen zu müssen glaubte. Im Zuge der erzähltechnisch orientierten Strukturanalysen der 60er Jahre suchte man die unscharfe Kategorie des »Musikalischen« durch analytisch fundierte treffendere Begriffe zu ersetzen. Raschs Untersuchung markiert hier den Anfangspunkt. 49 Doch ist die Jean-Paul-Forschung nicht die Domäne komparatistischer Strukturanalytiker, die Zurückhaltung gegenüber seinen Werken in den einschlägigen Sammelbänden muß daher andere Gründe haben. Dahlhaus', Millers und Müllers treffende und griffige Bestimmungen von Jean Pauls Rolle bei der Herausbildung einer romantischen Musikästhetik am Beispiel einer klug gewählten Passage und deren Umfeld mögen davon ablenken, daß, wer Jean Pauls Musikanschauung zu seinem Gegenstand macht, es mit einer Fülle von einschlägigen Textstellen zu tun hat, ganz zu schweigen von Briefen oder unveröffentlichten Quellen. Manchen von der Kürze Wackenroders, der Knappheit Tiecks oder der bestens erforschten Vielfalt E.T.A. Hoffmanns verwöhnten Komparatisten mag beim Anblick dieser vielen tausend Seiten Schwindel befallen ob der unumgänglichen Notwendigkeit, zu diesem Œuvre eine nicht minder umfängliche Stellenkartei oder Datenbank anzulegen. Zudem bietet sich dem Erstleser ein diffuses Bild von Jean Pauls Musikästhetik, dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß die in Anschlag zu bringenden Details über sein gesamtes Werk einschließlich der Rezensionen verstreut sind. Kurzum: Wo von Musik im Text gehandelt wird, ist in den seltensten Fällen von Jean Paul die Rede. Die schier unübersehbare Vielfalt von musikalischen Erscheinungen in Jean Pauls Werk sollte nicht den Impuls auslösen, unter allen Umständen möglichst enzyklopädisch vorgehen zu wollen, ein Unterfangen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Doch mit dem Verzicht auf Vollständigkeit ist es nicht getan, es gilt vielmehr, sich in derVielfalt der Ansätze zu positionieren. Die vorliegende Studie möchte erzähltechnische mit ästhetikgeschichtlichen Ansätzen verbinden, um so dem Eindruck des »Musikalischen« in Jean Pauls Romanen auf die Spur zu kommen, und zwar in Erweiterung von Ruth E. Müllers Doppelperspektive der ästhetischen Einordnung einerseits und der Analyse des Handlungskontextes andererseits. Der von Herman Meyer übernommene Begriff der »epi-

49

Wolfdietrich Rasch: Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphemspiele und dissonante Strukturen. In: Inter-

pretationen, Bd. 3: Deutsche Romane von Grimmelshausen

bis Musil. Hg. von Jost Schillemeit. Frank-

f u r t / M . 1966, S. 82—117.Vgl. auch Hans Esselborn: Die Vielfalt der Redeweisen und Stimmen. Jean Pauls erzählerische Modernität. In:JbJPG 2 6 / 2 7 (1991/92), S. 3 2 - 6 6 .

10

Einleitung

sehen Integration« 50 soll dabei fruchtbar gemacht werden fur die Bewertung von Jean Pauls dichterischem U m g a n g mit Musik. »Epische Integration« wird Meyer zufolge zur Notwendigkeit, wo disparate Elemente in den fortschreitenden Erzählzusammenhang einzugliedern sind. Meyers Ausgangspunkt ist Goethes organischer Ganzheits-Begriff, den dieser auf das Kunstwerk übertragen hatte. Disparat sind diejenigen Elemente des Kunstwerks, die sich dem epischen Zeitstrom widersetzen, also solche, die kein Geschehen enthalten, etwa statische G e genstände, Beschreibungen, ideelle Gehalte, allgemeine Ideen und Probleme, die außerhalb von Zeit und R a u m liegen. Hierzu gehören alle Digressionen in den R o m a n e n Jean Pauls, jene Ausflüge, die nicht nur den zeitgenössischen Jean-PaulLesern und -Interpreten Kopfzerbrechen bereiteten. Meyer macht zwar Goethes Wilhelm Meister und Thomas Manns Zauberberg zum Gegenstand seiner Untersuchung, eine Übertragung auf Jean Pauls Erzählwerk erscheint jedoch möglich u n d wünschenswert. Dort, wo der Dichter die Elemente einer fortlaufenden Handlung durch Digressionen unterwandert, verliert der Leser den Uberblick nicht nur über die Handlung, sondern auch über die erzählte Zeit, die in den Abschweifungen stillsteht. Literatur und Musik unterliegen beide der Zeit, die nötig ist zum Lesen oder Hören von Dichtung oder M u sik, sie sind »Zeitkünste«. Das könnte die Grundlage bieten flir die Frage, ob nicht die Integration von Musik in den R o m a n die konsequenteste und avantgardistischste Form der Abschweifung ist, eine, die »epische Integration« in einem Maß erfordert, das die Integrationsnotwendigkeit von Jean Pauls üblichen Digressionen weit übersteigt. Das Auftreten von Musik wird engstens mit der Handlung verknüpft, diese wird gleichsam vertont, aber gerade dadurch steht die Zeit still; die Musik verleiht dem in der Zeit sich ereignenden Geschehen die überzeitliche D i mension und erfüllt damit den am Ende des 18. Jahrhunderts gerade geträumten Wunsch einer absoluten Instrumentalmusik, die wortlos nur sich selbst bedeutet. Die Zeitlichkeit der Musik macht die Zeitlichkeit der Poesie vergessen; deren Eigenschaft, gleichzeitig stattfindende Ereignisse nur nacheinander schildern zu können, wird paradoxerweise aufgehoben. Helmut Pfotenhauer hat in einer komplementären Untersuchung, ebenfalls ausgehend von Lessings semiologischer Typologisierung, 51 die erzähltechnische Bedeutung des Bildes in der Literatur untersucht. Seine Fragestellung richtet sich auf die Funktion der Malerei und des Malenden nach der Abkehr vom MimesisPrinzip. Ähnlich wie wir zwischen »wirklicher« u n d »unwirklicher« Musik unterscheiden, macht Pfotenhauer zwei Typen von Bildern in der Literatur der Zeit u m 1800 aus: Z u m einen im Text beschriebene reale oder fiktive Bilder der bildenden Kunst, zum anderen bildhafte Unterbrechungen im Erzählfluß, die im Text den Eindruck von Simultaneität erwecken sollen, von Pfotenhauer im Unterschied

50

H e r m a n Meyer: Zur Frage der epischen Integration. In:Trivium 8 (1950), S. 299—318.

51

Vgl. Kapitel III.

Einleitung

11

zum gemalten Bild Tableau genannt. Beide Formen dienen dazu, durch Medienwechsel »das andere der Sprache in der Sprache zu insinuieren«,52 ähnlich wie es den Einsatz von beschriebener Musik im dichterischen Text charakterisiert. Während jedoch Bilder im Text »die Zeit stillstellen, verräumlichen, das Nacheinander zum Nebeneinander und Ineinander eines tableaus verwandeln«,53 müßte die Musik - fuhrt man Pfotenhauers Überlegungen weiter - ihrer Zeitlichkeit zufolge umgekehrte Wirkung haben. Das ist nicht der Fall, die Analysen werden zeigen, daß beschriebene Musik im Text den Stillstand der Zeit fühlbar macht, weil sie erzählte Zeit begleitet. Zwei Thesen stehen im Vordergrund der vorliegenden Arbeit. Die erste betrifft Jean Pauls Umgang mit der Musikästhetik seiner Zeit: Sie versteht die Musikästhetik des mittleren bis späten 18. Jahrhunderts als universalen Prätext für die Musikbeschreibungen und die darin verwendeten musikästhetischen, -theoretischen und musikalischen Details. Die zweite These betrifft die erzähltechnische Seite des Phänomens Musik im Text und lautet dahingehend, daß der Einsatz von Musik immer ein Spiel mit Zeit und Raum ist, daß die Suggestion von erklingender Musik nicht nur die erzählte Zeit im Text als solche erfahrbar macht, sondern auch imaginäre Räume zwischen den Polen von Nähe und Ferne aufspannt. Die durch Musik evozierten »geheimen Texte« füllen dabei den Raum über der Sprache, sie sind Bildfragmente aus der Vergangenheit, Glocken aus der Kindheit, leise Töne am Ubergang zu einer anderen Welt, aber immer gespeist aus Motiven und Themen der zeitgenössischen Ästhetik, die sich Jean Paul in charakteristischer Weise anverwandelt. »Epische Integration« meint also immer auch die epische Integration des herrschenden musikästhetischen Diskurses. Die folgende Studie möchte die Werke Jean Pauls für jenen Forschungszweig gewinnen, der sich den Wechselwirkungen zwischen Musik und Sprache widmet, in dem sie nicht nur unterrepräsentiert, sondern eigentlich nicht vorhanden sind. Darüber hinaus möchte sie der schon geschehenen Positionierung Jean Pauls in der Musikästhetik des späten 18. Jahrhunderts weitere Facetten anfügen. Die Perspektive ist dabei immer die von der Dichtung auf die Musikästhetik, nicht umgekehrt, gemäß der These, daß die musikästhetischen Diskurse der Zeit von Jean Paul dichterisch verwertet und verwandelt werden. In gewissem Sinne versteht sich die Untersuchung auch als Ergänzung zu Barbara Naumanns Studie über das »Musikalische«, in der Jean Paul nicht vorkommt, 54 obwohl auch seine musikästhetischen Vorstellungen sich um den Gedanken formieren, daß Musik eine Sprache sei. In Abgrenzung von Naumanns Ansatz soll hier nicht das »Musika-

52

H e l m u t Pfotenhauer: Die nicht mehr abbildenden Bilder. Zur Verräumlichung der Zeit in der Prosa-

literatur der Zeit. In: Poetica 28 (1996), S. 346. 53

Ebd.

54

Barbara N a u m a n n : >Musikalisches Ideen-Instrument WortsinnInhalte< hervorbringt).« Ebd., S. 316 (Nachwort). 22

Ebd., S. 274.

23

»Die tiefsten Geheimnisse der Poesie liegen in der Aktion, in welche sie unsre Seele setzt«. Ebd.,

S. 336. 24

Ebd., S. 313.

25

»Klopstocks T h e o r i e der W o r t b e w e g u n g sichert sich ihre Privilegierung gegenüber den D i m e n -

sionen Klang u n d B e d e u t u n g also dadurch, daß sie eine T h e o r i e des Wortlosen in sich einschließt.« Ebd., S. 314. 26

Ebd., S. 324 f. »Auch in der R e d e , sagt Dionys, ist etwas Musikalisches, welches, nur d e m Grade,

aber nicht der Beschaffenheit nach, von d e m unterschieden ist, das der Gesang u n d die W o r t e haben.« Ebd., S. 142. 27

Ebd., S. 322 (Nachwort).

Erstes Vor-Kapitel

17

Der Vergleich mit Musik und Tanzkunst dient Klopstock dazu, die Zeitlichkeit der Poesie hervorzuheben. Damit einher geht eine Geringschätzung der dichterischen Bildlichkeit, von Metapher, Metonymie, Allegorie und Symbol. 28 Das Moment der signifikativen Entschlüsselung des Gesagten ist nicht mehr der Primärzweck, die Wortbewegung »ist selbst, was sie >ausdrücktVt Pictura Poesist. Die Beschreibungsliteratur und

ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. M ü n c h e n 1972, S. 45. 36

Exklamationen wie »Oh!« suggerieren einen unmittelbaren Ausdruck, weil zwischen der G e -

fühlsregung u n d ihrem verbalen Ausdruck eine nur minimale zeitliche Verzögerung liegt. 37

Vgl. den Ausdruck »Flötensprache« in den Flegeljahren. 1,2, S. 1077.

Erstes Vor-Kapitel

19

Feder liegt und doch so schwer zu beschreiben ist, scheint einzig in der »reinen«, wortlosen Instrumentalmusik aufgehoben. Die Freunde Wilhelm Heinrich Wakkenroder und Ludwig Tieck mit ihren 1799 publizierten Phantasien über die Kunst gehören zu den ersten Vertretern dieser Idee einer absoluten Musik, die nichts bedeutet außer sich selbst. 1810 mündet die Idee in E.T.A. Hoffmanns vielzitiertes Gipfelwort von der Musik als der »romantischsten aller Künste«. Ist die Musik als Kunst der Inbegriff des Romantischen, so muß die Poesie, wenn sie romantisch sein soll, musikalisch werden. Das »Musikalische« avanciert zur ästhetischen Kategorie in der Theorie von Lyrik und Prosa, zu einem Maßstab, mit dem die Literatur der Zeit gemessen wird. 38 Der Terminus »musikalisch«, den man der Theorie der Instrumentalmusik entlehnt, signalisiert eine romantische Potenzierung, an deren Höhepunkt die Attribute der beiden Künste wechselseitig aufeinander appliziert werden, die Instrumentalmusik »poetisch« und die Dichtung »musikalisch« wird, ein Paradigmenwechsel, dessen Fundamente lange vorher gelegt wurden. So kann Novalis schließlich schreiben: Ein M ä h r c h e n ist eigentlich wie ein Traumbild - o h n e Z u s a m m e n h a n g - Ein E n semble w u n d e r b a r e r Dinge u n d Begebenheiten - z.B. eine musicalische Fantasie die H a r m o n i s c h e n Folgen einer Aeolsharfe — die N a t u r selbst. 39

In aphoristischer Verkürzung enthält Novalis' Äußerung eine Reihe von Assoziationen, die auch in der wissenschaftlichen Jean-Paul-Rezeption stets mitschwingen: Die Analogisierung zwischen Traum und musikalischer Fantasie, der Aspekt des Improvisatorischen, der im Hinweis auf diese musikalische Gattung implizit enthalten ist. Die Assoziation mit den zusammenhanglosen Traumbildern wiederum insinuiert eine lose Bilderfolge, die vom Gebot der rationalen Stimmigkeit befreit ist. Das Bild der Aolsharfe steht fur ein gleichsam absichtslos entstandenes Werk, dessen Saiten wie zufällig harmonisch und gleichsam nach der Natur tönen. Die Forderung an die Sprache, durch Wörter zu klingen, ist dagegen auch hier höchstens indirekt enthalten. Novalis kann das Märchen »ganz musicalisch« nennen, 40 weil die Attribute der beiden Künste einander zu ästhetischen Kategorien geworden sind. Nicht zufällig spielt das Schlagwort des »Musikalischen« in der Rezeption von Jean Pauls Träumen eine besondere Rolle. Und ebensowenig zufällig taucht hier der Antagonismus zwischen Goethe und Jean Paul wieder auf. So attestiert Ursula Gauhe Jean Paul eine musikalische »Traumbegabung« im Gegensatz zu der plastischen Goethes:

38

Das »Musikalische« als Kategorie der Poetik hat Barbara N a u m a n n in der einleitend erwähnten

Arbeit untersucht. >Musikalisches Ideen-InstrumenlSprechende< in Beethovens Instrumentalmusik.

Kammermusik.

In: Beiträge zu Beethovens

Hg. von S. B r a n d e n b u r g u n d H . Loos. M ü n c h e n 1987, S. 11—40.

46

Zweites Vor-Kapitel

U e b r i g e n s ist dieses große Genie, w o h l m e h r fur Instrumental- als für T h e a t e r m u sik geschaffen. Beethoven ist ein musikalischer Jean Paul. Er m u ß frei u n d träumend in allen R e g i o n e n u m h e r s c h w e b e n k ö n n e n , nicht i m Stande, sich irgend einer a n d e r n Einschränkung zu unterwerfen als der, welche die Forderungen der H a r m o nie i h m auferlegen. 1 0 0

Wenn bei Jean Paul der Name Beethoven noch keine Rolle spielt, so liegt das daran, daß der Dichter trotz seines ausdrücklichen Wunsches 101 niemals nach Wien kam, an die Hauptwirkungsstätte Beethovens. Die Zeitgenossenschaft des Komponisten mag überdies zu unmittelbar gewesen sein, Beethoven wurde sieben Jahre nach Jean Paul geboren und starb 1827, zwei Jahre nach diesem, während des Dichters Anschauungen über Musik sich um die Jahrhundertwende konstituieren, zu einem Zeitpunkt, an dem sich Beethovens Schaffen seinem Höhepunkt gerade erst nähert. Nach eigener Aussage hat Jean Paul nur eine der Beethoven-Symphonien gehört, 102 was aber nicht gegen die Annahme spricht, daß Jean Paul den Diskurs um das Phänomen Beethoven kannte. Es liegt auf der Hand, daß die Zeitgenossen die an der Persönlichkeit Beethovens entwickelten Rezeptionskategorien auf Jean Pauls Spiel übertrugen, nachdem die zwiespältige zeitgenössische Reaktion auf den Schriftsteller Jean Paul in ähnlichen Bahnen verlaufen war. 103 Einiges spricht dafür, daß auch Jean Pauls Schreiben und Spielen sich im Bewußtsein der Hörer vermischten und die Analogie zum Neuerer Beethoven daher wie gerufen kam. Die Dichtungen Jean Pauls mögen auf die Zeitgenossen ebenso neu und verwirrend gewirkt haben wie Beethovens Klaviersonaten auf ihre Hörer. Die Frage, wie Jean Pauls Spiel tatsächlich geklungen haben mag, muß daher unbeantwortet bleiben. Zu tendenziös sind die Ohrenzeugenberichte, zu zwiespältig ist der Eindruck aus den musiktheoretischen Notizen.Vor allem jedoch verblaßt die Fragestellung vor dem profilierten und exzeptionellen Eindruck, den Jean Pauls Dichtungen mit ihrer avancierten Integration der Musik in den Erzähltext hinterlassen.

100

Zitiert nach S c h ü n e m a n n : Czernys Erinnerungen an Beelhoven, a.a.O., S. 73.

101

Karl Bursy berichtet, Jean Paul habe nach W i e n gewollt, »um das t ö n e n d e W i e n zu sehen u n d zu

hören«.Jean Pauls Persönlichkeit, a.a.O., S. 109. 102

Vgl. Jean Pauls Persönlichkeit, a.a.O., S. 109. Welche S y m p h o n i e von Beethoven Jean Paul gehört

hat, bleibt offen. U b e r die O p e r Fidelio schreibt er an seine Frau: »Kaufst du eine Oper, so wähle statt der Iphigenie den Fidelio.-« SW, Abt. III, Bd. 8, S. 298 v o m 5.Januar 1820. 103

Vgl. das b e r ü h m t gewordene, bereits zitierte Urteil von Karl Philipp Moritz: »(...) das b e g r e i f ' i c h

nicht, der ist n o c h über Göthe, das ist ganz was Neues«. Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 607. Z u r Verbindung Jean Paul-Beethoven in der R e z e p t i o n vgl. Elisabeth Eleonore Bauer: Beethoven - unser musikalischer Jean Paul. Anmerkungen

zu einer Analogie. In: M u s i k - K o n z e p t e 56: Beethoven - Analecta varia. H g . von

Heinz-Klaus Metzger u n d R a i n e r R i e h n . M ü n c h e n 1987, S. 8 3 - 1 0 5 .

Empfinden und Erfinden

47

5. Empfinden und Erfinden: Fantasieren am Klavier als Weg zur Dichtung Jean Paul ist weder Komponist noch Pianist, sondern Dichter und Ohrenmensch. Zum Hörer prädestiniert ihn keineswegs der schmerzliche Verzicht auf einen geregelten, womöglich großbürgerlichen Klavierunterricht. 1 0 4 Wenn er auch ernsthafte Anstrengungen unternommen hat, die Regeln 1 0 5 des musikalischen Fantasierens zu lernen, so können es kaum die eigentlich klavieristischen Möglichkeiten gewesen sein, die ihn am improvisatorischen Klavierspiel faszinierten. Die Klänge, die seine kindlichen Musikerlebnisse auslösen, sind eher unspezifisch, was aber ihre Wirkung nicht schmälert: »Der Tonkunst war meine Seele (vielleicht der väterlichen ähnlich) immer aufgetan und sie hatte fur sie hundert Argus-Ohren«, 1 0 6 schreibt Jean Paul. Zweifach ist die Musik als Gegenstand der Sehnsucht in seiner Seele befestigt, in Form der Prägung durch den väterlichen »Fehlentschluß«, 107 das Risiko einer Musikerlaufbahn zu meiden, und durch die dörfliche Umgebung, die eine größere Häufigkeit von Hörerlebnissen wohl nicht zuläßt. 108 Später kann er sich die Eintrittskarten für Konzerte nicht leisten, und so kommt es relativ spät zu bedeutenden Höreindrücken, ähnlich wie bei Walt. Nicht nur das väterliche Orgelspiel gehört zu Jean Pauls frühen musikalischen Eindrücken, sondern auch die Klänge der Dörfer Wunsiedel und Joditz, in denen er seine ersten Jahre verbringt: »Kuhglockenspiele« 109 und ein Spielmannszug, der an Markttagen durch den Ort zieht, »Janitscharenmusik« mit Trommeln, Querpfeifen und Becken. Die Wirkung des Musikantenzugs beschreibt er so: »In mir, (...) der ich unaufhörlich nach Tönen lechzete, entstand ordentlich ein Tonrausch und ich hörte, wie der Betrunkne sieht, die Welt doppelt und im Fliegen.« 110 Gehört die Vorstellung einer rauschähnlichen Wirkung der Musik zum traditionellen Inventar poetischer Beschreibungen über die Macht der Töne, so ist doch der Zusammenhang zwischen Hören und Sehen bemerkenswert. Das musikali-

104

A m E n d e der zweiten Vorlesung in der Selberlebensbeschreibung

reiht Jean Paul die Musik mit ver-

haltener Ironie unter die Bildungsdinge ein, die i h m verwehrt waren, »so ohne alles Französische und Musikalische«. 1,6, S. 1 0 8 8 . 105

N u r scheinbar handelt es sich um eine regellose Kunst, wie die theoretischen Versuche zeigen,

die improvisatorischen Möglichkeiten der Klavierfantasie zu systematisieren. 106

1,6, S. 1060.

107

Hier m u ß freilich stets bedacht werden, wie natürlich und häufig ein solcher (sicher oft genug

gar nicht so empfundener) Verzicht a u f eine professionelle Kunstausübung in der Generation vor Jean Paul war. 108

Schünemanns Vermutung: »Singspiele und M e l o d r a m e n werden im väterlichen Hause viel g e -

spielt und gesungen worden sein«, entbehrt jeglicher Grundlage.Jean Pauls Gedanken S. 3 8 8 . 109

Selberlebensbeschreibung, Ebd., S. 1079.

1,6, S. 1 0 6 9 .

zur Musik, a.a.O.,

48

Zweites Vor-Kapitel

sehe Hören erhält eine sinnesübergreifende Qualität. »Die Welt hören«, das hat visionäre und auch religiöse Züge, und das »doppelte« Hören deutet auf ein Z u gleich von Innen und Außen, das den Eindruck einer tönenden Welt nicht vom Eindruck eines tönenden Inneren zu trennen vermag. Vor dem Einschlafen sucht Jean Paul sich die gehörten Klänge noch einmal zu vergegenwärtigen, sie »innen« zu hören. Diese Phantasieleistung bringt den Dichter zu sich, das innere Hören ist in direktem Zusammenhang zu sehen mit Jean Pauls Ich-Erlebnis, als »das innere Gesicht >ich bin ein Ich< wie ein Blitzstrahl vom Himmel« 1 1 1 in ihn fährt. Im frühen Fragment Abelard und Heloise (1781) läßt Jean Paul seinen Helden schreiben: »Selten phantasir' ich wie sonst - aber wenn ich's tue, dan bin ich ganz Abelard. Ich weine seltner als sonst, aber die Tränen sind inniger.« 112 Natürlich ist Abelard in diesem Frühwerk nicht nur ganz Abelard, sondern auch Jean Paul, der in dieser »Wertheriade« Elemente aus Goethes R o m a n und Millers Siegwart mit eigenen Jugendeindrücken erzählerisch verbindet. Abelards Spiel hat dort Evokations-Qualität; wenn er am Klavier fantasiert, »dan erscheint dem lechzenden Geist Heloise's Bild«. 1 1 3 Uber die trivial gewordene Verbindung Musik-Liebe geht das hinaus. Nicht nur »rührende«, sondern vor allem dichterisch-visionäre Qualität haben solche Bilder. Eine ähnliche Wirkung der Musik auf Jean Paul beschreibt Amöne Herold: Der Dichter, am Klavier zu Tränen gerührt, brach sein Spiel ab, er »setzte sich zu uns und sprach uns von seiner Z u kunft, seinen Reisen, seiner Frau, die er irgendwo finden würde (,..)« 114 Herolds Schilderung abendlicher Musizierstunden, in denen Jean Paul die Z u hörer, aber auch sich selbst mit seinem Spiel zu Tränen rührte, hat die Legende vom empfindsamen Musikhörer befördert, nicht ganz zu Unrecht, aber sicher auch nicht mit der nötigen Differenzierung.Jean Paul selbst notiert mit komischer Besorgnis ins Vita-Buch: »Ich habe eben eine so dumme Natur, daß mir alles, zumal Bewunderung p. in die Augen und in die Nase fährt, und ich weine (,..)« 115 Aber ebenso scharfsichtig gibt er zu bedenken: »Sobald ich bei dem Erfinden am Klavier p. ins Weinen komme, ists mit dem Erfinden vorbei und nur das Empfinden befiehlt.« 116

111

1,6, S. 1061.

1,2

II, 1,S. 123.

113

Ebd., S. 151.

1,4

Vgl .Jean Pauls Persönlichkeit, a.a.O., S. 5. »Jean Paul liebte die Musik, ohne ein Instrument beson-

ders zu bevorzugen. Denn (so hat er sich öfter bei Gelegenheit gegen seine Meininger Freunde ausgesprochen) es komme weniger auf die äußere Musik an als auf die innere, die in jedem Menschen lebe und durch jene geweckt werde. Das vermöge die Musik jedes Instruments. Er selbst pflegte durch Musik aufgeregt zu werden, vom Stuhle aufzuspringen und herumzuwandern, wobei er, halb träumerisch, einzelne Reden mehr vor sich hinsprach als daß er sie an den Musizierenden gerichtet hätte.« Karoline Richter in:Jean Pauls Persönlichkeil, a.a.O., S. 49. 115

SW, Abt. II, Bd. 6, S. 707.

116

Ebd., S. 714.

E m p f i n d e n u n d Erfinden

49

Hier mag der Leser zunächst schließen, Jean Paul wolle davor warnen, C.P.E. Bachs Forderung, selbst gerührt zu sein, um das Publikum rühren zu können, ad absurdum zu führen, aber Jean Paul ist ja kein Musiker. Wenn er vom Erfinden spricht, so bezieht sich das nicht auf eine überraschende melodische Wendung oder eine besonders gelungene Modulation, sondern auf dichterische Einfálle, die ihm während des Spiels zuwachsen. Der durch improvisatorisches Spiel erzeugte Rausch eröffnet Jean Paul die Dimension des ungegenständlichen, dichterischen Schauens, die nicht nur ihm als Basis des Schaffens gilt. Offenbar erzeugt Musik hier eine ähnliche Wirkung wie Alkohol: »Alles ist bei mir Tönen, nicht Schauen, wenn ich stark getrunken; ich höre mich oder das Innere ewig; und denke klar darüber (...)« n7 Nur scheinbar bilden hier »Tönen« und »Schauen« Gegensätze, im Inneren verschmelzen beide zur klaren Vision des eigenen Ich, und dieses Erkennen drängt zur Darstellung. Musik und Dichtung stehen also auch auf der Ebene des Schaffenden in enger Verbindung, an anderer Stelle wünscht sich Jean Paul »einen eignen Kerl (...), der so lange musizierte als ich schriebe«.118 Der Gedanke einer Art umgekehrten Ver-Tonung klingt hier an, denn Jean Paul knüpft seinen unerfüllbaren Wunsch an die Überlegung, eine mittelmäßige Komposition könne ja ebenso der Anlaß hervorragender Dichtung werden wie »so viele poetische Flickwerke (z.B. die Medea) der Anlaß zu musikalischen Meisterwerken waren« (ebd.). Läßt man die kritische Anspielung auf Bendas Melodram beiseite, so bleibt immer noch das Konzept einer Art Parodieverfahren, in der einer vorhandenen Musik ein Text unterlegt wird. Offenbar sind tatsächlich einige (Früh-) Werke Jean Pauls auf diese Weise als »geheime Texte« eigenen Spiels entstanden. 119 Die Wirkung des Fantasierens aufJean Paul verläßt also den Bereich empfindsamer Topoi und berührt mit der Anspielung auf die durch Musik hervorgebrachten (konkreten) Bilder den Bereich »malender«, also nachahmender Instrumentalmusik. Charakteristisch ist die Kopplung des musikalischen Fantasierens mit dem, was Jean Paul »Natur-Phantasieren« nennt: »Ich überließ mich unter dem Klavier(oder auch Natur-) Phantasieren nicht dem Genuße meines Gefühls sondern strebte heraus, um zu schaffen.-« 120 Was sich zunächst wie eine bewußte Abgrenzung vom empfindsamen Musikhören liest, wird vor allem durch die Kopplung von Musik und Natur bedeutsam. Die Phantasien, die Jean Pauls Helden unter der Musik aufsteigen, sind stets Naturbilder, keine Handlungen. Welche Bedeutung die Konkretisierung hat, die im Hinweis auf das Natur-Phantasieren steckt, erhellt eine Bemerkung, die Jean Paul in einem Brief an Christian Otto macht. Offenbar 117 118 119

SW, Abt. II, Bd. 6, S. 709. 1,1.S.386. Dieser Z u s a m m e n h a n g w u r d e verschiedentlich erwähnt, aber nur bei Kommereil richtig gese-

hen: »(...) d e m Meister der T ö n e kam so der dichterische Satz aus der innern Musik, die hier eben einmal W o r t werden wollte, u n d es über Jean Pauls Seele verhängte, daß sie zwischen Musik u n d Sprache wie zwischen M o n d u n d Erde schweben blieb (...)« Jean Paul, a.a.O., S. 20. 120

SW, Abt. II, Bd. 6, S. 680.

50

Z w e i tes Vor-Kapitel

als Reaktion auf eine kritische Bemerkung des Freundes fordert Jean Paul ihn auf: »Sage mir, welchen historischen Gegenstand ich bearbeiten kan?« 121 In den Flegeljahren verleiht Jean Paul dem Helden Walt das Attribut eines »musikalischen«, n ä m lich Landschaftsdichters, wobei das Musikalische selbstverständlich, wie in der Vorschule, als Metapher dient. Im Spannungsfeld zwischen spontanem Einfall und dessen schriftlicher Fixierung befindet sich der Dichter wie der Komponist. Der augenblicklichen Eingebung im Bereich der Inventio m u ß jene »Besonnenheit« folgen, die allein die Ausführung des Einfalls erlaubt. 122 Jean Paul behandelt die »Besonnenheit« im III. Programm der Vorschule: Über das Genie.Voraussetzung dafür, daß genialisches Potential auch schöpferisch wird, ist ihm jene Eigenschaft, die er »Vielkräftigkeit« nennt: 1 2 3 »Nur das einseitige Talent gibt wie eine Klaviersaite unter dem H a m merschlage einenTon; aber das Genie gleicht einer Windharfen-Saite; eine und dieselbe spielet sich selber zu mannigfachen T ö n e n vor dem mannigfachen Anwehen.« 124 Die Eigenschaften, die sich zur Vielkräftigkeit vereinen, sind »Besonnenheit« und »Instinkt«; was Jean Paul darunter versteht, will er verdeutlichen am Beispiel Herders, dessen Verfehlen eines höheren Dichtertums er in Anspielung auf Plato auf das MißVerhältnis der Lenk- und der Schwungfedern in seiner Veranlagung zurückfuhrt. Die Freie Fantasie verbindet den Bereich der Komposition mit dem der Ausführung, zur Niederschrift eignen sich die improvisatorischen Werke nur eingeschränkt. Welche Wertschätzung C.P.E. Bach der Freien Fantasie zukommen läßt, zeigt die Tatsache, daß er mit dem Kapitel über die Fantasie seinen Versuch beschließt. 125 Dort legt er die Stilkriterien für das improvisatorische Klavierspiel fest, zu denen Takt- und Tempofreiheit, Uberraschungsharmonik, virtuoses Passagenwerk und Rezitativmelodik gehören. Sie dienen dazu, »das Sprechende, das hurtig Ueberraschende von einem Affeckte zum andern« 126 auszudrücken und damit

121

SW, Abt. III, Bd. 4, S. 32.Vgl. auch eine B e m e r k u n g aus den Flegeljahren: Walt ist »farbenlos (...)

als Historienmaler« (1,2, S. 908, wie Jean Paul!), trägt aber »den Kopf voller Landschaften« (ebd., S. 686). Er ist offenbar ein »musikalischer« Dichter, er verwandelt »das medizinische Miserere des Schicksals durch Dichten u n d E m p f i n d e n in ein musikalisches« (ebd., S. 946).Vgl. das Kapitel VI über »musikalische Landschaft«. 122

Vgl. E.T.A. H o f f m a n n über Beethovens »Besonnenheit«. Schriften zur Musik. Singspiele. In: G e -

sammelte Werke in Einzelausgaben. Berlin,Weimar 1988, Bd. 9, S. 119.Vgl. ebenfalls eine B e m e r k u n g aus d e m Vita-Buch: »Mein Charakter ist Klar- u n d Besonnenheit durch alle Verhältnisse hindurch, m i t ten unter allen starken Gefühlen.« SW, Abt. II, Bd. 6, S. 760. 123

Als Gegenbegriff zur u n g u t e n »Einkräftigkeit«, an der er R o q u a i r o l sterben läßt, vgl. KapitelVIII.

124

Vorschule, 1,5, S. 56.

125

Carl Philipp E m a n u e l Bach: Versuch über die wahre Art, das Klavier zu spielen. Erster u n d zweiter

Teil. Faksimile-Nachdruck der ersten Auflage Berlin 1753 u n d 1762. Hg. von Lothar H o f f m a n n - E r brecht.Wiesbaden 6 1986. D e r zweite Teil ist 1762 erschienen, vgl. dort das 41. Kapitel. 126

Ebd., S. 325.

E m p f i n d e n u n d Erfinden

51

dem Hörer eine »angenehme Abwechselung«127 zu bieten. Harmonische »Betrügereyen«,128 die dem Spiel mit der Hörererwartung dienen, sind ausdrücklich erlaubt. Die Proklamation der Affektvielfalt für ein Instrumentalwerk ist eine entscheidende Neuerung. Die so erzeugte lockere Reihung von Kontrasten erzeugt im Hörer die Illusion, der Spieler drücke hier seine ureigensten, dem Moment entsprungenen Gefühle aus. Die vermeintliche eigene Rührung ist Voraussetzung für die Rührung der Zuhörerschaft, 129 die Klavierfantasie wird zur zentralen Gattung der musikalischen Empfindsamkeit. Wenn auch die Kategorie des »Angenehmen« bei Bach noch teilweise greift, grenzt er sich doch ab von einer Ästhetik, die in der Instrumentalmusik nur »ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch, oder ein artiges und unterhaltendes, aber das Herz nicht beschäftigendes Geschwätz« sah. 130 Selbst Kirnberger schien die Sonate — im Gegensatz zur Symphonie, die mit der Ästhetik des Erhabenen assoziiert wurde - am ehesten geeignet, »ohne Worte Empfindungen zu schildern«.131 Die spezifische Gattung der Instrumentalmusik weist somit mehrere Eigenschaften auf, die sie für Jean Paul theoretisch und praktisch bedeutsam machen. Das Fantasieren auf dem Klavier vereint sowohl auf dem Sektor der eigentlichen Produktion als auch im Bereich des Rezipienten Innen und Außen. Wohl kaum eine andere musikalische Gattung verbindet Intimität und Pulikumswirkung auf so engem Raum, vielleicht mit Ausnahme des Kunstlieds, aber dort hat auch der lyrische Text teil an jeglicher Wirkung. Der Zuhörer des improvisatorischen Klavierspiels wohnt dem kompositorischen Prozeß gewissermaßen bei, ähnlich wie beim spontanen Variieren vom Publikum gegebenerThemen. Mit der Gattung der Klavierfantasie wurde die zeitgenössische Genieästhetik auf die Musik übertragen, eine Entwicklung, die sich in dem Kapitel »Vom musikalischen Genie« in Schubarts Ästhetik spiegelt. Dort macht er unmißverständlich klar: »das musikalische Genie hat das Herz zur Basis, und empfängt seine Eindrücke durchs Ohr.« 132 Das (Miß-) Verständnis des Improvisierens als spontaner Seelenausdruck erweckt im Hörer den Eindruck, derTon-»Dichter« spreche aus dem eigenen Herzen. In den Kompositionslehren des 18. Jahrhunderts hat der Verweis auf Grammatik und Rhetorik der Musik Toposcharakter; üblicherweise wurde die Kompositionstechnik auf die Kategorien der Sprachrede zurückgeführt, gemäß der Uberzeugung, daß Musik nichts anderes sei als »Klangrede«, und daher auch nicht anders als nach den Regeln der Sprache zu konzipieren sei. In der freien Phantasie jedoch

127

Ebd., S. 336.

128

Ebd., S. 330.

129

Vgl. die b e r ü h m t gewordene Formulierung: »Indem ein Musickus nicht rühren kan, er sey dann

selbst gerührt«. Ebd., S. 122. 130

Artikel »Musik«. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, a.a.O., Bd. 3, S. 431 f.

131

Artikel »Sonate«. Ebd., Bd. 4, S. 424 f.

132

Christian Friedrich Daniel Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, a.a.O., S. 368.

52

Zweites Vor-Kapitel

erwecken der nunmehr ausdrücklich empfohlene rasche Affektwechsel und die kleingliedrige Rezitativmelodik, die auf stilisierende Wiederholungen weitgehend verzichtet, den Eindruck des spontan »Sprechenden«. Das Spiel des scheinbar spontanen Eingebungen folgenden Improvisators wird als idealer Ausdruck einer reichen Innenwelt verstanden. 133 In C.P.E. Bachs Fantasiekompositionen sind Elemente des dramatischen Gesangsstils auf die Klaviermusik übertragen. So sucht der Komponist etwa durch das Kontrastieren zweier unterschiedlicher Klangcharaktere den Eindruck eines »Zwiegesprächs« zu erwecken. 134 Arnold Schering hat dafür den Ausdruck des »redenden Prinzips« gebildet. 135 Der Komponist selbst wurde als musikalischer Klopstock verstanden, eine wichtige Voraussetzung dafür, daß Musikstücke zu Codes werden konnten. 136 Ist die musikalische Fantasie die Gattung, die den an die Instrumentalmusik gerichteten Ausdrucksforderungen am ehesten gerecht wird, so regt das »Sprechende« an dieser freien Form des musikalischen Klavierspiels die dichterische Fantasie an, wie bereits beschrieben. Daher rühren auch die Versuche, C.P.E. Bachs Instrumentalwerken dichterische Texte zu unterlegen, deren bekanntester von Gerstenberg stammt. 137 Musikalische Topoi sollen einer als individuell verstandenen Musikrede weichen. Es ist dieser indiviualistische Zug, der Jean Paul die Fantasie mit dem eigenen Werk assoziieren läßt: Es müssen schon viele Kunstrichter auf der Welt gewesen sein, u n d gute G r ü n d e angegeben haben, w a r u m das musikalische Phantasieren, das o h n e Takt mit den e n t ferntesten Tonarten u n d E m p f i n d u n g e n wechselt, u n d w o r i n E m a n u e l Bach vortreffliche Proben setzte, nicht im Mindesten einem vernünftigen u n d unsterblichen Wesen m e h r vergönnt sein kann als das scherzhafte, an das ich m i c h jetzt einmal mache. (...) W e n n ich in der folgenden Phantasie auf die entlegensten Ideen gut g e n u g durch chromatische Ausweichungen übersteige u n d dabei keinen Augenblick gegen die Kunst des reinen Satzes verstoße, so ists mir ganz lieb, u n d ich tu' es herzlich gern (,..)« 138

Geschickt benutzt Jean Paul denVerweis auf das musikalische Fantasieren zur Rechtfertigung des eigenen Werks, aber anders, als man vermuten könnte: Da es 133

Schubart empfiehlt: » U m aber deine Ichheit auch in der Musik herauszutreiben, so denke, erfin-

de, phantasire selber.« Klavierrecepte. In: Gesammelte Schriften und Schicksale. N a c h d r u c k Hildesheim, N e w York 1972, Bd. 6, S.73. 134

Vgl. dazu O t t e n b e r g : Carl Philipp Emanuel Bach, a.a.O., S. 65.

135

Carl Philipp E m a n u e l Bach u n d das »redende Prinzip« in der Musik. In: Peters-Jahrbuch XLV

(1939), S. 1 3 - 2 9 . 136

»Bach in H a m b u r g f u h r t die Klavieristen an, wie Klopstock die Dichter.« C. F. D. Schubart: Ton-

kunst. In: Gesammelte Schriften und Schicksale, a.a.O., Bd. 6, S. 181. 137

In einem Brief an Friedrich Nicolai rechtfertigt Gerstenberg seine Versuche, vorhandener

Klaviermusik v o r h a n d e n e Texte zu unterlegen, mit der Überzeugung, »daß die Musik o h n e W o r t e n u r allgemeine Ideen verträgt, die aber durch hinzugefugte W o r t e ihre völlige B e s t i m m u n g erhalten«. Gerstenbergs Briefe an Nicolai nebst einer Antwort Nicolais. Hg. von R . M . W e r n e r . In: Z f d P h 2 3 (1891), S. 58. 138

Einleitung zur Scherzhaften Phantasie vonJ.F.P. Hasus, 11,3, S. 152 f.

E m p f i n d e n u n d Erfinden

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sich um ein rein satirisches Frühwerk handelt, fuhrt er das »scherzhafte Fantasieren« ein, denn er weiß sehr wohl, daß die Kunst des Fantasierens zu einem wesentlichen Teil im raschen und überraschenden Kontrast zwischen musikalischen Charakteren liegt und daß lyrische Partien großen Raum einnehmen. Die Parallele zu dieser Art des Klavierspiels wäre somit zur Charakterisierung des späteren Werks von Jean Paul besser geeignet, weil hier empfindsame Beschreibungen und satirische Digressionen auf engstem Raum nebeneinander stehen. Nicht nur, weil dieser Vergleich inhaltlich bedeutsam ist, wurde er hier angeführt, sondern weil er zeigt, wie fein differenziert Jean Paul musikalische Vergleiche verwendet. (...) Übrigens ist Phantasieren bekanntlich so schwer, daß, so wie vielen n u r im hitzigen Fieber u n d Wahnsinn bei einer Verdoppelung aller körperlichen u n d geistigen Kräfte die E r i n n e r u n g griechischer Beweisstellen, die Komposition ganzer Gedichte u n d R e d e n vonstatten ging, gewöhnlich auch das Phantasieren nur in solc h e n Krankheiten gerät, die den Kopf bereichern, i n d e m sie ihn u n g e m e i n verwirren u n d erhitzen. M e i n e Anlage dazu (das fühl' ich so gut wie ein anderer) ist nicht die stärkste (...) 1 3 9

Eine ähnliche Kopplung musikalischer Rauschzustände mit dem dichterischen Schaffensprozeß ist bei Wackenroder zu beobachten, aber ohne die konkret schöpferische Implikation, mehr als wechselseitige Applikation der ästhetischen Kategorien des Poetischen und des Musikalischen auf die jeweils andere Kunst, wie sie die Frühromantik kennzeichnet. Berglinger läßt »sein Gemüth, von dieser Kunst gelockt, immer in den dämmernden Irrgängen poetischer Empfindung« 140 umherschweifen. Das Regellos-Freie wird assoziiert mit der Kategorie des Poetischen, aber unspezifisch, während bei Jean Paul eine solche Passage durchaus wörtlich zu nehmen wäre. Bleibt in seinen Romanen das Klavierspiel in diesem Kontext, so wird gleichzeitig bei Brentano - auch hier mit der üblichen Zeitverzögerung, in der musikalische und literarische Entwicklungen einander beeinflussen - das (als ungebunden mißverstandene) taktfreie musikalische Fantasieren zur umfassenden Metapher für die Freiheit des schweifenden Gedankens. So läßt er Godwi an Römer schreiben: O welche stille Wechsel in mir, i m gemessenen Takte schreiten die Augenblicke wie T ö n e zu einer schönen Melodie des Lebens hin, u n d irret mein Geist durch alle Akkorde auf harmonischen Wegen einen d e m a n d e r n verbindend, so gelangt er nicht selten, der schönen Folge zur w u n d e r b a r e n Erquickung, auf einen Gipfel, w o aller Takt weicht, u n d das Lied gleichsam einen freien u n g e b u n d e n e n Blick in die Ewigkeit thut, u n d neuerdings kehrt die M e l o d i e zurück, w i e das A t h m e n unsers Busens, das ein sanfter Seufzer unterbrach. 1 4 1

139

Ebd.

140

Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 1, S. 132.

141

C l e m e n s Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. In:

Sämtliche Werke u n d Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe. H g . von Jürgen Behrens, Wolfgang F r ü h wald, Detlev Lüders. Stuttgart u.a. 1975 ff., Bd. 16, S. 153. Z u r Frage, wie Jean Pauls »musikalische Metaphorologie« sich von der zeitgenössischen unterscheidet, vgl. den entsprechenden Exkurs.

54

Z w e i tes V o r - K a p i t e l

Die Wahl zwischen Taste und Feder als möglichen Ausdrucksmedien müssen Jean Pauls Helden ebenso treffen wie er selbst. Viktor läßt er »unentschlossen« wählen »zwischen der Feder und derTaste, sobald er in der Höhe reden wollte«.142 Im hohen Roman ist die Ausdruckskraft der Musik deijenigen der Sprache ebenbürtig. Der Sprachcharakter der Musik wird hier, 1795, selbstverständlich vorausgesetzt. Dennoch ist es ein anderes Motiv, das Jean Paul hier Dichtkunst und Musik zusammenspannen läßt: Der Schriftstellerin Emilie von Berlepsch, die zu den Frauen gehört, denen Jean Paul in einer schwachen Stunde die Ehe verspricht, und die Zeugin von Jean Pauls halböffentlichem Klavierspiel in Hof gewesen sein kann, schildert der Dichter die Wirkung eines ihrer Briefe, die ihn mit demselben »schaffenden Enthusiasmus«, mit dem er sich sonst »auf den Klaviertasten ausströme«, nun gleich die Feder fur die Antwort habe suchen lassen.143 Der Vergleich wird eingeschaltet, um dem brieflichen Seelenausdruck die Würde des musikalischen Seelenausdrucks zu geben und ihn damit zu adeln, gewissermaßen als Uberhöhung oder Potenzierung empfindsamen Briefkults. Die Aura von Authentizität und Unmittelbarkeit, die das Fantasieren umweht, wird hier dem Briefeschreiben gestiftet. An dieser Stelle sei die Nebenbemerkung gestattet, daß Musikmetaphorik in den Briefen Jean Pauls sehr oft ein »letztes Mittel« darstellt, durchaus parallel zu jenen Stellen in den Romanen, wo der Einsatz von beschriebener Musik erzähltechnisch von höchster Kunst zeugt und gleichzeitig dem Leser die Herausgehobenheit der Situation signalisiert. So äußert Jean Paul Karoline Herder gegenüber deutlich seine Erleichterung, der Heirat mit Karoline von Feuchtersieben entgangen zu sein, während er an deren Adresse schwärmt, er und sie hätten den Einklang ihrer Seelen nur knapp verfehlt: (...) w i r spielen dieselbe h ö h e r e M e l o d i e , aber j e d e s trägt sie in e i n e r a n d e r n T o n art d.i. Individualität vor u n d d a d u r c h w i r d das A e h n l i c h s t e das U n ä h n l i c h s t e ; die S e k u n d e ist d e r gröste M i ß t o n . 1 4 4

Dergleichen Briefzeugnisse zeugen natürlich nur am Rande von Jean Pauls routiniert-einfühlsamem Umgang mit gekränkten Seelen. Nicht nur der Kult des empfindsamen Briefeschreibens spielt hier hinein, die Briefe sind vor allem Fingerübungen für spätere Werke. 145 Sie sind Katalysatoren für die Dichtung, und zwar sowohl in bezug auf den Inspirations- und Schreibprozeß als auch hinsichtlich der Motive. Denn nirgends steht in Frage, welches Medium für den Dichter Jean Paul das eigentliche ist: Als Beruf wird die Tonkunst nicht ernsthaft in Be-

142

1,1, S. 589.

143

SW, A b t . III, B d . 3, S. 9 f., v o m 17. N o v e m b e r 1797.

144

E b d . , S. 3 5 0 f., v o m 8. Juli 1800.

145

B e k a n n t e r m a ß e n hat Jean Paul a u c h Passagen aus B r i e f e n in seine R o m a n e ü b e r n o m m e n . Vgl.

dazu T h o m a s W i r t z : Schreibversuche.Jean

Pauls Briefe bis 1805. I n : J b J P G 31 (1996), S. 2 3 - 3 8 .

Musikleben: »Oper das gröste«

55

tracht gezogen. 146 Das Schwanken zwischen Taste und Feder bestimmt daher auch nur die Briefe der frühen Jahre bis etwa 1800. »Ausdruck« in letzter Konsequenz kann nur das Geschriebene sein: »Ich wil thun wornach ich mich so oft sehnte, ich wil mich ausdrücken und stat der Klaviertasten die Feder nehmen —«147 Musik und Sprache sind also im schöpferischen Prozeß einander nachgeordnet, ihr Ausdrucksart bleibt davon zunächst einmal unberührt. Doch die Entscheidung für Taste oder Feder berührt nicht nur den subjektiven Schaffensprozeß, in den Briefen signalisiert die Abwendung von den Klaviertasten auch die Hinwendung zur Kommunikation mit dem Adressaten: Bleibt das Sich-Ausströmen auf dem Klavier subjektbezogen, so richtet sich der briefliche Herzenserguß an die Briefpartnerin und bezieht diese ein. Trotzdem ähneln die Schilderungen einander, in denen Jean Paul die Wirkung des Briefeschreibens und des Klavierspiels beschreibt. Nur deswegen kann er Amöne Herolds »stürmende Gefühle«, die ihr verbieten, »die Ewigkeit (...) Ihrer Zustände [zu] verbürgen«, so analysieren: »Sehen Sie den Abstand, den zwischen diesen eine einzige Musik macht. So sind Sie gewis nach d e m wärmsten Briefe, e b e n weil Sie sich ausgeströmet haben, der Kälte am nächsten (...)« 148

6. Musikleben: »Oper das gröste«149 Jean Paul hört als Junge vor allem die Klänge des väterlichen Orgelspiels und der Dorfmusik, öffentliche Konzerte und die damals in besseren Kreisen üblichen Privatkonzerte bieten sich ihm erst recht spät. In den Tagebuch-Blättern berichtet er von Konzertbesuchen, aber da ist er schon siebenundzwanzig Jahre alt.150 Zwei Jahre später hört er in Hof Carl Stamitz und den Mundharmonikavirtuosen Franz Koch. 151 Dort besucht er nach eigener Auskunft alle Konzerte, vor allem mit den Schwestern Herold, natürlich nur bis zur Entdeckung der zwischen Amöne Herold und dem Freund Christian Otto geknüpften Bande. Er nimmt an Musizierabenden teil, die er in Anlehnung an die französische Praxis »Concerts spirituels« nennt. 152

146

Vgl. den bereits zitierten Brief Jean Pauls an Gottfried Weber, in d e m der D i c h t e r seine M i t a r -

beit an der Musikzeitschrift Cacilia ablehnt: »Ich habe m e h r O h r , ja m e h r n u r Herz als Z u n g e für die Musik (...)« SW,Abt. III, Bd. 8, S. 250. 147

Ebd., Bd. 1, S. 407 an Karoline Herold am 4. D e z e m b e r 1793.

148

Ebd., Bd. 2, S. 148 f. v o m 24.Januar 1796.

149

Diese N o t i z befindet sich im Fragment Über Musik. SW, Abt. II, Bd. 6, S. 669.

150

Eintragungen v o m 9., 28. u n d 30. N o v e m b e r , ebd., S. 577 f.

151

Eintragungen v o m 12. u n d 30. August 1792, ebd., S. 583.

152

Vgl. SW, Abt. III, Bd. 2, S. 125 am 3. N o v e m b e r 1795 an Christian O t t o .

56

Zweites Vor-Kapitel

Die (Haus)konzerte der Hofer Zeit finden ihren Niederschlag in der frühen Satire Konzert in Saturnopolis (1790), das wiederum als Basis harscher Kritik an bürgerlicher Musikausübung vor allem in die Flegeljahre eingegangen ist.Jean Paul begründet hier Ende der 1780er Jahre eine Tradition, deren Anfangspunkt meist erst mit der Frühromantik angesetzt wird, die ironische Kritik am tätigen Bürgertum, für das Musik nur eine Zerstreuung unter vielen ist. Uber Wackenroders Herzensergießungen und Tiecks Musikalische Leiden und Freuden setzt sich diese Tradition, deren Spitzen sich hauptsächlich gegen Kants rationalistische Musikästhetik richten, fort bis zu ihrem vielzitierten Höhepunkt in E.T.A. Hoffmanns nahezu sämtlichen Musikerzählungen einschließlich des Romans Kater Murr. Die satirische Übung gibt ein Porträt des Musiklebens in Hof, wo Jean Paul zum ersten Mal in größerem Rahmen Konzerte hörte. Der Dichter mokiert sich darin über das Abonnementpublikum, das Instrumentalkonzerten den Text seiner belanglosen »Stadtgespräche« unterlegt. 153 DenVorwurf an die textlose Instrumentalmusik, sie sei unbestimmt und schwer verständlich, greift Jean Paul mit dem Begriff »hieroglyphisch« auf und gibt damit gleichzeitig zu erkennen, daß ihm die Auffassung der Instrumentalmusik als einer Hieroglyphensprache vertraut war. Die B e schreibung der überforderten Musikanten scheint die Einlage der Flegeljahre, Das zertierende Konzert, vorweg zu nehmen, und vorweggenommen ist hier auch die Kritik am bürgerlich-philisterhaften Musikgenuß, wie Tieck und Hoffmann sie später artikulieren. Der Jurist und MusikschriftstellerThibaut lädt ihn in Heidelberg zu seinen alldonnerstäglich stattfindenden, zu einiger Berühmtheit gelangten Singakademien ein, in denen vor allem deutsche und italienische Kirchenmusik aufgeführt wird. Nicht ohne Stolz berichtet er an Emanuel, er sei dem Stifter des Singvereins durch seine Bemerkungen über Musik aufgefallen und habe daraufhin eine Einladung erhalten. 154 Seit dem Erscheinen des Hesperus stehen ihm derlei Zusammenkünfte an allen Orten, in die er kommt, offen. In Weimar, Berlin und Leipzig hört er später nicht nur Konzerte, sondern vor allem Opern, und zwar nahezu sämtliche bedeutenden Werke seiner Zeit. Er besucht Konzerte der berühmten, 1791 gegründeten Berliner Sing-Akademie, einer der erfolgreichsten musikalischen Institutionen der Stadt unter der Leitung des Hofcembalisten und Gründungsdirektors Karl Friedrich Christian Fasch, den Jean Paul außerordentlich schätzte. 155 Persönliche Bekanntschaft schließt er vor allem mit Johann Friedrich R e i chardt, den er in Giebichenstein besucht 156 und den er scharfsinnig als »für die

153

II, 2, S. 748.

154

SW,Abt. III, Bd. 7, S. 125 vom 20.Juli 1817.Vgl. ebd., S. 128, am 23.Juli 1817 an seine Frau.

155

Vgl. ebd., Bd. 4, S. 2 am 8. Oktober 1800 an Herder und ebd., Bd. 7, S. 125, am 20.Juli 1817 an

Emanuel. 156

Vgl. ebd., Bd. 3, S. 76 f., am 18.Juli 1798 an Christian Otto.

Musikleben: »Oper das gröste«

57

Kunst weich[en] und fur die Natur hart[en] Weltmensch[en]« beschreibt. 157 Bei Goethe setzt er sich fur Reichardts Vertonung des Singspiels Scherz, List und Rache ein. 158 Jean Pauls Urteil über Reichardts Oper Tamerlan zeugt von seinem differenziertem und unbestechlichem Unterscheidungsvermögen. An Herder schreibt er, die Uraufführung der neuen Reichardt-Oper könne den »nicht sehr interessieren, der sie nicht gehört; ja, bei manchen Stellen interessiert nicht einmal das Hören«, 159 und erläutert ein paarTage später die näheren Gründe, die er in Reichardts kompositorischem Kalkül sieht: Der Komponist versetze den Hörer zwar in alle schönen E m p f i n d u n g e n (...), nur nicht ins Erstaunen; er hat alles so berechnet, daß der Z u h ö r e r auch mitberechnet unter d e m G e n i e ß e n . 1 6 0

Diese Urteilssicherheit des Dichters zeigt sich an zahlreichen anderen Stellen. 161 Dem Zeitgeschmack entsprechend schätzt Jean Paul die Werke Gasparo Spontinis, dessen 1807 uraufgeführte Oper La Vestale er in Mannheim und in Bayreuth hört. Seiner Frau berichtet er über die Mannheimer Aufführung der Vestalin, »welche mich durch ihre Schönheiten ordentlich auflösete und entkräftete; ich hätte auf den Tönen davonschwingen mögen aus dem Leben«. 162 In der Hochschätzung Spontinis greift Jean Paul einen Rezeptionstopos der 1810er Jahre auf. Zwischen 1807 und 1829 wurde die Vestalin an allen großen Opernhäusern Europas aufgeführt. Zu einem der wichtigsten Fürsprecher Spontinis wurde E.T.A. Hoffmann, 163 der das Libretto der Spontini-Oper Olimpie (nach Voltaires Tragödie) ins Deutsche übertrug, so daß diese 1821 in Berlin aufgeführt werden konnte. Als Musikschriftsteller hat Hoffmann dem italienischen Komponisten mehrere Aufsätze gewidmet, in einem Gruß an Spontini (1820) formuliert er: (...) dein Genius rührte seine kräftigen Schwingen, u n d mit i h m e r h o b e n wir uns begeistert u n d fühlten alle W o n n e , alles Entzücken des w u n d e r b a r e n Tonreichs, in d e m du herrschest, ein mächtiger Fürst! 1 6 4

157

Ebd., Bd. 2, S. 286, am 7.Januar 1797 an Friedrich von Oertel.

158

Ebd., Bd. 4, S. 77.

159

A m 6. N o v e m b e r 1800. Briefwechsel mit Herder, a.a.O., S. 79.

160

A m 11. N o v e m b e r 1800, ebd.

161

»Aus einer n e u e n t h e u e r n O p e r - Roxelane — gieng ich u n d H e r d e r nach d e m l t e n Akte, so

hundsschlecht war sie.« SW, Abt. III, Bd. 4, S. 202, am 11. Februar 1803 an E m a n u e l über eine O p e r von Franz Xaver Süßmayr. 162

Ebd., Bd. 8, S. 138, v o m 19. August 1817.

163

Vgl. dazu N o r b e r t Miller: Hoffmann und Spontini. Vorüberlegungen zu einer Ästhetik der romantischen

opera seria. In: Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert. H g . von Carl Dahlhaus. R e gensburg 1980, S. 4 5 1 - 4 6 8 . 164

E.T.A. H o f f m a n n : Schriften zur Musik. Singspiele, a.a.O., S. 349.

58

Zweites Vor-Kapitel

H o f f m a n n bezieht Spontini in den Kanon der großen Komponisten Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven ein, eine Entwicklung in seiner Musikanschauung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. In der großen französischen O p e r Spontinis sieht man die würdige Nachfolge der ernsten französischen O p e r Glucks, eine Tendenz, von der Jean Paul offenbar nicht unberührt geblieben ist. Sowohl bei ihm als auch bei E.T.A. H o f ï m a n n findet sich die Annahme einer fortlaufenden R e i h e von musikalischen Größen, bei Jean Paul die Trias Haydn, Gluck und Mozart, 1 6 5 bei E.T.A. Hoffmann die R e i h e Gluck, Mozart, Beethoven und Spontini, die er in der Kreisler-Biographie des Kater Murr aufstellt. 166 Der von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann ähnlich formulierte Gedanke, daß die Musik und insbesondere die O p e r dem Zuhörer jenes ferne Geisterreich aufscheinen lasse, das er ersehnt, ist in den operntheoretischen Schriften Hoffmanns zur alles bestimmenden Idee geworden, wo nicht zur Formel für das Romantische schlechthin banalisiert. Jean Paul jedoch schätzt nicht nur dem Zeitgeschmack entsprechend die Transzendenzmöglichkeiten, die Musik bieten kann; sein musikalisches Urteil zeigt vielmehr auffallende Parallelen zur Rezeption seiner eigenen Werke. Immer sind es ganz bestimmte Züge, die er an den gehörten Werken hervorhebt. U b e r Mozarts Requiem schreibt er: »In manchen Stellen ziehen die Mozartischen Donnerwolken und in andern schlagen seine Nachtigallen (,..)«167 Das ließe sich so aufJean Pauls eigene Werke übertragen. Das Urteil Jean Pauls über gehörte Werke wie die opera seria La Vestale u m faßt die Ebene des Werks selbst, die der Interpretation und die der subjektiven Wirkung. Hier ist stets zu trennen zwischen der professionellen Distanz, mit der Jean Paul ein Werk als solches bewertet, u n d der dichterischen Freiheit, mit der er von dessen Wirkung berichtet bzw. diese erzählerisch integriert. 1 6 8 Dabei m u ß die mangelnde Qualität einer Aufführung die Wirkung des Werks nicht in j e d e m Fall schmälern. So ist auch die auffallende Diskrepanz zwischen der Schärfe von Jean Pauls Kunsturteil in den Briefen und den Augenzeugenberichten in Jean Pauls Persönlichkeit zu deuten, die den Meister nicht selten beim Hören eines Liedes, einer Symphonie oder einer Opernarie in Tränen aufgelöst gesehen haben wollen. Liegt es nahe, diese Berichte als Folge einer schwärmerischen Verehrung zu deuten, so

165

In einer Diskussion legt Jean Paul e i n e m D e u t s c h e n das W o r t v o m »Dreiklang« in den M u n d ,

»worin H a y d n (...) den Aschylus, Gluck den Sophokles, M o z a r t den Euripides vorstelle«. I, 2, S. 766. Z u r B e d e u t u n g der M e t a p h o r i s i e r u n g vgl. Judith R o h r : Die Künstler-Parallele in der Musikanschauung der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung. In: Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 4 (1980), S. 3 5 - 5 0 . 166 E.T.A. H o f f m a n n : Die Elixiere des Teufels. Lebens-Ansichten

des Katers Murr. Mit e i n e m N a c h w o r t

von Walter Müller-Seidel u n d A n m e r k u n g e n von Wolfgang Krön. Darmstadt 1966, S. 410. 167

SW, Abt. III, Bd. 4, S. 2, am 8. O k t o b e r 1800 an Herder.

168

So bleibt i h m nicht verborgen, daß die A u f f u h r u n g der Vestalin in Bayreuth »ein gerupfter P h ö -

nix war«, u n d d e n n o c h : Sie hat »allgemein entzückt u n d sogar mich halb«. Ebd., Bd. 8, S. 152, a m 14. O k t o b e r 1817 aus Bayreuth.

Musikleben: »Oper das gröste«

59

ist ihnen ein wahrer Kern keineswegs abzusprechen. Anders als beim professionellen Hörer, sei er Musiker oder Rezensent, stehen für Jean Paul das subjektive Musikerleben und dessen dichterischer Ausdruck stets im Vordergrund. Jean Pauls Wissen über Musik ist trotz des oftmals kuriosen, fragwürdigen oder auch fragmentarischen Charakters der durch Lektüre oder Ausprobieren am Klavier angeeigneten Fakten solide zu nennen. Sein musikgeschichtliches Interesse erlaubt ihm, Gehörtes einzuordnen. Die Vorliebe der Franzosen für aufwendigsten Maschinenzauber auf der Opernbühne, für »die fliegenden Götter und schiebenden Tiere«169 ist ihm bekannt, ebenso der Streit der Gluckisten und der Piccinisten. 170 Das ist in Anbetracht von Jean Pauls universalem Wissensdurst, der ihn D e tails aus allen Bereichen penibel notieren läßt, kaum verwunderlich.Von Interesse ist daher auch weniger die Tatsache, daß Jean Paul dergleichen Fakten sammelt, als der Zusammenhang, in dem sie erscheinen. Die in der Vorschule erwähnte Kontroverse zwischen den Anhängern Glucks und den Anhängern Piccinnis dient ihm dazu, »Stilistiker« und »Poetiker« gegeneinander auszuspielen. Ihn fasziniert das metaphorische Potential dieses Opernstreits mehr als dessen feinste musikhistorische Verästelungen. 171 Das wirft ein Licht auch auf j e n e Briefpassagen, in denen Jean Paul Einschätzungen musikalischer Werke formuliert. O f t rückt Jean Paul ein hellsichtiges Urteil über eine Komposition wie das oben zitierte über Reichardts Tamerlan in seine Briefe ein, aber fast ebensooft knüpft er daran eine allgemeine oder subjektive wirkungspsychologische Überlegung, die sich immer nach den Adressaten richtet. So scheint es, als sei der Dichter stets auf Wirkungssteigerung erpicht, vor allem durch die Kombination Liebe und Musik, dabei trägt er damit nur seinem R u f als Dichter der Frauen Rechnung, der in den Romanexemplaren für seine weiblichen Leser die empfindsamen Passagen zur Lektüre ausdrücklich anstreicht, 172 etwa wenn er seine spätere Frau Karoline Mayer bittet, mit ihm in die Passionsmusik zu gehen: »du bist der Sangboden und Wiederhai der T ö n e für mich«, 173 oder wenn er Josephine von Sydow nicht ohne Stolz berichtet: »Die Musik - das Schauspiel und Ihr Geschlecht halten mich fest«. 174 Dergleichen Briefzeugnisse sollten nicht dazu dienen, Jean Paul als empfindsamen Musikhörer zu klassifizieren, wie das häufig geschehen ist, vielmehr bieten sie die Motive von Jean Pauls erzählerischem Umgang mit Musik in nuce. Dabei streifen die entsprechenden Briefpassagen manchmal das Triviale, dort, wo der Dichter die weibliche

169 170 171

1,1.S.210. Vorschule, 1,5, S. 28. Vgl. dazu den Exkurs über Jean Pauls musikalische Metaphorologie.

172

Etwa in e i n e m Brief an Frau von Streit. SW, Abt. III, Bd. 2, S. 22 v o m 24. September 1794.

173

Ebd., Bd. 4, S. 61 v o m 3. April 1801.

174

Ebd., Bd. 3, S. 339 f. v o m 10.Juni 1800.

60

Zweites Vor-Kapitel

Seele mit der Harmonika vergleicht, die »nur zu Adagios und sanften Stücken geschaffen« sind, 175 oder dort, wo er die empfindsamen Passagen mit »Adagios« vergleicht, die »blos fur das weibliche aufgeweichte Herz gehören«. 176 Trotz der vielfältigen Zeugnisse wäre es verfehlt, Jean Pauls Einblick in das Musikleben seiner Zeit herausragend zu nennen. Was Jean Paul von den Dichtern seiner Zeit unterscheidet, ist die Intensität und Breite der Beschäftigung mit diesem bestimmten Bereich. Die Häufigkeit von Konzert- und Opernbesuchen allein sagt jedoch ebensowenig aus wie die Kenntnis musiktheoretischer Schriften, denn regelmäßige Opernbesuche gehören zum guten Ton, ebenso wie die Teilnahme an Hauskonzerten. Auch Goethe und Schiller frequentierten rege das Weimarer Opernhaus, zu schweigen von Goethes eigenen Singspiel-Libretti. Uber die Bedeutung der Musik für die Dichtung ist wenig gesagt, wo nur diese Fakten zusammengetragen werden. Bereits Oskar Loerke hat erkannt, daß Jean Pauls musikalische Kenntnisse und sein musikalisches Dichten nicht so unmittelbar zusammenhängen, wie man vermuten könnte. 177 Erst im Zusammenhang mit dem Gehalt seiner Dichtung erlangen musikhistorische und -theoretische Details Profil.

175

Ebd., Bd. 3, S. 38 f., am 28. Januar 1798 in D o r o t h e a Weißes S t a m m b u c h .

176

Ebd., Bd. 2, S. 22, an Frau von Streit, s.o.

177

Loerke fragt: »Aber ist es d e n n wirklich ein musizierendes Dichten?« Er gibt selbst die A n t w o r t :

»Wohl ist es das, n u r daß Jean Paul durch sein irdisches G e n i e ß e n der Tonkunst u n d seine Aussprüche über sie w i e d e r u m zu falschen V e r m u t u n g e n anreizt. (...) D i e empirische Musik begreift er gleicherm a ß e n gern nur als Vorzustand künftiger Musik, als Seelenlöserin, ja als Erpresserin von Tränen.« Einladung zu Jean Paul. Mit einem Dank an Max Kommereil (1934). In: Literarische Aufsätze Rundschau Í909-Í941,

a.a.O., S. 191.

aus der Neuen

ERSTERTEIL

Kapitel I Jean Paul und die Musikszene im empfindsamen Roman Musik kommt in den Romanen Jean Pauls in zwei Varianten vor, die sich gegenseitig durchdringen können und — an Höhepunkten der dichterischen Gestaltung - müssen: Als reales Konzert und als spezifische Beschreibungsweise, die der Dichter selbst als »musikalische Landschaft« bezeichnet. In der Malerei ist es ähnlich: Die Musik kann Bildgegenstand sein, ihr Attribut des »Musikalischen« kann aber auch zur theoretischen Kennzeichnung einer malerischen Gestaltung dienen, in der die zeichnerischen Umrisse zugunsten von Färb- und Lichtwirkungen zurücktreten. Im folgenden Kapitel soll der musikästhetische Hintergrund fur Jean Pauls Konzertszenen skizziert werden. Zeitlich ist dieser Hintergrund, sofern Epochensprünge überhaupt zulässig sind, auf der Schwelle zwischen Empfindsamkeit und Romantik angesiedelt — die These, daß Züge der romantischen Musikästhetik schon in der empfindsamen Literatur ab 1770 vorweggenommen seien, immer vorausgesetzt.1 Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nimmt die Musik im Ensemble der Künste eine untergeordnete Stellung ein. Zum einen fehlen ihr die antiken Exempla, zum anderen kann sie die Forderung der Naturnachahmung nicht oder nur eingeschränkt erfüllen. 2 Lassen die bildenden Künste Malerei und Plastik ein weitgehend objektives Urteil hinsichtlich ihrer Abbildlichkeit zu, so stößt der Rezipient bereits bei den willkürlichen Zeichen der Dichtung auf Schwierigkeiten, und die Chiffrierung, die ein Notentext für den Laien bedeutet, macht die eindeutige Identifikation eines Vorbilds in der Natur vollends unmöglich. Erläutern sich in der Vokalmusik Wort und Ton gegenseitig, so läßt die postulierte »Unbestimmtheit« der textlosen, »reinen« Instrumentalmusik diese zu einer Angelegenheit für Kenner werden. 3 Die Musik ahmt weder sichtbare Gegenstände noch andere

1

Vgl. Dahlhaus, der den Begriff der »Vorromantik« in A n l e h n u n g an den französischen préroman-

tisme fur die Periode u m 1770 verwendet u n d von »vorromantischen« M e r k m a l e n der E m p f i n d s a m keit spricht. Die Musik des 18. Jahrhunderts. Laaber 1985 (= N e u e s H a n d b u c h der Musikwissenschaft, Bd. 5), S. 62 ff. 2

Vgl. dazu Jost H e r m a n d : Konkretes Hören. Zum Inhalt der Instrumentalmusik. Berlin 1981, S. 17 ff.

3

Christian Kaden spricht treffend von der »semantischen Unberechenbarkeit neuartiger Instru-

mentalmusik«. Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivialisationsprozeß. Kassel 1993, S. 140.Vgl. dort v.a. das

64

Kapitel I

Künste nach, entzieht sich also dem mimesis- wie dem imitatio-Prinzip gleichermaßen und damit auch der Funktion, zu belehren und zu läutern. Die Tatsache, daß Musik auch unabhängig von ihrer Publikation aufgeführt werden kann, daß sie erst im Moment der Interpretation Werkcharakter bekommt, ist ihrem Ansehen ebenso abträglich. Die auf mathematische Grundlagen zurückgeführten Tonverhältnisse lassen die Profession des Musikers als »Handwerk« erscheinen. So dient die Musik als zweckgebundene Gebrauchskunst der Unterhaltung, der Sozialstatus des Musikers (ganz im Gegensatz zu dem des Malers oder Dichters) ist dementsprechend niedrig. Mit rastloser Neuproduktion wird der mangelnde Werk- (und damit auch Denkmal-)charakter der schnell verfliegenden Tonkunst kompensiert. Der ständige Schaffenszwang, dem die finanziell von ihren Gönnern abhängigen Künstler, meist Komponisten und Interpreten in Personalunion, unterliegen, führt zu einer Produktion, deren Ausmaß heute schwer überschaubar ist. Beispiele sind die über dreihundert Flötenkonzerte, die Johann Joachim Quantz für Friedrich II. schrieb, aber auch die Werke, die in Joseph Haydns Zeit auf Schloß Esterház entstanden. Mit dem vielzitierten Erstarken des Bürgertums zur »Empfindsamkeit« seit etwa 1750 wird auch der Musik höherer Wert zugesprochen. 4 Die Emanzipation vom Adel findet ganz wesentlich im Innenraum des bürgerlichen Salons statt, da es in Deutschland, anders als in Frankreich und England, zu diesem Zeitpunkt keine gesellschaftliche Massenbewegung gibt. Die Diskrepanz zwischen Freiheitsverlangen und feudal-absolutistischer Repression führt zur Wende nach Innen; zum Forum einer nur ästhetischen Selbständigkeit werden die Kleinfamilie und bürgerliche Freundschaftszirkel. Gehörte die Musik als zweckgebundene Gebrauchskunst zu den selbstverständlichen Attributen des Adels, so drängen nun breitere Schichten des Bürgertums zur praktischen Musikausübung. Musik erweist sich »als ein ideales Medium, aus dem bösen Draußen in die gute Welt des Inneren zu

Kapitel >AuJbmch in die Illusioni. Kommunikationsstrukturen

in der Musik des späteren 18. Jahrhunderts,

S. 140 ff. 4

»In der germanistischen Empfindsamkeitsforschung wird die Schlüsselrolle, die der Musik im

ästhetischen >Emotionalismus< ab etwa 1750 zukommt, bei weitem nicht angemessen berücksichtigt. Damit stellt die neu aufgefaßte Musik in gewissem Sinne die empfindsamste der Künste dar.« Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik hei Johann Georg Sulzer. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart,Weimar 1994, S. 4 3 0 f. Schon Hermand hatte konstatiert, daß die Rolle der Musik in der Empfindsamkeit unterschätzt wird: »Wenn also von Empfindsamkeit gesprochen wird, sollte immer auch und vor allem von Musik die Rede sein.« Konkretes Hören, a.a.O., S. 42.Vgl. auch Leo Balet und E. Gerhard über die Rolle der Musik in der Empfindsamkeit, unter der Uberschrift »Gefühl«. Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18.Jahrhundert. Hg. von Gert Mattenklott. Frankfurt/M. u.a. 1981, S. 273 ff. Grundlegend auch: Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit

in Deutschland. Göttin-

gen 1984.Vgl. bes. das Kapitel D. Empfindsamkeit und dort den Abschnitt III: Seelenkunst, S. 239 ff. bzw. 271 ff.

D e r Ausdrucksbegriff

65

fliehen«.5 Gegenüber dem passiven Zuhören erhöht das aktive Musizieren den emotionalen Mehrwert, der durch die als affektiv verstandene Wirksamkeit der Musik schier unbegrenzt steigerbar erscheint. »Empfindung« wird als moralisch wertvolle Eigenleistung gewertet, mit der das Bürgertum sich seiner selbst versichert, ein Bedürfnis, das insbesondere durch die dem Selbstausdruck dienende Musikausübung befriedigt wird. 6 Dem für die Empfindsamkeit wesentlichen geselligen Aspekt wird durch gemeinsames Musizieren Genüge getan, Einfühlung und Mitgefühl werden auf die alles einende Musik projiziert. Diese Entwicklung spiegelt mit leichter zeitlicher Verzögerung die empfindsame Romanliteratur des 18. Jahrhunderts wider, die erst zweihundert Jahre später, in den 70er Jahren unseres Jahrhunderts, zum germanistischen Forschungsgegenstand avancierte.7 Ruth Müller hat die entsprechenden Romanszenen auf ihren musikästhetischen Gehalt hin analysiert; die Ergebnisse ihrer Untersuchung wurden bereits referiert, 8 deswegen können wir uns an dieser Stelle darauf beschränken, die für Jean Pauls Umgang mit Musik wichtigsten Entwicklungen in der Musikästhetik ab 1750 zu skizzieren.

1. Der Ausdrucksbegriff Die Figurenlehre der musikalischen Rhetorik bot den Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts einen stabilen Fundus, aus dem sie sich bei der Darstellung von Affekten bedienen konnten, und milderte so den Hiatus zwischen dem hermetischen Notentext und den vorwiegend adligen Hörern. Musikalische Formeln dienten der »Verständlichkeit« des Gespielten und wurden vom Publikum ohne weiteres entschlüsselt. Schuf die Affektenlehre die Illusion einer objektiven Verständlichkeit der Kunst Musik, so wird sie nun durch eine als individualistisch verstandene Ausdruckslehre ersetzt. Ziel ist nicht mehr die Darstellung und Erregung bestimmter Affekte, sondern die Rührung an sich, eine sanfte Gemütsbewegung. Langsame Sätze erscheinen hierzu am besten geeignet, weil die Empfindung der 5

Jost H e r m a n d : Konkretes Hören, a.a.O., S. 47.

6

Z u r Kritik daran vgl. u.a. Peter U w e H o h e n d a h l : Empfindsamkeit

und gesellschaftliches Bewußtsein.

Zur Soziologie des empfindsamen Romans am Beispiel von >La Vie de MarianneFräulein von Sternheim< und >WertherBürgerliche< Empfindsamkeit?

In: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aujklärung. Hg. von R u d o l f Vierhaus. H e i -

delberg 1981, S. 149-164. D a ß die Empfindsamkeit als S t r ö m u n g innerhalb der Spätaufklärung u n d damit als genuin bürgerliche Tendenz zu gelten habe, gehört zu den Allgemeinplätzen der Forschung, blieb allerdings nicht unwidersprochen. 7

D e n »germanistischen Grundstein« (Hansen) legte Gerhard Sauder mit seiner ursprünglich auf

drei Bände angelegten U n t e r s u c h u n g zur Empfindsamkeit. Bd. 1 : Voraussetzungen und Elemente, Bd. 3: Quellen und Dokumente. Stuttgart 1974 u n d 1980.Weitere Hinweise gibt Klaus P. Hansen: Neue Literatur zur Empfindsamkeit. 8

ErzählteTöne,

In: DVjs 64 (1990), S. 5 1 4 - 5 2 8 . a.a.O. Vgl. die Einleitung m e i n e r Arbeit.

66

Kapitel I

Empfindsamkeit stets von schwermütiger Natur ist. Anders als das Allegro bietet das Adagio durch das Verweilen beim musikalischen Moment die Möglichkeit, die einzelne Bewegung auszukosten. 9 Sollten die Kompositionen als Medium der Selbstvergewisserung dienen, mußten sie demnach zwei Forderungen erfüllen: Expressivität und leichte Ausführbarkeit. In den Werken der Mannheimer Klassik vor allem schienen diese Forderungen ideal erfüllt: Die statische, kontrastive Terrassendynamik des Barock war hier durch differenziertere dynamische Gestaltung, weit ausgreifende Crescendi und Decrescendi abgelöst.Während die musikalische Rhetorik im Bereich der Komposition, vornehmlich der elocutio angesiedelt war, gilt dies für die Ausdrucksästhetik nicht mehr uneingeschränkt: Die actio ist hier einbezogen, neben der Komposition soll der Bereich der Interpretation durch das Ausdruckspostulat geregelt werden: 10 Carl Philipp Emanuel Bachs Forderung, der Musiker müsse sich in den Affekt seiner Komposition und die dadurch beim Hörer zu erregende Empfindung hineinversetzen, 11 wird als Subjektivierung des Schaffensprozesses mißverstanden. Hans Heinrich Eggebrecht hat den Begriff des »Sturm und Drang« auf die Musik der Periode zwischen 1740 und 1780 übertragen, die mit der Strömung der Empfindsamkeit zeitlich korreliert. Die Formel »Die Musik drückt etwas aus« (ahmt also nach) ersetzt er — teilweise in Anlehnung an Dammann — durch die Formel »In der Musik sich selbst ausdrücken«.12 Für die Seite der Komponisten und Interpreten, deren selbstverständliche Personalunion sich ab 1750 schrittweise aufzulösen beginnt, ist das Postulat des Selbstausdrucks jedoch problematisch. Mit dem Vorhandensein einer subjektiven Empfindung ist es ja nicht getan; Quantz' Flötenschule und Carl Philipp Emanuel Bachs instrumentalpraktische Anleitung legen beredtes Zeugnis davon ab, mit wieviel kompositorischer und interpretatorischer Arbeit die Wirkung auf den Rezipienten verbunden ist. Zudem impliziert die Formel des Selbstausdrucks wiederum eine Kodifizierung im Sinne der musi-

9

Die Favorisierung langsamer Sätze fuhrt, wie etwa a m Beispiel von Millers Siegwart zu b e o b a c h -

ten ist, in den 1770er Jahren rasch zur Trivialisierung. I m einzelnen m u ß das nicht beschrieben w e r den, vgl. dazu R u t h Müllers Exkurs: Das >schmelzende Adagio < - ein Topos. Erzählte Töne, a.a.O., S. 52 f. 10

Christine Lubkoll spricht von e i n e m tiefgreifenden Paradigmen wechsel, der die Verlagerung der

Ausdrucksästhetik von der elocutio in die actio beinhalte u n d belegt dies mit d e m Hinweis auf die Instrumentalschulen von Leopold Mozart, Q u a n t z u n d C.P.E. Bach. Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg/Breisgau 1995, S. 52 f. Gerade diese u m 1750 e n t standenen instrumentalpraktischen Anweisungen j e d o c h d e h n e n die Ausdrucksfrage auf den gesamten Schaffensbereich einschließlich der A u s f ü h r u n g aus. 11

»Indem ein Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so m u ß er n o t h w e n d i g

sich selbst in alle AfFeckten setzen k ö n n e n , welche er bey seinen Z u h ö r e r n erregen will; er giebt ihnen seine E m p f i n d u n g e n zu verstehen u n d bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit-Empfindung.« Carl Philipp E m a n u e l Bach: Versuch über die wahre Art, das Klavier zu spielen. Erster Teil, Drittes H a u p t stück: Vom Vortrage, § 13, a.a.O., S. 122. 12

H a n s - H e i n r i c h Eggebrecht: Das Ausdrucks-Prinzip

im musikalischen Sturm und Drang. In: DVjs 29

(1955), S. 330. A u c h Müller n i m m t den Aufsatz z u m Ausgangspunkt. Erzählte Töne, a.a.O., S. 11.

D e r Ausdrucksbegriff

67

kalischen Rhetorik, die als Basis für die Übermittlung eines bestimmten »Gefühls« des schöpferischen Spielers unabdingbar wäre. D e n n auch der als subjektiv, momenthaft und spontan verstandene »Ausdruck« müßte zur Mitteilung an den Hörer objektiviert werden, was der Affektenlehre wieder nahe käme. Überdies ist die stereotyp verwendete Formel »Ausdruck der Empfindung« selbst »unscharf und vieldeutig«, wie A r n o Forchert überzeugend dargelegt hat, da die Bedeutung der Begriffe >Ausdruck< und >Empfindung< erst aus ihrem jeweiligen Kontext heraus bestimmbar sei: >Ausdruck< kann sowohl Z e i c h e n oder B e z e i c h n u n g für etwas anderes sein (etwa i m Sinne eines >Fachausdrucks< fìir einen bestimmten Sachverhalt) als auch die Eigenschaft einer Sache oder Person bezeichnen (den Ausdruck einer Melodie etwa) ( , . . ) 1 3

Forchert sieht in dieser Unscharfe den Grund für die Beliebtheit der Ausdrucksformel. Sie »kann (...) als Versuch einer inhaltlichen Bestimmung gesehen werden, die es gleichwohl vermeiden will, in die Eindeutigkeit rationalistischer Begrifilichkeit zurückzufallen, sie kann als Zeichen des Fortschritts in R i c h t u n g auf eine autonome Musikästhetik verstanden werden«. 14 Daraus ergibt sich der Widerspruch, daß der Komponist Empfindungen ausdrücken soll, die sich gleichwohl besser fühlen lassen. 15 Dabei hatten die Praktiker und Theoretiker keinen Zweifel daran gelassen, wo das Vermögen, Empfindungen auszudrücken, angesiedelt ist: In der Einbildungskraft, die das verbindende Glied zwischen dem Komponisten und dem Rezipienten darstellt. Johann Philipp Kirnberger beschreibt in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste die Rolle des K o m ponisten so: Hat er den Charakter des Stiiks [sie] festgesetzt, so m u ß er sich selbst in die E m p f i n d u n g setzen, die er in andern hervorbringen will. 1 6

Von einem subjektivistischen M o m e n t kann hier keine R e d e sein; nicht sich respektive sein eigenes Innenleben drückt der Tonsetzer aus, sondern er versetzt sich in die beim Zuhörer zu erregende Empfindung, um diese wieder rückzuprojizieren auf die Komposition. Wenn Kirnberger und Carl Philipp Emanuel Bach die Überzeugung vertreten, der Musiker vermöchte das Publikum nicht zu rühren, ohne selbst gerührt zu sein, so wenden sie sich einerseits gegen eine bloß mathematisch-technische Disposition des musikalischen Werks. Andererseits erscheint den Musiktheoretikern durch die Kontrollfunktion des eigenen Gemütslebens der Ausdruck von Empfindungen ähnlich objektivierbar wie zuvor der

13

A r n o Forchert: Vom >Ausdruck der Empfindung< in der Musik. In: Das musikalische Kunstwerk. Fest-

schrift für Carl Dahlhaus. Hg. von H e r m a n n Danuser u.a. Laaber 1988, S. 39. 14

Ebd., S. 40.

15

Vgl. ebd., S. 44.

16

Art. Ausdruk in der Musik. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, a.a.O., Bd. 1, S. 273.

68

Kapitel I

Ausdruck von Affekten, statt diesen drückt der Tonsetzer nun »bestimmte Empfindungen« aus und bewahrt seine Komposition vor dem Vorwurf, nichtssagend zu sein. Der Ausdrucksbegriff sollte daher keinesfalls als Zeichen eines gefühlsmäßigen Verständnisses des schöpferischen Prozesses angesehen werden, sondern im Sinne von Dammanns glücklicher Formulierung: Ausdrücken heißt, »ein Inneres in ein Außeres projizieren« [Hervorhebung von mir], 1 7 denn hier steht die InnenAußen-Relation an sich im Mittelpunkt, die jegliche künstlerische Arbeit b e stimmt. Sie bestimmt auch das Verhältnis des bürgerlichen Interpreten und Hörers zu »seinem« Werk: Das in der äußeren Werkgestalt vermutete und deswegen empfundene Innere macht das Musikstück zur Projektionsfläche für das eigene Innenleben. Die Analyse der Konzertszenen in Jean Pauls Romanen wird zeigen, daß der Dichter sich dieser Formel bedient und sie durch den Kontext des jeweiligen Romangehalts immer wieder neu bestimmt. Ist die Relation von Innen- und Außenwelt ein zentrales, wenn nicht das zentrale Thema in Jean Pauls Dichtung, so erhält sie durch die Verwendung von beschriebener Musik im Erzähltext eine Neuakzentuierung: Der Musiker - oder auch nur das Instrument — wird zum Scharnier zwischen Innen und Außen.

2. »Die Liebe hat ihre eigne Sprache«:18 Musik als »Losung« in Goethes Werther und Millers Siegwart Es ist diese Innen-Außen-Relation, die den gemeinsamen Nenner jener R o m a n szenen bildet, in denen Lektüre, Musik und Natur als Außenprojektion eines Inneren dienen, in denen Musik und Musikausübung Toposcharakter erhalten. 19 Ahnlich wie zuvor eine Ode von Klopstock kann die Erwähnung eines Liedes von Benda, Rust oder Reichardt zum Evokationssignal werden. Naturgemäß sind es vor allem Liebeshandlungen, die durch den Einsatz von Musik befördert werden. Der Gefühlsüberschwang läßt die Wortsprache ebenso verstummen wie das Tabu, mit dem seine Aussprache belegt ist. Ahnlich wie die Darstellung der Relation zwischen Innenwelt und Außenwelt im Werther mit ihrer Engführung von Seelenregung und Naturstimmung zum Vorbild für die »musikalische Landschaft« wurde, 20 so hat die Gewitterszene in diesem R o m a n geradezu Toposcharakter erlangt. 21 Während einer Ballveranstaltung auf dem Land, die Lotte und Werther zu einem englischen Tanz zusam-

17 18

R o l f Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Köln 1967, S. 233. Johann Martin Miller: Siegwart. Eine Klostergeschichte. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1776.

Mit einem Nachwort von Alain Faure. 2 Bde. Stuttgart 1971, Bd. 2, S. 678. 19

Davon zeugen sämtliche Analysen in Ruth Müllers Buch: Erzählte Töne, a.a.O.

20

Vgl. dazu Kapitel VI.

21

Der erste Band von Millers Siegwart endet ebenfalls mit einer Gewitterszene.

Musik als »Losung«

69

menfiihrt, erfährt Werther von Lottes Bräutigam. Ihrem Geständnis und seiner Verwirrung, die ihn beim Tanzen durcheinander geraten läßt, folgt, noch bevor der Tanz zu Ende ist, ein heftiges Gewitter. Damit gerät das Geschehen (es handelt sich u m den zehnten Brief und zugleich den ersten längeren) an einen Wendepunkt: Die Unmöglichkeit einer Verbindung kommt Werther, der von Lottes Verlöbnis schon wußte, schlagartig zu Bewußtsein. Goethe schildert nun allerdings zu diesem frühen Zeitpunkt der Handlung nicht die Wirkung des Gewitters auf Werther, er läßt ihn - im Unterschied zu anderen Textstellen — nicht die zwingende Verbindung zwischen der inneren und der äußeren Handlung artikulieren, sondern er filtert das Geschehene zusätzlich, indem er nur die Gewitterfurcht der anwesenden Gäste beschreibt. Der Donnerschlag der Erkenntnis, der Werther getroffen haben muß, wird mit doppelter Diskretion behandelt. Die Tatsache, daß das Unwetter in ein Fest hineinfährt, verstärkt den Effekt zusätzlich, wie Goethe selbst im Text schreibt. 22 Man sucht die allgemeine Gewitterfurcht durch ein Gesellschaftsspiel zu vertreiben, und erst danach ziehen Lotte und Werther sich ans Fenster zurück, u m nach draußen zu schauen, wo D o n n e r und Blitz inzwischen in einen erlösenden Frühsommerregen übergegangen sind. Die Worte versagen vor der Aufgabe, das Gefühl auszudrücken, die Literatur k o m m t Lotte und Werther zur Hilfe. 23 N e b e n der Ubermacht der Gefühle versiegelt das Tabu einer Liebesbeziehung, ja, das Tabu, über eine solche überhaupt zu sprechen, den Protagonisten die Lippen. Lottes Seufzer »Klopstock!« hat Goethe selbst als »Losung« bezeichnet. 2 4 Die Klopstock-Ode Frühlingsfeier, die Lotte und Werther im selben M o m e n t in den Sinn kommt, wird über die Vermittlung eines gemeinsamen Kunstverständnisses zum Ausdruck des Unsagbaren. Das Losungswort löst zwar einerseits »einen M o n d h o f von Assoziationen und Empfindungen in der Phantasie aus«, 25 mumifiziert aber auch das in ihm verborgene Unsagbare, weil dieses, auf ein einziges Wort reduziert, den Dichter der Beschreibung enthebt. Mit Musik hat das zunächst nichts zu tun. D e n n o c h wird die oft beschriebene Szene zum Modell für den erzählerischen Einsatz von Musik: Die Funktion, die das Klopstock-Wort hier hat, übernimmt zunehmend die Musik. Von der U b e r tragung des literarischen Unsagbarkeitstopos auf die Musik zeugen durchweg alle Musikszenen in R o m a n e n und Dramen seit dem Erscheinen des Werther.26 Daß diese Übertragung schon in Goethes R o m a n selbst keine geringe Rolle

22

»Es ist natürlich, w e n n uns ein U n g l ü c k oder etwas Schreckliches im Vergnügen überrascht, daß

es stärkere Eindrücke auf uns macht als sonst (...)«. H a m b u r g e r Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Achte, überarbeitete Aufl. M ü n c h e n 1973, Bd. 6, S. 26 [zitiert als H A ] . 23

Vgl. dazu R i c h a r d Alewyn: >Klopstock!< In: E u p h o r i o n 7 3 (1979), S. 3 5 7 - 3 6 4 .

24

H A , Bd. 6, S. 27. Ü b e r die Funktion dieser Losungsworte vgl. N o r b e r t Miller: Der empfindsame

Erzähler. M ü n c h e n 1968, S. 37 ff. u n d S. 319 ff.Vgl. auch ders.: Musik als Sprache, a.a.O., S. 258. 25

Miller: Musik als Sprache, a.a.O., S. 257 f.

26

Dahlhaus schreibt die Ü b e r t r a g u n g des Unsagbarkeitstopos von der D i c h t u n g auf die reine

Instrumentalmusik Jean Paul zu. Musik — zur Sprache gebracht, a.a.O., S. 179.

70

Kapitel I

spielt, wird gemeinhin zu wenig berücksichtigt. Allein Gerhard Sauder hat den Musikszenen im Werther eine fein differenzierende Betrachtung gewidmet, der nur wenig hinzuzufügen ist. 27 Die spärlichen Passagen des Werther, in denen M u sik vorkommt, versammeln dennoch die gängigen Motive empfindsamer R o manhandlungen. Zunächst einmal ist zu bemerken, daß nur Lotte musiziert, Werther ist diese Möglichkeit nicht gegeben. Die Art und Weise, wie ihr Klavierspiel eingeführt wird, zeigt, daß auch Goethe dem Kult des Natürlichen verhaftet ist: Lotte spielt vor allem eine Melodie, ihr »Leiblied«, das in Werther alle »Irrung und Finsternis« löst und ihn damit die »Zauberkraft der Musik« ganz fühlen läßt. 28 Sie verstrickt sich nicht in harmonisch ausgreifendem Improvisieren am Klavier, sondern ihr Spiel wirkt ihrer pragmatischen Natur gemäß ordnend und klärend: »Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut.« 29 Ihr Klavierspiel ist Signatur ihrer moralischen Integrität, die Werther schwören läßt, niemals einen Kuß von Lotte zu begehren. In einer späteren Szene des Romans, in der Werther am Ende seiner Leidensfähigkeit angekommen ist (»ich trag' es nicht länger!«), spielt Lotte noch einmal das »Leiblied« und bewirkt damit in Werthers Seele, in der die frühere Stunde durch die vertrauten Klänge evoziert wird, ein Trostgefühl. 30 Sauder hält an den drei Passagen aus dem Werther den monologischen C h a rakter des Klavierspiels fest, das somit den Briefroman, dessen Adressat nicht in Erscheinung tritt, insgesamt spiegelt. Sauder bemerkt weiterhin, daß Werther die Macht der Musik nur durch Lotte erfährt. Wenn er allerdings die These vertritt, daß der »indirekte Diskurs« der Gefühlssteigerung diene und Lotte durch ihr Spiel

27

Die empfindsamen Tendenzen in der Musikkultur

ropäische Musikkultur

nach 1750. In: Carl Philipp Emanuel Bach und die eu-

des mittleren 18. Jahrhunderts. Bericht über das internationale Symposium der J o -

achim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften H a m b u r g 1988. Hg. von Hans J o a c h i m Marx. G ö t t i n gen 1990, v.a. S. 55 ff. R u t h Müller hat den drei Werther-Szenen

keine Interpretation gewidmet, sicher

mit Blick darauf, daß k a u m ein R o m a n sich größerer Bekanntheit erfreut als dieser. Die Passagen, die Müller in ihrem Exkurs über Das > treue Ciavier< - ein Topos bespricht - es handelt sich u m R o m a n e von H e r m e s , Knigge, Spazier u n d Westenrieder - zeigen eine deutliche M o t i w e r w a n d t s c h a f t mit Goethes R o m a n . Erzählte Töne, a.a.O., S. 107-110. 28

»Sie hat eine Melodie, die sie auf d e m Klaviere spielet mit der Kraft eines Engels, so simpel u n d

so geistvoll! Es ist ihr Leiblied, u n d m i c h stellt es von aller Pein,Verwirrung u n d Grillen her, w e n n sie n u r die erste N o t e davon greift. Kein W o r t v o n der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. W i e mich der einfache Gesang angreift! U n d wie sie ihn a n z u b r i n g e n weiß, oft zur Zeit, w o ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die I r r u n g u n d Finsternis m e i n e r Seele zerstreut sich, u n d ich atme wieder freier.« H A , Bd. 6, S. 39. 29

Ebd., S. 23.

30

»Und auf einmal fiel sie in die alte, h i m m e l s ü ß e M e l o d i e ein, so auf einmal, u n d m i r durch die

Seele gehn ein Trostgefühl u n d eine E r i n n e r u n g des Vergangenen, der Zeiten, da ich das Lied gehört, der düstern Z w i s c h e n r ä u m e des Verdrusses, der fehlgeschlagenen H o f f n u n g e n , u n d d a n n - (...)« Ebd., S. 91.

Musik als »Losung«

71

die »auferlegte affektive Sprachlosigkeit« zu kompensieren vermöge, 3 1 so wäre dem erstens entgegenzuhalten, daß Lotte nicht ihre, sondern Werthers Sprachlosigkeit kompensiert, was freilich auch eine Art von Verstehen voraussetzt. Es bleibt aber insgesamt eine Eigentümlichkeit dieser Musikbeschreibung, daß Goethe den Topos eines seine Gefühle ins Klavier verströmenden Helden vermeidet. Zweitens erweist sich gerade darin, daß Lotte in einer der Szenen am Klavier auch singt, in der Intimität zwischen ihr und dem Klavier, daß für Werther hier kein Platz ist. Sauders Schlußthese, daß die musikalische Kommunikation »einseitig und asymmetrisch« bleibe, 32 ist somit uneingeschränkt zuzustimmen. Mindestens ebenso bedeutend als Ausgangspunkt für die Konzertszenen in Jean Pauls R o m a n e n ist der U m g a n g mit Musik in Johann Martin Millers Siegwart.33 Nach dem Vorbild des Werther spiegeln auch hier Natur, Musik und Lektüre die psychischen Konstellationen der Protagonisten. 34 Die Textmenge des mehr als tausend (allerdings kleine) Seiten umfassenden R o m a n s bedingt naturgemäß eine größere Menge solcher Details, aber auch in der Dichte entsprechender Passagen ist Miller der unangefochtene Spitzenreiter, und beides bewirkt, daß sein R o m a n wie eine Motivsammlung anmutet. Die Klopstock-Szene zwischen Lotte und Werther hat Eingang gefunden, dem religiös-moralischen Gehalt des R o m a n s gemäß allerdings als Lektüre des Messias; daneben dienen die Werke Geßners, Ewald von Kleists und Hallers als »Losungen«. 35 Musik gehört in diesem R o m a n zu den Mitteln der Personencharakteristik, das ausdrucksvolle Spiel wird zur Signatur der Empfindungsfähigkeit, 3 6 der »ausdrückende« Gesang oder das ebensolche Spiel werden zur Formel für eine umfassende Gutartigkeit, die nicht näher zu spezifizieren ist, weil der Leser ja weiß, daß böse Menschen keine Lieder haben.

31

Sauder: Die empfindsamen Tendenzen, a.a.O., S. 57.

32

Ebd.

33

R u t h Müller erkennt als gemeinsamen N e n n e r der Musikszenen im Siegwart »die Fähigkeit, mit

Hilfe des Schlüssels Musik die T ü r zur Innenwelt der R o m a n f i g u r e n zu öffnen. In dieser Hinsicht: als Katalysator für melancholische Introspektion ebenso wie für das Entstehen zärtlicher E m p f i n d u n g e n , steht die Musik in einer R e i h e mit einer n e u e n , empfindsamen Naturerfahrung, mit d e m Klopstockkult, mit einer von Sentimentalität ü b e r w u c h e r t e n Ossianlektüre.« Erzählte Töne, a.a.O., S. 39. 34

»Das traurige Stillschweigen der N a t u r nährte nur seine Traurigkeit. Er las in seinen B ü c h e r n

nichts, als düstre, w e h m ü t h i g e Stellen. Die Musik ergötzte ihn auch nicht mehr. N u r zuweilen p h a n tasirte er in lauter Dissonanzen u n d w i m m e r n d e n Tönen.« Siegwart, a.a.O., Bd. 2, S. 470. 35

Ü b e r Siegwart heißt es: »(. . .) seine E m p f i n d u n g [wurde] durch das Lesen der alten u n d n e u e n

Dichter, durch fleissige U e b u n g in der Musik, u n d genaue B e o b a c h t u n g der N a t u r i m m e r feiner, r i c h tiger, u n d reizbarer.« Ebd., S. 561. 36

So schreibt Miller über das Geigenspiel von Marianes Bruder, der M a ñ a n e s u n d Siegwarts N e i -

g u n g hintertreibt: »Er m a c h t e es nicht ganz schlecht; aber nach Siegwart k o n n t e m a n ihn k a u m m e h r hören.« Ebd., S. 630. A u c h b e i m Leser setzt Miller Empfindungsfähigkeit voraus u n d lenkt diese durch gezielte B e m e r k u n g e n . D e r Leser soll mit-fühlen, wie es der A u t o r auch fur sich selbst reklamiert.Vgl. dazu Diethard Heinze: Johann Martin Millers >Siegwart. Eine Klostergeschichteair sur trois notes< mehr als die durchgearbeitete, vertiefte Formstruktur einer Komposition ( . . . ) « Musik als Sprache, a.a.O., S. 2 6 9 . 57

C . F. D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik

58

Vgl. den Art. Arie in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste, a.a.O., B d . 1, S. 2 0 9 .

der Tonkunst, a.a.O., S. 3 3 5 .

76

Kapitel I

Die Melodie, in der Vokalmusik naturgemäß — wenn auch nicht ausschließlich — der Part der Singstimme, ist mit den Regeln der Rhetorik leichter zu verbinden und kann so zur »Klangrede« werden. Rousseau wendet sich auf dieser Basis gegen die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts unangetastete Vorrangstellung der Harmonie vor der Melodie. Er bevorzugt letztere wegen ihrer »unmittelbaren Bezogenheit auf grammatikalische und rhetorische Betonungen«: Aus diesem G r u n d e wird m a n stets in der M e l o d i e den wichtigsten Ausdruck finden, in der instrumentalen Musik wie in der vokalen. 5 9

Die zunächst einstimmige Melodie und mit ihr der homophone Satz scheinen gegenüber dem polyphonen Geflecht der älteren Musik zu bestimmtem Ausdruck fähiger. Die Basis für Rousseaus Melodielehre bildet indes seine Annahme einer ursprünglichen Einheit von Musik und Sprache, Rede und Gesang: »daß man (...) singen würde, anstatt zu sprechen«.60 Voraussetzung dafür ist wiederum Rousseaus Uberzeugung, daß die frühesten menschlichen Äußerungen solche der Leidenschaft und nicht der Vernunft waren. Aus diesen bewegten Lauten konnte nur Gesang entstehen, umgekehrt ist zur Nachahmung dieser Leidenschaften nur die Melodie fähig, weil sie die Akzente der Sprache nachzubilden vermag. Das Verfehlen der mimesis-Forderung ist Rousseaus entscheidendes Argument gegen Rameaus Harmonie, deren auf mathematischen Berechnungen beruhende Prinzipien das Ausdrucksziel unerfüllt läßt, im Gegensatz zur Melodie: Sie ahmt nicht nur nach, sie spricht, u n d ihre unartikulierte, aber lebendige, g l ü h e n de, leidenschaftliche Sprache ist hundertmal kraftvoller als selbst das Wort. 6 1

Auch Jean Paul, der aus Rousseaus 1768 in Paris erschienenem Dictionnaire de musique verschiedene Artikel exzerpierte, 62 hat diesen Gedanken aufgegriffen: Die H a r m o n i e füllet uns z u m Teil durch ihre arithmetischen Verhältnisse; aber die Melodie, der Lebensgeist der Musik, erkläret sich aus nichts als etwan aus der p o e tischen reinen N a c h a h m u n g der r o h e m T ö n e , die unsere Freuden u n d unsere Schmerzen von sich g e b e n . 6 3

59

Artikel Expression i m Dictionnaire de musique. In: Jean-Jacques Rousseau. Musik und Sprache. Aus-

gewählte Schriften. Ubersetzt von Peter u n d D o r o t h e a Gülke. Wilhelmshaven 1984, S. 260.Vgl. zu diesem Aspekt den Abschnitt Melodie und Harmonie bei Lubkoll: Mythos Musik, a.a.O., S. 41 ff. 60

Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musika-

lische Nachahmung gesprochen wird. In: Musik und Sprache, a.a.O., S. 107. 61

Ebd., S. 144.

62

Vgl. Götz Müller:Jean Pauls Exzerpte, a.a.O., S. 190.Auch aus Rousseaus R o m a n exzerpierte Jean

Paul einschlägige musiktheoretische Passagen.Vgl. ebd., S. 189. 63

Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, 1,4, S. 204. In der Vorschule mokiert er sich über die

verquere Ästhetik, die romantische u n d griechische Poesie so unterteilt habe, w i e die, »welche alle M u sik in solche zerfällte, w o r i n H a r m o n i e , u n d in solche, w o r i n Melodie vorklingt, oder kürzer ins simultane u n d ins sukzessive Übergewicht«, a.a.O., S. 85.

Das Ideal des Natürlichen

77

Der Streit um den Vorrang von Melodie oder Harmonie war Teil des Buffonistenstreits, der durch die Ankunft italienischer Operntruppen mit buffonesken Stoffen 1752 in Paris ausgelöst worden war. Rousseau gehörte zu den Parteigängern der italienischen Oper und vertrat die polemische Meinung, die französische Sprache sei — im Gegensatz zur italienischen — zur melodischen Vertonung grundsätzlich nicht geeignet. Seinen Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse nutzt Rousseau, um diesen Uberzeugungen bei einem breiteren Lesepublikum Gehör zu verschaffen. 64 Mehrere Briefe sind der Diskussion um den Vorrang der italienischen oder der französischen Oper gewidmet, im 23. Brief des zweiten Teils argumentiert Rousseau schlagkräftig gegen den aufwendigen Maschinenzauber der französischen tragédie lyrique mit ihren Stoffen aus der Mythologie. 65 Im 47. und 48. Brief des ersten Teils wird ein regelrechter Wettstreit geschildert. Saint-Preux berichtet an Julie von einer musikalischen Zusammenkunft, zu der er selbst französische und der Mylord italienische Stücke mitbringen. In einem rhetorischen Feuerwerk verwertet Rousseau sämtliche Motive der zeitgenössischen Diskussion zum Thema: Konnte der fiktive Verfasser in Unkenntnis kantabler italienischer Werke die Vokalmusik bisher nicht recht würdigen, so ist er nun von der Mitteilungsfähigkeit der Musik überzeugt. 66 Rousseau verfolgt den didaktischen Zweck, die Leser von der Überlegenheit der italienischen über die französische Musik zu überzeugen, indem er ein Gegensatzpaar aufrichtet: Dem leeren akkordischen Schall wird die ausdruckshaltige Melodie gegenübergestellt, deren Wirksamkeit auf die Korrespondenz melodischer mit den Sprachakzenten zurückgeführt wird. Rousseaus Argumente kamen in den liedästhetischen Diskussionen der Berliner Liederschulen noch einmal zu Ehren. Sangbarkeit (ein begrenzter Tonumfang der Melodie und eine genaue Orientierung am Sprachrhythmus) und eine strophischeVertonung bei schlichter Klavierbegleitung sind die theoretischen Forderungen, die von Komponisten wie Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter, den wichtigsten Exponenten der zweiten Berliner Liederschule, idealtypisch erfüllt werden. Kompositorisch müssen die Lieder so beschaffen sein, daß sie im bürgerlichen Salon musiziert werden können, »ohne Rücksicht auf künsdiche Ausbildung«.67

64

Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen (1761).

M ü n c h e n 1978.Jean Paul exzerpierte daraus 1781, kurz nach d e m Erscheinen des ersten Bandes (Genf 1780).Vgl. Götz Müller:Jean Pauls Exzerpte, a.a.O., S. 108. 65 66

Julie oder Die neue Héloïse, a.a.O., S. 289 ff. »Die Musik, sagte ich, ist bloß ein leerer Klang, der zwar d e m O h r e schmeichelt, aber nur

zufälligerweise, nur flüchtig auf das Herz wirkt. D e r Akkorde W i r k u n g ist bloß mechanisch u n d k ö r perlich; was geht er die E m p f i n d u n g an?« Ebd., S. 131. 67

H e i n r i c h Christoph Koch: Artikel Lied. In: Musikalisches Lexikon. 2 Tie. F r a n k f u r t / M . 1802.

N a c h d r u c k Hildesheim 1964, Sp. 901.

78

Kapitel I

Die Liedkompositionen der Zeit gehören zu Jean Pauls musikalischem U m feld, er kennt Lieder von Lorenz Schneider, Hans Georg Nägeli, Friedrich Wilhelm Rust, Siegmund von Seckendorf, Zelter, Reichardt und anderen. 68 Entscheidend ist jedoch stets der Kontext, in dem diese Lieder erscheinen. Eine Konzertszene wie aus dem Lehrbuch für empfindsame Romandichter gestaltet Jean Paul nicht ohne Ironie in der Vierten Ruhestunde aus dem Heimlichen Klaglied der jetzigen Männer (1800) unter dem Titel Air à trois notes. Der Soldat Wolfgang kehrt aus dem Krieg einarmig zu Cara zurück. Mit dem Flötespielen scheint es nun aus zu sein, doch das Mädchen bittet ihn: »Einige Noten doch noch!« und holt die Noten zu Rousseaus Air de trois notes, jenem beispielhaften, aus nur mehr drei Tonhöhen bestehenden Lied, mit dem Rousseau eine dem Natürlichen verpflichtete Kompositionsweise zu demonstrieren gedachte. 69 Die drei Töne verwandeln sich in drei Seufzer und zugleich in die drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die vor den Liebenden vorüberziehen, um schließlich in eine Huldigung Rousseaus zu münden: »Weicher Rousseau! du hattest ein Herz! -« 7 0 Cara singt, begleitet von Wolfgang, noch eine Arie, deren Töne ihr Tränen der Rührung entlocken — eine Wirkung, die sie freilich in programmatischer Vermengung nicht von der zu trennen vermag, die durch die Versehrte Gestalt Wolfgangs ausgelöst wird. Das gemeinsame Musizieren befördert die Liebeshandlung, und die Töne des Liedes artikulieren, was den beiden zu sagen verwehrt ist: »(...) jede Zeile war eine schlagende Nachtigall, welche das ausspricht, was ein seliges Herz zuhüllt.«71 Der Kult des Kunstlosen wird durch die Einarmigkeit des männlichen Helden zugespitzt: Sein Flötenspiel ist durch die Behinderung eingeschränkt, die Flöte gilt ohnehin als der Inbegriff des Natürlichen, und dann kommt die Szene auch noch mit nur drei verschiedenen Tonhöhen aus — Argumente für einen ironischen U m gangjean Pauls mit demThema.Wolfgang und Cara sind die Spieler im selbst inszenierten Diskurs, dessen Spielregeln und Ausgang sie beide kennen. 72

68

Eine Liste kann A n t o n Zeheters Aufsatz e n t n o m m e n werden. Jean Paul und die Musik, a.a.O.,

S. 69 ff. 69

1,4, S. 1112.

70

Ebd.

71

Ebd., S. 1113.

72

Vgl. T h o m a s W i r t z über die Briefe Jean Pauls: »Empfindsamkeit wird kurzzeitig als K o m m u -

nikationsspiel inszeniert, das in der Selbstthematisierung seiner Sprechbedingungen seine U n s c h u l d verliert. Die Träne ist nicht Selbstbekundung, sondern E r ö f f n u n g eines kommunikativen Schemas.« Schreibversuche.Jean Pauls Briefe bis 1805, a.a.O., S. 30.

Dokumente bewußter Wirkungssteigerung

79

4. »Wir suchten uns rührender zu machen«: Dokumente bewußter Wirkungssteigerung Das Muster fur derlei Szenen fand Jean Paul nicht nur in den Romanen Goethes, Millers und Rousseaus; in der Vorschule gibt er zu erkennen, daß ihm auch die moralisierenden Romane des Theologen und Schriftstellers Johann Timotheus Hermes bekannt waren, den er als »Romanprediger« bezeichnet. 73 Aus Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (von 1769—1773 in sechs Bänden erschienen), einem der meistgelesenen Romane des 18. Jahrhunderts, exzerpierte er 1780, 1781 und 1784. 7 4 In Sophiens Reise und dem früheren Roman Geschichte der Miß Fanny Wilkes75 ist es wiederum das »Ciavier«, das zum Echo aller Klagen wird, allerdings stets mit religiösem Akzent. So ist dort das Lied Bereite mich zum Schlummer eingebettet in eine Sterbeszene. Sophie spielt Klavier und singt dazu, das Klavier wird direkt angesprochen, aber mit ihm auch das Auditorium, das seine Rührung adäquat durch Sophie ausgedrückt sieht. Hinterher fragt man sie: »Wo haben Sie die Sprache des Trauernden gelernt?« 76 Das Klavierlied wird zum Ersatz für das nicht Ausgesprochene und vor allem zum Medium einer bewußten Wirkungssteigerung, die Trauernden sehen darin ihre Emotionen affirmativ verstärkt und vergewissern sich ihrer moralischen Richtigkeit. Der Hinweis auf Sophies Mitleiden deutet auf die Tradition der englischen Familienromane, in denen das gesellige Leiden seinen Ort hat. Sophies Singen »erquickt«: nicht obwohl, sondern weil es »traurige Gedanken« in den Hörern erweckt. Die Dokumente bewußter Wirkungssteigerung sind vielfältig. In einem vielzitierten Brief an seine spätere Ehefrau Ernestine Boie berichtet Johann Heinrich Voß über einen Abend, an dem die Grafen Christian und Leopold von Stolberg von ihren Freunden aus dem Göttinger Hain entlassen wurden, offenbar im Beisein des Idols Klopstock. Voß wird zu vorgerückter Stunde »genöthigt, auf dem Klavier zu spielen«.77 Man singt Lieder nach Gedichten des Hain-Mitglieds J o hann Martin Miller, erst Trinklieder, dann sein Abschiedslied auf Esmarch, umgedichtet auf die Grafen Stolberg. Sorgfältig wird der Abschiedsschmerz der Freunde erst gemildert, um ihm dann desto freieren Lauf zu lassen:

73

»Hermes' Romane besitzen beinahe alles, was man zu einem poetischen Körper fordert«, aber es

fehlt ihnen »der poetische Geist«. Vorschule, 1,5, S. 35. 74

Vgl. Götz Müller:Jean Pauls Exzerpte, a.a.O., S. 1 0 7 , 1 1 0 und 140. Die dritte Aufl. erschien 1778.

Zu Hermes vgl. auch Ruth Müller: Erzählte Töne, a.a.O., S. 25 ff. und den Exkurs über das »treue Ciavier«, ebd., S. 107 ff. 75 76

Leipzig 1766,3. Auflage 1781. Johann Timotheus Hermes: Geschichte der Miß Fanny Wilkes so gut als aus dem Englischen übersetzt.

Leipzig 1970 ( = Nachdruck der 3. Auflage Leipzig 1781), S. 301. 77

Johann Heinrich Voß: Briefe. Nebst erläuternden Beilagen hg. von Abraham Voß. Halberstadt

1829, Bd. 1,S. 222.

80

Kapitel I

Jetzt schlug es 3 U h r . N u n wollten wir den Schmerz nicht länger verhalten, wir suchten uns w e h m ü t i g e r zu m a c h e n , u n d sangen von n e u e m das Abschiedslied, u n d sangen's mit M ü h e zu Ende. Es ward ein lautes W e i n e n . 7 8

Zeitgemäß endet die Szene mit Tränen. Der Inhalt des Liedes korrespondiert mit der Situation der Freunde, das gemeinsame Musizieren spätestens bringt zugleich die Stimmung hervor, die dem Liedtext wie auch der tatsächlichen Lage angemessen ist. Selbstverständlich handelt es sich umVokalmusik, die Musizierenden sind nicht etwa gehalten, ihre Abschiedsstimmung auf ein textloses Musikstück zu projizieren, das sie dann demgemäß hören. Daß der Abend bei Boie ganz im Zeichen empfindsamer Ausdrucksästhetik steht, erweist die beiläufige Bemerkung des Briefschreibers, er habe — zunächst allein — am Klavier versucht, sich ganz in die Stimmung des Abends, den herrschenden »Affekt« hineinzuversetzen, u m sie dann auf dem Klavier für das Publikum ausdrücken zu können. 7 9 Die geschilderte Szene erscheint wie ein Lehrbeispiel zu der wunderbaren Definition der Empfindsamkeit, die Wölfel gibt: Empfindsamkeit konstituiert sich dadurch, daß i m R a h m e n intimer K o m m u nikation das Bewußtsein einer Defizienz, eines Mangels sich auf eine solche Weise geltend macht, daß das aus der E r f a h r u n g von Intimität h e r v o r g e h e n d e Glücksgefühl begleitet, gedämpft oder auch überlagert wird durch das Gefühl eines G l ü c k sentzugs, einer nicht realisierten Glücksmöglichkeit. 8 0

Die Musik hat therapeutische Funktion, sie dient nicht nur dem wortlosen Verstehen, sondern sie verhilft den Leidenden zum adäquaten Ausdruck ihres Schmerzes u n d reguliert damit ihren Gefiihlshaushalt. Sie fördert die »Reflexion des Fühlens«, die von Miller, Pikulik und Wölfel als wesenhaft für die Empfindsamkeit erkannt wurde. 8 1 Jean Paul hat diese Auffassung der Musik verschiedentlich reflektiert, vor allem in den vor der Wende zum 18. Jahrhundert entstandenen R o m a n e n , die den empfindsamen Tendenzen am stärksten verpflichtet sind: »Alle Empfindungen in der Welt bedürfen Exordien«, 82 heißt es im Hesperus, und »die T ö n e löseten die drückenden Tränen von der vollen Seele los«. 83 Bis zurTrivialisierung hat Jean Paul dieses Motiv verwendet, oft reicht ein einziger Dreiklang auf dem Klavier, nicht selten ein einziger Ton, u m dem gequälten Herzen Luft zu machen. Gezielt setzt etwa Siebenkäs die »Schneide derTonkunst« an sein zu volles

78

Ebd., S. 223.

79

»Vielleicht verschafte die Musik den andern einige Linderung, m i r selbst, der j e d e n schmelzen-

den Affekt ganz a n n e h m e n m u ß t e , u m ihn wieder auszudrücken, schlug sie n u r tiefere Wunden.« Ebd., S. 222. 80

K u r t Wölfel: Antiklassizismus

und Empfindsamkeit.

Der Romancier Jean Paul und die Weimarer Kunst-

doktrin. In: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. H g . von Karl O t t o Conrady. Stuttgart 1977,S.373.Vgl. auch Wölfeis Analyse der dazugehörigen empfindsamen K o m m u n i k a t i o n s b e d i n g u n g e n . 81

Z u r Kritik an dieser These vgl. Gerhard Sauder: Die empfindsamen Tendenzen, a.a.O., S. 42.

82

1,1.S.775.

83

Ebd., S. 776.

Das Klavier als Seelenpartner

81

Herz, u m es damit zu erleichtern. 84 In Dr. Katzenbergers Badereise (»O laßt mich weinen, es fehlt mir nichts, es ist nur die d u m m e Musik« 85 ) und im Kometen ist diese Wirkung der Musik satirisch beschrieben. Uber den Apotheker heißt es: V e r n i m m t er eine große Sängerin, die alles übertrifft u n d rührt: sogleich setzt er sich hin u n d gibt sich solche M a r a - T ö n e , eine solche Diskanthöhe, unbegreiflich wachsend aus einer solchen Baßtiefe, u n d dabei so u n e r h ö r t e Fertigkeiten, daß er die ganze weibliche Zuhörerschaft zu w a r m e m Brei auf den Sesseln zerflossen vor sich sieht, u n d daß sogar die M ä n n e r fallsüchtig durcheinanderzucken u n d einige vor h o r c h e n d e m saugendem Anhalten des Atems gar ersticken, worauf er selber so ruhig, als hätt' er nichts verrichtet, nach Hause geht (.. .) 8 6

Die Macht der T ö n e bedingt die Macht des Tonkünstlers, der zum Herrscher über den Seelenausdruck wird. D o c h sind die Passagen, in denen die Musik nach dem Vorbild empfindsamer R o m a n e Liebeshandlungen befördert oder deren U n aussprechliches sagt, stets nur Anreger für den Blick über die Grenzen des Diesseits. Die Tränen sind nur vordergründig Zeichen eines Verstehens ohne Worte, tatsächlich sind sie Reaktion auf das Unendliche, das in der Endlichkeit der k o n kreten Konzertsituation aufscheint. Die Analyse des 19. Hundposttag aus dem Hesperus wird ergeben, daß die empfindsame R ü h r u n g stets durchbrochen ist von der durch Musik erzeugten visionären Vorausschau auf die andere Welt.

5. Das Klavier als Seelenpartner, der Mensch als Resonanzboden Eine Untersuchung sämtlicher Konzertszenen in R o m a n e n zwischen 1740 und 1795 hinsichtlich der in ihnen verwendeten Instrumente würde - kaum verwunderlich - ein deutliches Ubergewicht des Klaviers ergeben. Verschiedene Aspekte fließen zu dieser Tendenz zusammen. Da ist zunächst der soziologische Gesichtspunkt: Das Instrument gilt als leicht handhabbar, es ist ein repräsentatives Möbelstück, und mit seiner Hilfe läßt sich leicht musikalische Bildung demonstrieren. Klavierunterricht gehört zum guten Ton vor allem in der Mädchenerziehung. Schubart bemerkt: »Ja das Ciavier ist sogar einer der wichtigsten Artikel in der m o dischen Erziehung geworden.« 87 Als Begleitinstrument ist das Klavier nicht nur

84

»(...) er griff einen einzigen Dreiklang auf d e m Klavier u n d griff ihn wieder u n d ließ ihn ver-

wogen (...).« 1 , 2 , S . 3 2 5 . 85

I, 6, S. 534. D e m bewegten Walt entfährt der Stoßseufzer: »nur heute kein Instrument, das gebe

Gott!« 1,2, S. 831. 86

1,6, S. 745 f. Jean Paul hat hier ein eigenes Konzerterlebnis verarbeitet.Vgl. dazu Jean Pauls Persön-

lichkeit, a.a.O., S. 185. 87

C. F. D. Schubart: ideen zu einer Ästhetik derTbnkunst, a.a.O., S. 286.

82

Kapitel I

zum einsamen, sondern auch zum gemeinsamen Musizieren vorzüglich geeignet. Mit den Kompositionen der ersten und zweiten Berliner Liederschule, die sich das »Natürliche« auf die Fahnen geschrieben hatte, entstand ab 1770 eine Fülle für häusliches Musizieren geeigneter Klavierlieder. Dazu kommen die Gegebenheiten des Instrumentenkorpus: Der Spieler wendet sich dem Instrument zu, seine Position suggeriert ein empfindsames Zwiegespräch zwischen dem Pianisten und dem Instrument, er spielt gleichsam in das Klavier hinein. 88 Faszinierende Wirkung hat überdies der sichtbar große Ambitus des Instruments: Der angeschlagene Ton ist nur eine von 52 imaginären Möglichkeiten, die im Instrument schlummern, wie Herder meint. 89 Die Mechanik der Klavierinstrumente wurde beständig verbessert. Erlaubte die Klangerzeugung beim Cembalo keine nachträgliche Differenzierung des angeschlagenen Tons mehr, so schien die Bebung beim Clavichord den Regungen des menschlichen Gemüts ideal zu entsprechen. Die Vorstellung, daß Musik als schwingende Luft mit den Schwingungen im menschlichen Herz korrespondiere, ist hier im Instrument verwirklicht. Schubart spricht vom Clavichord als »deines Herzens Resonanzboden«: 90 »Sieh, dein Klavikord athmet ja so sanft, wie dein Herz.«91 Umgekehrt wird der Mensch selbst als Clavichord verstanden, auf dem die Tasten der verschiedenen Empfindungen angerührt werden, oder, wie Herder schreibt: »Die Musik spielt in uns ein Clavichord, das unsre eigne innigste Natur ist.«92 Diese Übertragung ist zweifellos eine Folge der seit 1770 zirkulierenden sensualistischen Theorien, die das Zusammenspiel von Außenreiz und Empfindung zu ergründen suchten. Die Klaviersaiten werden als reizbare Nervenfibern verstanden, die im Nervenfluidum des Instrumentenkorpus zittern. In gewissermaßen doppelter Projektion korrespondieren die durch die Saitenschwingung entstehenden Töne dann wiederum mit dem beweglichen menschlichen Inneren, als dessen Pendant sie verstanden werden. In der metaphorisierenden Übertragung des Saitenspiels vom Klavier auf den Menschen kommt eine Vielzahl menschheitsphilosophischer, sensualistisch-

88

Vgl. dazu R e n a t e Schusky: >Dw Echo meiner Klagen, mein treues Sailenspiel ...Falsche Tränen< in

der Musik. In: Das weinende Saeculum. H g . von der Arbeitsstelle 18. J a h r h u n d e r t der Gesamthochschule Wuppertal. Heidelberg 1983, S. 1 5 7 - 1 8 0 u n d den Exkurs bei R u t h Müller: Das >lreue Clavier< - ein Topos. Erzählte Töne, a.a.O., S. 107 ff. 89

»So wie n u n b e i m Wiederschalle eines Klaviers nur i m m e r der Ton antwortet, der gefragt wird,

u n d die andern, wenigstens für uns u n h ö r b a r schlummern: so wie in einer groben Saite, die alle Intervallen von T ö n e n durchbebt, sich n u r die harmonischen hören lassen; so m u ß diese Analogie aufs O h r angewandt, auch Ursache von der verschiednen Empfindbarkeit der Töne in uns geben.« H e r d e r : Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 4 , 1 0 2 . 90

Schubart: Klavierrecepte. In: Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 6, S. 70.

91

Ebd., S. 71.

92

H e r d e r : Sämmtliche Werke, a.a.O., B d . 22, S. 68.

Das Klavier als Seelenpartner

83

physiologischer und musiktheoretischer Vorstellungen zusammen: Geht die Auffassung einer naturgegebenen Verwandtschaft der Seele mit den Tönen auf die Antike zurück, so stammt das Vokabular dafür aus der zeitgenössischen Akustik. Schubart, Herder und Jean Paul zeigen großes Interesse an den zeitgenössischen Klangtheorien, vor allem an Chladnis und Eulers Experimenten. 93 Chladni erprobte die Theorien der Saiten- und Stabschwingungen und entwickelte daraus neue Instrumente, das Euphonium und den Clavizylinder. Wie bei der älteren Glasharmonika werden gläserne, mit Wasser benetzte Stäbe in Längsrichtung gestrichen und damit Longitudinalschwingungen erzeugt. Im Inneren des Clavizylinders sind Eisenstäbe verschiedener Länge nebeneinander angeordnet, die mittels Klaviertasten gegen einen rotierenden Zylinder gedrückt werden, durch dessen Reibung sie in Schwingung versetzt werden. Der Aufbau der Instrumente war pultfÖrmig und mit einem Resonanzboden versehen. Die entscheidende Neuerung bildete die Modifizierbarkeit des Tons, der durch den Tastendruck zum An- und Abschwellen gebracht werden konnte, was bei den herkömmlichen Tasteninstrumenten, etwa dem Cembalo nicht möglich war. Der Klang wurde als »singend« empfunden. Chladni publizierte 1787 seine Vorlesungen über die Theorie des Klanges in Buchform und 1802 ein Lehrbuch unter dem Titel Die Akustik. Wenn E.T.A. Hoffmann in seiner Erstlingsnovelle Ritter Gluck sieben Jahre später das Euphonium als Metapher für das hochsensible Sensorium des schöpferischen Künstlers verwendet, so greift er damit Chladnis Versuche auf. 94 Die Einschätzung der Glasharmonika und ihrer Nachfolgeinstrumente war ambivalent, das Instrument stand im Verdacht, eine Zerrüttung des Nervensystems zu bewirken, vor allem beim weiblichen Geschlecht. Der obertonreiche Klang der Glasharmonika machte sie gleichzeitig bei den Komponisten, etwa Gluck und Mozart, äußerst beliebt. Die Tonerzeugung beim Euphonium und der Harmonika mittels der angefeuchteten Fingerspitzen suggerierte eine Übertragung der Gemütsbewegung auf das Instrument durch die bebenden Glieder wie umgekehrt eine direkte Beeinflussung des Gemüts durch die bebenden Gläser. In Anlehnung an Chladnis Versuche verstehen Schubart, Herder und Jean Paul den Menschen selbst als Instrument bzw. als Teil eines Instruments, er ist »Resonanzboden« oder »Sangboden« der Töne. Wie stets amalgamiert Jean Paul solche Vorstellungen weit kunstvoller als seine Zeitgenossen, aber auch nicht ohne papierne Gelehrsamkeit. Die menschliche Brust sieht er als »Resonanzboden« am menschlichen Instrument, das mit Cremoneser Saiten bespannt ist und als dessen

93

Z u m folgenden vgl. den Artikel Chladni. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, a.a.O., Bd. 2,

Sp. 1216 f. 94

Vgl. dazu Günter Oesterle: Dissonanz und Effekt in der romantischen Kunst. E. TA. Hoffmanns >Rit-

ter GluckSprachmusikalischen

Landschaft

bei Philipp Otto

Runge

In: Athenäum.Jahrbuch für R o m a n t i k 5 (1995), S . 2 2 5 .

7

Barbara N a u m a n n : >Musikalisches

8

Christine Lubkoll schreibt: »Mythen sind Organisationsmodelle von Aporien; sie dienen der

Ideen-InstrumenU,

a.a.O., S. 5 3 .

buchstäblichen U m - S c h r e i b u n g von Leerstellen (...)« Mythos Musik, a.a.O., S. 12. 9

»Musik und Malerei sind dabei in dem erwähnten Sinne poetisch, daß sie wie die D i c h t u n g

reden, daß sie eine Botschaft übermitteln, nicht aber darin, daß sie abhängig von literarischen Ä u ß e rungen sind, deren Muster sie in Bild oder Ton umsetzen.« Miller: Musik als Sprache, a.a.O., S. 2 5 1 . 10

Art. Musik. In: Allgemeine

11

Herder: Sämmtliche

Theorie der Schönen Künste, a.a.O., B d . 3, S. 4 2 1 .

Werke, a.a.O., B d . 2 2 , S. 179. » O h n e in Abhandlungen auszuführen, was er in

verstreuten Ideen aufwirft, betrachtet Herder die Musik im Zusammenhang seiner Geschichte der Menschheit, d.h. dem doppelten Sinn des Wortes gemäß: der Humanität des Menschengeschlechts. Es

Jean Paul u n d Karl Philipp M o r i t z

87

seaus Ästhetik geschuldet. Die Auffassung der musikalischen Zeichen als »natürlich« im Gegensatz zu den »willkürlichen« Zeichen der Sprache verschafft der Musik allgemeine Gültigkeit. Natürliche Zeichen werden als universell verstanden, und deswegen kann auch Forkel die Musik »eine allgemeine Sprache der Empfindungen« nennen: 1 2 D i e Ausdrücke der Tonsprache sind nicht willkührlich, w i e in der Ideensprache, sondern g r ü n d e n sich unmittelbar auf das Gesetz der Natur, auf das übereinstimmige G e f ü h l der ganzen Menschheit, u n d sind daher eine wahre Universalsprache. 1 3

Stimmen Forkel und Kirnberger hierin auch überein, so erlangt doch Kirnbergers Formulierung dieses Zusammenhangs eine eigenartige Konkretion: D i e N a t u r hat eine ganz unmittelbare Verbindung zwischen d e m G e h ö r u n d d e m Herzen gestiftet; j e d e Leidenschaft kündiget sich durch eigene T ö n e an, u n d eben diese T ö n e erweken in d e m H e r z e n dessen, der sie v e r n i m m t , die leidenschaftliche E m p f i n d u n g , aus welcher sie entstanden sind. 1 4

Unausgesprochen bildet der Vorwurf, die texdose Musik könne nichts Bestimmtes abbilden noch ausdrücken, die Folie von Kirnbergers und Forkels Äußerungen. Spürbar schlagen sich beide Theoretiker mit dem Hiatus zwischen der Unbestimmtheit der Musik und der zur Erregung von Empfindungen unabdingbaren Notwendigkeit eines bestimmten Ausdrucks herum, etwa wenn Forkel empfiehlt, unter den musikalischen Mitteln stets diejenigen zu wählen, »die eine jedesmalige Empfindung am genauesten und richtigsten schildern«, 15 oder wenn Kirnberger sich für jede Leidenschaft eigene T ö n e wünscht. Durch Regelwerk suchen beide Theoretiker einzubinden, was sich eigentlich diesen Regeln entzieht und kommen damit der Affektenlehre wieder nahe. Das subjektive M o m e n t der Rezeption von Musik wird entschärft, wo nicht geleugnet. In Karl Philipp Moritz Allegorie Andreas Hartknopf findet sich ein bedeutender Reflex dieser Problematik. Die Kernpassage, deren Wirkung auf Jean Paul bis ins Detail hinein auffällt, lautet folgendermaßen:

geht i h m u m die Frage, wie das Wesen des M e n s c h e n u n d damit der Musik als >einer Kunst der M e n s c h h e i t (...) sich entwickelt u n d erfüllt habe, u m die G r ü n d e seiner V e r k ü m m e r u n g u n d u m Möglichkeiten seiner Erneuerung.« Walter V/iora: Herders Ideen zu einer Geschichte der Musik. In: Im Geiste Herders. Gesammelte Aufsätze zum 150.Todestag. K i t z i n g e n / M a i n 1953, S. 83. Vgl. dazu die Kapitel III u n d IV. 12

J o h a n n Nikolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, a.a.O., Bd. 1, S. 19.

13

Ebd., S. 64 f.

14

Art. Musik. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, a.a.O., Bd. 3, S. 422.

15

Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, a.a.O., Bd. 1, S. 20.

88

Kapitel II

Der Buchstabe lötet, aber der Geist macht lebendig. Hartknopf n a h m seine Flöte aus der Tasche, u n d begleitete das herrliche R e z i tativ seiner Lehren, mit a n g e m e ß n e n A k k o r d e n — er übersetzte, i n d e m er p h a n t a sierte, die Sprache des Verstandes in die Sprache der E m p f i n d u n g e n : denn dazu diente i h m die Musik. O f t , w e n n er den Vordersatz gesprochen hatte, so blies er den Nachsatz mit seiner Flöte dazu. Er atmete die Gedanken, so w i e er sie in die T ö n e der Flöte hauchte, aus d e m Verstände ins H e r z hinein. (...) Auf d e m Klavier hat er sich m a n c h e v e r w o r r n e Idee herausgespielt, u n d ins klare gebracht Sein S t u d i u m aber ging darauf, die Musik zur eigentlichen Sprache der E m p findungen

zu m a c h e n , wozu sich die artikulierten T ö n e nicht so w o h l schickten, als

die unartikulierten (...) Er verstand die Kunst, durch die Musik auf die Leidenschaften zu wirken — d a r u m t r u g er i m m e r seine Flöte bei sich in der Tasche - u n d durch unablässige Ü b u n g hatte er es so weit darin gebracht, daß er oft durch ein paar Griffe, die er, wie v o n ohngefáhr tat, aufgebrachte G e m ü t e r besänftigen, B e k ü m m e r t e a u f r i c h ten, u n d denVerzagten n e u e H o f f n u n g einflößen konnte. Es war weiter nichts Künstliches bei der Sache, als daß der gewählte Ton grade eingreifen m u ß t e , w o er sollte. - U n d d e n n war es oft eine sehr simple Kadenz, oder Tonfall, welche die w u n d e r b a r e W i r k u n g hervorbrachten. Ein j e d e r wird einigemale wenigstens in seinem Leben die B e m e r k u n g an sich gemacht haben, daß irgend ein sonst ganz u n b e d e u t e n d e r Ton, den einer etwa in der Ferne hört, bei einer gewissen S t i m m u n g der Seele, einen ganz w u n d e r b a r e n Effekt auf die Seele tut; es ist, als o b auf einmal tausend E r i n n e r u n g e n , tausend d u n kle Vorstellungen mit diesem Tone erwachten, die das Herz in eine unbeschreibliche W e h m u t versetzen. (...) Freilich m u ß t e er den schon etwas k e n n e n , auf welchen seine T ö n e dergleichen W i r k u n g hervorbringen sollten - aber er lernte auch wieder durch die W i r k u n g , welche diese T ö n e machten, allmählich das Herz dessen i m m e r besser k e n n e n , mit d e m er u m g i n g . (...) Musik u n d Astronomie war H a r t k n o p f e n nahe miteinander verknüpft Er lehrte mich in j e n e r N a c h t einen Teil der Astronomie bloß durch die u n n a c h ahmlichen T ö n e seiner Flöte ( . . . ) 1 6

Die Passage ist weit mehr als ein Dokument empfindsamer Ausdrucksästhetik. Der Eingangssatz faßt die Relation Wort—Ton respektive Sprache—Musik in das Gegensatzpaar Buchstabe—Geist. Er geht auf die zeitgenössische Uberzeugung zurück, daß die Begrifflichkeit der willkürlichen Sprachzeichen Versteinerung bedeute, die Musik jedoch die über und hinter den Begriffen liegende metaphysische Dimension leisten könne. Verwirrung stiftet die Vorstellung, daß Hartknopf gleichzeitig spricht und flötet, wie der Begriff Begleitung suggeriert. Doch offenbar ist hier ein Nacheinander gemeint, die Wortsprache der Begriffe wird durch Hartknopfs musikalische Improvisationskunst in die Musiksprache der Empfindungen »übersetzt«. Moritz bringt sodann die Wortsprache und die Tonsprache ins

16

Karl Philipp Moritz: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 458 f.

Jean Paul u n d Karl Philipp M o r i t z

89

Verhältnis der Teile einer musikalischen Periode: Der gesprochene Vordersatz öffnet sich zur Dominante, ist unvollständig und muß im Nachsatz auf der Flöte zur Tonika aufgelöst und damit vollendet werden. Die beiden Teile sind einander komplementär und werden erst in der Verbindung aussagefähig. Der formbewußte Kenner denkt im Halbschluß der ersten vier Periodentakte den Ganzschluß am Ende des zweiten Viertakters schon mit. Das musikalische Fortschreiten auf dem engen Raum von acht Takten und in festgelegtem Rahmen vereinigt Entwicklung und Stillstand. Doch ist der zweite Teil ohne den ersten ebensowenig zu denken wie umgekehrt, die Wort- und die Tonsprache gehen eher ein symbiotisches Verhältnis ein, als daß sie einander ersetzen. Der Grund dafür ist der spezifische Akzent, den Moritz setzt: Musik ist nicht einfach Sprache, sondern sie wird zum Ausdruck von Gedanken. Sie übersetzt Gedachtes für den Hörer, indem sie ihm den Anschein des Empfundenen gibt und macht damit das Empfinden zur Basis des Erkennens. Daneben wirkt Hartknopfs Fantasieren auf der Flöte, die rhapsodische Form des freien Improvisierens auf ihn selbst klärend und ordnend, es ist der Katalysator für die nicht artikulierbaren, »verworrenen« Gedanken, denen es zu ihrem Ausdruck verhilft. 17 Doch ist dies nur möglich aufgrund der im unbestimmten Flötenton angelegten Projektionsmöglichkeiten, Moritz unterscheidet diese »unartikulierten« Töne von »artikulierten«, die mit Vokalmusik zu assoziieren wären. Moritz läßt den Prediger Hartknopf Flöte spielen, weil dieses Instrument die gängigen Topoi der dichterischen Musikästhetik ideal verkörpert: Ihre Töne werden mittels der Atemluft erzeugt, stehen damit in engster Verbindung zur Essenz des Menschlichen und Lebendigen schlechthin und erfüllen so die Forderung eines natürlichen Klangs.18 Der als körperlos gewertete Ton der Flöte spiegelt zudem die metaphysische Dimension der »reinen« Instrumentalmusik. 19 Hartknopf ist kein empfindsamer Musiker, sondern er studiert die Wirkung der Musik aufmerksam, um womöglich ein »Alphabet der Empfindungssprache«

17

Müller, die eine Interpretation der Moritz-Passage gibt, deutet die Stelle so: »Moritz scheint den

W i d e r s p r u c h zu fühlen, der sich auftut, w e n n die Musik einerseits E m p f i n d u n g e n verkörpern u n d andererseits Ton fur Ton etwas b e d e u t e n soll. Er überbrückt ihn mithilfe der musikalischen Tätigkeit des Fantasierens, das er durch mnartikulirte Töne< näher bestimmt. Diese bilden den Gegensatz zu einer nach rhetorischen M u s t e r n organisierten Instrumentalmusik (. . .)« Erzählte Töne, a.a.O., S. 119. 18

Vgl. auch eine Passage aus d e m Siebenkäs über die Flöte: »so e m p f i n g d o c h deine liebende Brust

von der Freundschaft u n d von der Menschheit nichts als den Widerhall ihrer Seufzer — die Flöte - « 1,2, S. 524. Schubart r ü h m t in e i n e m an den AbbéVogler gerichteten Aufsatz »die einfache u n d schuldlose Syrinx«. Gesammelte Schriften und Schicksale, a.a.O., Bd. 6, S. 60. 19

Die F u n k t i o n der Flöte deutet R u t h Müller so: »Das Flötenspiel bietet sich förmlich dazu an, mit

E m p f i n d u n g beladen zu werden. D e r Vorgang der Tonerzeugung findet auf d e m direkten Wege statt: o h n e die Ü b e r b r ü c k u n g durch ein M u n d s t ü c k . So k o m m t der Ton der Vorstellung entgegen, u n m i t telbar d e m Inneren zu entspringen. Als beseelter H a u c h , der die T ö n e z u m Leben erweckt, i n d e m er sie b e d e u t e n d macht, zehrt der A t e m des Flötisten von der W ü r d e seines Urbilds, des Schöpferodems.« R u t h Müller: Erzählte Töne, a.a.O., S. 111.

90

Kapitel II

entwickeln zu k ö n n e n . W i e die Pythagoreer erkundet der Prediger die einfachsten Verhältnisse der T ö n e u n d deren W i r k u n g auf das G e m ü t , u m dann gezielt E i n fluß d a r a u f n e h m e n zu k ö n n e n . Eine Wechselwirkung ist darin angelegt: W ä h r e n d H a r t k n o p f sein Spiel auf die H ö r e r abstimmt, lernt er umgekehrt diese besser k e n nen, i n d e m er die W i r k u n g der Musik auf sie beobachtet. Das trägt durchaus blasphemische Züge, denn der Flötenhauch ist stets auch mit d e m Schöpferodem zu assoziieren, eine Relation, die auf den leibhaftigen, effektorientierten Künstler übertragen wird. Dieser wird damit selbst z u m Schöpfer, dessen Einfluß heilend wirkt, B e k ü m m e r t e aufrichtet u n d denVerzagten n e u e H o f f n u n g einflößt. Dahlhaus hat M o r i t z ' Musikästhetik einen Aufsatz gewidmet, der daran krankt, daß der Autor den Passus im U b e r g a n g von einer empfindsamen zu einer romantischen Musikanschauung einzuordnen trachtet, was zwar im großen — auch zeitlich - vollkommen überzeugt, j e d o c h dazu führt, daß M o r i t z ' Ansatz seine Facetten verliert. Dahlhaus' Interpretation ist m e h r hineingelesen als herausentwickelt, w e n n er schreibt: Hartknopfs empfindsame S t i m m u n g aber geht k a u m merklich in eine romantische über, sobald Musik nicht m e h r als Sprache des Herzens dient, durch die der M e n s c h z u m M e n s c h e n redet, u m ein Band der Sympathie zu k n ü p f e n , s o n d e r n ein Ton, der unerwartet ins Innerste trifft, i m G e m ü t die A h n u n g eines f e r n e n Geisterreiches weckt, d e m die Seele mit »unendlicher Sehnsucht< entgegenstrebt. 2 0

Von Jean Paul zitiert Dahlhaus nur die vielbeachtete Passage aus d e m 19. H u n d posttag des Hesperus,21 dabei hätte gerade hier die Möglichkeit bestanden, auf Jean Paul sehr viel konkreter einzugehen. Die genannte Moritz-Passage bildet zweifellos bis ins konkrete Detail die Anregung f ü r dieVult-Gestalt in den Flegeljahren u n d trägt darüber hinaus zahlreiche Parallelen zu Jean Pauls Musikauffassung. M i t Sicherheit hat M o r i t z ' Metaphorisierung der musikalischen Periode (Vordersatz = Worte, Nachsatz = T ö n e ) in die Diskussion über das musikalische H ö r e n in den Flegeljahren Eingang gefunden. Vult geht dort mit Walt ins Gericht: Aber w i e hörtest du? Voraus u n d zurück, oder nur so vor dich hin? Das Volk h ö r t wie das Vieh nur Gegenwart, nicht die beiden Polar-Zeiten, nur musikalische Sylben, keine Syntax. Ein guter H ö r e r des Worts prägt sich den Vordersatz eines musikalischen Perioden ein, u m den Nachsatz schön zu fassen. 2 2

20

Karl Philipp Moritz

und das Problem einer klassischen Musikästhetik.

In: Klassische und romantische

Musikästhetik. Laaber 1988, S. 31. 21

»Teurer Viktor! im M e n s c h e n ist ein großer Wunsch, der nie erfüllt w u r d e (...)« 1,1, S. 776. D a h l -

haus zitiert die Stelle auf S. 32. 22

I, 2, S. 771.Vgl. dazu Kapitel IX. N u r am R a n d e sei bemerkt, daß Meyer diese Passage mißver-

steht, w e n n er in der Anspielung auf einen Begriff aus der musikalischen F o r m e n l e h r e einen Vergleich mit der Syntax der Sprache wittert. Jean Paul. >Flegeljahremalendes< u n d in ein

>rührendes< Genre, v o n d e n e n n u r das zweite als im strengen Sinn kunstgemäß anzuerkennen war«, w i e Miller sie a n n i m m t , kann allerdings auch nicht uneingeschränkt die R e d e sein. Musik als Sprache, a.a.O., S. 268. H e r d e r erwähnt Engel in seinem Aufsatz Von Musik. Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 22, S. 185. 51

Auf der Rückseite des allgemeinen Titelblatts der ersten Violine steht die Überschrift »Pastoral-

Sinfonie oder E r i n n e r u n g an das Landleben« u n d darunter die zitierte Bemerkung.Vgl. Wolfram Steinbeck in: Beethoven. Interpretationen seiner Werke. H g . von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus u n d Alexander Ringer. Zweite, durchgesehene Auflage Laaber 1996, S. 504. 52

Vgl. dazu Constantin Floros: Grundsätzliches über Programmusik. In: Programmusik. Studien zu Be-

griff' und Geschichte einer umstrittenen Gattung. H g . von Peter Petersen. Laaber 1983, S. 15. 53

Vgl. einen Ausschnitt aus d e m P r o g r a m m der Pastorale: »Gewitter, S t u r m — Hirtengesang. Frohe,

dankbare G e f ü h l e nach d e m Sturm.«

98

Kapitel II

zu verbinden. 54 Instrumentalmusik kann dort sowohl die im Text geäußerten Gefühle der Protagonisten verstärken als auch die Wirkung der darin erwähnten Naturdinge untermalen. Jean Paul war die Diskussion um die Möglichkeiten musikalischer »Malerei« und die Programmusik bekannt. 55 Zu den von ihm am meisten geschätzten Werken zählen Haydns Sieben Worte des Erlösers am Kreuz,56 ein Werk, das durch seine wechselvolle Werkgeschichte charakterisiert ist. Es handelt sich um eine Komposition, in der sieben langsame Instrumentalsätze aufeinander folgen, wovon jeder die programmatische Ausdeutung eines Christuswortes darstellt.57 Die Sieben Worte erschienen 1785 zunächst in einer Orchesterfassung, wurden dann von Haydn zu einem Streichquartett-Zyklus arrangiert und schließlich 1796 in einer textierten Oratorienfassung aufgeführt, und zwar auf Worte aus Karl Wilhelm Ramlers Der Tod Jesu. Neben dem religiösen Gehalt mag es die Werkgeschichte gewesen sein, die Jean Paul interessierte, mit der Besonderheit der nachträglichen Textierung, die aus der ursprünglichen Intention, die Christusworte rein instrumentalmusikalisch zu »vertonen«, hervorging. Die gelungene instrumentale Komposition des außermusikalischen religiösen Programms wird zwar im höchsten Maße gewürdigt, regt dann aber doch wieder die dichterische Phantasie an und bindet damit das textlose Werk wieder zurück an einen Text. Der religiöse Gehalt prägt auch das Oratorium Die Schöpfung, mit dem Haydn seit der Uraufführung 1798 in Wien fulminanten Erfolg hatte. 58 Jedes Detail der Schöpfung ist hier eindrücklich musikalisch geschildert, und zwar im Wechsel zwischen gesungenem Textwort und musikalischem Motiv. Die jeweils vorausgehende vokale Ankündigung dessen, was in der Musik gehört werden soll, schafft den Eindruck einer Abbildlichkeit der Orchestereinwürfe. Es ist diese Plastizität, die Jean Paul zu der brieflichen Bemerkung veranlaßte: »Ich habe Haydns Schöpfung — gesehen beinahe (...)« 59 U m das Wunder der Schöpfungsgeschichte zu veranschaulichen, griff Haydn auf das Mittel der Ton54

Vgl. dazu Ulrike Küsten Das Melodrama. Zum ästhetikgeschichtlichen Zusammenhang

von Dichtung

und Musik im 18.Jahrhundert. F r a n k f u r t / M . u.a. 1994. 55

O b er Engels Schrift kannte, ist nicht sicher zu beantworten (vgl. das Zweite Vor-Kapitel, A n -

m e r k u n g 7), Berend spricht von »Engels ästhetische[n] Abhandlungen«, die Jean Paul gekannt habe. Vorwort zur Vorschule. SW, Abt. I, Bd. 11, S.VI. 56

»Von uns kan kein Hayden 7 letzte W o r t e in Musik sezen, sondern höchstens 7 erste — wir ver-

loren uns schweigend von einander.« SW, Abt. III, Bd. 3, S. 242, am 21. O k t o b e r 1799 aus Weimar. Vgl. Herbst-Blumine,

Drittes Bändchen, X. Sieben letzte oder Nachworte gegen den Nachdruck. II, 3,

S. 4 9 3 ff. 57

Vgl. dazu Wolfgang Marggraf: Joseph Haydn. Versuch einer Annäherung. Leipzig 1990, S. 142 ff.

58

Z u r Wirkungsgeschichte des Schöpfung vgl. ebd.,S. 186 ff.

59

A m 17. Januar 1801 aus Berlin a n T h i e r i o t in Dresden. SW, Abt. III, Bd. 4, S. 39, N r . 73. In der

Vorschule vergleicht Jean Paul Klopstocks »tönende« Sprache mit Haydns »malender« Musik: »KIopstock, welcher, so w i e Haydn in der S c h ö p f u n g mit Musik malt, so u m g e k e h r t oft mit Malerei nur tönt«, 1,5, S. 100.

Die reine Instrumentalmusik

99

maierei zurück, aber auf eine gleichsam zitierende Weise: Nicht begleitend malt das Orchester zur Vokalstimme, sondern der Schöpfungsakt geschieht durch die zeidiche Verschiebung zwischen Vokal- und Orchesterpart noch einmal. U m g e kehrt wird das Werk selbst als göttliches verstanden, wie aus einer Bemerkung Jean Pauls hervorgeht: Rahel Lewin kündigt er einen Konzertbesuch an, »wenn Gott die Schöpfung von Haydn noch Einmal schaft«. 60 Der Dichter Jean Paul, der am Klavier fantasiert, u m seine Inspiration anzuregen, findet in Haydns Kompositionen das visuelle Element, 6 1 wie auch Tieck in der Instrumentalmusik »sehen« möchte. So rühmt er an Reichardts Hexen-Szenen aus Macbeth: Ich kann nicht beschreiben, wie w u n d e r b a r allegorisch dieses große Tonstück mir schien, u n d d o c h voll höchst individueller Bilder, wie d e n n die wahre, höchste Allegorie wohl wieder eben durch sich selbst die kalte Allgemeinheit verliert, die wir nur bey den D i c h t e r n antreffen, die ihrer Kunst nicht gewachsen sind. Ich sah in der Musik die trübe nebelichte Haide (...)« [ H e r v o r h e b u n g von mir] 6 2

Das Nebeneinander von bestimmtem und unbestimmtem Ausdruck, hier als lebhafte Bildlichkeit und frostige Allegorie einander gegenübergestellt, markiert den zentralen Hiatus zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen unbestimmtem und bestimmtem Ausdruck, 6 3 den Hiatus, der die Diskussion u m die »reine« Instrumentalmusik prägt.

3. Die reine Instrumentalmusik Kirnbergers Artikel »Ausdruk« liegt das Paradigma der Vokalmusik selbstverständlich zugrunde. Sämtliche Musik-Artikel in Sulzers Aligemeiner Theorie setzen den Vorrang derVokalmusik vor der Instrumentalmusik grundsätzlich voraus. Der Autor läßt keinen Zweifel daran, was Musik sei: Z u einer »verständlichen Sprache der Empfindungen« kann nur der Gesang werden. Allmählich jedoch kündigt sich eine Wertsteigerung der Instrumentalmusik an, die steigende H o c h - und U b e r schätzung textloser Musik ist nicht erst ein Produkt der deutschen Romantik, son60

SW, Abt. III, Bd. 3, S. 341, Brief v o m 11. Juni 1800. Vgl. auch ein zeitgenössisches Zeugnis von

Giuseppe Carpani über die U r a u f f ü h r u n g im Palais Schwarzenberg (1798): »Tiefstes Schweigen, g e spannteste Aufmerksamkeit, eine — ich m ö c h t e sagen — religiöse Verehrung herrschten von d e m A u genblick an, als der erste Bogenstrich getan wurde.« Zitiert nach Karl Geiringer: Joseph Haydn. Der schöpferische Werdegang eines Meisters der Klassik. Mainz 1959, S. 126. 61

U b e r Albano schreibt er: »so feierte seine Seele ein Händelsches Alexanderfest - sie hörte die

Vergangenheit - das Fahren der T r i u m p h w a g e n - das G e h e n der spartischen H e e r e u n d ihre Flöten«. I , 3 , S . 106. 62

Phantasien über die Kunst. In: W i l h e l m H e i n r i c h Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O.,

B d . l , S. 244. 63

D i e Tatsache, daß es sich i m einen Fall (Haydn) u m Vokal-, im anderen (Reichardt) u m Instru-

mentalmusik handelt, ist hier ausnahmsweise zu vernachlässigen, zumal Reichardts Musik zu Shakespeares Macbeth eine Schauspielmusik ist.

100

Kapitel II

d e m beginnt bereits u m die Mitte des 18. Jahrhunderts. 6 4 Die als im höchsten Grad ausdruckshaltig verstandene Instrumentalmusik der Mannheimer Klassik bereitet diesen Übergang vor, der dann mit den Aufsätzen Wackenroders und Tiecks sein musikästhetisches Fundament in der Literatur der Zeit erhält. Auf dem Sensualismus des 18. Jahrhunderts und Herders Theorie des Gehörs fußt Wackenroders Aufsatz über Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik, der auf der Basis des empfindsamen Musikverständnisses eine Ästhetik der textlosen Musik entwirft: 6 5 Das D u n k l e u n d Unbeschreibliche aber, welches in der W i r k u n g des Tons verborgen liegt, u n d welches bey keiner andern Kunst zu finden ist, hat durch das System eine w u n d e r b a r e Bedeutsamkeit g e w o n n e n . Es hat sich zwischen den einzelnen mathematischen Tonverhältnissen u n d in [sie] den einzelnen Fibern des menschlichen Herzens eine unerklärliche Sympathie offenbart, w o d u r c h die Tonkunst ein reichhaltiges u n d bildsames Maschinenwerk zur Abschilderung

menschlicher

E m p f i n d u n g e n geworden ist. 6 6

Ähnlich wie Engel gelingt es Wackenroder von der Seite der Dichter her, die Instrumentalmusik über das verbindende Glied der Empfindung zu rehabilitieren. In seinem Aufsatz ist zudem die von der Empfindsamkeit gewünschte Funktion der Musik thematisiert, das Gefühl u m seiner selbst willen zu kultivieren: »In dem Spiegel der T ö n e lernt das menschliche Herz sich selber kennen; sie sind es, w o durch wir das Gefühl fühlen lernen (.. ,)«67 D e n n o c h vollzieht sich hier — und zwar vermittelt über den EmpfindungsbegrifF- der Ubergang zu einer Ästhetik der reinen Musik. Wackenroder preist »jene göttlichen großen Symphoniestücke, (...) worin nicht eine einzelne Empfindung gezeichnet, sondern eine ganze Welt, ein ganzes Drama menschlicher Affekten ausgeströmt ist«.68 Empfindungen verleiht die Musik Ausdruck, aber nicht mehr bestimmten, sondern allgemeinen: »Und eben dies e frevelhafte Unschuld, diese furchtbare, orakelmäßig-zweydeutige D u n kelheit, macht die Tonkunst recht eigentlich zu einer Gottheit für menschliche H e r zen.« 69 So vollzieht sich der Weg zur vielzitierten »Metaphysik der Instrumentalmusik« (Dahlhaus) über den Ausdruck von bestimmten Empfindungen bis hin zum dunklen Ausdruck, wie er dann in Tiecks Aufsatz Symphonien, dem meistzitierten D o k u m e n t des Ubergangs zu einer »Metaphysik der Instrumentalmusik« seine endgültige Ausprägung erfährt.

64

Vgl. Sauder: Die empfindsamen Tendenzen, a.a.O., S. 39.

65

Pikulik n e n n t diesen fünften der Aufsätze Joseph Berglingers eine »spätempfindsame Schrift«. Lei-

stungsethik contra Gefühlskult, a.a.O., S. 278. 66

Phantasien über die Kunst. In: W i l h e l m H e i n r i c h Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O.,

Bd. l , S . 2 1 6 f . 67

Ebd., S. 220.

68

Ebd., S. 221 f.

69

Ebd., S. 223.

»Geheime Texte«: Das wahre musikalische H ö r e n ?

101

Die zuvor monierte Unbestimmtheit der textlosen Instrumentalmusik wird nun als Vorzug gesehen, der es dem Rezipienten erlaubt, die eigenen Empfindungen ins Uberindividuelle zu überhöhen. Begriffslosigkeit bildet dafür die Voraussetzung, wie bereits von Moses Mendelssohn gesehen: Das dunkele G e f ü h l befördert unsre Glückseligkeit. D e r Affect verschwindet, w e n n alle Begriffe d e u d i c h w e r d e n . 7 0

Diesem Gedanken folgt auch Herder in seinem Vierten Kritischen Wäldchen. Musik erregt Leidenschaften, »wahr, aber nicht deutlich, nicht anschauend, nur äußerst dunkel«. 71 Der Kreis m u ß offen bleiben: G e f ü h l e lassen sich eben nicht sagen.Wenn m a n glaubt, sie gesagt zu haben, haben sie schon aufgehört, Gefühle zu sein. Sie versteinern dann zu Begriffen. 7 2

Der Paradigmenwechsel ist deutlich: Wo vorher das Bedürfnis nach Konkretion im musikalischen Ausdruck nicht auszuschalten war, wird nun die mangelnde Konkretion geradezu mystifiziert. Die Textlosigkeit der neuen Instrumentalmusik erlaubt den Hörern, sich auf sich selbst zurückzuziehen. 7 3 Sie genießen die Spannung zwischen der Einsamkeit und Selbstbezüglichkeit ihrer eigenen, zur erklingenden Musik hinzugedachten Gefühlstexte und der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv von Hörern.

4. »Geheime Texte«: Das wahre musikalische Hören? Die textlose Instrumentalmusik bietet die Möglichkeit, ohne Begriff dennoch zu sprechen, weitab von der Kodifizierung durch ein »Alphabet«. Die Faszination, die von dem Topos ausgeht, daß Musik eine Sprache sei, beruht zu einem nicht geringen Teil darauf, daß die musikalische Sprache zwar auf der Hörerseite als Ausdruck der Empfindungen verstanden wird, jedoch gleichzeitig die Möglichkeit bietet, den Subjektausdruck ins Allgemein-Menschliche oder gar Gedankliche zu überhöhen. So sucht man die »reine« Instrumentalmusik in ihre R e c h t e einzuset-

70

Moses Mendelssohn: Briefe über die Empfindungen. In: Gesammelte Schriften. Bd. 1 : Schriften zur Phi-

losophie und Ästhetik I. Bearbeitet von Fritz Bamberger. Stuttgart, Bad Cannstadt 1971, S. 48. 71

H e r d e r : Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 161 f.

72

Balet: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, a.a.O., S. 299.

73

»Der H ö r e r der n e u e n Instrumentalmusik ist nicht m e h r durch einen Text auf einen bestimmten

P u n k t oder ein bestimmtes T h e m a hin g e z w u n g e n , sondern er kann sich b e i m H ö r e n auf sich selbst stellen, auf sich zurückziehen. Er fühlt sich privater u n d u n g e b u n d e n e r in seinen Gefühlsentscheidungen. Als ein Fortschritt erscheint ihm, daß er n u n H e r r seiner G e f ü h l e b e i m M u s i k h ö r e n ist. Es ist ein neuartiges Für-Sich-Fühlen.« Peter Schleuning: Warum wir von Beethoven erschüttert werden. Gründe und gesellschaftliche Folgen des Siegeszuges »absoluter< Instrumentalmusik

seit Beethoven. In: Ders. (Hg.): Warum

wir von Beethoven erschüttert werden und andere Aufsätze zur Musik. F r a n k f u r t / M . 1978, S. 17.

102

Kapitel II

zen, indem man sie von der trivial gewordenen Aufgabe, Empfindungen »auszudrücken« befreit, wie Friedrich Schlegel es tut: Es pflegt m a n c h e m seltsam u n d lächerlich aufzufallen, w e n n die Musiker von den Gedanken in ihren Kompositionen reden; u n d oft mag es auch so geschehen, daß m a n w a h r n i m m t , sie haben m e h r G e d a n k e n in ihrer Musik als über dieselbe. W e r aber Sinne für die w u n d e r b a r e n Affinitäten aller Künste u n d Wissenschaften hat, wird die Sache wenigstens nicht aus d e m platten Gesichtspunkt der sogenannten Natürlichkeit betrachten, nach welcher die Musik n u r die Sprache der E m p f i n d u n g sein soll, u n d eine gewisse Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philosophie an sich nicht unmöglich finden. M u ß die reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen? u n d wird das T h e m a in ihr nicht so entwickelt, bestätigt, variiert u n d kontrastiert, w i e der Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe? 7 4

Die motivisch-thematische Arbeit der durchgebildeten instrumentalen Komposition, die aus mehr als drei Tonhöhen besteht, vergleicht Schlegel mit der argumentativen Stringenz eines philosophischen Diskurses, in der Hanslicks Autonomieästhetik einer tönend bewegten Form schon anklingt. Ein leichtes Unwohlsein gegenüber einer autonomen Musik ist freilich offenkundig. 75 Deswegen betont Schlegel: »Muß die reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen?« Und Jean Paul, der die Athenäumsfragmente kannte, geht noch einen Schritt weiter, wenn er fragt: »Müssen wir denn nicht immer den Tönen geheime Texte, ja sogar Landschaften unterlegen, damit ihr Nachklang in uns stärker sei als ihr Vorklang außen?«76 Die parallele Formulierung verdeckt, daß Jean Paul von anderen Überlegungen geleitet wird als Schlegel.Während die Äußerung des letzteren im Sinne einer Potenzierung des Unbestimmten zum Bestimmten zu deuten ist, dienen Jean Pauls »geheime Texte« dazu, die durch die Musik gestiftete Objektivierung des subjektiven Gefühls im Bewußtsein des Hörers wieder zurückzuverwandeln, da für diesen nur so der musikalische Gehalt zu einem emotionalen und damit verwertbaren wird. Auch in den zahlreichen empfindsamen Szenen ist es nur vordergründig die Musik selbst, die den Tränenausbruch oder den Blick in die andere Welt ermöglicht. Das Hörerlebnis löst in den Protagonisten fraglos eine gesteigerte Emotionalität aus, aber erst durch die Verwandlung der Töne in Bilder entfaltet diese ihr volle emotive Wirksamkeit. Und diese Verwandlung findet in der

74

Athenäum-Fragment

Nr. 444. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe.

Hg. von Ernst Behler unter

M i t w i r k u n g v o n Jean-Jacques Anstett u n d Hans Eichner. M ü n c h e n , Paderborn, W i e n 1967, Abt. I, Bd. 2, S. 254. 75

So etwa bei Schiller: »Der Tonsetzer u n d der Landschaftsmaler bewirken dieses bloß durch die

F o r m ihrer Darstellung u n d stimmen bloß das G e m ü t zu einer gewissen Empfindungsart u n d zur A u f n a h m e gewisser Ideen; aber einen Inhalt dazu zu finden, überlassen sie der Einbildungskraft des Z u h ö rers u n d Betrachters.« Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 1000. 76

II, 3, S. 650.

»Geheime Texte«: Das wahre musikalische Hören?

103

Phantasie statt, sie ist nicht mehr Sache des Gemüts. 7 7 Bei Jean Paul selbst entstanden auf diese Weise dichterische Werke, und in den Flegeljahren wird das U n terlegen der Musik mit einem solchen »geheimen Text«, wie Walt es pflegt, zum Bruch mit dem Bruder fiihren.Jean Paul reagiert damit auf die Vergänglichkeit des musikalischen Eindrucks, denn das innere Hören ist nur möglich auf der Basis eines Erinnerten, und dieses gewinnt Konturenschärfe offenbar, weil es vorher mit einem außermusikalischen Gehalt befrachtet wurde.Viktor dient die Bebilderung gemäß seiner empfindsamen Natur zur gezielten Wirkungssteigerung des musikalischen Eindrucks.Vor dem Konzert gelobt er, sich »keine Szenen vorzuzeichnen, bloß damit er nicht in Tränen ausbräche, bevor das Licht weg wäre«. 78 Er fühlt, (...) daß er es (...) nicht so m a c h e n dürfe wie sonst, w o er sich zu j e d e m Adagio eigne Szenen vormalte u n d j e d e m Stücke besondere Schwärmereien seiner Texte unterlegte ( . . . ) 7 9

Als deutlicher Reflex der Hartknopf-Passage ist die Begründung zu werten, die Jean Paul dafür gibt: D e n n es ist ein unfehlbares Mittel, den T ö n e n ihre Allmacht zu geben, w e n n m a n sie zu R i p i e n s t i m m e n unserer S t i m m u n g u n d so aus Instrumental-Musik gleichsam Vokal-Musik, aus unartikulierten T ö n e n artikulierte macht ( . . . ) 8 0

Die »geheimen Texte« seiner Einbildungskraft bahnen Viktor die Tränen wege und machen das Konzerterlebnis vollkommen. Die Abwertung der Musik zur Ripien-, also Füllstimme ist unabdingbar, wenn aus Gemütsstimmung und Musikbegleitung Vokalmusik werden soll. Karl Philipp Moritz' »Alphabet der Empfindungen« kommt Jean Paul damit nur scheinbar näher. Während der Musiker Hartknopf die Empfindungen seiner Hörer objektiviert, bleibt der empfindsame Hörer Viktor stets für sich, er wird zum Dichter seiner eigenen Empfindungen, für die ihm Musik nur die Anregung liefert, durchaus in Herders Sinn: Ton u n d G e b e h r d e rufen zu ihr die Musik, wie gegenseitig zu süßen melodischen Gängen man W o r t e sich nicht nur wünscht, sondern in der E m p f i n d u n g sie auch o h n e Sprache sich selbst dichtet. 8 1

Bei Herder und Jean Paul dichtet das hörende Subjekt, während Schlegel einen Schritt weiter geht, wenn er eine sich selbst dichtende (und damit sich selbst potenzierende) Instrumentalmusik annimmt, 8 2 wie es kurz zuvorTieck getan hat:

77

Vgl. dazu auch Kapitel IV über die Evokationsfähigkeit der Musik u n d Kapitel IX.

78

1,1.S.948.

79

Ebd.

80

Ebd.

81

Herder: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 22, S. 183.

82

Jean Pauls B e m e r k u n g erscheint somit als wichtiger Schritt auf d e m W e g zur wechselseitigen

Applikation der künstlerischen Attribute auf die jeweils andere Kunst, die i m Postulat einer poetischen Musik u n d einer musikalischen Poesie gipfelt, deren Genese Barbara N a u m a n n nachgegangen ist. >Musikalisches Ideen-InstrumentTönen< bei Rousseau und Herder. In:Johann Gottfried Herder

1744-1803.

In: Aurora 22 (1962), S. 7 4 - 8 1 . 71

Hg. v o n Gerhard Sauder. H a m b u r g 1987, S. 1 8 6 - 1 9 3 . 72

Vgl. eine Passage aus d e m Siebenkäs: »(...) dieser Alpen-Kuhreigen weckte auf einmal seine ro-

senrote Kindheit (...)« 1,2, S. 361. 73

»(...) so zogen alle vergängliche M e n s c h e n , die ich geliebt hatte, nebst ihren vergänglichen Sze-

n e n vorüber (...)« Die unsichtbare Loge, 1,1, S. 306.

Die Zeitlichkeit der Musik im Erzähltext

121

fcös-Bändchens in der Neujahrsnacht aus der Ferne hört, »die künftigen [Hervorhebung Jean Paul] Schmerzen des neugebornen Jahrs« vorausahnen. 7 4 Im Siebenkäs hat Jean Paul die verschiedenen Aspekte der Zeitkunst Musik in einer Fülle von Bildern miteinander verquickt. Für die Zeit zwischen Kindheit und Sterben hat er im Titan das Bild eines »elliptischen Gewölbes der Zeit« verwendet, an dessen Polen man »die leisen Sphärenlaute der Musik vernimmt, und in der Mitte der Gegenwart nichts«. 75 Jean Paul greift damit die Zeitphilosophie Kants auf, derzufolge die Zeit eine Anschauung des inneren Sinnes ist. Im neunten und zehnten Kapitel des Siebenkäs werden die Pole des Zeitgewölbes in der Silversternacht, die Ende und Anfang zugleich bedeutet, zusammengeführt. 7 6 Siebenkäs verdeckt die Augen mit der Hand und sieht seine Zukunft mit Lenette als »langes dürres Land voll Brandstätten« vor sich; 77 der Entschluß, sich der Ehefrau durch Scheintod zu entziehen, ist noch nicht gefaßt. D o c h erst unter dem Einfluß einer harfespielenden wandernden Sängerin und deren flötendem Kind 7 8 erlangen die trüben Aussichten emotionale Qualität. Siebenkäs versteht die T ö n e als Echo auf seinen Kummer, die ihm das, was er entbehrt, wie in einer Camera obscura vor dem inneren Auge vorüberführen. 7 9 Mittels der Musik wird Siebenkäs' Verlusterfahrung gebündelt und sprachfähig gemacht. Durch die T ö n e werden die Bilder erst »rege«, ein Detail, das Jean Paul selbst in seinem Text hervorhebt. Schließlich werden Harfen-, Gesangs- und Flötentöne in Siebenkäs' Bewußtsein zu Glockentönen, nachdem sie ihm die Vergänglichkeit seines Daseins vorgeführt haben: »(...) die T ö n e zählten wie Glocken alle Punkte der Zeit, und man vernahm das Vergehen der Zeit (...)« 8 ° Am Neujahrstag ist das Geräusch, das Siebenkäs' durch einen Schlag mit der Gabel an seinen Teller erzeugt, ausreichend, u m das Bewußtsein von Vergänglichkeit augenblicklich wieder zu erzeugen. 8 1 Einen vagen Vorschein auf Zukünftiges zu geben, erscheint die Musik aufgrund ihrer unbestimmten Qualität bestens geeignet, ein Gedanke, der durchaus

74

1,2, S. 141.

75

1,3, S. 221.

76

1,2, S. 3 1 8 - 3 2 5 .

77

Ebd., S. 318. »(...) er sah trübe in lange schweigende Tage voll versteckter Seufzer, voll s t u m m e r

feindlicher Anklagen hinaus.« Ebd., S. 319. 78

Die Szene entbehrt nicht der Skurrilität.

79

»(...) u n d als die grausamen T ö n e wie eine dunkle K a m m e r die regen beweglichen Bilder b l ü h e n -

der Lenze, blumiger Länder u n d liebender Zirkel v o r ü b e r f u h r t e n vor diesem Einsamen (...)« A u c h in seinen Landschaften verwendet Jean Paul das Bild der C a m e r a obscura oder des Dioramas, vgl. dazu Kapitel VI. 80

Ebd., S. 321. H e r m a n Meyer spricht von der »Ausweitung der Zeit durch die Töne« u n d bezeich-

net diese als »stehendes Element, o h n e das eine Jean-Paulsche Naturschilderung nahezu u n d e n k b a r ist «.Jean Paul. > Flegeljahre Denn der Unendliche ...Ton-SonnederTon geht als S o n n e auf - der Ton glänzt m o r g e n r o t - der Ton will aufgehen - reiner R a u m , für die M o r g e n t ö n e — sie k o m m t , m a n weiß nicht, h ö r t oder sieht m a n sie — die Liebe ruft u n d geht auf: gib mir W o r t u n d Sprache!

Endlich geht die S o n n e auf ein lei-

sester TonAußen-< als >KerkerweltAußen-< als entmaterialisierte >Innenwelt< ( . . . ) zu zeigen«. 5 Seit M a x Kommerell das Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt in Jean Pauls D i c h tung offengelegt hat, 6 bildet die Relation eines Inneren zu einem Äußeren 7 den zentralen Ausgangspunkt aller Interpreten, die Naturgegenstände werden als zeichenhafte Manifestationen der Seelenregungen aufgefaßt. In diesem Sinne interpretiert auch Kurt Weber, von dem die jüngste und systematischste Untersuchung zum T h e m a stammt, Jean Pauls Landschaften. E r nimmt eine überzeugende Typologie der R o m a n o r t e und eine der Landschaftstypen vor. 8 Entsprechend Jean Pauls eigener Deutung in der Vorschule, durch deren Fokus die Erscheinungsweise von Natur in Jean Pauls Texten meist gesehen wird, sind die Landschaften für

1

Wie Jean Paul selbst meiden die Interpreten die Begriffe »Landschaftsschilderung« oder »Land-

schaftsbeschreibung«. 2

Gustav Jäger: Jean Pauls poetischer Generalbaß, a.a.O., S. 64. Der Begriff »Ausdruckslandschaft«

erscheint bereits bei Rudolf Henz: Die Landschaftsdarstellung bei Jean Paul. Wien 1924, u.a. S. 103, und bei Elmar Engels: Die Raumgestaltung bei Jean Paul. Eine Untersuchung zum >TitanLandschaft < als interdisziplinäres Forschungsproblem. H g . von Alfred Hartlieb von Wallt h o r u n d H e i n z Q u i r i n . M ü n s t e r 1977, S. 37. 16

Z u r Hierarchie der Bildgattungen, in der das Stilleben u n d die Landschaft am tiefsten stehen, vgl.

Friedländer: Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, a.a.O., S. 9. 17

W e r n e r Busch hat die ambivalente Einschätzung der Landschaft dargestellt. Landschaftsmalerei.

Hg. von dems. Berlin 1997, S. 14 (Einleitung).Vgl. dazu auch von dems.: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. M ü n c h e n 1993, S. 329 ff. 18

Vgl. Busch: Landschaftsmalerei, a.a.O., S. 14.

19

Christian Ludwig von H a g e d o r n : Betrachtungen über die Mahlerey. Z w e i Teile [in einem Band],

Leipzig 1762, S. 335.Jean Paul exzerpierte 1797 daraus.Vgl. Müller:Jean Pauls Exzerpte, a.a.O., S. 218.

154

Kapitel V

Genres einander an, 20 wenn er auch von einer »Landschaft der Seele« noch weit entfernt ist. An dieser Stelle setzen die Theoretiker und Maler an, die sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit der Technik, Funktion und Wirkungsweise der Landschaftsmalerei beschäftigen. Flucht- und Wunschraum flir das betrachtende Ich kann nur die Landschaft werden, die - über die bloße Nachahmung der Naturgegenstände hinaus - dem Betrachter eine spiegelbildliche Wirkung zu vermitteln vermag. Dem Wunsch des Beschauers, die Naturdinge zu beleben und zu beseelen, muß deren Darstellungsweise entgegenkommen. Nicht die Naturgegenstände stehen daher im Vordergrund der theoretischen Überlegungen, sondern ihre Erscheinungsweise, Färb- und Lichtwirkungen vor allem. So rühmt bereits der Kunsttheoretiker André Félibien in seinen Entretiens (1685) Poussins Handhabung von Licht und Schatten, seine vorbildliche Harmonie der Farben und der Gegenstände. 21 Bei ihm zeigen sich schon Ansätze zu einer musikalischen Metaphorik in der Beschreibung malerischer Kunstwerke. 22 U m die Mitte des 1 S.Jahrhunderts wird diese Verquickung von Malerei und Musik zum Topos, wie Hagedorns Schrift zeigt. Bedeutung erlangt in erster Linie seine Vorwegnahme musikalischer Begrifflichkeit in der Beschreibung der malerischen Techniken. So vergleicht Hagedorn die Kunst, Himmel zu malen, mit der Kunst des Musikers. 23 Doch erst mit der vielzitierten frühromantischen Tendenz zur Verschmelzung der Künste wird die Assoziation von Musik und Landschaft »zum Schlüssel einer modernen Reflexion über das Wesen der Landschaftsmalerei«,24 und zwar sowohl in den dichterischen Reflexionen über die poetische Landschaft als auch bei den Malern selbst. Runge gilt als einer der ersten Künstler, die »musikalische« Wirkungen in der Malerei zu erzielen versuchten. 25 In seinen Briefen entwickelt er Ansätze zu einer

20

H a g e d o r n : Betrachtungen über die Mahlerey, a.a.O., S. 608.

21

Busch gibt einen Ausschnitt aus den Entretiens wieder. Landschaftsmalerei, a.a.O., S. 148 ff.

22

Elisabeth Décultot zitiert eine Passage aus d e m dritten Band der Entretiens, in der Félibien von

e i n e m »sanften Konzert« der Farben spricht, das »flir das Auge so a n g e n e h m sein soll wie die H a r m o nie der S t i m m e n für das Ohr«. Das frühromantische Thema der >musikalischen Landschaft< bei Philipp Otto Runge und Ludwig Tieck, a.a.O., S. 214. 23

Ü b e r die malerische Darstellung der Luft schreibt H a g e d o r n : »Die Luft ist wenigstens in der

Landschaft, u n d in A n s e h u n g der B e l e u c h t u n g u n d H a l t u n g nach der Luftperspectiv, dasjenige, was der H o r i z o n t in Absicht auf die eigentliche Linienperspectiv, oder der Schlußton in einem musikalischen Stück ist. Sie giebt folglich die mehrere oder mindere Heiterkeit des Gemähides, oder, bey e i n e m durch trübes Gewölke schnell einfallendem [sie] Lichte, die E r h ö h u n g u n d S c h w ä c h u n g der Farbe der ü b r i gen Gegenstände in so h a r m o n i s c h e n Verhältnissen an, daß solche vorlängst mit den Verhältnissen in der Tonkunst verglichen worden.« Betrachtungen über die Mahlerey, a.a.O., S. 343 f. 24

Décultot: Das frühromantische Thema der > musikalischen Landschaft, a.a.O., S. 215.

25

Schawelka hat darauf hingewiesen, daß R u n g e s B e d e u t u n g hierbei eher in seiner T h e o r i e als in

seinem Werk gesehen w e r d e n m u ß . Quasi una musica. Untersuchungen zum Ideal des >Musikalischen< in der Malerei ab i 8 0 0 . M ü n c h e n 1993,S. 194.

T h e o r i e der Landschaft

155

Theorie der Landschaft. Bei Runge korrespondiert die Hochschätzung der Landschaftsmalerei mit der Uberzeugung, daß die Historienmalerei ihren Zenit überschritten habe: W i r sehen in den Kunstwerken aller Zeiten es am deutlichsten, wie das M e n schengeschlecht sich verändert hat, wie niemals dieselbe Z e i t w i e d e r g e k o m m e n ist, die einmal da war; w i e k ö n n e n wir d e n n auf den unseligen Einfall k o m m e n , die alte Kunst wieder zurückrufen zu wollen? (...) Michelangelo war der höchste P u n k t in der Komposition, das >Jüngste Gericht« ist der Grenzstein der historischen K o m position, schon Raffael hat sehr viel nicht rein historisch Komponiertes geliefert, die M a d o n n a in Dresden ist offenbar nur eine E m p f i n d u n g , die er durch die so wohl bekannten Gestalten ausgedrückt hat, nach i h m ist eigentlich nichts Historisches m e h r entstanden, alle schönen Kompositionen neigen sich zur Landschaft hin (...) - die >Aurora< von G u i d o ; es hat n o c h keinen Landschafter gegeben, der eigentliche B e d e u t u n g in seinen Landschaften hätte, der Allegorien u n d deutliche schöne Gedanken in eine Landschaft gebracht hätte.

Der Begriff der Empfindung wird hier der Historie gegenübergestellt, als sei er ein Bildthema wie diese. Empfindung wird zum Synonym fur Landschaft, die so in Kontrast zur Historienmalerei treten und diese ablösen kann. Sie ist das Qualitätsmerkmal, das die historischen Darstellungen der größten Maler von ihren Vorgängern scheidet. Damit schlägt sie die Brücke zum Rezipienten, der durch diesen Katalysator das Kunstwerk als Ganzes zu verstehen vermag. Dabei soll der Maler seinerseits die Naturgegenstände so darstellen, daß sie für den Betrachter als Projektionsfläche dienen können. Das Kunstverständnis des Beschauers ist also stets das Ergebnis einer Wechselwirkung. In einem Brief an Tieck formuliert Runge noch einmal sein Programm der Landschaftsmalerei: Ich glaube, daß ich Sie n u n ein wenig verstehe, was sie eigentlich u n t e r Landschaft m e i n e n . In der ganzen alten Geschichte haben, w i e es mir scheint, alle Künstler i m m e r dahin gestrebt, in den M e n s c h e n das R e g e n u n d Bewegen der Elemente u n d Naturkräfte zu sehen u n d auszudrücken; wie i m H o m e r u n d in der eigentlichen Geschichte i m m e r nicht sowohl die M e n s c h e n individuell, sondern so g e n o m m e n sind, w i e die gewaltige Zeit sich in ihnen geregt hat (...) D i e Landschaft bestände n u n natürlich in d e m u m g e k e h r t e n Satze, daß die M e n s c h e n in allen B l u m e n u n d Gewächsen, u n d in allen Naturerscheinungen, sich u n d ihre Eigenschaften u n d Leidenschaften sähen; es wird mir bei allen B l u m e n u n d B ä u m e n vorzüglich d e u t lich u n d i m m e r gewisser, wie in j e d e m ein gewisser menschlicher Geist u n d Begriff oder E m p f i n d u n g steckt (•• ) 2 7

D o c h vermittelt das Kunstwerk selbst wiederum nur die Verbindung zwischen dem göttlichen Weltganzen und dem Betrachter: »Die Wahrheit der Empfindung ergreift alle, alle fühlen sich mit in diesem Zusammenhang, alle loben den einigen

26

Philipp O t t o R u n g e : Die Begier nach der Möglichkeit neuer Bilder. Briefwechsel und Schriften zur bil-

denden Kunst. Hg. von Hannelore Gärtner. Leipzig 1978, S. 87. 27

Ebd., S. 119.

156

Kapitel V

Gott, die ihn empfinden (.. .)«28 In seiner Tabelle »Erfordernisse eines Kunstwerks« nennt Runge daher auch »unsre Ahnung von Gott« als erste Bedingung. 29 Durch die Betrachtung des Kunstwerks und die so erzeugte sympathetische Einfühlung in die Natur »entsteht die Religion«, wie Runge in pointierter Formulierung schreibt.30 Die Vermischung von Ichgefiihl und Gottesnähe gehört zu den wichtigsten Zügen der zeitgenössischen Überlegungen zur Funktion der Landschaft, es ist diese Zweiheit, die letztlich die Basis für die Assoziation mit dem Musikalischen bildet. Davon zeugen neben Runges Briefen die Neun Briefe über Landschaftsmalerei des Berliner Medizinprofessors und Landschaftsmalers Carl Gustav Carus, die zu den wichtigsten Dokumenten eines musikalischen Landschaftsprofils gehören. Erst 1825 entstanden, sind sie doch ein Dokument frühromantischer Kunstauffassung zu nennen, da die Anregungen für Carus'Aufsätze zu einem wesentlichen Teil auf die Bekanntschaft mit Caspar David Friedrich zurückgehen 31 und damit wesentlich früher zu datieren sind. Die Flüchtigkeit ihres Erklingens prädestiniert die Musik, die ebenfalls flüchtigen Stimmungen der Seele aufzufassen und wiederzugeben, 32 was mit dem Verständnis des Landschaftsbildes als einer Momentaufnahme korrespondiert. Die »Hauptaufgabe landschaftlicher Kunst« lautet für Carus: »Darstellung einer gewissen Stimmung des Gemüthiebens (Sinn) durch die Nachbildung einer entsprechenden Stimmung des Naturlebens (Wahrheit)«.33 Problemlos kann Carus den Begriff der »Nachbildung« wieder eingliedern, die Nachahmung landschaftlicher Stimmungswerte erscheint ebenso penibel zu bewerkstelligen wie früher die Nachahmung der sichtbaren Landschaftsgegenstände. Die Relation zwischen den menschlichen Gemütszuständen und denen in der Natur ist für Carus so zentral, daß er ihr einen eigenen Aufsatz gewidmet hat. 34 Eingedenk der Wechselwirkung, die zwischen beiden besteht, läßt der Autor einen weiteren Aufsatz über die »Wirkung einzelner landschaftlicher Gegenstände auf das Gemüth« folgen. 35

28

Ebd., S. 94.

29

Ebd., S. 54.

30

Ebd., S. 94. R u n g e hat seine Kunstauffassung wesentlich in persönlichen Gesprächen m i t T i e c k

entwickelt, dessen R o m a n Franz Sternbalds Wanderungen i h m bekannt war. D e n Einfluß von W a c k e n roders - d u r c h T i e c k vermittelte - Kunstreligion hat Christa Francke nachgewiesen: Philipp Otto Runge und die Kunstansichten Wackenroders undTiecks. M a r b u r g 1974. 31

»Die älteren dieser Briefe w e r d e n häufig von der Forschung zur Verdeutlichung Friedrichscher

Ansichten gebraucht, da m a n a n n i m m t , daß Carus in ihnen n o c h nicht zu e i n e m eigenständigen Urteil gelangt war.« Schawelka: Quasi una musica, a.a.O., S. 215. 32

Briefe über Landschaftsmalerei. Faksimiledruck der 2., v e r m e h r t e n Ausgabe 1835. M i t e i n e m N a c h -

w o r t hg. von D o r o t h e a K u h n . Heidelberg 1972, S. 19. 33

Ebd., S. 41.

34

»Von d e m Entsprechen zwischen G e m ü t h s s t i m m u n g e n u n d Naturzuständen«. Ebd., S. 43—49.

35

Ebd., S. 5 0 - 5 3 .

Das einheitstiftende M o m e n t des »Tons«

157

Ähnlich wie für Runge verblassen jedoch diese Stimmungswerte vor der höchsten Aufgabe, die götdiche Einheit in der Natur für den Betrachter einzufangen. So ist das Schöne für Carus »der Dreiklang von Gott, Natur und Mensch«. 36 Das Projektionserlebnis des Betrachters, bei dem dieser die Landschaftsgegenstände auf sein Innenleben bezieht, ist nur die Voraussetzung für den höheren Zweck, in ihm ein Einsgefühl mit der göttlichen Natur zu evozieren. 37 Uber die Erweckung der Empfindungen wird dem Betrachter ein religiöses Erlebnis vermittelt. Natürlich wird dieses Wechselverhältnis von Runge und Carus nicht als gespannt empfunden, eher dokumentiert sich diese Spannung im Werk Caspar David Friedrichs, in dessen Bildern die Icherfahrung eng verbunden ist mit der Gotteserfahrung. Es wäre also verfehlt, die romantische Landschaft als bloße Manifestation einer von der subjektiven Verfassung des Künstlers bestimmten Innenwelt im Bild aufzufassen, die vom Betrachter ebenfalls subjektiv gedeutet wird — das gilt auch für die dichterische Landschaftsmalerei.

2. Das einheitstiftende Moment des »Tons« Zu fragen wäre nun, worin denn die musikalischen Mittel der Malerei gesehen wurden. Während allgemein von »Empfindung« im Kunstwerk gehandelt wird, erscheint dort, wo von den künsderischen Techniken die Rede ist, der Begriff des »Tons«. Zur Umschreibung des für die malerische Komposition (»das einstimmige Ganze«38) unabdingbaren einheitstiftenden Moments hatte bereits Hagedorn den Ausdruck »Ton« verwendet. 39 In der Bezeichnung des einheitstiftenden Moments im Kunstwerk sind die Begriffe Empfindung und Ton synonym, eine Beobachtung, die auch für Jean Pauls Bestimmung einer »musikalischen« Landschaft relevant ist. Der »Ton«, gleichermaßen ein Begriff aus der Musiktheorie, eine Verkürzung des kunsttechnischen Farb-Tons und als Bezeichnung der Redetöne in der Rhetorik vertraut, vermittelt zwischen Musik, Malerei und Dichtung: Mit ihm wird das Unbestimmte der Empfindung vermeintlich greifbar. Nicht von ungefähr hatte Schiller das »Musikalische« als Qualität im Umgang mit den Farben bestimmt und bemerkt:

36

Ebd., S. 56.

37

»Dein Ich verschwindet, D u bist nichts, G o t t ist Alles.« Ebd., S. 29. »Offenbart ist uns dieses h ö c h -

ste in Vernunft u n d N a t u r als Inneres u n d Äußeres, wir selbst aber fühlen uns als e i n e n T h e i l dieser O f f e n b a r u n g (...)« Ebd., S. 34. 38

H a g e d o r n : Betrachtungen über àie Mahlerey, a.a.O., S. 641.

39

»Gleichwohl haben schon die klugen Griechen, w i e unsere Zeitgenossen, z u m B e h u f der H a r -

m o n i e des Ganzen, auch in der Lehre v o n der Farbengebung v o n e i n e m Ton geredet, dessen Misklang die A n m u t h der schönen Z e i c h n u n g wieder vernichten k a n n . W i r glauben nicht zu fehlen, w e n n wir diesen Wohllaut in der N a t u r suchen.« Ebd., S. 640.

158

Kapitel V

In der Tat betrachten wir auch j e d e malerische u n d poetische Komposition als eine Art von musikalischem Werk u n d unterwerfen sie z u m Teil denselben Gesetzen. W i r f o d e r n auch von Farben eine H a r m o n i e u n d einen Ton u n d gewissermaßen auch eine M o d u l a t i o n . 4 0

Im Artikel über den »Ton« in der Malerei des Sulzerschen Lexikons ist dessen Erzeugung durch Farbe und Licht erörtert, 41 und auch Runge dienen Färb- und Lichtwirkungen dazu, den einheitlichen »Ton« des Gemäldes zu erzeugen. Wo die Zeichnung, der Umriß des Gemäldes zurücktreten, liegt das Gewicht auf den Farben. Darin, daß der Farbgebung die größte Bedeutung in der Erzeugung eines musikähnlichen Eindrucks zukommt, sind sich die Theoretiker der Malerei seit Hagedorn einig. Umfangreiche Studien sind dem unterschiedlichen Lichteinfall im Wechsel der Tageszeiten gewidmet, nach denen Runge einen Zyklus benannt hat, und der Atmosphäre der Natur, die vom wechselnden Wetter bestimmt wird. Die je unterschiedliche Stimmung einer Landschaft, die sich mit dem Fortschreiten der Tageszeiten stetig verändert oder mit dem Wetter plötzlich umschlagen kann, wird als analog zu den verschiedenen Stimmungen des Gemüts empfunden — ein Gedanke, den Carus formuliert hat. 42 Der stetige Wandel der Natur gleicht dem Wandel der menschlichen Seele, Carus bevorzugt daher den Begriff »Erdlebenbildkunst« vor dem traditionellen Landschaftsbegriff. Die Empfindung wird zur vermittelnden Instanz zwischen Landschaft und Musik, »Stimmung« zu deren Ausdruck. Farbgebung und Lichtwirkungen sind am ehesten geeignet, dem Betrachter den atmosphärischen Wechsel zu vermitteln, der als ähnlich vielgestaltig empfunden wird wie die Seelenregungen. 43 So ist es kein Zufall, daß die zeichnerische Darstellung fur das Entstehen eines musikalischen Eindrucks, der mit Empfindung assoziiert wird, keine bestimmende Rolle spielt, die Umrisse des Kunstwerks stehen offenbar — ähnlich wie in der Rezeption dichterischer Kunstwerke — der Kategorie des Musikalischen entgegen. Nicht von ungefähr nennt Runge den »Ton« des Gemäldes als letztes der malerischen Kunstmittel:

40

Schiller: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 999.

41

Art. Ton (Mahlerey). In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, a.a.O., Bd. 4, S. 540 ff.

42

»Ganz vorzüglich aber m u ß b e m e r k t werden, daß unter den Vorstellungen landschaftlicher N a t u r

vorzüglich diejenigen den R e g u n g e n des G e m ü t h s entsprechen, welche auf die Art der W i t t e r u n g sich beziehen; ja m a n k ö n n t e wol sagen, daß der Wechsel verschiedener S t i m m u n g e n der Atmosphäre (des Wetters) sich genau so fur das N a t u r l e b e n zeige, w i e der Wechsel verschiedener S t i m m u n g e n des G e m ü t h e s für das Seelenleben.« Briefe über Landschaftsmalerei, a.a.O., S. 49.Vgl. auch die Beilagen z u m zehnten von Carus' Briefen. Z w e i dieser malerischen Fallstudien lauten »Mondscheinbilder« u n d »Spätabende«. 43

Carus schreibt: »Wie unendlich mannichfaltig u n d zart sind nicht endlich die atmosphärischen

Erscheinungen! - Alles, was in des M e n s c h e n Brust wiederklingt, ein Erhellen u n d Verfinstern, ein E n t wickeln u n d Auflösen, ein Bilden u n d Zerstören, alles schwebt in den zarten Gebilden der W o l k e n r e g i o n e n vor unsern S i n n e n (...)« E b d . , S . 110.

Der Stimmungsbegriff

159

Wir suchen durch die Reflexe und die Wirkungen von einem Gegenstande auf den andern, und die Farben desselben, Übergänge zu finden, beobachten alle Farben gleichstimmig mit der Wirkung der Luft und der Tageszeit, die stattfindet, suchen diesen Ton, den letzten Anklang der Empfindung, von Grund aus zu beobachten, und das ist der Ton — und das Ende. 4 4

Damit läßt sich das Spektrum des Begriffs erweitern: Der Ton ist das einheitstiftende Moment der malerischen Komposition. Er bindet die zeichnerischen und malerischen Mittel und ist daher von Runge als letztes genannt. Sulzer definiert ihn als »Charakter, das ist, das Sittliche oder Leidenschaftliche des farbichten Lichts, das in einem Gemähide herrscht« 45 , und empfiehlt das Studium einer Landschaft in ihrer mit den Tageszeiten und Wetterverhältnissen wechselnden Beleuchtung. Ahnlich wie den musikalischen Tonarten verschiedene Charaktere zugesprochen werden, assoziiert er die Farbwirkungen der Gemälde mit menschlichen Gemütsregungen. 46 Die Aufgabe des Malers besteht für ihn darin, durch Licht und Farbe »den Ton des Gemähides« einzufangen. 47

3. Der StimmungsbegrifF Ahnlich wie die »Composition« und der »Ton« vermittelt der Begriff der »Stimmung« zwischen Musik und Malerei und — in unserem Zusammenhang entscheidend — zwischen Icherfahrung und Welt- bzw. Naturerfahrung, wie Spitzer in seiner umfangreichen Begriffgeschichte des Wortes »Stimmung« nachgewiesen hat. 4 8 Den Bedeutungsradius des Wortes sieht er im Spektrum zwischen eskapistischem Emotionalismus bis zum objektiven Verständnis der Welt, hinter dem die antike, allmählich verblassende Vorstellung einer Weltenharmonie steht. Die »Gestimmtheit« des Menschen ist die ältere Bedeutung, aus der dann die »Stimmung« der Landschaft abgeleitet wurde. In jedem Fall symbolisiert das Wort, das geht aus Spitzers Darlegungen implizit hervor, eine Totalität der Erscheinungen, die in der

44

Vgl. die Tabelle: »Erfordernisse eines Kunstwerks«, die Runge in einem Brief an seinen Bruder

aufstellt. Briefwechsel und Schriften zur bildenden Kunst, a.a.O., S. 96. 45

Artikel Ton (Mahlerey). In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, a.a.O., Bd. 4., S. 540.

46

»Denn wie in der Musik eine Tonart von der andern sich ebenfalls durch etwas Sittliches oder

Leidenschaftliches unterscheidet, indem eine streng, ernsthaft, wild, eine andre sanft, gefällig, zärtlich ist, so ist es auch in der Farbenmischung.« Ebd., S. 541. 47

Ebd. Der Begriff des Tons ist auch in dem des »Lufttons« enthalten, wie er sich bei verschiedenen

Malern findet.Vgl. z.B. Carus: Briefe über Landschaftsmalerei, a.a.O., S. 239. Naturgemäß kommt der Farbgebung des Himmels, der äußerlich das Lokal des Schauplatzes begrenzt und eine Ahnung der göttlichen Natur vermitteln soll, die größte Bedeutung zu. 48

Vgl. zur Begriffsgeschichte des Wortes Stimmung Leo Spitzer: Classical and Christian Ideas of

World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word >StimmungStimmung< bezeichnet dabei eine vorerst nicht näher bestimmbare — u n d vielleicht wesenhaft unbestimmte - Wechselbeziehung zwischen sich aussprechendem A u t o r u n d erlebtem Gegenstand. 5 ''

Diese Wechselbeziehung soll sich dem Betrachter als Momentaufnahme mitteilen, wie auch der Seitenblick auf entsprechende Äußerungen Runges und anderer ergeben hat. Diese Forderung ist eine späte Folge der Übertragung des musikalischen Stimmungsbegriffs auf Literatur und Malerei, die ihrerseits nur auf der Basis der sensualistischen und psychologischen Überlegungen der Zeit zu denken ist. Auch Lecke weist daraufhin, daß der Begriff »Stimmung« den Charakter einer Landschaft ebenso bezeichnen kann wie eine Gemütsverfassung. Er zitiert eine Briefäußerung Herders, in der ein symptomatischer Dualismus zur Anschauung

49

Leo Spitzer: Classical ani Christian ¡deas of World Harmony. Traditio II, a.a.O., S. 417.

50

Z u r O r g e l als Prototyp eines symphonischen Weltorchesters vgl. ebenfalls Spitzer. Ebd., S. 4 4 3 ff.

51

B o d o Lecke: Das Stimmungsbild.

1721-1780.

Musikmetaphorik

G ö t t i n g e n 1967.

52

Lecke zitiert J . H . Merck. Ebd., S. 9.

53

Ebd.

und Naturgefühl in der dichterischen

Prosaskizze

Die Kategorie des »Musikalischen« in der Malerei

161

kommt: »Was kann ich davor, daß mich die Natur so tragisch gestimmt hat (.. .)«54 Der transitive Gebrauch des Wortes »stimmen« kann auf eine durchgängige Charaktereigenschaft deuten, aber auch auf einmalige Einwirkung einer inneren oder äußeren Natur. Umgekehrt sucht das gestimmte Gemüt konvergente Stimmungen im Außen der Natur. Diese stets mitschwingende Konnotation hat Lecke für das dichterische Stimmungsbild konkretisieren können. Angelpunkt seiner Argumentation ist eine Entwicklung, die er anhand einer Äußerung Goethes im Vergleich zu der oben zitierten Herders veranschaulicht: Das Wetter ist recht zu m i r gestimmt, u n d ich fange an zu glauben, daß (...) die große Welt m e i n e kleine i m m e r mit ihrer S t i m m u n g durchschauert (. . .) 5 5

Im Unterschied zur linearen Distanz zwischen dem gestimmten Menschen und der stimmenden Natur, wie sie sich im Brief Herders artikuliert, interpretiert Lecke Goethes Wort als »wechselseitiges Innesein von Ich und Welt«.56 Die lineare Bewegung werde in die kleinräumigen Bewegungsintervalle des Durchschauerns zerlegt: A n die Stelle der gerade durch den R a u m f u h r e n d e n B e w e g u n g des Gefiihlseindrucks tritt ein vibrierendes H i n u n d H e r auf der Stelle, wie j a auch die Saite durch eine geradlinige E i n w i r k u n g von außen in B e w e g u n g gesetzt wird. I n d e m sie diese B e w e g u n g abfangt, schwingt sie hin u n d her, ist gestimmt u n d t ö n t . 5 7

Damit wäre der im vorangegangenen Kapitel nachgezeichneten Auffassung von der »tönenden Succession«, die sich im Kunstwerk spiegeln müsse, eine Differenzierung hinzugefugt, die möglicherweise sogar im Widerspruch zu den dort getroffenen Bestimmungen steht. Bevor diese Facetten jedoch am Werk Jean Pauls ausgeleuchtet werden, soll der Begriff des Musikalischen in der Malerei, dessen Profil sich offenbar aus einer Vielzahl von wirkungspsychologischen und kunsttechnischen Facetten zusammensetzt, abschließend diskutiert werden.

4. Die Kategorie des »Musikalischen« in der Malerei Ähnlich wie Barbara Naumann die Kategorie des Musikalischen in der frühromantischen Poetik umrissen hat, bestimmt Karl Schawelka das »Musikalische« für die Kunstgeschichte. Zeitlich konvergent, bildet die Periode um 1800 seinen Untersuchungszeitraum. Anders als Naumann untersucht Schawelka nicht nur die Herausbildung einer poetologisch-ästhetischen Kategorie, wie sie sich in den Äußerungen der Maler und in der frühromantischen Dichtungstheorie doku-

54

Lecke: Das Stimmungsbild, a.a.O., S. 11. I m Brief schreibt H e r d e r an Karoline.

55

Ebd., S. 12.

56

Ebd.

57

Ebd.

162

Kapitel V

mentiert, sondern sucht das Musikalische auch in den Werken der Maler auf und entgeht dabei nicht den Gefahren, die eine solche Analogisierung birgt. 58 In Abgrenzung zu früheren Untersuchungen, in denen das Musikalische meist im Sinne des Gegenstandslosen im Kunstwerk verstanden wurde, bindet Schawelka das Attribut »musikalisch« an einen spezifischen Umgang mit Kunst, den er als »Kunstkontemplation« bezeichnet. 59 Die Eigenschaften des Kunstwerks selbst bewertet er als nicht ausreichend, um im Betrachter eine »musikalische« Stimmung zu erzeugen, der Raum, in dem die Rezeption stattfindet (hier ist durchaus der konkrete Raum des Museums gemeint), muß hinzukommen. Uber diese wirkungspsychologische Akzentsetzung greift der Autor im folgenden jedoch hinaus, trotz der — im Umgang mit dem »Musikalischen« obligatorischen — Warnung davor, das Unbestimmbare bestimmen zu wollen. 60 Dabei bewegt er sich auf traditionellen Pfaden, etwa wenn er bemerkt, das Musikalische bezeichne »eine höhere Sphäre über die konkret gegebenen Bildelemente hinaus«, dort, wo der Bereich der »bildimmanenten Fakten« verlassen werde. 61 Dem widerspricht, daß Schawelka die Position vertritt, die Kunstgattung Musik spiele fur das Ideal des Musikalischen »keine allzu bedeutende Rolle«. 62 Gerade die Auffassung, Musik transzendiere das Gegenständliche, gehört zu den ältesten und meistzitierten musikästhetischen Gedanken. Wenn Schawelka also von der »Kunstgattung Musik« spricht, meint er offenbar genuin musikalische Parameter wie Rhythmus, Klangfarbe oder Tonhöhe. Wichtig und überzeugend ist indes, was der Autor als »subjektives Evidenzgefühl eines kosmischen All-Eins-Erlebens«, das er von den älteren Thesen über die Harmonie der Welt abgrenzt, in den Kunstwerken aufsucht. 63 Einleuchtend ist auch, was er über die Kunstwerke selbst schreibt: Anscheinend ist bei >musikalischen< Werken keinesfalls die Illusion von B e w e g u n g oder H a n d l u n g gefordert, jedenfalls nicht die von rascher u n d einmaliger B e w e gung, sondern eher Zuständliches, Ereignisloses, Beschauliches, sei es m e h r idyllisch oder m e h r elegisch.Wer, da Musik sich in der Zeit abspielt, die Illusion von B e w e g u n g in >musikalischer< Malerei fordert, sieht sich getäuscht. 6 4

58

Karl Schawelka: Quasi una musica, a.a.O.

59

Ebd., S. 12. »Negativ bestimmt wird dieser U m g a n g durch Verlust religiöser, didaktischer oder

sonstiger Aspekte, positiv durch das A u t o n o m w e r d e n dessen, was als genuin künstlerisch an einem Kunstwerk angesehen wird.« Ebd. 60

» N u n sollte m a n nicht der Versuchung erliegen, w e n n m a n das >Musikalische< in bester wissen-

schaftlicher Tradition genauer bestimmt, klassifiziert u n d analysiert, dies zu weit treiben. M a n w ü r d e sonst verkennen, w a r u m es so unsystematisch, fließend u n d irrational auftrat u n d auftreten m u ß t e , u m gerade dadurch ein verbreitetes Bedürfnis zu befriedigen.« Ebd., S. 13. 61

Ebd., S. 11.

62

Ebd.

63

Ebd., S. 13.

64

Ebd., S. 134.

D i e Kategorie des »Musikalischen« in der Malerei

163

In der Tat betonen Maler wie Runge den kontemplativen Aspekt: »Die Musik ist doch immer das, was wir Harmonie und Ruhe in allen drei anderen Künsten nennen.« 65 Und auch in den Werken der fraglichen Zeit um 1800, etwa den Gemälden Caspar David Friedrichs, findet sich diese These bestätigt. Die Akzentuierung des Betrachters durch die Wahl des Standpunktes, die Friedländersche Raumlogik, muß zunächst einmal als Element der R u h e gelten. Damit ergibt sich zu dem, was etwa Lecke fur das dichterische Stimmungsbild bemerkt hatte, ein Widerspruch, es scheint, als stimmten die Kriterien ftir eine Musikalisierung in malerischen und dichterischen Kunstwerken nicht in allen Punkten überein. Anders gesagt: Es liegt in der Natur der Künste, daß ihre Vertreter mit dem Profil des Musikalischen unterschiedlich umgehen. Und es liegt in der Natur des »Musikalischen«, daß, wer es an Einzelwerken festmachen will, in Schwierigkeiten gerät. Indes kann festgehalten werden, daß die Auffassung, die Landschaft bilde den musikalischen Teil der Malerei, vor allem an der Terminologie abzulesen ist. So weist Friedländer daraufhin, daß Assoziationen zur Musik vor allem dort erscheinen, wo das Formulieren des Eindrucks, den ein Gemälde erweckt, das Sprachvermögen des Betrachters übersteigt. 66 Friedländer selbst bedient sich musikalischer Vergleiche, etwa wenn er die Form mit dem Text, die Farbe mit der Melodie vergleicht.67 Für die Rezeption der Werke Jean Pauls auf der einen und romantischer Maler auf der anderen Seite ergibt sich somit eine bezeichnende Parallele: Dort, wo die herkömmlichen Kategorien zur Beschreibung von Form und Gehalt versagen, greift die Kritik auf Termini aus der Musiktheorie zurück. Stellenweise lesen sich Friedländers Essays über die Landschaftmalerei wie JeanPaul-Monographien aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. So trennt der Autor unausgesprochen zwischen bestimmtem und unbestimmtem Ausdruck im Gemälde und läßt damit ein Begriffspaar anklingen, mit dem man den durch die Sprache begrifflichen Ausdruck der Vokalmusik vom unbegrifflichen der textlosen Instrumentalmusik zu unterscheiden pflegte. Antipodisch zur Landschaftsmalerei wird die Historienmalerei verstanden und — abgeschwächt - überhaupt alles »Menschliche« im Bild, und zwar im Sinne eines unmittelbar verständlichen Ausdrucks der Leidenschaften: Von d e m , was den Sinnen zugetragen wird, w e n d e t sich das Menschliche, glaubhaft verbildlicht, uns mit Beredsamkeit zu, da alle menschlichen Leiden, Freuden,Aktionen der Möglichkeit nach unsere eigenen sind, deshalb o h n e weiteres verstanden,

65

R u n g e : Brief an den B r u d e r Daniel v o m 6. April 1803. Briefwechsel und Schriften, a.a.O., S. 140.

66

Ü b e r die R e z e p t i o n der Werke Cézannes schreibt er: »Kein Zufall, dass feinfühlige Kunstfreunde

in Verlegenheit, den aufregenden Eindruck in W o r t e zu fassen, von Musik sprechen. Das Beieinander in der Fläche wirkt w i e zeitliche Abfolge, wie Melodie. Die weissen Flecke zwischen den Farbflecken, Papier oder Leinwand, sind wie Pausen i m Laufe der Töne.« Friedländer: Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, a.a.O., S. 161. 67

Ebd., S. 152.

164

Kapitel V

durchschaut u n d mitgefühlt werden. Mit der Landschaft steht es anders, sie steigt als ein Geheimnisvolles vor uns auf, eher t ö n e n d als aussagend. D i e S t i m m u n g e n , die der Landschaftsmaler uns vermittelt, wie S c h w e r m u t , Sehnsucht, Frieden, E r h e bung, Schauer, B e r u h i g u n g sind nicht spezifische, gedanklich differenzierte, wie sie v o m Menschentreiben ausgehen. Die Landschaft steht jenseitig z u m Leben u n d ist in der letzten Phase der E n t w i c k l u n g durchaus nicht m e h r Schauplatz, nicht m e h r topographisch berichtend. Was die Musik unter den Kunstgattungen ist die Landschaft unter den Bildgattungen. 6 8

Die Malerei, wenn sie dem Betrachter Stimmungen vermittelt, schildert ebensowenig wie eine Sprache, von der über den begrifflichen Ausdruck hinaus erwartet wird, daß sie töne wie die Musik. Friedländer fuhrt diese Argumentation bis zum dem Punkt, an dem er Lyrik, Musik und Landschaftsmalerei auf den gemeinsamen Grund der Empfindsamkeit zurückfuhrt. Naturlyrik ist ihm die vermittelnde Gattung, da hier »die Entsprechung der Naturerscheinungen mit menschlichen Gemütszuständen zum Ausdruck gelangt«.69 Trotz des offenkundigen Vorhandenseins künstlerischer Kriterien für die malerische Gestaltung läßt sich der Eindruck des Fragwürdigen von den Musikalisierungstendenzen in Theorie und Praxis der Malerei ebensowenig abwenden, wie von jenen der Dichtung. Insbesondere Dokumente, die nach der Hochblüte dieser wechselseitigen Applikation der künstlerischen Attribute entstanden sind, zeugen davon, daß sich die Theoretiker der Malerei - ähnlich wie die der Dichtung - auf Standpunkte zurückziehen, die durch übermäßigen Gebrauch längst mumifiziert sind, wie vor allem die Auffassung von der »Unbestimmtheit« der Musik, die zum Vorbild für die anderen Künste wird. So schreibt Carl Ludwig Fernow, 70 der die Tendenz zur Vermischung der Künste kritisch bewertet: D i e Landschaftsmalerei hingegen, als Darstellung idealischer Naturscenen, bedarf keines bestimmten Inhalts. In ihr ist blos ein Mannigfaltiges landschaftlicher G e genstände, gemäs einer Idee zu e i n e m Ganzen verbunden, hinreichend durch seinen Gesamteindruk eine gewisse S t i m m u n g zu bewirken; u n d diese W i r k u n g ist schon erfolgt, ehe es d e m überlegenden Verstände einfallt, sich auch den Inhalt der Landschaft deutlich vorzustellen. 7 1

68

Ebd., S. 175.

69

Ebd., S. 176.

70

Jean Paul erwähnt F e r n o w in der Vorschule, I, 5, S. 374.

Kapitel VI Musik als Medium der Weltbegegnung: Die »musikalische Landschaft« der Dichter Lessings Forderung »musikalischer« statt »malender« Stilmittel 1 ist vor allem im Kontext jener beschreibenden Poesie zu verstehen, deren wichtigstes Mittel malerische Attribute waren und deren Kritik ein Hauptanliegen des Laokoon-Fragments bildet. N e b e n dem von Lessing zitierten Ewald von Kleist gelten Albrecht von Haller, dessen episches Gedicht Die Alpen 1729 erscheint, und Barthold Hinrich Brockes (Irdisches Vergnügen in Gott, 1721—1748) »als Hauptvertreter einer scheinbar homogenen Beschreibungsliteratur«, 2 deren Hochblüte mit dem 18. Jahrhundert beginnt. Z u den theoretischen Grundlagen zählt Breitingers Critische Dichtkunst,3 die als Streitschrift der Schweizer in der Kontroverse mit Gottsched u m das Postulat der Naturnachahmung 1740 erscheint. Breitinger bezeichnet darin die »poetische Mahlerey, die sich auf die Gleichheit in der W ü r c k u n g beyder Künste, der Mahler-Kunst und der Dicht-Kunst, gründet« als »das eigentliche Werck der Dicht-Kunst«. 4 Sie erlaube, dem Leser die Gegenstände lebhaft vor Augen zu bringen. 5 Die unabdingbare poetische Täuschung wird Breitinger zufolge in erster Linie durch »Beywörter« erreicht, die er mit den Farben in der Malerei vergleicht. 6 Erzeugt die Dichtung eine Illusion sichtbarer Gegenstände

1

Vgl. Kapitel III.

2

Vgl. Buchs Einzeluntersuchungen zu Haller u n d Ewald von Kleist. >Ut Pittura Poesis Drinnen < und >Draußen< bei Adalbert Stifter. In:JbJPG 2 (1967), S. 132. 60

A u c h fur Carus waren die Landschaften i m Sternbald vorbildlich. D i e Stelle, »wo i m engen Thale

m a n einen Pilger zur H ö h e hinwandeln sieht«, spricht für ihn »eine christlich-sittliche Idee« aus. Briefe über Landschaftsmalerei, a.a.O., S. 87. 61

a.a.O.

Das frühromantische Thema der > musikalischen Landschaft < bei Philipp Otto Runge und Ludwig Tieck,

176

Kapitel VI

man sieht sie inhaltlich in der Verbindung von Natur und Musik und zitiert als Beispiel Passagen wie die folgende: W i e ein melodischer Gesang, w i e angeschlagene Harfensaiten sind diese Blüten, diese Blätter herausgequollen u n d strecken sich n u n der liebkosenden, w a r m e n Luft entgegen. 6 2

W i e viele seiner Zeitgenossen verwendet Tieck hier die Musik als Bildspender für Vergleiche, eine Technik, die der Autor Décultot zufolge auch umgekehrt anwendet, indem er Naturmetaphern zur Umschreibung musikalischer Erfahrungen heranzieht. 6 3 Décultot vernimmt im Sternbald einen »Dreiklang von Mensch, Natur und Musik«, 64 der — das sei hinzugefugt — die R o m a n e Eichendorffs ebenso bestimmt wie Brentanos Godwi. Dieser mehr äußerlichen Verwendung musikalischer Details stellt Décultot jedoch jene strukturelle Verwandtschaft von Musik und Dichtung entgegen, u m die es ihr eigentlich geht. Die Verwendung der Vokabel »Struktur« im Zusammenhang mit höchst nebulösen Vorstellungen einer genuinen Unbestimmtheit der Musik, die sich in der dichterischen Landschaft manifestiere, löst dabei — wie stets, so auch in Décultots Argumentation — Unbehagen aus. Immerhin ist hier nirgends von einem bestimmten Musikstück die Rede; ohne Zweifel will Décultot, wenn sie von einer »strukturelle[n] Verwandtschaft von Musik und Landschaft« spricht, auf die Mystifikation der Musik hinaus, die in einer weniger objektiv beschreibenden als subjektive Gefühlswerte durch Naturdinge vermittelnden Landschaftsdichtung ihr Pendant in der Poesie gefunden zu haben schien. So sind es weniger äußere Eigenschaften der Kunst Musik, die solchen Analogiezauber begünstigen, als die Implikationen des Mythos Musik, wie sie kurz vorher von Wackenroder und Tieck selbst formuliert wurden. Wenn D é cultot diese Implikationen unter den Begriffen des Ätherischen, Unkörperlichen u n d Geistigen als Resultat »einer tiefgründigen Analyse der musikalischen Sprache und ihrer Symbolik« begreift, 6 5 so trifft das zwar die Größe der Leistung Wakkenroders und Tiecks, aber mit den falschen Prämissen. Das »Tönende« der Tieckschen Landschaften sieht Décultot in jener »Loslösung vom Mimesisprinzip«, die zweifellos auch in Jean Pauls Definition enthalten ist. Die Tatsache, daß die Hauptfigur ein Maler ist, verleiht dem Thema der »musikalischen« Landschaft zusätzliche Brisanz, nicht minder die theoretisch gewollte Verquickung der drei Künste: O m e i n Freund, w e n n ihr d o c h diese w u n d e r l i c h e Musik, die der H i m m e l h e u t e dichtet, in eure Malerei hineinlocken k ö n n t e t ! 6 6

62

Franz Sternbalds Wanderungen, a.a.O., S. 202.

63

Vgl. Décultot: Das frühromantische Thema der > musikalischen LandschaftHinausgehen< erlebt, und der Transcensus hinwiederum wirkt zurück auf das Innere (.. .)«68 Ernst Bloch formuliert das so: »Ein Mensch nimmt sich mit, wenn er wandert. Doch ebenso geht er hierbei aus sich heraus, wird um Flur, Wald, Berg reicher.« 69 In der Unsichtbaren Loge hatte Jean Paul geschrieben: »Die Lage wirkt mehr auf die Musik, als die Musik auf die Lage«70 und damit zugleich das — wenn auch — ungleiche Wechselverhältnis zwischen der Innenwelt und der Außenwelt in seinen Landschaften skizziert. Begibt sich der Held ins Freie, um von einem O r t zum anderen zu gelangen, so eröffnet sich ihm auf diesen Wanderungen die große Natur. 71 Im 13. H u n d posttag macht Viktor sich auf nach Maienthal, wo Klotildes Erzieher wohnt. Emanuel ist das »Sonnenbild«, 72 dem Viktor zustrebt, die gespannte Erwartung des 67

Décultot: Das frühromantische Thema der >musikalischen Landschaftmusikalisch< im metaphorischen Sinne von >harmonisch< zu verstehen, sondern vielmehr im buchstäblichen Sinne des Wortes die Attribute der Musik auf den malerischen Bereich der Landschaft anzuwenden.« Ebd. 68

R o l f Wedewer: Landschaftsmalerei zwischen Traum und Wirklichkeit. Idylle und Konflikt. Köln 1978,

S. 28. 69

Der Spaziergang. In: Tübinger Einleitung in die Philosophie. N e u e erweiterte Ausgabe F r a n k f u r t / M .

1970, S. 49. 70

1,1, S. 407.

71

A u c h Kurt Weber, von d e m eine umfassende U n t e r s u c h u n g zu Jean Pauls Landschaften stammt,

n i m m t diese Prämisse z u m Ausgangspunkt .Jean Pauls Landschiften, a.a.O., S. 40. D e r Autor systematisiert die entsprechenden Passagen bei Jean Paul, k n ü p f t daran eine überzeugende Typologie der R o m a n o r t e u n d eine der Landschaftstypen. 72

1,1.S.672.

178

Kapitel VI

Jünglings ist in ein Naturbild gefaßt, in dem der Himmel endlich wolkenlos strahlt, der äußere Himmel, aber auch Viktors innerer, seine Seele. Der Jüngling durcheilt die Landschaft oder vielmehr: im Unbewußtsein des eigenen rastlosen Strebens ist es ihm, als wandelten »die Sommergefilde« vor ihm vorüber, wie in einem Diorama umfliegen ihn Landschaftsbilder als »Theater« mit verschiedenen Kulissen, 73 perspektivisch verengt und von unendlicher Weite zugleich: »Dieses Vorüberfliehen [Hervorhebung J.P.] der Szenen verdunkelte sein benetztes Auge und erhellte die innere Welt (...)«. 74 Vor dem »Guckloch der Dunkelkammer« 7 5 breitet sich die Welt aus: »Unser Leben ist eine dunkle Kammer, in welche die Bilder der andern Welt desto heller fallen, j e stärker sie verfinstert wird.« 76 Die so erzeugte Weite des Innenraums ist das Stichwort für den Einsatz der Musik. Uber Viktor steht ein Lerchenchor, »dessen streitende R u f e in seiner Seele zu einem zerflossen«, 77 auf dem Weg in Viktors O h r und damit in seine Seele verwandelt es sich zum allgegenwärtigen »Getöne«, der Jüngling wird, u m es mit Herder zu sagen, zum »Akroatiker des Universum[s]«, 78 die »Harmonika der Natur« umgibt ihn ganz, während ihre Vielstimmigkeit in Viktor einen Einklang erzeugt. In den höchsten M o m e n t e n verschmelzen die Eindrücke des Gehörs und des Gesichtssinns zu seiner kosmischen, allumfassenden Klangvision, in der das eine vom anderen nicht mehr zu trennen ist. Die Transformation der Naturgeräusche in ein T ö n e n wird zum Zeichen dafür, daß die Natureindrücke ins Innere des Ich verlegt sind — ähnlich wie beim Musikerlebnis. Die Schönheit der Natur offenbart sich in einer nur vordergründig synästhetischen Sinneswahrnehmung. Tatsächlich m u ß der visuelle Eindruck erst auf ein »Guckloch« verengt werden, durch dessen Fokus Viktor in einer Art Rückprojektion nicht die äußere, sondern die innere Welt vergrößert sieht, Naturwahrnehmung stets zwischen Selbst- und Welterfahrung oszilliert. Bedeutsam ist auch der Standpunkt, den Viktor einnimmt. Von oben schaut er auf das zu Füßen des Berges liegende Maienthal, während die panoramatische Landschaftsvedute mit einem vom Himmel, also von ganz oben kommenden vollstimmigen Klingen verschmilzt. Viktor steht in der Mitte, auf halber H ö h e über dem idyllischen Maienthal und zugleich auf der Bergspitze, über der sich der Himmel wölbt. Der visuelle Eindruck des ganzen, ihm zu Füßen liegenden Maienthal löst einen nicht weniger u m - und ergreifenden Höreindruck in Viktor aus:

73

Ebd.

74

1,1, S. 673.

75

H a r t m u t Vinçon: Topographie Innenwelt-Außenwelt

76

SW, Abt. I, Bd. 17, S. 142.

77

1,1, S. 673.

78

S. 179.

bei Jean Paul, a.a.O., S. 74.

So lautet eine F o r m u l i e r u n g Herders i m Aufsatz Von Musik. Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 22,

Das Element der Bewegung

179

»Da klang die vom Ewigen gestimmte Erde mit tausend Saiten (...)«. 79 Die Musik ist nicht nur Medium der Selbstbegegnung, sondern auch der Weltbegegnung. Die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur sind in die Metapher eines Saitenspiels gekleidet, das - von Gott gestimmt — harmonisch zusammenklingt. Mehrere Komponenten fließen in diesem Bild zusammen. Die antike Idee einer Sphärenharmonie, die sich großer Beliebtheit bei Jean Paul erfreut, erscheint hier in christlicher Transformation. Beruhten der pythagoreischen Lehre zufolge die Harmonien der Musik auf dem Zahlenverhältnis der Saitenlänge, analog zu den Bewegungen der Himmelskörper, von denen man annahm, daß sie sich in ebenso harmonischem Verhältnis zueinander bewegten, so wird in der oben zitierten Passage die Metapher ins Unendliche geweitet, der unendlichen Mannigfaltigkeit der Naturdinge gemäß. Nur durch die solchermaßen erzeugte Allgegenwart eines Weltklangs vermag Viktor zum Hörenden des Universums zu werden. Die leere Luft wird ihm zur »bewohnte [n]« und nimmt ihn ganz auf: »ein hebendes Meer quoll aus dem geöffneten Himmel und aus der geöffneten Erde .. .«.80 Der Abstand Viktors zum All wird damit gewissermaßen verkleinert, hörend kommt er den Geheimnissen der Natur näher. Voraussetzung dafür war die Reinigung seiner Seele von »Dünsten«,81 auch sein Inneres mußte erst »gestimmt« werden, um sich der Natur und dem darüberstehenden »Sonnenbild Emanuels« ganz öffnen zu können. An anderer Stelle wird dies deutlicher. Im 4. Hundposttag erzählt Klotilde Viktor von ihrem Lehrer, bevor Viktor ein Blatt von der Handschrift Emanuels findet, das größten Eindruck auf ihn macht. Der Gang nach Maienthal ist nunmehr beschlossene Sache: »O du guter, guter Geist! (...) ich kann dich nun nicht mehr vergessen — du mußt, du wirst mein schwaches Herz annehmen!«82 Voraussetzung ist wiederum eine Art seelischer Läuterung: »Von seinen innern Saiten waren jetzt die Dunsttropfen, die ihren Klang aufhielten, abgefallen.« Der Bezug zur Idee einer Sphärenharmonie wird hier viel deutlicher. Ihr entscheidendes Charakteristikum liegt in der Uberzeugung, daß die Bewegung der Planeten Sympathie in der menschlichen Seele erzeuge. Die »Stimmung« von Viktors Innerem macht ihn erst empfänglich für die »Stimmung« der Natur, beides kann so sympathetisch miteinander schwingen und bringt dann den Menschen der zweiten Welt näher. Nur wenige Seelen wissen, »wie weit die Harmonie der äußern Natur mit unserer reicht«,83 darunter der Inder Emanuel, der sich mit Sternenkunde und Musik gleichermaßen beschäftigt. Ist die Stimmung der tausendsaitigen Natur in

79

I, l.S. 673.

80

Ebd.

81

1,1.S.672.

82

Ebd., S. 550.

83

Ebd., S. 660.

180

Kapitel VI

der beschriebenen Passage von Gott absichtsvoll gelenkt, so assoziiert Jean Paul an anderer Stelle das All mit einer Aolsharfe, »mit längern und kürzern Saiten, mit langsamem und schnellern Bebungen vor einem göttlichen Hauche ruhend«. 84 Die Töne dieses Instruments, das in die Zweige eines Baumes gehängt oder in offenen Räumen in den Luftzug gestellt wird, haben immer die Aura des Zufälligen, bewußt gesteuert werden können sie kaum, die Klänge sind immer überraschend und — je nach Stärke des Windes - auch immer anders. Die metaphorisierende Verwendung der Leier oder überhaupt des Saiteninstruments als Bild für das tausendfältige, aber doch harmonisch zusammenklingende Universum modifiziert Jean Paul, ein Detail, das zumindest erwähnenswert ist:85 Der Mensch hat geringen Einfluß auf diese »Stimmung«, er kann höchstens seine Seele für die Aufnahme des Klingens vorbereiten. Die Aufgabe des fixen Betrachterstandpunktes in der dichterischen Landschaftsbeschreibung86 ist die eine Komponente, die uns diese Landschaft als »bewegt« empfinden läßt.Viktors rascher Gang durch die Frühsommerlandschaft erzeugt in ihm die Illusion, die Naturdinge bewegten sich mit ihm, er gehe mit ihnen gemeinsam. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist aufgehoben, auf dem Höhepunkt der Schilderung und am Ende der Wanderung, kurz vor Maienthal, steht der Jüngling schließlich in der Landschaft, die ihn — oben der Himmel, unten das Tal — ganz umfängt. Webers These, bei Jean Paul sehe sich der Betrachter der Landschaft gegenüber, statt, wie die Helden des Sturm und Drang oder der Empfindsamkeit, in ihr zu sein,87 ist dahingehend zu modifizieren, daß Jean Paul beides auf höchst differenzierte Weise verbindet — zumal sich Bewegung besser mitteilt, wenn sie sich von mehr statischen Szenen abhebt. Viktor eilt schnellen Schrittes den Berg hinauf und bleibt auf dem Gipfel stehen, der ihm wie in einer biblischen Verheißung das zu erwartende Paradies Maienthal vor Augen führt, so, als sei in dieser Passage Jean Pauls erster Weg zum Glück Dichtung geworden. 88 Natürlich ist es nicht allein der Hinweis auf den eilenden Protagonisten und die wandelnden Gefilde, die uns diese Landschaft als bewegt vor Augen führt. Der Eindruck der rastlos vorüberfliegenden Veduten wird vor allem durch die Syntax

84

1,1.S.680.

85

Für Götz Müller ist die Äolsharfe »eine von Jean Paul häufig gebrauchte U m f o r m u n g der Kette

des Seins zwischen M i k r o - u n d Makrokosmos«, »die klingenden Saiten der Äolsharfe w i e d e r u m ein Bild allumfassender Harmonie«. Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, a.a.O., S. 170 f. 86

H i e r sieht K u r t Weber die entscheidende N e u e r u n g gegenüber den Landschaftsschilderungen i m

Werther, in d e m der Blick eines r u h e n d e n Beobachters wiedergegeben sei. Jean Pauls

Landschaften,

a.a.O., S. 41. 87

Ebd., S. 41.

88

In der Vorrede zu Quintus Fixlein beschreibt Jean Paul drei Wege, glücklich zu werden. D e r erste

lautet: »(...) so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß m a n die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern u n d Gewitterableitern von w e i t e m unter seinen F ü ß e n n u r wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht.« 1,4, S. 10.

Das Element der Bewegung

181

hervorgerufen. Jean Paul reiht Hauptsätze parataktisch aneinander; der Verzicht auf relativierende und damit retardierende Nebensätze verleiht der Szene den Duktus des Atemlosen, immer wieder neu setzt der Dichter an, wie ja auch immer neue Naturdinge in Viktors Blickfeld rücken; die Vielfalt der Konjunktionen spiegelt die rasche Folge der wechselnden Eindrücke, der gleiche Satzbau ihr gleichmäßiges, aber eiliges Fließen. Es geht - paradoxerweise — u m die Aufhebung der dichterischen Sukzession durch die Vorspiegelung eines Rundum-Sinneseindrucks, die traditionell »plastische«, »malende« Gattung wird auf diese Weise in Bewegung versetzt: (...) neue Hügel stiegen mit andern Lichtern auf und hoben ihre Wälder empor, und andre sanken mit den ihrigen unter - lange Schatten-Steppen liefen zurück vor heranfließendem gelben Sonnenlicht - bald strömten Täler voll Blumen um ihn, bald erhoben ihn heiße leere Hügel-Ufer - der Strom rauschte nahe an sein Ohr, und plötzlich blinkten seine Krümmungen entfernt über Mohnfelder herüber — weiße Straßen und grüne Pfade begegneten und entflohen ihm und zogen um die weite Erde - volle Dörfer rückten mit glimmenden Fenstern vorbei und Gärten mit entkleideten Kindern (...) 8 9

Eine vergleichbare Passage ist Albanos nächtliche Wanderung nach Lilar, die Albano unternimmt, weil sich dort die kranke Liane befindet. 9 0 Durch die D u n kelheit für die Sinneseindrücke von Geruch und Gehör geöffnet, läuft er »durch die italienische Nacht«, die u m ihn »schimmert und duftet«. 91 Von Pestitz aus folgt er der Lindenstädter Chaussee auf den Berg, von dessen weiter H ö h e er auf das blühende Lilar blickt, das wie ein Paradies unter ihm liegt. D o c h m u ß Albano, u m dorthin zu gelangen, einen Wald durchqueren, dessen Mitte zu einem blühenden Berg hinaufgewachsen ist. Er findet die Ö f f n u n g zu einem Laubengang, der ihn zugleich hinauf und tiefer in den Berg-Wald hineinfuhrt, »in eine immer tiefere Nacht hinein«. 92 Innen und oben angekommen hat Albano eine Vision, deren Bildlichkeit sie in die Nähe der Traumvisionen rückt, und an deren Höhepunkt er vom lichten Berggipfel »auf das herrliche unermeßliche Zauber-Lilar« blickt. 93 N o c h kennt Albano Liane nur aus den Erzählungen anderer, dennoch ist er durch Erzählungen auf ihre Gestalt gespannt, und mit dieser Spannung auf das besondere Ereignis beginnt jede der Wanderungen in die Landschaft bei Jean Paul. Die bedeutsame Ausgangssituation kennzeichnet auch den Beginn des Titan, der als geradezu prototypisch für Jean Pauls Auffassung einer »musikalischen«, mit dem Auge der Protagonisten gesehenen Landschaft gelten kann. Mit verbundenen Augen setzt man Albano und seine Begleiter nach Isola bella über, wo er seinen

89

1,1, S. 672.

90

Maienthal und Lilar sind idyllische Orte. Vgl. Webers Typologie der Schauplätze.

91

I,3,S. 122.

92

Ebd., S. 123.

93

Ebd., S. 124.

182

Kapitel V I

Vater treffen soll. Kurz vor Sonnenuntergang, zur Stunde des Abendrots treibt die Aufregung Albano hinaus ans Ufer des Sees. Die Fahrt steuert auf jenen Augenblick kurz vor dem Sonnenaufgang zu, der mit Albanos Ausstieg aus der Fähre zusammenfällt. Die »Handlung«, in diesem Fall die Uberfahrt, ereignet sich somit zwischen den beiden Polen von Abend- und Morgendämmerung, in j e n e m Zwischenstadium, das die »innere Welt« öffnet, begrenzt durch Nachtigallen- und Lerchenklänge und korrespondierend mit dem halbwachen Zustand, in dem der »verhangne Träumer« Albano sich befindet. 9 4 Im Moment des Sonnenaufgangs zerreißt Dian Albanos Augenbinde und eröffnet ihm damit das Panorama einer erhabenen Alpenlandschaft. In der folgenden Schilderung 95 werden wiederum Hauptsätze aneinandergereiht, aber die Parataxe ist keine Reihung von Einzelelementen - das verbieten schon der Bindestrich und die Konjunktion »und« - , sondern sie ist im Gegenteil offensichtlich von dem Wunsch Jean Pauls geprägt, das Sukzessive der dichterischen Beschreibung so weit wie möglich aufzuheben, der schweifende Blick des Betrachters, der dennoch in einem Augenblick das ganze Bild vor sich hat, soll in der Sprache Ausdruck finden.96 Der Ausruf: »Welch eine Welt!«, mit dem die Passage beginnt, soll die folgenden kurzen Hauptsätze im voraus bündeln. Auf dem Höhepunkt der Beschreibung flammen »Lärmfeuer« auf den Gipfeln auf, und damit findet die finale Transformation in Klang auch hier statt, aber nicht als vollstimmiges Klingen einer Weltenharmonie wie in der zitierten Hesperus-Passage, sondern, den Requisiten der erhabenen Naturschilderung gemäß, die ihre Bilder in den hoch aufragenden Alpen findet,97 als Feuer aus Lärm (statt Klang). O b Lärmfeuer oder Lerchenchor, Musik - im einen Fall Vogelgesang, im anderen als Metapher für das Alpenglühen - soll den höchsten Moment der Schilderung für den Leser festhalten und stillstellen. 98 Anschließend gipfelt

94

Ebd., S. 2 0 und 2 1 . »Ich wollt', ich hätte sie da und sah' es, wie mein Liebling mit dem unter-

bundenen Sehnerven auf ihr zugleich das gegen die innere Welt gerichtete Auge des Traumes und das gegen die äußere Welt gespitzte O h r der Aufmerksamkeit anstrengt.« Ebd., S. 2 1 . 95

D i e Begriffe Schilderung oder Beschreibung erscheinen hier unangemessen und wären von Jean

Paul selbst auch ohne Zweifel vermieden worden. 96

»Welch eine Welt! D i e Alpen standen wie verbrüderte R i e s e n der Vorwelt fern in der Vergan-

genheit verbunden beisammen und hielten h o c h in der S o n n e die glänzenden Schilde der Eisberge entgegen — die R i e s e n trugen blaue Gürtel aus W ä l d e r n — und zu ihren F ü ß e n lagen Hügel und W e i n berge - und zwischen den G e w ö l b e n aus R e b e n spielten die M o r g e n w i n d e mit Kaskaden wie mit wassertaftnen Bändern - und an den Bändern hing der überfüllte Wasserspiegel des Sees von den B e r gen nieder, und sie flatterten in den Spiegel, und ein Laubwerk aus Kastanienwäldern faßte ihn ein.« I, 3, S. 2 2 . Vgl. dazu die Interpretation des Titan-Beginns von R a l p h - R a i n e r W u t h e n o w : Probleme bei Jean

Allegorie-

Paul. Eine Vor-Studie. I n : J b J P G 5 (1970), S. 7 7 ff.

97

Vgl. den Ausruf: »Hohe Natur!«, mit dem der Schluß des 1. Zykels eingeleitet wird. I, 3, S. 2 3 .

98

Vgl. e i n e T h e s e G ö t z Müllers zur dichterischen Darstellung des Erhabenen: »Ein akustischer E i n -

druck, der >qualitativ< den >inneren Sinn< des Gehörs stark erschüttert, eignet sich zur analogischen Darstellung der dynamischen Fülle Gottes.« Jean Paul Ästhetik

und Naturphilosophie,

a.a.O., S. 131.

Das Element der B e w e g u n g

183

Jean Paul noch einmal eine temporale »Als«-Periode auf, bevor Albano ein zweites Mal die Augen verbunden werden: Geblendet von der gleißenden Sonne (dem Gottesbild in der Natur) m u ß er sie schließen und sich nach innen wenden (»da die Erblindung und der Glanz die Erde verdeckte und er einsam wurde« 99 ). Viktors Weg in die Landschaft ist zugleich ein Weg »in das Eden seiner Seele«. 100 Diese Beziehung ist komplexer, als sie scheint. Z u m einen bewirkt das Erleben der Naturerscheinungen paradoxerweise den Zugang zum inneren R a u m , zum anderen evoziert die bewegte Seelenstimmung erst eine bestimmte Wahrnehm u n g der Naturdinge, die Jean Paul in den Flegeljahren so formuliert: »die äußere Welt schien so beweglich zu werden wie die innere ist«.101 Der Beginn des Titan formuliert dieses Verhältnis anders und klassischer: Hier ist es die überwältigende Natur, die Albano blendet. Weber setzt die Form der Landschaftsbeschreibung durch parataktische A n einanderreihung von Hauptsätzen ausdrücklich von der Definition einer »bewegten« Landschaft bei August Langen ab. 102 Seit Langens Untersuchung zur verbalen Dynamik dichterischer Landschaften gelten Bewegungsverben »als Ausdruck seelischer Ergriffenheit«. 103 An Langens Ansatz bemängelt Weber zu Recht, daß dieser Jean Pauls Landschaften einseitig auf j e n e n Typus der »expressiven Bewegungslandschaft« festlege, der auf einer »Dynamisierung« der Natur beruhe und dessen Merkmal die »wenn«-Periode, eine Aufeinanderfolge von Nebensätzen sei, die schließlich in den lösenden Hauptsatz (»dann«) einmünde. Seine Ergänzung zu Langens Beobachtungen könnte man dahingehend zuspitzen, daß der oben zitierte parataktische Typus der Landschaft eine andere Form der Bewegung ausdrückt, nämlich eine, in der die Plastizität und panoramatische Gleichzeitigkeit eines visuellen Eindrucks dem Leser vermittelt werden soll. Die »Bewegung« ist hier dem Helden, u m den sich die Landschaftsdinge zu drehen scheinen, äußerlich. In den vielzitierten Wenn-Perioden, die Langen erwähnt, ist das anders. Auch diesen Beschreibungstypus, in dem eine Reihe von Nebensätzen aufeinanderfolgt, verwendet Jean Paul häufig. Hier dominieren Temporal- und Konditionalsätze, oft wird beides miteinander verknüpft. Charakteristisch sind die Anschlüsse »wenn« und »als« für die Nebensatzperiode, »da« und »so« für den abschließenden Hauptsatz. Fast immer folgt eine größere Anzahl solcher Nebensätze aufeinander. Die Aussparung des Hauptsatzes bewirkt eine atemlose Steigerung der Satzteile, eine zielgerichtete Rhythmisierung, an deren Ende man den endlich abschließenden Hauptsatz als H ö h e p u n k t erlebt, wie im folgenden Beispiel aus dem Hesperus:

99

1,3, S. 22.

100

1,1, S. 768.

101

1,2, S. 896.

102

Ebd.

103

August Langen: Verbale Dynamik

Z f d P h 70 (1949), S. 251.

in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts. In:

184

Kapitel VI

(...) w e n n er so einige Stunden mit s c h ö p f e n d e m Auge u n d saugendem H e r z e n gewandelt war durch Perlenschnüre betaueter Gewebe, durch sumsende Täler, über singende Hügel, u n d w e n n der veilchenblaue H i m m e l sich friedlich an die d a m p f e n d e n H ö h e n u n d an die dunkeln, wie G a r t e n w ä n d e übereinander steigenden W ä l d e r anschloß; w e n n die N a t u r alle R ö h r e n des Lebenstromes [sie] öffnete, u n d w e n n alle ihre S p r i n g b r u n n e n aufstiegen u n d b r e n n e n d ineinander spielten, von der S o n n e übermalt: dann w u r d e Viktor, der mit einem steigenden u n d t r i n k e n d e n H e r z e n durch diese fliegenden Ströme ging, von i h n e n g e h o b e n u n d erweicht; dann s c h w a m m sein Herz b e b e n d wie das Sonnenbild i m unendlichen O z e a n ( , . . ) 1 0 4

O h n e Zweifel ist es diese syntaktische Besonderheit in den Steigerungen Jean Pauls, die von den Rezipienten als »musikalisch« empfunden wurde. Die temporale Ordnung der Nebensätze bewirkt jedoch nicht - wie man vermuten könnte — eine »Verzeitlichung« des eigentlich plastischen Geschehens, sondern sie akzentuiert die Bedeutung der wahrgenommenen Landschaft für Viktor. Lag in den parataktischen Konstruktionen das Gewicht auf den fliehenden, sich hebenden und wieder absenkenden oder sich konzentrisch bewegenden Gegenständen, so dient diese Wenn-Periode keinesfalls dazu, der Leserschaft den Eindruck einer bewegten Natur zu vermitteln. 1 0 5 Hier soll die Aufmerksamkeit auf Viktors Gemüt gelenkt werden, der die Natur mit »schöpfendem Auge und saugendem Herzen« aufnimmt. Das Element der Bewegung ist hier in den Innenraum verlegt, obwohl Dinge der Außenwelt beschrieben sind oder, anders formuliert: Der Dichter vollzieht die Bewegung von Außen nach Innen syntaktisch nach. Im Titan ist die kleinräumige Schwingung, die Lecke als Element des Stimmungsbildes in der Literatur ausgemacht hatte, literarisch gestaltet. Albano und Liane befinden sich allein im Donnerhäuschen, wo sie sich — wortlos! — ihre Liebe gestehen. D e m überspannten Charakter Lianes entsprechend, oszilliert die Szene zwischen Liebes- und Todesempfinden. Albanos Niedersinken vor Liane folgt eine Art Todesverkündigung: »Plötzlich hör' ich ein himmlisches Konzert, wie nachher öfters in Krankheiten (,..)« 106 An Stelle einer verbalen Kommunikation Albanos und Lianes tritt »das Geistergetümmel der einsam miteinander redenden Töne«, wie auch an zahlreichen anderen Stellen die Musik an Stelle der Wortsprache »redet«. Daß es jedoch die Aolsharfe ist, die hier spricht (und nicht das Klavier oder ein anderes von Menschenhand gespieltes Instrument), ist Lianes ätherischer Natur geschuldet und verweist auf ihren baldigen Tod. Das Muster der empfindsamen Romane, in denen die Protagonisten unter Zuhilfenahme der M u sik zueinander finden, ist hier neu akzentuiert: Zwar sind es die Klänge der

104

1,1, S. 617.

105

K u r t Weber schreibt: »Bewegung ist das auffälligste M e r k m a l dieser Darstellung. Diese hat beide

Seiten erfaßt, die äußere Natur, deren Elemente sich regen, u n d den M e n s c h e n , dessen K ö r p e r u n d dessen Seele losstürmen.« Jean Pauls Landschaften, a.a.O., S. 41. 106

1,3, S. 347.

Das E l e m e n t der B e w e g u n g

185

Äolsharfe, die Albano zum Geständnis anregen, die Liebeshandlung ist jedoch stets in ein kosmisches Konzept integriert, das die beiden Liebenden nur Spieler in einem Weltganzen sein läßt, als dessen Bild die Aolsharfe firmiert. Das Vergehen im Einzelton, das den Mythos des Tons kennzeichnete, wie Jean Paul ihn vorwiegend in den Traumdichtungen bebildert, markiert auch hier das Sterben, zeichenhaft als Ton von Lianes Glasharmonika. Weit vorher hatte Jean Paul schon einen Vorschein auf dieses Sterben gegeben, in der oben beschriebenen Vision Albanos auf dem Weg nach Lilar, noch bevor er das Mädchen überhaupt zum ersten Mal gesehen hat. Einige Zykel später betreten Albano und Liane noch einmal gemeinsam das Donnerhäuschen. Während sie das Liebesempfinden als »gewaltsame Freude« »durchschauert«,107 fährt der Wind einmal mit ganzer Kraft in die Aolsharfe, die sich im Luftzug des offenen Häuschens befindet. Der kurze Moment des Liebesgeflihls und das vollstimmige Klingen des Instruments lassen die Liebenden sich als Teil des vielstimmigen Universums begreifen, so daß Liebe und Allgefiihl hier zusammentreffen, wie meistens bei Jean Paul. Im Fortgang der Szene setzt sich das Paar in stiller Harmonie ans Fenster und blickt auf die nun sanft bewegte äußere Natur: »Wie entronnen blickten sie, von dieser Burg beschirmt, hinab in die rauschende, bewegliche Welt«.108 Der Wind bläst in die Sommerlandschaft, und mit Hilfe von Jean Pauls »Lieblingswörtern«109 »flattern«, »rauschen« und »fliegen« wird der Eindruck einer sanften Bewegung vermittelt. 110 Nicht eine zielgerichtete Bewegung evozieren diese Wörter, eher ein In-sich-Schwingen ohne bestimmte Richtung. Das erweist auch der Blick auf andere Passagen: »Rollen«, »fliegen«, »stürmen«, »schwanken«, »sinken« und »wehen« sind die Verben in der zuvor zitierten Szene zwischen Albano und Liane. Diese Verben evozieren Raum, gerade, weil ihnen die eindeutige Bewegungsrichtung fehlt. Die gemütsbewegten Protagonisten befinden sich in einem zitternden All-Raum. 111 Doch muß dieses Mitschwingen des Universums nicht im Einklang mit den Protagonisten stehen, es kann deren psychische Disposition auch kontrastieren, wie in der folgenden Passage:

107

1,3, S. 390.

108

Ebd.

109

Vgl. Pfotenhauer: Bilderfluch und Bilderflut, a.a.O., S. 12.

110

Ü b e r Albano sagt Jean Paul: »(...) o h n e W i n d war i h m eine Landschaft eine steife festgenagelte

Wandtapete (...)« 1,3, S. 332. 111

Vgl. auch die Bildlichkeit in O t t o m a r s Vision der Vernichtung: »(...) der durchschnittne Äther

klang mit u n e r m e ß l i c h e n Saiten lange nach.« I, 6, S. 263. Bereits Weber hat darauf hingewiesen, daß der H ö h e p u n k t der Jean Paulschen Satzbildungen u n d damit das Ziel der W a n d e r u n g e n , inkonkret bleibt: »Das Ziel aber, auf das alles hindrängt, ist räumlich nicht auszumachen. Es liegt im Einswerden, liegt in einer unio mystica, in der M e n s c h u n d N a t u r sich zusammenschließen.« Jean Pauls Landschaften, a.a.O., S. 41.

186

Kapitel VI

Etwas blieb in i h m [Albano] u n h a r m o n i s c h u n d unaufgelöset; er fühlt' es so sehr, da die S o m m e r n a c h t fur h ö h e r e E n t z ü c k u n g e n schimmerte, als er hatte - da der tief i m Äther zitternde Abendstern der S o n n e durch die Wolkenrosen nachdrang, w o r unter sie begraben war - da die Ährenfluten d u f t e t e n u n d nicht rauschten, u n d die zugeschlossenen A u g e n g r ü n t e n u n d nicht glühten — u n d da die Welt u n d j e d e Nachtigall schlief, u n d da das Leben u n t e n ein stiller Klostergarten war, u n d n u r o b e n die Sternbilder als silberne Ätherharfen vor Frühlingswinden ferner Erden zu zittern u n d zu t ö n e n s c h i e n e n . " 2

D e m bewegten Inneren Albanos entspricht die stille Natur hier nicht: Das Getreide duftet nur, rauscht aber nicht, die Nachtigall singt nicht und nur die fernen Sterne, nicht die Naturdinge, scheinen zu zittern und zu tönen. In der oben beschriebenen Passage bleibt der Betrachterstandpunkt unverändert, Albano und Liane verlassen das Donnerhäuschen nicht. Sie stehen der bewegten Natur gegenüber, deren Außeres ihr Inneres gibt. Das In-sich-Zittern und kleinräumige Schwingen steht für eine zeichenhaft bewegte Natur, die aber niemals zum bloßen Spiegel eines menschlichen Inneren wird, sondern stets auch das Wirken Gottes verkörpert, gemäß Jean Pauls Uberzeugung, daß »die körperlichen Faser« der Natur nichts seien als »die Flöten-Ansätze und Dis- und Fisklappen der ungespielten Harmonie«. 1 1 3 Das Versinken der Sonne ist dabei häufigVoraussetzung flir jenen »dämmernden, von Melodien durchwehten Wirrwarr«. 1 1 4 Von synästhetischen Sinneswahrnehmungen, einem Doppelempfinden, Farbenhören undTönesehen kann nicht die R e d e sein, vielmehr öifnet das Versinken der Sonne, das Schließen der Augen erst die Ohren, die — solcherart geschärft — den tönenden U r g r u n d der Welt zu vernehmen vermögen. Umgekehrt signalisiert das T ö n e n der Naturdinge das Verblassen ihrer visuellen Erscheinung, das Verschwimm e n ihrer deutlichen Kontur und die Anwesenheit Gottes: Höre, Julius, j e t z o t ö n e n die Gärten — die Luft s u m m e t — die Vögel durchkreuzen sich r u f e n d - der S t u r m w i n d h e b t den g r o ß e n Flügel auf u n d schlägt an die W ä l der; höre, sie geben das Z e i c h e n , daß unsre gute S o n n e geschieden ist . . . 1 1 5

Der »musikalischen« Landschaft entspricht damit eine »musikalische« Seele. D e n n die Natur als solche tönt nicht, die Klänge werden durch die Seelenstimm u n g erst erzeugt. 116 So hört Viktor zu Beginn seiner Reise »den musikalischen

112

1,3, S. 365.

113

1,1, S. 1181. Diese Eigenart Jean Pauls dient Esselborn dazu, den Dichter von der E m p f i n d s a m -

keit abzugrenzen: »Mensch u n d N a t u r sind also nicht wie in einer empfindsamen Landschaft einfach parallelisiert, s o n d e r n letztlich ü b e r den GottesbegrifF vermittelt.« Hans Esselborn: Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls. T ü b i n g e n 1989, S. 184. 114 115

1,1.S.953. Ebd., S. 888.

116 Novalis schreibt: »Alle T ö n e , die die N a t u r hervorbringt sind rauh - u n d geistlos - n u r der musikalischen Seele d ü n k t oft das R a u s c h e n des Waldes — das Pfeifen des Windes, der Gesang der N a c h t i -

D i e E v o k a t i o n des R a u m e s

187

Wirrwarr im Wäldchen«, 1 1 7 dem die Sonne den Einsatz gibt. Jean Paul bietet fur einen seiner höchsten Momente stets das ganze Inventar auf: Die besondere Situation eines Reiseantritts, die freudige Stimmung in Erwartung großer Ereignisse, einen Sonnenauf- oder -Untergang. Dabei ist die Sonnenuntergangsstimmung stets eine der leisen oder fernen Töne, während im gleißenden Licht der Mittagssonne die Naturdinge vollstimmig tönen. Nicht von ungefähr verwendet Jean Paul hier Theatermetaphorik (»wenn gerade die Sonne ihr Theater betrat« 1 1 8 ), Viktor betritt den Wald wie eine Bühne. Hier wäre der Begriff der Synästhesie eher angebracht, aber auch nicht wirklich treffend.Jean Pauls Helden hören nicht Farben, sondern sie werden durch die Wirkung von Farben auf die Existenz von T ö n e n aufmerksam gemacht.

5. Die Evokation des Raumes T ö n e sind es auch, die den R a u m in der Dichtung öffnen. Kurt Weber vertritt die These, die Unterscheidung zwischen dem Plastischen und dem Musikalischen, die Jean Paul in der Vorschule vornimmt, manifestiere sich auch in seinen eigenen Landschaften: »Das eine Mal wird die Erscheinung der Dinge im R a u m akzentuiert, das andere Mal die in der Zeit.« 1 1 9 In Jean Pauls Definition ist dies so nicht enthalten, was an sich noch nicht gegen die Richtigkeit der Beobachtung spräche. Raumwirkungen sind in den entsprechenden Passagen tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Die Langen zufolge für die Bewegungslandschaft charakteristischen Verben mit richtungweisenden Präfixen (»hinunterwehen«) stiften die räumliche Dimension; deswegen sind das Plastische und das Musikalische schwerer zu trennen, als Webers These suggeriert. Bei Jean Paul kommen richtungweisende Präfixe auffallend selten vor. Dennoch verwendet er ein traditionelles Mittel, R a u m in der Dichtung zu gestalten, ferne oder leise Töne. In der Unsichtbaren Loge ist einer der »magischen Abende« beschrieben, wie sie bei Jean Paul so beliebt sind, diesmal Beatas Geburtstag. 1 2 0 Die fünf Gäste ersteigen »eine kleine gall, das Plätschern des B a c h s melodisch u n d bedeutsam.« Schriften, a.a.O., B d . 2: Das

philosophische

Werk I, S. 5 7 3 f. 1,7

1,1.S.614.

118

Ebd.

119

Jean Pauls Landschaften,

a.a.O., S. 46. Bereits Meyer hatte von der »raumbildende[n] Kraft der

T ö n e « gesprochen .Jean Paul. >FlegeljahreGenius< unsichtbar an d e m Feste der >hohen< M e n schen teilnimmt, zu deren Kreise ihn J e a n Paul ausdrücklich rechnet.« A . a . O . , S. 171.

188

Kapitel V I

künstliche Anhöhe«, u m den Sonnenuntergang zu beobachten. Die Tageszeit mit ihrer Abendröte bildet, wie stets, die Kulisse fur das Hinüberschauen in die zweite Welt, ebenso wie die Position der Betrachter, auf halber H ö h e zwischen Unten und Oben, zwischen Welt und Gegenwelt. In dieser Situation erklingen, der Fünfzahl der Protagonisten entsprechend, fünfAlphörner, die in einiger Entfernung auf einer anderen Insel piaziert sind. Die Stimmung des magischen Abends (»vor der untergehenden Sonne und nach dem schönsten Tage«) schafft die Empfänglichkeit für die Töne, die mit allen Sehnsuchtsgegenständen belegt werden: »Arkadien und Tempe und Jugend-Auen«. 1 2 1 Der Augenblick des Hinüberschauens ist seinem Wesen nach vergänglich, deswegen müssen auch die T ö n e bald verstummen: E s ist wieder vorüber - alle T ö n e verhallen — alle Wellen versinken — die schönsten S t u n d e n schlagen aus, u n d das L e b e n verrinnt — (.. , ) 1 2 2

Das Alphorn ist nicht nur ein Naturton-Instrument, es ist vor allem ein traditionelles Symbol für Ferne, es realisiert die »Einheit von N a h e m oder Fernem«, 1 2 3 oder es wird »zum musikalischen M e d i u m zur Evozierung der Vorstellung von Ferne«. 1 2 4 Alphörner in literarischen Texten haben stets eine historische Dimension; das durch die Rezeption der Werke Rousseaus gesteigerte Verständnis der Alpen als idealischer Landschaft kontextualisiert den Gebrauch dieser Naturtoninstrumente. Als einfaches Instrument der Alphirten evoziert das Horn ein Gefühl der Heimat, auch wenn für die Feiernden auf der Molucke Teidor das H o r n diese Bedeutung eigentlich nicht haben kann. 1 2 5 Das H o r n als Zitat wird dennoch von den Protagonisten (und mit ihnen den Lesern) umstandslos verstanden. Die einfachen fernen Klänge suggerieren die Gegenwart des eigentlich längst Vergangenen, das sie als Bildfragmente in der Seele verankern, deswegen werden die T ö n e in der Seele lauter. Das Hinüberschauen in die andere Welt ist mit dem Gesichtssinn nicht möglich. R a u m und Zeit sind daher in Jean Pauls Landschaften nicht zu trennen, schon gar nicht in der Weberschen Assoziation mit dem Plastischen und dem Musikalischen. Gerade die fernen oder leisen T ö n e suggerieren räumliche und zeitliche Ferne. Auch Alewyns Aufsatz über Eine Landschaft Eichendorffs handelt von der Evokation des R a u m e s . Der Autor weist die Bedeutung der unkörperlichen Ele-

121 122

1,1,S.407. E b d . , S. 4 1 2 .

123 Vgl. Arnfried Edler: > Glanzspiel

und Seelenlandschaft'.

Naturdarstellung

in der Oper bei Weber und Ros-

sini. In: Weber — Jenseits des >FreischützFlegeljahre< gesehen im Rahmen

ihrer Kapitelüberschriften, a.a.O.,

Bd. l , S . 7 0 f . 11

G ö t z Müller:Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, a.a.O., S. 139.

Zusammenfassung

193

Kraft zu setzen. Der Gang auf den Berg endet mit einem vollstimmigen Klingen, das die Protagonisten ganz umfängt und den visuellen Sinneseindruck der panoramatischen Aussicht in einen auditiven transformiert. Im höchsten M o m e n t wird dabei das T ö n e n stets zu einem einzigen Ton fokussiert und damit zugleich als inneres T ö n e n der Protagonisten ausgewiesen. Jean Paul rückt damit die Thematik eines Innenwelt-Außenwelt-Verhältnisses aus dem Blick: O b das Ich sich in die Welt setzt oder die Welt ins Ich dringt, kann und soll nicht eindeutig entschieden werden. Der Einsatz von Musik in Jean Pauls Landschaften ist damit auch als Beitrag zur Rezeption der Philosophie Fichtes zu werten. Nicht ohne Unwillen konstatiert Novalis: »Es ist einerley, ob ich das Weltall in mich oder mich in das Weltall setze. Spinotza sezte alles heraus - Fichte alles hinein.« 12 An anderer Stelle fragt er: »Ist denn das Weltall nicht in uns?«13 In Jean Pauls Landschaften setzt das Ich sich nicht im Fichteschen Sinn ein Außen, sondern es trägt Elemente des eigenen Seins in die Außenwelt, u m von ihr umgekehrt Elemente zu empfangen. Wenn wir den Gegensatz von Innenwelt und Außenwelt und seine Aufhebung als ein Grundthema von Jean Pauls Dichtung ansehen, 14 so wäre zu konstatieren, daß auch die Musik hier eine Rolle spielt. Die Passagen in Jean Pauls R o m a n e n , in denen beschriebene Musik vorkommt, haben alle eins gemeinsam: Den Verzicht auf die Erscheinungswelt (durch Blindheit oder Dunkelheit, die in j e d e m Fall eine Loslösung von der aktuellen Handlungssituation bewirkt und damit das K o m munikationsschema der Konzertszenen in empfindsamen R o m a n e n konterkariert) und die Transformation von konkreten, wirklichen T ö n e n in ein unbestimmtes, allgegenwärtiges, inneres T ö n e n . Es scheint, als wolle Jean Paul nicht den Gegensatz zwischen Innen und Außen in der Dichtung aufheben, sondern dessen Vorhandensein grundsätzlich in Frage stellen. Offenbar ist das nur durch Musik möglich. Das Hören von Musik birgt fur die Protagonisten stets ein M o m e n t der gewünschten Loslösung, wie die Romananalysen zeigen werden: der Loslösung Viktors von seiner Verliebtheit in Klotilde und die Hinwendung zu j e n e m höchsten Gedanken, die Präsenz des Todes durch T ö n e in Albanos und Lianes Zusammensein, die Emanzipation Walts vonVults Flötentönen.

12

Schriften, a.a.O., Bd. 3: Das philosophische Werk II, S. 382.

13

Ebd., Bd. 2: Das philosophische Werk I, S. 418.

14

»Es ist die Paradoxie seiner D i c h t u n g , daß sie, die d o c h v o n dieser Welt sprechen, nicht von dieser

Welt sein will; daß sie, in der der Gegensatz zwischen d e m Inneren u n d d e m Ä u ß e r e n sich thematisiert, als D i c h t u n g eben diesen Gegensatz a u f z u h e b e n beansprucht.« Wölfel: >Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhaüu, a.a.O., S. 266. D e n Verlust der Grenzen zwischen I n n e n - u n d A u ß e n w e l t h a t te Jean Paul j a bereits in Schulmeisterlein Wutz thematisiert. W u t z schließt die Fensterläden u n d sperrt damit die Welt aus, erblickt aber dann in der Fensterscheibe das Bild seines Stubeninneren u n d m u ß sich damit selbst als Ausgesperrter fühlen, der von außen in die Stube hineinblickt. Wutz verliert damit die Möglichkeit einer klaren Grenzziehung zwischen Innen u n d Außen.Vgl. dazu Wölfel, ebd., S. 262 f. Jean Pauls Idylle bildet auch den Ausgangspunkt für G e r t r u d Lehnerts Aufsatz: Verlorene Räume. Wandel eines Wahrnehmungsparadigmas in der Romantik. In: DVjs 69 (1995), S. 722 f.

Zum

194

Zusammenfassung

Das oben skizzierte Dreiecksverhältnis zwischen Landschaft, Seele und Musik, das ja nicht nur zur Erklärung der Musik in den Landschaften dient, sondern auch die in der Tat schwierige dichterische Aufgabe anspricht, musikalische Eindrücke adäquat zu beschreiben, greift dennoch zu kurz: Musik im Text signalisiert, daß es keine Trennung zwischen Außenwelt und Innenwelt gibt. Vor diesem Hintergrund ist auch der Eindruck des Musikalischen noch einmal zu beleuchten: Er liegt nicht nur im Rhythmus der Sprache Jean Pauls. Durch die Kopplung von Handlung und Musik werden Darstellungszeit und dargestellte Zeit eins. Indem Musik dem Geschehen beigegeben wird, wird der Zeitablauf suspendiert, das Zusammenkommen der beiden Zeitkünste Dichtung und Musik sorgt paradoxerweise für zeitlichen Stillstand und markiert damit für den Leser den herausgehobenen Augenblick. Hier wird nicht durch die Sprache die Natur in ein Produkt der Innenwelt verwandelt, sondern durch Musik dem Leser suggeriert, daß die Protagonisten nicht mehr wissen müssen, wo innen und wo außen ist. Die Unentschlüsselbarkeit der Bildlichkeit Jean Pauls ist in der Tat ein musikalisches Element im Erzähltext: Sie bedeutet nur sich und verkörpert damit den Mythos einer Instrumentalmusik, die auch nur auf sich selbst verweist. Dennoch sind die Interpretationen, die den Landschaften und den Tönen wechselweise eine Brückenfunktion zuweisen, berechtigt, denn natürlich ist Dichtung aufVermittlung aus, und Jean Pauls Wunsch, diese Vermittlung vergessen zu machen, wird vielleicht nicht immer realisiert.

ZWEITERTEIL

Kapitel VII Unsichtbare Loge und Hesperus oder 45 Hundposttage Vorschein der anderen Welt

Der 19. Hundposttag des Hesperus mit dem Gartenkonzert des Violinvirtuosen Stamitz steht im Mittelpunkt der meisten Untersuchungen zu Jean Pauls Bedeutung für die Musikästhetik des späten 18. Jahrhunderts. Der R o m a n erweist sich dabei - wie in der Einleitung meiner Arbeit erwähnt - als Werk des Übergangs. So interpretiert Miller »die Entstehung der romantischen Musikauffassung aus der Ubersteigerung der empfindsamen Schwärmerei«, 1 während Dahlhaus das innovative Potential der im Hesperus enthaltenen Ansichten über die Musik würdigt; er schreibt, der Dichter habe mit jener Passage einen neuen »>Ton< des Sprechens über Musik« gefunden 2 und sei in der Übertragung des »Unsagbarkeitstopos« auf die Instrumentalmusik als unmittelbarer Vorläufer der von Wackenroder begründeten romantischen Musikästhetik zu sehen. 3 Es ist nicht zuletzt die zeitliche Position des Romans, die ihn für diesen Ansatz prädestiniert, datiert man doch u m 1795 den Beginn der Frühromantik. Ein Jahr später erscheinen die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders als Gemeinschaftsproduktion der Freunde Wackenroder undTieck, 1798 dann Ludwig Tiecks R o m a n Franz Sternbalds Wanderungen. In Wackenroders Beig/in^er-Novelle liest man den Übergang von einer an der empfindsamen Ästhetik orientierten Musikanschauung zur romantischen Metaphysik der Tonkunst, und in ähnlicherWeise dient das 19. Hesperus-Kapitel dem Nachweis eines ästhetischen Übertritts, nämlich vom tränenschweren Musikfühlen der Empfindsamkeit zum schmerzlichen Bewußtsein jenes u n n e n n baren Wunsches der Romantiker, dessen Unsagbarkeit zur Voraussetzung allen

1

N o r b e r t Miller: Musik als Sprache, a.a.O., S. 271. U n d : »(...) die U n t e r s c h e i d u n g zwischen einer

Musik als Mittel z u m Z w e c k der E r h e b u n g u n d einer Musik als freiem Nachklang der Unendlichkeit ist n o c h fließend; gleichgewichtig b e h a u p t e n sich die Situation des Gartenfestes, die verdunkelte Laube u n d das Z i e h e n der Wolken, aber auch die seelische Gestimmtheit der Person, neben u n d vor d e m E i n druck der Musik (...)« Ebd., S. 270. 2

Carl Dahlhaus (Hg.): Musik zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus dreiJahrhunderten, a.a.O.,

S. 175. 3

»In der Passage (...), in der Musik als Ausdruck eines »großen, u n g e h e u r e n Wunsches< erscheint,

>dem nichts einen N a m e n geben kannIch und D u « . 1 1 3 Hier j e doch antworten »ungehörte« Echo oder vielmehr: sie antworten einander nicht, weil sie versiegen, getrennt sind von einer möglichen Kommunikationsebene des Liebespaares. Die T ö n e der Echos heben die blumenbedeckten »Schlummerhügel«, in denen Klotilde steht, bis sie schließlich in ihnen versinkt: »die Vergißmeinnicht ragten endlich an die untergesunkenen Augen voll seliger Tränen und überblühten sie«.114 N u n hat auch Klotilde jenen Zustand des Nicht-mehr-sehenKönnens erreicht und ist damit bereit für ein höheres Sehen, für den Ubertritt in die zweite Welt. Daß dieser vollzogen ist, signalisieren »weiße Schmetterlinge, weiße Tauben, weiße Schwanen mit ausgespannten Flügeln« [Hervorhebung J.P.], die den Flug der Seele illustrieren.Weiß ist auch die Farbe des Pythagoreers Emanuel, der als »großer Schatten« nach dem »Begraben« erschienen war. Es scheint fast, als sei er der Mahner, 1 1 5 der die Liebe der Protagonisten an einen utopischen O r t verweist. Offenkundig wird seine und die Macht seines Gedankenguts über Viktor in dieser Traumsequenz. N o c h als Viktor erwacht, ruft »eine untersinkende Stimme« ihm zu: »Ruhe du auch!« Es muß nicht notwendig Klotildes Stimme sein, die hier ruft. Die Beziehung bleibt in der Schwebe, ob Klotilde die A r m e ausbreitet, u m Viktor zu umarmen oder als Zeichen des freien Flugs ihrer Seele, ist ungewiß.

1.2

Von der »Opposition von Liebe vs. Distanz« sprechen Hans Geulen u n d Andreas Gößling. >Stand-

hafte Zuschauer ästhetischer LeidenHesperusBilderschrift< Jean Pauls. B e r n ,

230

Exkurs: Musica humana

Lenette tat, was sie konnte, um die Risse ihrer Haushaltung wie Risse des Porzellans mit Blumen zu übermalen,...

Mit dem Vergleich bleibt Jean Paul im Bildbereich des Bildempfängers, Lenettes Haushaltung wird mit einem Vergleich aus dem Hauswesen erläutert. Dann wird jedoch — unnötigerweise - eine musikalische Metapher beigefügt: ... und sie legte immer Partituren auf, worin gerade die abgesprungene Saite eines Möbels nicht anzuschlagen war. 16

Zum Verständnis braucht der Leser die Kombination von Vergleich und Metapher nicht. U m Verständlichkeit ist es Jean Paul auch nicht zu tun. Mit seinen M e taphern will der Dichter nicht wirklich klären und offenlegen. 17 Die Metapher gibt eine Schein-Erläuterung des Gemeinten, weil sie einerseits unnötig, andererseits als solche nur für den Musiktheoretiker fungiert, sie ist also doppelt überflüssig und rein artifiziell. Wohl oder übel vergeistigt die Musikmetapher Lenettes Körperliches oder verkörpert ihr Geistiges. Das Kriterium der Inkommensurabilität wird zwischen Lenette und der Musik erfüllt wie sonst nirgends. Der Eindruck der Ungleichheit belastet das zarte Verhältnis der Ähnlichkeit zwischen der kleinbürgerlichen Lenette und der in dieser Zeit alle Dichtersehnsüchte tragenden Musik so stark, daß die Wirkung eigentlich nur in möglichster Unähnlichkeit gesehen werden kann. Individualisiert wird bis ins kleinste, besonders dort, wo Instrumente so genau beschrieben werden, daß sie Personen zu sein scheinen. Aber widerspricht das nicht dem metaphysischen Anspruch, den Musik doch nicht zuletzt befriedigen soll? Sind die Metaphern möglicherweise eine Kritik am romantischen MusikSchwärmen, entspringen sie einem Bedürfnis, das Gegenteil zu versuchen? Lenette poltert und putzt allvormittäglich, so daß Siebenkäs bei der Arbeit ständigen Störungen ausgesetzt ist. Ihre Morgenmusik ist also von Sphärentönen denkbar weit entfernt. Die Musikmetaphern haben hier satirisches Potential. Ist die Metapher nach Weinrich ein »fremdes Wort«, die »kühne Metapher« in Anlehnung an Aristoteles ein als besonders fremd empfundenes Wort, 1 8 so lautet das Postulat bezogen auf die Musik: Sie ist die fremde Sphäre. Wenn die Musik die romantischste der Künste ist, so ist sie natürlich von einem R o m a n der niederländischen Schule am weitesten entfernt. Es verwundert daher auch kaum, daß die Dichte der Musik-Metaphern — in Zahlen gemessen — im Siebenkäs am höchsten ist, ausgerechnet in der Geschichte vom Armenadvokaten und seiner Ehehälfte.

16

1,2, S. 803 f.

17

Bereits Rasch (und andere) hatten auf die Autorintention der »Verfremdung und Verrätselung«

hingewiesen. Metaphernspiele und dissonante Strukturen, a.a.O., S. 94. 18

Vgl. Harald Weinrich: Semantik der kühnen Metapher. In: DVjs 37 (1963), S. 325 ff.

Exkurs: Musica h u m a n a

231

Die meisten der Metaphern dienen der Charakterisierung Lenettes, die das umgekehrt Erhabene repräsentiert; um arbeiten zu können, muß Siebenkäs sich ihrer entledigen. Beruht das humoristische Prinzip darauf, das Kleine am Großen zu spiegeln, so gründet sich seine Übertragung auf den Bereich der musikalischen Metaphorologie offenbar darauf, daß die Alltäglichkeiten des Lebens mit der romantisch gedachten und gewünschten Kunst Musik kontrastiert und damit der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Bezogen auf die in den »hohen« Szenen der Romane so weitschweifig als Kunst des Unendlichen, Nicht-Begrenzten etablierte Musik, verfällt die Prosa des Lebens zu wesenlosem Staub. Das Aufflackern des Unendlichen kann die Musik immer leisten, egal ob sie humoristisch eingesetzt oder einer »hohen« Szene beigegeben ist. Jean Paul verwirklicht seine Poetik speziell im erzählerischen Umgang mit Musik: Die Verknüpfung des Endlichen mit dem Unendlichen bzw. des Erhabenen mit dem umgekehrt Erhabenen ist nicht nur wesenhaft für Jean Pauls Dichtung. Sie erscheint geradezu als Prinzip der Jean Paulschen MusikmetaphernBildung. Doch Jean Paul wäre nicht Jean Paul, wenn ihm der Bildbereich Musik nicht zugleich dazu diente, seinen Protagonisten, seien es »hohe« Menschen oder nicht, seine Sympathie zu bezeigen. Indem Jean Paul diese vor den potientiell unendlichen Spiegel der Musik stellt, läßt er sie zugleich an dieser Unendlichkeit teilhaben. Überdies steht vor der satirischen Intention immer die Lust am Wortspiel und an der gelehrten Verknüpfung dessen, was nicht zusammengehört. Die metaphorische Verwendung musikalischer Details ist natürlich kein einseitig humoristisches Verfahren. Empfindsame Metaphern existieren neben solchen, die komisch wirken; die Bildspender und Bildempfänger sind dementsprechend zu unterteilen. Die Bildspender-Typen stammen aus der Musiktheorie: aus Satz- und Melodielehre, aus Instrumentenkunde und Vortragslehre. Wichtiges bildliches Potential birgt naturgemäß das Bildfeld Stimmung/Verstimmung, repräsentiert durch unaufgelöste Vorhalte oder Dissonanzen, nah oder entfernt verwandte Tonarten. Die empfindsamen Metaphern gehen zurück auf die traditionelle Vorstellung einer naturgegebenen Verwandtschaft der Seele mit den Tönen, wie Rousseau, Herder und Schubart sie formuliert hatten. Herder hatte den Schall antikisierend als »die Stimme aller bewegten Körper, aus ihrem Innern hervor«19 bezeichnet: »Er drückt ein Inneres aus; er bewegt ein Inneres.«20 Uber die Instrumente sagt er, sie seien »alle doch unsrer Mitempfindung verständlich«.21 Die innige Verwandtschaft

19

H e r d e r : Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 22, S. 63.

20

Ebd., S. 62.

21

Ebd., S. 63.

232

Exkurs: Musica humana

derTöne mit der menschlichen Seele ist der beherrschende Rezeptions-Topos der Jahre vor 1800. Alles, was in der Natur tönt, ist fiir die Seele Musik. Folglich finden sich hier vor allem Bildspender aus dem Bereich der Naturtöne sowie aus der antiken Musiktheorie, z. B. das Monochord. Die Musikmetaphern dienen dazu, das Bewußtsein, daß der Mensch nur ein Rädchen im Weltgetriebe ist, im Text wachzuhalten. 22 Der Körper »ist die Tastatur der innern Harmonika durch alle Glocken hindurch«, 23 wie das ganze All »nur eine Aolsharfe ist, (...) vor einem göttlichen Hauche ruhend«, 24 und das Universum mit einem »Konzertsaal« verglichen wird. 25 Das Kontrastprinzip betrifft dabei nicht nur die Mikrostruktur der einzelnen Metapher, sondern auch die Makrostruktur des Textes, in dem humoristische neben empfindsamen Metaphern stehen. Der krasse Gegensatz zwischen dem oben beschriebenen humoristischen Einsatz musikalischer Metaphorik im Siebenkäs und ihrer Verwendung in Passagen gesteigerten Gefühls bedingt eine weitgehende Trennung zwischen den Bildspendern. Lerchen- und Nachtigallenklänge und Kuckucksrufe sind der empfindsamen Sphäre vorbehalten, ebenso die Äolsharfe, die Viola d'Amore, die Glocke, das Waldhorn und die Harmonika. Gleiches gilt fiir das Echo und die Sphärenklänge. Intervall-Metaphern kommen sowohl im humoristischen als auch im empfindsamen Bereich häufig vor, und zwar im ersteren überwiegend als Dissonanzen, im letzteren überwiegend als Konsonanzen. Jean Pauls Gebrauch der konsonanten Intervalle ist stark kanonisiert. Konsonanzen bezeichnen fast immer den emotionalen Gleichklang zwischen Liebenden oder die Freundschaft zweier Männerseelen. Ist die Verbindung gestört, so schleichen sich Dissonanzen oder Mißtöne ein, schmerzlich unaufgelöste Vorhalte oder Akkorde. Damit erhält der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts seine metaphorische Illustration. Uber Siebenkäs und Leibgeber heißt es: Zwei solche Freunde wie diese haben in ähnlichen Lagen immer gleiche Gedanken;jeder ist, wenn nicht das Unisono, doch die Oktave, die Quinte, die Quarte des andern. 2 6

Die Instrumente werden sowohl auf dem Gebiet der humoristischen als auch auf dem Gebiet der empfindsamen Metapher verwendet, und zwar grundsätzlich

22

»Die Hörbarkeit ist eben eine Ankündigung der Natur, daß dasVorgefallne in unsre Sphäre der

Existenz hineingehört, daß es uns betreffen kann.« A.W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Kunst und Literatur. In: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Vorlesungen über Ästhetik I (1798—1803), a.a.O., S. 378. 23 24

1,4, S. 603. 1,1.S.680.

25

Ebd., S. 1096.

26

1,2, S. 837.

Exkurs: Musica humana

233

nach folgender Regel: Im empfindsamen Bereich, der von den musikästhetischen Vorstellungen von vor 1790 beherrscht wird, sind fast immer Naturton-Instrumente die Träger der Metapher. Hier verstimmt nichts von Menschenhand, der Klang kann nicht mißtönend werden durch Fremdeinwirkung. Ist von Flamins Brust die Rede, so vergleicht Jean Paul sie mit einer »Äols-Höhle«,27 ebenso spricht er von den »unisonen Äolssaiten dieser vieltönigen Seele« Lindas.28 Geht es jedoch um dissonante Persönlichkeiten oder um menschlich dissonantes Verhalten, so wählt der Dichter gern das Bild von der Harfe, die mit Pedalen umgestimmt werden kann, oder des Pianofortes, dessen Ton durch Gebrauch der Pedale verändert werden kann, beides hochentwickelte, im 18. Jahrhundert ständig verbesserte Instrumente, Träger des musiktechnischen Fortschritts, Antipoden eines »natürlichen« Tons. Zum Bildfeld Stimmung/Verstimmung gehört auch das Motiv der gespannten Saite, die bei Uberspannung reißt. Das Bild steht für die hochempfindliche menschliche Seele, die bei emotionaler Uberspannung springt. So schreibt Jean Paul über das Stimmen in einem Haus voll schöner Töchter halb humoristisch: »Gelegenheit zu Saiten-Rissen«. Geht es mehr um Stimmung als um Spannung, sind es ohnehin meist »die Weiber«, die Jean Paul spöttelnd in Vergleiche und Metaphern kleidet, etwa, wenn es heißt: Die Weiber stimmen gewöhnlich, wie Harfenisten, mit geringen Fußtritten die ganzen T ö n e der Wahrheit unter dem Spielen zu halben u m . 2 9

Ahnlich heißt es über Raphaela, den negativen Frauentyp in den Flegeljahren, als sie ihre Rede an Walt richtet: Sie »stimmte den Ton so schleunig um, daß man das Hinaufstimmen vernahm«. 30 Was nun das metaphernbildende Verfahren angeht: Natürlich gibt es unterschiedliche Ausprägungen musikalischer Metaphern bei Jean Paul. Die syntaktisch einfachsten sind die Ein-Wort-Metaphern, die meist auch in der Dekodierung am unkompliziertesten sind. Sie lassen sich mit der antiken Substitutionstheorie 31 fassen: Ein Wort wird durch ein anderes ersetzt. Beispiele sind: Die »hohe Oper des Sonnenuntergangs«, 32 der »Pralltriller eines Fluches«,33 das Universum als

27

1,1, S. 498.

28

I , 3 , S . 634.

29

Ebd., S. 113.

30

I , 2 , S . 165.

31

Vgl. die metapherntheoretische Unterscheidung zwischen der Substitutions- bzw. Vergleichs-

theorie und der Interaktionstheorie. U.a. H e n d r i k Birus/Anna Fuchs: Ein terminologisches Gmndinventar für die Analyse von Metaphern. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988, S. 157 ff. 32

1,1.S.202.

33

Ebd., S. 497.

234

Exkurs: Musica h u m a n a

»Konzertsaal«, Roquairol »als Konzertmeister seiner Liebe«34 oder »des Kleppers Allegro ma non troppo«. 35 Im folgenden Beispiel dienen die Orgelregister als Substituten für Lenettes Bitten, Schmeicheln, Fordern, Drohen, Weinen: (...) sie riß alle Register der weiblichen Orgel,das Schnarrwerk,das Flötengedackt, die Vogelstimme, die M e n s c h e n s t i m m e u n d zugleich den Tremulanten heraus. 3 6

Der Effekt der Verfremdung kann auch durch falschen bzw. ironischen Gebrauch von Metaphern erzielt werden, wie im folgenden Beispiel: Eine Eifersüchtige ist durch kein H a n d e l n u n d kein Sprechen zu heilen; sie gleicht der Pauke, die unter allen Instrumenten am schwersten zu stimmen ist u n d die sich am kürzesten in der S t i m m u n g erhält. (...) der ganze E h e - M a n n diente ihr bloß als gutes Geigenharz, w o m i t sie die Pferdehaare rauh machte, u m die viole d ' a m o u r den ganzen Tag zu streichen. 3 7

Das Schlüsselwort Eifersucht wird zu Beginn gegeben, dem folgt ein auf diese Weise einfach zu deutender Vergleich. Die metaphorische Erweiterung dient dann scheinbar der näheren Bestimmung eifersüchtigen Verhaltens, in Wirklichkeit jedoch der Verfremdung, weil die Metapher nicht stimmt. Das Geigenharz oder Kolophonium dient dazu, die Bogenhaare streichfähig zu machen und damit den Klang zu verbessern. Die Erwähnung der Viola d'Amore als Chiffre empfindsamen Musizierens paßt in diesem Zusammenhang nicht und ist ironisch gemeint. Der häufigere Fall ist jedoch die Kombination verschiedener Metaphern bzw. die Kombination von Vergleich und Metapher oder Bild und Metapher. 38 Die Fälle, in denen zwei Metaphern verschiedener Bildbereiche kombiniert sind, lassen sich generell am einfachsten deuten, weil die Bildbereiche sich gegenseitig erläutern: Leibgebers Laune hatte eine stärkere Farbengebung u n d freiere Z e i c h n u n g u n d einen p o e t i s c h e m , weltbürgerlichern u n d idealern U m f a n g als Firmians seine; daher m u ß t e dieser seinen K a m m e r t o n zu jenes C h o r t o n hinaufstimmen, u m ihn, w e n n nicht zu erreichen, d o c h n a c h z u a h m e n . 3 9

Einer Metapher aus dem Bereich der Kunstwissenschaft folgt ihre Dekodierung. Damit werden die Voraussetzungen für das Verständnis des anschließenden metaphorischen Satzes gleich zweifach geschaffen.

34

1,3, S. 478.

35

I , 2 , S . 650.

36

Ebd., S. 573.

37

Ebd., S. 7 9 3 f.

38

Esselborn trifft die Feststellung, in den empfindsamen Passagen seien M e t a p h e r n häufiger als Ver-

gleiche. Das Universum der Bilder, a.a.O., S. 154. Für die musikalischen Bilder ließ sich dies nicht nachweisen. 39

1,2, S. 842.

Exkurs: Musica h u m a n a

235

Bezogen auf die Musik-Metaphern, müßte die Hermetik des Bildbereichs Musik durch die Kombination aufgebrochen erscheinen. Das ist, wie oben gezeigt, nicht der Fall. Deutlich tritt zutage, daß die musikalischen Bilder viel eher Farbwirkungen, wo nicht gar Verkomplizierungen im negativen Sinne hervorrufen oder gar bewußt das Verständnis des Lesers verstellen. Der Eindruck des Komischen ist offensichtlich unabhängig vom genauen Verständnis des Bildes. Auf das Verfahren der launigen Verschnörkelung durch die sonst sehr oft auftretenden Metaphern-Häufungen, das der Dichter selbst mit dem oft zitierten Bild von der »wandelnden Mäusefamilie« beschrieben hatte, 40 verzichtet Jean Paul im Umgang mit Musik weitgehend. Das hängt möglicherweise damit zusammen, daß er an den Bildbereich Musik hohe Aussageerwartungen knüpft, gerade weil die Entfernung zwischen der Bildspender-Ebene und der Bildbereich-Ebene zu groß ist und durch Erläuterung nicht verkleinert werden soll. Jean Paul greift mit den empfindsamen Metaphern auf die Tradition zurück, auf Sternes Romane, aber auch auf Klopstock und Schubart, J.T. Hermes und Sophie von La Roche. 41 Das Bildfeld Stimmung—Verstimmung ist natürlich keine Erfindung empfindsamer Romanautoren, es handelt sich aber um ein Verfahren, das in literarischen Texten der Empfindsamkeit und Romantik bis zur Trivialisierung angewendet wurde und sich leicht in wenige Typen unterteilen läßt. 42 Wie in anderen Bereichen, aus denen Jean Paul seine Bildlichkeit rekrutiert, erweist sich seine Erfindungskraft auch auf dem Sektor der Musikmetaphern als unerschöpflich, diese selbst sind weitaus avancierter als die seiner Vorgänger und Nachfolger. Bereits Shakespeare hatte jedoch seinen Umgang mit Musik im Text zwischen den Polen des Komischen und des Empfindsamen aufgespannt. 43 Beschriebene Musik im Drama erscheint hier nicht nur als »music in the air«, die als Harmonie

40

H i e r verselbständigt sich die E b e n e der Bilder u n d löst sich los von der H a n d l u n g , dient somit

auch nicht der Beleuchtung, sondern bildet ein eigenes T h e m a . Das geschieht i m m e r dort, w o sich metaphorische Erläuterungen unmittelbar auf andere Bilder beziehen u n d nicht auf die Handlung. Vgl. dazu Esselborn: Das Universum der Bilder, a.a.O., S. 132. Rasch zufolge verhindert dieses C h a r a k teristikum der Jean Paulschen M e t a p h e r n t e c h n i k die epische Integration der Bilder. Metaphernspiele und dissonante Strukturen, a.a.O., S. 94. 41

»Der Tod meines Bruders stimmt o h n e h i n die Saiten m e i n e r Leier auf einen andern Ton (...)«

Sophie von La R o c h e : Geschichte des Fräuleins von Sternheim. H g . von Barbara Becker-Cantarino. Stuttgart 1983, S. 2 2 3 f. Vgl. im übrigen den Abschnitt über den StimmungsbegrifF in Kapitel V. 42

»>(...) o k ö n n t e jeder, der einen M i ß t o n in der Liebe griff, sich auf diesen Einklang retten (...)«

C l e m e n s Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman. In: Historisch-Kritische Ausgabe, a.a.O., Bd. 16, S. 117. »Seine ganze S t i m m u n g kann durch einen kleinen M i ß t o n , durch eine auf andre gar nicht w i r k e n d e W e n d u n g der U n t e r h a l t u n g zerstört werden«. Ebd., S. 193. 43

Shakespeare liebte es, »Begriffe aus der Musizierpraxis seiner Zeit in seiner Sprache zu v e r w e n -

den u n d witzige Vergleiche aus dieser Sphäre zu beziehen«.Wolfgang C l e m e n : Shakespeare und die Musik. In: Shakespeare-Jahrbuch 102 (1966), S. 31.

236

Exkurs: Musica h u m a n a

der Sphären im Bewußtsein des Zuschauers nicht auf eine mechanische Erzeugung zurückgeführt werden kann und soll,44 und deren Hörbarkeit die Protagonisten auszeichnet, sondern auch in Form von Metaphernkonstruktionen, in denen Details aus der zeitgenössischen Musizierpraxis die Basis der (meist humoristischen) Vergleiche bilden. 45 So vergleicht Beatrice die Stufen des Freiens, Heiratens und Bereuens, 46 Junker Toby die menschlichen Gangarten mit musikalischen Satztypen.47 So zerfallt die Prosa des Lebens nicht einfach vor dem höheren Prinzip, sondern sie verschafft diesem durch den Kontrast ein Profil, das anders schwerlich zu installieren wäre. Denn die komische Seite des metaphorischen Prinzips läßt das Wunderbare im Text umso deutlicher hervortreten, sie ist die Abwechslung, deren Dichter und Leser nach den musikalischen Landschaften dringend bedürfen. Jean Pauls Dichtung liegt hier durchaus auf einer Ebene mit dem vorromantischen Singspiel oder der romantischen Oper, zu deren Dramaturgie des Wunderbaren das Komische unabdingbar nötig ist.48 Jean Pauls Musikmetaphern zeugen nicht nur von der ständigen Präsenz musikalischer Details in seiner Gedankenwelt, sondern auch von der poetologischen Faszination durch die Musik. 49 Da die Musik auf dem Feld der ästhetischen Wertigkeit in den Jahren nach 1790 an der Sprache vorbeigezogen war, konnte das »Musikalische« zur ästhetischen Kategorie in der Theorie von Lyrik und Prosa avancieren. Daß Musik dem Unsagbaren Sprache verleihen möge, ist als Wunschvorstellung omnipräsent.Jean Paul kehrt diese poetologische Würdigung zunächst durch metaphorische Verwendung der Musik geschickt um und verschafft ihr dann durch ihre Erweiterung auf den humoristischen Bereich uneingeschränkt Geltung.

44

Vgl. die ausführliche Darstellung von J o h n Hollander: Musica mundana and > Twelfth NightTitan< and >FlegeljahreTitanismus Wilhelm Meisters Lehijahre< und Jean Pauls >Titan Wilhelm Meisters Lehrjahret und Jean Pauls 'Titani, a.a.O., S. 34.

13

D e r Titel des ältesten Schmierheftes z u m Titan lautet: »Das Genie«. Vgl. Berend: Einleitung,

a.a.O., S.VII. Im G r ü n e n Erfindungsbuch (Faszikel 9 des Nachlasses) schreibt der Dichter: »Schildere im 3ten R o m a n ein gutes ideal[isches] Genie in allem.« Zitiert nach Berend: Einleitung, a.a.O., S. XII. 14 14a

Stern: > Wilhelm Meisters Lehijahre< und Jean Pauls >TitanTitanFlegeljahre< gesehen im Rahmen ihrer >KapitelüberschrifienTitanTitanDu Echo meiner Klagen, mein treues Saiten-

spiel...(. 38

>Falsche Tränen< in der Musik, a.a.O., S. 157—180.

Zitiert in: Gerhard Sauder: Empfindsamkeit.

Bd. 3: Quellen und Dokumente.

Stuttgart 1980,

S. 171. 39

»Du triumphirende Macht über den traurigen Gram« (Zachariä: An das Ciavier); »Du Echo

meiner Klagen« (Zachariä: Das Clavier) ; »Bereite mich zum Schlummer, / Sanftklagendes Klavier!« (Hermes, aus dem Roman Geschichte der Miß Fanny Wilkes); »Sei mir gegrüßt, mein schmeichelndes Clavier!« (Hermes: Lied ans Ciavier, aus dem Roman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen). 40

Eins der Gedichte ist religiös geprägt und daher hier nicht in Anschlag zu bringen: Bereite mich

zum Schlummer von Hermes. 41

»Wenn ich untröstbar scheine, / Lieb ich doch meinen Schmerz« (Zachariä: Das Ciavier).

42

»Du triumphirende Macht über den traurigen Gram«. An das Ciavier. Zitiert nach Sauder:

Empfindsamkeit, a.a.O., Bd. 3, S. 171. 43

Das Ciavier. Zitiert nach Schusky, a.a.O., S. 160.

246

Kapitel V i l i

In der später entstandenen O d e An das Ciavier präzisiert Zachariä: Sonst rauscht' ein fröhlicher Ton, wie er in O p e r n entzückt, D i e Saiten durch u n d jauchzte S y m p h o n i e n ; 4 4

In beiden Gedichten flieht das Lyrische Ich die Gesellschaft, das Klavier tritt an ihre Stelle und wird zum fiktiven Dialogpartner, zum »Echo« aller Klagen, während die O p e r (und mit ihr die Symphonie) mit fröhlichen Klängen assoziiert, im übrigen stets in größerer Gesellschaft besucht wird. 4 5 Sie ist gleichsam »anti-empfindsam«, da ihre Tradition sie im Zeichen höfischer Repräsentation sieht, während das Bürgertum die Kammermusik der Salons vorzieht. Überdies wird die O p e r meist nur passiv rezipiert, während das bürgerliche Musikzimmer Gelegenheit zu eigener Betätigung bietet. Der Mensch, der Kummer hat, meidet überdies das höfische Vergnügen (Musik-) Theater, 4 6 in diesem Sinne ist Zachariäs Versende: »Und folgt der Phantasie« - zumal im Kontext der anderen Gedichte durchaus als Aufforderung zum Fantasieren am Klavier zu lesen. Wie stets verfährt Jean Paul dort, wo er Musik einsetzt, in sehr charakteristischer Weise. Roquairols Trauerspieler wird wie ein klassisch-antikes Schauspiel von Musik untermalt respektive durchbrochen, und es handelt sich um Opernmusik, während Albano in intimem R a h m e n seiner Neigung zum Klavier nachgeht, höchstens vor den Ohren seelenverwandter Zuhörer. 4 7 Die Takt- und harmonische Freiheit des improvisatorischen Klavierspiels sondert das Individuum von seinen Mitmenschen; u m dieser Kunst zu folgen, bedarf es einer mehr als dilettantischen Musikbildung. Der Spieler »spricht« in Einsamkeit mehr mit dem Instrument als mit einem menschlichen Gegenüber, denn dieses kann seine eigenen Gedanken und Gefühle auf die textlose Musik projizieren. Eine der für den gesamten zweiten Teil der Arbeit gültigen Thesen kann daher lauten, daß die von Jean Paul in den dichterischen Text integrierten Formen des Erklingens von Musik bzw. des Musik-Ausübens Spielarten eines utopischen M o dells sind, Varianten einer gedachten und gewünschten Kommunikation mit ein e m Gegenüber, die tatsächlich nie stattfindet, nicht stattfinden kann, weil die

44

Zitiert nach Sauder: Empfindsamkeit,

45

Deswegen geht Albano in R o m mit der Fürstin in die O p e r ! 1,3, S. 598.

46

A u c h für G u d r u n M a u c h bildet die Musik eine Gegenwelt z u m T h e a t e r : »Die W o r t e sind (...)

a.a.O.,Bd. 3, S. 171.

Teil der irdischen Maskerade u n d dienen n u r zur K o m m u n i k a t i o n der Akteure i m Bühnenspiel. D e n n o c h gibt es bei Jean Paul eine Sprache des inneren M e n s c h e n : die Musik. Sie ist nicht n u r Ausdruck der Seele, s o n d e r n auch zugleich t ö n e n d e Botschaft der >zweiten WeltTitan Titani. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. H g . von der Arbeitsstelle 18. J a h r h u n d e r t der Gesamthochschule Wuppertal. Heidelberg 1977, S. 78 . 83

1,3, S. 361.

84

M a n sieht, welche zwiespältige B e d e u t u n g das vielzitierte W o r t von der musikalischen Land-

schaft i m konkreten Fall hat. In der Werther-Szene

stimmten Roquairols Inneres u n d Außeres n o c h

zusammen! 85

1,3, S. 381.

86

Vgl. auch K u r t Wölfel, der Nietzsches B e t r a c h t u n g Vom Nutzen

und Nachteil der Historie für das

Leben zitiert, in der Nietzsche den »merkwürdigen Gegensatz eines Inneren, d e m kein Äußeres, eines Äußeren, d e m kein Inneres entspricht«, als »die eigenste Eigenschaft« des m o d e r n e n M e n s c h e n b e zeichnet. >Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallti, a.a.O., S. 265.

Geisterinseln:Töne als Z e i c h e n

255

3. GeisterinselnrTöne als Zeichen Bei Jean Paul sind T ö n e stets bedeutend. Im Hesperus u n d im Titan mit ihrer geheimnisvoll-verwickelten H a n d l u n g ist diese Implikation der T ö n e ähnlich zeichenhaft wie i m romantischen R o m a n . Im Hesperus f u h r t Viktors Vater den S o h n auf die Insel der Vereinigung, u m i h m dort das Geheimnis u m Flamins H e r k u n f t mitzuteilen. Jean Paul bezeichnet das Eiland als »magische Insel«, die Viktor schaudernd betritt. 8 7 Ahnlich wie Roquairol verlegt der Lord die U n t e r r e d u n g mit sein e m Sohn in eine angemessene Kulisse. Sorgfältig wird der E i n d r u c k des U n heimlichen erzeugt: Jean Paul spricht von verirrten T ö n e n , die durch die Zweige laufen, 8 8 u n d der M o m e n t , in d e m der Lord mit seinem Sohn durch das Tor tritt, ist begleitet von einem harmonischen »Hinüber- u n d Herübertönen«, das stets an die Präsenz der anderen Welt erinnert. 8 9 Viktors Vater wird z u m Regisseur der Szene, denn er besitzt den Schlüssel (in F o r m eines Magneten) zu j e n e r Eisenbrücke, über die er u n d Viktor den griechischen Tempel auf der Insel betreten. A u ß e r d e n T ö n e n gehören Marmorstücke,Trauerbirken undWasserspiele z u m I n ventar der Szene. Natürlich ist auch die U n t e r r e d u n g der Protagonisten von f r e m den T ö n e n begleitet, 9 0 u n d n a c h d e m sie beendet ist, heißt es: Endlich h ö r t e n alle T ö n e der Insel a u f - das schwarze Tor schien zuzufallen — alles war still - der Lord war mit der Enthüllung u n d allem zu E n d e (.. .) 9 1

Jean Paul folgt hier seiner schauerromantischen Vorliebe f ü r Geisterinseln, auf denen jedes Detail bedeutet u n d allegorisch f ü r etwas anderes steht. 9 2 Mit Hilfe der T ö n e bringt er die Naturgegenstände z u m Sprechen. Die sparsam eingesetzten Klänge verstärken die W i r k u n g einer geisterhaften Natur, die in solcherlei Passagen stets ins O p e r n h a f t e geht. Z u r vollen B e d e u t u n g eines Zeichens gelangen die Naturdinge erst durch den Einsatz der Musik, denn die T ö n e verleihen den plastischen Kulissen die zeitliche u n d damit die voraus- u n d zurückweisende D i mension. D e r plastische Gegenstand an sich ist geschichtslos u n d damit b e d e u tungslos f ü r das Menschenleben, erst durch die Kombination mit der einen Z e i t -

87

1,1, S. 656.Vgl. die F o r m u l i e r u n g »die seltsame Insel der Vereinigung«. Ebd., S. 652.

88

Ebd., S. 656.

89

Ebd., S. 657.

90

»Zuweilen fiel unter d e m R e d e n ein fremder H a r m o n i k a - T o n von Blatt zu Blatt (. . .)« Ebd.,

S. 659. 91

Ebd., S. 660.

92

Z u d e m Aspekt vgl. R a l p h - R a i n e r W u t h e n o w : Allegorie-Probleme bei Jean Paul, a.a.O. Esselborn

weist d a r a u f h i n , daß der Begriff des Symbols bei Jean Paul keine R o l l e spielt, auch nicht i m § 80 der Vorschule über die »Poetische Landschaftsmalerei«, »wo am ehesten von einer symbolischen Beziehung, nämlich zwischen N a t u r u n d Gefühl, gesprochen wird«. Das Universum der Bilder, a.a.O., S. 183. »Im Titan ergibt sich dann durch eine Veränderung des empfindsamen Naturbildes, das die geistig-geistliche D i m e n s i o n schon einbezieht, die g r ö ß t e N ä h e zu einer symbolischen Landschaftsdarstellung bei Jean Paul überhaupt.« Ebd.,S. 185.

Kapitel V i l i

256

fluß erzeugenden Musik erhält er Spiegelfunktion. Die Initiatoren dieser Szenarien, Emanuel oder Don Gaspard, erinnern an Shakespeares Prospero, den Magier, der auch Herr über die Töne auf seiner Insel ist. 93 Auch dort irrenTöne durch die Luft, und zwar meist auf Prósperos ausdrückliches Verlangen. 94 Der Sturm ist ganz durchwoben von Musik. So sind die Auftritte der Geister Iris, Ceres und Juno von »soft music« begleitet. 95 Das wichtigste Merkmal dieser Klänge ist ihr plötzliches Eintreten. Die Musik soll indirekt wirken, nicht als solche wahrgenommen werden, sondern als Wirkung im Gesamteindruck, dessen Komponenten sich dem Publikum nicht im einzelnen und nicht mit der Geschwindigkeit ihres Auftretens erschließen. Ein Beispiel ist die Figur des Ariel, dessen Wesen mit Musik eng verbunden ist: Er kann unsichtbar bleiben, denn durch Musik wird sein Erscheinen dem Zuschauer trotzdem fühlbar. Ariel singt ein Lied, dessen Klänge Ferdinand der Sphäre des Ubernatürlichen zuordnet: Where should this music be? i'the air or the earth? (...) This is nor mortal business, nor no sound That the earth owes: — I hear it now above me. 9 6

Uber die Zeichenfunktion der Naturgegenstände hatte sich Jean Paul in der oft zitierten Passage der Vorschule, möglicherweise in Anspielung auf Shakespeare,97 geäußert: So wie es kein absolutes Zeichen gibt - denn jedes ist auch eine Sache —, so gibt es im Endlichen keine absolute Sache, sondern jede bedeutet und bezeichnet; wie im Menschen das göttliche Ebenbild, so in der Natur das menschliche. Der Mensch wohnt hier auf einer Geisterinsel, nichts ist leblos und unbedeutend, Stimmen ohne Gestalten, Gestalten, welche schweigen, gehören vielleicht zusammen, und wir sollen ahnen; denn alles zeigt über die Geisterinsel hinüber, in ein fremdes Meer hinaus.

93

98

Wölfel vermutet in der Bezeichnung »Geisterinsel« eine Anspielung auf Shakespeares Tempest.

iEìn Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallti, a.a.O., S. 292. Zur Funktion der Töne bei Shakespeare vgl. auch von der Verf.: Die Steigerung der theatralischen Illusion durch Musik, a.a.O. 94

»Be not afeard; the isle is full o f noises,/ Sounds, and sweet airs, that give delight, and hurt not.«

William Shakespeare: The Complete Works. New York 1988, S. 1151. Meist spricht Shakespeare in seinen Stücken von »solemn music«, heavenly music oder - antikisierend — von »music i'the air«.Vgl. das Gespräch der Soldaten in Antony and Cleopatra, IV, 3, ebd., S. 952. Die Bühnenanweisung lautet: »Music o f the hautboys is under the stage«.Vgl. auch die »heavenly music« in Perides.V, 1, ebd., S. 1059. Helicanus hört nichts, Lysimachus schon: »My lord, I hear.« 95

IV, 1, ebd., S. 1153.Vgl.John P. Cutts: Music and the Supernatural in >TheTempestFlegeljahreSelberlebensbeschreibung< und einen handschrifdichen Brief Jean Pauls vom 11.10.1824,in dem er sich über die geplante Mitarbeit an der Zeitschrift äußert). Jean Paul: Ungedruckte Aphorismen aus Jean Pauls >GedankenBausteineUnsichtbare Loge< and Early German Romanticism. In: Germanic Review 8 (1933), S. 165-177. Bruyn, Günter de: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1991 (Halle 1975). Buch, Hans Christoph: >Ut Pictura PoesisHesperusAgathon< zu Jean Pauls >HesperusHesperusTheTempest*. A Study in Interpretation. In: Music and Letters 39 (1958), S. 347-358. Dahlhaus, Carl: Musica poetica und musikalische Poesie. In: Archiv für Musikwissenschaft 23 (1966), S. 110-124. Ders.: Musikästhetik. Köln 1967 (= mtb Theoretica, Bd. 8). Ders.: Die Idee der absoluten Musik. Kassel, München 1978. Ders. (Hg.): Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert. Regensburg 1980 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 56).

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