Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800: Übersetzungshistorische und literaturwissenschaftliche Studien 9783110540390, 9783110542202, 9783110540949, 2018958040

The volume explores the creative-interpretative world of literary translation in the Age of Goethe from the perspectives

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German Pages 336 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
„Neue Schriften“ oder die Übersetzungsfreiheit der Romantik
Refracting Translation zwischen Wien, Dresden und Moskau
Transkulturelle Ansteckungen
Wilhelm Heinses Übersetzung der erotischen Sinnlichkeit in ottave rime
Jens Baggesen und die Begeisterung als Legitimierung des kreativen Übersetzens
Das Original erschaffen
Die Ariosto-Übersetzungen für Schillers Neue Thalia und die intertextuelle Ariosto-Rezeption in Schillers Dramenfragment Die Gräfin von Flandern
Goethes Römische Elegien und Venezianische Epigramme als übersetzende Aneignung der Carmina Priapeia
Die Herausbildung der philologisch-dokumentarischen Übersetzung am Beispiel von Johann Joachim Christoph Bode und Ludwig Tieck
Die andere Kreativität
Übersetzung, Adaption und Genretransfer um 1800
Der Schweizerische Robinson
Deutsche Übersetzungen des Orlando innamorato zwischen Kreativität und philologischer Sorgfalt
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Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800: Übersetzungshistorische und literaturwissenschaftliche Studien
 9783110540390, 9783110542202, 9783110540949, 2018958040

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Alexander Nebrig / Daniele Vecchiato Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte

Band 152

Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800 Übersetzungshistorische und literaturwissenschaftliche Studien

Herausgegeben von Alexander Nebrig und Daniele Vecchiato

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

ISBN 978-3-11-054039-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054220-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054094-9 ISSN 0083-4564

Library of Congress Publication Number: 2018958040 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Alexander Nebrig und Daniele Vecchiato Einleitung Translatorische Kreativität um 1800

1

Alexander Nebrig „Neue Schriften“ oder die Übersetzungsfreiheit der Romantik

17

Tatiana Korneeva Refracting Translation zwischen Wien, Dresden und Moskau Pietro Metastasios Clemenza di Tito im deutsch-russischen 51 Kulturtransfer Barbara Ventarola Transkulturelle Ansteckungen Wielands kreative Bearbeitung des Don Quijote in Die Abenteuer 75 des Don Sylvio von Rosalva Elena Polledri Wilhelm Heinses Übersetzung der erotischen Sinnlichkeit in ottave rime 109 Die „Jouissance“ der Laidion-Stanzen Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann Jens Baggesen und die Begeisterung als Legitimierung des kreativen 133 Übersetzens Giovanna Pinna Das Original erschaffen Zu Schillers Übersetzungsstrategien

157

Mario Zanucchi Die Ariosto-Übersetzungen für Schillers Neue Thalia und die intertextuelle Ariosto-Rezeption in Schillers Dramenfragment Die Gräfin von 177 Flandern Erik Schilling Goethes Römische Elegien und Venezianische Epigramme als übersetzende 199 Aneignung der Carmina Priapeia

VI

Inhalt

Iris Plack Die Herausbildung der philologisch-dokumentarischen Übersetzung am Beispiel von Johann Joachim Christoph Bode und Ludwig Tieck Angela Sanmann Die andere Kreativität Tendenzen weiblicher Übersetzungspraxis um 1800 am Beispiel 237 von Meta Forkel-Liebeskind und Caroline Wuiet Gaby Pailer Übersetzung, Adaption und Genretransfer um 1800 Sophia Lees Roman The Young Lady’s Tale. The Two Emilys 259 und Charlotte von Steins Drama Die zwey Emilien Irene Weber Henking Der Schweizerische Robinson Bearbeitungen – Übertragungen – Übersetzungen

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Daniele Vecchiato Deutsche Übersetzungen des Orlando innamorato zwischen Kreativität und philologischer Sorgfalt Ein Beitrag zur Geschichte der Boiardo-Rezeption 297 um (und nach) 1800

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Alexander Nebrig und Daniele Vecchiato

Einleitung Translatorische Kreativität um 1800 Das Ende der Nachahmungspoetik hatte nicht nur für die Originalliteratur Folgen, sondern auch für das literarische Übersetzungswesen. Solange Dichten nicht dem Originalitätsdruck unterlag, war auch die Übersetzung befreit davon, fremdsprachige Originale in der eigenen Sprache zu rekonstruieren. Obgleich dieser Rekonstruktionszwang um 1800 zunahm, kann man doch beobachten, dass bis in die Romantik sowohl viele Übersetzer als auch Kritiker nicht kategorisch zwischen Nachahmung, Adaption, imitatio auctorum1 und Übersetzung unterschieden. Der Umgang mit fremdsprachiger Literatur war vor und auch lange nach 1800 durch größere Bearbeitungsfreiheiten gekennzeichnet als in späteren Zeiten. Nicht nur viele barocke Dichtungen, sondern auch noch Projekte des Sturm und Drang wie beispielsweise Herders Volkslieder (1778–1779) entziehen sich der Zuordnung von Originaldichtung, Übersetzung und Nachahmung. Die Transposition von schöner Literatur aus einer fremden Sprache in die eigene musste sogar – um nicht schulmeisterlich zu erscheinen – auf den eigenen kulturellen Horizont bezogen bleiben.2 Erst aus der Perspektive der romantischen Übersetzungsethik, insbesondere derjenigen Friedrich Schleiermachers,3 erschien die Praxis der belles infidèles,4 die vor 1800 allgemein vorherrschend gewesen war, als verwerflich. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die originalgetreue Übersetzungspraxis adaptierende Textumgangsformen marginalisiert hätte. Vielmehr ist seither von einer Gleichzeitigkeit zweier gegenläufiger Verfahren auszugehen. Selbst diese Parallelität, könnte man einwenden, habe es immer schon gegeben. Tatsächlich hat das 17. Jahrhundert nicht nur kompiliert; und bei allen Freiheiten, die sich Martin Opitz gegenüber Sophokles oder Seneca herausnahm, wird man seine Verdeutschungen doch als Übersetzungen im engeren Sinn gelten lassen.

1 Vgl. Nikola Kaminski, Imitatio, I[mitatio]. auctorum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 235–285. 2 Vgl. Jörg Robert, Im Silberbergwerk der Tradition. Harsdörffers Nachahmungs- und Übersetzungstheorie. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock, hg. von Stefan Keppler-Tasaki, Berlin 2011, S. 1–22, bes. S. 12. 3 Vgl. Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982. 4 Vgl. Roger Zuber, Les „belles infidèles“ et la formation du goût classique, Paris 1995. https://doi.org/10.1515/9783110542202-001

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Alexander Nebrig und Daniele Vecchiato

Was sich jedoch änderte, war der Begriff der Übersetzung selbst. Die Übersetzung wurde durch neuartige Theorien enger definiert, von anderen imitatorischen und interlingualen Verfahren abgegrenzt und als interlinguale Hauptgattung konzipiert. Während dieses semantischen Umschichtungsprozesses wurde die ‚bearbeitende‘ Übersetzung als ‚uneigentliche Übersetzung‘ aus dem eigentlichen Kreis der Übersetzungen ausgesondert. Mit der Aufwertung und Entdeckung des Originals5 erfolgte der Aufstieg der Übersetzung zur priorisierten Form der interlingualen Übertragung. Eng verbunden mit der verstärkten Rückbindung an das Original entwickelte sich ein urheberrechtliches Verständnis, welches wiederum die Normierung der Übersetzung als literarischer Gattung beförderte. In der Rechtstheorie des späten 19. Jahrhunderts sprach im Anschluss an Goethe und frühromantisches Denken beispielsweise Josef Kohler von der „innern Form“ des Werkes.6 Dadurch ließ sich garantieren, dass auch in der Übersetzung die Werkintegrität gewahrt bleibt. Offensichtliche Eingriffe in die Makro- und Mikrostruktur des Werkes bzw. Änderungen des Inhalts wurden damit als Urheberrechtsverletzungen interpretierbar und der Unterschied zwischen Übersetzung und Bearbeitung signifikant.7 Die liberale Übersetzungspraxis, die gegenüber dem Wortlaut des Originals autonomer als die dem Original verpflichtete ist, hatte während der Frühen Neuzeit ein umfangreiches Gattungsspektrum ausgebildet. Als schöpferische Praktiken des interlingualen Übersetzens gelten Adaption, Bearbeitung, Nachahmung, Umschreibung (giunte), Verbesserung, Verdeutschung oder Transposition – um nur die bekannteren Bezeichnungen zu nennen. Statt Übersetzung wäre – der allerdings im Deutschen wenig gebräuchliche Begriff der – Vulgarisierung ein passenderer Einheitsbegriff für sie. Die Pluralität der literarischen Transpositionsformen ist systematisch und historisch unzureichend erfasst. Ihre Beschreibung wird dadurch verkompliziert, dass um 1800 auf Beobachtungs- (Theorie) und Beurteilungsebene (Kritik) die Übersetzung zunehmend dazu verpflichtet wurde, ein Original zu vertreten. Die Goethezeit hebt sich von der frühneuzeitlichen Epoche daher nicht hauptsächlich durch eine erhöhte Übersetzungsfrequenz ab,8 die sicherlich

5 Andreas Poltermann, Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, hg. von Brigitte Schultze, Berlin 1987, (Göttinger Beiträge zur Übersetzungsforschung 1), S. 14–52. 6 Josef Kohler, Das Autorrecht. Eine zivilistische Abhandlung, Jena 1880, S. 209. 7 Vgl. Michael Schreiber, Übersetzung und Bearbeitung. Zur Differenzierung und Abgrenzung des Übersetzungsbegriffs, Tübingen 1993. 8 Vgl. Reinhard Tgahrt (Hg.), Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Johann Wolfgang von Goethes, Marbach 1982.

Einleitung

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auch einer generellen Zunahme der Buchproduktion geschuldet ist. Es ist vor allem jene Parallelität des alten, bis in die Antike reichenden Nachahmungsparadigmas einerseits und der neuen, sich gerade etablierenden Originalitätsemphase andererseits, die die Einmaligkeit der klassisch-romantischen Übersetzungsepoche markiert. Auf der einen Seite also reihen sich polemische und apologetische Verfahren neben Genres wie die kritische oder kommentierende Übersetzung als selbstverständliche Medien der Aneignung fremdsprachiger Texte,9 während vor allem im Bereich der Trivialliteratur verbessernde oder paraphrasierende Übersetzungen keine Seltenheit bilden.10 Auf der anderen Seite begegnet man zunehmend literarischen Übersetzungen, denen ein neuer Anspruch auf Redlichkeit eingeschrieben ist. Er erstreckt sich sowohl auf die alten Sprachen – Voß’ Homer oder Schleiermachers Platon – als auch, wie die Übersetzer Ludwig Tieck und August Wilhelm Schlegel zeigen, auf die neuen Volkssprachen. Die charakteristische Spannung zwischen Redlichkeit gegenüber dem Original und frühneuzeitlicher Übersetzungsfreiheit kehrt in vielen Übersetzungen der Epoche leitmotivisch wieder. Der vorliegende Band nimmt die Theorie des frühneuzeitlichen Übersetzens nicht primär in den Fokus. Wie angedeutet, wäre dies angesichts des translatorischen Methodenpluralismus wenig aufschlussreich. Schon eher müsste man die Theoriegeschichte der Nachahmung (imitatio auctorum), der freien Bearbeitung, der Interlinearversion bzw. all jener Praktiken zugleich rekonstruieren, die in das frühneuzeitliche Vorstellungsfeld interlingualer Übertragungen fallen. Vor allem zur Übersetzungsgeschichte Frankreichs liegen Pionierarbeiten vor.11 Allerdings gehen auch sie von einem antithetischen Übersetzungsbegriff 9 Man denke zum Beispiel an Diderots Versuch über die Malerei. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe (1799). 10 Vgl. etwa Daniele Vecchiato, „Wir haben uns große Freyheiten mit unserm Original genommen“. Benedikte Nauberts Übersetzungen und ihre genderspezifische Relevanz. In: Fémin|in|visible. Women authors of the Enlightenment. Übersetzen, schreiben, vermitteln, hg. von Angela Sanmann, Martine Hennard Dutheil de la Rochère und Valérie Cossy, Lausanne 2018, S. 77–101. – Pseudoübersetzungen bilden hierbei einen wichtigen Sonderfall. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Roman Walladmor (1823) von Willibald Alexis, der als die Übersetzung eines noch nicht veröffentlichten Romans Walter Scotts ausgegeben wurde und in der Tat ein Originalwerk war. Der Roman, der sowohl in Deutschland als auch in England eine lebhafte Diskussion in der literarischen Öffentlichkeit auslöste, wurde von Thomas de Quincey ins Englische übersetzt und in einer späteren Auflage mit einem Vorwort von Scott selbst versehen. Hierzu vgl. Jochen Golz, Willibald Alexis: Walladmor. In: Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit. Studien zu ausgewählten Texten, Tübingen 1995, S. 233–271. 11 Vgl. etwa Antoine Berman, Jacques Amyot, traducteur français. Essai sur les origines de la traduction en France, Paris 2012; Zuber, Les „belles infidèles“ et la formation du goût classique.

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aus, der die Übersetzung nur als Gegenstück des Originals versteht. Wenn aber schon der ‚originale‘ Text klassischer französischer Autoren oder deutscher Barockdichter auf der imitatio auctorum beruht, die oftmals wie bei Racine interlinguale Übertragung ist, besteht nur ein gradueller, aber kein qualitativer Unterschied zu jenen Texten, die als Übersetzung gelten. Heuristisch mag die anachronistische Opposition von Übersetzung und Original brauchbar sein, aber man sollte bedenken, dass sie das frühneuzeitliche Schrifttum bis weit in die Goethezeit künstlich in eine Zweiklassenliteratur teilt. Eine Theoriegeschichte des Übersetzens hätte bis zum Ende der Goethezeit damit zu kämpfen, dass man Originale teilweise als Übersetzungen (Racines Phèdre geht auf Euripides zurück) und Übersetzungen als Originale (Goethes Rameaus Neffe) beurteilen könnte. Die Übersetzungstheorie in den Jahrhunderten vor der Romantik ist deshalb so spärlich, weil das Übersetzen im Bereich der literarischen Kreation ubiquitär ist. Das Verdienst der Frühromantiker bestand gerade darin, diese Ubiquität – ‚alles ist Übersetzen‘ – erstmals reflektiert zu haben. Das Vorhaben einer Theoriegeschichte des Übersetzens vor 1800 scheitert nicht aufgrund mangelnder oder unterkomplexer Theorietexte, sondern wegen der fehlenden Basisopposition von Übersetzung und Original. Bekanntlich beginnt die Geschichte der Übersetzungstheorie – mit antiken und frühneuzeitlichen Vorläufern wie Hieronymus oder Martin Luther – mit der Romantik. Diese ist gut erforscht.12 Zwei Missverständnisse sollen jedoch angesprochen werden. Zum einen wird bisweilen der Eindruck erweckt, dass die originalgetreue Theorie, wie sie durch Schleiermacher 1813 formuliert wurde, mit der romantischen Praxis um 1800 konvergiert. Tatsächlich kann man Konvergenzen zwischen romantischer Theorie und Übersetzungspraxis genauso beobachten wie Differenzen, teilweise in ein und derselben Übertragung. Zum anderen ist der Annahme zu begegnen, die translatorische Kreativität ende mit der Frühen Neuzeit. Sie wird nur durch die Theorie der originalgetreuen Übersetzung und später durch die urheber- und übersetzungsrechtlichen Bestimmungen stärker auf das Original verpflichtet. Anstatt translatorische Kreativität auf eine bestimmte Epoche zu beschränken, sollte ihre Historisierung das Ziel ihrer Erforschung sein. Anders als es die von Schleiermacher dominierte Übersetzungstheorie vielleicht suggeriert, steht die interlinguale literarische Praxis der Goethezeit noch im Bann frühneuzeitlicher Prinzipien. Eine Theorie dieser praktischen Interlingualität kann nur von der historischen Beschreibung der translatorischen

12 Vgl. u. a. Apel, Sprachbewegung; Poltermann, Die Erfindung des Originals; Antoine Berman, L’épreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique. Herder, Goethe, Schlegel, Novalis, Humboldt, Schleiermacher, Hölderlin, Paris 1984.

Einleitung

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Formen ausgehend erfolgen, also induktiv und empirisch sein. Das Verbindende dieser vielgestaltigen Praxis ist ein Begriff von translatorischer Kreativität, der die Übertragung als Ausdrucksmedium versteht. Übersetzung ist demnach eine sprachüberschreitende Tradierung, die die Möglichkeit enthält, durch die Vermittlung neuer Inhalte und Formen an der literarischen Kommunikation teilzunehmen.

I Übersetzungswissenschaftlicher Hintergrund Den theoretischen Ausgangspunkt des Bandes bildet die kulturelle Wende, die sich seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Translationswissenschaft vollzogen hat.13 In den 1960er und 1970er Jahren, als die moderne Translatologie entstand, war die übersetzungswissenschaftliche Diskussion von einer normativen, vorwiegend linguistisch orientierten Sichtweise dominiert, welche vom Axiom eines „heiligen Originals“ ausging und die Qualität der Übersetzungen aufgrund ihrer Treue gegenüber dem Prototext beurteilte.14 Allmählich wuchs jedoch das Bestreben, die Fixiertheit auf das Prinzip der inhaltlichen und formellen Entsprechung des Originals zu überwinden. Mit der sogenannten „Skopostheorie“ 15 und der „Theorie des translatorischen Handelns“ 16 wurde die Übersetzung erstmals als eine kommunikative Handlung angesehen, bei der die Handlungspartner, der Handlungsrahmen sowie der Kommunikationszweck in den Vordergrund rückten. Dadurch fand eine „Entthronung“ des Ausgangstexts zugunsten einer Prominenz der Zielkultur statt.17 Der „holistisch in seinem kulturellen Rahmen und als Ganzes“ 18 betrachtete Metatext wurde allmählich zum Hauptgegenstand der Translationsforschung, und dem Übersetzer kam eine größere Bedeutung als Textexperte und Kulturvermittler zu. Mit der Entwicklung der Descriptive Translation Studies, einer Branche der literaturwissenschaftlich orientierten Translationswissenschaft, wurde in den

13 Vgl. Mary Snell-Hornby, The Turns of Translation Studies. New Paradigms or Shifting Viewpoints?, Amsterdam/Philadelphia 2006. 14 Zur Diskussion um das „Äquivalenzpostulat“ vgl. Erich Prunč, Entwicklungslinien der Translationswissenschaft. Von den Asymmetrien der Sprachen zu den Asymmetrien der Macht, 3. Aufl., Berlin 2012, S. 35–99. 15 Vgl. Katharina Reiß, Hans J. Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen 1984. 16 Vgl. Justa Holz-Mänttäri, Translatorisches Handeln. Theorie und Methode, Helsinki 1984. 17 Vgl. Prunč, Entwicklungslinien der Translationswissenschaft, S. 154 f. 18 Radegundis Stolze, Hermeneutik und Translation, Tübingen 2003, S. 133.

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1980er und 1990er Jahren zunehmend auf die historische, soziale und kulturelle Bedingtheit der Übersetzung verwiesen.19 Seitdem steht die Komplexität des traduktiven Akts als kultureller Prozess im Vordergrund, und der übersetzte Text wird in seinen vielfältigen Nuancen als kulturelles Produkt erforscht: „Übersetzungen werden nicht in einem Vakuum gemacht. Übersetzer agieren in einer bestimmten Kultur und zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Art und Weise, wie sie sich selbst und ihre Kultur begreifen, ist einer der Aspekte, die ihre Übersetzungspraxis beeinflussen können“.20 Zu den Grundannahmen der kulturalistischen Translation Studies zählen die Zentralität des Übersetzers als „machtvoll Mitwirkender im kulturellen Wandel“ („powerful agent for cultural change“)21 sowie die aktive Rolle der Übersetzung bei der Erzeugung und Prägung kultureller (und sogar politischer) Phänomene in der Zielkultur.22 Die Übersetzung wird demnach nicht mehr als Akt der passiven Nachbildung eines Ausgangstexts betrachtet, sondern als Akt der bewussten Selektion, Aufarbeitung und Strukturierung von Wissen – und potentiell auch als Instrument des Verschweigens, Verfälschens und der Verweigerung von Information analysiert.23 Weil sie das Verstehen und Deuten der Textvorlagen implizieren, erscheinen Übersetzungen als komplexe hermeneutische Operationen, die nicht nur der Vermittlung der Ausgangskultur dienen, sondern auch ein tieferes Verständnis der Zielkultur selbst ermöglichen. Im Rahmen des skizzierten cultural turn in der Translationswissenschaft ist die Kreativität besonders in den letzten Jahren zu einem zentralen Konzept avanciert. Spätestens seit den Standardwerken von Paul Kußmann und Gerrit Bayer-Hohenwarter24 lässt sich ein wachsendes Interesse für die Bedeutung jener sprachschöpferischen und interpretativen Prozesse beobachten, die beim

19 Vgl. vor allem Itamar Even-Zohar, The Position of Translated Literature within the Literary Polysystem. In: Literature and Translation. New Perspectives in Literary Studies, hg. von James S. Holmes, José Lambert und Raymond van den Broeck, Leuven 1978, S. 117–127; Gideon Toury, In Search of a Theory of Translation, Tel Aviv 1980; Theo Hermans, The Manipulation of Literature. Studies in Literary Translation, New York 1985; Gideon Toury, Descriptive Translation Studies – and Beyond, Amsterdam/Philadelphia 1995. 20 „Translations are not made in a vacuum. Translators function in a given culture at a given time. The way they understand themselves and their culture is one of the factors that may influence the way in which they translate“ (André Lefevere, Translation / History / Culture. A Sourcebook, London/New York 1992, S. 14). 21 Susan Bassnett, Translation Studies, 3. Aufl., London 2002, S. 9. 22 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, The Politics of Translation. In: Outside in the Teaching Machine, New York/London 1993, S. 179–200. 23 Vgl. Lawrence Venuti, The Translator’s Invisibility. A History of Translation, London 1995. 24 Vgl. Paul Kußmaul, Kreatives Übersetzen, Tübingen 2000; Gerrit Bayer-Hohenwarter, Translatorische Kreativität. Definition – Messung – Entwicklung, Tübingen 2012.

Einleitung

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literarischen Übersetzen aktiviert werden. Diese Prozesse, die in weiteren Sammelbänden anhand empirischer Fälle ausgelotet wurden,25 lenken die Aufmerksamkeit der Forschung auf die Subjektivität und Intentionalität des Übersetzers, auf die Grenzen, innerhalb deren Kreativität möglich ist, sowie auf die verschiedenen Nuancen zwischen Abhängigkeit vom Original und Innovation, zwischen Zurückhaltung und Wagnis, zwischen treuer Wiedergabe und kreativer Erneuerung. Der vorliegende Band erkundet den kreativ-interpretativen Spielraum des Übersetzers in der Goethezeit und beleuchtet ihn aus übersetzungshistorischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Angestrebt wird eine Kulturgeschichte des kreativen Übersetzens um 1800, die aus der Gesamtheit der Beiträge zu einzelnen repräsentativen Studienfällen resultieren soll, in der Überzeugung, dass case studies besonders bei der Analyse von Übersetzungspraktiken keine marginale Rolle spielen, sondern „eine fundamentale Bedeutung [...] als Erprobungsfeld für die Entdeckung (und Implementierung) allgemeiner übersetzerischer Verhaltensmuster“ besitzen.26 Die hier versammelten Fallstudien zur kreativen Praxis des literarischen Übersetzens zwischen ca. 1750 und 1830 sollen dazu ermutigen, die als sekundär geltenden Textformen als gleichberechtigten Teil der Literaturgeschichte zu verstehen, der nicht weniger Ausdruckspotenzial besitzt als die Werke mit Originalitätsstatus. Gemeinsam ist ihnen das Anliegen, aus der Übersetzung hervorgegangene Texte zu historisieren und die ihnen inhärenten Gattungsund Theoriekonzepte zu rekonstruieren. Entstehungs-, Herstellungs-, Vertriebs- und Aufnahmebedingungen einer Übersetzung sind historisch genauso einmalig wie die eines nicht übersetzten Textes.

II Überblick über die Beiträge Den Fallstudien vorgeschaltet ist ein Beitrag von Alexander Nebrig zur romantischen Übersetzungsfreiheit. Das neue übersetzungsgeschichtliche Para-

25 Vgl. Manuela Perteghello, Eugenia Loffredo (Hg.), Translation and Creativity. Perspectives on Creative Writing and Translation Studies, London/New York 2006; Martine Hennard Dutheil de la Rochère, Irene Weber-Henking (Hg.), La traduction comme création / Translation and creativity, Lausanne 2016; Larisa Cercel, Marco Agnetta, María Teresa Amido Lozano (Hg.), Kreativität und Hermeneutik in der Translation, Tübingen 2017. 26 „a fundamental significance in their role as a testing-ground for the discovery (and implementation) of general patterns of translation behaviour“ (Mirella Agorni, Locating Systems and Individuals in Translation Studies. In: Constructing a Sociology of Translation, hg. von Michaela Wolf und Alexandra Fukari, Amsterdam/Philadelphia 2007, S. 123–134, hier S. 129).

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digma, das als Folge buchhandelspolitischer und verlagsrechtlicher Maßnahmen sowie urhebertheoretischer Überlegungen interpretiert wird, trat neben die frühneuzeitliche Übersetzungsfreiheit, ohne diese jedoch abzulösen. Ausgangspunkt der Entwicklung war ein bislang wenig beachteter, aber folgenreicher Eingriff in den Übersetzungsmarkt: Ab 1773 konnten Buchhändler Übersetzungsprojekte bei der Leipziger Bücherkommission registrieren lassen. Vornehmlich Leipziger Verleger sicherten sich das Exklusivrecht für die Übersetzung eines Werkes für zehn Jahre mit Option auf Verlängerung. Konkurrenzprojekte waren zwar weiterhin möglich, aber wirtschaftlich riskant, da sie als Nachdruck galten und offiziell nicht mehr in Leipzig gehandelt werden durften. Just gegen diese Praxis richtete sich die Bestimmung des Preußischen Landrechts von 1794, die Übersetzung als neue Schrift anzusehen. Die dadurch in den 1790er Jahren bewirkte Liberalisierung des Übersetzungsmarktes war der oft bemerkten Zunahme des Übersetzens während der romantischen Epoche förderlich. Auf konzeptioneller Ebene war die romantische Übersetzungsfreiheit Ausdruck einer neuen und historisch auf die Romantik beschränkten Urhebertheorie, die den Originalautor und den Übersetzer zugleich als Urheber anerkennt – im Unterschied zum später kodifizierten Urheberrecht. Diese Neuformulierung frühneuzeitlicher Übersetzungsfreiheit korrespondiert – so die im Beitrag diskutierte These – mit der frühromantischen Übersetzungstheorie. Tatiana Korneeva macht auf den Einfluss politischer Rahmenbedingungen auf die Übersetzungspraxis aufmerksam, indem sie am Beispiel deutscher und russischer Übersetzungen von Pietro Metastasios La clemenza di Tito aus der Mitte des 18. Jahrhunderts darlegt, wie stark die Libretti in die höfische Repräsentationskultur eingebunden waren. Durch eine kontrastive Analyse der Dresdener und Sankt Petersburger Übersetzungen der Clemenza, die respektive von Johann Adolf Hasse und Jacob von Stählin angefertigt wurden, zeigt der Beitrag auf, dass die Libretti als vornehmlich höfische Gattung in besonderem Maß nicht bloß übersetzt oder adaptiert, sondern immer auch ideologisch und politisch-instrumentell zugerichtet werden mussten. Der produktive Umgang und die rhetorische Anpassung an die Aufnahmekultur der Höfe scheinen somit eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein. Mit ihrer Analyse von Christoph Martin Wielands Roman Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764) als Bearbeitung von Miguel de Cervantes’ Don Quijote lotet Barbara Ventarola eine andere Art des schöpferischen Umgangs mit dem Ausgangstext aus. Der Roman ist als Komplement zu Wielands Shakespeare-Übersetzung zu lesen, mit der er sich explizit in die zeitgenössischen Debatten um Sinn, Nutzen und Formen der Übersetzung einschaltet. In beiden Werken verfolgt Wieland, freilich auf recht unterschiedliche Weise, sein Projekt einer Erneuerung der deutschen Dichtung und Sprache, indem er

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das Fremde in das Eigene holt. Dass Fragen der Übersetzung ein wichtiges Anliegen des Don Sylvio sind, signalisieren bereits die ersten Seiten: Indem Wieland einen fiktiven Herausgeber einführt, der den Text als Übersetzung eines spanischen Originals bezeichnet, stellt er nicht nur einen ersten Bezug zum Don Quijote her (auch Cervantes greift auf diese beiden fiktiven Vermittlungsinstanzen zurück), sondern situiert den Roman auch im Kontext der zeitgenössischen Debatten um das Übersetzen und um das Verhältnis von Rezeption und kreativer Produktion. Einer der wichtigsten Befürworter translatorischer Kreativität im deutschen Sprachraum war der junge Wilhelm Heinse. Für die interlinguale Übersetzung von Torquato Tassos Gerusalemme liberata und Ludovico Ariostos Orlando furioso verzichtet er auf die Gattungsmerkmale der ottava rima und übersetzt die epischen Gedichte bewusst in Prosa. Interessanterweise aber hängt er seiner anonymen Pseudoübersetzung Laidion (1774) Stanzen in ottava rima an, die sich als Übersetzung formaler, generischer und motivischer Elemente des italienischen Renaissance-Epos erweisen. Wie Elena Polledri zeigt, lässt sich in diesem Fall von einer Trennung bzw. funktionalen Verteilung sprechen: für den Handlungsverlauf wird die Prosa gewählt, die Form des Originals wird deshalb nicht aufgegeben, sondern sich in einem Originalwerk angeeignet. Heinse bringt mit einer solchen Praxis zum Ausdruck, dass die Übersetzung als Ersetzung des einen Textes durch einen anderen unmöglich die Komplexität des Originals erfassen kann und dass mehrere, transgenerische Texte notwendig sind, um das Ganze zu übersetzen. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann beschäftigt sich mit den Selbstübersetzungen des Dichters Jens Baggesen, der auf Dänisch, Deutsch und gelegentlich auf Französisch schrieb und seinen programmatischen Sprachwechsel als „Schreiben auf Europäisch“ bezeichnete. Baggesen genoss durch die erste Hexameterübersetzung des Homer ins Dänische hohes Ansehen, und auch die Adaption von Wielands Oberon in der dänischen Oper Holger Danske ist ein Beispiel seines kreativen Übersetzungsverfahrens, das bei der Aufführung einen Streit über das Nationaltypische (die sogenannte „Holgerfehde“) auslöste. Weniger bekannt ist, dass er die Übersetzung seiner eigenen dänischen Gedichte ins Deutsche und Französische mit Kommentaren zu versehen pflegte und sie auch gelegentlich mit Freunden (u. a. mit seinem Vorbild Johann Heinrich Voß) diskutierte. So inszenierte er sich als einen von der Zielsprache Ergriffenen, der sich empfindsam-ekstatisch gänzlich in eine andere Sprache und Kultur hineinversetzte und somit mühelos und kongenialisch übersetzen konnte. Damit spielte er einerseits die Rolle der Übersetzertreue herunter, andererseits aber auch sein tatsächliches Feilen am Text, das in einzelnen Fällen aus seinem Nachlass ersichtlich ist.

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Der Aufsatz von Giovanna Pinna erkundet die Strategien, die Friedrich Schiller in seinen teilweise als Bühnenbearbeitungen gedachten Übersetzungen dramatischer Texte umgesetzt hat und insbesondere sein Konzept, das Original übersetzend erraten bzw. erschaffen zu können. War Schiller nämlich seit der Schulzeit mit dem Lateinischen und Französischen vertraut, so hätte er sich aber nicht ohne das Hinzuziehen anderer Übersetzungen mit englischen oder griechischen Dramen auseinandersetzen können (Übersetzen ,aus zweiter Hand‘). Wie aus Pinnas Analyse seiner Übertragungen der Iphigenie auf Aulis von Euripides, der Phèdre von Jean Racine und des Macbeth von William Shakespeare hervorgeht, stellt Schillers kreative Übersetzungspraxis eine Art Aneignung des Originalsinns bei dessen gleichzeitiger Aktualisierung dar. Denn im Zentrum seiner Übersetzungstätigkeit steht nicht primär die wortgetreue Wiedergabe des Originals, sondern das theoretische Interesse für die Strukturen der tragischen Handlung und für die Ausdrucksmöglichkeiten der dichterischen Sprache. Mit den literarisch-formellen Ansätzen und Resultaten von Schillers kreativer Arbeit an fremdsprachigen Texten beschäftigt sich ebenfalls Mario Zanucchi in seinem Aufsatz, der zwei Teilübersetzungen aus Ariostos Orlando furioso untersucht. Die eine Übertragung erschien anonym 1793 in der Neuen Thalia und stammt vermutlich aus der Feder von Caroline von Dacheröden, Wilhelm von Humboldts späterer Ehefrau; die andere, unveröffentlichte Auswahlübersetzung aus dem vierten und sechsten Gesang des Furioso, die ursprünglich ebenfalls für die Thalia entstand und Korrekturen von Schillers Hand aufweist, ist hingegen von Caroline von Wolzogen verfasst. Dass Ariosto eine bisher unvermutete Prominenz im Werk Schillers für sich beanspruchen kann, zeigen nicht nur die beiden von Schiller betreuten Thalia-Übertragungen, sondern auch seine eigene Übersetzung der 22. Stanze aus dem ersten Gesang des Furioso, seine Ariosto-Deutung in Über naive und sentimentalische Dichtung (1796) und die Rezeption der Erzählung der „Contessa d’Olanda“ im Dramenfragment Die Gräfin von Flandern (1801). Dass auch bei Goethe die Übersetzung eine Art produktive Rezeption ermöglicht, die ein ganzes Werk und dessen intertextuelle Strategien betrifft, verdeutlicht Erik Schilling in seinem Beitrag zur kreativen Aneignung des Corpus Priapeiorum in theoretischen und literarischen Schriften des Autors. Explizit und implizit greift Goethe an verschiedenen Stellen auf die Carmina Priapeia zurück, wobei er sich teils als textkritischer Kommentator, teils als Übersetzer, teils als poetischer Bearbeiter zeigt. Besonders in den Römischen Elegien (1795) und den Venezianischen Epigrammen (1796) spielt die Frage der Übersetzung eine entscheidende Rolle: Nicht nur sind intertextuelle Referenzen in Goethes genannten Gedichtsammlungen teils wörtliche Belege seiner überset-

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zenden Aneignung des lateinischen Textes, auch wird der Vorgang des Übersetzens bisweilen selbstreflexiv thematisiert, wenn etwa das nachgelassene Venezianische Epigramm Nr. 38 nach einer deutschen Entsprechung sowohl für das griechische ‚phallos‘ als auch das lateinische ‚mentula‘ sucht. Goethe beschränkt sich jedoch nicht auf solche Fragen der Übersetzung, sondern entwickelt darauf aufbauend eine an den Priapeia orientierte Poetologie, die die Elegien rahmt und für die Epigramme zentral ist. Anhand eines Vergleichs zwischen der Verdeutschung Laurence Sternes und Tobias Smolletts durch Johann Joachim Bode und den Cervantes- und Shakespeare-Übersetzungen von Ludwig Tieck zeigt Iris Plack exemplarisch, wie sich im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund des Wandels des Übersetzerberufs eine philologisch-dokumentarische Übersetzung herauszubilden beginnt. Nachgegangen wird insbesondere der Frage, wie sich das sinkende Prestige der ,Dichterübersetzer‘ und die damit einhergehende Aufwertung des Originals im Zeitalter der Romantik und des aufkommenden Historismus auf die zeitgenössische Praxis des Übersetzens auswirken. Bode bietet sich als ein früher Vertreter des Standes der reinen Literaturübersetzer an, der sich allein durch das Übersetzen einen Namen gemacht hat; Tieck, dessen literarische Vermittlungstätigkeit im Zeichen der romantischen Synthese von Dichtung und Gelehrsamkeit steht, trägt stärker als andere Frühromantiker den Tendenzen des literarischen Marktes Rechnung und ist als Übersetzer und Herausgeber bereits dem Zeitdruck der Verlage ausgesetzt. Der Beitrag von Angela Sanmann lotet die prekären Bedingungen der Möglichkeit von Kreativität in der weiblichen Übersetzungspraxis um 1800 aus und untersucht insbesondere die speziellen Formen der kommentierenden Übersetzung und der Pseudoübersetzung als Freiräume translatorischer Kreativität. Einerseits zeigt sie, wie Übersetzerinnen durch Auslassungen, Hinzufügungen und Anmerkungen in das Original eingreifen, um es in Frage zu stellen, zu ergänzen oder fortzuschreiben. Besonders aufschlussreich sind hierbei Übersetzungen von Texten, in denen geschlechtsspezifische Rollenbilder thematisiert werden, wie Lady Carlisles Thoughts in the form of maxims addressed to young ladies, die Meta Forkel-Liebeskind 1791 ins Deutsche übersetzt und mit inhaltlichen Kommentaren sowie mit einer eigenen Reflexion versieht. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass Übersetzen und Schreiben Hand in Hand gehen. An Caroline Wuiets als Pseudoübersetzung konzipiertem Roman Le couvent de Sainte Catherine (1810) zeigt Sanmann, dass das Inszenieren eines Werkes als Übersetzung eine prädestinierte Strategie darstellt, um das Spannungsverhältnis zwischen dem Ideal der dienenden Übersetzerin, den individuellen Emanzipationsbestrebungen eines weiblichen Ich und einem genuin künstlerischen Ausdruckswillen literarisch auszutarieren.

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Gaby Pailer beschäftigt sich ebenfalls mit weiblicher Autorschaft und kreativer Rezeption, indem sie Charlotte von Steins Drama Die zwey Emilien (1803) im Vergleich zu seiner englischen Vorlage, Sophia Lees Roman The Young Lady’s Tale. The Two Emilys (1798) analysiert. In Steins adaptiver Übersetzung sind insbesondere Strategien der Dramatisierung eines epischen Stoffes in Bezug auf Konzepte von Tragikomik und Melodramatik von Interesse. Stein wählt das Genremuster des bürgerlichen Trauerspiels bzw. der englischen domestic tragedy à la Edward Moore oder Frances Sheridan und ändert insbesondere die Funktion der poetischen Gerechtigkeit gegenüber der narrativen Vorlage. Während bei Lee die betrügerische Emily Fitzallen, die der noblen Emily Arden Gatten und Erbe abspenstig machen will, übel abgestraft wird, gerät sie bei Stein zur heimlichen Heldin. Weitere Momente translatorischer Kreativität erlaubt sich Stein im Handlungsaufbau, indem sie bei der Transformation von Roman zu Drama etwa Hinweise auf das Erdbeben von Messina oder schauerromantische Elemente in den Text einfügt. Der reichhaltigen Entstehungs- und Übertragungsgeschichte eines Bestsellers der Kinder- und Erziehungsliteratur, Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer Prediger und seine Familie (1812–1827) von Johann David Wyss, widmet sich der Aufsatz von Irene Weber Henking. Unmittelbar nach dem Erscheinen der ersten Bände wird das Werk, das intertextuelle Bezüge zu Daniel Defoes Robinson Crusoe und Jean-Jacques Rousseaus Emile, ou de l’éducation aufweist, ins Französische und Englische übersetzt und fortgeschrieben. Interessanterweise stützen sich die englischsprachigen Übersetzungen der Schweizer Robinsonade auf die französische Bearbeitung durch Isabelle de Montolieu, die das belehrende Jugendbuch in einen unterhaltsamen Jugendroman mit unzähligen Abenteuern und einem romantisch märchenhaften Schluss verwandelt. Dieses französische Happyend von 1824 wird von Wyss’ Sohn Johann Rudolf aufgenommen und in einem letzten vierten Band 1827 auf Deutsch verarbeitet. Bei der Untersuchung dieses Fallbeispiels betont Weber Henking die doppelte Kreativität des Übersetzers als Leser und Autor und stellt fest, dass schöpferische Praktiken für das Übersetzen von Kinderliteratur bis heute konstitutiv sind. Der Band schließt mit einem Beitrag von Daniele Vecchiato, der am Beispiel von Matteo Maria Boiardos Orlando innamorato – eines Werkes, das schon durch seine dichte Umschreibungsgeschichte für die Übersetzungsphilologie prädestiniert ist – zeigt, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Übersetzungsverfahren koexistieren. Goethes triadische Übersetzungstypologie (prosaisch, parodistisch und nach Identität strebend) deckt sich zwar nicht mit den drei vorgestellten Boiardo-Übersetzungen von Wilhelmine Schmidt, Johann Diederich Gries und Gottlob Regis, kann aber partiell für die

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zwischen 1819 und 1840 erschienenen Fälle zur Anwendung gebracht werden. Was Goethe entwicklungsgeschichtlich denkt, findet tatsächlich gleichzeitig statt. Außerdem zeigt Vecchiato, wie die neue theoretische Anbindung der Übersetzung an Hermeneutik, Philologie und Ästhetik in der konkreten Übersetzungssprache umgesetzt ist. Die Übersetzung wird zu einer bewussten hermeneutischen Handlung. Das heißt beispielsweise bei Gries, dass ein Konzept vom Original konkrete Formentscheidungen lenkt und auch Abweichungen vom Original in Kauf nimmt zugunsten des hermeneutischen Konzepts. Sich eine Idee vom Original machen und diese zur Richtschnur der Übersetzung nehmen: Dieser Vorgang entspricht der romantischen Theorie des Übersetzens. Ein solches Verfahren zeigt aber nicht nur einen hermeneutischen, nach Ganzheit strebenden Zug, sondern weiterhin einen rhetorischen, also um Wirksamkeit bemühten. Zugleich kommt es auch zur Ästhetisierung der Vorlage, indem die deutsche Version so tut, als sei sie die italienische Fassung. Der Übersetzer möchte das Original im emphatischen Sinn erscheinen lassen, jedoch führt die Beachtung metrischer und lautlicher Formen zur Untreue gegenüber der Semantik. Parallel werden gleichsam in einer ausgleichenden Gegenbewegung metonymische Signale der Treue in die Übersetzung eingebaut, die – wie bei Regis – den Eindruck erwecken, die gesamte Vorlage sei treu übersetzt worden. Treue wäre demnach ein Schein-Phänomen und die Übersetzung ein Medium, durch welches die Vorlage als Original ästhetisiert wird. Die Beiträge bieten eine Pluralität von Untersuchungsgegenständen, Ansätzen und Erkenntnisinteressen, die in ihrer Gesamtheit einen ersten Impuls zu einer Kulturgeschichte der kreativen Übersetzungspraxis um 1800 leisten wollen. Diese Pluralität ergibt sich aus den verschiedenen Möglichkeiten, translatorische Kreativität zu bändigen. Die Übersetzungsfreiheit ist je nach Epoche, Gattung oder Kulturraum mit unterschiedlichen ästhetischen, diskursiven, moralischen, juristischen, ökonomischen oder politischen Vorgaben konfrontiert und damit immer auch ein Phänomen der Beschränkung.

III Danksagung Der vorliegende Band entstand im Rahmen eines Forschungsvorhabens zur Übersetzungskultur der Goethezeit, das am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt war und durch ein zweijähriges Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wurde. Daniele Vecchiato möchte sich bei der Stiftung sowie bei Professor Dr. Ernst Osterkamp für die Unterstützung seiner Forschungen ausdrücklich bedanken. Cornelia Friedrich und Jana Schröder sei für die gewissenhafte Lektüre des Manuskriptes gedankt.

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Für die großzügige Druckbeihilfe sind beide Herausgeber der Fritz Thyssen Stiftung zu großem Dank verpflichtet.

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„Neue Schriften“ oder die Übersetzungsfreiheit der Romantik „Uebersetzungen sind in Beziehung auf das Verlagsrecht für neue Schriften zu achten“.1 So steht es im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (I, § 1027). Für den Verlauf der Übersetzungspraxis war nicht nur die 1794 in Kraft getretene Auffassung der Übersetzung als neuer Schrift bedeutsam (I.), sondern auch, daraus folgend, dass Neuübersetzungen nicht als Nachdruck anzusehen seien (I, § 1028). Diese Aufwertung des Übersetzens richtete sich gegen das Leipziger Übersetzungsmonopol von 1773, durch das die alte, frühneuzeitliche Freiheit zu übersetzen erheblich eingeschränkt worden war (II.). Die historische Bedeutung der rechtlichen Aufwertung durch die preußischen, aber auch russischen2 Gesetzgeber wird verständlicher, bedenkt man vom heutigen Standpunkt aus, dass die Übersetzung weiterhin bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts rechtlich vom Originalautor abgekoppelt blieb.

1 Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten, Bd. 1, Berlin 1791, S. 404, § 1027. Vgl. Friedrich Kapp, Johann Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, Leipzig 1909, S. 462. 2 Die Tendenz, den Übersetzer mit dem Originalschriftsteller rechtlich gleichzustellen, begegnet auch in der Gesetzgebung Russlands dieser Jahre, die diesbezüglich noch expliziter gewesen ist: Hugo Häpe betont, dass Russland im Reglement vom 8./20. 1. 1830 „Urheber und Übersetzer, Werk und Übersetzung nebeneinander stellt“ (H.[ugo] Häpe, Das Recht der Übersetzungen, entwickelt aus den positiven Gesetzen. In: Allgemeine Preßzeitung, Nr. 61–67 (30.7., 2.8., 6.8., 9.8., 13.8., 20.8. 1844), S. 241 f., 245 f., 249 f., 253 f., 257 f., 261 f., 265–267, hier S. 242). In Russland und in der UdSSR wurde die Übersetzungsfreiheit länger als in allen anderen europäischen Staaten behauptet. Erst 1973 trat die UdSSR dem Genfer Welturheberrechtsabkommen bei und schaffte damit „die auf eine im Westen stets heftig attackierte alte russische Tradition zurückzuführende ‚Übersetzungsfreiheit‘ ab“ (Ferenc Majoros, Die Sowjetunion unterzeichnet erstmals Urheberrechtsabkommen mit einem westlichen Land. In: Osteuroparecht, 29, 1983, S. 46–51, hier S. 46). Seither konnten auch sowjetische Autoren über die Übersetzung ihrer Werke verfügen. Das erste bilaterale Urheberrechtsabkommen wurde 1981 mit Österreich geschlossen. Zusammenfassend s. Ferenc Majoros, Zur neuesten Entwicklungsphase im internationalen Urheberrecht der Sowjetunion. In: Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht [ab 2001: Archiv für Urheber- und Medienrecht] (UFITA), 95, 1983, S. 101–189. – Wie einst in Österreich (vgl. Urs Helmensdorfer, „Heilig sey das Eigenthum!“ Urheberrecht in Wien um 1850. In: UFITA, 2, 2001, S. 457–496, bes. S. 487) „war die Notwendigkeit der Übersetzungsfreiheit auch in der Sowjetunion mit den kulturellen, erzieherischen und wirtschaftlichen Erfordernissen des Vielvölker- und Vielsprachenstaates begründet worden“ (Adolf Dietz, Die Modernität des letzten zaristischen Urheberrechtsgesetzes von 1911. In: UFITA, 137, 1998, S. 45–64, hier S. 58). https://doi.org/10.1515/9783110542202-002

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Inwiefern die 1794 im positiven Recht bezeugte Parallele von Übersetzer und Dichter als Verfasser ‚neuer Schriften‘ mit der Übersetzungstheorie der Frühromantik konvergieren könnte, ist noch nicht erörtert worden (III.). Auch die Frühromantiker begreifen das Dichten als Übersetzen,3 und ihre Theorie verlieh Übersetzern wie Ludwig Tieck und August Wilhelm Schlegel ein ausgesprochen schöpferisches Selbstverständnis. Die „Lust am Übersetzen“,4 die um 1800 innerhalb der literarischen Praxis entfesselt wurde, gehorchte sicherlich einer gesteigerten Nachfrage auf dem Buchmarkt an weltliterarischen Erzeugnissen. Aber ohne die liberalen Bedingungen, unter denen sich das literarische Übersetzen vollzog, wäre das romantische Übersetzungsprojekt, das literaturgeschichtlich eine Erneuerung darstellt, doch stark gehemmt worden: Neuübersetzungen wurden zum einen nicht als Nachdruck behandelt; fremdsprachige Literatur war zum anderen nicht geschützt. Die Übersetzungsfreiheit der Romantik kennzeichnet sich aber nicht allein durch fehlende rechtliche Kontrolle – das war der frühneuzeitliche Normalzustand –, sondern ebenso durch die potentielle Aufwertung des Übersetzens zu einem kreativen Akt. Eine Ursache des neuen schöpferischen Verständnisses war die erstarkende Urheberrechtstheorie. In der Praxis hatte man es um 1800 also mit zwei Varianten der Übersetzungsfreiheit zu tun. Neben die alte, frühneuzeitliche Übersetzungsfreiheit, die auf der Nachahmungspoetik und dem Verlegerprinzip basierte, gesellte sich eine moderne romantische Übersetzungsfreiheit (IV.). Diese war vom neuen Geist des entstehenden Urheberrechts geprägt, insofern sie die Übersetzung als neue Schrift auffasste. So bestand eine Gleichzeitigkeit alter und neuer Konzepte in dieser Zeit des Übergangs auf pragmatischer und auf ästhetischer Ebene. War die aufkommende Urheberrechtstheorie für die Transformation von der frühneuzeitlichen in die romantische Übersetzungsfreiheit von Bedeutung gewesen, so leiteten die Kodifizierung des Urheberrechts (in Preußen 1837) sowie die Verträge zu seinem internationalen Schutz das Ende der Übersetzungsfreiheit ein.5 Denn die Herrschaft der Urheber über ihre Werke wurde keines3 Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S. 89–135. 4 Reinhard Tgahrt (Hg.), Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Marbach 1982. 5 Zum Prozess der Verrechtlichung des Übersetzens vgl. Martin Vogel, Die Entfaltung des Übersetzungsrechts im deutschen Urheberrecht des 19. Jahrhunderts. In: Die Notwendigkeit des Urheberrechtsschutzes im Lichte seiner Geschichte, hg. von Robert Dittrich, Wien 1991, S. 202–221; Anna Körkel, Die Übersetzung aus juristischer Perspektive. Von der Übersetzungsfreiheit zur Durchsetzung des Übersetzungs- und Übersetzerrechts. In: Moderne Sprachen, 46.2, 2002, S. 134–151, Christine Lombez, Dissimulation et assimilation poétiques. Traductions

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falls auf die Sprache oder die Form des Werkes begrenzt. Mit einer solchen Restriktion, die die autorisierte Übersetzung in den Augen der nationalen Literaturvermittler sein musste, eröffnete sich aber zugleich eine bislang ungekannte Möglichkeit für die Originalautoren. Geht man von einem vermittlungsökonomischen Weltliteraturbegriff aus, ist das Ende der Übersetzungsfreiheit nicht nur als Verlust beschreibbar, sondern als Beginn der Weltliteratur. Erst, wenn Autoren ihre Werke auch auf dem Weltmarkt anbieten können, entstehen ökonomische Anreize, über den Horizont des eigenen Vertriebsgebiets hinauszudenken. Die juristische Kopplung der Übersetzung an das Original, die im 19. Jahrhundert durch die Internationalisierung des Urheberrechts erfolgte, kann als Möglichkeitsbedingung einer rechtlich geschützten weltliterarischen Kommunikation begriffen werden (V.).

I Das Urheberrecht in seiner Bedeutung für die Übersetzung Das Urheberrecht basiert auf dem Grundsatz „i d e a l e [ r ] u n d m a t e r i e l l e [ r ] H e r r s c h a f t ü b e r d a s W e r k“.6 Bevor die „Werkherrschaft“ 7 mitsamt ihrer Pragmatik im positiven Recht verankert wurde, war sie um 1800 theoretisiert worden.8 Der durch die Theorie entstandene Problemhorizont bildete den Entfaltungsraum für den neuen, kreativen, sich von der Nachahmungspoetik

cachées et traductions non-déclarées en France au XIXe siècle. In: Littérature 141.1, 2006, S. 92–100, bes. S. 98–100. 6 Ludwig Mitteis, Zur Kenntnis des litterarisch-artistischen Urheberrechts nach dem österreichischen Gesetze vom 26. December 1895. In: Festschrift zum siebzigsten Geburtstage Sr. Excellenz Dr. Joseph Unger, hg. von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der K. K. Universität Wien, Stuttgart 1898, S. 88–220, hier S. 102. 7 Der von Ernst E. Hirsch (Die Werkherrschaft, in: UFITA, 36, 1962, S. 19–54) zuerst 1948 geprägte Begriff wurde von Heinrich Bosse (Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn/München 1981) aus der Rechtstheorie in die Germanistik übertragen und hat sich hier durchgesetzt. Vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2007, S. 13–22. 8 Vgl. Gerhard Plumpe, Eigentum – Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 23.2, 1979, S. 175–196; Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft; Michael Bülow, Buchmarkt und Autoreneigentum. Die Entstehung des Urhebergedankens im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1979; Thomas Wegmann, Tauschverhältnisse. Zur Ökonomie des Literarischen und zum Ökonomischen in der Literatur von Gellert bis Goethe, Würzburg 2002, S. 181–186.

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abgrenzenden Werkbegriff. Die urheberrechtliche Theorie – in Frankreich seit dem 19. Juli 1793 umgesetzt – berührte vornehmlich den Status von Originalwerken, die aufgrund ihrer formalen Einzigartigkeit kreativen Anspruch erheben konnten. Solange aber der Rechtsschutz nur für ein Staatsgebiet bestand, ein auf internationaler Rechtsbasis wirkendes Übersetzungsrecht also nicht existent war, konnten Übersetzungen vom Kreativitätspostulat der neuen literarischen Urhebertheorie profitieren.9 Die für das Werk getroffenen Überlegungen waren übertragbar auf das Werk, das aus der Übersetzung entstanden war. Der Ansatz von Johann Gottlieb Fichte ist innerhalb der Argumentation des vorliegenden Beitrages von größerem Interesse, weil Fichte zwischen 1794 und 1799 als Professor in Jena zum wichtigsten Vermittler idealistischen Denkens für die Frühromantiker wurde. Wie Johann Jakob Cella (1784) oder Kant unterschied auch Fichte zwischen geschützter Form und allgemeingutartiger Idee, wodurch unausgesprochen die Übersetzung als neue Form zu einem neuen Werk aufstieg. Fichtes Unterscheidung von gemeinfreien Gedanken, die allen gehören, und individueller Form, die nur der Verfasser beanspruchen kann, bildet eine konzeptionelle Grundlage für das deutsche Urheberrecht.10 Denn ohne eine solche wäre praktisch jede schriftliche Aussage geschützt. Gedankenfreiheit ist die Voraussetzung von Öffentlichkeit 11 und ermöglicht die Kommunikation: Ideen werden aufgegriffen, neu geformt und auf diese Weise wieder vermittelt. Konsequenterweise gehört zu dieser Kommunikationspraxis auch die interlinguale Übersetzung. Allerdings hatte Fichte wie vor ihm schon Kant seine Theorie in der Polemik gegen den Nachdruck entwickelt.12 Der Horizont war beschränkt auf den Vertrieb der Originalschrift, nicht auf ihren interkulturellen und interlingualen Transfer. Im Rahmen ihrer Theorie hätten beide Autoren die Übersetzung als frei ansehen müssen. Fichte verstand die Form als „ausschließendes Eigenthum“ 13 des Schriftstellers. Unmöglich, wird man ergänzen dürfen, kann die

9 Norbert Bachleitner, Der Übersetzungsbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts aus soziologischer Sicht. In: Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Martin Harbsmeier, Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz und Nina Mindt. Berlin 2008, S. 103–117, hier S. 111. 10 J[ohann] G[ottlieb] Fichte, Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks. In: Berlinische Monatsschrift, 21, 1793, S. 443–483. 11 Johannes Marl, Der Begriff der Öffentlichkeit im Urheberrecht, Tübingen 2017. 12 Fichte war zur Entstehungszeit, Oktober 1791, in Königsberg bei Kant. Dieser hatte seine Schrift im selben Organ publiziert: I[mmanuel]. Kant, Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdruks. In: Berlinische Monatsschrift, 5, 1785, S. 403–417. 13 Fichte, Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks, S. 451.

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Form in der Übersetzung beibehalten werden. Die Aneignung der Gedanken durch die Übersetzung wäre demnach keine Eigentumsverletzung. So hat auch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, das ungefähr zeitgleich mit Fichtes Überlegungen entstanden war und 1794 eingeführt wurde, nicht nur den Schutz der Originalautoren verbessert, sondern die Übersetzung als ‚neue Schrift‘ im Sinne der neuen Form definiert (I, § 1027). Rein äußerlich betrachtet, stellt die preußische Gesetzgebung keinen Bruch mit der frühneuzeitlichen Übersetzungspraxis dar. Der Umgang mit fremdsprachigen Schriften war weiterhin frei handhabbar, der Kontrolle der Originalschriftsteller, sofern sie noch lebten, entzogen. Wie die neue urheberrechtliche Theorie und der Kampf um die Autorenrechte überhaupt zielte die verbesserte Gesetzgebung in Preußen, das erst 1837 ein Urheberrecht einführte, auf den Schutz der Schriftsteller vor unerlaubtem Nachdruck und vor verlegerischer Willkür. Denn die seit dem Buchdruck übliche Praxis, das Manuskript ein für alle Mal zu verkaufen, war für den Schriftsteller gleichbedeutend gewesen wie für den Maler der Verkauf des Gemäldes. Sämtliche urheberrechtliche Debatten und Gesetzesnovellen interessierten sich bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts für den Schutz des Originalwerkes und seine Vermittlung in der Buchform. Die Übersetzung des Werkes in andere Sprachen blieb unwichtig, noch abwegiger wäre die Importfrage gewesen: Wie man den Originalverfasser einer Übersetzung honoriere? Die Urheberrechtsdebatte führte zunächst nur in einem Bereich der literarischen Produktion zu Neuerungen gegenüber der Vormoderne. Das bedeutet für die Übersetzungspraxis, dass sie als frühneuzeitliche Produktionsform einerseits juristisch indifferent ist, andererseits zwangsläufig an der modernen Urheberrechtsdebatte partizipiert. Denn die Aufwertung des Urhebers bezieht sich auf den Originalschriftsteller und auf den Übersetzer zugleich. Man kann diese merkwürdige Kontinuität mit der Frühen Neuzeit auf dem Gebiet der Übersetzung auch als ein Versäumnis begreifen. Zwar reagierten Gesetzgeber und Theoretiker, während sie um 1800 die Rechte der Autoren verbesserten und den Einfluss auf die Distribution ihrer Bücher zu vergrößern suchten, auf die Expansion des Buchmarktes. Zugleich aber übersahen sie die internationale Dimension dieses Buchmarktes. Sicherlich war die Situation in den deutschen Landen gegenüber England und Frankreich komplexer. Es war wichtiger, zwischenstaatliche Übereinkünfte zwischen den deutschsprachigen Staaten zu erzielen als internationale Übereinkünfte zwischen kulturell und sprachlich divergierenden Staaten. Gleichwohl findet man eine Theorie der Vermittlung des Werkes jenseits seiner Sprachgrenze auch schon vor 1800. Namentlich der Basler Jurist Rudolf Thurneysen (1671–1745) mit seiner Dissertation über den Büchernachdruck sei hier erwähnt. Als eine Form des erlaubten

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Nachdrucks kennt er den Nachdruck von Büchern aus Ländern, mit denen das Land keine Handelsbeziehungen pflege. Verboten sei hingegen der Nachdruck von Büchern aus Ländern, mit denen rechtliche oder gewohnheitsrechtliche Übereinkommen bestehen.14 Michael Christoph Hanow (1695–1773) gehörte zu den ersten Autoren, die sich zum rechtlichen Umgang mit Übersetzungen äußerten. Er unterschied in De iure autorum in editos a se libros (1741) zwischen Sprachen, die der Autor beherrsche, und ihm unbekannte Sprachen. Nur für die Übersetzung in letztere bedürfe es nicht mehr der Zustimmung durch den Autor. Das Dokument ist als erste Regung eines übersetzungsrechtlichen Bewusstseins von Interesse, aber rezeptionsgeschichtlich nicht von Belang.15 Hanow begreift die Übersetzung als eine Form der Nutzung und Bearbeitung neben der Kommentierung, Umarbeitung oder Erweiterung. Hanows nicht rezipierter Gedanke, der Autor habe am Übersetzungsvorgang seines Werkes ein Mitspracherecht, wurde dann prominenter am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von dem Wittenberger Juristen Karl Salomo Zachariä (1769–1843) formuliert. In seiner 1799 erschienenen Dissertation De Dominio, quod est auctori in libris a se conscriptis werden „Übersetzungen ohne Zustimmung des Autors für unzulässig erklärt“.16 In den Anfangsgründen des philosophischen Privatrechts (1804) fragt Zachariä ernsthaft, ob man das Werk

14 Joh. Rudolfus Thurnisius [Thurneysen], Dissertatio Juridica Inauguralis De Recusione Librorum Furtiva zu Teutsch Dem unerlaubten Bücher-Nachdruck, Basel 1738, S. 8 f. Vgl. Hans Thieme, Zur Entstehung des internationalen Urheberrechts aus dem Kampf gegen den unerlaubten Büchernachdruck (mit Abdruck der Dissertation von Rudolf Thurneysen „De Recusione Librorum Furtiva“ […]). In: Die Berner Übereinkunft und die Schweiz, hg. von Manfred Rehbinder und Wolfgang Larese, Bern 1986 (Schriften zum Medien- und Immaterialgüterrecht SMI, 16), S. 1–46, hier S. 21 f. – Vogel, Die Entfaltung des Übersetzungsrechts im deutschen Urheberrecht des 19. Jahrhunderts, S. 206, missdeutet die Stelle als Plädoyer für die Übersetzungsfreiheit, von welcher aber überhaupt nicht die Rede ist im Text. 15 Vgl. Ludwig Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845, Baden-Baden 1995, S. 121. Michael Christoph Hanovius, De jure autorum in editos a se libros. In: Meditamenta nova, argumenti philosophici et literarii, 2 Bde., Danzig 1741, Bd. 1. Johann Gottlieb Senff (1734–1757) soll die Schrift unter dem Titel Von dem Rechte der Verfasser auf die von ihnen herausgegebenen Schriften übersetzt und kommentiert haben, ohne sie zu veröffentlichen (Johann Daniel Titius, Nachricht von den Gelehrten, welche aus der Stadt Conitz, des Polnischen Preußens herstamme, Leipzig 1763, S. 55), ansonsten aber gilt: „Hanovs Schrift, die wortreich auch viel Nebensächliches in barocker Gelehrtensprache abhandelte, wurde übrigens später nur ganz vereinzelt zitiert; offenbar war sie kaum bekannt. An seine Grundsätze dürften sich damals noch keineswegs alle Verleger gehalten haben“ (Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 121). 16 Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 172.

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eines anderen Autors übersetzen dürfe. Er bejaht die Frage, da auch die Übersetzung „ein Original“ 17 sei. Allerdings beschränke sowohl die bereits durch den Autor erfolgte Übersetzung als auch ein von ihm ausgesprochenes Übersetzungsverbot die allgemeine Übersetzungsfreiheit.18 Hanows und Zachariäs Überlegungen haben eine prototypische Bedeutung für die spätere internationale Lizenztheorie und waren für die Übersetzungspraxis um 1800 nicht relevant. Noch in den 1840er Jahren, als man darüber verstärkt nachzudenken begann und das Urheberrecht in Preußen schon durchgesetzt war, wurde die Vorstellung abgelehnt, ein Autor verfüge über ein Recht, das ihm die Kontrolle seines Werkes in einer anderen Sprache erlaube.19 Die damit verbundene Problematik für das moderne Übersetzungsrecht zeigt sich in Josef Kohlers Verständnis (1880) von Fichtes individueller Form. Der Urheberexperte macht aus ihr einfach eine innere Form,20 was einer metaphysischen Begründung des geistigen Eigentums gleichkommt. Kohler muss klar gewesen sein, dass nach Fichtes Formbegriff, strenggenommen, das Werk weder vor altermedialen Adaptionen noch vor interlingualen Übersetzungen zu schützen gewesen wäre. Wie bereits angedeutet, ist die romantische Übersetzungsepoche nicht einfach eine Fortsetzung der frühneuzeitlichen. Der expandierende Buchmarkt, das extensive Leseverhalten, das anonyme Publikum sowie der Beginn der Industrialisierung hatten eine völlig neue Situation geschaffen. Vor allem aber änderte das urheberrechtliche Bewusstsein die Rahmenbedingungen der romantischen Übersetzungsfreiheit. Die Erneuerung der Übersetzungsfreiheit um 1800 wurde durch ihr vorläufiges Ende markiert. Zumindest war die Unterbrechung im kursächsischen Raum wirksam gewesen.

II Übersetzung als Nachdruck und die Einschränkung der Übersetzungsfreiheit 1773 Noch 1774 zählte Johann Stephan Pütter in seinem Standardwerk Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft Übersetzungen zu jenen 17 Karl Salomo Zachariae, Anfangsgründe des philosophischen Privatrechts, Leipzig 1804, S. 84. 18 Vgl. Zachariae, Anfangsgründe des philosophischen Privatrechts, S. 83 f. 19 Vgl. [Anonym], Zur Frage über das geistige Eigenthum im Ausland. In: Magazin für die Literatur des Auslandes, 84, 23. Juli 1844, S. 352. 20 Josef Kohler, Das Autorrecht. Eine zivilistische Abhandlung, Jena 1880, S. 209, vgl. Eugen Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1951, S. 73 f.

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Werken, „die ein jeder aus natürlicher Freyheit verfertigen und verlegen kann, ohne daß einer vor dem anderen einen Vorzug behaupten darf“.21 Auf Seite 193 Desselben druckt er aber auch schon die erste Einschränkung dieser natürlichen Freiheit durch das Kurfürstentum Sachsen. Was war geschehen? Um diese Frage zu beantworten, sei zuvor daran erinnert, dass die Vermittlungsökonomie zum einen auf die Produktion für den eigenen Buchmarkt, zum anderen auf jene Werke bezogen werden kann, die für den eigenen Buchmarkt oder aber für einen anderen Buchmarkt übersetzt werden müssen. Ausfuhrvorgänge blieben bis weit in das 19. Jahrhundert juristisch indifferent. Einfuhrvorgänge jedoch wurden in dem Moment geregelt, in dem sie eine Rolle für die Ökonomie des deutschen Literaturmarktes spielten. Zwar kann die legale, d. h. die von der Obrigkeit erlaubte Buchproduktion unter dem Gesichtspunkt des Marktes seit Entstehung des Buchdrucks beschrieben werden, aber das Phänomen einer zunehmenden Nachfrage anonymer Leserschichten nach fiktionalen Stoffen lässt sich doch erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten. Als Schriftsteller begannen, freie Schriftsteller zu werden, entwickelte sich auch der Literaturmarkt im modernen Sinn22 und damit auch der Markt für Übersetzungen,23 was der Zeitdiagnostiker Friedrich Nicolai literarisch reflektiert hat.24 Somit verwundert es nicht, dass Buchhändler ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts versuchten, die Einfuhr zu regulieren – nicht aber nach urheberrechtlichen Prinzipien, sondern durch die frühneuzeitliche Praxis, Privilegien zu vergeben. Die moderne Erlaubnis zu übersetzen wird mit dem Lizenzbegriff ausgedrückt, die frühneuzeitliche Erlaubnis jedoch mit dem des Privilegs. An diesem Verständnis orientierte sich auch die Erlaubnisart des Mandats von 1773. Auf Betreiben der Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich und Immanuel Breitkopf wurde es von der Leipziger Bücherkommission eingeführt,25 die wiederum dem kursächsischen Kirchenrat unterstand. Die Buchhändler

21 Johann Stephan Pütter, Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft, Göttingen 1774, S. 83, § 85. 22 Vgl. Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, 3. Aufl., München 2011, S. 155–185. 23 Vgl. Norbert Bachleitner, „Übersetzungsfabriken“. Das deutsche Übersetzungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 14.1, 1989, S. 1–49, hier S. 3–8. 24 Vgl. Bachleitner, „Übersetzungsfabriken“, S. 10 f. Die Passage ist nachzulesen bei Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, 2 Bde., Berlin und Stettin 1774 f., Bd. l, S. 91–107. Nicolai spricht von ‚Manufakturen‘. 25 Ausführlich: Albrecht Kirchhoff, Versuch einer Geschichte des deutschen Buchhandels im XVII. und XVIII. Jahrhundert bis zu Reich’s Reformbestrebungen, Leipzig 1853, S. 210–263; Kapp, Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 39–49.

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und Verleger hatten seit 1765 aktiv versucht, Lösungen gegen die zunehmende Nachdruckpraxis zu finden. Da der Hauptumschlagsplatz für Bücher, die im deutschsprachigen Raum vertrieben werden wollten, Leipzig war, zeugt es von wirtschaftlichem Denken, für diesen Handelsplatz die Nachdrucke, zu denen Reich auch Zweit- und Drittübersetzungen zählte, durch eine allgemeine Regelung zu verbieten. Das Kursächsische Mandat den Buchhandel betreffend vom 18. Dezember 1773 ermöglichte es sächsischen und nicht-sächsischen Buchhändlern, auf der Leipziger Buchmesse „neu zu verlegende Bücher in ein bei der kursächsischen Bücherkommission zu Leipzig geführtes Protokoll einzeichnen zu lassen“.26 Nachdem ein Buch zuvor von der kursächsischen Zensur genehmigt worden war, konnte es dadurch auf zehn Jahre mit Verlängerungsoption geschützt werden. Privilegien wurden weiterhin parallel vergeben. Die nicht-sächsischen Verleger profitierten nur davon, wenn entweder das Buch in Sachsen gedruckt wurde oder aber ihr Staat kursächsische Druckwerke im Gegenzug schützte. In der Praxis wurden Übersetzungen vorsorglich protokolliert, so dass das Protokoll nicht Auskunft über die tatsächlich erschienenen Übersetzungen gibt.27 Die Erlaubnisart des Mandats basierte auf dem Prinzip, dass der Verleger Eigentümer einer Schrift sei. Um das Mandat für eine Übersetzung zu erhalten, war nur der Eintrag in die sogenannte Leipziger Bücherrolle notwendig. Im vierten Absatz von § 3 des Mandats wurde geregelt, dass bei Übersetzungen „derjenige, so sich zuerst bey dem Protocolle gemeldet und einschreiben lassen, den Vorzug“ erhalte.28 Gieseke weist darauf hin, dass von dieser Regelung die Leipziger Buchhändler profitierten, weil, „da die Zustimmung des Autors noch nicht üblich war“,29 die Leipziger gewinnversprechende fremdsprachige Titel für sich reservierten. Der Eintrag, der sich am englischen Vorbild orien-

26 Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 151. 27 Einen solchen Fall stellen die hinterlassenen Schriften des Lyoner Arztes Claude Pouteau dar. Der Berliner Verleger Johann Friedrich Unger ließ die von Jean Colombier 1783 in Paris herausgegebenen Œuvres posthumes (3 Bände) bei Simon Gottlieb Mechau brieflich protokollieren (vgl. Brief vom 30. Januar 1784, Universitätsbibliothek Leipzig, Rep. VI 25zh 7 Nr. 518a). – Mechau gab für das Jahr 1782 ein gedrucktes Protokoll heraus (Verzeichniß der Churfürstl. Sächs. gnädigst privilegirten, sowohl nach dem gnädigsten Regulativ bey der Churf. Sächs. Bücher-Commißion zu Leipzig protocollirten Bücher), das als Grundlage eines systematischen Abgleichs der in einem Jahr protokollierten Schriften mit den tatsächlich erschienenen Übersetzungen dienen könnte. 28 Chursächsisches Mandat, den Buchhandel betreffend, vom 18ten Dec. 1773. In: Johann Heinrich Bergius, Sammlung auserlesener teutschen Landesgesetze, siebendes Alphabet, Frankfurt am Main 1785, S. 282–286, hier S. 285. 29 Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 152.

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tierte,30 genügte als Schutz vor Konkurrenz und war gegenüber der Beantragung eines Privilegs deutlich einfacher. Privilegien konnten damit aber weiterhin beantragt werden. Zwischen 1773 und 1812 konnten Verleger Übersetzungen ankündigen und sie auf diese Weise in Kursachsen und damit auf der Leipziger Buchmesse exklusiv, d. h. vor Konkurrenz geschützt vertreiben. Wer auf den Messen übersetzte Ware verkaufen wollte, musste sich den Leipziger Regeln fügen. In der Praxis führte es dazu, dass sich Verleger das Exklusivrecht für die Übersetzung eines Werkes für zehn Jahre mit Option auf Verlängerung sicherten. Dabei war es gleichgültig, ob es sich um ein altes oder aktuelles Original handelte. Konkurrenzprojekte waren weiterhin möglich, jedoch wirtschaftlich riskant, da sie offiziell nicht mehr in Leipzig gehandelt werden durften. Zwar musste man die Übersetzung in einem Jahr veröffentlichen, was bei umfangreicheren Büchern auch auszugsweise geschehen konnte, und hatte für „gute und tüchtige Uebersetzungen Sorge zu tragen“,31 aber Fälle, in denen sich Konkurrenten die Mühe machten, Fehler der Übersetzung nachzuweisen, um eine „verbesserte Uebersetzung zu ediren“,32 blieben wohl eher, wenn es sie überhaupt gegeben hat, die Ausnahme. Wie diese Praxis konkret aussah, sei an einem Beispiel kurz vorgestellt.33 Deutlich wird dabei auch das Verständnis von Reich, der im vorliegenden Fall als Kläger auftrat. Er versteht das Manuskript, das er erworben hat, als sein Eigentum: Nach Erwerb einer in Amsterdam besorgten Übersetzung von Rousseaus Nouvelle Héloïse und dessen Émile sehe er sich im „Besitz dieses unsers wohl erlangten Eigenthums“.34 Der Verlag Weidmanns Erben und Reich reichte am 21. Mai 1785 gegen eine durch den Berliner Verleger Carl Friedrich Rellstab am 21. Januar 1785 protokollierte Gesamtübersetzung der Werke Rousseaus eine Einwendung bei der Bücherkommission ein. Daraus geht hervor,35 dass

30 Ludwig Gieseke vermutet, dass das „Register der Company of Stationers in England und ebenso der […] Act 8 Anne von 1709“ Vorbild für dieses Verfahren gewesen sein dürften (Ludwig Gieseke, Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Urheberrechts, Göttingen 1957, S. 66, Anm. 221). 31 Chursächsisches Mandat, den Buchhandel betreffend, S. 285. 32 Chursächsisches Mandat, den Buchhandel betreffend, S. 285. 33 Jennifer Willenberg (Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts, München 2008, S. 188–209) stellt den neuartigen Warencharakter der Übersetzung nach 1773 mit weiteren Beispielen auf quellengeschichtlicher Grundlage der Leipziger Bücherrolle vor. 34 Stadtarchiv Leipzig, Tit. XLVI Nr. 402 Bl. 001: Pro Memoria vom 21. Mai 1785. Frau Carla Calov (Stadtarchiv Leipzig) sei für die Übermittlung der Dokumente ausdrücklich gedankt. 35 Stadtarchiv Leipzig, Tit. XLVI Nr. 402 Bl. 001: Pro Memoria vom 21. Mai 1785 „Schon in Jahren 1761 und 1762 erhielten wir gegen die bestim̄ te Vergütung, von dem rechtmäßigen Verle-

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sich Breitkopf das Recht erworben hatte, sowohl Rousseaus gesammelte Werke (Œuvres complètes) als auch dessen künftige Schriften zu verlegen. Breitkopf akzeptierte, dass Weidmanns Erben und Reich dessen ungeachtet weiterhin La nouvelle Héloïse und Émile auf Deutsch (1761, 21776 respektive 1762) vertrieben. Denn der Verlag hatte bereits Jahre zuvor in Amsterdam bei Marc Michel Rey die Texte gekauft. Als 1782 Rousseaus Confessions bei Unger in Berlin erschienen waren, verkaufte Breitkopf sein Privileg für die deutsche Gesamtausgabe an Weidmanns Erben und Reich (was allerdings nicht aktenkundig geworden ist, sich aber auf Nachforschung der Bücherkommission als richtig erwiesen hat). Doch der Verlag, anstatt die Übersetzung zu veranstalten, verkaufte das Recht für die Confessions weiter an Hartknoch in Riga, der sie am 23. Mai 1782 eintragen ließ, machte also Gewinn nur durch den Verkauf eines Rechtes, das dem neuen Besitzer Hartknoch wiederum wenig Freude bereitete. Unger hatte, wie erwähnt, in Berlin bereits eine Übersetzung herausgebracht. Wer wollte da noch in Leipzig zur Herbstmesse die Geständnisse haben, wenn im Sommer

ger Marc Michel Reÿ in Amsterdam, die Bogen von Roußeaus Neuer Heloise und deßen Aemil, so wie sie aus der Preße kom̅ en, zur Ubersetzung in unsere deutsche Muttersprache. Wir blieben in dem Besitz dieses unsers wohl erlangten Eigenthums, und auch Herr Breitkopf respectirte dieses, da er lange hernach, als die Oeuvres completes de Rousseau angekündigt wurden, um ein Privilegium bat, und es erhielte, über alle übrigen noch nicht gedruckten Schriften dieses Autors. Unter dem Verzeichnis dieser Oeuvres fanden wir eine Fortsetzung von obiger Heloise und Aemil, und weil wir dieselbe vor wichtiger hielten, als sie war, |: den̅ beyde machen nur im Deutschen 9 Bogen aus :| so suchten wir, um aller Concurrenz auszuweichen, ein gnädiges Privilegium hierüber. Bald darauf erschien auch die Confessions de Rousseau, und Herr Breitkopf überlies uns nun sein Privilegium ganz, gegen Erstattung der Unkosten. Ob dieses Privilegium in extensu auf uns transferiert worden, wissen wir nicht eigentlich mehr; aber das wissen wir, daß wir unser Recht auf die Ubersetzung der Confession, an Herrn Hartknoch abgetreten und daß dieser hierauf über dieses Buch mit einem Special-Privilegio begnadigt worden. Auf alles dieses bezieht sich nun unsere Einwendung, gegen des Buchdrucker Rellstabs Unternehmen, und wir überlaßen höchster Entscheidung, in wie weit sie statt haben kan̅ und soll. So viel ist gewis, daß Rellstab schwerlich alle, sondern nur diejenigen von Rousseaus Werken drucken will, von denen er sich Abgang versprechen kan̅, und das sind vorzüglich die Neue Heloise, der Aemil und die Confessions; da dieses aber unserer Auflage höchst nachtheilig seÿn, und uns großen Schaden zufügen würde, so bitten wir höchsten Orts dagegen Vorstellung zu thun, und es dahin zu vermitteln, daß wir beÿ unserem Eigenthum geschützt, und Herrn Rellstab nicht erlaubt werde, sich daran zu vergreifen. Den̅, wen̅ auch demselben auferlegt werden sollte, die vollständige Sam̄ lung der Roußeauischen Schriften nicht zu vereinzeln, so würde solches doch so wenig unterbleiben, als es der berüchtigte Nachdrucker Schmieder in Karlsruhe mit seinen Nachdrucken unterläßt, so geschärfte Befehle von Kaiserlicher Majestät auch dagegen ergangen sind. In welcher Lage gegenwärtig der Sächsische Buchhandel überhaupt ist, haben wir schon mehrmalen angezeigt, und die gegenwärtige Beÿlage ist ein neuer Beweis davon; wir können also des Schutzes unsers gnädigsten Landesherrn um so gewißer seÿn“.

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bereits in Berlin die Bekenntnisse erschienen waren? Die Bücherkommission rügt jedoch, dass Reich nirgends diese Übertragung eintragen lassen habe.36 Nicht nur die Vorgeschichte, auch der Gegenstand selbst ist charakteristisch: Als Carl Friedrich Rellstab in Berlin sein Unternehmen ankündigte, sämtliche Werke Rousseaus in Carl Friedrich Cramers Übersetzung und mit Daniel Chodowieckis Kupfern zu verlegen, verklagte Reich den Buchhändler Rellstab mit der Folge, dass dieser mit Cramers Übersetzung von La nouvelle Héloïse und Émile nicht in Leipzig handeln durfte – Cramers Confessions-Übersetzung ist wohl ganz unterblieben. Reich gewann den Prozess, der sich ein Jahr hinzog. Nach dem Urteilsspruch zeigte er sich am 16. Mai 1786 jedoch versöhnlich bzw. offenbarte er, worum es ihm eigentlich gegangen war: Von jedem der beiden Titel forderte er 50 Freiexemplare und verzichtete so auf sein alleiniges Recht, die deutschen Versionen von La nouvelle Héloïse und Émile zu vertreiben.37 Fälle wie dieser zeigen, wie sehr die preußischen Buchhandelsinteressen mit der Leipziger Praxis kollidierten. Die marktregulierende Praxis des Übersetzungsmonopols38 wurde von preußischer Seite ab den 1790er Jahren kritisiert und eingeschränkt. Die Maßnahmen der preußischen Gesetzgeber gegen Kursachsen wurden beratend unterstützt durch Berliner Buchhändler und Verleger, insbesondere durch Friedrich Nicolai.39 Auch die Verantwortlichen im sächsischen Kirchenrat erkannten, dass die Mandatspraxis nicht mehr angemessen sei, und lenkten in einem Bericht des Kirchenrats an das Geheimconsilium ein.40 Auch darin wird der bei Fichte geäußerte Gedanke formuliert, dass der Verfasser nur die Masse der Ideen, aber nicht ihre Form abtrete. Hieraus resultiere „die Freiheit jedes Schriftstellers: besondere Anmerkungen, Zusätze und Berichtigungen (weil eine neue Ideenmasse darstellend), beliebige Übersetzungen (ebenfalls als neue Geistesprodukte darstellend)“ 41 zu verfassen. Am 22. Februar 1800 schließlich empfiehlt die sächsische Landesregierung eine

36 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Tit. XVVI Nr. 402 Bl. 24 f. 37 Vgl. Urteil und Entscheidungsgründe. In: Stadtarchiv Leipzig, Tit. XVLI Nr. 402 Bl. 041 und 49 (13. 4. 1786). 38 Wenn [Johann Jacob Hottinger], Etwas über die neuesten Uebersetzerfabriken der Griechen und Römer in Deutschland, ins Besondre über den Bahrdtschen Tacitus, s.l. [Zürich] 1782, S. 12, von dem „Monopolium“, das jeder haben wolle und die Ware des anderen deshalb schlecht mache, spricht, kann das als eine Anspielung auf das Leipziger Monopol angesehen werden. 39 Kapp, Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 465 f. S. auch Robert Voigtländer, Das Verlagsrecht im Preußischen Landrecht und der Einfluss von Friedrich Nicolai darauf. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 20, 1898, S. 4–66. 40 Referiert bei Kapp, Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 468 f. 41 Kapp, Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 469.

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Gesetzesnovelle und ordnet für den Fall, dass es zu dieser nicht komme, an, „mehrere Übersetzungen eines Originals nebeneinander“ 42 zu gestatten. Man darf also sagen, dass die Vorgabe des Kursächsischen Mandats vornehmlich für die 1770er und 1780er Jahre entscheidend war. Erst am 10. August 1812, mit dem Mandat das Zensur- und Bücherwesen betreffend, in Abgleich mit Preußen und auf Druck der Franzosen wurden alternative Übersetzungen auch im positiven Recht zugelassen. Zugleich aber konnte eine solche Regel nur sinnvoll sein, wenn die alternative Übersetzung nach dem Differenzprinzip angefertigt worden war. Erlaubt war sie nur, wenn sie sich „wirklich, und nicht bloß durch einige unbedeutende Abänderungen“ 43 von der geschützten ersten Übersetzung unterschied. Nicht mehr der Nachweis von Fehlern, sondern die offensichtliche Abweichung legitimierte die Neuübersetzung. Nach knapp vierzig Jahren (1773–1812) wurde die deutsche Übersetzungsliteratur nicht mehr vom Leipziger Monopol tangiert. Die romantische Übersetzungsfreiheit wurde maßgeblich durch das Verlagsrecht des Preußischen Landrechts ermöglicht. Die neue von Preußen ausgehende Übersetzungsfreiheit richtete sich gegen die sächsische Praxis, alternative Übersetzungen als Nachdruck zu behandeln. Die Wiedergewinnung der Übersetzungsfreiheit durch die verlagsrechtlichen Bemühungen Preußens veränderten zugleich den Charakter der Übersetzungsfreiheit. Sie unterschied sich von jener alten Übersetzungsfreiheit durch ein neues autorrechtliches Bewusstsein, durch die positive Bestimmung der Übersetzung als neuer Schrift im Unterschied zur frühneuzeitlichen Indifferenz in dieser Hinsicht bzw. zum unausgesprochenen Verständnis der Übersetzung als Nachahmung. Übersetzungen profitierten analog zu den Originalwerken von der zunehmenden Kritik an der Praxis der Druckprivilegien. Zu veröffentlichende Werke wurden nicht mehr selbstredend als Verlagseigentum angesehen, obgleich noch kein Urheberrecht existierte. Es handelt sich also um eine Situation, in der sich ein Rechtsverhältnis am theoretischen Horizont zunehmend als neu, richtig und auch greifbar erweist, ohne aber schon kodifiziert zu sein. Für die weitere Reflexion kann solch ein Zustand durchaus produktiv sein. Zeitgleich mit Inkrafttreten der Bestimmung, Übersetzungen als ‚neue Schriften‘ anzusehen und damit die Übersetzungspraxis zu liberalisieren, begann sich von Jena ausgehend, wo seit 1794 Fichte lehrte, die romantische

42 Kapp, Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 470. 43 Königlich Sächsisches Mandat, Censur und Bücherwesen betreffend, Dresden am 10. August 1812. In: Allgemeine Staats Korrespondenz mit besonderer und beständiger Hinsicht auf die Staaten des Rheinischen Bundes, hg. von P.[eter] A.[dolph] Winkopp, Bd. 1, H. 1–3, Offenbach 1812, S. 404–417, hier S. 416.

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Übersetzungstheorie zu entwickeln. Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann hatten bereits in den 1770er Jahren in die romantische Richtung gedacht, die Frühromantiker Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel brachten diese Auffassung zur Durchsetzung und schufen ein neues übersetzungstheoretisches Paradigma.

III Freiheit der Übersetzungskunst und die frühromantische Übersetzungstheorie Die frühromantische Übersetzungstheorie geht von dem Grundsatz aus, dass das zu übersetzende Werk bereits eine Übersetzung sei. Original und Übersetzung, aber auch die Formen der Kritik, ringen allesamt auf ihre Weise damit, eine Idee zum Ausdruck zu bringen, die chronologisch zuerst durch den Originalautor realisiert wurde, aber von ihm nicht unbedingt am adäquatesten erfasst worden ist. Dieser Vorgang fällt zusammen mit der Entstehung einer literarischen Hermeneutik bzw. der Ausweitung der Hermeneutik von der sakralen Literatur auf die profane. Die hermeneutische Übersetzung ist Ausdruck der veränderten Einstellung auf literarische Originale und meint den Wunsch, die Idee des Ganzen als das Verstehen des Originals zu übertragen.44 Die Protagonisten der neuen Auffassung unterschieden meist zwischen einer eher grammatisch-historischen und einer psychologisch-idealistischen Hermeneutik. Die grammatische Sichtweise führt zu einer anderen Übersetzungsform als die psychologische, und von diesen beiden Übersetzungsweisen wiederum unterscheidet sich der Versuch ihrer Verbindung. Friedrich Schleiermacher hat entgegen zeittypischer Versuche, grammatische und psychologische Hermeneutik zu versöhnen, zwischen der Sprachlichkeit des Werkes und dem Geist des Autors geschieden.45 Für seine Übersetzungspraxis (Platons Werke, 1804–1810) bedeutet diese Trennung, dass er die psychologische Interpretation in die Kritik seiner Einleitungen verlegt, aber für die eigentliche Übersetzung auf der grammatischen Ebene bleibt.

44 Andreas Poltermann, Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, hg. von Brigitte Schultze, Berlin 1987, (Göttinger Beiträge zur Übersetzungsforschung 1), S. 14–52, bes. 16 und 29. 45 Hendrik Birus, Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik. In: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, Gadamer, hg. von Hendrik Birus, Göttingen 1982, S. 15–58, hier S. 31.

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Eine ähnliche Antithese mit Bezug auf das Übersetzen hatte bereits Johann Georg Hamann formuliert, der 1770 zwischen Sinn und Geist des Originals unterschied. Hamann nennt für die Erfassung des Sinns Genauigkeit, für den Geist aber Freiheit als Voraussetzung. Er glaubt, „daß Genauigkeit am besten den Sinn eines Schriftstellers erhielte, und daß Freyheit am stärksten seinen Geist ausdrückte“.46 So wie man in der Hermeneutik das Postulat des Verstehens auf sämtliche Texte der Literatur ausweitete, so wurde in der Poetik das dichterische als schöpferisches Wort verstanden und ein Widerspruch zwischen Schöpfung und Nachahmung spürbar.47 Es ist konsequent, in einer solchen Situation auch vom Übersetzer als von einem „schöpferischen Genie“ 48 zu sprechen, berücksichtigt man, dass die an ihn gestellten hermeneutischen Anforderungen hoch sind wie im Fall historischer und kulturell fremder Texte und die methodischen Vorentscheidungen ein Wagnis bleiben. Voraussetzung dieser hermeneutischen Kreativität bleibt die Freiheit in formalen Fragen gegenüber der Konvention. Das Ergebnis einer solchen Übersetzung ist ein einmaliges, kreatives und originales Werk – kritischer gesprochen, eine Idiosynkrasie, aus dem kritischen und hermeneutischen Geist des Übersetzers entstanden. In der Geschichte der literarischen Übersetzung in Deutschland kommt jene sich auf die Autorität des Originals berufende Freiheit, die den Effekt hat, die Übersetzung zum Original zu erheben, noch in den Übersetzungsprojekten Rudolf Borchardts zu Dante und den Provenzalen zum Ausdruck. Die frühromantischen Positionen radikalisierten genieästhetische und hermeneutische Werk- und Übersetzungskonzepte dermaßen, dass eine Beziehung zu der in Form einer Akademierede formulierten Theorie Schleiermachers (1813), die ja auch als romantische Theorie gilt, schwer erkennbar ist. Wenig jünger als Schleiermacher, waren die Generationsgenossen Novalis und Friedrich Schlegel (*1772) nicht an einer Übersetzungstheorie interessiert, die sich auf eine interlinguale Textbeziehung beschränkte, sondern sie versuchten, das Übersetzen eher als kreatives Prinzip zu erfassen. Übersetzung wurde nicht als linguistisches Problem, sondern als kritische Praxis begriffen. Schleiermacher,

46 Johann Georg Hamann, Johnson’s Geschichte der Übersetzungskunst überhaupt und besonders in England [1770]. In: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hg. von Josef Nadler, Bd. 4, Wien 1952, S. 354–357, hier S. 357. Zitiert von Günter Häntzschel, Johann Heinrich Voß. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung, München 1977, S. 20. 47 Vgl. zu diesem Widerspruch Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2. Aufl., Bd. 1, Darmstadt 21988, S. 10–22. 48 Vgl. Häntzschel, Johann Heinrich Voß, S. 21 f., hier S. 20.

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der mit beiden verkehrte, schränkte später den Fokus der Theorie stark ein auf das, was wir gewöhnlich unter Übersetzung verstehen. Vor allem aber ordnet sich die Übersetzungstheorie der romantischen Poetologie unter und ist wie diese diskursiv schwer greifbar. Die Zeitschrift Athenaeum (1798–1800) war auch hier das maßgebliche Medium der Reflexion. Der erste Band enthält Novalis’ Blüthenstaub- (Heft 1) und die Athenaeums-Fragmente (Heft 2). Antoine Berman, der aufgrund seiner außergewöhnlichen Kenntnis der frühromantischen Übersetzungstheorie im Folgenden dankbar zu Rate gezogen wird, erkennt in Friedrich Schlegels Vision, wie sie sich aus den Schriften des Athenaeum ergibt, die „Rückkehr zur Antike, die Herausbildung eines vielseitigen poetischen Nationalgenies, die Selbst-Entfaltung der Philosophie, die Vermischung von Denken und Dichten, die Entstehung einer Übersetzungskunst und einer Wissenschaft von der Kritik“.49 Das romantische Programm, das sich daraus ergibt, ist ein dreifaches: „Philosophie und Poesie verbinden, aus der Kritik eine Wissenschaft und der Übersetzung eine Kunst machen“.50 Die Romantiker der Jenaer Gruppe verbreiteten „im post-kantischen spekulativen Feld […] die Problematik des unendlichen Subjekts im Medium der Kunst und der Poesie“.51 Das bedeutet eine Aufwertung der Poesie als Erkenntnismedium und eine Neuformulierung sämtlicher Wissensbereiche. Es komme zu einer Umkehrung der konventionellen Sichtweise, die Übersetzung sei ein Verlust. Übersetzung werde nunmehr als Gewinn im Prozess der spekulativen Potenzierung des Ich verstanden, womit deutlich wird, dass Fichte nicht nur als Urheberrechtstheoretiker, sondern auch als idealistischer Philosoph des Ich für die Übersetzungstheorie der Frühromantiker bedeutsam war. Methodisch zeigt sich die romantische Theoriebildung als experimentell und fragmentarisch, vor allem aber wird das Denken als vorläufig konzipiert und bezogen auf ein Kommendes.52 So sind neben Kritiken, Sammlungen von Fragmenten,

49 Antoine Berman, L’épreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique. Herder, Goethe, Schlegel, Novalis, Humboldt, Schleiermacher, Hölderlin, Paris 1984, S. 112 [Übersetzung A. N.], im Original: „retour à l’Antiquité, apparition d’un génie national poétique protéiforme, auto-déploiement de la philosophie, mélange de la pensée et de la poésie, surgissement d’un art de la traduction et d’une science de la critique“. Die Übersetzung des Buches ins Deutsche bleibt Desiderat. 50 Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 112 [Übersetzung A. N.], im Original: „unir philosophie et poésie, faire de la critique une science et de la traduction un art“. 51 Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 113 [Übersetzung A. N.], vgl. den ganzen Satz im Original: „Mais leur place dans le champ spéculatif post-kantien consiste à déployer la problématique du sujet infini dans le médium de l’art et de la poésie“. 52 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 114. Friedrich Schlegels Lucinde beispielsweise hafte etwas Experimentales an. Der poetische Raum sei kein Werkraum, sondern vielmehr der

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Dialogen, literarischen Briefen die Übersetzungen Teil der Gesamtreflexion. Den Textsorten gemeinsam ist, wie Berman betont, der Verweis auf ein Abwesendes: auf das Original (Übersetzung), ein Ganzes (Fragment), auf einen Abwesenden (Briefe und Dialoge), auf das Werk oder die Literatur an sich (Kritik).53 Dieser utopische Bezug sei gleichbedeutend mit dem Bedürfnis des Originals nach der Übersetzung und dem Bedürfnis des Werkes nach der Kritik.54 Berman arbeitet diesen unendlichen Reflexionsprozess heraus. Alle Dinge mit allem verbinden, nach allen Seiten wenden – sei die Devise der Romantiker, und diese finde in der Übersetzung eine Form. Original und Werk werden als Medium der Unendlichkeit des Ich im Sinne der idealistischen Philosophie interpretiert.55 Novalis begründet eine Logologie im Zusammenfall der reflexiven und der unendlichen Bewegung.56 Potenzierung und Versatilität (versabilité) sind die beiden Prinzipien, die Berman bei Novalis erkennt. Potenzierung ist dabei Spiegelung und permanente Wendung und zugleich Ermöglichung. Denn das erste erscheint neu in der Spiegelung durch ein zweites: Romantisieren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedere Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.57

Berman verknüpft die Potenzierung (potentialisation) mit dem von Novalis nur einmal gebrauchten Begriff der Versabilität: „Über das notwendige Selbstbegrenzen – unendliche Versabilität des gebildeten Verstandes. Man kann sich aus allem ziehn, alles drehn und wenden, wie man will“.58 Auch in Friedrich Schlegels berühmtem Fragment über die romantische Universalpoesie (Athe-

Raum einer intensiven Reflexion des abwesenden, gewünschten oder noch kommenden Werkes. 53 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 114. 54 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 115, wobei Berman betont, dass zugleich das Original nicht der Übersetzung und das Werk nicht der Kritik bedürfe. Diese romantische Paradoxie spiegele sich auch im Fragment, das zugleich eine Art Medium des Ganzen sein müsse. 55 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 116. 56 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 121: „À vrai dire, opération réflexive et opération infinitisante n’en font qu’une pour les Romantiques“. 57 Novalis, Logologische Fragmente [II]. In: Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 2, Stuttgart 1960, S. 545, Nr. 105. 58 Novalis, Werke, Briefe, Dokumente, hg. von Ewald Wasmuth, Bd. 3, Heidelberg 1957, S. 159 f., Nr. 2368. Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 111–139 (Kapitel: Révolution roman-

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naeum Nr. 116) wird die Methode vorgeschlagen: „diese Reflexion immer wieder potenziren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen“.59 Novalis’ Versatilität und Schlegels Universalpoesie werten die Übersetzung im weiteren Sinn auf. Ein Echo bzw. eine Resonanz (Berman) sei Brentanos Satz im Godwi: Das Romantische sei eine Übersetzung.60 Die Jenaer haben mit progressiver Universalpoesie, Enzyklopädie und Witz eine Theorie der Übersetzbarkeit im weiteren Sinne entwickelt. Die Poesie wurde als Übersetzung, die Übersetzung als ein Wiedergänger der Poesie begriffen. Jede Dichtung sei Übersetzung aus der Natur- in die Kunstsprache. Dabei wurde der Bezug zwischen der Übersetzung im engeren und weiteren Sinn verdunkelt.61 Die Verzahnung von Übersetzung und Kritik geht vor allem auf Friedrich Schlegel zurück, was daran liegt, dass er im Unterschied zu Novalis aus der Philologie kommt. Er meint aber Ähnliches wie Novalis. Friedrich Schlegel ist der Denker der Kritik, Novalis mehr der Übersetzung, jedoch im weiteren Sinn. Schlegel ordnet die Übersetzung der Kritik unter, aber genauso, darin liegt die Hybris, das Werk selber.62 Übersetzung und Kritik seien beide nicht identisch, sondern Vorgänge des jeweils anderen.63 Zugleich decke die Theorie der Kritik die Theorie der Übersetzung ab.64

tique et versabilité infinie). Goethe (West-oestlicher Divan, Stuttgart 1819, S. 529) bewundert die Versatilität der deutschen Übersetzungssprache. 59 [Friedrich Schlegel], [Fragment Nr. 116]. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift, I.2, 1798, S. 28– 30, hier S. 29. 60 Vgl. [Clemens Brentano], Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria, Bd. 2, Bremen 1801, S. 66. Der Satz ist spätestens seit Apel (Sprachbewegung, S. 89) der Inbegriff frühromantischer Übersetzungstheorie. Vgl. auch Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 167. Weniger bemerkt wurde, dass Godwi im Vorfeld des Satzes: „Das Romantische selbst ist eine Uebersetzung“, das Romantische als „ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases“ (S. 58) bestimmt. Die Passage des Godwi-Romans zeigt eine auffällige Überschneidung mit Goethes erstmaliger Reflexion der inneren Form: Der innere Sinn im Unterschied zur äußeren Form sei das „Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln“ ([Johann Wolfgang] Goethe, Anhang aus Goethes Brieftasche. In: [Louis-Sébastien Mercier], Neuer Versuch über die Schauspielkunst, Leipzig 1776, S. 483–508, hier S. 486. 61 Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 137. 62 Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 199, der anschließt an Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1919]. In: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1974, S. 7–122, hier S. 119. 63 „[L]a critique est un processus de traduction, et la traduction un processus de critique“ (Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 139). 64 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 193–204.

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Novalis und Schlegel begreifen die Übersetzung nicht als Form der Dekontextualisierung oder Entfremdung, sondern als Form einer Palingenesie, d. h. als Erneuerung, verbunden mit der auch in der Kritik angelegten Möglichkeit, die Idee des Originals zu verjüngen. Insofern bereits das Original als Faktur (Novalis) der Natursprache eine Übersetzung sei, wäre die Übersetzung die Übersetzung der Übersetzung.65 Wenn Novalis sagt, Poesie sei Übersetzung, geht er über Hamanns bekannte Formulierung hinaus,66 weil er die Faktur miteinbezieht. Novalis äußert diesen Gedanken in einem oft missverstandenen Brief an August Schlegel: „Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Ich bin überzeugt, daß der deutsche Shakespeare jetzt besser als der englische ist“.67 Der Satz ist keinesfalls eine deutsche Überheblichkeit. Er wird verständlicher, bedenkt man, dass das Original bereits eine Übersetzung ist.68 Übersetzung, aber auch Kritik sind eine ‚Potenzierung‘: „[D]as übersetzte Werk befindet sich näher an seiner inneren Zielsetzung und weiter entfernt von seiner endlichen Verhaftung“.69 In diesem Sinne, so Berman, bezeichnet Friedrich Schlegel gegenüber Schleiermacher seine Kritik des Wilhelm Meister als ‚Übermeister‘:70 In der kritischen und damit auch übersetzerischen Potenzierung wird das Werk überschritten. Das Original ist der Übersetzung unterstellt. Berman schematisiert im Anschluss an Novalis und Schlegel wie folgt: Die Romantradition ermögliche Goethes Wilhelm Meister, dieser wiederum Schlegels Kritik. Shakespeare ermögliche die deutsche Übersetzung sowie die Kritik der Übersetzung.71 Berman interpretiert das Übersetzen als Überschreiten: „[J]ede Dichtung ist

65 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 160. 66 „Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, [**] – historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch [*] seyn können“ ([Johann Georg Hamann], Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose. In: Kreuzzüge des Philologen, s.l. 1762, S. 159–252, hier S. 167 f.). 67 Novalis an August Wilhelm Schlegel, Brief vom 30. November 1797. In: Novalis, Briefwechsel mit Friedrich und August Wilhelm, Charlotte und Caroline Schlegel, hg. von Johann Michael Raich, Mainz 1880, S. 40–42, hier S. 42. 68 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 170. 69 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 172 [Übersetzung A. N.], im Original: „l’œuvre traduite est plus proche de sa visée interne, et plus éloignée de sa pesanteur finie.“ 70 Friedrich Schlegel, Brief an Friedrich Schleiermacher, Juli 1798. In: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel: Die Periode des Athenäums. 25. Juli 1797 – Ende August 1799, hg. von Raymond Immerwahr, Paderborn 1985, S. 148. 71 Vgl. das Schema in Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 173, sowie Bermans Demonstration dieser Auffassung an Paul Celan und Jules Supervielle sowie die Kritik dieser Auffassung (S. 177).

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Übersetzung, jede Übersetzung steht höher als das Original“.72 Es gehe nicht mehr um Ursprung; das Werk werde mit jeder Übersetzung universeller und progressiver.73 Im Blüthenstaub-Fragment zur Übersetzung unterscheidet Novalis zwischen grammatischer, verändernder und mythischer Übersetzung. Letztere ist das Ideal des freiheitlichen romantischen Übersetzens. Sie stehe aufgrund der Potenzierungsvorgänge höher als die verändernde Übersetzung, da sich in ihr „poetischer Geist und philosophischer Geist in ihrer ganzen Fülle“ 74 durchdringen: „Die mythische Übersetzung“, erläutert Berman, „ist jene Übersetzung, welche das Original in den Stand des Symbols erhebt, das meint zudem in den Stand des ‚Bildes von sich selbst‘, des absoluten Bildes (ohne Referenten)“.75 Als Beispiele gibt Novalis die Sixtinische Madonna in Dresden, welche das Idealbild der realen Mutter Gottes ist und nicht ihre Nachahmung, und die griechische Mythologie.76 Novalis denkt, so Berman, an „Literatur- und Kunstkritiker, die eher darauf abzielen, die ‚Tendenz‘ und den Zweck der Werke freizulegen als sie nur empirisch zu beschreiben (oder zu beurteilen)“.77 Friedrich Schlegel grenzt sich bewusst von der alten an der Nachahmungspoetik orientierten Übersetzungsfreiheit ab. Er begreift die Übersetzung als eine Art philologischer Performanz analog zur musikalischen oder mimischen Aufführung von Noten bzw. eines Bühnentextes: Übersetzungen seien „philologische Mimen“.78 Damit wird auch die Nähe von Kritik, Hermeneutik und Übersetzung deutlich: Denn der Text ist toter Buchstabe ohne seine Verlebendi-

72 Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 175: [Übersetzung A. N.], im Original: „toute poésie est traduction, toute traduction est supérieure à son original.“ 73 Vgl. in diesem Sinn auch Friedrich Schlegels Probe des Bajazet, wo in der Vorrede argumentiert wird, dass Racine zwar die Tragödie verfehlt habe, aber das Stück gleichsam poetischen Geist enthalte. Die Pointe ist, dass die Übersetzung diesen freisetze, Racine gleichsam aus seiner nationalen Beschränkung befreie (Probe einer metrischen Übersetzung des Racine. Erster Akt des Bajazet. In: Europa. Eine Zeitschrift, 2, 1803, S. 123–139, hier S. 117–122). 74 [Novalis], Blüthenstaub [Fragment zur Übersetzung]. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift, I.1, 1798, S. 70–106, S. 88 f., hier S. 88. 75 Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 181 [Übersetzung A. N.], im Original: „La traduction mythique est cette traduction qui élève l’original à l’état de symbole, c’est-à-dire encore à l’état d’‚image de soi-même‘, d’image absolue (sans référent)“. 76 [Novalis], Blüthenstaub [Fragment zur Übersetzung], S. 89. 77 Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 181 [Übersetzung A. N.], im Original: „les critiques littéraires et artistiques qui visent à dégager la ‚tendance‘ des œuvres et à saisir leur nécessité plutôt qu’à les décrire empiriquement (ou à les juger).“ 78 Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente. In: Lyceum der schönen Künste, I.2, 1797, S. 133– 169, hier S. 152 [= Nr. 75 der sogenannten Lyceums-Fragmente]. Hierzu Elena Polledri, Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit. Deutsche Übersetzungen italienischer Klassiker von Tasso bis Dante, Tübingen 2010, S. 308–316.

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gung durch kritische Formen wie die Übersetzung. Übersetzung lasse sich nicht „auf den Begriff von Erklärung reduciren“ 79 und sei auch keine „N a c h b i l d u n g“.80 Friedrich Schlegel sieht die Übersetzungskunst am Anfang stehen und fordert deshalb für sie „alle mögliche Freyheit“.81

IV Interferenz frühneuzeitlicher und romantischer Übersetzungsfreiheit Sowohl die frühromantische Theorie als auch das Preußische Landrecht begriffen die Übersetzung als eine eigenständige Form. In den Jahrzehnten zwischen 1794 und 1837 wurde die Übersetzungspraxis in Preußen und nach 1800 (offiziell nach 1812) in Sachsen weder durch Privilegien oder Meldelisten beschränkt noch wie heute üblich als Nutzungsart des Originals angesehen, über welche der Autor oder seine Erben verfügen. Auf Seiten der romantischen Übersetzungstheorie ist maßgeblich der Gedanke des produktiven Ich, das sich in Übersetzung und Kritik nicht nur das Original aneignet, sondern es neu schafft. Eine nicht durch Nachdruckklauseln (Sachsen 1773–1800 bzw. 1812) oder durch exklusive Übersetzungsrechte (seit 1840) eingeschränkte Übersetzungsfreiheit fördert die Konkurrenz verschiedener Übersetzungen sowie die Konkurrenz von Übersetzung und Original. Um die Korrespondenz der preußischen Übersetzungsfreiheit mit Friedrich Schlegels freiheitlicher Auffassung der Übersetzungskunst zu verdeutlichen, unterscheide ich zwischen einer pragmatisch-rechtlichen Dimension und einer ästhetisch-rechtlichen Dimension des Übersetzens analog zum modernen Urheberrecht. Dieses schränkt auf beiden Ebenen die Freiheit ein, sofern das Original geschützt ist: Der Urheber kann einerseits entscheiden, wer sein Werk übersetzt, er kann aber auch bestimmen, auf welche Weise sein Werk zu übersetzen sei. Freilich spielt die ästhetische Freiheit erst immer dann eine Rolle, wenn die Übersetzer auffällig von den translatorischen Konventionen abweichen – wenn sie beginnen, sich Freiheiten gegenüber dem Original zu erlauben. Das Lizenzproblem ist also ein doppeltes: die rechtliche Lizenz, zu über-

79 Die in den folgenden Anmerkungen zitierten Äußerungen Friedrich Schlegels wurden erst 1928 veröffentlicht von Josef Körner: Friedrich Schlegel, Philosophie der Philologie, hg. von Josef Körner. In: Logos, 17, 1928, S. 1–72, hier S. 42. 80 Schlegel, Philosophie der Philologie, S. 46. 81 Schlegel, Philosophie der Philologie, S. 42. Damit verbunden ist die Überzeugung (ebenda): „Jede Uebersetzung ist eine unbestimmte, unendliche Aufgabe.“

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setzen, und die übersetzerische Lizenz als kreativer Eingriff analog zur licentia poetica. Zugleich aber gibt es auch Freiheiten gegenüber der literarischen Konvention bzw. dem Epochenstil, die in einer Übersetzung als anstößig empfunden werden können. Unter ‚Epochenstil‘ verstehe ich die Summe der stilistischen Konventionen, die für die Übersetzung einer literarischen Gattung zu einem bestimmten Zeitpunkt üblich sind. Der Begriff der ‚Zielsprache‘ ist verwirrend, weil er suggeriert, man könne in der Übersetzung sämtliche Möglichkeiten des sprachlichen Systems ausschöpfen. Tatsächlich aber schränkt bereits die Gattungskonvention die Möglichkeiten ein. Auch der Begriff ‚Ausgangssprache‘ irritiert in Bezug auf die literarische Übersetzung, es sei denn, man versteht die zu übersetzende poetische Idiosynkrasie, d. h. das Werk, als ein eigenes Sprachsystem. Liberale und kreative Entscheidungen beziehen sich in literarischen Übersetzungen entweder auf das Normensystem eines literarischen Stils oder aber auf die Struktur des Ausgangstextes, genauer: auf das Bild, das der Übersetzer sich von ihm macht. Frühneuzeitliche Übersetzungen tendieren zu einem schöpferischen Eingriff in die Vorlage, romantische Übersetzungen bekunden ihre schöpferische Freiheit eher gegenüber den Konventionen im Dienst jener Strukturidee – zumindest theoretisch, da die meisten romantischen Übersetzungen schon aus buchmarktökonomischen Gründen den jeweiligen Stilkonventionen verpflichtet blieben. Hatte das Mandat von 1773 die alte Übersetzungsfreiheit für den multilateralen Leipziger Messehandel – multilateral, weil verschiedene staatliche Einheiten des Reichs beteiligt waren – und den sächsischen Buchhandel aufgehoben, so führte sie das Preußische Landrecht wieder ein. Aber die Freiheit, zu übersetzen, auch wenn bereits eine Übersetzung desselben Werkes erschienen war, stand nunmehr unter anderen Vorzeichen als jene aus den Jahrhunderten vor 1773. Der Grundsatz, Übersetzungen als ‚neue Schriften‘ zu behandeln, ohne diese an ein Original rückzubinden, wurde 1794 mit Blick auf das im deutschen Sprachraum noch utopische, aber schon am Horizont sichtbare Urheberrecht formuliert. Mit der Neuinterpretation der Autorschaft im Lichte des Urheberrechts einher ging ein Literaturverständnis, das von der alten rhetorischen Nachahmungslehre abwich. Die imitatio auctorum war das Prinzip, das europaweit in den frühneuzeitlichen Bildungseinrichtungen vermittelt worden war. Sie hatte im rhetorischen Sprachunterricht zunächst die Funktion, das selbstständige Verfassen von Schriften durch Nachahmung vorbildlicher Schriften zu schulen. Die Nähe von Nachahmung und Übersetzung82 liegt dann auf der Hand, die 82 Vgl. Lombez, Dissimulation et assimilation poétiques, S. 93 f.

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Grenzen zwischen imitatio, translatio und aemulatio können fließend sein.83 Im 17. Jahrhundert wurden poetische und ethische Texte unbefangen bearbeitet.84 In Frankreich, obgleich viel gescholten als Land der belles infidèles,85 entwickelte sich zu gleicher Zeit bereits eine Übersetzungspraxis, die doch dem Anschein nach wenigstens auf Werkintegrität ausgerichtet war. Man kann in dieser parodistischen Übersetzungsart im Sinne Goethes86 erste Anzeichen für ein Originalitätsbewusstsein erkennen. Denn barocke Kompilation bzw. ein allzu freiheitlicher Umgang mit der Vorlage zeigte sie gerade nicht mehr. Zumindest dem Anspruch nach sollte diese Übersetzungsart das Original integral vermitteln. Zugleich ist noch lange bis in das 19. Jahrhundert die imitatorische Begrifflichkeit vorherrschend, um interlinguale Vermittlungsvorgänge zu bezeichnen. Ja, angesichts der Bezeichnungen Adaption, Imitation, Nachbildung usf. für das, was heute unter Übersetzung firmiert, kann man sagen, dass die Übersetzung im eigentlichen Sinn gar nicht existierte, sondern nur verschiedene Modi des interlingualen Transfers: Nachahmung, Konkurrenz, Kritik des Originals, ein Medium für alternative Diskurse, eine Kombination verschiedener Aspekte, bloße Kompilation, aber auf jeden Fall ein juristisch nicht begrenztes Fluidum

83 Hierzu zuletzt Jörn Albrecht, Interpretatio – imitatio – aemulatio. Die Stellung der Übersetzung (im engeren und weiteren Sinn) im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik. In: Kreativität und Hermeneutik in der Translation, hg. von Larisa Cercel, Marco Agnetta und María Teresa Amido Lozano, Tübingen 2017, S. 17–30. 84 Die frühneuzeitliche Nachahmungstheorie findet sich in der deutschen Literaturgeschichte im Werk von Georg Philipp Harsdörffer reflektiert. Vgl. Jörg Robert, Im Silberbergwerk der Tradition. Harsdörffers Nachahmungs- und Übersetzungstheorie. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock, hg. von Stefan KepplerTasaki und Ursula Kocher, Berlin 2011, S. 1–22, hier S. 12; vgl. auch Peter Hess, Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie bei Georg Philipp Harsdörffer. In: Daphnis, 21.1, 1992, S. 9–26. 85 Vgl. Jürgen von Stackelberg, Blüte und Niedergang der „Belles Infidèles“. In: Die literarische Übersetzung. Stand und Perspektiven ihrer Erforschung, hg. von Harald Kittel, Berlin 1988, (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung 2), S. 16–29, und mit demselben Titel: Wilhelm Graeber, Blüte und Niedergang der belles infidèles. In: Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, 2. Bd., hg. von Harald Kittel, Juliane House u. a., Berlin/New York 2007, S. 1520–1531. Vgl. auch dazu im vorliegenden Band die Beiträge von Iris Plack, Angela Sanmann, Irene Weber Henking. 86 Goethes Äußerung: „Die Franzosen bedienen sich dieser Art [der parodistischen, A. N.] bey Uebersetzung aller poetischen Werke […]. Der Franzose, wie er sich fremde Worte mundrecht macht, verfährt auch so mit den Gefühlen, Gedanken, ja den Gegenständen, er fordert durchaus für jede fremde Frucht ein Surrogat das auf seinem eignen Grund und Boden gewachsen sey“ (Goethe, West-oestlicher Divan, S. 527 f.). Goethe hat das Vorurteil gefestigt, die belles infidèles seien eine französische Angelegenheit.

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der literarischen Kommunikation über Sprachgrenzen hinweg. Den rechtlich normierten interlingualen Transfer, der gegenwärtig als Übersetzung angesehen wird, auf das 17. Jahrhundert zu übertragen, ist ein anachronistischer Vorgang. Mit den Debatten zum Urheberrecht und zum Originalschriftsteller, mit der Genieästhetik des Sturm und Drang wurde zumindest im poetologisch anspruchsvollen Diskurs die Nachahmungspoetik aufgegeben. In der Praxis jedoch kam es um 1800 zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Einerseits war die Poetik der imitatio noch wirksam. Andererseits fand die Genieästhetik ihre Anhänger, die das Original als singuläre Faktur ästhetisch und epistemologisch aufwerteten. Hatten Herder und Goethe in den 1770er Jahren das Original entdeckt, so wollten Novalis und Friedrich Schlegel wissen, wie seine Erkenntnis überhaupt ermöglicht werden könne. Die Antwort war die Übersetzung, die als Ermöglichung bzw. als Potenzierungsmedium verstanden wurde. Statt jedoch anzunehmen, die theoretische Avantgarde habe das alte Paradigma erledigt, ist von der Überlagerung beider im translatorischen Raum auszugehen. Goethes zweifacher Umgang mit Diderot scheint mir für die neue Situation charakteristisch zu sein. Die Übersetzung von Diderots Essais de la peinture87 von 1799 – nach heutigen Maßstäben ein urheberrechtlich geschützter Vorgang – ist nicht an einer deutschen Entsprechung des Originals interessiert. Bloße Wiedergabe eines französischen Satzes durch einen deutschen und Zurücknahme des eigenen Standpunktes kamen nicht in Frage. Stattdessen besitzt die Übersetzung eine ausgesprochen kritische Tendenz: Sie ist von dem polemischen Vorurteil geleitet, Diderot sei Naturalist. Die Aufgabe der Übersetzung besteht darin, nicht möglichst objektiv die Ansicht Diderots wiederzugeben, sondern sie übersetzend zu widerlegen. Was Goethe macht, erweist sich als das nachahmungspoetologische Gegenstück der imitatio: eine refutatio auctorum. Die interlinguale Transposition wird zum Medium der ästhetischen Polemik und bezeugt den diskursiven Spielraum, den ein Autor um 1800 hatte. Eine Übersetzung für ein Publikum, das kein Französisch konnte, liegt hier sicher nicht vor. Goethes Textumgangsweise steht eher noch in der frühneuzeitlichen Tradition gelehrter Polemik und ist Ausdruck ihrer Übersetzungsfreiheit. In Goethes Übersetzung von Diderots zweiter Satire unter dem Titel Rameaus

87 Johann Wolfgang Goethe, Diderots Versuch über die Malerei. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe. In: Propyläen, I.2 und II.1, 1799, S. 1–44 bzw. 4–47. Vgl. Edith Zehm, „das Werk zu übersetzen und immer mit seinem Texte zu controvertieren“. Goethes Übersetzungs- und Kommentierungstechnik im kritischen Dialog mit Diderots „Essais sur la Peinture“. In: Edition und Übersetzung. Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers, hg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler, Tübingen 2002, S. 105–117.

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Neffe (1805) zeigt sich dagegen bereits die romantische Form der Übersetzungsfreiheit mit ihrem originalen Anspruch: Goethe glaubt, er habe das Original als Einheit – „ideales Ganze“ 88 – erfasst und übersetzt. Damit stellt sich aber wieder die schon von Schlegel an Racine und von Novalis an Shakespeare aufgeworfene Frage, ob denn auch dem Originalautor dieses ideale Ganze, von dem der Übersetzer weiß, bekannt gewesen ist? Im Übrigen demonstriert der Fall auch sehr schön den ökonomischen Wert von Goethes translatorischer Schöpfung: Da die Macht des kursächsischen Mandats gebrochen war und in Preußen Übersetzungen als neue Schriften zu behandeln waren, also Cotta nur gegen den Nachdruck, aber nicht gegen die Neuübersetzung vorgehen konnte, tat der Verleger gut daran, das Original zurückzuhalten. Bekanntlich galt das Manuskript lange Zeit als verschollen, was zu einer Rückübersetzung ins Französische veranlasste.89 Ein anderes, gleichwohl vertracktes Beispiel ist Voß’ Homer. Die Odüßee erschien 1781 im Selbstverlag, war für den Buchmarkt also irrelevant und zudem keine Gegenwartsliteratur. Auch fällt der Text noch nicht in die romantische Epoche, ganz zu schweigen davon, dass Voß alles andere als Romantiker war. Doch gerade Voß’ Umgang mit dem griechischen Hexameter gilt als bahnbrechend für einen neuartigen Umgang mit dem Original, der nicht mehr vereinbar mit frühneuzeitlicher Nachahmungspraxis und ihrer Übersetzungsfreiheit ist. Paradoxerweise aber seien genau deren Prinzipien wirksam geworden, meinte Friedrich Schlegel. So lese man eine Schöpfung des dichtenden Philologen Voß: „Voß ist ein absoluter, m y s t i s c h e r Uebersetzer, weil er das Original annihiliren will ä s t h e t i s c h, und den Homer nur in seiner Uebersetzung genießen kann“.90 Die Ansicht, dass Voß Homer 1781 und 1793 (Ilias) sehr nahegekommen sei, und Schlegels Verdikt, er habe den Griechen annihilieren wollen, sind nicht so verschieden, wie es auf den ersten Blick aussieht. Mit mystisch meint Schlegel jene auch in der Frühen Neuzeit anzutreffende Praxis der Einverleibung, die auf den individuellen Horizont von Voß’ Verständnis und nicht auf den des Originals zielt. Die mystische Konzeption kann bis zu der Auffassung reichen, dass das Original nach der Übersetzung entsorgt wer-

88 Johann Wolfgang Goethe, Rameau’s Neffe. In: [Denis] Diderot, Rameau’s Neffe. Ein Dialog von Diderot. Aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von [Johann Wolfgang] Goethe, Tübingen 1805, S. 463–473, hier S. 463. 89 Vgl. Alexander Nebrig, Dezenz der klassischen Form. Goethes Übersetzung von Diderots „Le neveu de Rameau“, Hannover 2007, S. 7–10. 90 Schlegel, Philosophie der Philologie, S. 55. In Klammern fügt er hinzu, es sei „ein sehr großer Beweis von sehr großer Plattheit, wenn man alles sagen kann“.

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den könne. Das Original wird dann begriffen als katalysatorisches Werkzeug, durch das die Übersetzung als zeitgemäße Form des Originals freigesetzt wird, was wiederum sehr frühromantisch klingt. Schlegel jedoch sieht nur die vormoderne Tradition der Aneignung und nennt als Vergleichsgröße die mittelalterlichen Übersetzungen der Araber, die zugleich für eine mystische Philologie stünden ohne jede historische Kritik.91 Gegen Schlegels Auffassung jedoch steht das hohe Verständnis, das Voß vom Original hatte, nicht nur als Muster, sondern auch als singuläres Werk. Anders als Vergils Werk, das Voß auch übersetzte, stand Homers Werk nicht im Verdacht, aus der imitatio auctorum hervorgegangen zu sein. Homer aber war der Inbegriff des Genies trotz Friedrich August Wolfs These einer kollektiven philologischen Autorschaft (1795). Voß’ heteronome Praxis, welche sich der Morphologie und Grammatik des Originals unterwirft, bezeugt den neuen Stellenwert innerhalb eines Paradigmas, das den Urheber als Schöpfer nobilitiert. Paradoxerweise führt aber die genotypische Heteronomie zur phänotypischen Freiheit. Wie die Frühromantiker es vorsahen, begab sich auch Voß mit seiner Übersetzung auf Entdeckungsreise zum Original, was seine Übersetzung zum Original und nicht mehr zur Nachahmung werden lässt. Diese Zielsetzung wäre in der frühneuzeitlichen Praxis nicht denkbar gewesen, weil die Nachahmer von einer Differenzleistung und gewissen Neuerung des Originals in der Übersetzung ausgingen und nicht wie der Klassizist Voß und die Frühromantiker von Identitätskonzepten: zwischen Übersetzung und Original hier, zwischen Übersetzung und Idee des Originals dort. Wenn aber das Original bereits als kreativ gilt, dann muss die Übersetzung ebenfalls diesen Anspruch einlösen. Kreative Freiheit meint zum einen dies, zum anderen noch die alte liberale Gestaltung des Vorbilds aufgrund der imitatio-Idee. Häntzschel, der von Voß’ ‚sprachschöpferischer Leistung‘ spricht,92 bezieht denn auch dessen Kreativität auf die deutsche Literatursprache. Adaptierend im alten imitatorischen Sinn bleibt die Übersetzung gegenüber Voß’ sprachlicher Idee des Originals. Häntzschels Entgegensetzung von schöpferisch und adaptierend 93 unterstellt, dass die Adaption unkreativ sei. Statt beide Begriffe gegeneinander auszuspielen, ist es hilfreicher, ihr Bezugssystem zu betrachten. Schöpferisch war Voß in Bezug auf den epischen Stil der deutschen Litera-

91 „Mystisch ist die φλ welche Kritik, Hermeneutik, allenfalls auch Litteratur, Archäologie und selbst G r a m m a t i k ü b e r s p r i n g t und ohne das Alles geradezu übersetzt z. B. wie die Araber“ (Schlegel, Philosophie der Philologie, S. 34). 92 Vgl. den Untertitel von Häntzschel, Johann Heinrich Voß: „Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung“. 93 Vgl. Häntzschel, Johann Heinrich Voß, S. 20 f.

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tursprache; dagegen adaptierte er beim Übersetzen das Original an die idiosynkratische Idee, die er sich von dem Original machte. Voß’ imitatio ist von der Pflicht befreit, zeitgemäß zu sein. Die Adaption an den Epochenstil wird aufgegeben im Dienste des Individualstils, der wiederum Ausdruck der neuen Übersetzungsfreiheit ist. Die konzeptionelle Widersprüchlichkeit des Übersetzers Voß zeigt sich auch darin, dass er eine Übersetzung aus dem Französischen94 für den Buchmarkt weiterhin am Maßstab des Epochenstils orientierte. Die alte Übersetzungsfreiheit war gegenüber dem Epochenstil heteronom, gegenüber dem Originalstil aber autonom. Übersetzt man dagegen das Original, d. h. die Idee davon, ohne Rücksicht auf Verluste, dann darf dies nicht, wie Schleiermacher oder Hölderlin oder Voß glauben machen wollten, nur als eigentliche Übersetzung begriffen werden. Eine Eigentlichkeit liegt gerade nicht vor, diese ist aufgrund der weiterhin eintretenden Differenz auch unmöglich. Für die translatorische Kreativität bedeutet der Anspruch, das Original in der Übersetzung neu zu erschaffen, eher einen Richtungswechsel. Maßstab ist nun nicht mehr das, was für diese oder jene literarische Gattung angemessen ist, sondern der Horizont des übersetzenden Ich – und dieser ist freilich sehr verschieden. Übersetzung als imitatio und Übersetzung als creatio gehen auf unterschiedliche Weise schöpferisch mit dem Original um. Als Prinzipien schließen sie sich um 1800 nicht aus, sondern interferieren.95 Schlegels Kritik an Voß bleibt denn auch fragwürdig. Einerseits ist sie eine hellsichtige Charakterisierung, andererseits könnte man Voß’ eigenwilligen Umgang, für den er nicht umsonst in den Selbstverlag gehen musste, mit den frühromantischen Prinzipien auch harmonisieren. Die sich um 1800 verbreitende Überzeugung, in der Übersetzung das Original neu erfinden zu können, hat auf der bibliopolen Ebene eine Entsprechung in der Stärkung der Übersetzung als ‚neuer Schrift‘ gefunden. Um die Außergewöhnlichkeit dieses Vorgangs zu begreifen, sollte man bedenken, dass es durchaus möglich gewesen wäre, das Leipziger Modell vorerst beizubehalten und Neuübersetzungen als Nachdrucke im Namen des Buchhandels zu verbieten. Die ästhetische Freiheit zeigte sich nun nicht mehr nur als nachahmende Akkulturation des Originals. Neben die frühneuzeitliche Form translatorischer

94 Vgl. Ernst-Peter Wieckenberg, Johann Heinrich Voß und „Tausend und eine Nacht“, Würzburg 2002. 95 Durchaus könnte man fragen, inwiefern die frühromantische Theorie aus der Reflexion frühneuzeitlicher Textumgangspraktiken hervorgegangen ist. Angesichts des starken Interesses der Romantiker an frühneuzeitlichen Texten (Ariost, Calderón, Cervantes, Grimmelshausen, Shakespeare) scheint mir die Überlegung nicht abwegig zu sein.

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Kreativität trat die freie Auseinandersetzung mit den Lesegewohnheiten. Der für literarische Übersetzungen problematische Gegensatz von treuer und freier Übersetzung verkehrt sich, sobald man Freiheit und Treue nicht mehr in Bezug zum Original, sondern zu den Gattungskonventionen setzt. Mit anderen Worten wäre der treuste Übersetzer gegenüber der einen Norm immer auch der freiste gegenüber der anderen. In der praktischen Realität wird man um 1800, wie gesagt, mit der Interferenz alter und neuer Freiheitsvorstellungen rechnen müssen – und überhaupt mit Formen, die aus anderen Problemlagen heraus entstehen wie der pragmatisch bedingte kreative Umgang in der Bühnenadaption oder aber die epistemischen Interessen folgende Übersetzung von Fachtexten.

V Das Ende der Übersetzungsfreiheit Die preußische Rechtsreform ist in ihrer innovativen Kraft vor dem Hintergrund der dominanten sächsischen Praxis, konkurrierende Übersetzungen als Nachdrucke zu behandeln, sowie der sich ausdifferenzierenden Urheberrechtstheorie zu begreifen. Der Buchmarkt, der unweigerlich auf das Urheberrecht zusteuerte, konnte diesen Umgang nur so lange sicherstellen, wie es keine Urheber gab, die auf Übersetzungen Anspruch erhoben. Als Staaten, deren Gesetzgebung ein Urheberrecht kennt, Abkommen darüber trafen, wie die Werke ihrer Autoren auch in dem jeweils anderen Land zu schützen sind, fand die Übersetzungsfreiheit ein Ende. Pragmatische Folge war, dass der Übersetzer nicht mehr frei war, zu übersetzen. Ästhetische Folge war, dass die liberale Praxis, die Momente der alten Nachahmungspoetik mit solchen der neuen Genieästhetik verknüpfte, nur noch für ungeschützte Werke zur Anwendung kommen konnte. Die Übersetzung geschützter Werke gehorchte dagegen der Konvention dessen, was als angemessene, d. h. nicht die Rechte des Urhebers verletzende Übersetzung galt. Und es darf angenommen werden, dass diese Konventionen sich auch ausdehnten auf die Übersetzung ungeschützter Werke.96 Damit wurde das schon im nationalen Geltungsraum des Urheberrechts bemerkte Paradox von freier Schöpfung und verwertungsrechtlicher Abhängigkeit internationalisiert: „Nachahmung und Imitation wurden im Diskurs der geistigen Eigentumsrechte zum Gegenbegriff der Erfindung stilisiert, obwohl

96 Eine Studie, die sich dem Unterschied der Übersetzungspraxis von geschützten Originalen und ungeschützten Originalen widmet, wäre wünschenswert.

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sie sich in der Praxis oft gegenseitig bedingen und befruchten“.97 Stattdessen wurde eine „Praxis etabliert, die im Kern auf eine Kontrolle aller potentiellen Verwertungsmöglichkeiten auf unterschiedlichen Medien hinauslief“.98 Ein anderes Problem war, dass mit dem Ende der rechtlichen Gleichstellung von Übersetzer und Originalschriftsteller als Verfasser neuer Schriften Übersetzer und Übersetzung abgewertet wurden. Mit dem Urheberrecht erhielten die Übersetzer kein „Recht […] auf originalgetreue Übersetzung“,99 sondern sie wurden umgekehrt verpflichtet, originalgetreu zu übersetzen. Das bedeutete, die eigene Idee des Originals als Maßstab aufzugeben und sich nach der Idee zu richten, die der Urheber von seinem Werk hatte. Victor Hugos Verbot der Bühnenadaption eines seiner Werke konnte potentiell auch die Übersetzung treffen: Donizettis Oper Lucrezia Borgia (1833) durfte in Paris nicht aufgeführt werden – Hugo war nicht zufällig Initiator der Berner Übereinkunft, die 1886, ein Jahr nach seinem Tod, in Kraft trat. Der Zeitpunkt des Endes der romantischen Übersetzungsfreiheit ist schwer bestimmbar. Strukturell fällt er dorthin, wo Gesetze in Kraft traten, die die Übersetzungsfreiheit einschränkten. Zuerst trat dieser Fall innerhalb von Europa ab den 1840er Jahren ein, erst zwischen Österreich und Sardinien100 und dann zwischen Frankreich und Sardinien. Andere Staaten des deutschen Bundes zogen in den 1850er Jahren nach und schlossen Verträge mit Frankreich und England. Aber erst mit der Berner Übereinkunft von 1886 kann zumindest für Westeuropa das Ende der Übersetzungsfreiheit markiert werden. Da die erste Gesetzgebung, diejenige zwischen Österreich und Sardinien, aus dem Jahr 1840 stammt, kann das Vertragsdatum als symbolisches Ende der Epoche begriffen werden. Bereits ab 1837, mit Inkrafttreten des Königl. Preußischen Gesetzes vom 11. Juni 1837 zum Schutze des Eigenthumes, das in Paragraph 4 Ausnahmen formulierte, war in Preußen die Übersetzungsfreiheit eingeschränkt worden. Seither muss man davon ausgehen, dass Übersetzer durch den Originalverfasser autorisiert sein müssen bzw. dass diese über das Recht der Übersetzung ihrer Werke pragmatisch und ästhetisch verfügen. Die allmähliche Aufhebung der Übersetzungsfreiheit erschwerte es Kreativen zunehmend, anderssprachige Schriften lebender Autoren frei zu überset-

97 Monika Dommann, Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel, Frankfurt am Main 2014, S. 44. 98 Dommann, Autoren und Apparate, S. 49. 99 Poltermann, Die Erfindung des Originals, S. 39. 100 Herbert Hofmeister, Der österreichisch-sardinische Urheberrechtsvertrag von 1840. In: Die Notwendigkeit des Urheberrechtsschutzes im Lichte seiner Geschichte, hg. von Robert Dittrich, Wien 1991, S. 239–251.

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zen. Damit trat ein Paradox ein: Übersetzer durften nicht mehr kreativ mit dem Original umgehen, ihre Übersetzungen waren aber ebenso als kreative Werke durch das Urheberrecht geschützt. Für die Ökonomie des globalen Ideentransfers hat sich die Übersetzungsfreiheit mit ihren kreativen Möglichkeiten zunehmend als hinderlich erwiesen. Gerade international nachgefragte Autoren wie Victor Hugo oder Berthold Auerbach sahen in der nicht autorisierten Übersetzung eine ökonomische Einbuße. Das Gegenseitigkeitsprinzip setzte sich bei steigender Nachfrage in den Ländern, die von ihm profitierten, allmählich in der Gesetzgebung und in bilateralen Verträgen durch. Die gegenseitige internationale Nachfrage transformierte das fremdsprachige Original von einem schöpferischen Gemeingut (creative commons) in ein lizenzpflichtiges Gut. Dadurch entstanden aber auch für Autoren neue Anreize, nicht nur am internationalen Warenverkehr, sondern auch am internationalen Ideenverkehr teilzunehmen. Mit anderen Worten schafft allein das Wissen, dass eine literarische Faktur noch als übersetzte Faktur vor Nachdruck geschützt ist, Vertrauen, sich auch auf den globalen Markt der Ideen zu begeben und Literatur zu schreiben, die übersetzungswürdig erscheint. Damit die weltliterarische Kommunikation gelingen konnte, wurde die Übersetzung zwar nicht wie zu Zeiten des Leipziger Mandats als erlaubter Nachdruck in einer fremden Sprache begriffen, aber als exklusive und kreative Lizenz des Originals. Für die Herausbildung einer Weltliteratur als einer literarischen Kommunikationskultur war es geschichtlich unabdingbar geworden, die originale Form vor unerlaubter Übersetzung zu schützen.

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Refracting Translation zwischen Wien, Dresden und Moskau Pietro Metastasios Clemenza di Tito im deutsch-russischen Kulturtransfer Pietro Metastasio, der begehrteste italienische Librettist Europas seiner Zeit, verbrachte den Großteil seines künstlerischen Schaffens im deutschen Sprachund Kulturraum. Für die Bühnen Wiens, der damals politisch wie kulturell bedeutendsten Stadt Europas,1 schuf Metastasio als kaiserlicher Hofdichter der Habsburger zwischen 1730 und 1782 den größten Teil seiner Meisterwerke, die der Geschichte des Melodramas ein ganz neues Gepräge verliehen. Die zahllosen Vertonungen, Neufassungen und kreativen Übersetzungen der Dramen Metastasios machen seine Dramenproduktion zu einem interessanten Forschungsgegenstand, insbesondere auch im Hinblick auf die Übersetzungspraktiken im Europa des 18. Jahrhunderts. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den deutschen und russischen Übersetzungen des Librettos La Clemenza di Tito, eines der erfolgreichsten Werke Metastasios. Das Werk ist seinerseits eine Neuinterpretation der im Wettstreit erschienenen Tragödien von Racine (Bérénice, 1670) und Corneille (Cinna, ou La Clémence d’Auguste, 1642 sowie Titus et Bérénice, 1670). Den Kern der Handlung bildet eine Episode aus dem Leben des römischen Kaisers Titus Vespasianus: Vitellia, die von Titus verschmähte Tochter des verstorbenen Kaisers Vitellius, möchte den Thron ihres von Titus entmachteten Vaters wiedererlangen. Zu diesem Zweck überredet sie den Patrizier Sextus, einen Freund von Titus, der sich in sie verliebt hat, eine Verschwörung gegen den Kaiser anzuzetteln. Als das Komplott aufgedeckt wird, vergibt Titus den Verrätern zum Gemeinwohl Roms. Das von Antonio Caldara vertonte Drama wurde am 4. November 1734 anlässlich des Namenstags Kaiser Karls VI. uraufgeführt. La Clemenza entstand in

1 Vgl. Adam Wandruszka, Pietro Metastasio e la corte di Vienna. In: Convegno indetto in occasione del secondo centenario della morte di Metastasio (Roma, 25–27 maggio 1983), Roma 1985, S. 293–299. Anmerkung: Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekts an der Freien Universität Berlin. Für die redaktionelle Betreuung der deutschen Fassung bin ich Dr. Matthias Zucchi zu großem Dank verpflichtet. https://doi.org/10.1515/9783110542202-003

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der Zeit des Polnischen Erbfolgekriegs (1733–1738), der in Karl VI. einen seiner Hauptakteure sah und für die Habsburger eine politisch wie militärisch schwierige Phase darstellte. In der im Titel genannten Kardinaltugend der Güte, die Metastasio mit der Figur des Herrschers verbindet, schwingt somit eine Solidaritätsbotschaft sowohl an den Souverän als auch an seine Untertanen mit, die angesichts der erlittenen Niederlagen und Entbehrungen während der Kriegsjahre ein starkes Bedürfnis nach positiven, ermutigenden Bildern verspürten.2 Tatsächlich waren die im Werk des kaiserlichen Hofdichters dargestellten ideologischen und politischen Werte dazu geeignet, den gesellschaftlichen Rückhalt der kaiserlichen Macht zu organisieren und gleichzeitig den Herrscher aufzufordern, seine Entscheidungen an den Charakteren des Schauspiels zu bemessen. Somit ist das im Kontext des Habsburger Absolutismus entstandene Drama La Clemenza ein emblematisches Werk des Ancien Régime und ein Fürstenspiegel in Dramenform. Dank der in der Darstellung des idealen Herrschers enthaltenen pädagogischen Botschaften und moralischen Leitideen entwickelte sich Metastasios Clemenza zu einem echten Vorbild, insbesondere für auf ein Lob öffentlicher Persönlichkeiten ausgerichtete literarische Genres. So erhielt der Stoff von Lissabon bis Moskau an fast allen europäischen Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts regen Zuspruch.3 Neben Wolfgang Amadeus Mozarts berühmter letzter opera seria nach einem Libretto von Caterino Mazzolà anlässlich der Krönung Leopolds II. zum König von Böhmen 1791 in Prag4 entstanden im Laufe des 18. Jahrhunderts mehr als fünfzig weitere Vertonungen des Stoffes, u. a. von Leonardo Leo (1735), Johann Adolf Hasse (1735, 1738, 1759), Georg Christoph Wagenseil (1746), Davide Perez (1748), Christoph Willibald Gluck (1752), Niccolò Jommelli (1753), Baldassare Galuppi (1760), Andrea Barnasconi (1768), Johann Gottlieb Naumann (1769), Tomaso Traetta (1769), Giuseppe Sarti (1771), Joseph Myslicevek (1774), Ignaz Holzbauer (1780) und Friedrich Ferdinand Appel (1785).

2 Vgl. Giuseppe Giarrizzo, L’ideologia di Metastasio tra Cartesianesimo e Illuminismo. In: Convegno indetto in occasione del secondo centenario della morte di Metastasio, S. 43–77; Jacque Joly, Metastasio e l’ideologia del sovrano virtuoso. In: Istituzioni culturali e sceniche nell’età delle riforme, hg. von Guido Nicastro, Milano 1986, S. 9–40. 3 Zu den zahlreichen Bearbeitungen von Metastasios Clemenza vgl. Reinhart Meyer, Trattamento e adattamento dei testi delle opere metastasiane nel ’700 sull’esempio de „La clemenza di Tito“. In: Il melodramma di Pietro Metastasio. La poesia, la musica, la messa in scena e l’opera italiana nel Settecento, hg. von Elena Sala Di Felice und Rossana Caira Lumetti, Roma 2001, S. 423–439; Pietro Metastasio, Tutte le opere, hg. von Bruno Brunelli, 5 Bde., Milano 1943 ff., Bd. 1, S. 1498 f.; Helga Lühning, Titus-Vertonungen im 18. Jahrhundert: Untersuchungen zur Tradition der Opera seria von Hasse bis Mozart, Köln/Laaber 1983. 4 Der Salzburger Komponist veränderte das Libretto Metastasios so tiefgreifend, dass er es in seinem eigenhändigen Werkverzeichnis als „vera opera“ bezeichnet.

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I Metastasio, Hasse und Stählin: ein übersetzungsgeschichtlicher Überblick Als erfolgreichste Vertonung der Clemenza galt im 18. Jahrhundert nicht, wie man auf den ersten Blick vermuten sollte, die Fassung von Mozart, sondern die opera seria des deutschen Komponisten Johann Adolf Hasse.5 Künstlerisch entfaltet hatte sich der seit 1733 als Hofkapellmeister am sächsisch-polnischen Hof Friedrich Augusts II. tätige Hasse in Italien, wo er Schüler von Nicolò Porpora und Alessandro Scarlatti gewesen war. Dorthin zog es ihn auch regelmäßig während der langen Phasen hin, in denen der Kurfürst nicht in Dresden, sondern in Warschau weilte. Gemeinsam mit Metastasio, dessen Dramaturgie der divino Sassone (so sein Beiname) hervorragend interpretierte, hat Hasse als Opernkomponist von Weltruf, um den Fürstenhöfe und Theater ganz Europas buhlten, ein halbes Jahrhundert lang die europäische Musikszene beherrscht und dabei die italienische Musiktradition aufgesogen und nach deutschem Gusto weiterentwickelt. Sein bis zur Zäsur des Siebenjährigen Krieges und darüber hinaus mit der Entwicklung der Beziehungen und Bündnisse zwischen Habsburgern und Bourbonen einhergehendes Schaffen nimmt sich aus wie ein Abbild der verwickelten dynastischen Verhältnisse, die im Ancien Régime quer durch ganz Europa verliefen.6 So überrascht es auch nicht, dass politische Themen insbesondere bei Hasses Schöpfungen für den Dresdner Hof einen gewichtigeren Stellenwert einnehmen als in den Arbeiten seiner bis 1730 andauernden Lehr- und Wanderjahre. Wie schon Raffaele Mellace bemerkt, lässt bereits die Auswahl der für allegorische Deutungen empfänglichen Sujets für seine Dramen erkennen, welche Bedeutung Hasse Themen politischer Natur beimaß.7 Metastasios Clemenza ist insgesamt dreimal von Hasse vertont worden: Die erste Vertonung mit dem Titel Tito Vespasiano ovvero La Clemenza di Tito datiert auf den 24. September 1735 und wurde zur feierlichen Eröffnung des Teatro Pubblico del Sole in Pesaro komponiert. Die zweite, La Clemenza di Tito, wurde am 17. Januar 1738 anlässlich des dritten Jahrestages der Krönung Friedrich Augusts zum polnischen König in Dresden aufgeführt. Diese Fassung –

5 Zur Biografie Hasses vgl. Raffaele Mellace, Johann Adolf Hasse, Palermo 2004, S. 27–151; Panja Mücke, Johann Adolf Hasses Dresdner Opern im Kontext der Hofkultur, Laaber 2003. Aus diesem Band siehe insbesondere das Kapitel zu den acht Dramen, die Hasse für italienische Theater verfasste und später für den Dresdner Hof überarbeitete (S. 163–266). 6 Vgl. Reinhard Wiesend, Bemerkungen zur gesellschaftlichen Position von Johann Adolf Hasse. In: Giacomo Francesco Milano e il ruolo dell’aristocrazia nel patrocinio delle attività musicali nel secolo XVIII, hg. von Gaetano Pitarresi, Reggio Calabria 2001, S. 573–583, bes. S. 577. 7 Vgl. Mellace, Johann Adolf Hasse, S. 243–244.

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bei der Hasses Gemahlin Faustina Bordoni als Vitellia auf der Bühne stand – ist im zweiten und dritten Akt um insgesamt 13 neue Arien erweitert. Die dritte Vertonung stammt aus der letzten Phase von Hasses Opernkarriere, in der er vornehmlich für die Höfe in Dresden, Neapel und Wien tätig war und am Wiener Hof regen Umgang mit Metastasio pflegte. Die Vertonung der Clemenza aus dem Jahr 1759 für den Hof in Neapel weicht deutlich vom Originaltext ab, wobei die Änderungen dem Wunsch geschuldet sind, die Musik „aufzufrischen“ und dem Werk einen zeitgemäßen Charakter zu verleihen.8 Dank der guten Beziehungen der sächsischen Herrscherfamilie zum Zarenhof gelangte die Nachricht vom Erfolg der von Hasse 1738 in Dresden inszenierten Fassung rasch bis nach Russland. Die Inszenierung von Metastasios Werk in der Vertonung Hasses bildete den festlichen Höhepunkt der Krönungsfeier der von 1741 bis 1761 regierenden Zarin Elisabeth (Elizaveta Petrovna) am 29. Mai 1742 in Moskau. Nach Russland gelangten das Libretto und die Partitur für die Aufführung vor allem dank der guten Dresdner Verbindungen des für die Inszenierung verantwortlichen Jacob von Stählin, einer weiteren Schlüsselfigur für die Übersetzung der Dramen Metastasios in Europa um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Der aus Memmingen stammende Stählin kam 1735 während der Regierungszeit Anna Ivanovnas auf Einladung der Petersburger Akademie der Wissenschaften nach Russland, wo er bis zu seinem Tode blieb.9 In den rund 50 Jahren, die er in Russland verbrachte, war er u. a. als Rhetorikprofessor und ständiger Rat der Akademie der Wissenschaften tätig, sowie von 1735 bis 1737 als Chefredakteur der deutschsprachigen Sankt-Petersburger Zeitung. Stählin war ferner Mitbegründer und Direktor der Akademie der Schönen Künste. Von 1738 bis 1742 schrieb Stählin Artikel für die Primečanija na Sankt-Petersburgskie Vedomosti, eine Beilage der Sankt-Petersburger Zeitung, in denen er die russischen Leser mit der Oper vertraut machen wollte. Dank dieser Tätigkeiten profilierte sich Stählin als privilegierter Beobachter des russischen Kulturlebens. So trat er mit einer ganzen Reihe bedeutender Werke zur Situation der Künste im Russland des 18. Jahrhunderts in Erscheinung und gilt bis heute als erster

8 Vgl. Mellace, Johann Adolf Hasse, S. 263 f.; Fredrick L. Millner, The Operas of Johann Adolf Hasse, Ann Arbor 1979, S. 18 und 29. 9 Zur Person Jacob von Stählins siehe Pavel Lucker und Irina Susidko, Johann Adolf Hasse in der russischen Musikkultur. In: Johann Adolf Hasse in seiner Zeit, hg. von Reinhard Wiesend, Stuttgart, 2006, S. 193–206, hier v. a. S. 195 f.; O. A. Ivanov, Ja.Ja. Stählin. In: Ekaterina II i Petr III. Istoria tragičeskogo konflikta, Moskva 2007, S. 439–546; Konstantin Malinovskij (Hg.), Zapiski Jakoba Štelina ob izjaščnych iskusstvach v Rossii, Moskva 1990, Bd. 1, S. 7–26; Francine-Dominique Liechtenhan, Jacob von Stählin, académicien et courtisan. In: Cahiers du monde russe, 43.2–3, 2002, S. 321–332.

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Geschichtsschreiber des russischen Musiktheaters.10 Stählin war allerdings nicht nur Akademiker und Literat, sondern auch ein äußerst scharfsinniger Höfling und Diplomat, dem es dank eines umsichtig geknüpften Netzes wichtiger Verbindungen gelang, sein Hofamt unter vier aufeinanderfolgenden Herrschern zu behaupten: Anna, Elisabeth, Peter III. und Katharina II. Genau wie im Falle Metastasios und Hasses gründete auch Stählins berufliche Laufbahn auf den Verflechtungen von Musik und Politik. Wie erwähnt, zeichnete Stählin als künstlerischer Leiter der Krönungsfeierlichkeiten für Zarin Elisabeth auch für die Entscheidung verantwortlich, das Werk zu importieren, zu übersetzen und aufzuführen. Von der Moskauer Inszenierung sind neben der Partitur auch noch das italienische sowie das von Ivan I. Merkur’ev, Übersetzer und Sekretär im Außenministerium, ins Russische übertragene Libretto erhalten, die aus der Druckerei der Russischen Akademie der Wissenschaften stammen.11 Obgleich das italienische Melodrama eine von den ursprünglichen Eigenheiten losgelöste Konvention darstellte und sich die Oper – teils sogar ganz ohne Umarbeitungen oder Übersetzungen – in alle Welt exportieren ließ, wurden Libretti in Deutschland für gewöhnlich übersetzt, um den Zuschauern das Verständnis zu erleichtern. Eine solche „Gebrauchsübersetzung“ stellt auch das anonym veröffentlichte Libretto zur Dresdner Aufführung der Clemenza dar.12 Diese keineswegs ganz unliterarische Übersetzung ist in Versen gehalten und vollständig: Der Autor hat das gesamte Libretto Metastasios übersetzt und jene Verse, die in der von Hasse vertonten Fassung fehlen, mit Anführungszeichen kenntlich gemacht. Offenbar sollte der Leser anhand der vollständigen Textversion des Librettos Metastasios Dichtung kennen und schätzen lernen: Um der Kürtze willen werden einige Verse ausgelassen, so mit zween „ bezeichnet; man hat sie aber mit beydrucken wollen, damit der Leser ein so geschicktes Werck ganz habe, dessen Verfasser der Kayserl. Poet Hr. Metastasio ist.13

10 Vgl. Jacob von Stählin, Nachrichten von der Musik in Russland. In: Neuverändertes Rußland oder Leben Catharinae der Zweyten Kayserinn von Rußland, hg. von August Ludwig von Schlözer, Riga/Mietau 1771, Bd. 2, S. 44–192. 11 [Pietro Metastasio, Jacob von Stählin und Ivan Merkur’ev], Miloserdie Titovo: Opera s prologom predstavlennaja vo vremia vysokotoržestvennago dnja koronacii eja imperatorskogo veličestva Elizavety Petrovny samoderžicy vserossijskoj, Moskva [aber Sankt Petersburg] 1742. Sämtliche Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. 12 [Pietro Metastasio, Johann Adolf Hasse], Die Gütigkeit des Titi. Ein Musikalisches Drama, Welches Am Königl. Chur-Fürstl. Hofe zu Dreßden Zur Zeit des Carnevals im Jahr 1738 aufgeführet worden. [Dreßden, 1738]. Sämtliche Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. 13 [Metastasio, Hasse], Die Gütigkeit des Titi, S. 3.

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Dafür wird aber die Licenza am Schluss getilgt, die auf das spiegelbildliche Verhältnis des Werks zum Auftraggeber und Widmungsträger Karl VI. verweist und im Kontext des sächsischen Hofes nicht weiter von Belang war. Die Sitte, Opernlibretti zu übersetzen, wurde auch in Russland übernommen, wo die Notwendigkeit einer Übersetzung für das Verständnis des gesungenen Textes noch größer war, insofern als es dort zu jener Zeit kaum Zuschauer gegeben haben dürfte, die des Italienischen mächtig waren. Ivan Merkur’evs russische Übersetzung des Librettos der Clemenza ist im Gegensatz zu der stilistisch eleganten deutschen Übertragung in recht unbeholfenen Silben-Versen gehalten.14 Dennoch hält sie sich eng an das Original: Sowohl der dramaturgische Aufbau als auch die Handlung bleiben von den unwesentlichen Änderungen unberührt.15 Im ersten Akt fehlen lediglich zwei Szenen aus Metastasios Libretto,16 die 16 Szenen des zweiten Akts und die 13 Szenen des dritten Akts sind auf jeweils elf Szenen reduziert worden. Wie im Falle der deutschen Übersetzung fehlt auch hier die Licenza, zumal bereits im Prolog Bezug auf den neuen Widmungsträger genommen wird. Dort fügt Stählin eigens für die Moskauer Aufführung direkt auf Italienisch (und anschließend in deutscher und französischer Übersetzung) hinzu: „Россия по печали паки обрадованная“ („Das verzweifelte Rußland ist getröstet“).17 Zur Partitur bemerken Pavel Loutsker und Irina Soussidko, dass in der russischen Fassung sämtliche Rezitative ex novo komponiert wurden.18 Von den 25 Arien aus Hasses Dresdner Version blieben nur zehn erhalten; weitere zehn Arien und zwei Chöre wurden ganz neu komponiert, während fünf in Metastasios Libretto enthaltene Arien weggelassen wurden. Somit fand in der Moskauer Fassung nicht einmal die Hälfte von Hasses Musik Verwendung. Diese Kürzungen und Änderungen der Partitur bezeugen die Notwendigkeit, die Musik

14 Vgl. Jurij D. Levin, Schöne Literatur in russischer Übersetzung. Von den Anfängen bis zum 18. Jahrhundert. Bd. 2: Drama und Lyrik, Sankt Petersburg 1996, S. 25. 15 Dass die etlichen für Theater mit unterschiedlichen Funktionen, an unterschiedlichen Orten und von unterschiedlichen Dynastien komponierten Bearbeitungen der Clemenza dem Original dennoch in beachtlichem Umfang treu bleiben, liegt daran, dass Metastasios Texte einen klaren Vorrang vor der Musik haben. Die Opern Metastasios verdanken ihre weite Verbreitung vor allem ihrer Poetizität und thematischen wie praktischen Verwertbarkeit und keineswegs der Musik. 16 Gestrichen werden im ersten Akt die dritte Szene, in der sich der Dialog zwischen Sextus und Annius fortsetzt und Ersterer seine Liebe zu Servilia, der Schwester des Annius, bekennt, sowie die vierte Szene mit dem Selbstgespräch von Sextus. 17 Stählin, Rossija po pečali paki obradovannaja. Prolog k opere nazyvaemoj Miloserdie Tita. In: [Metastasio, Stählin und Merkur’ew], Miloserdie Titovo, [ohne Seitenangabe]. 18 Pavel Lucker, Irina Susidko, „Miloserdie Tita“ v Rossii. In: Starinnaja muzyka, 3, 1999, S. 8–11; Mellace, Johann Adolf Hasse, S. 238 f.

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den im Vergleich zum deutschen Ensemble geringeren expressiven Ressourcen und Möglichkeiten des Moskauer Ensembles anzupassen, das zudem über kein so herausragendes Orchester verfügte wie Hasse in Dresden. Der eingefügte Prolog Stählins, die Anpassung des Librettos an die Stimmen der dortigen Sänger und die Verringerung der Rezitative zwecks Vereinfachung des Schauspiels offenbaren den Willen, über den reinen Import eines fertigen Produkts hinauszugehen. Die Moskauer Aufführung der Clemenza stellt den ersten Schritt auf dem Weg zu einer selbständigeren Identität der russischen Oper dar, die sich von den europäischen Vorbildern löst.19 Wenngleich es sich bei der deutschen wie bei der russischen Fassung des Librettos um Übersetzungen handelt, die lediglich für die Lektüre bestimmt waren, ist es ihnen geschuldet, dass die Dramen Metastasios im Ausland so rasch bekannt wurden.20 Das ganze Jahrhundert hindurch haben diese „Gebrauchsübersetzungen“ den literarischen wie ästhetischen Geschmack der deutschen und russischen Kultur mitgeprägt. Eine Untersuchung zur Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte der Dramen Metastasios im 18. Jahrhundert – ein ebenso weites und facettenreiches wie unerkundetes Forschungsfeld 21 – setzt notwendigerweise eine Perspekti19 Hierzu vgl. Anna Giust, Cercando l’opera russa. La formazione di una coscienza nazionale nel teatro musicale del Settecento, Milano 2014, S. 67 f. 20 Stefano Garzonio unterscheidet drei Phasen in der Übersetzungsgeschichte der Libretti: Die erste beginnt um 1730, als der Hofpoet Vasilij K. Trediakovskij unter der Herrschaft Anna Ivanovnas (1730 bis 1740) verschiedene italienische Libretti und Intermezzi übersetzt. Die zweite Phase umfasst den Zeitraum von 1740 bis 1770, als die Gebrauchsübersetzungen der eigens für den Zarenhof geschriebenen italienischen Opern sowie Übersetzungen der Opern Metastasios und später Dramen Goldonis gedruckt werden. Ab den 1780er Jahren verbreitet sich die Praxis einer kreativen Übersetzung der Libretti, die nun nicht mehr zur Lektüre, sondern zur Aufführung dient (dieses Phänomen nennt sich „sklonenie na russkie nravy“, d. h. Anpassung an die russischen Sitten), und die Tendenz, ein nationales russisches Repertoire zu schaffen, macht sich bemerkbar. Vgl. Stefano Garzonio, Mechanismy pereloženia „na russkie nravy“ italianskich opernych libretto. In: Sign System Studies, 30.2, 2002, S. 629–644. 21 Während eine Fülle von Informationen zur Rezeption Metastasios im deutschsprachigen Raum vorliegt (vgl. Mücke, Johann Adolf Hasses Dresdner Opern, S. 163–266; Millner, The Operas of Johann Adolf Hasse; Christoph Henzel, Dichter der Regenten und der Hofleute. Metastasio an deutschen Fürstenhöfen. In: Metastasio im Deutschland der Aufklärung, hg. von Laurenz Lütteken und Gerhard Splitt, Tübingen 2002, S. 59–72), sind Arbeiten, die sich eingehend mit der Bedeutung von Metastasios Theater für die russische Musik und Literatur befassen, weiterhin rar. Zur Verbreitung der Libretti des Hofpoeten in Russland sei verwiesen auf die leider nicht ganz fehlerfreie Pionierarbeit von Zlata M. Potapova, La fortuna di Metastasio in Russia nel secolo XVIII. In: Convegno indetto in occasione del secondo centenario della morte di Metastasio, S. 321–328. Vgl. ferner David J. Welsh, Metastasio’s Reception in 18th Century Poland and Russia. In: Italica, 41.1, 1964, S. 41–46; Stefano Garzonio, Metastasio e la poesia russa tra classicismo e romanticismo: la fortuna di un motivo. In: Museum Patavinum, 3, 1985,

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venwahl voraus. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es weder, ein Urteil über die Qualität der deutschen und russischen Übersetzungen zu fällen, was etwa über den Vergleich von Übersetzungslösungen und -strategien geschehen könnte, noch zu untersuchen, welche Rolle der Dichtung Metastasios für die poetische Tradition beider Länder zukommt. Vielmehr gilt es, den grundlegenden Beitrag der Deutschen Hasse und Stählin für die Übersetzungs- und Erfolgsgeschichte der italienischen Oper in Europa herauszuarbeiten. In diesem Sinne soll vor allem beleuchtet werden, wie Metastasios Oper dem jeweiligen Kontext angepasst wurde und wie sich ihre Funktion in unterschiedlichen kulturellen und politischen Kontexten wandelte. Da Hasses und Stählins Fassungen der Oper Metastasios am Hof und für den Hof entstanden, wie sich den oben kurz umrissenen biografischen Profilen der Beiden entnehmen lässt, wird der Frage nachzugehen sein, aus welchen Beweggründen ihre Wahl für die zu einem ganz bestimmten Anlass aufzuführende Oper gerade auf Metastasios Clemenza fiel. Stärker als die unvermeidlichen stilistischen Änderungen, die der Übergang von einem Sprachkode zum anderen mit sich bringt, wird daher die Bedeutung der Übersetzungen bzw. Neuauslegungen der Metastasio-Oper für den jeweiligen historisch-politischen Kontext, in den das Originallibretto übertragen wurde, ins Blickfeld gerückt; damit werden neben der Komplexität der Textmanipulation auch jene Faktoren beleuchtet werden, die für die kreativen ,Neuschreiber‘ des kaiserlichen Hofdichters von Einfluss waren.

II Stählins Prolog Während die deutsche Übersetzung des Librettos von Metastasios Clemenza keinerlei paratextuelle Elemente enthält, die einen ersten Schlüssel zur Bedeutung und Funktion der Oper im zeitgenössischen Kontext liefern könnten, stellt Stählins Prolog eine umfangreiche Informationsquelle dar, aus der sich zumindest vorläufige Antworten auf die gestellten Fragen ableiten lassen. Auf den ersten Blick stellt sich die Hauptfunktion der Moskauer Aufführung von Metastasios Clemenza vor ca. 1000–2000 Besuchern im neuen Opernhaus22

S. 313–326. Zur Präsenz Metastasios in Russland zwischen 1770–1780, auf dem Höhepunkt seiner Rezeption in Russland, vgl. Francesco Paolo Russo, „Nitteti“ e „Demetrio“ alla corte di Caterina II. Su alcuni adattamenti di testi metastasiani in Russia nella seconda metà del XVIII secolo. In: Il melodramma di Pietro Metastasio, S. 511–536. 22 Vgl. Ljudmila Starikova, Teatral’naja žizn’ v Rossii v epochu Elizavety Petrovny: dokumental’naja chronika, 1741–1750, Bd. 2.I, Moskva 2003, Doc. 518, 519 und 521; Stählin, Izvestija o muzyke v Rossii, S. 119–121.

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ganz ähnlich dar wie die von Metastasio und auch Hasses selbst: Das Drama wurde Elisabeth als edelste Form der Huldigung dargeboten. So bemerkt Lucio Tufano zu Recht: „[l]a Clemenza ha un’intrinseca vocazione celebrativa ed è geneticamente predisposta a esaltare le virtù necessarie all’esercizio del potere sovrano“.23 Metastasios Libretto bot einen idealen Stoff, um „das heitere Gemüt und die erhabenen geistigen Qualitäten der Kaiserin“ hervorzuheben, wie Stählin im Prolog betont.24 Der „feierliche“ Text in zwei Akten weist zwei Hauptfiguren auf: die (von Caterina Giorgi gespielte) Rutenia als Personifizierung Russlands sowie die (von Rosa Ruvinetti Bon dargestellte) Astrea als Sinnbild der Gerechtigkeit.25 Im ersten Akt beklagt Rutenia in der öden Finsternis ihr Schicksal und trauert den Zeiten Peters des Großen nach. Ihre weinenden Kinder (das russische Volk) tröstet sie mit dem Hinweis, dass Peter in seiner Tochter Elisabeth fortlebe, welche Russland bald wieder zum alten Glanz verhelfen könne.26 Im zweiten Akt steigt Astrea aus dem Himmel herab, verkündet Rutenia die Thronbesteigung der neuen Zarin und malt ihr eine glückliche Zukunft aus. Nicht von ungefähr hat die Göttin Elisabeth mit den Gaben der Gerechtigkeit, des Mutes, der Menschlichkeit, der Großmütigkeit und der Gnade versehen, die in einem allegorischen Ballett von verschiedenen Figuren im Gefolge Astreas verkörpert werden. Natürlich wird letztgenannte Tugend, die Gnade, besonders gewürdigt: Elisabeth war zwar durch den Staatsstreich vom 25. November 1741 an die Macht gelangt (was durch die aufgehende Sonne und den heiteren Chor der Sänger versinnbildlicht wird), hatte sich aber ihren Feinden gegenüber milde gezeigt und in einem Gnadenakt vom Januar 1742

23 Lucio Tufano, Felicità (e infelicità) sulle scene musicali tardo-settecentesche. „La clemenza di Tito“ di Mozart e „Nina o sia La pazza per amore“ di Paisiello. In: Felicità pubblica e felicità privata nel Settecento, hg. von Anna Mario Rao, Roma 2012, S. 435–449, hier S. 436. 24 „жизнерадостный нрав и высокие душевные качества императрицы“ (Stählin, Izvestija o muzyke v Rossii, S. 119). 25 Der Prolog und der erste Teil der Oper wurden von Domenico Dall’Oglio (1700–1764) vertont, einem Violinisten des italienischen Ensembles, der zweite Teil von Luigi Madonis (1690– 1770). Den Part des Titus sang die Altistin Caterina Giorgi, den Part des Annius ihr Ehemann, der Tenor Filippo Giorgi; den Part des Publius die Sopranistin Caterina Masani (genannt Caterla); den Servilias Geronima Madonis, die Ehefrau von Luigi Madonis. Als Prima Donna, Vitellia, stand Rosa Ruvinetti Bon auf der Bühne, die Frau des Malers Girolamo Bon, als Primo Uomo, Sextus, der Kastrat Pietro Morigi. Die Bühnenbilder schuf Girolamo Bon (um 1700– 1760). Die Musik des Prologs ist nicht erhalten, die Übersetzung stammt vermutlich von Michail Lomonosov (1711–1765). 26 „обнадеживает их тем, что Петр еще жив в лице свой дщери и что он России может скоро опять возвратить прежнюю ея славу […] ежели кровию Великого Петра и истинною и законною наследницею Петровы времена паки восстановлены будут“ (Stählin, Rossija po pečali paki obradovannaja, Erster Akt).

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den Grafen Andrej Ostermann, Feldmarschall Burchard Christoph von Münnich und die abgesetzte Zarin Anna begnadigt. Der Zusammenhang des historischen Ereignisses mit den Aufführungen der Clemenza di Tito im Mai desselben Jahres liegt auf der Hand. Mit dem Prolog verortete Stählin die szenische Handlung für das russische Publikum neu und verlieh ihr zusätzliche Tiefe. Durch den Verweis auf die Güte und Nachsichtigkeit der Zarin schuf der Prolog eine Verbindung des Opernstoffs zu einem konkreten historisch-politischen Kontext und einem feierlichen Anlass, der sich von dem ursprünglich von Metastasio und später von Hasse angedachten unterschied. Wenngleich der Prolog also einerseits die Eignung des Dramenstoffs für die Aufführung bei einer Krönungsfeier hervorhob, bezeugte er doch andererseits, dass die Beweggründe für die Auswahl der Clemenza anlässlich der Thronbesteigung Elisabeths keineswegs nur im Lobescharakter des Librettos zu finden sind. Anders als Marialuisa Ferrazzi behauptet, der zufolge das Drama als paradigmatisches Beispiel eines Herrscherlobs anzusehen ist,27 lassen sich die Beweggründe der Stoffauswahl für die Moskauer Inszenierung auch nicht auf den rein materiellen Umstand zurückführen, dass der Hofkomponist Francesco Araja nicht am Hof weilte, da er im Trauerjahr nach dem Tode der Zarin Anna nach Italien geschickt worden war, um das italienische Ensemble personell zu verstärken. Tatsächlich ging Stählin im Prolog so weit, Elisabeth mit dem römischen Kaiser auf eine Stufe zu stellen: In Astreas Arie aus dem zweiten Akt wird betont, dass Peters Tochter den Thron bestiegen hat, um das Bild Peters I. als Förderer des modernen Russland und dessen Reformen ins rechte Licht zu rücken („узаконения Петра Великого“) und den Kurs ihrer Eltern fortzuführen. Der Verweis auf Peter I. ist von wesentlicher Bedeutung, um die Stoffauswahl und die Funktion der Oper im russischen Kontext zur Gänze zu erfassen. Wie Cynthia Whittaker und Richard Wortman herausgestellt haben, war Peter der Große, der die Entstehung der modernen politischen Kultur einleitete, ja auch für zahlreiche Neuerungen der Thronfolgeregelung verantwortlich.28 In der Überzeugung, dass sein ältester Sohn, der Carevič Aleksej, nicht in der

27 Vgl. Marialuisa Ferrazzi, Teatral’nye toržestva po slučaju koronacii imperatricy Elizavety Petrovny. Prolog „Rossija po pečali paki obradovannaja“ i opera-seria „Miloserdie Tita“. In: Okkazional’naja literatura v kontekste prazdničnoj kul’tury XVIII veka, hg. von Petr Bucharkin, Ulrike Jekutsch und Natal’ja Kočetkova, Sankt Petersburg 2010, S. 311–324, hier S. 312. 28 Cynthia H. Whittaker, Chosen by „All The Russian People“: The Idea of an Elected Monarch in Eighteenth-Century Russia. In: Acta Slavica Iaponica, 18, 2001, S. 1–18; Richard Wortman, The Representation of Dynasty and „Fundamental Laws“ in the Evolution of Russian Monarchy. In: Russian Monarchy. Representation and Rule, Boston 2013, S. 33–73.

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Lage sein würde, seine Reformpläne zur Modernisierung Russlands voranzutreiben, setzte Peter I. das Primogeniturrecht außer Kraft: In seinem am 5. Februar 1722 verkündeten Gesetz schaffte er den dynastischen Machtübergang ab und verlieh dem jeweils amtierenden Herrscher das Recht, seinen Nachfolger frei zu bestimmen; fürderhin sollte seine Erklärung der „Herrschaftswürdigkeit“ (достойный) das einzige legale Kriterium für die Thronfolge darstellen.29 Da Peter jedoch ohne lebende männliche Nachkommen verstarb und ohne einen Nachfolger benannt zu haben, zog sein Erlass Destabilisierung und Willkür im gesamten Erbfolgeverfahren nach sich und leitete die Ära der Palastrevolutionen ein. In der Zeit nach Peters Herrschaft wurde die Frage der Thronfolge in Russland an vier Kriterien festgemacht: der Ernennung durch den früheren Monarchen, dem dynastischen Prinzip, dem persönlichen Verdienst und der Wahl durch das Volk. Zwar konnte kein Monarch des 18. Jahrhunderts von sich behaupten, alle vier Kriterien für das Anrecht auf die Thronfolge zu erfüllen, aber doch immerhin zwei von ihnen. Nach Peter dem Großen stellte die Ernennung durch den Vorgänger also de iure die einzige Legitimationsgrundlage dar, wurde aber in der öffentlichen Meinung eher beargwöhnt. Zugleich blieb die Tradition der Erbfolge so stark, dass niemand Ansprüche auf den Thron zu erheben wagte, der nicht wenigstens durch Heirat mit der Romanov-Dynastie verbunden war. Und selbst die Primogenitur wurde trotz ihrer Abschaffung durch das Gesetz Peters I. bei jeder Gelegenheit wieder ins Spiel gebracht. Durch Stählins Prolog wurde die Oper daher für jeden russischen Machthaber des 18. Jahrhunderts zu einem willkommenen Instrument für die mit einer möglichst vollständigen Auflistung der Legitimationskriterien einhergehenden Erhebung und Verteidigung der eigenen Thronfolgeansprüche in der Öffentlichkeit. Mit dem Hinweis auf die enge Verwandtschaft Elisabeths zu Peter dem Großen wurden sowohl das Prinzip der dynastischen Erbfolge als auch die charismatische Herrschaftsgrundlage hervorgehoben. Die in der Figur Astreas – welche im zweiten Akt Rutenia als Personifizierung des russischen Volkes an die Hand nimmt und in ein „in Blüte und Ruhm stehendes Reich“ („в цветущее состояние и в славу приведенное государство“) führt – verkörperte Fortschrittsverheißung im Sinne Peters machte das Fehlen einer offiziellen Ernennung durch den Vorgänger wett. An dem Denkmal, das am Ende des Prologs auf der Bühne errichtet wird, ist eine Inschrift zu lesen, die das Vorhandensein zweier weiterer Legitimationsprinzipien für die Thronfolge hervorhebt, nämlich der Herrschaftswürdigkeit und der Wahl durch das Volk:

29 Whittaker, Chosen by „All The Russian People“, S. 3.

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Да здравствует благополучно Елизавета достойнейшая, вожделенная, коронованная императрица всероссийская, мать отечества увеселение человеческаго рода Тит времен наших.30 Glücklich lebe Elisabeth, hoch würdige, innigst geliebte, gekrönte allrussische Kaiserin, die Mutter des Vaterlandes, die Freude des ganzen Volkes, der Titus unserer Zeit.

Es lässt sich somit feststellen, dass einerseits Funktionen des ursprünglichen Librettos beibehalten werden – und zwar die verherrlichend-feierliche Funktion und die des Herrscherspiegels, der auch zur Beruhigung der Untertanen dient –, zum anderen aber die von Metastasio an den Potentaten gerichtete subtile pädagogische Botschaft zur Gänze getilgt wird.31 Während also die deutsche Übersetzung des Librettos darauf abzielte, die Poetizität Metastasios zu übertragen, bezweckte Stählin mit seinem Prolog, den Sinn der dramatischen Handlung zum Nutzen eines spezifischen Souveräns und des russischen Volkes in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Interessant scheint daher die Frage, wie das Libretto nach Stählins Willen vom russischen Publikum verstanden werden sollte und welche Bedeutung Metastasios Clemenza im politischen Kontext Russlands im Vergleich zu Metastasios österreichischem und Hasses deutschem Kontext erlangte.

III Der familiäre Wortschatz Franca Angelini hat festgestellt, dass in Metastasios Oper „[l]e relazioni parentali intrecciate, comprese quelle di amicizia, che legano tutti i personaggi, ri-

30 Stählin, Rossija po pečali paki obradovannaja, zweiter Akt. 31 Zur pädagogischen Botschaft, die Metastasio für Karl VI. durch die Darstellung als Titus bereithielt, siehe Elena Sala Di Felice, Virtù e felicità alla corte di Vienna. In: Metastasio e il melodramma, hg. von Elena Sala Di Felice und Laura Sannia Nowé, Padova 1985, S. 55–87, bes. S. 61.

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mandano all’idea di famiglia che si connette a quella dell’impero“.32 Es scheint daher angebracht, eingehender den Sinn der Analogie am Ende des Prologs zwischen Elisabeth als der „Mutter des Vaterlandes“ und Titus als „Vater des Vaterlandes“ zu untersuchen. Insbesondere stellt sich die Frage nach der politischen Wertigkeit des in der Oper dargestellten häuslichen Universums und nach der Bedeutung der ideologischen Implikationen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass die Verschwörungsgeschichte auf den Maßstab eines Familiendramas reduziert wird. Bereits in den ersten Zeilen der Oper wird hervorgehoben, dass Titus gerade deshalb den idealen Herrscher verkörpert, weil er die Tugend besitzt, als Vater des römischen Volkes aufzutreten. So beteuert Sextus im Bemühen, Vitellia zur Abkehr von ihren Verschwörungsplänen zu bewegen: Tito [è] delizia al mondo, il padre a Roma amico a noi. (I.1, V. 45–47)33 Was hilfft es wohl, wenn uns zugleich ein Freund, der Welt In Tito seine Lust, und Rom der Vater fällt? (I.1, S. 9) Красота миру всему, отец Риму чтится Другом себя кажет нам. (I.1, S. 2)

Dass die für die Machtausübung unerlässliche Tugend darin besteht, den eigenen Untertanen ein Vater zu sein, kommt erneut während der Senatsversammlung zum Ausdruck, in der der Patrizier Publius Titus den Titel „Vater des Vaterlandes“ verleiht: Te della patria il padre oggi appella il Senato. (I.5, V. 188–189) Es nennt dich der Rath des Vaterlandes Vater. (I.5, S. 18) Вас отцем отечества Сенат называет. (1.3, S. 6)

In seiner Antwort an den Senat betont Titus, dass er seine Aufgabe als Ausübung väterlicher Tugenden und Dienst am Gemeinwohl versteht:

32 Vgl. Franca Angelini, „La Clemenza di Tito“ di Pietro Metastasio. In: Letteratura italiana. Le opere, Bd. 2: Dal Cinquecento al Settecento, hg. von Alberto Asor Rosa, Torino 1993, S. 1039–1053, hier S. 1043. 33 Pietro Metastasio, La Clemenza di Tito. In: Drammi per musica, hg. von Anna Laura Bellina, 3 Bde., Venezia 2002–2004, Bd. 2: Il regno di Carlo VI, 1730–1740, S. 373–444. Sämtliche Zitate des Dramas sind dieser Ausgabe entnommen.

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Più tenero, più caro nome che quel di padre per me non v’è; ma meritarlo io voglio, ottenerlo non curo. (I.5, vv. 207–210) Mir kan nichts süssers seyn, ich kan nicht bessers wissen, Als wenn ihr Vater sprecht, den Nahmen acht’ ich nicht. Wenn man mich nur des Nahmens würdig spricht. (I.5, S. 19) Миляе, любимее, имени мне нету, Что зовете мя отцем паче всего свету, Рад бы я такомым быть, и пренебрегаю, А воли моей на том доход не склоняю. (1.3, S. 7)

Welche Bedeutung trugen nun die rezitierten Verse und wie empfand sie das russische Publikum, das der Krönungszeremonie Elisabeths beigewohnt hatte? In erster Linie diente die Identifikation des Staates mit der Familie als Ausdruck der dynastischen Hoheitsübertragung im Sinne eines Legitimationskriteriums für die Thronfolge der Zarin. Zudem ist zu bedenken, dass sich Peter der Große mit dem Titel „Vater des Vaterlandes“ geschmückt hatte. Zu der bei Metastasio angelegten und auch in Hasses Fassung beibehaltenen Funktion der Verse als verbindendes und vertrauensstiftendes Element zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen34 gesellt sich in der russischen Fassung des Librettos eine weitere Funktion: Diese Verse sollten Elisabeth als einhellig vom Volk gewählte Herrscherin präsentieren. Die Familienmythologie diente in der Oper somit auch dem Zweck, die Machtausübung der Herrscherin als eine ganz im Namen des Gemeinwohls geführte Regierung darzustellen. Dass Vaterrolle und Herrscheramt in der Figur des Titus eng miteinander verwoben sind, kommt deutlich zum Ausdruck, als Publius Servilia berichtet, welche Maßnahmen der Kaiser nach der Aufdeckung der Verschwörung ergriffen habe: Oh se il vedessi della confusa plebe gl’impeti regolar! Gli audaci affrena, i timidi assicura; in cento modi sa promesse adoprar, minacce e lodi. Tutto trovi in lui: ci vedi insieme il difensor di Roma,

34 Zur Darstellung der Macht in Hasses Werk vgl. Reinhard Strohm, Rulers and States in Hasse’s drammi per musica. In: Johann Adolf Hasse und Polen, hg. von Irena Poniatowska und Alina Zérawska-Witkowska, Warszawa 1995, S. 15–35.

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il terror delle squadre, l’amico, il prence, il cittadino, il padre. (II.4, V. 645–652)

Interessanterweise wurden diese Verse in Hasses Dresdner Fassung allerdings nicht gesungen, wie die Anführungszeichen belegen, was darin begründet sein dürfte, dass sie als entbehrlich für das Verständnis der Handlung angesehen wurden: „Wie er den tollen Pöbel zäumet, „Der doch vor Eyffer schäumet, „Wie er die Kühnheit trotzt, die Furcht mit Trost erfüllt, „Und wohl auf hundert Art verspricht, und lobt, und schilt. „Ja, alles was du willst, kanst du an ihm entdecken, „Sieh Roms Beschützer an, des Krieges-Heeres-Schrecken, „Freund, Bürger, Vater, Fürst, und aller Menschen Lust. (II.4, S. 45–46)

Im russischen Kontext erlangten die Verse, in denen die Niederschlagung der Revolte durch Titus geschildert wird, jedoch eine umfangreiche allegorische Bedeutung, zumal sie metaphorisch das Vorgehen Elisabeths während des Staatsstreichs und die Unterstützung seitens des Volkes beschrieben: O ежелиб ты знала! Каким он разводом, Видя, поправляет все меж своим народом, Смелых удерживает, тихих ободряет, Хвалы, грозы, обеты, как делать всем знает, Вкупе Рима защитник, страшный полководец И друг, вкупе и Монарх, гражданин и отец. (II.4, S. 20)

Eine interessante Lesart des Bestrebens von Titus, in seiner Person öffentliche Herrschaft und privates Gewissen zu vereinen (und des aus diesem Bestreben erwachsenden inneren Konflikts) bietet die Untersuchung Kritik und Krise (1959), in der Reinhart Koselleck in der heiklen Balance zwischen öffentlicher Herrschaft und privatem Gewissen die Rahmenbedingungen für die Pathogenese der modernen Welt ausmacht.35 Denn während die Stärke des Absolutismus nach Ansicht des Historikers in der Trennung von Politik und moralischem Gewissen lag, zeichnet sich die Aufklärung gerade durch die radikale Neubewertung des Verhältnisses zwischen Moral und Politik aus. Im Libretto spiegelt sich somit auch der von Koselleck beschriebene Paradigmenwechsel im politischen Denken des 18. Jahrhunderts wider, der einen Übergang von der Staatsräson zur allgemeinen Glückseligkeit bezeichnet und

35 Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959.

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die Aufgabe der Mächtigen darin ausmacht, für das Gemeinwohl und allgemeinen Wohlstand zu sorgen. Durch die Darstellung der Verschmelzung des Politikers mit dem Privatmenschen in der Figur des Titus wendet sich das Melodram von dem durch den Dualismus aus Politik und Moral sowie durch die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre gekennzeichneten politischen Modell ab. Dies schlägt sich auch in den häufigen Verweisen auf die Figuren Brutus und Manlius Torquatus nieder, die als politische Negativbeispiele anzusehen sind. In dem Moment, in dem Titus zu entscheiden hat, wie er sich Sextus gegenüber verhalten soll, dem die Schuld an der gescheiterten Verschwörung zugewiesen wird, fallen die Namen Brutus und Manlius als Beispiele für Männer, die im Namen der Staatsräson Verbrechen begangen haben, indem sie die private von der öffentlich-politischen Sphäre trennten: Di Sesto amico non sa Tito scordarsi? Han pur saputo obbliar d’esser padri e Manlio e Bruto Sieguansi i grandi esempi. (Siede) Ogni altro affetto d’amicizia e pietà taccia per ora. (III.7, V. 1305–1309) Kan Titus seinen Freund den Sextum nicht vergessen? Vergaßen Mannlius und Brutus denn indessen, Das man sie Väter hieß? dem Beyspiel folge man, Und setze Freundschafft, Gunst und Gnade jetzt hindan. (III.7, S. 84) Принимать ли Титусу забытые меры? Забыть друга Секстуса, были те примеры, Забыли Брутус, Манлий всю ласку отцову, Жалость и дружба молчи, теперь вы не к слову. (III.7, S. 43)

Bei seiner Befragung gibt Sextus nicht preis, warum er seine Freundschaft zu Titus verletzt hat. So bleibt Titus allein zurück und nimmt indirekt erneut Bezug auf Brutus, wenn er sich zu Beginn des von Voltaire so geschätzten Rezitativs fragt: E dove mai s’intese più contumace infedeltà! Poteva il più tenere padre un figlio reo trattar con più dolcezza? (III.7, V. 1289–1292)36

36 „Ist solche Untreu wohl auf Erden so erhört, / Und solcher Eigensinn, als dieser? Wo verfährt / Jemahls ein Vater auch vom zärtlichsten Gemüthe, / Wenn sich sein Sohn vergeht, mit größern Glimpff und Güte?“ (III.7, S. 83); „Cлыхано ль неверствие, такое упрямо! / Больше ль может, поступать отец к сыну прямо? / В какую б сын у отца вину ни попался, / Хотя б невиновен был, сколько мог старался, / За едино упрямство недостоин жизни.“ (III.7, S. 43).

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Während Brutus bei der Verhängung der Strafe gegen seine Söhne nicht wie ein Vater handelt, sondern wie ein gewissenhafter Statthalter, der die Gesetze befolgen muss, entscheidet sich Titus letztendlich dafür, als Vater und Freund zu handeln. Vor der Befragung von Sextus ist sich der Kaiser noch unsicher, welche der beiden Dimensionen bei ihm überwiegen wird, die öffentliche oder die private: Ingrato! All’udir che s’appressa, già mi parla a suo pro l’affetto antico. Ma no; trovi il suo prence e non l’amico. (III.5, V. 1188–1190)37

Dahingegen stellt sich im Laufe des Gesprächs heraus, dass der Wert der Freundschaft und die private Dimension ihrer Beziehung für ihn stärker ins Gewicht fallen als die Achtung, die ihm als Kaiser entgegengebracht wird: Ah Sesto, è dunque vero? Dunque vuoi la mia morte? E in che t’offese il tuo prence, il tuo padre, il tuo benefattor? Se Tito augusto hai potuto obbliar, di Tito amico come non ti sovvenne? Il premio è questo della tenera cura ch’ebbe sempre di te? (III.6, V. 1210–1216)38

Im Versuch, Sextus zum Reden zu bringen, der aus Rücksicht auf die geliebte Vitellia den wahren Grund für die fehlgeschlagene Verschwörung nicht preiszugeben wagt, versichert Titus ihm, er sei durchaus imstande, seine Rolle als pflichtbewusster Richter und Herrscher von der als Freund zu unterscheiden, dessen Liebe jedenfalls überwiegen werde:

37 „Der Undanckbare! / Kaum hör’ ich, daß er hahe sey./ So spricht ihn schon die alte Freundschaft frey./ Doch nein: Er finde mich als Kayser, nicht als Freund.“ (III.5, S. 77); „Неблагодарной! Пришол, по нужде приходиш, / Прежния мои любви в пользу себе вводишь; / Только не хочу того, Монарха да знает, / А не так как прежняго друга почитает.“ (III.5, S. 39). 38 „Ach! Sextus, soll es möglich seyn? / So wilst du mich dann todt? So sage mir nur an: / Was hat dir denn dein Fürst, dein Vater wohl gethan? / Und wenn du Titum auch als Kayser hast vergessen; / Wie dachtest du denn nicht indessen / An Titum deinen Freund? Soll das der Lohn für mich, / Und meine Sorgfalt seyn, die ich für dich gehabt?“ (III.5, S. 79); “O Ceкстус ну правда ли? как нам всем умерти, / Что ты жило на лишить, искал моей смерти? / Коли так: в чем досадил? Так твой правитель, / Благодетель твой всегда как твой и родитель. / Позабыл ли Титуса Монарха твоего, / Как же не вспомнить Тита? Так друга своего? / То ли воздаяние от тебя всегда причастно?“ (III.5, S. 40).

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Siamo soli; il tuo sovrano non è presente. Apri il tuo core a Tito, confidati all’amico; io ti prometto che Augusto nol saprà. (III.6, 1249–1251)39

Am Ende des dritten Akts ist es der nie in Abrede gestellte Vorrang der privaten Dimension, der Titus’ Handeln bestimmt: Sesto, non più; torniamo di nuovo amici; e de’ trascorsi tuoi non si parli più mai. Dal cor di Tito già cancellati sono; me gli scordo, t’abbraccio e ti perdono. (III.13, V. 1505–1509).40

Titus steht daher in klarem Gegensatz zu Brutus und Manlius Torquatus: Indem er die Verschwörer begnadigt, tut er das genaue Gegenteil von Brutus und Manlius, die keine Sekunde gezögert haben, ihre eigenen Söhne zum Tode zu verurteilen. Während also Brutus und Manlius für ein Herrschermodell stehen, in dem öffentliche und private Sphäre einen Kontrast bilden, verkörpert Titus das moderne Modell der Politik, das eine Lösungsmöglichkeit für den problematischen Dualismus von Moral und Staatsräson bereithält. Die barmherzige Gnade des Titus, die in Corneilles Cinna das Mittel zum Ruhm und einen nützlichen politischen Notbehelf darstellt, wird in Metastasios Clemenza zum Ausweg aus der alten politischen Ordnung, verkörpert in der Figur der Vitellia, welche den zaudernden Sextus gleich zu Beginn des Dramas zum neuen Brutus machen möchte: È la gloria il tuo voto? Io ti propongo la patria liberar. Frangi i suoi ceppi; la tua memoria onora; abbia il suo Bruto il secol nostro ancora. (I.11, V. 487–489).41

39 „Mein Sextus, höre mich: Es kan uns niemand stören: / Dein Keyser ist nicht da, er soll nichts hören / Du kanst dein Herz ja wohl dem Tito offenbahren: / Vertraue dich ihm nur als Freund; und ich / Verspreche dir, es soll der Kayser nichts erfahren.“ (III.6, S. 81); „Открой сердце Титусу, одни здесь надежно. / Не мни что Монарх с тобой, повери как другу, / Цесарь то не будет знать, почту за услугу.“ (III.6, S. 44). 40 „Ach! Sextus, fange doch nicht wieder an. / Wir wollen nun auffs neue Freunde werden; / Und was geschehen ist, das sey vorbey./ Aus Titi Hertzen ist es völlig ausgestrichen. / Ja, ich vergesse, und verzeihe, / Und ich umarme dich auffs neue.“ (III.13, S. 96); „Полно Секст думать о том, буем друзьями паки, / Забудем прошедшия те преступки всяки, / С сердца Титус выкинул, я все забываю, / Тебя обнимаю я, и тебя прощаю.“ (III.11, S. 49). 41 „Verlangst du Ruhm? Wohl, komm, ich will dich führen. / So mache dann das Vaterland nur frey, / Und brich die Fesseln doch entzwey. / Und deiner Ehre Sälen graben, / Und gleichfalls unsre Zeit noch einen Brutus haben.“ (I.11, S. 35); „За славу ли ревнуешь, тебе предла-

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Beachtlich ist dabei, dass der zwischen seinen Gefühlen hin und her gerissene Sextus ausgerechnet mit dem Beispiel des Brutus zum Mord an seinem Freund angestachelt werden soll. Im Verständnis Metastasios, aber auch seiner Übersetzer, war die Gnade ein Akt des gesellschaftlichen Einvernehmens, der dazu diente, die Macht zu stabilisieren, ohne die absolute Hoheit des Herrschers in Frage zu stellen. Somit war es eine Allegorie für das Reformprogramm der Kultur der Aufklärung. Während Metastasios Melodramen sich im österreichischen wie im deutschen Kontext als wirkungsvolle ideologische Stütze der Monarchie eigneten, gewann das Libretto am Zarenhof weitere Bedeutung hinzu, indem es die Figur des Vaters zeigte, der seinen Sohn streng bestraft und zum Tode verurteilt: Elisabeth war die Tochter Peters des Großen, der den Carevič Aleksej wegen einer mutmaßlichen Verschwörung gegen den Thron hatte hinrichten lassen. In seiner Biographie Peters des Großen beschreibt Voltaire den Zaren, der den eigenen Sohn verurteilt, interessanterweise als „plus roi que père“ und bemerkt, er habe „vergessen“, Vater zu sein, „da er sich lediglich daran erinnerte, der Gründer des Reiches zu sein“.42 Metastasios Drama ermöglichte es der russischen Zarin also, ihre Regierung als Reformprojekt zu präsentieren, das in einer Linie stand mit den Regierungen Karls VI. und Friedrich Augusts II. Gleichzeitig half es ihr, die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass ihre Herrschaft nicht so grausam werden würde wie die ihres Vaters Peters des Großen.

IV Die Rhetorik des Betrugs im Brechungstext Stählin beabsichtigte also nicht nur, durch Rückgriff auf die Tugenden des römischen Kaisers ein moralisch-politisches Porträt der Zarin zu zeichnen, sondern das Drama bot im Kern einen Legitimationsnachweis für die Herrschaft Elisabeths. Genau wie in den übrigen europäischen Hauptstädten bildete die Aufführung der Oper auch in Moskau das Hauptelement dessen, was Richard Wortman als „Machtszenarien“ definiert hat. Wortman bemerkt: „[t]he sumptuous, highly ritualized presentations of Russian monarchy, produced at enormous cost of resources and time, indicate that Russian rulers and their advisers

гаю / Свободу отечеству, уже я все то знаю. / Разреши узы твои в память не смертельну, / Пускай век останется брута в память зельну.“ (I.9, S. 15). 42 Voltaire, Histoire de l’empire de Russie sous Pierre le Grand (= Oeuvres complètes, Bd. 46), hg. von Michel Mervaud und Christiane Mervaud, Oxford 1999, S. 301.

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considered the symbolic sphere of ceremonies and imagery intrinsic to their exercise of power“.43 In dem von Unsicherheit gekennzeichneten Kontext der russischen Thronfolge fiel der Inszenierung der Clemenza von Metastasio-Hasse in Moskau die Aufgabe zu, die Legitimität Elisabeths zu bekräftigen, und damit de facto die gleiche Aufgabe, die auch ihrer Regierungserklärung und dem Eid zugedacht war, welche beide in aller Eile verfasst und nur wenige Stunden nach dem coup d’état verbreitet wurden.44 Die russische Übersetzung des Librettos zur Clemenza von Metastasio-Hasse ist daher eng verbunden mit der Frage nach Autorität und Herrschaftslegitimation: Die Oper entwickelt sich von einem Zeitvertreib für den Souverän zum Regierungsprogramm. In Anlehnung an die Terminologie André Lefeveres lässt sich feststellen, dass die russische Fassung des Librettos ein „refracting“ oder auch „Brechungstext“ darstellt, d. h. einem bestimmten Publikum und einer bestimmten Ideologie angepasste Neufassung-Zerlesung-Verzerrung: einen Übersetzungstyp also, bei dem ideologische und politische Abwägungen vorherrschen.45 Laut Lefevere ist jede Übersetzung immer eine Form der Brechung, da sie – vor dem Hintergrund ideologischer, poetischer, historischer oder kultureller Gründe – den Übergang von einem System in ein anderes bezeichnen. Zugleich zielen Brechungstexte darauf ab, die Lesart der Nutzer zu beeinflussen. Im Falle Stählins gibt es trotz der Anspielung auf den Staatsstreich im „heiteren Sängerchor“ des Prologs weder einen Hinweis darauf, wie Elisabeth an die Macht gelangte, noch darauf, wie sich die Gnade der Zarin konkretisierte. Am Tag nach dem Staatsstreich, am 18. Januar 1741, verurteilte Elisabeth die Menschen, die noch einen Tag zuvor das Land regiert hatten, als Staatsfeinde zum Tode.46 Wenngleich, wie bereits eingangs erwähnt, Elisabeths Opponenten Ostermann, Münnich und Löwenwolde letztlich von der Todesstrafe begnadigt wurden, entgingen sie doch nicht der Verbannung nach Sibirien.47 Auf ähnliche Art und Weise wurde auch Elisabeths Vorgängerin Anna zwar eine öffentliche Strafe erspart, aber dennoch

43 Richard Wortman, Scenarios of Power: Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Princeton 1995, Bd. 1, S. 3 f. 44 In den Manifesten wurden zwei Gründe genannt, die Elisabeth zum Staatsstreich bewogen: die eindringlichen Bitten ihrer Untertanen und die „Blutsbande“ zu Peter dem Großen. Vgl. Evgenij Anisimov, Afrodita u vlasti. Carstvovanie Elisavety Petrovny, Moskva 2010, S. 143 f.; Wortman, The Representation of Dynasty and „Fundamental Laws“, S. 43 f. 45 Vgl. André Lefevere, Translated Literature: Towards an Integrated Theory. In: The Bulletin of the Midwest Modern Language Association, 14.1, 1981, S. 68–78. 46 Anisimov, Afrodita u vlasti, S. 134. 47 Vgl. Elena Marasinova, Smertnaia kazn’ i politicheskaia smert’ v Rossii serediny XVIII veka. In: Rossijskaja istorija, 4, 2014, S. 53–69.

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musste die entthronte Zarin Sankt Petersburg verlassen und wurde unter Arrest gestellt. Es wird also ersichtlich, dass die neue Zarin nicht so gnädig war, wie der Prolog und die Übersetzung des Librettos von Metastasio-Hasse das russische Publikum glauben machen wollten. Für Stählin, den künstlerischen Leiter der Produktion, der sich der Funktion des mäzenatenhaften Schauspiels vollkommen bewusst war, bot sich mit dem Auftrag zur Inszenierung der Oper die Gelegenheit, das Wohlwollen der neuen Herrscherin, die Ausländer an ihrem Hof bekanntermaßen eher nicht duldete, zu erlangen und sie seiner Treue zu versichern. Nach der Erstaufführung 1742 wurde das Drama bis 1746 etwa neunmal in Russland aufgeführt.48 Die Oper muss auch die spätere Zarin Katharina II., die der letzten Aufführung 1746 beiwohnte, so beeindruckt haben, dass sie den Wunsch verspürte, eine weitere Fassung von Metastasios Clemenza auf einer russischen Bühne zu sehen, diesmal mit der „Darstellung des großen Titus als vollkommenes Abbild ihrer engelhaften Seele“.49 Die Oper wurde bei dem Dichter Jakov Borisovič Knjažnin in Auftrag gegeben, der 1778 seine Miloserdie Titovo verfasste. Die Biographie des Autors der zweiten russischen Clemenza, die keine Gebrauchsübersetzung mehr war, sondern die erste russische Musiktragödie mit Chor und Ballett darstellte und somit den unausweichlichen Bezugspunkt für die Gattung Musikdrama bildete, liegt weitgehend im Dunkeln. 1773 wurde Knjažnin wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zum Tode verurteilt. Wenngleich die Anklage nicht ganz unbegründet gewesen sein mag, scheint das Strafmaß doch ungewöhnlich, zumal Katharina in ihrem Nakaz kommissii o sostavlenii projekta novogo uloženija [Erlass an die Kommission zur Durchführung eines Vorhabens einer neuen Gesetzessammlung] 1767 die Todesstrafe abgeschafft hatte. Es lässt sich daher vermuten, dass sich die strenge Strafe eigentlich gegen die im Werk Knjažnin geäußerten Ideen richtete, die Katharina missfielen, da sie dem von ihr formulierten Staatsbild zuwiderliefen. Da Knjažnin die Clemenza unmittelbar nach seiner Begnadigung durch Katharina II. im Jahr 1777 schrieb, war die Tragödie höchstwahrscheinlich sogar die Bedingung für seine Begnadigung. Die Übersetzung und Rezeption von Metastasios Clemenza in Russland, wohin sie dank der Vermittlung durch die umsichtigen Diplomaten und Literaten Hasse und Stählin gelangt war, sind somit ein Paradebeispiel dafür, dass der eigentliche Motor der Tätigkeit von Komponisten, Librettisten und Übersetzern jener Zeit in den engen dynastischen Verflechtungen der Herrscher zu sehen ist.

48 Pavel Lucker, Irina Susidko, „Miloserdie Tita“ v Rossii, S. 11. 49 Jakov B. Knjažnin, Sobranie sočinenij, Bd. 1, Moskva 1802, S. 9.

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Transkulturelle Ansteckungen Wielands kreative Bearbeitung des Don Quijote in Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva Wielands Don Sylvio (1764) gilt als epochale Schwelle, als Startschuss des deutschen Romans, mit dem der Autor bereits alle grundlegenden Fragen der Romantheorie verhandelt. Alle zentralen Aspekte der literarischen Kommunikation werden in das fiktionale Universum hineingespiegelt und dort selbstreferentiell ausgeleuchtet: die Subjektivität der Wahrnehmung und das problematische Verhältnis von Sein und Schein, die konstitutive Rolle der Phantasie, die Prozessualität der Lektüre, das Erziehungspotential von Literatur, die Möglichkeiten erzähltheoretischer Komplexionen und vieles mehr.1 Wie sehr sich Wieland bei dieser Arbeit der Selbstreferentialisierung der Literatur am Don Quijote inspiriert hat, ist ebenfalls vielfach untersucht worden. Jürgen Jacobs weist daraufhin, dass Wieland fast alle seine Schwärmer-Geschichten nach dem Vorbild des Don Quijote geschrieben hat und macht zahlreiche Selbstaussagen des Autors ausfindig, in denen er seine Inspiration an Cervantes erklärt.2 Hierauf aufbauend wurde immer gründlicher untersucht, dass und wie sehr der Bezug auf den Don Quijote zumal im Don Sylvio alle Ebenen des Textes durchzieht und prägt. Noch nicht genug erforscht wurde allerdings die Tatsache, dass Ähnliches auch für die Frage des Übersetzens gilt, die im 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewinnt und in der sich Wieland mit seiner intensiven Übersetzungstätigkeit vielfach hervorgetan hat.3 Auch in diesem Punkt, so die im Folgenden zu belegende These, stellt der Don Sylvio eine epochale Leistung dar, und wieder spielt der Don Quijote eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wie-

1 Vgl. etwa Wolfgang Preisendanz, Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon). In: Nachahmung und Illusion, hg. von Hans Robert Jauß, 2. Aufl., München 1969, Bd. 1 (= Poetik und Hermeneutik), S. 72–93; Silvio Vietta, Literarische Phantasie: Theorie und Geschichte. Barock und Aufklärung, Stuttgart 1986, S. 165–209; Michael Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, Tübingen 1997, S. 94–120; Alexander Honold, Quijote im Wunderland. Wielands Don Sylvio als literarisches Sozialisationsmodell. In: Wieland/Übersetzen. Sprachen, Gattungen, Räume, hg. von Bettine Menke und Wolfgang Struck, Berlin/New York 2010, S. 179–205. 2 Vgl. Jürgen Jacobs, Don Quijote in der Aufklärung, Bielefeld 1992, S. 37–43. 3 Vgl. etwa Menke, Struck (Hg.), Wieland/Übersetzen, sowie Katharina Roettig, Wielands sokratische Übersetzungen, Heidelberg 2017. https://doi.org/10.1515/9783110542202-004

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lands Roman gibt sich bei näherer Betrachtung als eine Meta-Übersetzung zu erkennen, die zugleich eine Fülle weiterer Funktionen übernimmt, und genau in dieser Doppelung von Selbstreferentialität und weiterführender Funktionsvielfalt transferiert er – ganz im Sinne der zeitgenössischen Übersetzungstheorie – den ‚Geist‘ des spanischen Romans in das Deutschland seiner Zeit und macht ihn so umfassend nutzbar.4 Der Begriff Meta-Übersetzung ist hier im doppelten Sinne zu verstehen: zum einen als „Übersetzung einer Übersetzung“,5 zum anderen als Form der „Metaisierung“,6 also als Reflexion über das Übersetzen. Beides konvergiert in der besonderen Realisationsform der MetaÜbersetzung. Bereits Cervantesʼ Text präsentiert sich als eine „Pseudo-Übersetzung“,7 insofern in der Fiktion ein nicht existenter arabischer Originaltext eingeführt wird, dessen vermeintliche spanische Übersetzung der Leser in Händen hält. Im Nachbericht des Herausgebers, der im Don Sylvio die Funktionsstelle eines Vorworts einnimmt, wird der Don Sylvio ebenfalls als eine Pseudo-Übersetzung eingeführt – nun als deutsche Übersetzung eines spanischen Originals. Bei der realen Faktur des Romans handelt es sich zugleich um eine freie „Bearbeitung“ des Don Quijote.8 Der Roman präsentiert sich also als freie Bearbeitung einer Pseudo-Übersetzung. Mit dieser komplexen Potenzierung der Transfersituation schafft Wieland einen Raum, um eine implizite Übersetzungstheorie zu entfalten und die Übersetzungsfiktion zugleich für zahlreiche weitere Neuerungen zu nutzen. Obwohl es sich bei dem Don Sylvio folglich nicht um eine Übersetzung im engen, heutigen Sinne handelt, wie etwa sein Shakespeare-Projekt oder seine Horaz-Übersetzungen, ist der Roman für die Erforschung der aufklärerischen Übersetzungstheorie und -praxis und ihrer Entwicklungsgeschichte von zentraler Bedeutung. Um die Besonderheiten von

4 Zu diesem zeitgenössischen Übersetzungskonzept vgl. Anneliese Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert (1734–1746), Bonn 1971, S. 55 f. 5 So die Definition von Martin Jörg Schäfer, Machtübertragung, Metaübersetzung. Wielands Das Leben und der Tod des Königs Lear. In: Wieland/Übersetzen, hg. von Bettine Menke und Wolfgang Struck, Berlin/New York 2010, S. 58. 6 Vgl. Janine Hauthal, Julijana Nadj, Ansgar Nünning und Henning Peters, Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Begriffserklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate. In: Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen, hg. von Janine Hauthal, Julijana Nadj, Ansgar Nünning und Henning Peters, Berlin, New York 2007, S. 1–25. 7 Vgl. etwa Ronald Jenn, La pseudo-translation de Cervantes à Mark Twain, Leuven 2013, S. 7; Brigitte Rath, Pseudotranslation. In: Futures of Comparative Literature, hg. von Ursula K. Heise, Abingdon/New York 2017, S. 230–232. 8 Zur Theorie der Bearbeitung vgl. Michael Schreiber, Übersetzung und Bearbeitung. Zur Differenzierung und Abgrenzung des Übersetzungsbegriffs, Tübingen 1993, S. 97–131.

Transkulturelle Ansteckungen

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Wielands Übersetzungskonzept adäquat zu erfassen, ist zunächst eine etwas genauere Analyse des Don Quijote nötig.

I Die Poly-Pragmatik der cervantinischen Pseudo-Übersetzung Cervantesʼ Don Qujiote, 1605 und 1615 erschienen, ist als Pseudo-Übersetzung bereits in seiner fiktionsinternen Produktionssituation übersetzungstheoretisch höchst avanciert. In den Kapiteln I, 8 und I, 9 sieht sich der Leser plötzlich desorientiert, weil eine Reihe (fiktiver) Produktionsinstanzen eingeführt wird, von denen zuvor keine Rede war. Hierdurch kann die erzählte Geschichte um Don Quijote nicht mehr klar einem Autor zugeordnet werden und verliert somit ihren gesicherten Ursprung. Mitten in der Darstellung einer Kampfszene bricht die Erzählung der Erlebnisse Don Quijotes und seines Knappen Sancho Pansa unvermittelt ab und wird durch eine weitere diegetische Ebene ergänzt, indem der Erzähler berichtet, wie er den Rest des vermeintlich unvollständigen Manuskripts findet, das der Leser offenbar bis dahin gelesen hat. Der Bericht schwenkt also auf die Ebene der „Mimesis des Erzählers“ 9 selbst und konstituiert sie damit als eigenständige (fiktionale) Erzählebene. Der Erzähler, der sich zudem selbst als „segundo autor destra obra“ bezeichnet,10 berichtet, wie er bei einem Spaziergang durch Toledo zufällig auf einige lose Hefte mit arabischen Schriftzeichen stößt, die sich bei der Übersetzung durch einen spanisch sprechenden Morisken als genaue Fortsetzung der Erzählung um Don Quijote enthüllen und als deren ‚erster Autor‘ ein arabischer Historiograph namens Cide Hamete Benengeli genannt wird.11 Der Text ist, wie der fiktive Übersetzer kundtut, zudem mit kommentierenden Randglossen versehen, deren Urheber im Dunkeln bleibt, sodass bereits hier eine Vielzahl an Produktions- und kulturellen Transferinstanzen eingeführt wird, die alle möglichen kulturellen Mischungsverhältnisse repräsentieren (ein Araber, ein Spanier, ein Moriske, ein kulturell nicht lokalisierbarer Glossar) und zudem so paradox miteinander verschlungen sind, dass sie sich nicht klar voneinander trennen lassen. Im weite-

9 Vgl. Ansgar Nünning, Mimesis des Erzählens. Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts der Erzählung und der Metanarration. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, hg. von Jörg Helbig, Heidelberg 2001, S. 21. 10 Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, hg. von Florencio Sevilla, 3. Aufl., Madrid 2008, S. 128. 11 Cervantes, Don Quijote, S. 134.

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ren Verlauf des Textes melden sie sich außerdem immer wieder zu Wort, wobei zumal dem Übersetzer, der den Auftrag erhalten hat, den arabischen Text „ins Spanische zu übertragen, ohne etwas auszulassen oder hinzuzufügen“,12 große Macht zugeschrieben wird. Er hält sich nämlich nicht an diese Vorgabe, sondern greift immer wieder kommentierend ein und schreibt sogar einige Stellen eigenmächtig um.13 Bereits hier wird insinuiert, dass der vorliegende Text das Ergebnis zahlreicher Prozesse der Übersetzung, der Umschreibung und der (Hinzu-)Dichtung ist. Mit dieser komplexen Inszenierung verwischt Cervantes sowohl die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion als auch jene zwischen Übersetzung und Dichtung. Damit schafft er sich weit mehr als nur die Möglichkeit, im ironisch-kritischen Dialog mit Aristoteles selbstreferentiell über das Verhältnis von Historiographie und Literatur nachzudenken und traditionelle Konzepte von Wahrheit, Mimesis und Autorschaft zu destabilisieren.14 Die Pseudo-Übersetzung gibt sich vielmehr als „Knotenpunkt sprachphilosophischer und epistemologischer Reflexionen“ 15 zu erkennen, mit denen bereits Cervantes ein Bewusstsein von kulturellen Differenzen und den damit einhergehenden Übersetzungsproblemen zu erkennen gibt, wie man es lange Zeit erst dem späten 18. Jahrhundert zugewiesen hat.16 Um Cervantesʼ Position adäquat zu erfassen, ist es allerdings nötig, noch einmal etwas genauer hinzuschauen. Berücksichtigt man weitere thematisch einschlägige Textpassagen und zieht man überdies die im 17. Jahrhundert bereits ausgeprägten übersetzungstheoretischen Diskussionen hinzu,17 erkennt man bislang vernachlässigte Komplexitäten, Sinnschichten und Funktionen der cervantinischen Pseudo-Übersetzung, die auch Wielands Übersetzungspro-

12 „[…] y roguéle me volviese aquellos cartapacios, sin quitarles ni añadirles nada“ (Cervantes, Don Quijote, S. 134). 13 Vgl. z. B. Cervantes, Don Quijote, S. 803, 937. 14 So die lange vorherrschende Deutung des Textes. Vgl. etwa Hans Christian Hagedorn, La traducción narrada. El recurso narrativo de la traducción ficticia, Cuenca 2006, bes. S. 64. 15 Reinhard Babel, Translationsfiktionen. Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens, Bielefeld 2015, S. 21. 16 Vgl. Martin von Koppenfels, Durch die Schrift gehen. Die Übersetzerszenen im Don Quijote von 1605. In: Schriftkultur und Schwellenkunde, hg. von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein, Bielefeld 2008, S. 245–262; Jenn, La pseudo-translation, S. 33–44; Babel, Translationsfiktionen, S. 29–37. Zur Annahme, ein solches Bewusstsein entstehe erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, siehe Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S. 17–19. 17 Vgl. Lore Terracini, Unas calas en el concepto de traducción en el siglo de oro español. In: Actas del III Congreso internacional de historia de la lengua española, hg. von Alegría Alonso González, Ladislav Castro Ramos, Berta Gutiérrez Rodilla und José Antonio Pascual Rodríguez, Madrid 1996, S. 939–954.

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jekt in ein neues Licht rücken. Es zeigt sich, dass Cervantes die Pseudo-Übersetzung nicht nur nutzt, um gängige Konzepte von Wahrheit, Übersetzbarkeit und Autorschaft in Frage zu stellen. Vielmehr lotet er zugleich die neuen ästhetischen und ethischen Möglichkeiten aus, die sich aus der inszenierten Stimmen- und Perspektivenvielfalt ergeben. Damit inspiriert er sich an den zeitgenössischen Übersetzungstheorien, die – mit Lore Terracini gesprochen – zwischen einem „zentripetalen“ und einem „zentrifugalen“ Nutzen der Übersetzung unterscheiden.18 Die zentripetale Blickrichtung bezieht sich auf die Erneuerung der Sprache (und Literatur), die durch den Transfer von fremdem Konzept- und Wortmaterial ermöglicht wird; mit dem zentrifugalen Nutzen ist die mögliche Bereicherung der Lebenswelt gemeint, die durch den Kontakt mit bislang unbekannten kulturellen Wahrnehmungsweisen und Lebensformen erreicht werden kann.19 Wie Cervantes diese beiden Aspekte in seinem Roman verbindet und wie er sie damit re-definiert, soll im Folgenden gezeigt werden. Zunächst zum zentripetalen Nutzen, d. h. zur Erneuerung des Romans, die sich genau aus der verunmöglichten Stabilität eines Ursprungs ergibt. Hierfür ist zunächst das Ende von Buch I in den Blick zu nehmen. An dieser prononcierten Stelle greift der Text die fiktionale Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Romans wieder auf und ergänzt sie auf raffinierte Weise durch weitere Produktionsinstanzen und historische Tiefen. Nachdem der Erzähler seinen Bericht von der Rückführung Don Quijotes beendet hat, wechselt er erneut die Erzählebene und berichtet, wie „el autor desta historia“ 20 genau jene vielfältigen älteren Quellen findet, die bereits in der ersten Übersetzerszene in den Kapiteln I, 8 und I, 9 zur Sprache gekommen waren: zum einen die mündliche Erzähltradition der Region, das vielstimmige und als unzuverlässig bezeichnete kollektive „Gedächtnis der Mancha“,21 zum anderen eine Bleischatulle mit einigen „Pergamentrollen in gotischer Schrift, jedoch mit spanischen Versen,“ 22 die ebenfalls von Don Quijote erzählen, sich allerdings als ebenso vielstimmig und unzuverlässig erweisen wie die mündlichen Quellen. Es sind nämlich, wie der Erzähler berichtet, offenbar nur einige der Pergamentrollen noch lesbar, und nach dem Abschreiben, also dem Übersetzen der gotischen Schriftzeichen ins Spanische zeigt sich, dass sie Sonette und Epitaphien der Mitglieder der Akademie von Argamasilla, einem Dorf in der Mancha, enthal-

18 Vgl. Terracini, Unas calas en el concepto de traducción, S. 943, 945. 19 Vgl. Terracini, Unas calas en el concepto de traducción, S. 943–947. 20 Cervantes, Don Quijote, S. 727. 21 „[L]as memorias de la Mancha“ (Cervantes, Don Quijote, S. 727). 22 „[U]nos pergaminos escritos con letras góticas, pero en versos castellanos“ (Cervantes, Don Quijote, S. 727).

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ten.23 Cervantes spielt damit auf jene „Lachgemeinschaften“ an, die im 16./ 17. Jahrhundert in nahezu jedem Ort anzutreffen waren und als Bestandteil ihrer karnevalesken Rituale eigene Korpusse an fiktiven Texten, Chroniken und Epitaphien ausbildeten. Es handelt sich hierbei um ritualisierte Formen von Sozialität, die das offizielle Akademiewesen ironisch nachahmen.24 Mit der Anspielung auf diese ‚Pseudo-Institutionen‘ fügt Cervantes noch weitere mögliche Quellen hinzu, die aufgrund ihrer Schriftlichkeit zunächst mehr Kredit zu verdienen scheinen als die ‚unfeste‘ Mündlichkeit, sich aufgrund ihrer karnevalesken Herkunft jedoch als ebenso ‚unfest‘, plural, dezentriert und unzuverlässig entpuppen. Es wird hier geradezu eine Explosion an Stimmen in Szene gesetzt, die die im Text vorfindliche Perspektivenvielfalt erklärlich machen und wie in einer mise en abyme spiegeln. Auffallend ist zudem die Betonung der multikulturellen Zusammensetzung dieser Akademie, die sogar einen Kongolesen zu ihren Mitgliedern zählt.25 Neben ihren zahlreichen medientheoretischen Implikaten26 sind diese Schlusspassagen auch für die Rekonstruktion der impliziten Übersetzungstheorie relevant. Zunächst gibt sich bereits Cide Hamete Benegelis arabischer Text als (fiktive) Übersetzung und Klitterung vieler lückenhafter Quellen zu erkennen, und es stellt sich die Frage, wieso überhaupt ein arabischer ‚Historiograph‘ eine spanische Erzähltradition ins Arabische übersetzt. Die in Kapitel I, 9 in Auftrag gegebene Übersetzung seines (wiederum nur lückenhaft überlieferten) Textes ins Spanische ist bei genauem Besehen als eine Rückholung inszeniert, allerdings in eine spanische Tradition, die – wie der Hinweis auf die gotischen Schriftzeichen und damit die lange Besetzung durch die Wisigoten deutlich macht – ihrerseits und bereits vor der arabischen conquista eine kulturelle Hybride voller innerer Brüche darstellt. Auf diese Weise werden sowohl der Text als auch die (spanische) Kultur selbst als polyphone Hybriden inszeniert. Der gesamte Roman stellt sich bei näherer Betrachtung als ein multikulturelles Gewebe aus ‚Fetzen‘, ‚losen Heften‘ und ‚Pergamentrollen‘27 dar, mithin als Textur voller Lücken, die es erlauben, dass jede Instanz, durch deren Hände die Fragmente des Manuskripts bei ihrer Zusammenführung und

23 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 728. 24 Vgl. Katja Gvozdeva, Narrenabtei. Rituelle und literarische Inszenierung einer Lachinstitution. In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten, Berlin/New York 2005, S. 261–286. 25 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 728. 26 Vgl. Christian Kiening, Ulrich Beil, Urszenen des Medialen. Von Moses zu Caligari, Göttingen 2012, S. 201–220. 27 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 133, 728.

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ihrem weiteren Transfer gehen, daran weiterschreibt und/oder Änderungen vornimmt. Damit wird der Text als ein Mosaik mit vielen Autoren (und fiktiven Sprecherrollen) inszeniert, in dem sich zahlreiche Überlieferungsstränge kreuzen, die ihrerseits quer zu kulturellen Grenzen verlaufen und in denen sich auch Fiktionalität und Faktualität unauflösbar vermischen. Der schlussendlich vorliegende Text über den spanischen Nationalhelden Don Quijote wird so als Ergebnis mehrfacher Übersetzungs- und Ergänzungsvorgänge vorgestellt. Er erscheint als Produkt vieler kulturell ausdifferenzierter Stimmen und zahlloser Brechungen. Eine besonders schöne Volte dieser Inszenierung besteht darin, dass es damit letztlich (in der Fiktion) einem Araber bzw. Morisken zu danken ist, dass die spanische Geschichte Don Quijotes überhaupt überliefert ist.28 Zugleich gibt sich dadurch auch die spanische Nationalkultur als ein ‚unfestes‘ Produkt ständiger Prozesse des Übersetzens, des Kulturtransfers, des Mischens und des Erdichtens zu erkennen. Indem der Text sichtbar macht, dass Spanien bereits vor der Besetzung durch die Sarazenen zahlreiche kulturelle Mischungen durchlaufen hat, unterläuft er das Ideal der limpieza de sangre,29 das bezeichnenderweise erstmals in Toledo dekretiert wurde (also der ‚Nachfahrin‘ der wisigotischen Stadt Toletum und der Hochburg der mittelalterlichen Übersetzertätigkeit). Zu Beginn des zweiten Buches spielt die Übersetzungsfiktion erneut eine wichtige Rolle. Nun werden allerdings vornehmlich die neuen Möglichkeiten vorgeführt, die sich aus der Unauffindbarkeit eines gesicherten Ursprungs ergeben. Dies geschieht vor allem durch eine Positivierung der Stimmen- und Perspektivenvielfalt, wie sie der Erzähler bereits in der ersten Übersetzerszene (Kapitel I, 9) andeutet, wenn er seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, dass „eine derart stolze Historie [nicht] so einhändig und verstümmelt“ bleiben wird.30 Ex negativo postuliert er damit das vielhändige Schreiben, also die Polyphonie als Ideal. Und genau dieses Implikat entfalten die übersetzungstheoretisch relevanten Passagen zu Beginn von Buch II. Die Anfänge der Kapitel II, 1 und II, 2 machen zunächst noch einmal auf die Vielfalt der Quellen und die Unauffind-

28 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Cide als Moriske konzipiert ist, da er einerseits des Spanischen mächtig sein muss, um die gefundenen Quellen ins Arabische zu übertragen, und andererseits am Ende des Textes in eine christliche Argumentation verfällt (vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 1493 f.). Dies entspricht dem Bild der zwangskonvertierten Araber, die nach der Reconquista in Spanien leben. 29 Zum Konzept der „Reinheit des Blutes“ vgl. Max Sebastián Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006. 30 „[Q]ue tan gallarda historia hubiese quedado manca y estropeada“ (Cervantes, Don Quijote, S. 131).

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barkeit des einen fixen Ursprungs der Geschichte aufmerksam,31 bevor in Kapitel II, 3 die erwähnte Umwendung der Bewertungsstruktur vollzogen wird. In einer der zahlreichen metaleptischen Schleifen des Textes preist der Bakkalaureus Carrasco sowohl den fiktiven Autor Cide Hamete Benengeli als auch den Übersetzer für ihre Mühen, und begründet seine Lobpreisung genau mit der transkulturellen Zirkulation, die die Übersetzung (im Verbund mit dem neu entstandenen Buchdruck) ermöglicht: Ausführlich erzählt er, wie die fiktive Übersetzung aus dem Arabischen in der ‚realen‘ Lebenswelt der zeitgenössischen Leser weitere Übersetzungen in alle Sprachen der Welt anstößt und damit, über alle Sprachbarrieren hinweg, eine weltweite Rezeption des Buches garantiert.32 Die Übersetzung wird hier als ein Prozess thematisiert, der dem Text jene universelle Dimension sichert, wie sie der Literatur bereits in den antiken und mittelalterlichen Konzepten des monumentum aere perennius und der translatio studii zugewiesen wird. Die bei diesen imaginierten vielfältigen Übersetzungen auftretenden Probleme des Sprachtransfers werden auf raffinierte Weise vergleichgültigt. Zunächst weist Carrasco auf den Reichtum jeder einzelnen Sprache hin, die es mit ihren je eigenen Mitteln vermag, die Erlebnisse Don Quijotes „mit schillerndsten Farben“ zu schildern.33 Sodann arbeitet er dieses Argument aus, indem er den Einwand Sancho Pansas fortwischt, dass die Übersetzung aus dem Arabischen fehlerhaft sei, weil sie eigenmächtige Hinzufügungen aufweise und damit die Darstellung verändere. Indem er darin kein ernstzunehmendes Problem sieht, stellt er sich in die Tradition der antik-paganen Übersetzungstheorien (etwa von Horaz, Quintilian oder Plinius), die den Nutzen von Übersetzungen vor allem in der Bereicherung des Eigenen sehen und deshalb die sinngemäße, kreative Übertragung einer genauen Wiedergabe des Wortmaterials vorziehen.34 Und nachdem er darauf hingewiesen hat, wie sehr die „Meinungen“ über Don Quijote aufgrund der existierenden Vielfalt der „Geschmäcker“ auseinandergehen,35 wie sehr sich die Wahrnehmung Don Quijotes also in eine Unzahl von Perspektiven aufspaltet, spricht er schließlich gar explizit von „los autores“ des Don Quijote im Plural.36 Damit verwischt er die Differenz

31 Kapitel II, 1 beginnt mit den Worten: „Cuenta Cide Hamete“ (S. 759), Kapitel II, 2 folgendermaßen: „Cuenta la historia“ (S. 766). Auf diese Weise werden die multiplen Herkünfte der Geschichte explizit gemacht. 32 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 785 f. 33 „[P]intar muy al vivo“ (Cervantes, Don Quijote, S. 786). 34 Vgl. Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert, S. 10–14. 35 Cervantes, Don Quijote, S. 786. 36 Cervantes, Don Quijote, S. 787.

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zwischen auctor, translator, expositor und scriba und liefert so einen klaren Lektürehinweis für die irritierende Bewertungsvielfalt des Textes. Er führt die mögliche extrafiktionale Pluralität an Rezeptionsweisen schlüssig auf die im Text inszenierte, fiktive Auffächerung der Transfer- und Produktionsinstanzen zurück. Die mit der Übersetzungsfiktion gestaltete (auch kulturelle) Vielfalt an Textursprüngen wird hier geradezu zur Grundlage für eine weltliterarische Ausstrahlungskraft des Textes gemacht. Genau das Spiel zwischen Transfer und Transformation, das der (Ur-)Text aufgrund seiner zahlreichen Lücken, Leerstellen und Brüche ermöglicht und damit die Einsicht in die letztliche Unmöglichkeit des Übersetzens wird so zur Ermöglichungsbedingung für eine neue, pluralistische Form des Universalismus. Dass Cervantes damit ein zentrales Anliegen seines Textes zur Darstellung bringt, kündigt bereits das Vorwort des Romans an, das traditionellerweise der poetologischen Selbsterklärung des Autors dient.37 Denn dort wird das fiktionalisierte Autor-Ich in diese Logik hineingenommen. Wenn sich der Sprecher im Vorwort zum ersten Teil als „Stiefvater“ des Textes bezeichnet und überdies betont, dass er nicht wisse, „auf den Spuren welcher Autoren [er] wandle“,38 stellt er eine ebenenübergreifende Analogie zwischen sich und Cide Hamete Benengeli sowie den anderen fiktiven ‚Produktionsinstanzen‘ her und formuliert damit sehr präzise die Implikate, die die besondere Übersetzungsfiktion für das Autorschaftskonzept haben: Er kann sich zugleich als ‚Stiefvater‘ und ‚Vater‘ seines Textes verstehen, weil ein Autor letztlich immer ein Mosaik aus vielen Zitaten und Quellen ist, wie etwas später Gottfried Wilhelm Leibniz schreiben wird.39 Zwar wird die textinterne Polyphonie hier durchaus auf eine übergeordnete Autorinstanz zurückgeführt, gleichwohl wird der Text dadurch nicht monologisch, weil die Autorinstanz selbst als in sich gebrochenes Mosaik aus Zitaten, als Hybride aus zahlreichen (kulturellen) Einflüssen erkannt wird. Cervantes beweist hier eine Einsicht in die innere Pluralität des Subjekts und der Textualität, die im Rückblick sehr avanciert anmutet.40 Es ist also nur schlüssig, wenn er das Autor-Ich bereits im Vorwort im Zwischenraum zwischen Realität und Fiktion ansiedelt.

37 Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. von Dieter Hornig, 5. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 10, 191. 38 Cervantes, Don Quijote, S. 16 und 18. 39 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain / Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. In: Philosophische Schriften, hg. und übers. von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2000, Bd. 3.2, S. 34. 40 Ähnlich werden sich viel später Theoretiker der Postmoderne und des Postkolonialismus äußern.

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Im weiteren Verlauf des Vorworts liefert Cervantes auch die causa finalis dieser Pluralisierung. Der fiktive Freund, der der ratlosen Autor-Persona zur Hilfe kommt, erklärt ihm, wie ein perfekter Roman zu schreiben sei und hebt dabei just die Vielfalt möglicher Wahrnehmungs- und Bewertungsperspektiven hervor: Procurad también que, leyendo vuestra historia, el melancólico se mueva a risa, el risueño la acreciente, el simple no se enfade, el discreto se admire de la invención, el grave no la desprecie, ni el prudente deje de alabarla. (I, S. 26)41

Diese Vielfalt der Wahrnehmungsperspektiven auf den Text wird durch die inszenierte (kulturübergreifende) Stimmenvielfalt perfekt ermöglicht. Die dadurch in den Text eingebrachte innere Vervielfältigung der Perspektiven auf die erzählte Geschichte sorgt allererst für deren universale Ausstrahlungskraft in einer Welt, die sich aufgrund ihrer (kulturellen) Vielfalt selbst in zahlreiche Welten und Perspektiven auffächert.42 Und bereits zuvor erklärt der Autor dem Leser, dass es ihm aufgrund seines „freien Willens“ selbst obliege, wie er die erzählte Geschichte wahrnehmen möchte.43 Cervantes bezeugt hier eine tiefe Einsicht in das ästhetische Faktum, dass ein Text, um in einer Welt aus Welten universal lesbar zu sein, in sich plural und lückenhaft sein muss, weil gerade die Leerstellen eine multiple Anschlussfähigkeit ermöglichen. Mit dieser pluralistischen Textpoetik greift er den neu-platonischen Eklektizismus der Renaissance auf und re-definiert ihn dergestalt, dass ein pluralistischer Universalismus daraus wird, ein Universalismus mithin, dem das Wissen um kulturelle Differenzen eingeschrieben ist. Der zweite Punkt, Cervantesʼ Inszenierung des zentrifugalen Nutzens der Pseudo-Übersetzung, fügt sich hier schlüssig ein. Letztlich kann man bereits Don Quijote als eine Art Übersetzer bezeichnen, wobei er vor allem Zeichen der Realität in die Vorstellungswelt übersetzt: So wie die fiktiven Produktionsinstanzen – trotz ständiger gegenteiliger Behauptung – die genaue Ergründung der Wahrheit und das Gebot der Bibelübersetzung, so genau wie möglich zu

41 Cervantes, Don Quijote, S. 26 („Sorgt ebenfalls dafür, dass beim Lesen Eurer Geschichte der Schwermütige wieder lachen lernt, der Lachende noch lauter lacht, der Einfältige sich nicht ärgert, der Verständige über die Erfindungsgabe staunt, der Würdige sie nicht geringschätzt und der Kluge sie loben muss.“ Miguel de Cervantes, Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha, hg. und neu übers. von Susanne Lange, München 2008, Bd. 1, S. 13). 42 Zu einer entsprechenden Theorie textueller Pluralität vgl. Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie. Liminales und poly-systematisches Denken bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Marcel Proust, Berlin 2015, Kap. 3.3. 43 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 16.

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übersetzen,44 letztlich beiseite wischen, so tut dies der ‚Urübersetzer‘ Don Quijote mit den Zeichen des Buches der Natur. Sein ‚Wahn‘ besteht in einer eigenmächtigen Umdeutung lückenhafter Wirklichkeitszeichen, in einer Übersetzung mithin, die sich im Wesentlichen als ein ‚Umdichten‘ darstellt. Wichtig ist nun, dass Cervantes die Entscheidung darüber, ob dies gerade bewusst oder unbewusst geschieht, systematisch verunmöglicht. Don Quijote erweist sich als eine recht proteushafte Gestalt, in der sich Wahn und Vernunft auf irritierend wechselhafte Weise vermischen. Es gibt im Roman zahlreiche Stellen, in denen Don Quijote sein ‚wahnhaftes‘ Verhalten selbst erklärt, und just mit den gegebenen Begründungen stellt er seine eigenmächtigen Wirklichkeitsüberformungen in den Horizont einer Tradition, die genau die kontrafaktische Weltwahrnehmung als Rezept einer besonderen Ethik und Ästhetik der Existenz empfiehlt. Die Rede ist von der Tradition der cura sui, wie sie etwa von Seneca, Boethius und, später, auch von Erasmus von Rotterdam entwickelt wird. Wenn Don Quijote immer wieder erklärt, dass ihm sein Wahn helfe, „die Schwermut zu vertreiben“ und ihn gar zu einem besseren Menschen mache,45 ruft er genau jene Argumentation auf, die Erasmus von Rotterdam in seinem Lob der Torheit (Laus stultitiae) vorbringt, um für eine Form des Selbst- und Weltumgangs zu werben, die die traditionelle Fixierung auf die Wahrheit im Namen eines utopischen ludus relativiert.46 Und bereits in Kapitel I, 1 lässt sich eine intertextuelle Referenz dingfest machen, mit der die explizit formulierte Ridikülisierung dieses Verhaltens unterlaufen wird. Wir erfahren hier, dass Don Quijote sich selbst und die ihn umgebende Welt gleichsam neu erschafft, indem er sich einen neuen Namen gibt (nämlich Don Quijote) und auch die Dinge seiner Alltagswelt umdeutet und umbenennt. Mit diesen kreativen ‚Übersetzungen‘ der gegebenen Zeichen setzt der Protagonist eine Tätigkeit um, die laut Pico della Mirandola allererst die Würde des Menschen ausmacht. Pico wendet die ontologische Unsicherheit der conditio humana ins Positive, indem er just darin die Freiheit verankert, sich selbst in einem kreativen self-shaping jede beliebige Gestalt zu geben.47 Das Ich konstituiert sich nun nicht mehr, indem es versucht, die (unlesbaren) göttlichen Zeichen der Natur zu entziffern. Es schreibt sich vielmehr sein eigenes ‚Buch der Natur‘, indem es das gegebene Zeicheninventar kreativ übersetzt. Damit ist Pico ein wichtiger Markstein auf dem Weg

44 Vgl. Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert, S. 14–18. 45 Vgl. etwa Cervantes, Don Quijote, S. 348 f., 705. 46 Vgl. Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit. Encomium moriae, übers. und hg. von Anton J. Gail, Stuttgart 2006, z. B. S. 34, 48, 67, 110. 47 Vgl. Pico della Mirandola, De hominins dignitate / Über die Würde des Menschen, hg. und übers. von Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997, S. 9, 13.

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zum modernen Subjekt. In Don Quijotes kreativer ‚Übersetzungstätigkeit‘ überlagern sich also Referenzen auf Erasmus von Rotterdam und Pico della Mirandola, wodurch er – bei aller Bewertungsvielfalt des Textes – heimlich zu einer Vorbild- und Identifikationsfigur aufgebaut wird. Sein ‚Wahn‘, seine „schöpferische Übertragung“ 48 der Wirklichkeit in die Vorstellungswelt, gibt sich als ein Lebensprojekt zu erkennen, das der epistemologischen Vergeblichkeit entgegengestellt wird. So bietet er dem Leser eine Form des Welt- und Selbstumgangs dar, mit der es möglich wird, in einer Zeit der brüchig werdenden Ordnungen und des verlorenen Ursprungs seinen Mut und Humor nicht zu verlieren und moralisch integer zu handeln, obwohl die Unterscheidung zwischen Sein und Schein als unmöglich erkannt wurde; oder wie Wieland etwas später schreiben wird: Und gleichwohl ist nichts wahrscheinlicher, als daß ein Dutzend Don Quixoten, die sich miteinander verständen […] die Gestalt unserer sublunarischen Welt binnen einem Menschenalter mächtig ins Bessere verändern würden.49

Diese Deutung wird durch ein Textmerkmal untermauert, das auch die Übersetzungsfiktion betrifft: In Cervantesʼ Roman ist eine Ansteckungsdynamik am Werk, die nach und nach von der intradiegetischen Ebene auf alle fiktiven Produktionsinstanzen überspringt und schließlich auch den Autor des Vorworts erfasst. Auf der intradiegetischen Ebene wird diese Ansteckung besonders gut in der Makrostruktur des Plots sichtbar. So zieht Don Quijote im Verlauf des Romans nicht nur seinen etwas vertrottelten Diener Sancho Pansa in seinen Bann, sondern auch die anderen Figuren, und dies, obwohl sie ausgiebig über die beiden Protagonisten lachen. Immer wieder spielen sie Don Quijotes Spiel der Umdeutung der Welt mit, und auch wenn sie dies aus Mitleid tun, wie etwa der Schenkenwirt, der ihn zum Ritter schlägt (Kap. I, 2/3), oder um Don Quijote einzufangen und wieder nach Hause zu bringen, wie der Barbier und der Pfarrer seines Dorfes, die dafür eine ausgefeilte Verkleidungsfinte ersinnen (Kap. I, 46), fällt doch auf, wie sehr sie diese theatralen Szenen der Kontrafaktizität genießen. Der Pfarrer geht gar so weit, selbst in ein Lob der Ritterbücher einzustimmen, und bringt dabei Aspekte an, die geradezu wie eine Zusammenfassung der hier herausgearbeiteten Romanpoetik anmuten: A siendo esto hecho con apacibilidad de estilo y con ingeniosa invención, que tire lo más que fuere posible a la verdad, sin duda compondrá una tela de varios y hermosos lazos

48 Vgl. Roman Jakobson, Grundsätzliche Übersetzbarkeit. Linguistische Aspekte der Übersetzung (1959). In: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, Frankfurt am Main 1988, S. 481–491. 49 Zitiert nach Jacobs, Don Quijote in der Aufklärung, S. 43.

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tejida, que, después de acabada, tal perfección y hermosura muestre, que consiga el fin mejor que se pretende en los escritos, que es enseñar y deleitar juntamente, […]. Porque la escritura desatada destos libros da lugar a que el autor pueda mostrarse épico, lírico, trágico, cómico, con todas aquellas partes que encierran en sí las dulcísimas y agradables ciencias de la poesía y de la oratoria; que la épica también puede escribirse en prosa como en verso.50

Besonders auffällig ist jedoch das Romanende, denn hier ist aus dem Auslachen eine deutliche Inklusion geworden, ja geradezu eine Inversion der Rollen. Don Quijote gibt sich schließlich geschlagen, schwört seinem ‚Wahn‘ ab und wird schwermütig,51 wodurch Erasmusʼ Lob der Torheit gleichsam ex negativo noch einmal bestätigt wird, denn dort heißt es: „Die aber darüber lächeln, sollten lieber erwägen, ob sie es für richtiger halten, mit solcher Torheit das Leben zu versüßen oder sich am nächsten Balken aufzuhängen“.52 Die an seinem Sterbebett versammelten Figuren wollen sich damit jedoch nicht abfinden und versuchen, ihn zu einer neuen Ausfahrt zu überreden, die nun die Schäferwelt imaginär wieder auferstehen lassen soll und an der alle gemeinsam teilnehmen wollen. Und als er sich nicht darauf einlassen möchte, beschwören sie ihn: „Calle, por su vida, vuelva en sí y déjese de cuentos“.53 Damit stellen sie seine kreative Übersetzung der Wirklichkeit in die Imagination gleichsam auf Dauer und verwandeln so den phantasmatischen Schein in eine neue Wahrheit. Während er, gemäß dem traditionellen conversio-Schema, seine übertriebene kreative ‚Übersetzungstätigkeit‘ beendet und stirbt, führen die anderen sie fort und überleben. Obwohl er stirbt, hat er seine Umwelt folglich bereits angesteckt. Seine Fiktion überlebt und breitet sich aus, wodurch das conversio-Schema unterlaufen wird. Indem Cervantes zusätzlich betont, welch große Zuneigung die Figuren dem sterbenden Don Quijote entgegenbringen, kann man auch hier

50 Cervantes, Don Quijote, S. 680 („Und geht all dies mit einem angenehmen Stil und geistvoller Erfindungsgabe einher und richtet sich soweit wie möglich nach der Wirklichkeit, dann hat man zweifellos ein Gewebe aus den vielfältigsten, schönsten Fadensträngen geschaffen, das am Ende so große Vollkommenheit und Schönheit besitzt, dass man das höchste aller Ziele erreicht hat, das man sich mit einem Schriftwerk setzen kann, nämlich zugleich zu belehren und zu unterhalten, […]. Denn da diese Bücher beim Schreiben keinen starren Regeln folgen müssen, darf sich der Verfasser sowohl episch als auch lyrisch, tragisch und komisch zeigen, darf alles nutzen, was die liebliche, gefällige Lehre der Dichtung und Redekunst in sich birgt, denn ein episches Werk kann man ebenso gut in Prosa wie in Versen schreiben“. Cervantes, Der geistvolle Hidalgo, Bd. 1, S. 541). 51 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 1486. 52 Vgl. Erasmus, Das Lob der Torheit, S. 39. 53 Cervantes, Don Quijote, S. 1488 („Genug davon, um Himmels willen, kommt zu Euch und lasst den Unfug.“ Cervantes, Der geistvolle Hidalgo, Bd. 2, S. 623).

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eine intertextuelle Referenz vermuten, nämlich zur Figur des „Christusnarren“, der zum Wohle der Menschheit zum Märtyrer wird.54 Ganz analog werden auch die Instanzen der fiktiven Textproduktion und -übersetzung angesteckt. Dies wird durch deren auffällige affektive Involviertheit signalisiert. In der fiktionsintern inszenierten Entstehungsgeschichte des Textes tauchen, wie wir gesehen haben, immer wieder neue Textsplitter und -fragmente auf, die sich durch die zahlreichen Prozesse des Übersetzens und Hinzufügens nach und nach zu einem komplizierten Mosaik, oder besser noch: zu einem Kaleidoskop oder Palimpsest aus (auch kulturell ausdifferenzierten) Stimmen und Perspektiven zusammenfügen. Möglich ist dies aber nur, weil alle (in der Fiktion) beteiligten Instanzen – auch wenn sie Don Quijote explizit ridikülisieren – eine intensive Detektivarbeit leisten und mit einer Verve nach weiteren Textbausteinen suchen, als hingen ihr Leben und ihr Heil von der Fortsetzung der Lektüre ab. Immer wieder ist von mühevollen, nicht enden wollenden Recherchen in Archiven und von „zahlreichen Nachtwachen“ die Rede,55 sodass selbst der zunächst zufällig wirkende Gang durch Toledo, der in Kapitel I, 8 zur Vervollständigung des Manuskripts führt, wie ein Bestandteil dieser frenetischen quête wirkt. Es wird suggeriert, dass der Erzähler sich sehr bewusst in dieser Stadt intensiver Textzirkulationen herumtreibt, in der Hoffnung, dort fündig zu werden. Die Suche nach dem Text geriert sich geradezu wie die Suche nach dem Gral, an der sich alle Produktions- und Übersetzungsinstanzen beteiligen, ungeachtet ihrer kulturellen Herkunft (und ihrer expliziten Meinungswechsel über Don Quijote). Würde der Roman in einer bloßen Ridikülisierung der traditionellen Ritterromane aufgehen, wäre diese extreme Hingabe nicht zu erklären. Erklärlich wird sie jedoch, wenn man die Identifikations- und Vorbildfunktion Don Quijotes berücksichtigt: Auch für die fiktiven Instanzen der Textproduktion stellt sein ‚wahnhaftes‘ Projekt der kreativen Wirklichkeitsübersetzung und Selbstfiktionalisierung offenbar eine Lebenshilfe dar und bietet Linderung im Leiden an der unrettbaren Welt. Die vielfach gebrochene Bewertung Don Quijotes durch die Erzählstimmen unterstreicht diese Ambivalenz. So oft der Protagonist nämlich verspottet wird, so oft wird er auch gelobt, bewundert und gepriesen.56 Wie Don Quijote selbst legen auch

54 Zur Figur des Narren in Christi vgl. Ruth von Bernuth, Die spihlende Hand Gottes. Schamlosigkeit und Christusnarrheit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Alexiuslegenden, Jacob Schmids Weiße Thorheit). In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten, Berlin/New York 2005, S. 300–329. 55 Vgl. etwa Cervantes, Don Quijote, S. 128, 132, 728, 732. 56 Vgl. etwa Cervantes, Don Quijote, S. 128, 131 f., 1492 f.

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die Erzählstimmen eine Chamäleonhaftigkeit an den Tag, die erneut zu Pico zurückführt. Denn auch in dieser Wandelbarkeit sieht jener einen Aspekt der Würde des Menschen.57 Durch diese intertextuelle Referenz wird auch auf der sprachlichen Erzählebene eine Form der identifikatorischen Ansteckung realisiert. Wieder zeigt ein Blick in das Vorwort, wie präzise geplant diese Wirkung offenbar ist. Die Ansteckung springt dort nämlich auf den ‚Autor‘ über und prägt die gesamte Struktur des Paratextes. Wir haben gesehen, wie problemlos der Autor sich zugleich als ‚Stiefvater‘ und als ‚Vater‘ seines Textes begreifen kann, weil er, auch wenn er den Text allein geschrieben hat, zahlreichen Einflüssen ausgesetzt ist. Als ‚Vater‘ Don Quijotes betont er nun zuallererst die Ähnlichkeit zwischen sich und dem ‚Sohn‘ seiner Imagination.58 Bereits hier stellt er also eine Analogie zwischen seinem Schreiben und Don Quijotes wahnhafter ‚Übersetzung‘ der Welt dar. Wenn diese Analogisierung zunächst in eine Abwertung des Protagonisten mündet (der Autor führt die Ähnlichkeit vor allem auf dieselben „ungereimten Gedanken“ und dasselbe „knorrige Gehirn“ zurück),59 so weist doch bereits die intertextuelle Referenz in eine andere Richtung. Indem er als Ort der Abfassung ein Gefängnis nennt, „wo nur Beschwernis weilt und nur der Jammer wohnt“,60 weist der Sprecher auch seinen eigenen Imaginationen letztlich eine Trostfunktion zu. Das Gefängnis als Ort des Schreibens ist nämlich mehrfach codiert: Zunächst benennt Cervantes damit den realen Ort der Textentstehung: seine langjährige Kriegsgefangenschaft in Algier. Zugleich ist das Gefängnis – ganz platonisch – als eine Allegorie für das Leben insgesamt zu lesen und verweist überdies auf Boethiusʼ Consolatio philosophiae, dessen Ich-Erzähler seinen Text ebenfalls in einem Gefängnis schreibt und Trost in seinen Halluzinationen findet. Vor dieser Folie wird Don Quijotes Handeln subkutan positiviert. Und genau diese Umwertung macht das Ende des Vorworts explizit: Yo no quiero encarecerte el servicio que te hago en darte a conocer tan noble y tan honrado caballero, pero quiero que me agradezcas el conocimiento que tendrás del famoso Sancho Panza, su escudero, en quien, a mi parecer, te doy cifrado todas las gracias escuderiles que en la caterva de los libros vanos de caballerías están esparcidas. (I, S. 26 f.)61

57 Vgl. Pico della Mirandola, De hominins dignitate, S. 11. 58 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 15. 59 Cervantes, Don Quijote, S. 15. 60 Cervantes, Don Quijote, S. 16. 61 Cervantes, Don Quijote, S. 26 f. („Ich will nicht zuviel Wesens um den Gefallen machen, dir einen so edlen, ehrenwerten Ritter vorzustellen, doch danken sollst du mir für die Bekanntschaft mit dem trefflichen Sancho Panza, seinem Knappen, der alle Reize des Knappentums

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Unter der offensichtlichen Ironie inszeniert sich der Autor mit seinen Lobesworten nun selbst als von seinen Protagonisten angesteckt. Was anfangs nur implizit angedeutet wird, wird in der Sinndynamik des Vorworts gleichsam performativ vorgeführt. Damit gibt sich das Vorwort als eine perfekte mise en abyme des Romans zu erkennen, in dessen Makrostruktur sich eine ähnliche Sinnbewegung feststellen ließ. In der Charakterisierung Sanchos verbirgt sich zudem ein Hinweis auf Senecas Bienengleichnis, mit dem das im Roman geäußerte Ziel, einen neuen Ritterroman zu schreiben, präzise verklausuliert wird.62 Cervantes macht hier deutlich, dass seine Reform des Romans nicht so sehr darin besteht, das traditionelle Genre gänzlich auszurotten, als vielmehr die dort implizierten utopischen Potentiale auf ein neues, realistischeres Fundament zu stellen und durch die vorgenommenen Transformationen in die eigene Zeit zu übersetzen. Abschließend lässt sich sagen, dass die Übersetzungsfiktion im Don Quijote eine hochkomplexe Konstruktion ist, die mehrere Funktionen zugleich erfüllt. Zum einen bringt Cervantes damit tiefgründige Reflexionen über kulturelle und sprachliche Differenzen zur Anschauung und macht auf die dadurch bedingte Unmöglichkeit aufmerksam, beim ständigen Transfer und Verschieben der Signifikanten zu einem wahren Signifikaten zu gelangen. Damit legt er ein Bewusstsein von kultureller und sprachlicher Vielfalt an den Tag, wie es häufig erst im späten 18. Jahrhundert angenommen wird.63 Hiervon ausgehend inszeniert Cervantes mit seiner Pseudo-Übersetzung auch Kulturen, Texte und das menschliche Ich als Hybride. Auf tiefgründige Weise setzt er sich mit dem traditionellen Identitätsgedanken auseinander, indem er die innere Gebrochenheit und Vielfalt aller ‚Entitäten‘ vorführt. Zugleich und zum anderen macht er genau diese Einsichten zur Grundlage für seine romanpoetologischen und ethisch-moralischen Innovationen. Zentral hierfür ist genau die Vervielfältigung der fiktiven Produktionsinstanzen, die mit der Übersetzungsfiktion ermöglicht wird. Damit zeigt der Autor nicht nur die Existenz unüberbrückbarer kultureller Differenzen auf, sondern rückt die Vielfalt zugleich als einen eigenen Wert des Reichtums an Blickwinkeln und Wahrnehmungsweisen ins Zentrum. Mit den zahlreichen Perspektivenauffaltungen, die durch die Fiktion immer neu auftauchender Quellen und beständiger Neuübersetzungen entstehen, legt er die Grundlage für eine multiple Anschlussfähigkeit des Textes (über kulturelle Differenzen und Grenzen hinweg), die ihn in einer als grundsätzlich

in sich vereint, die sich sonst nur hier und da verstreut in all den Heerscharen nichtiger Ritterbücher finden.“ Cervantes, Der geistvolle Hidalgo, S. 13 f.). 62 Vgl. die Rede des Pfarrers in Kap. I, 47. 63 Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 17–19.

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pluralistisch erkannten Welt allererst zu Weltliteratur machen. In den damit inszenierten Leerstellen verortet er das Potential, den Text in immer wieder neue kulturelle Kontexte zu transferieren und für immer andere Bedürfnisse nutzbar zu machen. Cervantes nutzt seine Übersetzungsfiktion also auch, um mit einer neuen, pluralistischen Form des literarischen Universalismus zu experimentieren, mit der er den traditionellen translatio-Gedanken grundsätzlich modernisiert.64 Damit re-definiert er zuallererst den ‚zentripetalen‘ Nutzen der Übersetzung, den etwa Quintilian, der Heilige Hieronymus, Leonardo Bruni, Alessandro Piccolomini oder Alfonso de Cartagena hervorheben – also den Nutzen für die Bereicherung der Sprache und Literatur.65 Bei Cervantes wird daraus eine Erneuerung des Romans im Zeichen des Pluralismus. Zugleich rekonfiguriert er auch den in den traditionellen Übersetzungstheorien immer wieder hervorgehobenen ‚zentrifugalen‘ Nutzen von Übersetzungen.66 In Don Quijotes schöpferischer Übertragung der Wirklichkeit in seine Vorstellungswelt bietet Cervantes der Leserschaft eine bereichernde Form des Selbst- und Weltumgangs dar, die an Roland Barthesʼ Definition der Literatur als Utopie erinnert und sich auf Boethius, Pico della Mirandola und Erasmus von Rotterdam bezieht: Das unbeirrte, kontrafaktische Festhalten an der Fiktion wird zum Therapeutikum in einer Welt, in der alle Sicherheiten verlorengegangen sind.67 Zugleich ermöglicht dieser hartnäckige Irrealismus, der das ‚Begehren des Unmöglichen‘ für vernünftig hält, den als ebenso vergeblich wie notwendig erkannten Kampf für die Rechte des Einzelnen zu führen.68 Im gegenreformatorischen Spanien des Siglo de Oro, das durch ein strenges Normeninventar geprägt ist und die Wahrheitssuche zur obersten Pflicht erklärt, schwimmt Cervantes so durchaus (teilweise) gegen den Strom, wie er selbst im Vorwort be-

64 Sowohl Marcel Proust als auch Jorge Luis Borges geben sich hier als Nachfahren von Cervantes zu erkennen, indem sie ein ganz ähnliches Konzept von Weltliteratur vertreten. Vgl. Barbara Ventarola, Zwischen situationaler Repräsentation und Multiadressierung. Marcel Proust und Jorge Luis Borges als Paradigmen der ‚Weltliterarizität‘. In: Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, hg. von Christian Moser und Linda Simonis, Göttingen 2014, S. 353–367. 65 Vgl. Terracini, Unas calas en el concepto de traducción, S. 945–947. 66 Terracini, Unas calas en el concepto de traducción, S. 943–945. 67 Barthes definiert die „fonction utopique“ der Literatur folgendermaßen: „[…] et je dirai maintenant, […], qu’elle [la littérature, B.V.] est tout aussi obstinément: irréaliste; elle croit sensé le désir de l’impossible. Cette fonction, peut-être perverse, donc heureuse, a un nom: c’est la fonction utopique“. Vgl. Roland Barthes, Leçon (07. 01. 1977): In: Œuvres complètes, Bd. III (1974–1980), hg. von Éric Marty, Paris 1995, S. 801–814, hier S. 806. 68 Zu den utopischen Potentialen des Don Quijote vgl. auch Hans-Jörg Neuschäfer, Boccaccio, Cervantes und der Diskurs der Utopie. In: Miguel de Cervantesʼ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote, hg. von Christoph Strosetzki, Berlin 2005, S. 149–160.

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tont: „no quiero irme con la corriente del uso“.69 Die Übersetzungsfiktion des Don Quijote dient auch dazu, für eine befreiende Lachkultur zu plädieren, die der zeitgenössischen Wahrheitsobsession entgegengestellt wird und zur Lockerung des allzu strengen Regelkorsetts beiträgt.

II Wielands Don Sylvio re-visited Vor diesem Hintergrund eröffnen sich neue Perspektiven auf Wielands Don Sylvio. Die dortigen Oszillationen zwischen Übersetzen und Neudichten70 geben sich nun als raffinierte Transpositionen der vorangehend herausgearbeiteten Verfahren des Don Quijote zu erkennen. Mit seiner freien Bearbeitung des spanischen Originals verfehlt Wieland nicht die Teleologie des Don Quijote,71 noch erfüllt er sie im linearen Sinne durch einen Komplexitätszuwachs.72 Stattdessen gewinnt er seine eigene Innovationskraft durch den Transfer (auch der dortigen Übersetzungstheorie) selbst. Da Fragen der Übersetzung und der Dichtung in jener Zeit zumeist gemeinsam behandelt werden,73 sind hierdurch auch neue Einsichten in Wielands Literatur- und Kreativitätskonzept möglich. Die große Rolle, die übersetzungstheoretische Fragen in seinem „neuen Quijote“ spielen,74 signalisiert Wieland bereits dadurch, dass er die Übersetzungsfiktion an den Textanfang verschiebt, nämlich in den Nachbericht des Herausgebers, welcher aus Versehen des Abschreibers zu einem Vorberichte gemacht wurde. In diesem irritierenden Paratext, der sich erst allmählich als Vorwort des Autors zu erkennen gibt, berichtet der fiktive Herausgeber, dass der folgende Text die Übersetzung eines spanischen Romans von einem gewissen Don Ramiro von Z*** sei, und diese Fiktion durchzieht den gesamten Vorbericht. Indem Wieland das Thema der Pseudo-Übersetzung bereits an diesem poetologisch bedeutsamen Ort einführt, stellt er seinen Don Sylvio sehr deutlich in den Horizont der Übersetzungsfrage, die im Deutschland des 18. Jahrhunderts immer virulenter wird und nach und nach – von Gottsched, Breitin-

69 Cervantes, Don Quijote, S. 16. 70 Vgl. Uwe Wirth, Der Herausgeber als Übersetzer und Autor. In: Wieland/Übersetzen. Sprachen, Gattungen, Räume, hg. von Bettine Menke und Wolfgang Struck, Berlin/New York 2010, S. 147–161, hier S. 161. 71 Vgl. Menke, Struck, Wieland/Übersetzen, S. 9. 72 Vgl. Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 98 ff. 73 Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 29. 74 So der Titel der ersten französischen und russischen Übersetzung des Don Sylvio, vgl. Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 96.

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ger und Bodmer bis hin zu Lessing und Herder – alle wichtigen Denker der Zeit in ihren Bann zieht. Indem er seinen Roman zugleich als freie Bearbeitung des Don Quijote präsentiert, verleiht er seiner Übersetzungsfiktion eine besondere semantische Tiefe. Bereits die Kombination einer Pseudo-Übersetzung und einer freien Bearbeitung lässt sich nämlich als ein übersetzungstheoretisches Statement verstehen, mit dem sich der Roman stringent in Wielands andere Übersetzungsprojekte einordnen lässt. Die neuere Wielandforschung zeigt mehr und mehr, dass man dem Autor nicht gerecht wird, wenn man seinen Umgang mit dem zu übersetzenden Fremden auf eine Ironisierung reduziert, mit der die Fremdheit ohne weiteres Problembewusstsein ins Eigene geholt und damit letztlich „zerspiel[t]“ wird.75 Vor allem die Beiträge in dem kürzlich von Bettine Menke und Wolfgang Struck herausgegebenen Band Wieland/ Übersetzen arbeiten erfolgreich an einer Revision dieses traditionellen, wesentlich von Goethe geprägten Wieland-Bildes. Dafür weisen sie zum einen auf, wie sehr sich Wieland der Gefahren des Sprachen- und Kulturtransfers bewusst ist, und arbeiten zum anderen umfassend heraus, mit welchen komplexen Techniken der Glossierung, Kommentierung, Weglassung, Abwandlung und Hybridisierung er dieses Bewusstsein in seiner umfangreichen Übersetzertätigkeit umsetzt. Im Don Sylvio nun, so meine These, zieht Wieland hieraus eine ebenso radikale wie logische Konsequenz: Er entscheidet sich gleich für eine freie Bearbeitung. Mit dem Spiel zwischen abwesendem und anwesendem Urtext, das durch die Kombination der fiktiven Übersetzung und der realen Bearbeitung möglich wird, eröffnet sich der Autor einen Freiraum, in dem er den bewunderten vielfältigen Nutzen des Don Quijote76 – und zumal der dortigen Übersetzungsfiktion selbst – allererst voll auszuschöpfen vermag. Zugleich kann er das Original so in seiner inkommensurablen Fremdheit honorieren, wie er es selbst verschiedentlich für eine gelungene Übersetzung einfordert.77 Anders als Goethe schreibt, halten sich bei Wieland die Aneignung des Fremden und der Versuch, sich selbst „zu dem Fremden hinüber [zu] begeben“, die Waage.78 Und bereits die hybride Textgestalt, in der sich die vergangene spanische und die zeitgenössische deutsche Lebenswelt so irritierend übereinander lagern (und zudem durch französische, englische und andere Einflüsse angereichert sind), weist in diese Richtung. Die Leserschaft ist so zu einem

75 So Menke und Struck (Wieland/Übersetzen, S. 5) über die Deutung Walter Erharts. 76 Vgl. Jacobs, Don Quijote in der Aufklärung, S. 56; Honold, Quijote im Wunderland, S. 183. 77 Vgl. Roettig, Wielands sokratische Übersetzungen, S. 103. 78 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Zu brüderlichem Andenken Wielands. In: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. von Ernst Beutler, Zürich 1949, Bd. 12, S. 705.

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‚schielenden‘ Blick aufgefordert, der stets beides präsent hat. Damit reagiert Wieland schlüssig auf den Aufbruch des traditionellen rationalistischen Universalismus, den man durchaus auch für den deutschen Kulturraum der Zeit annehmen muss.79 Um nachvollziehbar zu machen, wie raffiniert Wieland diese Doppelstrategie verfolgt, ist bereits ein näherer Blick auf den Nachbericht des Herausgebers aufschlussreich. Wieland absorbiert und transformiert den Don Quijote hier nämlich nicht nur, um seine poetische Praxis generell als ein Oszillieren zwischen Übersetzen und Dichten auszuweisen und dafür programmatisch die Konzepte von Wahrscheinlichkeit, Wahrheit und Geschichtsschreibung zu transformieren.80 Auch ist es ihm, wie ich meine, nicht allein darum zu tun, ähnlich wie der Don Quijote in die „Leitdifferenz“ „zwischen Natürlichem und Übernatürlichem bzw. Wunderbaren“ einzuüben.81 Seine „Praxis des übersetzenden Dichtens“ „verpflanzt und versetzt“ 82 vielmehr vor allem die vorangehend herausgearbeiteten zahlreichen Implikate der cervantinischen MetaÜbersetzung in den deutschen Kulturraum und gewinnt allererst aus diesem Transfer sein vielfältiges romanpoetologisches, semantisches und pragmatisches Potential. Dies erreicht Wieland, indem er nicht nur Aspekte des cervantinischen Vorworts und der zentralen Übersetzerszene aus dem Don Quijote in seinen Text holt. Er greift vielmehr Denkfiguren und Strukturmerkmale aus allen vorangehend untersuchten Passagen auf und mischt sie neu, um so bereits im Vorwort die Übersetzungstheorie des Don Quijote verdichtet zu transferieren. Indem er die herausgelösten Fragmente – zum Teil wörtlich übersetzt, zum Teil sinngemäß übertragen – in den eigenen Text inkorporiert und durch eigene Hinzufügungen weiter ausfaltet, macht er die cervantinischen Denkfiguren für die deutsche Leserschaft nutzbar und setzt seine implizite Übersetzungstheorie zugleich performativ um. Das Übersetzen wird selbst als eine Form des kreativen ‚Witzes‘ realisiert. Der Anfang des „Nachberichts“, zielt – ähnlich wie sich dies im Don Quijote feststellen lässt – zunächst darauf ab, das eigene Autor-Ich fiktiv zu pluralisieren. Damit höhlt auch Wieland die Zuverlässigkeit aller eingeführten Instanzen der Entstehung, Übersetzung und Zirkulation des Textes aus. Noch stärker als Cervantes demontiert er dabei die gesicherte Autor-Instanz. Als Sprecher tritt nämlich nun ein fiktiver Herausgeber auf, und dieser erscheint schon allein deshalb als eine recht zweifelhafte Gestalt, weil er zwar bemerkt, dass der

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Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 59. S. dazu Wirth, Der Herausgeber als Übersetzer und Autor, bes. S. 153, 156, 161. Vgl. Honold, Quijote im Wunderland, S. 198. Wirth, Der Herausgeber als Übersetzer und Autor, S. 160.

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Nachbericht durch den (vermeintlichen) Fehler des Abschreibers an den Anfang des Textes gerutscht ist, dies aber gleichwohl nicht korrigiert.83 Diesem unglaubwürdigen Doppel aus Herausgeber und Abschreiber werden ein spanischer Autor und ein Übersetzer an die Seite gestellt, an deren Glaubwürdigkeit ebenfalls Zweifel gesät werden. Gleich der erste Satz („Ich muß es dem guten Willen des Lesers überlassen, ob sie glauben wollen oder nicht, daß dieses Buch den Don Ramiro von Z***, der einige Jahre Gesandtschafts-Secretarius bey einem bekannten Spanischen Minister an einem deutschen Hof gewesen, zum Verfasser habe“)84 untergräbt die Gewissheit hinsichtlich des Originaltextes. Der sodann eingeführte Übersetzer nun hat als Freund des Herausgebers zwar einen gewissen Glaubensvorschuss, verspielt diesen aber zugleich, indem er darauf verzichtet, den ihm offenbar vorliegenden Paratext zum spanischen Roman mit zu übersetzen. Damit werden dem Leser wichtige Hinweise zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte des fiktiven Textes vorenthalten. Die ersten Handlungen, die in diesem irritierenden Vorwort realisiert werden, bestehen also im Zurückhalten von Informationen, ganz so, wie man es im berühmten ersten Satz des Don Quijote findet. Dadurch wird der Roman bereits im Vorfeld mit einer Fülle von Leerstellen und möglichen Irrfährten eingeführt. Zugleich wird eine recht komplexe Situation des Kulturtransfers skizziert: Ähnlich wie Cide Hamete Benengeli ist auch der fiktive spanische Autor bereits eine kulturelle Hybride, da er als Gesandtschaftssekretär bei einem spanischen Minister an einem deutschen Hof lebt und folglich mit den Gepflogenheiten der Deutschen durchaus vertraut ist. Auf diese Weise legt bereits das Vorwort die Grundlage für die im Text ausagierte kulturelle Hybridität. Wichtig ist nun die Fortsetzung des Vorworts, die in der Forschung bislang etwas vernachlässigt wurde. Denn damit übersetzt Wieland auch jene Dimensionen der cervantinischen Pseudo-Übersetzung in sein Romanprojekt, mit denen Cervantes die Einsicht in die Unauffindbarkeit eines sicheren Originals und die unendliche Auffächerung der Perspektiven auf die Welt allererst zur Ermöglichungsbedingung für eine neue Ästhetik und Ethik der Literatur macht. Diese Inversion zeigt sich bereits in der Haltung, die der Herausgeber dem übersetzten Text gegenüber einnimmt. Nachdem er der Leserschaft im ersten Satz die Entscheidung überlassen hat, den fiktionalen Pakt anzunehmen oder nicht (und damit dieselbe Bewertungsoffenheit etabliert, wie sie im Vorwort des Don Quijote zentral ist), führt er selbst modellhaft eine Entscheidung vor,

83 Vgl. zu diesem „performativen Selbstwiderspruch“ auch Wirth, Der Herausgeber als Übersetzer und Autor, S. 148. 84 Christoph Martin Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, hg. von Sven-Aage Jørgensen, Stuttgart 2001, S. 7.

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nämlich jene, den Zweifel in den Wind zu schlagen. Hierfür führt er zwei Gründe an, die bei aller Unterschiedlichkeit doch eng miteinander zusammenhängen und beide zum Don Quijote zurückführen. Zunächst argumentiert er, dass die Erzählung des Übersetzers so „umständlich[ ] und wohlzusammen hangend[ ]“ sei, dass er sich die Mühe des Zweifelns fürderhin sparen wolle.85 Damit deutet Wieland bereits hier sein Mimesiskonzept an, das letztlich (ähnlich wie jenes von Cervantes) auf der Wahrheit der Komplexität beruht.86 Wenn damit zunächst der Bezug zwischen Textstruktur und Wirklichkeitsstruktur im Vordergrund steht, mithin ein epistemologisches und textstrukturelles Argument, so fokussiert die zweite Begründung vor allem die Wirkung des übersetzten Textes, und zwar dergestalt, dass das epistemologische Problem kurzerhand für irrelevant erklärt wird: Ich lasse alles dieses an seinen Ort gestellt seyn. Was ich gewiß sagen kann, ist, daß mich Don Sylvio von Rosalva so sehr belustiget hat als irgend ein Buch von dieser Art, und daß ich bei Durchlesung des Manuscrips so oft und so herzlich lachen mußte, daß meine Frau, welche wußte, daß ich allein in meinem Cabinete war, endlich in voller Bestürzung herbey gelauffen kam, und mich fragte, was mir fehle; denn sie besorgte in der That, ich möchte närrisch geworden sein […].87

Die ergebnislose Reflexion über die Glaubwürdigkeit des Originals sowie der Übersetzung wird abgebrochen und durch die Gewissheit der affektiven Wirkung des Buches ersetzt, die wiederum in einem geradezu „närrischen“ Lachen besteht. Damit entspricht die Reaktion des Herausgebers auf das ‚übersetzte‘ Buch der Reaktion des Übersetzers in Cervantesʼ Übersetzerszene (Kap. I, 9),88 mit dem Unterschied allerdings, dass das Lachen in Wielands Vorwort die epistemologische Ungewissheit miteinschließt und gleichsam unschädlich macht. Auf diese Weise wird bereits hier eine strategische Dimension insinuiert, mit der die Analogie zum Don Quijote untermauert wird. Das Lachen, das SichAffizieren-Lassen vom (übersetzten) Text, die Lust am Text ersetzen die ergebnislose Reflexion auf Sein und Schein, werden also als Antidot gegen die epistemologische Ungewissheit inszeniert. Wieland bezieht sich hier sichtlich auf Breitingers innovative Vorgabe, dass die Übersetzung vor allem einen ähnlichen Eindruck auf das „Gemüt“ der Leserschaft machen solle wie das Original.89 Zugleich refunktionalisiert er diesen Gedanken, indem er diese Vorgabe 85 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 7. 86 Ganz ähnlich begründen Schiller und Goethe in ihrem Briefwechsel ihre Versuche einer Episierung des Theaters. 87 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 8 f. 88 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 133. 89 Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 64.

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mit Cervantesʼ Epistemologiekritik kreuzt. Und genau diese Sinndimension arbeitet der weitere Verlauf des Vorworts aus, wenn sodann vor allem die emotionale Wirkung des übersetzten Buches im Zentrum steht. Auch hier nämlich wird, wie im Vorwort des Quijote, eine ganze fiktive Szenerie entfaltet. Im Zentrum steht dabei eine zunehmende Ausbreitung des exuberanten Gelächters, mit dem der Herausgeber nach und nach immer mehr Menschen ansteckt, bis es schließlich die ganze imaginierte Stadt (und damit allegorisch das ganze Land und die ganze Welt) erfüllt. Damit lässt sich auch hier ein weltliterarisches Ansinnen erkennen, das auf die Stiftung einer befreienden Lachgemeinschaft abzielt. So löst sich die Sorge der herbeieilenden Frau des Herausgebers schnell in Lachen auf, als ihr ein Textausschnitt aus dem Roman vorgelesen wird, und auch der zufällig ankommende „sauertöpfische“ Abschreiber, der die beiden zunächst für ‚toll‘ hält, kann der ansteckenden Macht des Textes nicht lange widerstehen und bricht in ein „wieherndes Gelächter“ aus, das seine „stoische Unbeweglichkeit“ 90 besiegt. Und ebenso werden nach und nach das Stubenmädchen, die Köchin und der Hausknecht angesteckt, sodass das „sardonische Concerte“, die „wiehernde Symphonie“ des gesamten Hausstandes schließlich die Grenzen des Hauses sprengt und auch die Leute auf der Straße ansteckt, die alle ebenfalls zu lachen beginnen, ohne zu wissen warum.91 Diese immer mehr in die groteske Überzeichnung kippende Schilderung der geradezu weltverändernden Macht des Textes endet mit den folgenden Worten: Kurz, es lag nur an mir alle meine Nachbarn mit ins Spiel zu bringen, und wer weiß, ob das Gelächter sich nicht von Gasse zu Gasse fortgewälzt und endlich die ganze Stadt samt den Vorstädten in Erschütterung gesetzt hätte, wenn ich nicht so klug gewesen wäre, mein Manuscript wegzulegen, mein Gesinde wegzuschelten, und meine Frau auf ein anders Capitel zu bringen.92

In dieser Szenerie werden in verdichteter Form zahlreiche Textelemente des Don Quijote in den eigenen Text transferiert, neu zusammengefügt und ergänzt. Auf diese Weise arbeitet Wieland sowohl in der Aussagenstruktur als auch im Verfahren Cervantesʼ Literatur- und Übersetzungsideal der pluralistischen Ansteckung weiter aus. So weist die gesamte Szenerie eine starke parabelhafte, selbstreferentielle Dimension auf, mit der Wieland genau jene Vielfalt der Wahrnehmungs- und Bewertungsperspektiven vorführt, die im Quijote als Ziel eines perfekten Romans ausgewiesen wird. Während das Herausgeberehe-

90 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 9. 91 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 9. 92 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 9.

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paar jene „Lachenden“ repräsentiert, die durch das Buch „noch lauter lachen“, personifiziert der Abschreiber den „Schwermütigen“, „der wieder lachen lernt“.93 Damit führt Wieland sinnfällig die anvisierte wahrnehmungsverändernde Macht der Literatur (und Übersetzung) vor Augen. Die restlichen Figuren des Hausstandes wiederum stellen einen Querschnitt durch alle sozialen Schichten dar, wie er zu Beginn von Buch II des Quijote erwähnt wird,94 und mit der imaginierten Ausbreitung der Ansteckung „von Gasse zu Gasse“ wird eine Überschreitung des aristotelischen oikos angedeutet, mit der dem Text allegorisch weltliterarische Qualitäten zugewiesen werden. Indem der Herausgeber zudem betont, dass die Leute auf der Straße nicht einmal wissen, worüber sie lachen,95 und dies vor allem deshalb tun, weil das Lachen selbst „so ansteckend wie das Gähnen“ ist,96 wird die Ansteckung geradezu als ein autopoietischer Prozess etabliert. Hierdurch wird der Aspekt des Auslachens zur Seite gedrängt und durch ein Konzept des Lachens ersetzt, bei dem das harmonische, gemeinschaftsstiftende Element im Vordergrund steht, wie dies auch die Metapher der lachenden „Symphonie“ andeutet. Der Transfer und die kreative Transformation des Don Quijote gehen also Hand in Hand, und zwar mit Blick auf die autoreferentiellen Implikate der dortigen Übersetzungsfiktion selbst. Bereits in dieser Szenerie führt Wieland dessen Ideal einer Weltliteratur, die als Literatur für Viele die Hybridität voraussetzt, kongenial in die deutsche Literatur ein. Zugleich hebt er den Aspekt der literaturinduzierten Stiftung einer Lachgemeinschaft noch stärker hervor und betont dabei das einigende, harmoniestiftende Moment. Damit bezieht er sich zugleich ironisierend auf die zeitgenössischen Übersetzungstheorien (etwa von Georg Vensky und den Gottschedianern), die ebenfalls immer wieder den Nutzen der Übersetzung hervorheben.97 Wenn dort die Verbesserung der Sprachfähigkeiten sowie die Anleitung zum tugendhaften Verhalten im Vordergrund stehen, so werden diese Vorgaben von Wieland auf eigenwillige Weise redefiniert. Zu beachten ist auch die hyperbolische Schreibweise des fiktiven Herausgebers, die unwillentlich sichtbar macht, dass er sich geradezu lustvoll in seine Darstellung hineinsteigert, bis er in der soeben zitierten Passage sogar auf eine kontrafaktische Phantasie verfällt. Damit wird er, bei allem Spott über den schwärmerischen Protagonisten, selbst als ein ‚Schwärmer‘ inszeniert, dessen

93 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 26. 94 Vgl. Cervantes, Don Quijote, S. 791. 95 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 9. 96 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 8. 97 Vgl. Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert, S. 48, 51, 59 f.; Apel, Sprachbewegung, S. 47–51, 59.

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Phantasie leicht entzündlich ist und sich schnell von der Realität abkoppelt. Wie Cervantes rückt auch Wieland die Instanzen der Textzirkulation in die Nähe des Protagonisten, um Letzteren heimlich aufzuwerten. Neben die spöttische Ridikülisierung der Quijoterie, die von einer allzu identifikatorischen Lektüre heilen soll, tritt deren heimliche Positivierung, die geradezu als eine Gegenstrategie gegen den Verlust der epistemologischen Gewissheiten inszeniert wird.98 Dabei hebt Wieland das gemeinschaftsstiftende Potential der Literatur noch stärker hervor, verankert es aber zugleich in einem Lachen, das ebenso empathisch wie explosiv-transgressiv ist. Und genau diese Redefinition des prodesse wird in den folgenden Passagen des „Nachberichts“ entfaltet und durch weitere Facetten ergänzt. Dafür ‚übersetzt‘ Wieland erneut Sinnfragmente des Don Quijote in den deutschen Kontext, indem er sie rekombiniert und mit eigenen Hinzufügungen vermischt. Auf diese Weise nimmt er zugleich Stellung zur erwarteten zeitgenössischen Kritik an seinem Werk, die tatsächlich sehr harsch ausfällt.99 Zu diesem Zweck führt er zwei weitere Figuren ein, die recht gegensätzliche Positionen repräsentieren: Der zunächst auftretende Jansenist zeigt sich immun gegen die gemeinschaftsstiftende Wirkung des übersetzten Buches und kritisiert notorisch dessen Gottlosigkeit und revolutionäre Kraft.100 Nachdem diese kritische Perspektive auf den Text durch Ironisierung unschädlich gemacht worden ist, tritt ein moderater Geistlicher auf, der – analog zum Freund im Vorwort des Don Quijote und zum Pfarrer in Kapitel I, 47 – zum Sprachrohr des Autors wird und den Text unter Verweis auf die Erkenntnisfunktion des Lachens legitimiert.101 Und wenn er dabei an die antike Satire erinnert, um den „lachenden Spott“ als Instrument einer Bloßlegung der gefahrvollen Wirkung von Schwärmerei und Aberglauben aufzuwerten,102 so wird auch dieses explizit erklärte Ziel, wieder in Analogie zum Don Quijote, im weiteren Verlauf unterhöhlt. Dies geschieht unter Einführung einer weiteren Figur, die bei Cervantes nur eine tangentiale Rolle spielt: eines fiktiven Verlegers nämlich, dem ein ökonomischer Nutzen versprochen werden muss, damit er die Übersetzung des vermeintlichen spanischen Originals überhaupt in Umlauf bringt und so für die anvisierte Zirkulation des Werkes sorgt.103 In dieser Figur macht Wieland zunächst auf die Macht der Institutionen und des Geldes

98 Zu Wielands Absicht, die „Ambivalenz“ der Einbildungskraft, „ihre segensreiche wie ihre bedenkliche Seite“ ins Licht zu setzen, vgl. Jacobs, Don Quijote in der Aufklärung, S. 46. 99 Vgl. Vietta, Literarische Phantasie, S. 167. 100 Vgl. Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 10 f. 101 Vgl. Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 11 f. 102 Vgl. Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 12. 103 Vgl. Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 12 f.

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aufmerksam, reflektiert also, unter erneuter Abschattierung der zeitgenössischen Übersetzungstheorien, die materiellen Bedingungen der transkulturellen Zirkulation von Texten. Im ironischen Gewand weist er hier auf den rein ökonomischen Nutzen hin, den die Übersetzung fremdländischer Literaturen erbringen muss, damit sie allererst in Umlauf gebracht wird. Damit fügt er den zeitgenössischen Konzepten des Nutzens der Übersetzung auf ebenso ironische wie tiefgründige Weise eine weitere Facette hinzu. In der Konkretisierung des ökonomischen Nutzens hebt er zugleich – und abschließend – erneut die Ambivalenz der entwickelten Poetik der Übersetzung hervor. Denn nun wird der übersetzte Text explizit als Medizin dargeboten: Ich überlasse es nun den Lesern, was sie thun wollen, ob sie dabey lachen, lächeln, sauer sehen, schmählen oder weinen wollen. Mir liegt weniger daran als dem Verleger; denn dieser hat sich, die Wahrheit zu gestehen, darauf verlassen, daß Don Sylvio ein lustiges Buch sey, und er würde sich schwerlich damit abgegeben haben, ein paar tausend Copien von den Einfällen des Hrn. Don Ramiro von Z** auf seine Unkosten machen zu lassen, wenn man ihn nicht versichert hätte, daß die Medici in hypochondrischen und MilzKrankheiten, in allen Arten von Vapeurs, und hysterischen Zufällen, und so gar im Podagra, ihren Patienten künftig den Don Sylvio statt einer Tisanne einzunehmen verschreiben würden.104

In diesen Zeilen steht das traditionelle Konzept der heilenden Kraft der Literatur im Fokus seiner kreativen Auseinandersetzung. Die Hypochondrie, die „Vapeurs“ und die „hysterischen Zufälle“ bestätigen zunächst – als Krankheiten, die mit übersteigerten Phantasien einhergehen – die parodistische Dimension des Textes. Der Nutzen des übersetzten Textes wird hier auf eine Heilung von der übersteigerten Phantasietätigkeit zurückgeführt. Dies entspricht dem traditionellen Konzept der Literatur als remedium.105 Zugleich ist allerdings auch die Gegenseite eingeschrieben. Indem die Wirkung des übersetzten Romans mit jener einer Tasse Tee verglichen wird, wird zum Schluss vor allem die schmerzlindernde Funktion der Lektüre hervorgehoben, wodurch sich die heilende Kraft des Textes zumindest ambivalent darstellt. Sie kann nun sowohl das exklusive als auch das inklusive Lachen einschließen106 und ebenso eine Heilung von der Schwermut meinen, die genau im Angestecktwerden durch

104 Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 12 f. 105 Vgl. etwa Ovids wirkmächtige Remedia amoris, die eine Anleitung liefern, wie man sich aus den Fesseln der Liebe befreien kann. 106 Zu dieser Unterscheidung vgl. Frank Wittchow, Prekäre Gemeinschaften. Inklusives und exklusives Lachen bei Horaz und Vergil. In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten, Berlin/New York 2005, S. 85–110.

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das Lachen besteht. Und wieder unterstützt die Gestaltung der Rede diese Lesart. Erneut zeigt sich der Herausgeber nämlich selbst vom übersetzten Text angesteckt, wenn er die Liste der durch das Buch heilbaren Krankheiten auf ebenso phantasievolle wie kontrafaktische Weise ergänzt. Ähnlich wie Don Sylvio gibt er damit erneut eine lustvoll übersteigerte Einbildungskraft zu erkennen. Während in der Aussagenstruktur also die Heilung von der Schwärmerei im Vordergrund steht, deutet die szenische Gestaltung des Schlusses eher auf das Gegenteil hin, also – ganz im Sinne von Erasmus und Cervantes – auf die Heilung durch die ‚Torheit‘. Damit bereitet das Vorwort das ambivalente Ende des Textes präzise vor, denn wie im Don Quijote wird auch dort die vollzogene conversio zugleich unterlaufen. Im Don Sylvio geschieht dies just dadurch, dass die Feenschwärmerei letztlich nur durch die Schwärmerei für die geliebte Frau ersetzt wird, die zudem selbst eine quijoteske Ader hat und den Protagonisten somit spiegelt.107 Auch mit diesem Textschluss wird das traditionelle Konzept des remedium invertiert. Die Heilung des Protagonisten liegt hier genau in der Liebe und nicht in der Befreiung davon wie im traditionellen moralphilosophischen Diskurs. Damit bestätigt das Textende die selbstreferentiellen Kapitel, in denen der ‚Autor‘ die Liebe und das Lachen zum einzigen Hilfsmittel in einer Welt erklärt, in der sich alle philosophischen Systeme als unzulänglich erweisen.108 Der gesamte „Nachbericht des Herausgebers“ stellt also eine tiefgründige übersetzungstheoretische Reflexion dar, die sich klar vom Don Quijote angesteckt zeigt und die dortigen Sinnpotentiale ausfaltet und ergänzt. Zugleich setzt er die bei Cervantes nur versteckt insinuierte Logik der Ansteckung kongenial in Szene. Damit verpflanzt Wieland sowohl die ‚zentripetalen‘ als auch die ‚zentrifugalen‘ Nutzpotentiale des Quijote nach Deutschland. Der zentripetale Nutzen verdichtet sich in einem neuen Literaturideal, das die MimesisNorm setzt und zugleich in grotesken Übersteigerungen und Verfremdungen unterläuft, und zwar im Dienste einer vor allem affektiven Ansteckung der Leserschaft.109 Wenn Friedrich Schleiermacher etwas später genau dieses Wir-

107 Vgl. etwa S. 174, wo Felicias aufkeimende Liebe genau auf die Ahnung einer Seelenverwandtschaft in der Quijoterie gegründet wird, sowie S. 450, wo insinuiert wird, dass Don Sylvios Reise genau diese „glücklichen Fähigkeiten“ zur Entfaltung gebracht hat. Zur Diskussion des Textschlusses siehe auch Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 114–120. 108 Vgl. die Abfolge von Kap. I, 11; III, 1–4; IV, I; V, 1; V, 3 und V, 9. 109 Wieland bezieht sich damit nicht nur auf Breitingers innovative Vorgabe, ein Text müsse so übersetzt werden, dass „die Übersetzung einen gleichen Eindruck auf das Gemüt des Lesers mache“ (Vgl. Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert, S. 64), sondern auch auf Aristotelesʼ Rhetorik.

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kungspotential von Übersetzungen ins Zentrum seiner Reflexionen stellt,110 steht er sichtlich in einer Linie mit Wieland. Ähnlich schillernd ist der zentrifugale Nutzen. Er besteht durchaus in der Entwicklung eines Erziehungs- und Sozialisationsmodells, das gemäß den Vorgaben der Zeit auf ein tugendhaftes Verhalten abzielt. Dieses ist allerdings so konzipiert, dass das quijoteske Element, wiewohl gemildert, erhalten bleibt. Analog zu Cervantes wird auch hier das kontrafaktische Denken als Organon für die Umsetzung neuer, ludischer Formen des Selbst- und Weltumgangs ausgelotet, wobei Wieland zugleich eine stärkere Betonung auf die gemeinschaftsbildende, inklusive Funktion des Lachens legt. Damit signalisiert er bereits im Vorwort, dass es auch ihm darum zu tun ist, mit seinem Don Sylvio gegen die allzu rüde Moral der eigenen Zeit anzugehen.111 Für den „Verständigen“ 112 macht seine raffinierte Transpositionstechnik klar, dass er nicht zuletzt darin den gewinnbringenden Nutzen des Don Quijote sieht und deshalb dessen kreativen Transfer nach Deutschland vollzieht. Und genau diese Form der Transposition exerziert der Roman in extenso durch. Der ganze Text entsteht durch die hier vorgeführten Techniken der freien Rekombination, Übereinanderlagerung und Ausfaltung von Fragmenten des spanischen Originals, die wiederum mit einer Fülle anderer Texte und Traditionen vermischt werden. Auf diese Weise wird der Don Quijote mal ausgedeutet, mal ausgefaltet, mal kommentiert und so in transformierter Form rekontextualisiert. Durch die regelmäßigen expliziten Erwähnungen des Prätextes113 sowie durch die prononcierte Hybridität der entfalteten Lebenswelt der Diegese wird das spanische Original zugleich stets präsent gehalten. Indem Wieland die ursprüngliche Geschichte von der Welt der Ritterromane in die des Feenmärchens übersetzt, führt er die Stoßrichtung des Quijote präzise fort, und zwar mitsamt des dort unternommenen Versuchs, einige Grundzüge des parodierten Genres zugleich in die eigene Zeit hinüberzuretten und dafür zu aktualisieren.114 Neben den auffälligen Analogien zum spanischen Original (wie etwa das ähnlich schwärmerische Protagonistenpaar, eine ähnlich ausgeprägte Strukturkomplexität und Polyperspektivik, die analoge skeptische Reflexion auf die Unhintergehbarkeit des Scheins, die Doppelzüngigkeit der Rede und die Unwahr-

110 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens. In: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birchner u. a., Berlin/New York 1980 ff., Bd. 11, S. 65–94. 111 Vgl. auch Vietta, Literarische Phantasie, S. 168. 112 Vgl. Cervantes, Der geistvolle Hidalgo, Bd. 1, S. 13. 113 Siehe etwa Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio, S. 25, 39, 40, 61, 103, 123, 158, 174. 114 Zum Programm, eine neue Art von Feenmärchen zu schreiben, vgl. Don Sylvio, S. 229, 391.

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scheinlichkeiten auf allen Textebenen, die das zugleich vertretene MimesisIdeal unterlaufen etc.) lassen sich zugleich zahlreiche Transformationen feststellen, die allerdings meistenteils wiederum als Ausdeutungen und Ausfaltungen des ‚Geistes‘ des Don Quijote zu verstehen sind. So ergänzt Wieland das männliche Protagonistenpaar etwa durch diverse weibliche Quijotes und setzt so seine explizite psychologische Universalisierung des Phänomens115 gleichsam figurativ in Szene. Indem er Don Sylvio und seinem Diener Pedrillo ein entsprechendes weibliches Gegenüber gibt und in der Zusammenführung dieser sich spiegelnden Liebespaare ein glückliches Ende gestaltet, macht er die angestrebte Legitimierung der Quijoterie noch deutlicher sichtbar. Dies geschieht auch in den zahlreichen selbstreferentiellen Kapiteln, in denen sich der (spanische und/oder deutsche) Autor zu Wort meldet und die strategische Dimension der Einbildungskraft (als Antidot gegen die Leiden der conditio humana) erklärt.116 Es ist aber auch in der Überlänge der eingeschobenen Biribinker-Geschichte erkennbar, die zwar, analog zu einer ähnlichen Geschichte im Quijote (Kap. II, 1), von einem intradiegetischen Erzähler vorgebracht wird, um den Protagonisten zur Räson zu bringen, dabei aber so überdimensioniert gerät und mit einer solchen Fabulierfreude ausgestaltet wird, dass sie letztlich zum Selbstzweck wird. Auch der intradiegetische Erzähler enthüllt damit seine quijotesken Züge. Und schließlich zeigt sich Wielands Arbeit der Ausfaltung des Originals auch in der hybriden Gestalt der Diegese, in der sich Anspielungen auf das Spanien des 16./17. Jahrhunderts und auf das zeitgenössische Deutschland (mitsamt weiterer transnationaler Vernetzungen) unauflösbar miteinander verflechten. Noch stärker als Cervantes betont Wieland damit die Hybridität von Kulturen und weist überdies darauf hin, dass auch die eigenen Innovationen aus der Hybridisierung hervorgehen und dieser bedürfen. Mit alledem nutzt er die transponierte Übersetzungsfiktion dergestalt, dass sie nicht nur eine neue Romanästhetik und Ethik begründet, sondern zugleich auch das Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen des Übersetzens anregt. Übersetzungstheoretisch realisiert Wieland somit einen komplexen Eklektizismus: Mit Gottsched und Dryden und letztlich schon der antiken Übersetzungstheorie plädiert er für eine freie Übersetzung, die durchaus auch kreative Anteile hat, also im Wesentlichen schöpferische Übertragung ist.117 Allerdings ist es weniger der traditionelle rationalistische Universalismus, der ihn diese

115 Vgl. etwa Kap. I, 6. 116 Vgl. etwa Kap. I, 11; III, 1–4; IV, I; V, 1; V, 3 und V, 9. 117 Vgl. Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert, S. 24; Apel, Sprachbewegung, S. 32 ff.

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Option wählen lässt wie noch bei Gottsched.118 Es ist vielmehr gerade das Wissen um die letztlich unübersetzbare Pluralität und Differenz der Kulturen. Deshalb bemüht er sich zugleich darum, das fremde Original in seiner Fremdheit durchscheinen zu lassen und rückt damit auch von Vensky ab, der postuliert: „[D]er übersetzte Autor müsse so reden, wie er geredet hätte, wenn er ein zeitgenössischer Deutscher gewesen wäre“.119 Die Pseudo-Übersetzung erlaubt es ihm vielmehr, gleichsam mit doppelter Zunge zu reden und so im Geist der Leserschaft beide kulturelle Kontexte präsent zu halten. Das versuchte Hereinholen des Fremden und dessen Fremdlassen halten sich hier die Waage und werden auf eine so irritierende Weise verbunden, dass die Aufmerksamkeit bei der Lektüre unweigerlich auf die Probleme des Übersetzens gelenkt wird. Damit weicht Wieland auch von der Übersetzungstheorie Bodmers und Breitingers ab, mit denen er hinsichtlich der Aufwertung der Einbildungskraft prinzipiell übereinstimmt. Während jene nämlich für eine auch sprachlich möglichst genaue Übersetzung plädieren, weil sie die Schönheit des Kunstwerks in seiner unauflösbaren Verflechtung von thematischen und formalen Aspekten sehen,120 betrachtet Wieland das Kunstwerk vielmehr als „Möglichkeit von Schönheit“, wie man mit Jorge Luis Borges sagen könnte,121 also als eine Quelle, aus der (durch freie Variationen, Ausfaltungen und Abwandlungen) immer neue Schönheiten entspringen und sich entfalten können. Gemäß der zeitgenössischen Engführung von Übersetzungstheorie und Dichtungslehre etabliert Wieland damit zugleich ein Kreativitätskonzept, mit dem er sich ebenfalls komplex zwischen Alt und Neu situiert. So verwischt er in seinem Umgang mit dem Don Quijote durchaus die Grenze zwischen Übersetzen und Dichten. Diese Grenzauflösung dient allerdings nicht so sehr dazu, die eigene Originalität „hinter der Maske der sekundären poetischen Praktiken einer medialen, interlingualen oder editorialen Transkription“ zu verbergen.122 Sie zielt, wie ich meine, vielmehr darauf ab, die dichterische Originalität selbst als eine Ausfaltung, Re-Kombination und Ergänzung von Keimlingen zu definieren. Damit wirkt sein Konzept poetischer Schöpferkraft zunächst recht kon-

118 Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 33, 37. 119 Vgl. Manfred Fuhrmann, Von Wieland bis Voss: wie verdeutscht man antike Autoren? In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1987, S. 1–22, hier S. 5. 120 Vgl. Apel, Sprachbewegung, S. 44. 121 „Llegamos ahora a la noción des los ‚clasicos‘. Debo confesar que no creo que un libro sea verdaderamente un objeto inmortal, que hay que asimilar y venerar como es debido, sino más bien una ocasión para la belleza.“ (Jorge Luis Borges, Arte poética. Seis conferencias, hg. von Calin-Andrei Mihailescu, 2. Aufl., Barcelona 2010, S. 25). Vgl. auch B. Ventarola, Zwischen situationaler Repräsentation und Multiadressierung, v. a. S. 362–365. 122 Wirth, Der Herausgeber als Übersetzer und Autor, S. 161.

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servativ. Mit der bald einsetzenden Genieästhetik hat das wenig zu tun. Letztlich liegt allerdings genau hierin seine ‚Modernität‘. Im heutigen Rückblick gibt er sich damit nämlich, ähnlich wie Cervantes, als ein Vorläufer von Autorschaftskonzepten zu erkennen, die genau die Hybridisierung des Differenten (Michel Serres, Homi Bhabha) und das Umdenken durch Umschreiben (Bernhard Waldenfels) zur Grundlage der Innovation erklären. Dabei ist Wieland sichtlich auch von seinem „Leitstern“ 123 Leibniz beeinflusst, dessen Monadenkonzept in einer ähnlichen Definition der Erfindungsgabe gipfelt. Auch in Leibnizʼ Konzept der Monade spielt die Figur der Ausfaltung eine große Rolle, und bereits bei ihm impliziert dies die Erzeugung immer neuer Möglichkeiten.124 Indem Wieland seinen Roman als Ergebnis und Verursacher transkultureller Ansteckungen inszeniert, transferiert er Cervantesʼ Literatur- und Übersetzungstheorie auf kongeniale Weise nach Deutschland und bietet sie so, ganz im Sinne von Leibniz, für weitere kreative Ausfaltungen, Ansteckungen und Abwandlungen dar.

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123 Vgl. Vietta, Literarische Phantasie, S. 174. 124 Vgl. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Bd. 3.1, S. 362 ff.; Bd. 3.2, S. 52, 58, 70. Zu Leibnizʼ Anwendung dieser Denkfigur auf die Anthropologie vgl. Ventarola, Transkategoriale Philologie, S. 486 und 552–560.

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Wilhelm Heinses Übersetzung der erotischen Sinnlichkeit in ottave rime Die „Jouissance“ der Laidion-Stanzen Wilhelm Heinses Italienbild und Italienwahrnehmung im Ardinghello (1787), die durch eine erotische Sinnlichkeit und ein „unaufhörlich Vergnügen“ 1 gekennzeichnet sind, wurden durch seine frühe Beschäftigung mit der italienischen Literatur beeinflusst. Vorbilder waren die italienischen Dichter Ludovico Ariosto und Torquato Tasso, deren Epen er aber in Prosa übertrug, denn er meinte, dass die strenge Form der Stanze in den Übersetzungen die Leidenschaft des Originals unterdrücke.2 Die ottava rima verwendete er hingegen in den dem Roman Laidion (1774) angehängten Stanzen, die eine erotische Badeszene darstellen. Im Folgenden wird zuerst Christoph Martin Wielands Kritik an der Verwendung der italienischen Strophe im Deutschen vorgestellt; im Zentrum des Beitrags stehen dann Heinses Verteidigung der strengen Stanze und die ottave, die er Wieland schickte und die einen Bruch mit diesem und eine Annäherung an die Poetik der Geniezeit bedeuteten. Gezeigt wird, wie Heinse nicht nur die metrische Form, sondern auch Motive und Bilder aus dem italienischen Epos übernahm. Die Laidion-Stanzen übten nicht nur einen Einfluss auf den jungen Goethe aus, der ihre „[J]ouissance“ 3 pries, sondern dienten als Laboratorium für spätere Übersetzungen Ariostos und Tassos und für die Übersetzungskunst der Romantik und ihre Idee der „strengen Observanz“.4

1 Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln, Leipzig 1961, S. 236. Der Erstdruck erschien 1787 anonym mit dem Untertitel Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert in Lemgo. 2 Vgl. Wilhelm Heinse, Brief an Gleim vom 24. Januar 1779. In: Heinse, Sämmtliche Werke. 9. Bd.: Briefe. Erster Band, hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1904, S. 398–401, hier S. 400. 3 Johann Wolfgang Goethe, An eine Frankfurter Freundin, Paralipomena, [Frankfurt? Ende Juni 1774]. In: Goethe, Werke (= Weimarer Ausgabe), IV Abt., 2. Bd., Weimar 1887, S. 323. 4 August Wilhelm Schlegel, Ludovico Ariosto’s Rasender Roland übersetzt v. I. D. Gries, Jena 1804–1808. In: Schlegel, Sämmtliche Werke, 11. Bd., hg. von Eduard Böcking, Leizpig 1847, S. 243–288, hier S. 246. https://doi.org/10.1515/9783110542202-005

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I Die Annäherung der Deutschen an Ariosto und Tasso und Wielands freie Stanze Die Annäherung der Deutschen an Ariosto und Tasso führte nicht gleichzeitig zur Nachahmung der Stanze; die ersten Übersetzungen des Orlando furioso5 und des Gerusalemme liberata wurden in Alexandrinern verfasst.6 Als Meinhard 1763 in seinen Versuchen über den Charakter und die Werke der besten italienischen Dichter die Aufmerksamkeit der Deutschen auf das italienische Epos lenkte und mehr als die Hälfte des zweiten Buches Ariosto widmete, entschied er sich für eine Prosafassung.7 Es ist Wieland, der eine führende Rolle in der Diskussion über die ottava rima im Deutschen übernahm. Im Merkur publizierte er Bruchstücke von sechs Ariost-Übersetzungen.8 Von den sechs selbstständig erschienenen Gerusalemme Liberata-Übersetzungen fanden zwei Platz im Merkur.9 1774 erschien hier die Übersetzungsprobe Ariostos in Stanzen von Wilhelm Werthes mit einem Kommentar des Herausgebers: Eine Uebersetzung von Ariosts Orlando Furioso, in achtzeiligen Stanzen, worinn die Versund Reimart der italienischen Ottave rime vollkommen beybehalten wird, ist unstreitig eine der verwegensten und mühsamsten Unternehmungen, an die sich ein teutscher Dichter wagen kann; ja, in Ansehung der Armuth unserer Sprache an Reimen, und des großen Vorzugs, den die Italienische überdieß an Geschmeidigkeit vor der unsrigen hat, trage ich kein Bedenken, eine solche Uebersetzung, wenn sie auch dem Ausdruck des Originals getreue bleiben soll, für unmöglich zu erklären.10

Der Übersetzer bewahrte das Reimschema der ottava (ABABABCC) und übersetzte den endecasillabo in fünffüßige Jamben. Wieland kritisierte diesen Ver-

5 Ludwig Ariost, Drey Gesänge vom Rasenden Rolandt, übers. von Diederich von dem Werder, Leipzig 1634. 6 Über Tassos Bild im deutschen Barock vgl. Achim Aurnhammer, Torquato Tasso im deutschen Barock, Tübingen 1994. 7 Johann Nicolaus Meinhard, Versuche über den Charakter und die Werke der besten italienischen Dichter, 2 Bde., Braunschweig 1763–1764. 8 Über Tassos und Ariostos Rezeption vgl. Elena Polledri, Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit. Deutsche Übersetzungen italienischer Klassiker von Tasso bis Dante, Tübingen 2010, S. 106–117; S. 156–166. 9 Vgl. Peter Kofler, Ariost und Tasso in Wielands Merkur. Übersetzungsprobe als Textsorte, Bozen/Innsbruck 1994; Peter Kofler: „… Wanderschaften durch gedruckte Blätter …“: Italien in Wielands „Merkur“, Bozen/Innsbruck 1997; Polledri, Die Aufgabe des Übersetzers, S. 92 f. 10 Ludovico Ariosto, Versuch einer Uebersetzung des Orlando Furioso, von Friedrich August Wilhelm Werthes, mit einem Vorbericht und Anmerkungen von Wieland. In: Teutscher Merkur, 2, 1774, S. 288–320, hier S. 288.

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such: Die deutsche Sprache könne nicht mit der Reimvielfalt des Italienischen und dem Rhythmus des endecasillabo konkurrieren; das Beibehalten des Reimschemas wirke im Deutschen monoton. Wieland hatte sowohl im Oberon (1780) als auch im Idris und Zenide (1768) freie Stanzen aus wechselnd reimenden Jamben mit unterschiedlicher Hebungszahl und eingestreuten Anapästen verwendet. In der Vorrede zum Idris hatte er seine Entscheidung motiviert: Die deutsche Sprache erfordere die Unregelmäßigkeit; die immer abwechselnde Harmonie der freien Stanzen sei im Deutschen der Monotonie der italienischen ottave vorzuziehen: Die Schwierigkeiten, deren ich erwähnte, würden unüberwindlich gewesen seyn, wenn ich mir in der Länge und Kürze der Zeilen, und in der Vermischung derselben, nicht eine Freyheit erlaubt hätte, welche die Natur unserer Sprache zu erfordern schien. Ich fand aber bald, daß dasjenige, was anfangs ein Werk der Nothwendigkeit gewesen war, eine reiche Quelle von musikalischen Schönheiten sey, wodurch die Monotonie der welchen ottave rime, welche in unsrer Sprache aus bekannten Ursachen ungleich weniger erträglich gewesen wäre, glücklich vermieden, und ein weit vollkommnerer Rhythmus, eine immer abwechselnde, oft nachahmende, und allezeit das Ohr ergötzende Harmonie in diese Versart gebracht werden könne: kurz, daß das Mechanische meiner Stanzen dadurch einen wirklichen Vorzug vor den Italiänischen erhalte.11

II Heinses Distanzierung von Wieland. Das unmittelbare Natürliche in den Übersetzungen von Petronius und Dorat als Vorbereitung der Laidion-Stanzen Heinse wurde 1769 mit Wieland bekannt, der schnell sein dichterisches Talent erkannte. Obwohl er sich als Schüler Wielands bezeichnete, zeigte er früh ihm gegenüber eine skeptische Haltung. Seine ersten Prosaaufsätze, die Briefe mit zwo vornehmen Damen über die Liebe (1770), erwiesen sich als eine satirischabwertende Kritik an Wielands Auffassung einer vernunftbeherrschten Sinnlichkeit.12 Heinse verteidigte die befreite Sinnlichkeit und den uneingeschränkten Liebesgenuss: „Die eigentliche Quelle, woraus diese Liebe entspringt, ist

11 Christoph Martin Wieland, Werke, Bd. 8.1, Text: April 1766–Dezember 1769, hg. von Klaus Manger, Berlin 2008, S. 533. 12 Über Heinse und Wieland vgl. Max L. Baeumer, „Mehr als Wieland seyn!“ Wilhelm Heinses Rezeption und Kritik des Wielandschen Werkes. In: Christoph Martin Wieland, hg. von Hansjörg Zelle, Tübingen 1984, S. 115–148.

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doch allezeit der thierische Trieb“.13 Seine ersten Übersetzungen bestätigen es. Die Begebenheiten des Enkolp des Petronius14 erzählen die Abenteuer des Enkolp und seines Geliebten Giton in Süditalien; in der Vorrede und den Fußnoten, gerade wo sexuelle Exzesse geschildert werden, fügte Heinse ironische Bezüge auf Wieland ein.15 Johann Wilhelm Ludwig Gleim hatte Heinse gewarnt, eine solche Übersetzung zu unternehmen: „Den Petronius zu übersetzen, und so, dass die Grazien nicht erröthen dürften, halte ich für allzu schwer“.16 Wieland meinte, es sei unmöglich, den Petron so zu vermitteln, „dass die Grazien nicht nöthig haben Ihre Hände vors Gesicht zu halten“.17 Heinse weigerte sich aber, die Exzesse zu mildern; ganz im Gegenteil wurden diese durch ironische Hinweise auf Wielands Moralität betont. Wieland reagierte empört: „Hätte der Unglückliche nur das vom Petron übersetzt, was ehrliche Leute lesen können und hätte dies desto besser gemacht und polirt, so hätte er ein gutes Werk gethan! […] Der Elende! Wo ist er? Ist er würckl. nach Italien gegangen, den Vaticanischen Apollo mit profanen Augen zu verunreinigen?“ 18 Heinse übersetzte daraufhin Claude-Joseph Dorats Verserzählung Les cerises – gleichfalls einen Liebhaberdruck erotischer Literatur; und auch hier machte er ironische Anspielungen auf Wieland. Er behauptet im Vorbericht, er werde nicht mehr Werke in der Art der Kirschen publizieren und stattdessen einige entsprechende Erzählungen Wielands „für unsere Grazien“ 19 herausgeben. In den skandalösen Stellen des Enkolp und der Kirschen fand er eine Vorwegnahme der Sinnlichkeit, die er in den Stanzen schilderte.

13 Wilhelm Heinse, Sämmtliche Werke, hg. von C. Schüddekopf, 1. Bd., Leipzig 1913, S. 184. 14 Petron, Begebenheiten des Enkolp. Aus dem Satyricon des Petron übersetzt von Wilhelm Heinse, Rom [Schwabach] 1773. 15 Darüber vgl. Baeumer, „Mehr als Wieland seyn!“, S. 130 f. 16 Gleim an Heinse, 4. Februar 1772. In: Briefe zwischen Gleim, Wilhelm Heinse und Johann von Müller, hg. von Wilhelm Körte, Zürich 1806, S. 59. 17 Christoph Martin Wieland, Brief an Heinse vom 8. November 1771. In: Wieland, Briefe der Erfurter Dozentenjahre, 4. Bd., bearb. von Annerose Schneider, Berlin 1979, S. 406. 18 Christoph Martin Wieland, Brief an Gleim vom 6. Dezember 1773. In: Wieland, Briefe der Weimarer Zeit (21. September 1772−31. Dezember 1777), 5. Bd., bearb. von Hans Werner Seiffert, Berlin 1983, S. 188. 19 Claude-Joseph Dorat, Die Kirschen, übers. von Wilhelm Heinse, Berlin 1773, S. 10. Hierzu vgl. M. L. Baeumer, „Mehr als Wieland seyn!“, S. 131.

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III „Ich bin iezt so in Italien zu Hause“. Die Stanzen als „Gesang zur Probe eines angefangenen Heldengedichts“ und die Briefe über die italienischen Dichter Nach der Veröffentlichung der Petronius-Übersetzung kündigte Heinse Wieland sein Projekt der Briefe über die italienischen Dichter an; das Werk stand in engem Zusammenhang mit Meinhards Versuchen und sollte sich auf das italienische Epos konzentrieren: Ich schreibe iezt Briefe über die italiänischen Dichter, mein alter Sokrates, und will Sie hiermit fragen, ob Sie Ihnen im Merkur eine Stelle gönnen wollen. Die ersten davon sind über das Leben des Tasso und sein befreytes Jerusalem, enthalten einen Auszug aus diesem, und das ganze Gemählde der bezaubernden, wunderbaren Armida; die andern Vergleichungen des Ariosto und Tasso, das charakteristische ihrer Genieen; […] Ich bin iezt so in Italien zu Hause, als wenn ich in diesem Tempel der Erde gebohren und erzogen worden wäre; ich habe dieses Jahr zu wiederhohlten mahlen den Orlando, das befreyte Jerusalem, die schönsten Klagelieder des Petrarca und der Oper des Metastasios mit meiner Frau von Massow durchgelesen; […] Ich werde diese Briefe nicht nach dem Plane bearbeiten, den Meinhardt beym Orlando beobachtet hat, dessen Grenzen für meinen Geist viel zu enge und ängstlich sind; sie sollen keine Fortsetzung seiner Versuche, sondern ein ganz eignes Werk über die Italiänischen Dichter seyn, davon der erste Theil die epische Dichtkunst begreift. Die Briefe über das merkwürdige Leben des Tasso und dessen bezaubernde Armida werd’ ich an die Frau von Massow richten […] Ich werde nun bald Muße genug dazu haben, sie in einem so guten Tone zu sagen, dass sie mir Ehre und dem Herausgeber des Merkurs keinen Nachtheil bringen sollen.20

Wieland zeigte keinen Enthusiasmus für das Projekt; das Leben des Tasso und der Auszug aus dem befreyten Jerusalem publizierte Heinse in Johann Georg Jacobis Iris, nicht im Merkur.21 In demselben Brief kündigte er den ersten Gesang als Probe aus einem angefangenen Heldengedicht an: Noch vor Ostern will ich Ihnen einen Gesang zur Probe aus meinem angefangenen Heldengedichte übersenden, und zwar den, welcher am wenigstens vom Ganzen verräth,

20 Wilhelm Heinse, Brief an Wieland vom 8. Dezember 1773. In: Heinse, Sämmtliche Werke, 9. Bd., S. 151–155, hier S. 151–153. Vgl. Bernhard Seuffert, Briefe Heinses an Wieland. In: Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte, VI, 1893, S. 212–251. 21 Vgl. Torquato Tasso, Armida, oder Auszug aus dem befreyten Jerusalem des Tasso, übers. von Wilhelm Heinse. In: Iris 1, 1774, S. 15–22; 2, 1775, S. 83–105; Wilhelm Heinse, Leben des Torquato Tasso. In: Iris I l, 1774, S. 33–78; I 2, 1774, S. 3–52.

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und nur eine Episode ist. Es soll ganz in fünffüssigen Jamben in ottave rime geschrieben werden.22

Am Ende des Briefes kündigte er die erste Stanze an: Der Gesang, den ich Ihnen zu Ihrem Merkur übersenden will, fängt mit folgender Stanze an den Gott des Schlafs an: O schwebe doch nun auch zu mir hernieder, Du schönstes Kind der sternenvollen Nacht! Zum dritten Mahl hab’ ich voll Feuer wieder Den Morgenstern mit mattem Blick erwacht. Es locken dich die Nachtigallen Lieder, der Blüthenduft, von Lunen angelacht, So süß, als ob im Schatten dieser Bäume Endymion von ihrer Liebe träume u. s. w.23

Heinse verwendete die strenge italienische Stanze mit dem üblichen Reimschema (ABABABCC) und fünffüßigen Jamben. Er fügte hinzu, dass Wieland sich keine Sorgen über die Versifikation machen solle, denn er habe das Thema durchstudiert.24 In Wirklichkeit war ihm die kritische Stellungnahme Wielands nicht bekannt. Erst nachdem der Brief schon abgesandt war, las er Wielands Vorwort zum Idris; als Reaktion schrieb er einen neuen Brief und schickte Wieland den angekündigten Gesang: Ich las, nachdem ich meinen Brief an Sie schon auf die Post gegeben, in dem Vorwort zu Ihrem Idris: Die Schwierigkeiten würden unendlicher gewesen seyn, wenn ich mir nicht in der Länge und Kürze der Zeilen eine Freyheit erlaubt hätte, welche die Natur unsrer Sprache zu erfordern schien.25

Der Brief wurde nach dem Eintreffen des Briefes vom 6. Dezember an Gleim geschrieben, in dem Wieland sich empört über Petrons Übersetzung gezeigt hatte. Am Ende entschuldigt sich Heinse für seinen „vermaledeiten Enkolp“.26 Der Gesang enthält 42 Stanzen; diesem sollten „noch etliche 20 Gesänge weiter fortgehen“.27 Das Heldengedicht wurde aber nie zu Ende gebracht; diesen folgten nur noch ein paar Stanzen. Mit wenigen Abweichungen und einer verschie-

22 Heinse, Brief an Wieland vom 8. Dezember 1773, S. 154. 23 Heinse, Brief an Wieland vom 8. Dezember 1773, S. 154 f. 24 Vgl. Heinse, Brief an Wieland vom 8. Dezember 1773, S. 155. 25 Wilhelm Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773. In: Heinse, Sämmtliche Werke, 9. Bd., S. 156–174, hier S. 170 f. 26 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 173. 27 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 170.

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denen Zählung der Strophen wurden sie als Anhang zum Laidion gedruckt. Heinse fingierte im Roman sechs vorausliegende Strophen und begann mit der siebten (die erste des in den Briefen an Wieland angekündigten Gesanges). Die Stanzen waren wahrscheinlich Teil des Projektes der Briefe über die italienischen Dichter, die sich auf das Heldenepos konzentrieren sollten. In Begleitung von Frau von Massow hatte er sich der Lektüre Tassos und Ariostos gewidmet. In dieser Zeit entstand die Idee des Heldengedichts, das sich Klopstocks Messias (1749–1773) entgegensetzen sollte. Statt eines christlichen Epos in Hexametern wollte Heinse ein Heldengedicht schreiben, in dem die Liebesthematik, wie bei Ariosto und in der Armida-Episode des Tassos, die er als erste schon 1774 übersetzt hatte, im Zentrum stehen sollte. Klopstocks Epos zählt 20 Gesänge, wie das geplante Heldengedicht Heinses; die letzten wurden 1773 publiziert, als Heinse Wieland schrieb.

IV Heinses Briefwechsel mit Wieland als Essay über die ottava rima Der Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773 erweist sich als ein Essay über „den Bau der Stanze“.28 Hier setzt Heinse Regeln fest, die er konsequent anwendet: Im Deutschen sei die „regelmäßige italiänische Stanze“ 29 der freien vorzuziehen, ohne dass die geringste Monotonie entstehe. Wieland hatte in der Vorrede zum Idris behauptet, dass die Natur der deutschen Sprache die Freiheit der Stanze motiviert;30 Heinse meint, dass es dem Deutschen nicht an Wörtern fehle, mit denen man weibliche Reime bilden kann, die in der Stanze die Mehrheit der Reime bilden. In seinen Stanzen alternieren in den sechs ersten Versen drei weibliche und drei männliche Kadenzen (ABABAB), in den letzten zwei Versen (CC) sind die Kadenzen nur weiblich. Und wie im Italienischen bei Ariosto und Tasso keine Monotonie aus den vielen Reimen entstehe, so wirkten sie auch im Deutschen wohlklingend: Richtig ist es, daß die regelmäßige Italiänische Stanze wenigstens hundertmahl schweerer ist, als die freye Stanze im Idris; ob diese aber die Natur unsrer Sprache zu erfordern scheint – müßte wahrscheinlicher Weise durch die geringere Anzahl unsrer weiblichen dreyfachen Reime entschieden werden, denn an Wörtern fehlt’s uns nicht hauptsächlich; Nun wollt’ ich aber behaupten, daß sich der weiblichen Reime selbst im Idris wenigstens

28 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 170. 29 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 171. 30 Vgl. Wieland, Werke, Bd. 8.1, S. 533.

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eine Anzahl zu zehn Gesängen finden, ohne dadurch die geringste Monotonie entstehen sollte. Warum konnte Ariost und Tasso so vielmahl die Reime aie, ano, ante, Ente, Etto, Otto, ore, ura ita, ia und andere wiederhohlen, ohne daß man die geringste Monotonie in ihren göttlichen Gedichten bemerkt?31

Er verteidigt „den reinen wohlklingenden Vers des Ariosto“ gegen „die donnernden Beywörter Klopstocks samt dessen folternden Metris“ und die Harmonie der ottava gegen den „Schwall von Dißonanzen“, die aus einem freien Metrum entstehen.32 Die Freiheit versteht er nicht als „Quelle von musikalischen Schönheiten“.33 Er gesteht, er habe versucht, freie Stanzen zu bilden und auch „den dreyfüßigen Jamb zu gebrauchen“; sein „musikalisches Gehör“ habe aber solche Strophen nicht ausstehen können:34 „[E]s schwebte eine so verwirrte Melodie vor meinem Geiste, daß meine Phantasie den Schwindel darüber bekam“.35 Er habe so „lauter fünffüßige Jamben“ verwendet und „die Reime auf einerley Art“ abwechseln lassen.36 Er fügt hinzu: „weil ferner unsern Worten der Wohlklang des Italiänischen fehlt, die so glatt aus der Kehle schlüpfen – eine ausgemachte Sache für den, der nur Ohren hat, und Italiänisch aussprechen kann – hab’ ich allemahl der Zunge einen Ruhepunkt auf die vierte Sylbe gemacht, ob mir gleich die Italiänische Stanze dieses Gesetz nicht auferlegte“.37 Dass der Dichter großen Wert auf die Musik legte, bestätigt der 1795–1796 erschienene Musikroman Hildegard von Hohenthal, in dem eine Ästhetik des Gehörs entwickelt wurde, die eine große Wirkung auf Hölderlins Poetik des Wechsels der Töne ausübte.38 Schon in dieser frühen Phase steht die Musik im Zentrum seines Interesses. Er möchte aber nicht durch die Übersetzung, wie Werthes, sondern durch eigene Stanzen beweisen, dass die italienische ottava ihren Platz in der deutschen Literatur finden kann: „Dabey werd’ ich mir es zum Gesetz machen, keine einzige Stelle wißentlich, aus allen epischen Dichtern nachzuahmen, geschweige zu übersetzen; warum sollt’ ich das noch einmahl sagen, was schon vor mir vortrefflich gesagt wurde?“.39 So wundert es nicht, dass er später Ariosto und Tasso in Prosa übersetzen wird. 31 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 171. 32 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 171. 33 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 171. 34 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 171. 35 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 172. 36 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 172. 37 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 172. 38 Vgl. Ulrich Gaier, „Mein ehrlich Meister“. Hölderlin im Gespräch mit Heinse. In: Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst, hg. von Gert Theile, München 1998, S. 25–54; Ulrich Gaier, Valérie Lawitschka u. a., Hölderlin Texturen 3: Gestalten der Welt. Frankfurt 1796–1798, hg. von der Hölderlin-Gesellschaft, Tübingen 1996, S. 195–202. 39 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 172 f.

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Heinse erklärt, dass die Diktion seiner Stanzen „mehr lyrisch, als episch“ 40 sei; alles werde darin nicht aus der Perspektive eines Erzählers, sondern der Gestalten erzählt, die, wie bei Ariosto und Tasso, fast immer lyrisch sprechen: Die Diction in den Stanzen, die ich Ihnen zu übersenden mir die Freyheit nehme, ist mehr lyrisch, als episch, weil ich einen meiner Helden in der Begeisterung nicht erzählen laßen konnte, wie ich selbst erzählt haben würde; die Bradamante des Ariosto und Armida des Tasso und die Dido des Virgils sprechen fast immer lyrisch.41

Durch die Hervorhebung des Lyrischen betont er das Musikalische gegen die Dissonanz der freien Stanzen. Bereits Martin Opitz hatte die Lyrik im Sinne der Antike als musikalisches Gedicht betrachtet („Die Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kann“ 42). Auch Johann Georg Sulzer bestimmt das Lyrische in diesem Sinne: Die lyrischen Gedichte haben diese Benennung von der Lyra, oder Leyer unter deren begleitenden Klang sie bey den ältesten Griechen abgesungen wurden; […] Um also diesen allgemeinen Charakter des lyrischen zu entdeken, dürfen wir nur auf den Ursprung und die Natur des Gesanges zurük sehen. Er entsteht allemal aus der Fülle der Empfindung, und erfodert eine abwechselnde rhythmische Bewegung, die der Natur der besondern Empfindung, die ihn veranlasset, angemessen sey. Niemand erzählt, oder lehret singend, wo nicht etwa die Aeusserung einer Leidenschaft zufälliger Weise in diese Gattung fällt. Lyrische Gedichte werden deswegen allemal von einer leidenschaftlichen Laune hervorgebracht; wenigstens ist sie darin herrschend, der Verstand, oder die Vorstellungskraft aber sind da nur zufällig.43

Das Lyrische entstehe aus der Fülle der Empfindung und verstehe sich als Äußerung einer Leidenschaft. Unter lyrischer Diktion ist eine Erzählung zu verstehen, die aus der Perspektive der Empfindungen und Leidenschaften der Protagonisten erzählt wird. Heinse versetzt sich in die Rolle seines Helden, der die Geschichte als Nacherzählung mit Gefühl erzählt: Kleon ruft in der ersten Stanze den Gott des Schlafs an; er kann seit Tagen kein Auge zutun; er erklärt den Grund seiner Schlaflosigkeit, indem er von der Vergewaltigung der Geliebten erzählt. Am Ende des Briefes identifiziert sich Heinse mit der Hauptgestalt: Er erklärt Wieland, dass auch er seit einigen Nächten nicht einschlafen könne; er denkt an Frau von Massow (wie Kleon an Almina); die Stanzen, gesteht er, seien in solchen schlaflosen Nächten entstanden: „in zwo Nächten […] hab’ ich

40 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 173. 41 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 173. 42 Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey. In: Opitz, Gesammelte Werke, hg. von George Schulz-Behrend, 2. Bd.: Die Werke von 1621 bis 1626, Stuttgart 1978 ff., Teil 1, S. 369. 43 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 2. Bd., Leipzig 1774, S. 726.

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sie an meinem Klavier aus der Seele gesungen, um die Abwesenheit meiner Grazie von Massow mir zu erleichtern“.44 Auch durch seine Identifikation mit Kleon betont er, dass die Stanzen ein Produkt der Leidenschaft („aus der Seele“)45 seien. Heinses ottava erweist sich so als eine Strophe, die durch eine wohlklingende Form (fünffüßige Jamben mit einem festen Reimschema ABABABCC und dem Wechsel von weiblichen und männlichen Kadenzen) eine Geschichte (Epos) mit Leidenschaft und Empfindung (bzw. lyrisch) erzählt. Wieland schickte seine Antwort, zusammen mit den von Heinses übersandten Stanzen am 22. Dezember 1773 an Gleim mit der Bitte um Weiterleitung. Er zeigte sich empört: Die Stanzen fingen „mit einer Jouissance [an], die so unzüchtig beschrieben ist, daß der Poet nur von Hurenwirten und Bordellnymphen mit Beyfall gelesen zu werden hoffen“ 46 könne. Heinse habe „eine glühende Phantasie“ und schreibe „aus der Fülle einer äusserst erhitzten Sinnlichkeit“;47 seine Gemälde seien „kräftig und warm bis zum Brennen“;48 er behauptet, „daß er uns alle als kleine Geister ansieht und sich erstaunlich viel auf sein Feuer und sein Musicalisches Ohr zu gut thut“.49 Am 2. Januar 1774 antwortete ihm Heinse; er beharrte auf seinem Standpunkt und schickte ihm noch ein paar Stanzen: „Diese Stanzen bleiben nach meinem Plane das Schlüpfrigste vom ganzen Gedichte“.50 Er erklärte, dass er die Strophen geschrieben habe, weil er „den Muthwillen hatte; diese Scene, die auch sogar von den frömmsten Dichtern beschrieben worden, einmal mit den feurigsten Strahlen der Phantasie zu beleuchten“, weil er „die Lücken nach dem Beyspiel des Originalgenies Ariosto, nicht dulden“ konnte.51 Er habe beabsichtigt, mit Ariosto, Tasso und Plato zu konkurrieren: „Ich habe mir bey diesem Gedichte nichts weniger vorgesetzt, als mit dem Ariosto an Phantasie, dem Tasso an Schönheit des Ganzen, und mit Plato an Philosophie zu wetteifern“.52 Er zeigt sich stolz über die Verschiedenheit seiner dichterischen Konzeption von jener Wielands: „So sehr Schüler bin ich nicht mehr, daß ich nichts von der morali-

44 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 173. 45 Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 173. 46 Christoph Martin Wieland, Brief an Gleim vom 22. Dezember 1773. In: Wieland, Briefe der Weimarer Zeit, S. 211–213, hier S. 211. 47 Wieland, Brief an Gleim vom 22. Dezember 1773, S. 211. 48 Wieland, Brief an Gleim vom 22. Dezember 1773, S. 211. 49 Wieland, Brief an Gleim vom 22. Dezember 1773, S. 212 f. 50 Wilhelm Heinse, Brief an Wieland vom 2. Januar 1774. In: Heinse, Sämmtliche Werke. Briefe, Bd. 9, S. 176–184, hier S. 180. 51 Heinse, Brief an Wieland vom 2. Januar 1774, S. 180. 52 Heinse, Brief an Wieland vom 2. Januar 1774, S. 181.

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schen Schönheitslinie wißen sollte. […] Ihre Behandlung ist raisonirt, meine im Taumel der Phantasie begangen worden“.53 Das Feurige und das Leidenschaftliche der Stanzen werden gegen die vernünftige Schönheit und die Moralität Wielands verteidigt, ebenso ihre Monotonie bzw. (nach Heinse) ihr Wohlklang: Was die Form der Stanze betrift, so hab’ ich in aller Unschuld, noch ganz voll von dem Feuer, in welchem ich meine Stanzen geschrieben, in der gewöhnlichen Unbesonnenheit dabey, dahin gesagt, daß ich alles vermeiden wolle, was ich für Fehler halte; ohne daran zu denken, daß es Meister Wieland übel aufnehmen könnte, da ich weiter nichts, als Unterricht verlangte. — Den Abschnitt auf der vierten Sylbe hielt ich schon für monotonisch, eh’ ich Ihr Urtheil darüber hörte, und er wird auch im ganzen Gedichte nur da beobachtet werden, wo Personen im lyrischen Tone reden, weil die Stanze ausser ihm nothwendig unmelodisch wird, und wenn sie auch den schönsten rhetorischen Wohlklang hätte.54

In seinem weiteren Brief an Gleim wird Wieland seine Ablehnung der „Sprache des Enthusiasmus“ 55 bestätigen. Zwei Jahre später wird er aber im Merkur in seiner Ankündigung von Heinses Übersetzung des Befreyten Jerusalem die Stanzen loben; hier brauchte er aber – wie Baeumer hervorhebt 56 – Heinse als Merkur-Beiträger: Wir können mit Zuversicht hoffen, das Publikum werde dieß Anerbieten des Herrn Heinse mit Freuden annehmen, da nicht allein seine in der Iris bereits gelieferten Proben, sondern auch die, seiner Laidion angehängten, Stanzen, genugsam für die Verdienste des Mannes sprechen, der dieß, gewiß nicht leichte, Unternehmen wagt.57

V Die Laidion-Stanzen als Übersetzung der ottava rima sowie der Sinnlichkeit und Leidenschaft Ariostos Die Stanzen werden 1774 dem Briefroman Laidion beigelegt, in dem die Hetäre Laidion dem lebenden Freund Aristipp Briefe aus dem Elysium über ihre 53 Heinse, Brief an Wieland vom 2. Januar 1774, S. 183. 54 Heinse, Brief an Wieland vom 2. Januar 1774, S. 182. 55 Christoph Martin Wieland, Brief an Gleim vom 9. Januar 1774. In: Wieland, Briefe der Weimarer Zeit, S. 226. 56 Vgl. Baeumer, „Mehr als Wieland seyn!“, S. 134, Fußnote 22. 57 Christoph Martin Wieland, Anzeige. In: Der Teutsche Merkur, Mitte September 1775, zit. von Wieland, Werke, Bd. 12.1, bearb. von Peter-Henning Haischer und Tina Hartmann, Berlin/ New York 2009, S. 355.

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himmlischen Erfahrungen schickt; die Helden sind den Schriften Wielands entnommen, auch das Motiv der Totenbriefe findet seine Entsprechung in seinen Briefen von Verstorbenen an hinterlassene Freunde.58 Unter den Episoden, die den Höhepunkt von Laidions Reisebeschreibungen darstellen, ist eine eng mit den Stanzen verbunden: die Beschreibung des täglichen Bades der Verstorbenen in der Quelle der Jugend. Das Massenbad wird als Heilmittel gegen Vergänglichkeit verstanden; das Wasser gelte als Symbol der Kraft des Eros und die Schilderung des Bades der Frauen und Männer als „frühe Form eines Bacchanales“.59 Das Massenbad wird in Versen erzählt; Heinse benutzt den sechshebigen Jambus mit oder ohne Daktylen und rekurriert auf die ottave, obwohl diese im Druckbild nicht getrennt sind; er verwendet das Reimschema ABABABCC oder ABABBACC und alterniert weibliche und männliche Reime. Er verwendet diese Form, wenn auch noch nicht streng, als er die erotische Leidenschaft und den erotischen Genuss schildert: „Es tobt die Jugend — es hüpft die Seel’ in alle Nasen / Und fängt zu schmelzen an bei jedem in Ekstasen“.60 So lautet die erste Strophe: Den Hügel hinab seh’ ich im Schatten einige Tausend der ausgesuchtesten Schönheiten vom männlichen und weiblichen Geschlechte stehen – in der unverhüllten Blüthe der jugendlichen Natur, […] Jetzt stehn sie an den Ufern des Bachs – Die Locken wallen herab von Nacken bis zu Hüften, Aus Nacken und Hüften strahlt das junge Rosenblut – Die Locken flattern noch und gaukeln in den Lüften – Und jetzt umfanget sie die klare Silberfluth, Wie Balsam Wunden, fühlt sie jeder Ader Gluth; Zephyre schütteln auf sie viel süße Ströme von Düften: Die Wellen hüpfen hinauf an manche Rosenbrust, Und fachen Begierden an nach – größrer Lust bey der Lust.61

In den angefügten Stanzen sind das Motiv der nackten Schönheit und die Ekstase des erotischen Genusses intensiviert: Die ersten 34 Strophen sind ein Monolog des Kleon, der den Gott des Schlafes bittet, im Traum die Begegnung

58 Über den Laidion vgl. Otto Keller, Wilhelm Heinses Entwicklung zur Humanität. Zum Stilwandel des deutschen Romans im 18. Jahrhundert, München 1972, S. 46–66. Claudio Magris, Wilhelm Heinse, Trieste 1968, S. 51–81. Manfred Dick, Der junge Heinse in seiner Zeit, München 1980, S. 123–147. Dick behandelt die Stanzen und ihren Zusammenhang mit dem Roman (S. 141–147). 59 Dick, Der junge Heinse in seiner Zeit, S. 139. 60 Wilhelm Heinse, Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse. In: Heinse, Sämmtliche Werke. 3. Bd., hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1906, S. 1–241, hier S. 179. 61 Heinse, Laidion, S. 178 f.

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mit der Geliebten zu wiederholen. In der Nacherzählung erklärt er den Grund seiner Schlaflosigkeit: Er habe die schöne Almina an einem Wasserfall beim Baden überrascht und habe sie vergewaltigt. In den letzten 16 Stanzen wird die Bitte erfüllt: Der Traum führt Kleon zum Elysium, wo er noch einmal seine Geliebte trifft. Nach der Anrufung des Schlafgottes wird Kleon im Halbschlaf von den Erinnerungen an Almina und seinem erotischen Erlebnis überwältigt. Er betrachtet verborgen das Mädchen, das sich zum Bade vorbereitet; sein Geist brennt vor Leidenschaft. In den folgenden Strophen werden die Bezüge auf den elften Gesang des Orlando Furioso explizit: 14. O! wenn einst so, Praxitels Venus, Phryne So zaubervoll im Bad sich sehen ließ, Und Jugendglanz und Charitinnenmiene Olympien in höchster Schönheit wies – Zu größerm Reiz in ihrer Rosenbühne Ein Zephyr so um sie die Blumen blies – Das Wasser sie aus blonden Locken schäumte In Unschuld so, als ob sie lächelnd träumte –62

Den Gesang kommentiert Heinse in seiner Rezension Über Mauvillons angefangene Übersetzung des Orlando Furioso folgendermaßen: Im elften Gesang erlößt der starke Roland die unglückliche Olimpia von dem Seeungeheuer, dem sie eben so nackend wie Angelica war ausgesetzt worden. Als er damit fertig ist, so kömmt der junge König von Irrland dazu, den die Nachricht von dieser That herbeygeführt, erblickt noch die Olimpia in unverhüllter Schönheit, und betrachtet sie hin und her sich drehend und windend, um sich zu verbergen, indeß ihm Roland ihre traurigen Begebenheiten erzählt, in der reizendsten Schaam von oben bis unten, und entbrennt in sie für Liebe. Ariost schildert in dieser Szene die Olimpia folgendergestalt.63

Es folgt Heinses Übersetzung (in Prosa) der Stanzen 65, 66 und der „Beschreibung von den Schönheiten der Olimpia“ 64 (68, 69), in denen der König von Irland der gefesselten Olimpia gegenübersteht; diese dienten als Hauptquelle für die Laidion-Stanzen 12–16, wie schon Dietrich beobachtet hat.65 Die Gegenüberstellung der Stanzen Ariostos und Heinses gilt als Beweis:

62 Heinse, Laidion, S. 201. 63 Wilhelm Heinse, Ueber Herrn Mauvillons angefangene Uebersetzung des Orlando Furioso. In: Heinse, Werke, 3. Bd., S. 513–533, hier S. 528 f. 64 Heinse, Ueber Herrn Mauvillons angefangene Uebersetzung des Orlando Furioso, S. 529. 65 Wolfgang Dietrich, Die erotische Novelle in Stanzen. Ihre Entwicklung in Italien (1340– 1789) und Deutschland (1773–1810), Frankfurt am Main/Bern/New York 1985, S. 31–81. Über die Bezüge zu Ariosto insb. S. 39–60.

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12. Wie Sonnenbild, bey einem Sommerregen, Strahlt ihre Brust im klaren Quell hervor. Jetzt wallet sie von sanften Wellenschlägen Gehoben aus der Perlenfluth empor – Und jetzt der Leib, den Rosenfinger pflegen, Wobei der Schwan den weißen Glanz verlor – Und jetzt – o hätt’ ich hundert tausend Augen, Um, was ich sah, so vielmal einzusaugen!66 Ihr schönes Gesicht war, wie zuweilen der Himmel im Frühling zu seyn pflegt, wann der Regen fällt, und zugleich die Sonne von dem Nebelschleyer um sie herum sich losmacht: […] Die ründlichen Brüste schienen frische süße Milch, die du so eben aus dem Hafen schüttest; und weiter hinab waren die Theile, die der Rock zu bedecken pflegte. Von so großer Fürtreflichkeit, daß sie vielleicht vorgezogen werden konnten soviel deren die Welt hatte. Sie übertrafen an Weiße den unberührten Schnee, und waren glatter wie Elfenbein zu befühlen. Die schönen Hüften, der Spiegelreine junge Bauch, und die weißen Schenkel schienen von Phidias oder von geschicktrer Hand ausgearbeitet zu seyn.67

Darüber hinaus wurde Heinse auch von der Beschreibung der schönen Alcina im siebten Gesang (12–13) inspiriert.68 Auch die Schilderung des Liebeskampfes zwischen Kleon und Almina (25–27) entnahm er dem Orlando Furioso. Die sieben Verse, in denen sich die Vergewaltigung vollzieht, werden im Roman durch Striche ersetzt, in der Korrespondenz mit Wieland waren sie erhalten. Die Vergewaltigung vergleicht Kleon mit Sturm, Donner und Regen: Sie kämpfte noch, und meine Seelen irrten, Von diesem Kampf zum höchsten Sturm geschreckt, Voll Wuth herum, daß alle Nerven girrten, Verwundet schon mit süßem Blut befleckt – Und endlich brach, nach hundert Donnerschlägen, Im Sturm hervor entzückend süßer Regen. Gleich Blitzen flammen um die Lippen Küße – Auf jede Stille folgt ein Donnerschlag – Es spritzt das Blut der tollen Liebesbiße – Die Trunkenheit von Wonne raubt den Tag Den Augen, macht, daß Hände, Leib und Füße – Ein jedes voll verzückter Seelen lag, Vom Nektar der Empfindungen durchfloßen, Die Amor in die Flammen ausgegoßen.69

66 67 68 69

Heinse, Laidion, S. 200 f. Heinse, Ueber Herrn Mauvillons angefangne Uebersetzung des Orlando Furioso, S. 529. Vgl. Dietrich, Die erotische Novelle, S. 40–45. Heinse, Brief an Wieland vom 10./11. Dezember 1773, S. 162 f.

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Als Quelle galt hier wahrscheinlich – so schon Dietrich70 – die Novelle von Fiordispina und Ricciardetto (XXV, 68), obwohl Ariosto das Liebespiel mit einer Festungsbelagerung, nicht mit einem Gewitter vergleicht. Heinse ließ sich durch solche Episoden inspirieren, in denen die sinnlichen Kräfte, die Leidenschaft und der Eros im Vordergrund stehen. Die ottava rima galt in der italienischen Literatur als die epische Strophenform par excellence. Durch Boccaccio (Filostrato, 1340) eingeführt, wurde sie dank Boiardo, Ariosto und Tasso zum Metrum des Epos. Heinse versuchte durch den Rekurs auf Ariosto seine Stanzen zu legitimieren; aus dem italienischen Epos wählte er ausschließlich jene Stellen, die die Liebesthematik behandeln; sein Verständnis der Stanze als Form des „Feuer[s]“ und der „Fülle von Gefühl“ 71 konnte er auch aus der Lektüre Angelo Polizianos und seinen Stanze per la giostra übernehmen.72 Seine Interpretation der Stanze als die metrische Form der Erotik entstand darüber hinaus aus dem Wunsch, die Distanz zu Wieland zu markieren. Das wird durch das Vorwort bestätigt, in dem der fiktive Herausgeber behauptet, dass er vom Autor „den ersten Gesang eines von ihm angefangenen Heldengedichts“ 73 bekam. Der „Autor“ der Stanzen ist laut dem Herausgeber der fiktive Übersetzer der Eleusinischen Inseln bzw. der Briefe, die Lais auf Altgriechisch abgefasst hatte und die der Stifter eines neapolitanischen Klosters im 16. Jahrhundert aus einer lateinischen Übersetzung ins Toskanische übersetzte; alle Exemplare im Toskanischen gingen aber verloren; gerettet wurde nur eine von einem Mönch des Klosters verfasste Übersetzung ins Neugriechische, die ins Deutsche übersetzt wurde. Die Inspirationsquelle der Stanzen ist so auf autorfiktionaler Ebene eine Pseudoübersetzung; der Übersetzer wird im Anhang zum Autor eines selbstverfassten Gedichts, das er an seine Laidion schreibt. Das beweist, dass die Übersetzung eine wichtige Rolle in der Poetologie Heinses spielt: Textintern inspiriert eine Übersetzung die Stanzen, textextern werden die Stanzen als Auseinandersetzung mit der italienischen Strophe des Epos und selbst als Übersetzung der italienischen Form der Stanze ins Deutsche die Übersetzung des Ariosts und des Tasso inspirieren. Die Zweifel an den Stanzen, die der Herausgeber äußert, spiegeln Wielands Position wider; Heinse spielt mit den Instanzen Verfasser, Herausgeber, Übersetzer und setzt sich an die Stelle des einen oder anderen:

70 Vgl. Dietrich, Die erotische Novelle, S. 57–60. 71 Wilhelm Heinse, Sämmtliche Werke, Bd. 8.2, hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1925, Reprint München 1977, S. 45. 72 Über die ottava rima vgl. Pietro G. Beltrami, La metrica italiana, Bologna 1991, S. 109–112, S. 321–324. 73 Heinse, Laidion, S. 197.

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Der Verfasser hatte, vielleicht ohne Noth, sich Schwierigkeiten dabey in den Weg gelegt, die mir unübersteiglich schienen; er hatte die regelmäßige Form der italienischen Stanze, mit fünf weiblichen Reimen, dazu gewählt, und wollte noch überdies allezeit den Abschnitt nach der vierten Sylbe bey den Stanzen beobachten, wo Personen in lyrischer Begeistrung reden. Ich schrieb ihm, daß ich glaubte, die Natur unsrer Sprache werd’ es ihm unmöglich machen alle diese Schwierigkeiten zu überwinden.74

Das Lob des Herausgebers fand aber keine Entsprechung in der Wirklichkeit; er meint, dass die Gesetze, die er [der Dichter; E. P.] sich dabey auferlegt, zwar schwer zu erfüllen, aber seiner Meinung nach, bey einem ernsthaften epischen Gedichte, das in gereimten Versen sollte geschrieben werden, unvermeidlich wären. Die ungleichen Jamben seyen ganz wider die Majestät desselben, und die schöne Einheit der Melodie, in welcher alle guten epischen Dichter gesungen, müsse nothwendig beybehalten werden; und ohne den Abschnitt könne die Stanze zwar den schönsten rhetorischen Wohlklang, aber nicht wohl, bey der deutschen Sprache, den musikalischen haben.75

Er verteidigt die Regelmäßigkeit der Stanze als Quelle und Voraussetzung der Melodie und des Musikalischen und betont, dass die strenge Stanze das Metrum für jedes ernsthafte Epos sein muss, während die freie Stanze Wielands nur „bey komischen Gedichten“ zu verwenden sei: „Bei komischen Gedichten hingegen sey es ganz anders. Der in jeder Stanze veränderte Takt scheint hier bisweilen so gar nothwendig zu seyn, wie bey den Arien einer Opera Buffa, und schicke sich unvergeblich zu der verschiedenen Abwechselung von Scenen, die diese Art von Gedichten erfodre“.76 Was das bedeutet, erklärt Heinse in den Erzählungen für junge Damen und Dichter (1775), in denen er die in freien Stanzen verfasste Verserzählung Wielands Aurora und Cephalus mit derselben Episode vergleicht, die Ariosto im 43. Gesang des Orlando Furioso verarbeitet hatte.77 Er gründet den Gegensatz zwischen Wieland und Ariost auf die Unterscheidung von Satire einerseits und Genie, tiefer Empfindung und Leidenschaft andererseits. Wieland hatte in seine Verserzählung ironische Kommentare eingefügt: „Ariost dringt geradezu in’s Herz. Die Leidenschaft ist mit so starken Meisterzügen geschildert, nicht gemalt, sondern ausgegraben […] Wielands Beschreibung dieser Scene ist die schönste Poesie, man muß bedenken, daß er diese Geschichte nicht rührend, sondern komisch erzählen wollte, und folglich dieses

74 Heinse, Laidion, S. 197. 75 Heinse, Laidion, S. 198. 76 Heinse, Laidion, S. 198. 77 Vgl. Wilhelm Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter gesammelt und mit Anmerkungen begleitet, 1. Bd., Lemgo 1775, S. 60–72.

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Moment nicht, wie Ariost, behandeln konnte“.78 Das Komische bedeutet Spott, Satire, Parodie, verstandesmäßige Empfindung; Wieland sei ein Meister „in Anlegung und Bearbeitung des Dialogs“;79 seine Poesie sei aber „ohne Genie, bloß durch Kunst“.80 Ihm setzt er das ernsthafte Epos Ariostos entgegen, das „Rührung“ 81 hervorruft und Empfindung und Leidenschaft zeigt.82 Auch Wielands Endymion, der in demselben Band erscheint, wird mit einem italienischen Epos bzw. mit Alessandro Tassonis La secchia rapita (1622) verglichen. Heinse übersetzt die „Tassonischen Stanzen“ 83 und bestimmt auch diese als die „Sprache der Liebe“ 84 und der Leidenschaft („Tassoni dringt immer nach und nach, ohne abzulassen, tiefer hinein“ 85).

VI Die fortuna von Heinses Stanzen: der junge Goethe und die romantische Übersetzungskunst von August Wilhelm Schlegel und Johann Diederich Gries Am 4. Juli 1774 schrieb Goethe an Schönborn über den Laidion: „Es ist mit der blühendsten Schwärmerei der geilen Grazien geschrieben und lässt Wieland und Jacobi weit hinter sich […] Hintenan sind Ottave angedruckt, die alles übertreffen, was je mit Schmelzfarben gemalt worden“.86 Und in einem weiteren Brief heißt es: „Eine solche Fülle hat sich mir so leicht nicht dargestellt. Ich halte dafür, daß sich nichts über ihn sagen läßt. Man muß ihn bewundern oder mit ihm wetteifern“.87 Goethe lobte die Stanzen und pries ihre „Jouissance“:

78 Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter, S. 63. 79 Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter, S. 67. 80 Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter, S. 64. 81 Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter, S. 66. 82 Vgl. darüber schon Baeumer, „Mehr als Wieland seyn!“, S. 141 f. 83 Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter, S. 99. 84 Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter, S. 103. 85 Heinse, Erzählungen für junge Damen und Dichter, S. 103. 86 Johann Wolfgang Goethe, Brief an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn vom 4. Juli 1774. In: Goethe, Werke, IV. Abt., 2. Bd., Weimar 1887, S. 176. 87 Johann Wolfgang Goethe, Brief an eine Frankfurter Freundin vom Ende Juni 1774. In: Goethe, Werke, IV. Abt., 2. Bd., Weimar 1887, S. 170.

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Es wird schon eingreifen, sowie die Vorrede zum Petron, ob’s gleich was ganz Anderes ist, laßt die Leute raisonniren, was sie wollen, sie machen uns unsre Leute damit nicht anders; in den Charakteren ist hier und da ein bischen gelogen, aber mich hat’s entzückt. Und was die Stanzen betrifft, so was hab’ ich für unmöglich gehalten. Es ist weiter doch nichts als eine jouissance, aber der Teufel mach’ 50 solcher Stanzen nach; kurz ich darf nichts darüber sagen; es ist so Vieles darin, was nicht anders ist, als ob ich’s selbst geschrieben hätte.88

Für den jungen Goethe symbolisierten die Stanzen die Fülle und Vitalität der Poesie. Heinse wiederholte begeistert in einem Brief das Urteil Goethes.89 Hier berichtete er auch, dass Goethe ihn in Gegensatz zu Wieland setzte: „Der kennt den Menschen besser, als Wieland, da er seinen berühmten Brief darüber schrieb“.90 Goethe war über das vernichtende Urteil Wielands informiert, aber auch über seinen Widerruf: Im Brief an Jacobi vom 28. Mai 1774, in dessen Haus Heinse seit kurzem lebte, hatte Wieland gutmütige Worte verwendet, in der Hoffnung, dass dieser ihm Material für den Merkur lieferte. Die Goethe zugeschriebene und von Heinse wiedergegebene Version des Urteils Wielands enthält aber ein Lob Heinses, der in dem Originaltext – so schon Baeumer91 – nicht zu finden ist: „Heinse ist ein herrliches Genie. – Laidion ist ein schönes Ungeheuer […] Viele seiner Stanzen sind unsäglich schön, man muß ihn bewundern – Das ist was anders, als Stanzen von Werthes“.92 Heinses Stanzen wurden für den jungen Goethe und die Dichtergeneration des Sturm und Drang zum Symbol einer neuen Dichtung. So schrieb Johann Heinrich Merck: „Die Verse aber, die hinten angehängt sind, übertreffen nach meiner Meinung an Politur und Feinheit alles, was ich je von dieser Art gesehen habe“.93 Im März war Goethes Götter, Helden und Wieland. Eine Farce erschienen; 1774 ist auch das Jahr, in dem die erste Fassung des Werther erschien. Goethe wird Stanzen verfassen, zum Beispiel in der Zueignung zum Faust I, in dem Fragment gebliebenen Epos Die Geheimnisse und in dem erotischen Stanzengedicht Das Tagebuch.94 Die fortuna von Heinses Stanzen geht aber über die Generation des Sturm und Drang hinaus. 1794, zwanzig Jahre nach Werthes, wird im Neuen Teutschen

88 Goethe, Brief an eine Frankfurter Freundin vom Ende Juni 1774, S. 323. 89 Wilhelm Heinse, Brief an Schmidt vom 13. Oktober 1774. In: Heinse, Sämmtliche Werke, 9. Bd., S. 228. 90 Heinse, Brief an Schmidt vom 13. Oktober 1774, S. 228. 91 Vgl. Baeumer, „Mehr als Wieland seyn“, S. 136. 92 Heinse, Brief an Schmidt vom 13. Oktober 1774, S. 228 f. 93 Zitiert nach Albert Leitzmann, Wilhelm Heinse in Zeugnissen seiner Zeitgenossen, Jena 1938, S. 11. 94 Zu Goethes Tagebuch vgl. Dietrich, Die erotische Novelle, S. 83–114.

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Merkur die Probe einer neuen Uebersetzung des Orlando Furioso in reimfreyen jambischen Stanzen durch Samuel Christoph Abraham Lütkemüller95 erscheinen.96 Den Höhepunkt in der Nachahmung der italienischen Stanze wird aber auf deutschem Boden erst Gries in seinen Übersetzungen Tassos und Ariostos erreichen.97 Schlegel wird Gries’ ottava rima zum Muster romantischer Übersetzungskunst erheben; die formale Strenge seiner Stanze, die das italienische Reimschema einhält und in den ersten sechs Versen stets weibliche mit männlichen Kadenzen alternieren lässt,98 galt ihm auch als Vorwurf gegen Wieland. Schon im Athenäum hatte Schlegel in seiner Einführung zu seiner Übersetzung des 11. Gesangs des Rasenden Rolands festgestellt, dass Ariost „in ottave rime, und zwar in wirklichen, nicht in solchen, die man nur so zu nennen beliebt“,99 übersetzt werden müsse. Diese reinen Stanzen fand er in Gries’ Übersetzung wieder. Gries verwendete aber dieselbe Kadenzfolge wie die Laidion-Stanzen. Der Höhepunkt der romantischen Übersetzungskunst fand seinen Ursprung bei Heinse.

95 Vgl. Ludovico Ariosto: Proben einer neuen Uebersetzung des Orlando Furioso in reimfreyen jambischen Stanzen, von Samuel Christoph Abraham Lütkemüller. In: Teutscher Merkur 2, 1794, S. 43–72. 96 Vgl. Christoph Martin Wieland: Einleitung zu Proben einer neuen Übersetzung des Orlando Furioso in reimfreyen jambischen Stanzen. In: Neuer Teutscher Merkur 2, 1794, S. 43–72. Hierzu vgl. Gabriele Kroes, Zur Geschichte der deutschen Übersetzungen von Ariosts Orlando Furioso. In: Italienische Literatur in deutscher Sprache: Bilanz und Perspektiven, hg. von Reinhard Klesczewski und Bernhard König, Tübingen 1990, S. 11–26. 97 Vgl. Ludovico Ariosto, Rasender Roland, übers. von Johann Diederich Gries, 4 Bde., Jena 1804–1808. Torquato Tasso, Befreites Jerusalem, übers. von Johann Diederich Gries, 4 Bde., Jena 1800–1803. Über die Übersetzungen Gries’ und die Beziehung zur Romantik vgl. Elena Polledri, „Uebersetzungen sind [philologische] Mimen“. Friedrich Schlegels Philologie und die Übersetzungen von Johann Diederich Gries. In: Friedrich Schlegel und die Philologie, hg. von Ulrich Breuer, Remigius Bunia und Armin Erlinghagen, Paderborn 2013, S. 165–187. 98 Vgl. die 1810 in den Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur erschienene lobende Rezension von Gries’ Roland (August Wilhelm Schlegel, Ludovico Ariosto’s Rasender Roland. In: Schlegel, Sämmtliche Werke, 11. Bd., hg. von Eduard Böcking, Leizpig 1847, S. 243–288). Über diese Rezension sowie über Wielands Autorität bei Tasso-Übersetzern vgl. Dieter Martin, Der „große Kenner der Deutschen Ottave Rime“. Wielands Autorität bei Tasso-Übersetzern um 1800. In: Wieland-Studien, 3, 1996, S. 194–215. 99 August Wilhelm Schlegel, Der rasende Roland. Elfter Gesang. In: Athenäum, 2. Bd., Berlin 1799, Fotomech. Nachdr., Darmstadt 1960, S. 244–284, hier S. 278.

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VII Tasso und Ariosto in Prosa und der Verzicht auf die Stanze In Jacobis Iris erschienen 1774 Das Leben des Torquato Tasso und Heinses Übersetzung der Armida-Episode.100 1777 wurde im Merkur seine Orlando-Probe und seine Satire auf Mauvillons Fassung publiziert.101 1782–1783 erschien seine Übersetzung des Epos.102 Die Übersetzung des befreyten Jerusalems wurde 1781 veröffentlicht.103 Er übersetzte aber die Epen in Prosa, denn er sah in der Übersetzung die Strenge der Versform als ein Joch, das das Genie der italienischen Dichter unterdrücke: Welch ein abentheuerlicher Einfall: erst jede Stanze, wie sie ist, übersetzen, und dann, einzeln, in diese das schwere achtzeillichte Sylbenmaaß mit drey rein klingenden deutschen weiblichen Reimen, und drey männlichen, nebst zwey weiblichen wieder, wovon noch keiner zu hören und zu sehen ist, hineinbannen und bändigen und ans Joch würgen, ohne weiter etwas von sich hinzuthun; und so fünftausend Stanzen nach einander fort mit immer vorgeschriebenen Sylbenmaaß und Sinn endreimen wollen, bey dem allerfreyesten Kunstwerk der Phantasie, das immer sich dahin schwingt, wie ein Adler im Flug; und sich Glück versprechen!104

Heinse verzichtete auf die Stanzenform, denn er erkannte, dass eine dialogische Übersetzung, in der Inhalt und Form in einem Text treu wiedergeben werden, unmöglich ist; er spaltete das Original auf mehrere Übersetzungsprojekte auf, denn er konnte das Metrum und die Semantik des italienischen Epos nicht in einen deutschen Text übersetzen; die Prosa-Übersetzung erlaubte ihm, den Ton des Originals zu bewahren, die Stanzen bildeten den Raum für die Übertragung metrischer und motivischer Aspekte des Originals. In seinen Übersetzungen gingen Reim und Rhythmus des Originals verloren. In seinen erotischen Stanzen zeigte er aber nicht nur, dass er die ottava rima ins Deutsche überset-

100 Vgl. Torquato Tasso, Armida, oder Auszug aus dem befreyten Jerusalem des Tasso, übers. von Wilhelm Heinse. In: Iris 1, 1774, S. 15–22; 2, 1775, S. 83–105. 101 Vgl. Ludovico Ariosto, Ariosts Zwietracht. Probe von Heinses Übersetzung des wüthenden Roland. Gesang 14, Stanze 68. In: Teutscher Merkur 2, 1777, S. 39–47. 1776 war in Iris der erste Gesang erschienen: Ludovico Ariosto, Erster Gesang von Ariosts wüthendem Roland, übers. von Wilhelm Heinse. In: Iris 8, 3, 1776, S. 897–924. 102 Vgl. Ludovico Ariosto, Roland der Wüthende. Ein Heldengedicht von Ludwig Ariost dem Göttlichen, übers. von Johann Jacob Wilhelm Heinse, 4 Theile, Hannover 1782–1783. 103 Vgl. Torquato Tasso, Das befreyte Jerusalem von Torquato Tasso, übers. von Johann Jacob Wilhelm Heinse, 4 Bde., Mannheim 1781. Über Heinses Übersetzungen Tassos und Ariostos vgl. Polledri, Die Aufgabe des Übersetzers, S. 153–172. 104 Heinse, Brief an Gleim vom 24. Januar 1779, S. 400.

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zen konnte, sondern auch, dass er darin die beste Form gefunden hatte, um den Eros in der Dichtung darzustellen. „Werden erotische Dinge vorgetragen in einer arabeskenhaften Form, als welche die Aufmerksamkeit des Lesers durch klangliche Kunstgriffe, wie die dreimalige Wiederkehr desselben Reims, weckt und beansprucht, so erscheint sofort der Inhalt als ein Spiel, als eine Sache der man gleichsam zusieht, die man arrangiert als ein mit romantischer Ironie angeschautes Faktum“,105 stellt Friedrich Gundolf über die ottava fest. Das beweisen Heinses Stanzen exemplarisch.

Bibliographie Quellen Briefe zwischen Gleim, Wilhelm Heinse und Johann von Müller, hg. von Wilhelm Körte, Zürich 1806. Goethe, Johann Wolfgang, Werke (= Weimarer Ausgabe), IV Abt., 2. Bd., Weimar 1887. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Der Messias. Ein Heldengedicht, Halle 1749–1773. Heinse, Wilhelm, Erzählungen für junge Damen und Dichter gesammelt und mit Anmerkungen begleitet, Lemgo 1775. Heinse, Wilhelm, Leben des Torquato Tasso. In: Iris I.1, 1774, S. 33–78; I.2, 1774, S. 3–52. Heinse, Wilhelm, Ardinghello und die glückseligen Inseln, Leipzig 1961. Heinse, Wilhelm, Sämmtliche Werke. hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1902–1925. Opitz, Martin, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. von George Schulz-Behrend, 2. Bd.: Die Werke von 1621 bis 1626. Teil 1, Stuttgart 1978. Schlegel, August Wilhelm, Sämmtliche Werke, 11. Bd., hg. von Eduard Böcking, Leizpig 1847. Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Leipzig 1771–1774. Wieland, Christoph Martin, Werke, Bd. 8.1, hg. von Klaus Manger, Berlin 2008. Wieland, Christoph Martin, Werke, Bd. 12.1, bearb. von Peter-Henning Haischer und Tina Hartmann, Berlin 2009. Wieland, Christoph Martin, Briefe der Erfurter Dozentenjahre, 4. Bd., bearb. von Annerose Schneider, Berlin 1979. Wieland, Christoph Martin, Briefe der Weimarer Zeit, 5. Bd., bearb. von Hans Werner Seiffert, Berlin 1983.

Übersetzungen und Rezensionen Ariosto, Ludovico, Drey Gesänge vom Rasenden Rolandt, übers. von Diederich von dem Werder, Leipzig 1634. Ariosto, Ludovico, Versuch einer Uebersetzung des Orlando Furioso, von Friedrich August Wilhelm Werthes, mit einem Vorbericht und Anmerkungen von Wieland. In: Teutscher Merkur, 2, 1774, S. 288–320.

105 Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1918, S. 438.

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Jens Baggesen und die Begeisterung als Legitimierung des kreativen Übersetzens Bearbeitende Übersetzungen, die den Text der Vorlage änderten, um ihn dadurch vermeintlich bruchloser in die Zielsprache zu überführen, waren im 18. Jahrhundert von den Poetiken der Zeit autorisiert. Unterschiede stilistischer und formaler Art, die durch sprachliche und kulturelle Gegebenheiten bedingt waren, konnten als austauschbare Einkleidungsformen betrachtet und infolgedessen vom Übersetzer zu Gunsten einer postulierten Wirkungstreue (statt einer Worttreue) eingeebnet werden. Auch die ‚Verbesserung‘ des Originals durch eine kreative Übersetzung galt als angemessen. Die zunehmende Entfernung vom rationalistischen Sprachkonzept der Aufklärung in Richtung eines gesteigerten Interesses für die Historizität und Fremdheit der Vorlagen1 führte allerdings um 1800 zu einem Paradigmenwechsel,2 der auch mit den nationalen Tendenzen dieser Zeit zusammenhing. Literatur wurde als Ausdruck der nationalen Selbstvervollkommnung aufgefasst, und das Postulat der Übersetzertreue galt als ein Ausdruck des Respekts vor dem ‚Geist‘ der Nation, aus deren Sprache übersetzt wurde. Dennoch wurde die Praxis des adaptierenden Übersetzens nicht sofort aufgegeben. Sie wurde allerdings mit neuen kulturpolitischen Argumenten legitimiert. Diese Übergangsphase macht sich insbesondere beim „SchriftstellerÜbersetzer“ bemerkbar, einem Typus, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer häufiger anzutreffen ist.3 Dieser erklärt sein adaptierendes Übersetzungsverfahren genau wie sein eigenes schöpferisches Wirken als Autor poetologisch, insofern beide den gleichen Gesetzen der Inspiration gehorchen. Denn der ideale Übersetzer vereint in sich „Qualitäten des Philosophen, des Dichters und des Philologen […], er ist, analog zum Originalgenie, im Besitz

1 Zu den einzelnen Stationen dieses Transformationsprozesses vgl. Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S. 36–89; Anneliese Senger, Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert (1734–1746), Bonn 1971. 2 Josefine Kitzbichler, Von 1800 bis Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz, Nina Mindt, Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800, Berlin/ New York 2009, S. 15–27. 3 Reinhard Tgahrt (Hg.), Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes, Marbach 1982, S. 54. https://doi.org/10.1515/9783110542202-006

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einer Kunst, die, im Gegensatz zur Aufklärung, als nicht mehr lehrbar gilt“.4 Übersetzung und Autorinszenierung sind dabei also eng mit einander verbunden. Unter den Voraussetzungen der Inspiration nimmt seit der Entwicklung der Odentheorie ab der Mitte des 18. Jahrhunderts der Enthusiasmus eine zentrale Rolle ein. Ergriffenheit als notwendige Voraussetzung der Inspiration dient jedoch nicht nur der Legitimierung der Kreativität, sondern auch der Idee des Nationalen, die Begeisterung hervorrufen soll. Für die Schriftsteller-Übersetzer stellt sich die Frage, inwiefern der Enthusiasmus dazu verhilft, sich in eine fremde Sprache und Kultur hineinzuversetzen und dann diese Erfahrung in der Zielsprache wiederzugeben, um diese durch Nachbildung zu bereichern, ohne sich der eigenen Nation zu entfremden. Geht die bardenartige Begeisterung des Übersetzers über das mühsame Feilen hinaus? Und ist der kreative Übersetzer nach der Vertiefung in den ‚Geist‘ der fremden Sprache immer noch ein treuer Bürger seiner Nation? Diese Probleme stellten sich dem deutsch-dänischen Schriftsteller und Übersetzer Jens Baggesen (1775–1826), einem Grenzgänger zwischen Sprachen, Literaturströmungen und Kulturen,5 ganz akut. Von seinen Lösungsversuchen soll im Folgenden die Rede sein.

I Zwischen Voß und Stolberg: die Rolle der Begeisterung bei Hexameterübersetzungen Die kulturelle, soziale und geographische Mobilität des polyglotten Jens Baggesen prädisponierte ihn in besonderem Maße zu Legitimationsversuchen seiner

4 Peter Kofler, Übersetzung und Modellbildung: Klassizistische und antiklassizistische Paradigmen für die Entwicklung deutscher Literatur im 18. Jahrhundert. In: Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hg. von Harald Kittel et al., Berlin/New York 2007, Bd. 2, S. 1725, Sp. 1. Vgl. auch Andreas F. Kelletat, Herder und die Weltliteratur. Zur Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main/ Bern/New York/Nancy 1984, S. 169. 5 Zum Grenzgängertum Baggesens vgl. Anna Sandberg, En grænsegænger mellem oplysning og romantik: Jens Baggesens tyske forfatterskab, Kopenhagen 2015; Anna Sandberg, Svend Skriver (Hg.), Jens Baggesens liv og værk. Hellerup 2010; Anna Sandberg, Frankreich als Imagination und Realität in Kopenhagen um 1800. Malthe Konrad Bruun und Jens Baggesen als Mittler im dänisch-deutsch-französischen Kulturtransfer. In: Kulturelle Dreiecksbeziehungen. Aspekte der Kulturvermittlung zwischen Frankreich, Deutschland und Dänemark in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. von Karin Hoff, Udo Schöning und Per Øhrgaard, Würzburg 2013, S. 47–76; Karin Hoff, Anna Sandberg, Gute Europäer um 1800. Beiträge anlässlich des

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Vermittlerposition. Aus einfachen Verhältnissen stammend, genoss Baggesen außer dem Besuch der Lateinschule keine formale Ausbildung und bekam auch keine festen Anstellungen. Er wurde allerdings von adeligen Gönnern finanziert, deren Orientierung am Bildungsideal der deutschen Klassik6 im damaligen Kopenhagen ihn dauerhaft prägte. Die Nähe zum bürgerlich-adeligen Kreis um den Grafen Heinrich Ernst von Schimmelmann, dem Herzog Friedrich Christian II. von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg und den Ministern Peter Andreas Bernstorff und Christian Ditlev Reventlow ließ ihn zum Teil auch auf Deutsch schreiben. Sie brachte ihn aber im Zeitalter der Emanzipation des dänisch-norwegischen Bürgertums auch in Konflikt mit den einflussreichsten dänischen Literaturkritikern (u. a. Peter Andreas Heiberg, Knud Lyne Rahbek und Peder Hjort), die sich gegen die deutsche Kulturhegemonie richteten. Nach seinem literarischen Durchbruch mit dänischen humoristischen Erzählungen im Stil von Christoph Martin Wieland sowie mit Versen, die von den Dänen Johan Herman Wessel und Johannes Ewald inspiriert waren, gewann Baggesen 1789 die Anerkennung der dänischen Intellektuellen durch seine Übersetzung des Romans Nicolai Klimii Iter Subterraneum (Niels Klims unterirdische Reise, 1741) von Ludvig Holberg aus dem Lateinischen ins Dänische.7 Diese erschien in einer von Nicolai Abraham Abildgaard und Frederik Clemens illustrierten Prachtausgabe und wurde von den Zeitgenossen als kongeniales Sprachmonument empfunden, da sie die Aktualität der satirischen und utopischen Reisebeschreibung Holbergs unterstrich. Durch die kreative Modernisierung der Sprache befreite Baggesens Niels Klim den Text von seiner ursprünglichen Ästhetik des Nutzens. Außerdem integrierte Baggesen die vielen Verszitate, die ein dichtes intertextuelles Netz im ganzen Roman bilden, gelungener in den Prosatext, als es im Original der Fall gewesen war, indem er mehr auf die Wirkung als auf die wörtliche Genauigkeit von Passagen achtete, die im Dänischen nicht als klassische Zitate erkennbar gewesen wären.8 Die zeitgenössischen Rezensenten kommentierten, dass der Text dadurch modernisiert worden sei, und Baggesen den Inhalt des Originals so ausgedrückt habe, wie ihn ein zeitgenössischer dänischer Autor ausgedrückt hätte.9 Baggesen selbst

250. Geburtstags von Jens Baggesen. In: European Journal of Scandinavian Studies, 44.2, 2014, S. 248–252. 6 Vgl. Dieter Lohmeier, Kopenhagen als kulturelles Zentrum der Goethezeit. In: Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften, hg. von Heinrich Detering, Göttingen 1996, S. 78– 95. 7 Ludvig Holberg, Niels Klims Underjordiske Reise. Oversat af J. Baggesen, København 1789. 8 Vgl. Leif Ludwig Albertsen, Niels Klim 1789, København 1972 (Baggeseniana), S. 16 ff. 9 Vgl. die Beispiele in Albertsen, Niels Klim 1789, S. 17 und S. 20–24.

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betrachtete diese Übersetzung als eine Aneignung und Niels Klim als sein eigenes Werk: in einer Widmung an seinen Sohn August nannte er Niels Klim sein kostbarstes und bestes dänisches Buch.10 Seine dänische Übersetzung der lateinischen Hexameter aus Niels Klim betrachtete Baggesen außerdem stolz als Pionierleistung. Als er später in Deutschland Johann Heinrich Voß kennenlernte, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte,11 ließ er sich deren Qualität bestätigen: „Es kitzelte mich nicht wenig, dass er die meisten der Hexameter, die hier und da in der Übersetzung des Klim eingestreut sind, vollkommen richtig fand und meine Theorie zu dieser Versart durch seinen entschiedenen Beifall in allem bestätigte“.12 In den Diskussionen mit Voß über die besondere Eignung des Dänischen und Deutschen für das Verfassen von Hexametern versuchte Baggesen, den in Deutschland bereits seit Klopstock debattierten und von Voß neu behandelten Unterschied zwischen dem antiken Hexameter und dem deutschen Hexameter13 für die dänische Prosodie fruchtbar zu machen. Dabei ging es um den Unterschied zwischen dem griechischen Hexameter als geregelter Abfolge von langen und kurzen Silben und dem Hexameter in germanischen Sprachen mit seiner unterschiedlichen Funktion des Akzents. Wie im Deutschen ist auch im Dänischen aufgrund des Akzents auf der Wurzelsilbe eine Trennung von Wortund Versakzent in der Regel nicht möglich. Nicht Länge und Kürze, sondern die schwache oder starke Betonung der Silben nach dem natürlichen Akzent ergeben den Rhythmus, der dadurch auch stärker an die Inhalte der Wörter gebunden ist. Die Überzeugung, dass der Akzent der Wörter nicht zu Gunsten des Versschemas aufgegeben werden darf, war für Baggesens Theorie des Griechisch-

10 Abgedruckt wird die Widmung von 1825 u. a. in: Albertsen, Niels Klim 1789, S. 35. 11 Vgl. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann, Jens Baggesen und Johann Heinrich Voß. Zur Freundschaft zweier Kritiker der Romantik. In: Einst in Penzlin daheim – heute in der deutschen Literatur zu Hause. Perspektiven auf den Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Johann Heinrich Voß, hg. von Hans-Joachim Kertscher und Andrea Rudolph, Dettelbach 2014, S. 309–329. 12 Jens Baggesen, Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland in die Schweiz 1789, übers. von Gisela Perlet, München 1986, S. 42. 13 Zur Entwicklung der deutschen Hexametertheorie s. Günter Häntzschel, Johann Heinrich Voß: seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung, München 1977 (Zetemata. Monographien zur Klassischen Altertumswissenschaft 68), S. 53 f. Zur dänischen Hexameterdichtung vgl. Kai Møller Nielsen, Homeroversættelser og heksameterdigte: linjer gennem den danske litteraturs historie, Odense 1974, bes. Kap. 5. Møller Nielsen zeigt, dass Baggesen zwar oft auf Voß verweist, jedoch zumeist die potenzierende Funktion des Hexameters nach Klopstock (und Stolberg) gebraucht.

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Deutschen und Griechisch-Dänischen maßgeblich. Denn gerade inmitten des Kopenhagener Kulturkampfes zwischen Dänen und Deutschen erhob er beide Sprachen auf das höchste Podest, wenn es um die Übersetzung antiker Texte ging und legitimierte dadurch sowohl die eigene Übersetzerarbeit als auch seine Begeisterung für die deutsche Sprache. „Mein Resultat wird, glaube ich, selbst Voß einleuchten, dass die dänische Sprache der reichhaltigste Zweig der alten cimbrischen ist, die der griechischen ähnlichste auf Erden“,14 behauptete er kurzerhand. Und was die deutsche Sprache anging, so übernahm er einen (von Lessing bis Voß) in Deutschland verbreiteten, gegen den französischen Klassizismus gerichteten Diskurs, wenn er 1812 in seinen Kieler Vorlesungen über Sprache im Allgemeinen und nordische Sprachen insbesondere schrieb, dass nur die deutsche Sprache sich „in den wesentlichen Bedingungen zum Ausdruck der höheren Menschheit, […] mit der bisher im Ganzen unerreichten Griechischen messen kann“. Zum Beweis nannte er „Luthers Bibel, Voß’s Homer und Schlegels Shakespeare“ und schlussfolgerte: Wenn auch nur diese drei Behältnisse des Reichthums deutscher Worte, Wendungen und Ausdrücke vorhanden wären, würden sie für jeden unbefangenen Forscher hinreichen, um der Sprache, in welche das Vortreffliche der morgenländischen, mittelländischen und abendländischen Dichtung mit so wenig Verlust an Leben, Licht und Wärme hat übertragen werden können, den Preis unter allen jetzt lebenden Vermittlerinnen des Ewigen und des Endlichen zuzuerkennen.15

Leben, Licht, Wärme und Humanität sind aufklärerische Maßstäbe, besagen aber nicht viel über die Übersetzungsmethoden, mit denen diese Vollkommenheit erreicht werden soll. Voß selber war 1789, als Baggesen ihn in Eutin kennenlernte, gerade mit der Übersetzung von Vergils Georgica beschäftigt. Zwar behauptet Baggesen, dass ihn diese nicht sonderlich interessiert habe,16 allerdings haben sich die beiden über Vossens Hexametertheorie unterhalten, die dieser in seiner ersten Odyssee-Übersetzung noch nicht entwickelt hatte und erst in seiner Vorrede zur Übersetzung der Georgica veröffentlichte.17 Voß bedankt sich jedenfalls bei 14 Brief von Baggesen an Reinhold vom 6. Dezember 1796, in: Jens Baggesen, Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. 2 Bde., Leipzig 1831, Bd. 2, S. 148– 151, hier S. 151. 15 Jens Baggesen, Über Sprache überhaupt, und nordische Sprachen insbesondere. Erste Vorlesung. In: Jens Baggesens Biographie, hg. von August Baggesen, 4 Bde., Kopenhagen 1843– 1856, Bd. 4, S. 93. 16 Baggesen, Das Labyrinth, S. 42. 17 Johann Heinrich Voß: Vorrede. In: Publii Virgili Maronis Georgicon libri quatuor; des Publius Virgilius Maro Landbau, vier Gesänge. Übersetzt und erklärt von Johann Heinrich Voß, Eutin/Hamburg 1789, S. iii–xxiv.

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Baggesen für „Euer Wohlgefallen an unserer Hexametermechanik“,18 was eine Vertrautheit des Dänen mit seinen Theorien voraussetzt. Dem antiken Gebrauch abgewonnen, verstand sich Vossens Hexametertheorie als Kritik der trockenen „Afterhexameter“,19 die nur auf das Metrum achteten, aber auch der Freiheiten in Klopstocks Hexametern, wo der Sinn allein die Perioden bestimme. Voß stellt die Frage, „ob nicht die strengere Beachtung der metrischen Regeln, welchen der Römer, wie der Grieche, sich unterwarf, auch dem deutschen Verskünstler, wenigstens für den Alltagsgebrauch, anzurathen sei“.20 Auch für die Abweichungen stellt er bei Homer und Vergil Regeln fest und beschreibt sie. Rhythmus und Reichtum des Wohllauts sollen bei der Übersetzung im gleichen Maße beachtet werden; willkürliches Füllen der Versfüße und Ausdehnungen gegen den deutschen Sprachgebrauch werden abgelehnt: Wer hört die selbige Melodie nicht lieber auf der Kremonergeige, als auf der Stockfiedel? Oder ist unsere ganze Sprache Stockfiedel, wie ein sehr musikalischer Dichter dem guten Instrument, das den hohen Wohlklang seiner Seele nicht immer anspricht, zuweilen in Künstlerlaune vorwirft; wer hört nicht lieber ihr Schnarren, durch Auswahl reinerer Saiten, und durch sanfteren Bogenstrich, gemässigt? Die Länge, besonders die in der Hebung steht, wechsele mit dunklen und hellen Vokalen, mit austönenden und vielfach abstoßenden oder dämpfenden Konsonanten; nie herrsche ein Gepiep, nie ein rauhes Hauchen oder Gezisch.21

Voß sollte seine Hexametertheorie in der Streitschrift Über des Virgilischen Lehrgedichts Ton und Auslegung22 (1791) und in der Zeitmessung der deutschen Sprache (1802)23 weiter ausführen und verbessern, und die Möglichkeit einer quantitierenden Prosodie analog zur griechischen verteidigen.24 Die Bedeutung, die sein Rigorismus beim Hexameteraufbau für Goethe und die antikisierende deutsche Literatur bekam, ist bekannt. Baggesen freilich bezieht sich vor allem auf die Bildlichkeit aus der Vorrede zu den Georgica, wenn er in seinem Gedicht Napoleon. An Voß zunächst die Schwierigkeiten der Hexameterdichtung auf Dä-

18 Brief von Voß an Baggesen vom 30. April 1796, in: Baggesen, Briefwechsel, Bd. 2, S. 419– 421, hier S. 419. 19 Voß, Vorrede, S. xix. 20 Voß, Vorrede, S. xiv. 21 Voß, Vorrede, S. xvi. 22 Johann Heinrich Voß, Über des Virgilischen Lehrgedichts Ton und Auslegung, Altona 1791. 23 Johann Heinrich Voß, Zeitmessung der deutschen Sprache. Beilagen zu den Oden und Elegieen. Königsberg 1802. 24 Hierzu vgl. Anne Baillot, Enrica Fantino und Josefine Kitzbichler (Hg.), Voß’ Übersetzungssprache. Voraussetzungen, Kontexte, Folgen, Berlin/New York 2015 (Transformationen der Antike 32).

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nisch beschreibt, um dann die Überwindung des Unterlegenheitskomplexes durch die Ermutigung Vossens (in der Gestalt Vergils) zu schildern: […] barbarischer Zung’, ein Kimmerier, stamml’ ich. Nicht ward Fülle der Laut’ im ionischen runderen Munde, Nicht das Ohr und der feinere Sinn südathmender Griechen, […] Ach! Zwar glüht in der innersten Brust unduldige Sehnsucht, […] Aber es deckt den Brennenden Eis, erstickend den Aufhauch. […] Unser heroischer Vers lag reimgekettet im Eisberg Gothischer Musen zu lang’, um leicht, wie Latiums Klangfuß, Nachzufliegen den Flug des beflügelten Renners der Griechen. Ach, wir tönen nicht mehr, wir Neueren; geigen und pfeifen, Laut posaunen; auch brausen wir Sturm und rollen den Donner, Als der Olympier selbst, das können wir, aber nicht tönen.25

Begeisterung, Sehnsucht, Feuer erscheinen als Voraussetzungen für die Wiederherstellung des dänischen heroischen Gesangs; sie verwandeln das Unterlegenheitsgefühl ins Gegenteilige. Voß selber hatte vor dem „Wahne […], dass Begeisterung mit Verhalt und gemessener Ordnung unverträglich sei“,26 ausdrücklich gewarnt. In einer Auseinandersetzung mit Friedrich von Stolberg, der ebenfalls von Baggesen bewundert wurde,27 über die Übersetzung der Ilias (die Stolberg 1778 herausgebracht hatte), hatte Voß metrische Präzision verlangt. Stolberg versuchte dagegen, den Unterschied zwischen Inspirationspoesie (selbst bei Übersetzungen) und philologischer Treue zu verteidigen und damit kreative Übersetzungen zu rechtfertigen. Seine Homerübersetzung wollte er nicht überarbeiten: er konnte keine „Feile“ 28 verwenden und behauptete, es käme nur darauf an, den Originalton zu wahren.

25 Jens Baggesen, Napoleon. An Voß. In: Poetische Werke in deutscher Sprache, hg. von Carl und August Baggesen, Leipzig 1836, Bd. 2, S. 92–103, hier S. 98 f. 26 Voß, Vorrede, S. vi. 27 „[…] Foibos Apollon, / So von Göttern genannt, und von jeglichem Sterblichen Stolberg“. So Baggesens mythologischer Verehrungsausdruck im Jahre 1800. Jens Baggesen, Die Genesung des deutschen Homer’s. An Voß. In: Poetische Werke, Bd. 2, S. 56–58, hier S. 58. Stolberg gehörte zum Kreis der adeligen Gönner Baggesens, der sich auch auf seinen Reisen bei diesem und seinem Bruder Christian in Tremsbüttel aufhielt. 28 „Ein Dichter, den im kühnen Flug / Der Pegasus gen Himmel trug, / Erhob sich mit des Adlers Eile. / Da schrie mit ungestümen [!] Ruf, / In seiner Rechten eine Feile, / Ein Kritikaster: Weile, weile! / Daß ich am linken Hinterhuf / Dir noch den letzten Nagel feile!“ (Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Der Dichter und der Kritiker. In: Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Grafen zu Stolberg, Hamburg 1821, Bd. II, S. 54). Zur Feile-Metaphorik im Streit mit Voß s. auch Elmar Mittler, Inka Tappenbeck (Hg.), „Wohne immer in meinem

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„Bei eigenen Arbeiten fügte Voß sich gerne in Stolbergs Ansicht, obgleich er sie bei sich selbst nicht anerkennen wollte, daß der erste Erguß, wie ihn das Genie gebe, der bessere sei; aber auf Übersetzungen wollte er sie nicht ausgedehnt wissen“,29 erinnert sich Ernestine Voß. Vergeblich argumentierte Voß, dass irrationale Genialität nicht ausreichend sei. „Wer einmal tapfer sich angestrengt hat, zu finden, worauf es ankommt, der arbeitet sicherer und leichter, als der flatternde Liebhaber, der ohne Kunstfertigkeit huscht und pfuscht“ 30 resümierte er später in der Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe (1820) die Arbeit an seiner eigenen, konkurrierenden Ilias-Übersetzung. Diese sei dennoch „mit Begeisterung“ 31 vollbracht worden. Doch „struppige Natürlichkeit“ 32 gehöre nicht dazu. Bedarf das Genie (als Übersetzer) der Korrektur, wenn es in intuitiver Begeisterung und nicht nach Absicht, Regeln und philologischen Skrupeln arbeitet? Stolberg ging es um diese grundsätzliche poetologische Frage. Er hatte sich als poeta vates inszeniert und Homers Dichtung als begeisterte Inspiration durch die Natur gedeutet.33 Auch seine eigene Dichtung beschrieb er als ‚Natur‘. 1796 veröffentlichte er seine Übersetzung von Platons Ion und hob in der Vorrede den Enthusiasmus Platons hervor.34 Durch seine christliche SokratesDeutung schuf er außerdem eine Kontinuität zwischen griechischer und christlicher Begeisterung. Zudem hatte Stolberg seinem Freund Voß 1775 das Gedicht Die Begeisterung gewidmet, worin diese als flammende Göttin mit Regenbogengürtel und gestirntem Diadem beschrieben wird, die den Dichter im Flug über das Irdische (und den staunenden Pöbel) hinweghebt.35 Und in seinem Essay Ueber die BeHerzen und in den Herzen meiner Freunde allesbelebende Liebe!“ Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819), Göttingen 2001 (Göttinger Bibliotheksschriften 17). 29 Ernestine Voß in ihren Erinnerungen. In: Johann Heinrich Voß, Briefe nebst erläuternden Beilagen, hg. von Abraham Voß, Bd. 3, 1. Abt., Halberstadt 1832, S. 37 f. 30 Johann Heinrich Voß, Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe: nebst einem Anhang über persönliche Verhältnisse, Stuttgart, 1820, S. 176. 31 Voß, Bestätigung, S. 176. 32 Voß, Bestätigung, S. 175. 33 Vgl. Wolf Wucherpfennig, „das Wort gesellig ist mir verhaßt worden“. Freiheit und Vaterland, Natur und Familie bei Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung, hg. von Ortrud Gutjahr und Wilhelm Kühlmann, Würzburg 1993, S. 353–367. 34 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Vorrede. In: Auserlesene Gespräche des Platon. Übersetzt von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, 2 Bde., Königsberg 1796–1797, Bd. 1, S. III–XVI, bes. S. IX. 35 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Die Begeisterung. An Voß. In: Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, hrsg. von Heinrich Christian Boie, Leipzig 1779, S. 94–96.

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geisterung (1782) werden neben Homer, Platon, Shakespeare und Ossian auch christliche Beispiele der prophetischen Begeisterung (u. a. König David) genannt. Während die Deutschen dabei als naturnah und enthusiasmusfähig dargestellt werden, bringt der recht gallophobe Text zahlreiche Beispiele für die angebliche Begeisterungsunfähigkeit der regelabhängigen Franzosen. Insgesamt aber gilt, dass sich die Begeisterung nicht lenken und nicht erforschen lässt: „jede Miene der Nachforschung“ würde sie verscheuchen, nur eine dunkle Erinnerung ihres Zustandes und die Beobachtung ihrer Wirkung sei möglich. Jedes Gedicht sei „nur ein Nachbild von den Zügen des Urbilds, welches die Begeisterung mit glühendem Pinsel in die Seele des Dichtenden hinwarf“: „Ihm schenkt sie das Original; es gibt nur die Uebersetzung, eine Uebersetzung, welche weniger als andre das Original erreicht!“ 36 Stolberg war, wie auch andere Mitglieder des Göttinger Hainbundes, in der Betonung der Begeisterung auch von den Schriften des dritten Earl of Shaftesbury inspiriert. Eine Übersetzung von The Moralists war von Hölty begonnen und von Voß beendet worden37; sie spielte auch für Stolbergs theoretische Schriften eine Rolle. Der von Stolberg beschriebene Begeisterungszustand gilt auch für die visionäre Dichterweihe Homers, in Gedichten wie Bei Homers Bild, An das Meer oder im verehrungsvollen Schauspiel mit Chören Der Säugling besungen.38 Ähnlich ist bei Stolberg auch die Übersetzerweihe des Schriftsteller-Übersetzers zu denken. Voß war dieser Vorstellung nicht abgeneigt. Die inspirierende traumhafte Begegnung mit Homer ist ein auch von Voß im Widmungsgedicht an Stolberg zur Odüßee39 verwendeter Topos, der auf Ennius (im Proömium der Annalen) zurückgeht. Gleichzeitig zieht Voß (wie Stolberg) auch die christliche Tradition des Enthusiasmus am Beispiel der Eingebung biblischer Texte mit ins Bild, indem er in der Traumszene auch König David erwähnt. Die „heilige Weihe“,40 die Auswahl des Übersetzers durch Homer selbst, der die Verwandtschaft der ionischen Sprache mit der deutschen („Teutonia“) zur Ermutigung hervorhebt,

36 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Ueber die Begeisterung. In: Deutsches Museum, 5. Stück, Mai 1782, Bd. 1, S. 387–397, hier S. 393. 37 [Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury], Des Grafen von Shaftesbury philosophische Werke. Aus dem Englischen übersetzt [von Ludwig Hölty, Johann Lorenz Benzler, Johann Heinrich Voß], 3 Bde., Leipzig 1776–1779. 38 Vgl. Joachim Wohlleben, „Die Sonne Homers“. Zehn Kapitel deutscher Homer-Begeisterung: Von Winckelmann bis Schliemann, Göttingen 1990, S. 27–31. 39 Johann Heinrich Voß, An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. In: Homerus: Odüßee, übersetzt von Johann Heinrich Voß, Hamburg 1781, S. 3–8. 40 Voß, An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, S. 7.

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gleicht der Berauschung mit Nektar und führt zur Extase: „Ein Meer von Morgenroth umrauschte / Wiegend meinen Geist mit tönenden Harmonien“.41 Allerdings tat die Übersetzerweihe Vossens Ansicht nach der philologischen Genauigkeit keinen Abbruch: Er [= Stolberg; A.-S. T.-H.] bat mich, ihm zu helfen bei feineren Bestimmungen des Gedankens und der Tonart, aber zumeist im Vers, den er nur treffe nach Gefühl, nicht machen könne mit Bewußtsein. Merken Sie, sagt’ ich, zuerst den Abschnitt, der im dritten Fuß männlich und weiblich ist, im vierten durchaus männlich. Dies zu fassen, war schwer! Als wir den dritten und vierten Fuß, männlich und weiblich, etwas zurecht gestellt, setzten wir uns, Gesell und Lehrling, an die Werkstatt: wo aus dem Groben entfernt und gehämmert ward, und geraspelt und gefeilt, wie in der Esse des Hefästos. Weg war der Traum, daß genug sei Schwung des Genies ohne Kunstfleiß, daß kühner Wurf ein Göttergebild hinklatsche.42

Doch Stolberg lehnte nach dieser Demonstration Vossens Wunsch, gemeinsam die Stolbergische Ilias-Übersetzung zu überarbeiten, ab, auch wenn er sich von Voß übertroffen sah und die Notwendigkeit einer Überarbeitung zugab. Denn die Einführung von Korrekturen ließ sich für ihn nur in einem ähnlichen Begeisterungsrausch wie die erste Fassung denken. „So erwartete ich bis jetzt, daß einmal der Geist wieder über mich käme“, schrieb er an Voß am 6. Oktober 1786.43 Da diese Erwartung nicht erfüllt wurde, blieb Stolbergs Ilias-Übersetzung unüberarbeitet. Zwischen seinen zwei Freunden und Vorbildern, Voß und Stolberg, schwankend, setzt Baggesen, als er eine dänische Homerübersetzung beginnt, zunächst auf Vossens Ansprüche. Er wolle „nach allen strengen Regeln der Hermeneutik und Prosodie“ 44 arbeiten. Tatsächlich betrachtete ihn Voß Jahre später als einen der beiden einzigen Menschen, die seine Hexameterlehre verstanden hätten. An den schwedischen Dichter und Diplomaten Carl Gustaf von Brinkmann schrieb Voß (wie sich Brinkmann 1832 in einem Brief an Baggesens Sohn August erinnert) rückblickend: „Ist es nicht merkwürdig, daß ich seit 12 Jahren durch Lehre und Beispiel eine richtige Metrik bei uns einzuführen gesucht habe, und daß bloß 2 Ausländer, Sie und Baggesen, mich völlig begriffen und musterhaft nachgeahmt haben!“ 45 Die Einfühlsamkeit der Ausländer

41 Voß, An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, S. 8. 42 Voß, Bestätigung, S. 157 f. 43 Abgedruckt in: Voß, Bestätigung, S. 170. 44 Brief von Baggesen an Reinhold vom 6. Dezember 1796, S. 150. 45 Abgedruckt in: [Anonym], Baggesen som metriker. In: Kjøbenhavns-Posten, Jg. 7, Nr. 45, 22. 2. 1832, S. 150 f., hier S. 151. Hierzu vgl. auch Leif Ludwig Albertsen, Weshalb schrieben die Klassizisten tonbeugende Hexameter? Eine Neudeutung. In: Germanisch-romanische Monatsschrift, N.F., Bd. 14.4, 1964, S. 360–370.

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für Vossens Metrik wäre hier (falls es sich nicht um eine höfliche Übertreibung handelt) eventuell durch deren Distanz zur deutschen Sprache zu erklären, die eine größere Aufmerksamkeit erfordert und weniger Unmittelbarkeit im Umgang mit ihren Betonungen zulässt. Baggesen selbst war jedenfalls auf seine Beherrschung der Metrik Vossens stolz und erzählte jedem davon. „Er übersetzt jetzt den Homer ins Dänische, von Voß gebilligte Hexameter. (Nur [Balthasar] Münter machte früher einige erträgliche dänische Hexameter)“,46 berichtet Karl August Böttiger in seinen Notizen über ein Treffen mit Baggesen am 21. Juni 1802. Doch die Situation, in der Baggesen 1796 Homer zu übersetzen anfängt, ist schwierig. Er muss Tag und Nacht am Bett seiner tödlich an Schwindsucht erkrankten Frau wachen und wählt die Beschäftigung mit Homer als geistige Rettung oder als Flucht aus seiner verzweifelten Lage. Eine solche ist aber kaum als trockene philologische Arbeit möglich. Nur dichterischer Rausch überfliegt den sprachlichen Minderwertigkeitskomplex und die persönliche Tragödie des Übersetzers: Bisher existierten keine solchen Verse wie die, welche die Alten, Voß und ich Hexameter nannten, in unserer Sprache, und es war sogar angenommen, dass sie dergleichen unfähig sei; mir selbst schien es anfänglich nahe an Unmöglichkeit zu grenzen zugleich etwas Richtiges und Schönes auf diesem Wege zu erringen. Den 7. Nov. fing ich an, arbeitete den ganzen Tag und wurde mit sechs erträglichen Homerischen Versen fertig, wodurch ich an die Möglichkeit zu glauben anfing. Ich wählte mir jetzt die schwersten in der Odyssee, und gab sie mit einer Vollkommenheit, die Niebuhr in Entzückung brachte. Der Genius der dänischen Sprache und er, der mir gleichsam ein Genius Homericus scheint, spornten mich an. Nun fing das Ding an zu kochen und zu brausen, mein ganzes Wesen siedete vor Begeisterung. Ich wurde in der That rasend wie der Rhapsode Ion – Es gab für mich keinen Himmel und keine Erde mehr, als die griechische Ilias und die beinahe griechischdänische Sprache.47

Richtig und schön soll also die begeisterte Übersetzung werden. Doch ähnlich wie im Napoleon-Gedicht stellt Baggesen auch hier die Inspiration durch den Geist (Genius) der griechischen und dänischen Sprache als irrational dar: nämlich so, wie Platon es am Beispiel des Rhapsoden Ion dargelegt und Stolberg es auch vom Dichter und Übersetzer verlangt hatte. Nur überschäumende Begeisterung, die einer Raserei gleicht, kann dieser Ansicht nach die Schönheit gewährleisten. Von morgens bis drei Uhr nachts habe Baggesen „in schwitzender Entzückung und in balsamisch badendem Schweiß“ gearbeitet, indem ihn

46 Abgedruckt in: Bernd Maurauch, Karl August Böttigers Notizen über einen Besuch von Jens Baggesen in Weimar im Jahre 1795. In: Danske studier, 1977, S. 139–149, hier S. 141. 47 Brief von Baggesen an Reinhold vom 6. Dezember 1796, S. 150.

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eine „allmächtige Begeisterung“ 48 geleitet habe. Gleichzeitig dient allerdings der Althistoriker Barthold Georg Niebuhr (der ebenfalls mit Voß in Kontakt war) als Garant der Genauigkeit. Den ersten Gesang der Ilias vollendet Baggesen nach einem Monat. Doch der Tod seiner Frau Sophie sollte dem Übersetzungsrausch ein Ende machen; schließlich wurden nur der erste und zweite Gesang der Ilias sowie der 22. Gesang der Odyssee veröffentlicht. Stolz berichtet Baggesen Karl Leonhard Reinhold, dass er direkt aus dem Griechischen, alles in Wörterbüchern nachschlagend und überprüfend, übersetzt habe, „ohne selbst die Vossische Übersetzung, von der ich oft abweiche, anders als zur Aufmunterung, Vergleichung zu brauchen“. Seine Version sei jedoch „eben so wörtlich übersetzt, wie Vossens“.49 Er gibt zur Untermauerung dieser Behauptung auch Beispiele an, die sowohl wörtlich als auch in klanglicher Hinsicht dem griechischen Original (aufgrund von Alliterationen) sehr ähnlich sind. Doch trotz dieser Betonung der Genauigkeit und der Verwendung von Kommentaren, Lexika und antiker Literatur („ich […] lese den langweiligen Eusthatius und Damm – und den interessanten Xenophon“)50 bleibt der Übersetzungsprozess seiner Beschreibung nach die inspirierte Aktivierung eines passiven Wortschatzes, auf den er sich vorher kaum besonnen habe. Er spricht sogar von einem wundersamen „plötzlichen Erlernen der griechischen Sprache“,51 dessen Erklärung wiederum nur die Begeisterung ist.

II Hineinversetzung als Fähigkeit des mehrsprachigen Kosmopoliten Die Plötzlichkeit des Erlernens einer Fremdsprache ist ein Thema, das bei Jens Baggesen nicht nur im übersetzerischen Kontext anzutreffen ist. Es handelt sich vielmehr um einen Aspekt seiner Selbstinszenierung als Dichter, der vom Geist oder Genie einer Sprache ergriffen und beherrscht werde. Beim Sprechen einer neuen Sprache, behauptet Baggesen, übersetze er nicht nur, sondern er übersetze sich selbst, er setze sich gleichsam über, er versetze sich restlos in diese Sprache und in den Kontext hinein. So sei er, wie er stolz seiner Frau

48 49 50 51

Brief Brief Brief Brief

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S. 150. S. 151. S. 151. S. 150.

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berichtet, kurz nach seiner Ankunft in Frankreich (im Mai 1795) von der früheren Köchin Dantons für einen Franzosen gehalten worden: Das sie es meiner Sprache nicht anmerkte, daß ich kein Pariser bin, war es, was mich höher hob. Du siehst demnach, meine Liebe, wie ich mich wieder in dieser Sprache in kurzer Zeit übersetzt hab. Kaum werde ich aber wieder auf deutschem Boden unter deutschen Menschen sein, so ist es wieder vorbei mit dem Französischen. Je ne sais parler autre langue que celui du pays où je suis, en Chine je parlerois le Chinois comme un Mandarin, et je crois même que je parlerois le boeuf assez Goddammement en Angleterre.52

Das Scherzhafte ändert nichts an seiner Überzeugung, durch den Sprachwechsel plötzlich vom Geist einer anderen Sprache ergriffen zu werden, und mit der Anpassungsfähigkeit und Verwandlung ist es ihm ernst. Natürlich übersetzt sich Baggesen auch im herkömmlichen Sinne selbst; das heißt, er übersetzt seine Gedichte: aus dem Deutschen ins Dänische (z. B. sein geselliges Scheerenschleiferlied) oder aus dem Dänischen ins Deutsche und dann ins Französische (etwa die Ode Napoleon). Oder er überarbeitet gelegentlich fremde Übersetzungen seiner Gedichte in seinem Sinne: sein Gedicht Da jeg var lille (Als ich klein war, 1785) übersetzt er als Meine Kindheit ins Deutsche und gibt es 1803 im Band Gedichte heraus, nicht ohne in einer Anmerkung zu betonen, dass es sich um die Überarbeitung einer deutschen Übersetzung C. L. Sanders aus dem Jahr 1783 (Es waren Zeiten einst) handele.53 Dabei kann bei seinem Vorgehen zwischen Gelegenheitsdichtungen, die zum geselligen Gesang auf bekannten Melodien gedacht waren, und ernsteren Dichtungen unterschieden werden.54 Baggesens lange Aufenthalte auf diversen Schlössern und Landgütern, wo er zur Unterhaltung spontan gesellige Lieder dichtete und sie dann für andere Milieus übersetzte, forderte eine andere Art von verspielter Freiheit (und eine stärkere Konzentration auf die Wirkung) als das Übersetzen ernster, metrisch komplexer Gedichte in antiker Manier. Doch in der zitierten Briefpassage Baggesens geht es um mehr als das Übertragen der eigenen Kommunikation in eine andere Sprache; es geht um das Ideal des sich Hineinversetzens. In ähnlicher Weise, nämlich durch das

52 Auszüge aus Briefen Baggesens an seine Frau aus Paris (Mai 1795), in: Jens Baggesens Biographie, Bd. 2, S. 78–89, hier S. 82 f. 53 Vgl. Baggesen. Poetische Werke, Bd. 1, S. 9 f. und S. 369. 54 Zu diesen Unterschieden vgl. Leif Ludwig Albertsen, Die poetische Selbstübersetzung von Jens Baggesen bis Felix Pollak. Eine alternative Lehre von der Kunst der literarischen Übersetzung. In: Text & Kontext, 27.1–2, 2005, S. 68–91, sowie Leif Ludwig Albertsen, Das vorgeformte Wort. Baggesen als Übersetzer und Parodist. In: Nerthus. Nordisch-deutsche Beiträge, 2, 1969, S. 151–185.

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sich Hineinversetzen, löst Baggesen während eines Gesprächs mit Georg Forster in Mainz auch die epochentypische Frage über die Konkurrenz der nationalen Klassiker Shakespeare, Voltaire und Klopstock, also über die Konkurrenz der Nationen durch das Mittel der Literatur. Er imaginiert einen Rezipienten, der durch die Kenntnis der Sprache und der sozialen Voraussetzungen einer jeden Nation imstande sei, zum nationalen Adressaten des jeweiligen Landes zu mutieren und paradoxerweise gerade dadurch der Internationalität, d. h. des aufgeklärten Kosmopolitismus fähig sei. Diese Hineinversetzung sieht Baggesen in seiner 1792–1793 entstandenen Reisebeschreibung Labyrinthen (Das Labyrinth) als Voraussetzung für eine gelungene Rezeption an: Der allgemeine Fehler ist der, daß man sich nicht in den Charakter jenes Volks und jener Sprache hineinversetzt, in welches und für welches geweint wird. Man muß Engländer sein, wenn man Shakespeare liest, Deutscher, wenn man Klopstock liest, Franzose, wenn man Voltaire liest. Wessen Seele die ihm eigene Nationaltracht nicht abwerfen und sich solcherart eine andere anziehen kann, der sollte fremde Geistesarbeiten nicht lesen, geschweige denn beurteilen. Er wird den Mond bei Tage und die Sonne bei Nacht sehen – aber ersten ohne Glanz und die zweite überhaupt nicht.55

Diese Hineinversetzung geht über die kontextbezogene Rezeption und selbst über das Ideal der kongenialen Übersetzung hinaus. Sie gehört zu Baggesens Kosmopolitismus im aufklärerischen Geist und zu seiner Ablehnung des Nationalismus. Geleitet wird diese Einstellung wiederum von der Begeisterung. So erfasst Baggesen, wie er im Labyrinth berichtet, ausgerechnet auf dem Hermannsberg, dem Ort der deutschen nationalen Konstruktion durch Erinnerung, eine Art programmatischer kosmopolitischer furor poeticus des Sich-Hineinversetzens, der ihn über alle nationalen Abgrenzungen erhebt. Die Nationen erscheinen ihm nur als Töne einer Skala, als Farben eines Regenbogens: Ich war nicht mehr Nationalsklave – ich war Deutscher, ich war Franke, ich war Brite, ich war Belgier, ich war Schweizer, ich war Skandinavier. Mein Herz schlug ebenso laut für den Bruder hier wie für den Bruder dort. Nur durch drei Ketten – doch ebenso unzerreißbar wie schön – war mein Wesen enger und fester an Dänemark gebunden: Freundschaft – die Sprache – und die Kindheitserinnerung. […] Du aber warst mein Zeuge, Vater der Nationen, dass mein Herz niemals wärmer für mein Vaterland schlug als in jenem Augenblick, da es heftig für alle schlug!56

Auf die politische Bedeutung und den persönlichen Hintergrund dieser Hermannsberg-Episode57 in den Tagen der Französischen Revolution wird noch 55 Baggesen, Das Labyrinth, S. 291. 56 Baggesen, Das Labyrinth, S. 180. 57 Vgl. Sven-Aage Jørgensen, Baggesen zwischen Holger Danske und Hermann dem Cherusker. „Germanismus und Cosmopolitische Ausschweifungen“. In: Meddelelser fra Thorvaldsens Museum, 1997, S. 18–28.

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zurückzukommen sein. Hier sei zunächst nur auf die Rolle der Begeisterung bei der Überschreitung der nationalen Grenzen hingewiesen, die Baggesen sowohl in politischer als auch in poetologischer und übersetzungstheoretischer Hinsicht kennzeichnet. Bezeichnend ist der Wunsch, gerade diesen Zustand im Einklang mit der Idee des Nationalen zu behalten, um sich gegen eine mögliche Bezichtigung der Vaterlandslosigkeit abzuschirmen. Doch ist das Nationale hier als persönliche und nicht als staatliche Ebene definiert: neben der Sprache als Werkzeug des Dichters und Übersetzers werden gerade die Freundschaft (als Ausdruck der aufklärerischen Geselligkeit über Standes- und Landesgrenzen hinweg, wenn auch im Kleinen und Privaten) und die individuelle Kindheitserinnerung (ein romantischer Zug Baggesens) hervorgehoben. Bei der Erwähnung der nationalen Regenbogenfarben58 fällt dem Leser freilich auch die Charakterisierung Baggesens durch Adam Oehlenschläger ein: „Baggesen war ein Kameleon, das seine Farbe von der Umgebung lieh“.59 Zwar ist diese Beschreibung abwertend gemeint, und sie gibt höchstens eine Erklärung des Wechsels von Zuneigung und Konflikt zwischen den beiden ab. Baggesen, heißt es in Oehlenschlägers Erinnerungen, sei in Oehlerschlägers Gegenwart seiner Meinung gewesen, wenn es um Ästhetik ging, und habe dann in einem anderen Kontext eine entgegengesetzte Meinung angenommen. Dennoch wird hier gerade die Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit Baggesens erkannt, die dieser in sprachlicher Hinsicht zu einem Vorzug erhob. Baggesen sei ein Improvisator gewesen, der alles unter der Eingebung eines augenblicklichen Gefühls getan habe. Diese Charakterisierung trifft, wenn man das Vorwurfsvolle weglässt, das Wesen der Übersetzungspoetik Baggesens. Nicht nur die Betonung des Plötzlichen, sondern auch die Verwandlungsfähigkeit durch Begeisterung. Baggesen war als Dichter insbesondere auf die Beherrschung verschiedener Register stolz und darauf, anders als Oehlenschläger, als Janus Bifrons60 das Hohe und das Niedrige wiedergeben zu können, also vom Gegensätzlichen erfasst zu werden. Registerwechsel wird gerade als ein Werk des inspirierten Berauschten dargestellt, der zwei verschiedene Sorten von Odins Met getrunken habe.61 In ähnlicher Weise erfasst wohl der Schriftsteller-Übersetzer den Geist der verschiedenen Sprachen und Autoren.

58 Baggesen, Das Labyrinth, S. 175. 59 „Baggesen var et Kameleon, som laante sin Farve af sin Omgivning“ (Oehlenschlägers Levnet, fortalt af han selv, Kjøbenhavn 1831, Bd. 2, S. 146 [meine Übersetzung]). 60 „Sie wissen, daß mein Vetter, Janus Bifrons, zwei Gesichter besaß; mir war, als hätte ich manchmal drei“. (Baggesen, Das Labyrinth, S. 329). 61 Vgl. Leif Ludwig Albertsen, Odins mjød. En studie i Baggesens mytiske poetik. Aarhus 1969.

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III Aneignung und Wetteifern als Prinzipien des kreativen Übersetzens Der Schriftsteller-Übersetzer versetzt sich nicht nur spontan, berauscht und begeistert in fremde Sprachen und Kulturen hinein, sondern er macht sie gleichzeitig auch zu den seinigen. So, wie Baggesen seine Niels Klim-Übersetzung als sein bestes Werk betrachtete und sich damit nicht nur als Übersetzer, sondern auch als Autor ansah, so, wie er sich, von der Matthison-Begeisterung seiner Freunde angesteckt, in einem Brief an Sibylle Reventlow scherzhaft den Namen Baggisson gab,62 und damit den anderen Autor quasi in sich integrierte, so, wie er zeit seines Lebens gerne Travestien schrieb, genauso wollte er auch bei Gedichtübersetzungen nicht scharf zwischen Original und Übersetzung trennen. So berichtet er in einer Note zu seiner Andachtshymne. Auf der Spitze des Gotthards von einem ungewöhnlichen Beispiel seines freien Umgangs mit den Gedichten, die er übersetzte: Die Idee und der Gang dieses Lobgesanges gehört Ramler. Wie er der meinige geworden ist, damit verhält es sich folgenderweise. Ich hatte vor Zeiten in Kopenhagen, auf die Bitte meines Freundes, des seligen Capellmeisters Schulz, die Ramler’sche Rhapsodie, „Allgemeines Gebet“ genannt, mit Veränderung des sonderbaren Verses und Zurundung des Ganzen, in’s Dänische übertragen. Ich erreichte meinen damals einzigen Zweck mit dieser kleinen Arbeit, Schulz’s Beifall. Erst lange nachher fand ich diesen Versuch unter meinen Papieren, änderte noch Vieles darin, und nahm ihn in die Sammlung meiner dänischen Gedichte auf. Die Ramler’sche Rhapsodie, die ich seit über zehn Jahren nicht wiedergesehen hatte, war mir nicht mehr gegenwärtig, als ich meine Umarbeitung voriges Jahr zu Paris im Deutschen nachbildete. Ich war schon fertig damit, als ich mich zu spät auf jenen Ursprung besann.63

Karl Wilhelm Ramler wird also durch die Übersetzung „der seinige“, so wie es schon Holberg geworden war, was bei den metrischen Freiheiten und der „Zurundung“ nicht verwundert. Baggesen kann sich daraufhin nicht mehr daran erinnern, dass er nur der Übersetzer sei, und nimmt das Gedicht in der dänischen Ausgabe seiner Dichtungen auf. Ja nicht einmal bei der Rückübersetzung ins Deutsche fällt ihm das Original ein, sondern erst danach. Aus Neugierde, wie nahe er auf diese Weise Ramler gekommen sein mochte (dessen Gedicht er in Paris nicht auftreiben konnte), beschließt er, „die Arbeit der Vergleichung preiszugeben“.

62 Auf diesen Brief vom 13. Juli 1787 verweist Albertsen, Odins mjød., S. 23. 63 Baggesen. Poetische Werke, Bd. 1, S. 369.

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Die kreative Übersetzung und Rückübersetzung hätte genauso gut direkt als Variation auf ein von Ramler gegebenes Thema dargestellt werden können. Doch Baggesen wählt diese kleine Geschichte über die aneignende Funktion des Übersetzens, um sie erst dann als aemulatio zu interpretieren. Um sein Verfahren des wetteifernden übersetzerischen Nachahmens zu rechtfertigen, verweist er sogar auf Ramler selbst: Ramler selbst sagt übrigens in einer Anmerkung zu den 16. Ode des ersten Buchs seines Horaz: „Wenn ein neuerer Poet sich bloß den Plan eines alten Gedichts zu Nutze macht, und danach ein ganz anderes Gedicht ausarbeitet, so thut er es, um mit seinem Vorgänger zu wetteifern; und Leser, die eine solche Aehnlichkeit wahrnehmen, freuen sich, daß sie dem Poeten an Bekanntschaft auf dem Parnaß nichts nachgeben, und nehmen ihm diese Aehnlichkeit eben so wenig übel, als sie es einem Baumeister übel nehmen, der den Grundriß seines neuen Gebäudes von einem berühmten alten entlehnt, das aber in allen seinen Stücken von den seinigen abweicht“.64

Ramler selbst hatte tatsächlich im Vorbericht zur Lyrischen Blumenlese, seiner Anthologie aus verschiedenen Sprachen, eine ähnliche Einstellung gehabt: „Ob man einzelne Verse, Halbverse, oder Wörter dem ersten oder dem zweyten Herausgeber zuzuschreiben hat, ist eigentlich eine sehr gleichgültige Sache“.65 Nicht jeder Autor habe Zeit zum Ausfeilen, insofern seien die Verbesserungen des Herausgebers von Vorteil, und das Bevorzugen der alten Lesarten im Vergleich zu den Veränderungen von fremder Hand nicht berechtigt. Was Horaz anbelangt, so hat Ramler nicht nur eigene Übersetzungen ausgewählter Oden, sondern auch Anmerkungen zu Vossens Horazübersetzungen (mit Änderungsvorschlägen und Eingriffen) publiziert.66 Baggesens Beschäftigung mit Ramler ist insofern nicht erstaunlich. Dieser war (vor Klopstock) ein Vorbild des Hainbunds gewesen. Außerdem hatte er zur Einführung des für Baggesen so wichtigen Begeisterungstopos beigetragen. Seine bearbeitende Übersetzung des Cours des belles lettres von Batteux, die Einleitung in die schönen Wissenschaften (1756–1758), hatte gerade den Enthusiasmus als Merkmal der Ode betont; allerdings ging es dort um die Nachahmung der Gefühle (Mimesis durch künstliche Erhitzung der Einbildungskraft) und nur im Ausnah-

64 Baggesen. Poetische Werke, Bd. 1, S. 370. 65 [Karl Wilhelm Ramler], Vorbericht. In: Lyrische Bluhmenlese, I.–V. Buch, Leipzig 1774, S. III–VI, Hier S. V. 66 Karl Wilhelm Ramler’s auserlesene Anmerkungen zur Erklärung der Uebersetzung des Horaz von Voß. Mit einigen sich auf diese Übersetzung beziehenden Änderungen und Zusätzen, Frankfurt/Leipzig 1807.

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mefall um echte Gefühle.67 Eine Ästhetik, die auf Imitation der Wirkung setzte, war jedenfalls für Baggesen auch übersetzungstheoretisch interessant. Um Baggesens Umgang mit Ramlers Rhapsodie zu verdeutlichen, sei deren Anfang in den drei Versionen zitiert. Ramlers Allgemeines Gebet beginnt folgendermaßen: Zu dir entfliegt mein Gesang, o ewige Quelle des Lebens! O du, von den Lippen danksagender Weisen Jehova gegrüsset, Und Oromazes, und Gott! […]68

Das Gleiche in Baggesens Übersetzung, mit dem Titel Andagtshymne (Andachtshymne): Dig alt Levendes Væld, dig, Aandernes evige Kilde, Verdeners aldrig udgranskede Grund, dig, Himlenes Udspring, Dig, som utallige Chor løvsyngende hilse Jehova, Tjen, Oromasdes, Gud, dig, evige, store, den Samme! Prise min stammende Sang i Naturens jublende Samklang! […]69

Sodann, in der deutschen Rückübersetzung Jens Baggesens, unter dem Titel Andachtshymne. Auf der Spitze des Gotthards: Dich, des Lebenden Born, der Geister verborgener Urquell, Aller Gründ’ unerforschlicher Grund, und Beginner des Anfangs, Den die verschiedenen Zungen gesammt anbeten: Jehova! Tien! Allah! Gott! Dich, Ewiger! Großer! o, Erster! Preise die stammelnde Lipp’ in des Alls lobsingendem Einklang! […]70

Es fällt auf, dass Baggesens dänische Übersetzung und seine Neuverdeutschung länger als Ramlers Original und voller ergänzender, verdeutlichender und fast synonymischer Füllungen sind. Die Gottheit wird bei Baggesen in vielfachen religiösen Kontexten verehrt, die sich in seinen Fassungen auch ändern, während Ramler diesen deistischen Grundsatz wesentlich kürzer andeutet. Die göttlichen Attribute werden ebenfalls ausgeweitet oder ausgetauscht. Während bei Ramler die Lobpreisung durch die „Weisen“ erfolgt und der „Gesang“ des Ich nicht weiter charakterisiert wird, ist das Lob bei Baggesen ein Ausdruck unzähliger Chöre, bzw. verschiedener Zungen, insbesondere aber des

67 [Charles Batteux], Einleitung in die Schönen Wissenschaften, 4. Aufl, Leipzig 1774, Bd. 3, S. 14 f. 68 Karl Wilhelm Ramler, Lyrische Gedichte, Berlin 1772, S. 388. 69 Jens Baggesen, Jens Baggesens danske værker, Kjøbenhavn 1845, Bd. 1, S. 25. 70 Baggesen, Poetische Werke, Bd. 1, S. 26.

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überwältigten, „stammelnden“ Dichters, der als solcher eher an Baggesens Ode Napoleon erinnert. Ähnlich extensivierend geht Baggesen auch mit dem übrigen Gedicht um. Ramlers Rhapsodie zählt 19 Verse, während Baggesens dänische Übersetzung 47 und seine deutsche Fassung 56 hat. Der Text expandiert, je weiter er bearbeitet wird, was Baggesen offenbar als „Zurundung“ ansieht. Die Anzahl der Hebungen variiert bei Ramler; er verwendet kein festes Metrum, was der antiken Tradition der Rhapsodie als freier Form entspricht. Baggesen berücksichtigt diese Funktion des „sonderbaren Verses“ nicht; darum verwendet er sechshebige Verse, zumeist daktylisch, mit gelegentlichen jambischen Füßen, was die Form insgesamt rhythmischer und weniger frei macht. Außerdem teilt er seine dänische Übersetzung in drei Strophen ein. In der deutschen Fassung verzichtet er jedoch wieder auf diese im Original nicht vorhandene Stropheneinteilung. Festzustellen ist außerdem, dass Baggesen eine etwas größere wörtliche Genauigkeit bei der Übersetzung aus dem Dänischen ins Deutsche aufweist (obwohl auch diese expandierend ist) als bei der Übersetzung vom Deutschen ins Dänische. Sicherlich war das Ziel der Vertonung der dänischen Fassung durch den Komponisten Johann Abraham Peter Schulz entscheidend für die metrische Glättung und den Strophenaufbau. Bei der deutschen Rückübersetzung war ein solches Ziel dagegen nicht mehr vorhanden. Man kann eventuell auch vermuten, dass der Inhalt der dänischen Fassung Baggesens Poetik mehr entsprach, so dass er sich im Verhältnis dazu etwas weniger Freiheiten nahm als im Verhältnis zu Ramlers Original. Insgesamt ist allerdings auch die deutsche Rückübersetzung mehr auf Wirkung als auf Worttreue ausgerichtet. Beide Fassungen sind eindeutige Beispiele kreativen Übersetzens.

IV Das Nationale und die Gefahren des kreativen Übersetzens Als Baggesen, vom Aufgang der Humanität in Europa träumend, sich auf dem Hermannsberg in einem von der Französischen Revolution begeisterten Zustand in alle europäischen Kulturen ‚übersetzte‘, befand er sich auf der Flucht vor dem erwachenden dänischen Nationalismus. Nach der Kopenhagener Uraufführung der Oper Holger Danske am 31. März 1789, deren Handlung von Wielands Oberon und von Glucks La rencontre imprévue beeinflusst war, waren der Librettist Baggesen und der Komponist Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen mit heftigen Angriffen konfrontiert worden. Diese stellten aus bürgerlich-aufklärerischer Sicht die Berechtigung der Oper als höfischer Gattung in Frage

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und prangerten Holger Danske als Verkörperung des Deutschen, des Sinnlichen und der Verschwendung an.71 Es handelt sich bei Holger Danske zwar nicht um eine Übersetzung im eigentlichen Sinne, sondern um das freie Verwenden und Überarbeiten des Stoffes für eine andere Gattung in der Zielsprache. Allerdings ist das Libretto ein Beispiel für Baggesens Vorstellung des Sich-Hineinversetzens: Wielands französischer Hüon verschmilzt zum nationalen Eposhelden Holger Danske, dem Inbegriff des Dänentums, dessen orientalische Abenteuer als von Oberon und Titania auferlegte Probe die Bühnenhandlung bestimmen. Doch erweist sich der Held als nicht dänisch genug für die dänische Partei des aufstrebenden Kopenhagener Bürgertums, die den Stoff zur Genüge kennt: Er bleibt Holger der Deutsche und damit verpönt. Librettist und Komponist verlassen schließlich die Hauptstadt, um dem Eklat zu entkommen. Dass Baggesen, der dieses Erlebnis als Vierundzwanzigjähriger hat, sich als Kosmopolit und „Bürger im Reich der Vernunft“ 72 ansieht, ist auch „jener unglückseligen Oper” zu verdanken. Als er während seiner Europareise zunächst keine Briefe aus Dänemark erhält, fragt er sich, ob sie wirklich alle einsehen gelernt haben, dass der Verfasser, der Übersetzer eines solchen Schauspiels seine sämtlichen Rechte als Mensch und Bürger verwirkt hat, […] dass er nicht nur expatriiert, was schon geschehen ist, sondern auch exeuropiert werden müßte, was jetzt geschieht […].73

„[D]er Verfasser, der Übersetzer“: auch hier werden eigene Texte und kreative Übersetzungen bzw. Verarbeitungen gleichgestellt. Doch wird dabei auch die Gefahr dieses Verfahrens in nationalistischen Zeiten deutlich: Fremdes und Nationales fließen in einander über, und ein Autor, der wetteifernd fremde Werke zu seinen eigenen macht, wird dadurch national fragwürdig. Erst als Reaktion darauf betont Baggesen, dass der wahre Kosmopolitismus den Patriotismus stärke, indem er ihm Wahrheit und Wert gebe: „Der Kosmopolit ist zwangsläufig Patriot, doch der sogenannte Patriot ist nicht immer Kosmopolit“.74 Was

71 Zur Holger-Fehde vgl. Leif Ludwig Albertsen, Holgerfejden. Kopenhagen 1971; Ole Feldbæk, Vibeke Winge, Tyskerfejden 1789–1790. Den første nationale konfrontation. In: Dansk Identitetshistorie 2: Et yndigt land. 1789–1848, hg. von Ole Feldbæk, København 1991, S. 9– 109; Heinrich W. Schwab, Holger Danske – Holger Tydske. Zum Kopenhagener Opernstreit des Jahres 1789. In: Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften, hg. von Heinrich Detering, Göttingen 1996, S. 96–114. 72 Baggesen, Das Labyrinth, S. 182. 73 Baggesen, Das Labyrinth, S. 209 f. 74 Baggesen, Das Labyrinth, S. 180.

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das bruchlose Verbinden des Fremden und Nationalen ermöglicht, ist die Begeisterung.

V Fazit Als Schriftsteller-Übersetzer legitimiert Jens Baggesen sein kreatives Übersetzungsverfahren mit ähnlichen Mitteln wie seinen Kosmopolitismus: durch die Begeisterung als Ergriffensein durch den Genius der Sprache, aus der man übersetzt, und der Sprache, in die man übersetzt. Auch wenn die behauptete Unmittelbarkeit des vorgeblichen Sich-Hineinversetzens eigentlich auf mühsamen Vorarbeiten beruht und Baggesen diese zur Unterstreichung seiner Genauigkeit auch nicht verheimlicht (damit die Ansichten Stolbergs und Vossens versöhnend), so ist die Plötzlichkeit dieses kreativen Transponierens ein wichtiger Punkt für den deutsch-dänischen Autor. Denn das Irrationale des Inspirationsmoments rechtfertigt seine Zugehörigkeit zu mehreren Sprachen und Kulturen und auch das freie Verfügen über den übersetzten Text. So kann er sich durch die Betonung der Begeisterung national in der Schwebe halten und gleichzeitig die Integration des übersetzten Autors ins eigene Werk behaupten. Diese sowohl empfindsame als auch politisch durchdachte kosmopolitische Haltung zum Übersetzungsprozess wird um 1800 bereits aus nationalistischer Perspektive kritisiert und gilt bei den Zeitgenossen als unangemessen. Zudem konnte diese Selbstlegitimierung Baggesens eine spätere dänische ‚Nationalisierung‘ seines Werkes nicht verhindern. Sein multilinguales Werk wurde bereits von seinen Söhnen Carl und August sorgfältig nach Sprachen aufgeteilt ediert, wobei die Rolle des Dänischen als Nationalsprache überhöht und nicht-dänische Passagen seiner Tagebücher stillschweigend ins Dänische übersetzt wurden. Diese nachträglich konstruierte ‚nationale‘ Perspektive auf Baggesen prägte seine Rezeption im 19. und weitgehend auch im 20. Jahrhundert. Und obwohl es seit den 1960er Jahren zunehmend Forschung gibt, die das Bild des mehrsprachigen Baggesen zu rekonstruieren versucht, existiert bis heute noch keine Ausgabe seiner Werke und keine Monographie, die den verschiedenen Sprachen seines Werkes einen gleichwertigen Raum bietet.

Bibliographie Quellen [Anonym], Baggesen som metriker. In: Kjøbenhavns-Posten, Jg. 7, Nr. 45, 22. 2. 1832, S. 150 f. Baggesen, Jens, Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. 2 Bde., Leipzig 1831.

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Giovanna Pinna

Das Original erschaffen Zu Schillers Übersetzungsstrategien In Forschungsarbeiten zur literarischen Übersetzung ist von Friedrich Schiller generell kaum die Rede. Als eine der Ursachen dafür lässt sich sein Ruf als ,Übersetzer der Übersetzer‘ vermuten, der nicht falsch ist, aber von seinen romantischen Gegnern vielleicht in mehr als gerechtfertigter Weise böswillig übertrieben wurde. Jedenfalls verdanken wir ihm eine Reihe von Übersetzungswerken, die einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Aufnahme von Elementen europäischer Kultur in die deutsche Literatur leisten und ein eigenständiges Konzept sowohl gegenüber den Übersetzungsverfahren des 18. Jahrhunderts als auch dem in Schleiermachers Theorie formulierten romantischen Übersetzungsmodell darstellen. Im Kontext seiner Tätigkeit als Übersetzer und Bearbeiter von Theaterstücken, die er zeitgleich mit seiner dramatischen und lyrischen Produktion betrieb, hat Schiller eine Reihe verschiedener Übersetzungsstrategien angewandt, die zwischen größerer Nähe zum Originaltext und Anwendung individuellerer Ausdrucksformen schwanken. Diese Abweichungen hängen zum Teil von objektiven Rahmenbedingungen sowie von der Sprache ab, da Schiller mit unterschiedlicher Sprachkompetenz aus dem Lateinischen, Französischen, Englischen und Griechischen übersetzt, zum Teil aber auch von der literarischen Gattung, die je nach Fall mehr oder weniger komplexe formale Vorgehensweisen erfordert. Hinzu kommen subjektive und auch funktionale Aspekte, d. h. Schillers Interesse für den Text und seine Verwendung. So ist ihm etwa seit seiner Kindheit Vergils Latein vertraut, wohingegen er für das Griechisch des Euripides sowie Shakespeares Englisch andere Übersetzungen hinzuziehen muss. Was die literarischen Gattungen betrifft, gibt es zwar reichlich lyrische Texte und Prosatexte, aber Schillers Übersetzungstätigkeit konzentriert sich aus nachvollziehbaren Gründen auf die Tragödie, die nicht nur Materie für die Reflexion über das eigene literarische Schaffen bietet, sondern auch Erkenntnisse über die Konzeption von Bühneneffekten ermöglicht. Die Liebe zum Theater und die Auffassung der Tragödie als Repräsentation des Konfliktes zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, bilden die Voraussetzung für diese Übersetzungen und steuern den Prozess der Übertragung von einer Sprache in die andere. Im Folgenden betrachte ich exemplarisch drei Übersetzungen: Iphigenie auf Tauris von Euripides, Phädra von Jean Racine und Macbeth von William Shakespeare, wobei Letzterer aus dem Blickwinkel der kritischen Analyse Friedrich Schleiermachers diskutiert wird. https://doi.org/10.1515/9783110542202-007

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I „Studium der Griechen“: Iphigenie in Aulis des Euripides I.1 Schillers Übersetzung im Kontext Aus der Textanalyse der Iphigenie in Aulis geht mehr als deutlich hervor, dass für Schillers Übersetzungen in erster Linie seine Tätigkeit als Dramaturg Pate gestanden hat.1 Schiller begann mit der Übersetzung von Euripides’ Drama in den letzten Monaten des Jahres 1788. Im gleichen Zeitraum begann er auch mit einer Übertragung von Die Phönizierinnen, die er allerdings nicht vollendete.2 Auslöser des neuen Interesses für die Griechen war fraglos Schillers Begeisterung für Homer und, vor allem, die Tragiker, die er – Letztere in der französischen Übertragung von Pierre Brumoy – gemeinsam mit seiner späteren Frau Charlotte von Lengefeld und deren Schwester Caroline von Beulwitz las. Besonders Caroline ermutigte ihn dazu, den Übersetzungen eine neue, der modernen Rezeption angepasste Form zu verleihen.3 Schiller berichtet seinerseits, dass ihm das Übersetzen des Euripides große Freude bereite und stellt fest: „ein großter Theil davon kommt auch auf sein Alterthum“, da in diesem Text der Mensch „sich so ewig selbstgleich“ sei und „dieselben Leidenschaften, dieselben Collisionen der Leidenschaften, dieselbe Sprache der Leidenschaften“ habe.4 Als Gegengewicht zur historischen Distanz zu den antiken Griechen hebt er hervor, dass der Text das unwandelbare Wesen des Menschen als solchen darstelle, „diese Aehnlichkeit, diese Einheit derselben Menschenform“.5 Die Freude am Antiken und die Faszination, die das Klassische in diesen Jahren auf Schiller ausübte, wie die Niederschrift der Texte Die Götter Griechenlandes und Die Künstler bezeugt, reichen nicht als Erklärung aus, warum er sich mit der Übersetzung einer griechischen Tragödie beschäftigen wollte, obwohl

1 Schillers Texte werden zitiert nach der Nationalausgabe (im Folgenden: NA), begr. von Julius Petersen, fortgef. von Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers, Weimar 1943 ff. 2 Beide Übersetzungen wurden 1789 in der Zeitschrift Thalia veröffentlicht. Zum Kontext von Schillers Auseinandersetzung mit den griechischen Texten siehe Ernst-Richard Schwinge, Schiller und die griechische Tragödie. In: Schiller und die Antike, hg. von Paolo Chiarini und Walter Hinderer, Würzburg 2006, S. 15–48. 3 Théatre des Grecs, par le R. P. Brumoy, Nouvelle édition par M. Prevost, Tome VII, Cussac, Paris 1786 (derselbe Band enthält Prevosts Übersetzung der Phönizierinnen). 4 Brief an Caroline von Beulwitz und Charlotte von Lengefeld vom 4. Dezember 1788, NA 25, 153. 5 NA 25, 153.

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er sein Schulgriechisch zum Teil vergessen hatte, und aus welchem Grund er gerade die Iphigenie ausgewählt hat. Der Zeitpunkt der Übersetzung liefert diesbezüglich einen nützlichen Hinweis. Es handelt sich um eine Übergangsphase, wenn nicht gar um einen Moment der Krise in Schillers Schaffensprozess: Die zäh verlaufende, im Jahr 1787 vollendete Niederschrift des Don Carlos hatte bei ihm schwerwiegende Zweifel an seiner Fähigkeit geweckt, dramatische Werke konzipieren zu können, und mit seinem neuen Vorhaben der Malteser, das unvollendet blieb, suchte er nach einer neuen und folgerichtigeren Struktur für die dramatische Handlung. Von der Auseinandersetzung mit Euripides versprach er sich wertvolle Anregungen zur Erfüllung dieses Wunsches nach größerer Schlichtheit und Klarheit. Seinem Freund Gottfried Körner, der ihm gegenüber Zweifel sowohl an der Ergiebigkeit dieses Unterfangens als auch am künstlerischen Wert von Euripides’ Iphigenie geäußert hatte, in der er keine „heroische Einfachheit“, sondern nur „heroische Grobheit“ erkenne, erläutert Schiller, dass die Übersetzung für ihn den Beginn eines wirklichen Studiums der griechischen Tragödie bedeute, das ihm der Vervollkommnung der eigenen Theaterschriftstellerei dienen solle: Die Hauptsache ist die Manier, die im Schlechten herrscht wie im Besten, und in jenem fast noch leichter bemerkt wird. Mein Styl hat dieser Reinigung sehr nöthig. Ich hoffe, ehe ein Jahr um ist, sollst Du an diesem Studium der Griechen – Studium kann ich es aber für jetzt noch kaum nennen – schöne Früchte bei mir sehen.6

Wenn ihm auch die Iphigenie in Aulis nicht die beste Tragödie des Euripides zu sein scheint, so dient ihm die intensive, analytische Beschäftigung mit der Textstruktur doch dazu, sich eine größere Schlichtheit von dramatischer Struktur und Stil anzueignen. Die Art und Weise, in der Schiller die Übersetzung in Angriff nimmt, ist demnach weder philologisch ausgerichtet noch rein interpretativ, sondern könnte vielmehr als pragmatisch bezeichnet werden, und zwar sowohl im Hinblick auf die gezielte Textauswahl als auch auf die offensichtlichen Schwierigkeiten, die der unzureichenden Beherrschung der sprachlichen Grundlagen geschuldet sind. Schiller kam, wie angedeutet, nie über eher bescheidene Kenntnisse des Griechischen hinaus7 und bediente sich vorwiegend anderer Übersetzungen, die er mit dem Original verglich. Im Übrigen scheute er sich keinesfalls, die von ihm benutzten Übertragungen zu benen-

6 Brief an Gottfried Körner vom 12. Dezember 1788, NA 25, 158. 7 Johann Jacob Heinrich Nast, sein Griechischlehrer an der Karlsschule in Stuttgart, teilte ihm am 6. April 1789 nach der Veröffentlichung der Iphigenie brieflich seine Begeisterung mit und schlug ihm eine gemeinsame Übersetzung aller Tragiker vor. Vgl. NA 32/1, 331.

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nen: Neben der bereits zitierten von Brumoy verwendete er die lateinische von Joshua Barnes sowie die deutsche von Johann Jacob Steinbrüchel; dabei stellt er fest, dass in erster Linie die Übersetzung von Barnes seiner eigenen zugrunde liege, da sie ihm am treuesten erscheine.8 Die Notwendigkeit, sich zum besseren Verständnis des Originals solcher Hilfsmittel zu bedienen, erscheint ihm keineswegs als Schmälerung der eigenen Übersetzungsleistung, sondern eher als eine schöpferische Herausforderung im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Text selbst. Nach Abschluss der Niederschrift fordert er Körner sogar auf, seine Übersetzung mit der von Barnes, seinem „eigentlichen Original“, zu vergleichen, um die vor allem in den Chorszenen durchgeführten Verbesserungen zu bestätigen, und fügt hinzu: Ich fodere viele unserer Dichter auf, die sich soviel auf ihr griechisch und latein zu gute thun, ob sie bey so wenig Erwärmendem Text nur soviel geleistet hätten, als ich leistete. Ich konnte nicht wie sie mit den Feinheiten des Griechischen mir helfen – ich mußte mein Original errathen, oder vielmehr, ich mußte mir eins erschaffen.9

Dieses geradezu als ein Wettkampf anmutende Verhältnis Schillers zur griechischen Tragödie und zu ihren modernen Übertragungen, mit dem er gleichzeitig seine eigene Meisterschaft als Interpret und als Dramenautor auf die Probe stellen will, betrifft allerdings nicht nur die Übersetzungen. In der Tat gibt es in Schillers intellektuellem Umfeld in diesem Zeitraum mindestens zwei weitere Iphigenien: Goethes Iphigenie auf Tauris und Racines Iphigénie, die beide auf unterschiedliche Art dazu beigetragen haben, sein Interesse an diesem Tragödienstoff zu wecken. Darüber hinaus hatte die Thematik der Iphigenie sowohl in der zeitgenössischen Kunst als auch in literarischen Auseinandersetzungen eine paradigmatische Stellung eingenommen.10 Der implizite Bezug zu Racines Text, der durch kommentierende Anmerkungen dokumentiert wird, die Schiller während der Arbeit an der Übersetzung niederschrieb, beweist, dass sein Zugang zur griechischen Tragödie stets vom teils negativ konnotierten Modell der tragédie classique geprägt ist. In diesem Zusammenhang ist etwa die Einfü-

8 Die Übersetzung von Joshua Barnes (Euripidis Tragoedia, Fragmentae, Epistolae, Bd. 1, Leipzig 1778) enthält die von Barnes selbst erstellte Ausgabe des Originaltextes mit nebenstehender Übersetzung. Zusammen mit dieser Ausgabe hatte Schiller die Ausgabe von Johann Jakob Steinbrüchel bestellt: Das tragische Theater der Griechen. Des Euripides Erster Band, Zürich 1773. Vgl. Brief an Siegfried Lebrecht Crusius vom 16. Oktober 1788, NA 25, 119. Zu Barnes vgl. den Brief an Gottfried Körner vom 9. März 1789, NA 25, 221 f. 9 NA 25, 222. 10 Die Thematik wird umfassend behandelt bei Norbert Miller, Schillers Nachdichtung der Iphigenie in Aulis von Euripides. In: Schiller und die Antike, hg. von Paolo Chiarini und Walter Hinderer, Würzburg 2006, S. 111–166.

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gung eines Liebesmotivs durch Racine hervorzuheben („der französische Achilles ist der Liebhaber Iphigeniens, was jener nicht ist und nicht seyn soll“), das Schiller als „eine kleine egoistische Leidenschaft“ tilgt, da es mit „dem hohen Ernst und dem bedeutenden Interesse“ der tragischen Handlung nicht vereinbar sei.11 Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) bespricht Schiller in einer umfangreichen Rezension, die er nahezu gleichzeitig mit den EuripidesÜbersetzungen verfasst und 1789 veröffentlicht.12 Das Drama erscheint ihm in der Schlichtheit seiner Struktur und aufgrund der Eleganz der dramatischen Entwicklung als den griechischen Tragödien ebenbürtig und in krassem Gegensatz zu seinem Don Carlos stehend. Jahre später revidiert er dieses Urteil, indem er das Werk einerseits als „außerordentlich modern und ungriechisch“ bezeichnet und ihm andererseits in einer brieflichen Diskussion mit Goethe einen eher epischen als dramatischen Charakter zuweist, ohne jedoch in irgendeiner Form dessen großen inneren, „für alle Zeiten“ gültigen Wert in Frage zu stellen.13

I.2 Antikes Heldentum und moralische Autonomie Soviel sei zum Hintergrund angemerkt, vor dem die Tradition der IphigenieThematik sowie auch Schillers Vorhaben zu sehen sind, seine Meisterschaft als Tragödiendichter zu erarbeiten. Welcher Art sind aber nun ganz konkret die von Schiller vorgenommenen Eingriffe in Euripides’ Text und die Einflüsse jenes ,Studiums der Griechen‘ auf die Weiterentwicklung von Schillers Tragödienkonzeption? In erster Linie ist zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden: Dem formalen, die sprachliche und metrische Form betreffenden, und dem ästhetisch-inhaltlichen, für dessen Analyse auf die Überlegungen zu Personen

11 Siehe NA 15/1, 75. Racine, auf eine andere Version des Mythos zurückgreifend, führt durch die Figur der in Achilles verliebten Eriphile Liebe und Eifersucht in die dramatische Handlung ein. Eriphile erweist sich am Ende als eine Tochter der Helena (und des Theseus) und wird statt der Iphigenie geopfert. 12 Vgl. NA 22, 211–238. Die Rezension, an der Schiller von Mitte 1788 bis Anfang 1789 arbeitete, wurde in der zweiten Ausgabe 1789 der Zeitschrift Kritische Übersicht der neusten schönen Literatur der Deutschen mit der Ankündigung einer Fortsetzung veröffentlicht, die jedoch nie zustande kam. Siehe dazu Lesley Sharpe, Schiller and Goethes Iphigenie. In: Publications of the English Goethe Society, N.F. 54, 1985, S. 101–122. 13 Zu den Wirkungen der Auseinandersetzung mit Goethes Drama auf Schillers späte Dramenproduktion vgl. Wolfgang Wittkowski, Tradition der Moderne als Tradition der Antike. Klassische Humanität in Goethes Iphigenie und Schillers Braut von Messina. In: Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung, hg. von Ulrich Fülleborn, Theo Elm und Gerd Hemmerich, München 1982, S. 113–134.

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und dramatischer Handlung in Schillers kommentierenden Anmerkungen zurückgegriffen werden kann. Bei seiner Übersetzungsarbeit strebt Schiller vor allem an, die klassische antike Tragödie nicht nur an den sentimentalen Geschmack, sondern auch an die üblichen Theaterformen seiner Zeitgenossen anzupassen. Daher rühren einige äußere Umgestaltungen wie die Einteilung in Akte, die eine im Original nicht vorhandene Aufgliederung der Handlung mit sich bringt, sowie die Hinzufügung zahlreicher Regieanweisungen, mit denen erreicht werden soll, den Personen des Dramas eine ,moderne‘ Ausdruckskraft zu geben. Seltsamerweise ist auch die Personenübersicht verändert worden: Im griechischen Original folgt sie der Reihenfolge der Bühnenauftritte, in Schillers Übertragung erscheint eine hierarchische Ordnung – angefangen bei Agamemnon, über die weiblichen Figuren, deren familiäre Zugehörigkeit genannt wird, bis hin zu den Sklaven und zum Chor. Bemerkenswerter ist jedoch Schillers Verwendung eines reimlosen jambischen Pentameters für die metrische Gestaltung der Dialoge, die den großen Abwechslungsreichtum der von Euripides eingesetzten Metren durch einen einförmigen Rhythmus ersetzt. Er verleiht den Dialogen einen homogenen, rhetorisch-argumentativen Grundtenor. Dieser Eindruck wird ferner durch die Tatsache verstärkt, dass Schiller Euripides’ Stichomythie nicht berücksichtigt, sodass in seiner Übersetzung aus zwei Versen drei werden. Eine Übersetzung in Versform anzufertigen ist ein anspruchsvolles Unterfangen, mit dem sich Schiller von den anderen von ihm herbeigezogenen Euripides-Übersetzungen deutlich absetzt; zudem handelt es sich um eine programmatische Entscheidung, mit der der Dichter die im Don Carlos initiierte dramenschriftstellerische Praxis fortführt. Schiller nämlich, Goethes Beispiel folgend, der die ursprünglich in Prosa verfasste Iphigenie auf Tauris in Verse gesetzt hatte, verwendet die Versform in der Tragödie von nun an in antinaturalistischer Funktion, d. h. als Mittel der Idealisierung und gleichzeitig der Abstandnahme von der Zeit selbst, im Sinne seiner Auffassung vom ästhetischen Schein als Form der Sichtbarmachung der Wahrheit durch explizite und selbstreflektierte Täuschung. Dieser Schein kann nicht beanspruchen, die Wahrheit zu ersetzen, wiewohl er es dem Dichter ermöglicht ‒ wie er einige Jahre später in der Vorrede zur Braut von Messina (1803) feststellt ‒, „auf der Wahrheit selbst, auf dem festen und tiefen Grunde der Natur“ ein „ideales Gebäude“ zu errichten.14 Die Chorszenen sind hingegen in freien gereimten Versen abgefasst, mit denen keineswegs die unnachahmliche rhythmische Struktur des

14 Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, NA 10, 9.

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Originals reproduziert werden soll, sondern vielmehr eine neue, auf einem Gleichgewicht von dramatischem und lyrischem Ton basierende Harmonie geschaffen werden soll. Schiller begründet dieses Vorgehen mit der Notwendigkeit, dem Chor, den er mit Ausnahme der Parodos als dramaturgisch schwach und häufig repetitiv ansieht, ein selbständiges, poetisch aussagekräftiges Eigenleben zu geben, das die auf dessen Auftreten unvorbereiteten Leser/ Zuschauer für sich zu gewinnen vermag, und gleichzeitig die poetische Harmonie des griechischen Originals zu kompensieren. Die Bedeutung, die Schiller der lyrischen Gestaltung dieses Teils der Tragödie zumisst, geht auch daraus hervor, dass er das dritte Stasimon (V. 1290–1343) als eigenständiges Werk mit dem Titel Die Hochzeit der Thetis im ersten Band seiner Gedichte veröffentlichte.15 In dem Urteil von Wilhelm von Humboldt war es nämlich nicht „bloss eine Uebertragung in eine andre Sprache, sondern in eine andre Gattung von Dichtung“, in der der antike Geist [...], wie ein Schatten, durch das ihm geliehene Gewand [blickt]. Aber in jeder Strophe sind einige Züge des Originals so bedeutsam herausgehoben, und so rein hingestellt, dass man dennoch vom Anfang bis zum Ende beim Antiken festgehalten wird.16

Die Betrachtungen zu den Chorszenen, die er sogar verbessert zu haben überzeugt ist,17 verdeutlichen die der Beschäftigung mit Euripides und mit den griechischen und lateinischen Klassikern insgesamt zugrundeliegende Intention, diese zu „verdeutschen“ bzw. einem Verfahren der aneignenden Interpretation zu unterziehen, durch das jedoch nicht die Distanz zum antiken Text aufgehoben und damit eine formale Nachahmung vermieden werden soll. Die Grundidee dieser Schiller’schen Übertragung liegt einerseits in einer dialektischen Betrachtungsweise der Antike als Präsenz und Alterität ‒ eine implizite Vorwegnahme des späteren Begriffspaares „naiv-sentimentalisch“ ‒ und andererseits in der Zielsetzung, das Wesentliche der tragischen „Manier“ des Euripides bzw. die Ratio seiner Tragödienkonstruktion zu begreifen, um die eigene Schreibtechnik zu erneuern.18 Auf derartigen Kriterien beruhen die in den An-

15 NA 1, 20 f. 16 Wilhelm von Humboldt, Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung. In: Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt, hg. von Siegfried Seidel, Berlin 1962, Bd. 1, S. 1–39, hier S. 10. 17 Vgl. Brief an Gottfried Körner vom 9. März 1789, NA 25, 221 f. 18 Zur „tragischen Methode“ des Euripides stellt Schiller in den folgenden Jahren weitere Überlegungen an; so stellt er während der Abfassung der Maria Stuart in einem Brief an Goethe vom 26. April 1799 fest, dass die politischen Aspekte der Handlung nach „der Euripidischen

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merkungen enthaltenen Betrachtungen zum dramatischen Gehalt der Iphigenie und zur Gestaltung der Personen. Schiller bewertet die Figuren des Euripides einerseits nach ihrer Eignung, Mitgefühl hervorzurufen, und nach ihrer Stimmigkeit, andererseits führt er aber auch das moderne Kriterium der moralischen Eigenständigkeit der Person ein. Agamemnon erscheint ihm in diesem Sinne als unentschlossener Charakter, als abwechselnd „Mensch und Unmensch, Ehrenmann und Betrüger“, und damit als ungeeignet, eine sympathetische Gefühlsbewegung im Zuschauer auszulösen.19 Ebenso verhält es sich auch mit Achilles, dessen Zweifel an der göttlichen Ordnung und an der Prophezeiung des Todes von Iphigenie er als der inneren Struktur des Dramas und seinem ideellen Bezugsrahmen unangemessen ansieht. In diesem Zusammenhang stellt er die Frage, ob es dem Autor erlaubt sei, in den Handlungsverlauf Auffassungen einfließen zu lassen, die mit der ideologischen Gesamtanlage, die der Geschichte (μῦθος) zugrunde liegt, im Widerspruch stehen; dabei handelt es sich sicherlich um keine zweitrangige Frage für die Festlegung dessen, was der Folgerichtigkeit der dramatischen Illusion zugrunde liegt.20 Als weitaus überzeugender schätzt er die beiden weiblichen Charaktere Klytämnestra und Iphigenie ein: Erstere schildert er, ungeachtet einiger Anspielungen auf spätere Ereignisse, schlüssig als „eine zärtliche Mutter und nichts als Mutter“, Letztere als „Mischung von Schwäche und Stärke“, als Ausgestaltung eines zwischen „Zaghaftigkeit und Heroismus“ schwankenden menschlichen Charakters.21 Die Figur der Iphigenie entspricht in vielen Zügen der Vision vom tragischen Helden, die Schillers Jugendwerk durchzieht, und nicht zuletzt nimmt die im Kommentar gelieferte Interpretation die Theorie des PathetischErhabenen, die Schiller seit Anfang der 1790er Jahre mithilfe des Kantischen Begriffssystems formuliert, auf: „Kann etwas wichtigeres und erhabeneres seyn als die – zuletzt doch freywillige – Aufopferung einer jungen und blühenden Fürstentochter für das Glück so vieler versammelter Nationen?“.22 Mit ihrer Entschlossenheit, die Notwendigkeit in freie Entscheidung umzuwandeln, wobei sie die Last der Rettung der Griechen auf sich nimmt und diese damit auch als ihr Verdienst beansprucht, opfert Iphigenie mit ihrem Leben das höchste Gut des Menschen, bekräftigt auf diese Weise aber auch die Autonomie ihrer

Methode, welche in der vollständigsten Darstellung des Zustandes besteht“, behandelt werden müssten (NA 30, 45). 19 NA 15/1, 78. 20 Vgl. NA 15/1, 75 f. 21 NA 15/1, 76. 22 NA 15/1, 76. Zur Konzeption des Tragisch-Erhabenen vgl. Giovanna Pinna, Il sublime in scena. Sulla teoria schilleriana della tragedia. In: Strumenti Critici, 16, 1999, S. 175–203.

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moralischen Bestimmung. Die wesentliche Bedeutung des Euripides-Dramas ist für Schiller auf diese stoische Hingabe Iphigenies in ihr Schicksal fokussiert, die insofern den modernen Heldinnen, von Chimène in Pierre Corneilles Cid, der im Essay Über die tragische Kunst (1792) diskutiert wird, bis hin zu Maria Stuart im gleichnamigen Drama (1800), nicht unähnlich erscheint.23 Unmittelbare Auswirkung dieser Interpretation ist Schillers auffälligster Eingriff in das Original: Die Unterdrückung des vierten Stasimons und des Auszugs, in dem die Ersetzung Iphigenies durch eine Hirschkuh auf dem Opferaltar durch göttliche Intervention berichtet wird. Die Übersetzung endet somit mit den Abschiedsworten der Protagonistin, mit denen Schiller die tragische Handlung als abgeschlossen betrachtet. Mit der Eliminierung des deus ex machina, dessen Einschreiten Schiller als dramaturgisch irrelevant ansieht und in dem sich aber wohl mehr als irgendwo sonst die Verankerung des Werks in der symbolischen Weltordnung des antiken Griechenlands manifestiert, vollendet und besiegelt er einen Prozess, in dem er den antiken Stoff zumindest vorläufig an eine moderne und universelle Vision des Ethos anpasst, die aus dem Mythos in erster Linie das apollinische Element aufnimmt.

II Konvention und Natur: Racines Phèdre II.1 Da capo: Auseinandersetzung mit der französischen Klassik Mit seinem letzten Werk, der Übersetzung von Racines Phèdre, setzt sich Schiller unmittelbar mit dem literarischen Modell der tragédie classique auseinander, das stets Grundlage seiner Beschäftigung mit der Dramaturgie und seiner theoretischen Überlegungen zum Drama gewesen war. Das klassische französische Drama stellte seit Lessing eines der Hauptangriffsziele einer Literaturdiskussion dar, die auf der Suche nach einer nationalkulturellen Identität war. Die deutschen Intellektuellen kritisierten an der klassischen französischen Tragödie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deren Starrheit, das Vorherrschen der bienséance, des Prinzips des Anstands, das den Personen jede Natürlichkeit in der Darstellung der Leidenschaften entzöge, sowie die Künstlichkeit der Situationen. Als Gegenmodell wurde Shakespeare gepriesen, der nicht

23 Die Affinität zwischen Iphigenie und Maria Stuart ist von Francis Lamport (Schiller and Euripides: The Translations of 1788 and Schiller’s Latest Plays. In: German Life and Letters, 58, 2005, S. 247–270) hervorgehoben worden.

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mehr als barbarischer Feind aller Regelhaftigkeit, sondern als profunder Kenner der menschlichen Leidenschaften gerühmt wurde. Wie alle polemischen Reaktionen entsprang die Kritik am französischen Klassizismus ursprünglich der Abhängigkeit von und einer weit verbreiteten Vertrautheit mit diesem, die nicht vollständig verloren ging, wenn sich auch ein der „Unnatürlichkeit“ der Werke Corneilles oder Racines skeptisch gegenüberstehender Geschmack unaufhaltsam verbreitete.24 Dasselbe gilt auch für Schiller, der zwar im Essay Über tragische Kunst Corneilles Cid als Beispiel für die Überlegenheit des modernen Verstandes über die griechisch-antike Vorstellung vom Schicksal anführt,25 der aber insgesamt der Ansicht ist, die Personen der französischen Tragödien seien abstrakte Repräsentationen der stoischen Widerstandskraft gegen die Leidenschaften, während die Leidenschaften selbst nicht eigentlich zum Ausdruck kämen. Die Grundidee der Tragödie, „die lebendige Darstellung der leidenden Natur“, werde nämlich durch das deklamatorische Agieren der Personen „erstickt“, die infolgedessen zu wenig konturiert erschienen und im Wesentlichen in den jeweils standesspezifischen Verhaltenskonventionen gefangen seien. Hierin seien die Franzosen das genaue Gegenteil der Griechen mit ihrer „zarte[n] Empfindlichkeit für das Leiden“.26 Wie programmatisch die Distanz zwischen diesem Theater des gesprochenen Wortes und dem Schiller’schen Dramenmodell, in dem die Personencharaktere und die Handlung vorherrschen, auch sein mag, so drängen die Gestaltungsprobleme um die zentralen Motive der Tragödien der klassischen Epoche seit dem Wallenstein (1800), bei denen es um die Neubewertung der Idee von der Notwendigkeit oder Schicksalhaftigkeit geht, den Dramatiker Schiller doch zu einer wiederholten Auseinandersetzung mit den Franzosen, unter denen Racine für ihn zweifelsohne „dem Vortreflichen“ am nächsten war.27 Es ist bekannt, dass die Übersetzung der Phèdre vom Weimarer Hof angeregt worden war, dessen Interesse für die zeitgenössische französische Kultur äußerst rege war, und dass Schiller die Arbeit Ende 1804 mit großem Eifer in

24 Einen Überblick über die Rezeption des klassischen französischen Theaters in Deutschland zwischen der Mitte des 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bietet Karl August Ott, Die Rede als dramatische Handlung. Racines „Phèdre“ in der Übersetzung Schillers. In: Formenwandel, hg. von Walter Müller-Seidel und Wolfgang Preisendanz, Hamburg 1964, S. 319–350. 25 Über die tragische Kunst, NA 20, 156 f. 26 Über das Pathetische, NA 20, 197 f. 27 Vgl. den Brief an Goethe vom 31. Mai 1799, NA 30, 52. Die These von der Nähe Schillers zur Form des klassischen französischen Theaters seit dem Wallenstein wird mit überzeugenden Argumenten vertreten von Peter André Bloch (Schiller und die französische klassische Tragödie, Düsseldorf 1968, bes. S. 243–315).

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Angriff nahm und nach nur einem Monat rechtzeitig zu Ende führte, sodass das Drama anlässlich des Geburtstages der Herzogin am 30. Januar 1805 im Weimarer Theater aufgeführt werden konnte.28 Die Energie und Sorgfalt, mit der Schiller die Übersetzung ausführte, obwohl der Anstoß zur Übertragung des Textes von Racine von außen an ihn herangetragen worden war, und dies zudem zu einem Zeitpunkt, zu dem die Krankheit ihm jede Art kreativer Tätigkeit erschwerte, beweisen sein verstärktes Interesse insbesondere an dem Stoff der Tragödie, der ihm seit seinen Euripides-Studien bekannt war. Das Thema der Liebesleidenschaft, der sich unüberwindliche moralische Hindernisse entgegenstellen, ist für den Dichter in der Tat ein Sujet mit vielversprechenden Möglichkeiten der dramatischen Ausarbeitung. Der Eros als Urgrund des tragischen Konfliktes ist schon in den Jugenddramen präsent: Man denke nur an die „politische“ Tragödie des Don Carlos, in der die Liebe des Prinzen zur Stiefmutter eine zentrale Rolle für den überstürzten Fortgang der Ereignisse spielt, oder an Kabale und Liebe (1784), wo dies noch stärker der Fall ist. Erheblich folgenreicher ist die Liebesleidenschaft aber in den Dramen der Reifeperiode wie etwa in der Jungfrau von Orleans (1801), in der die schicksalhafte Liebe Johannas zu Lionel in tragischem Widerspruch zur hohen Bestimmung der Heldin steht. Hinzu kommt der inzestuöse Charakter von Phädras Leidenschaft, ein Motiv, das bereits im Don Carlos erscheint und das Schiller keine zwei Jahre später in der Braut von Messina wieder aufgreift. In diesem Werk, das als Experiment der modernen Umgestaltung einiger Schlüsselelemente der klassischen Tragödie zu betrachten ist, bringt Schiller das Inzestmotiv in einer Art mehrfacher Brechung auf die Bühne: Im Zentrum stehen zwei Brüder, die aus Liebe zur Mutter zerstritten sind und sich beide in die Schwester verlieben. Hinzu kommt eine düstere Prophezeiung, die zweifach gedeutet wird und einen zusätzlichen Vater-Sohn-Konflikt heraufbeschwört. Die Leidenschaft, die sich als destruktive und selbstzerstörerische Kraft erweist, ist wie bei Racine mit der Neuauslegung der antiken Idee des Schicksals eng verbunden (Phädra ist Tochter der Pasiphae). Wo Racine jedoch das Fatum säkularisiert und die rationale Kontrolle der Leidenschaft als Antriebskraft der tragischen Handlung in den Mittelpunkt der Darstellung rückt, setzt Schiller in der Braut die wesentlichen Bestandteile des Mythos als analytisches Mittel zur Herausstellung des Konfliktpotenzials ein, das zwischen der natürlichen (oder eben leidenschaftlichen) Grundsubstanz des Menschen und seiner moralischen Autonomie besteht. Sein Interesse an der Thematik und vor allem an der vergleichenden Auseinandersetzung mit derselben ist für Schiller, der nicht mehr in der Lage

28 Die Übersetzung erschien im Druck nach Schillers Tod. Vgl. Phädra. Tragödie von Racine. Übersetzt von Schiller, Tübingen 1805.

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ist, an seinem letzten Projekt Demetrius zu arbeiten, der Grund, die Phädra als Anlass zu nutzen, „das verstimmte Instrument“ der tragischen Schreibkunst „wieder einzurichten“.29

II.2 Von Phèdre zu Phädra oder wie die Form den Inhalt affiziert In sprachlicher Hinsicht war die Übersetzung der Phèdre unproblematisch, da, anders als für die von Macbeth und Iphigenie, keinerlei weitere Übersetzungen ins Deutsche oder Lateinische als Hilfsmittel erforderlich waren. Schiller hatte in der Tat gute Französischkenntnisse, die er seit der Militärakademie gepflegt hatte, wo das Französische als eine Art zweite Verkehrssprache für den formalen Umgang galt. Darüber hinaus hatte er ebenfalls im Auftrag des Hofes schon zwei Komödien von Louis Benoit Picard sowie die Episode der Madame de la Pommeraye aus Jacques le fataliste von Diderot übersetzt.30 Insofern war er durchaus in der Lage, die sprachlichen Feinheiten des Originals zu erfassen, in das er im Übrigen nicht durch Änderungen oder Auslassungen eingriff und die Handlung somit nicht umgestaltete, wie er es in der Iphigenie oder noch augenfälliger in Shakespeares Macbeth getan hatte. Schiller unterstreicht vielmehr in einem Brief an Körner die „gewissenhafte Treue“, mit der er die Übersetzung erstellt habe, in der er sich „nicht eine einzige Variation“ erlaubt habe.31 Um welche Art von Treue handelt es sich aber? Obwohl Schillers Übersetzung aufgrund ihrer Genauigkeit für lange Zeit als die einzige anerkannte Verdeutschung der Phèdre von Racine galt, scheint die Handschrift des Übersetzers in Wahrheit so deutlich durch, dass mit Luzzatto konstatiert werden kann, dass „toute substance poétique est changée dans l’élaboration poetique de Schiller, qui lui fait subir une métamorphose totale“.32 Der Schwierigkeit der Übertragung der metrisch-stilistischen Form der tragédie classique in eine andere Sprache war sich Schiller durchaus bewusst, zumal dieser schon einige

29 Brief an August Wilhelm Iffland vom 5. Januar 1805, NA 32, 182. 30 Die Komödien von Picard Encore des Ménechmes e Médiocre et rampant ou le moyen de parvenir (im Druck 1797 und 1802 mit den Titeln Der Neffe als Onkel und Der Parasit erschienen) waren populäre Erfolgsstücke. Bei Diderot handelt es sich eher um eine Neubearbeitung als um eine Übersetzung im eigentlichen Sinne. Siehe dazu Jutta Linder, Ästhetik des Bösen. Schiller und seine Diderot-Übersetzung „Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache“. In: Museum Patavinum, 3, 1985, S. 237–242. 31 Brief an Gottfried Körner vom 20. Januar 1805, NA 30, 187. 32 A. Luzzatto, Schiller Traducteur de Racine. In: Revue de Littérature comparée, 19, 1939, S. 622–637.

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Jahre zuvor in einer Besprechung der Inszenierung des Mahomet von Voltaire durch Goethe diesbezüglich mit großer Deutlichkeit wesentliche Aspekte erkannt hatte: Die Eigenschaft des Alexandriners sich in zwei gleiche Hälften zu trennen, und die Natur des Reims, aus zwei Alexandrinern ein Couplet zu machen, bestimmen nicht bloß die ganze Sprache, sie bestimmen auch den ganzen innern Geist dieser Stücke, die Charaktere, die Gesinnungen, das Betragen der Personen. Alles stellt sich dadurch unter die Regel des Gegensatzes und wie die Geige des Musikanten die Bewegungen der Tänzer leitet, so auch die zweischenkligte Natur des Alexandriners die Bewegungen des Gemüths und die Gedanken. Der Verstand wird ununterbrochen aufgefordert, und jedes Gefühl, jeder Gedanke in diese Form, wie in das Bette des Prokrustes gezwängt. Da nun in der Uebersetzung mit Aufhebung des Alexandrinischen Reims die ganze Basis weggenommen wird, worauf diese Stücke erbaut wurden, so können nur Trümmer übrig bleiben. Man begreift die Wirkung nicht mehr, da die Ursache weggefallen ist.33

Wenn die Form in entscheidender Weise den Inhalt bestimmt, dann befindet sich der Übersetzer vor einem unüberwindlich erscheinenden Dilemma: Dies gilt für Schiller umso mehr, als er als Theaterexperte die Bühnenwirkung des Dramas berücksichtigt, sodass er feststellt: „Wenn man in der Übersetzung die Manier zerstört, so bleibt zu wenig poetisch menschliches übrig, und behält man die Manier bei und sucht die Vorzüge derselben auch in der Uebersetzung geltend zu machen, so wird man das Publicum verscheuchen“.34 Wenn er sich dennoch fünf Jahre später entschließt, die Phèdre zu übersetzen, dann tut er dies aufgrund des „großen dramatischen Interesses“ an Racines Stück, „das man sogar fürtreflich heissen könnte“, wäre es in anderer „Manier“ geschrieben.35 Indem Schiller also jede mimetische Zielsetzung prinzipiell ausschließt, ohne die wörtliche Treue gegenüber dem Original zu vernachlässigen, strebt er eine Neuschaffung des Werkgehalts mithilfe des bereits erprobten Blankverses an. Die Ersetzung des für den Alexandriner charakteristischen Gegensatzpaares durch den jambischen Pentameter, die zu einer geringeren Silbenzahl führt, erzeugt eine raffende und dynamisierende Wirkung. Der zeremonielle Rhythmus des poetischen Sprachduktus Racines weicht somit einem drängenden Vorwärtsschreiten, das den Äußerungen der Personen eine gewisse Aufgeregtheit und emotionale Anteilnahme verleiht, welche den Figuren des Originals in ihrer vornehmen Selbstbeherrschung durchaus fremd ist.36 Hinzu

33 Brief an Goethe vom 15. Oktober 1799, NA 30, 106 f. 34 NA 30, 106. 35 Brief an Gottfried Körner vom 20. Januar 1805, NA 32, 187. 36 Alexander Nebrig (Rhetorizität des hohen Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung, Göttingen 2007, S. 298–340) bestätigt die Dynamisierung durch einen Vergleich mit einer früheren Übersetzung, indem er zeigt, wie Schiller die

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kommt die Tilgung der durch Standesunterschiede bedingten Distanz aufgrund einer generalisierenden Verwendung des ,du‘ anstelle des ,Ihr‘, eine durch die Idee einer universellen Klassizität der griechischen Tragödie inspirierte Maßnahme. Auf stilistischer Ebene bemüht sich Schiller, den durch den fehlenden Reim verloren gegangenen Ton durch eine gewählte und oft altertümliche Sprache zu kompensieren.37 Diese Strategie, die auf die in der bereits erwähnten Vorrede zur Braut von Messina formulierte antinaturalistische Poetik zurückverweist, ist Ausdruck eines Klassizismus, der ein Gegenentwurf zu Racine sein will und in dem die Stilisierung als Ausdrucksmittel der Dialektik der Leidenschaften fungiert.

III Shakespeares Macbeth Der ungewöhnliche übersetzerische Ansatz Schillers und seine prinzipielle Distanz zur Idee der möglichst vollständigen Übertragung des Originals, die sich bei den Romantikern durchsetzt, geht besonders deutlich aus seiner Arbeit am Macbeth hervor, die man nicht im eigentlichen Sinne als Übersetzung bezeichnen kann. Vielmehr handelt es sich um eine Hybridgattung zwischen Übersetzung und Theaterbearbeitung.38 Hier erscheint die pragmatische Ausrichtung der Verdeutschung des Dramas, die sich frei von philologischen Rücksichten in erster Linie ganz an der dramatischen Schreibweise orientiert, noch offensichtlicher und komplexer als im Fall der Iphigenie. Diese Vorgehensweise impliziert nicht nur eine an den Erfordernissen der eigenen Tragödienproduktion ausgerichtete Auseinandersetzung mit dem Originaltext, sondern behält ausdrücklich die genuin theatralische Dimension des Werks im Auge, was auch die von der klassischen Weimarer Bühne und vom Publikumsgeschmack vorgegebenen Grenzen einschließt.39 Schiller beschäftigt sich mit Macbeth, während er gleichzeitig an den langwierigen Vorarbeiten zum Wallenstein arbeitet. Insbe-

räumlich-statische Ordnung des Schriftbildes tendenziell aufhebt. Zweigliedrige Verse, Verspaare, Quartette, Sextette und Oktette machen einer weniger stark segmentierten Rede Platz. 37 Die Sprachunterschiede zwischen den Tragödiendichtern Schiller und Racine muss zum Teil auf die Differenzen in der Sprachentwicklung des Französischen und des Deutschen zurückgeführt werden. Siehe dazu Fritz Nies, Schiller, Werle et les autres. Racine an langue allemande. In: Revue de littérature comparée, 73, 1999, S. 185–193. 38 Vgl. NA 13, 73–162 (Trauerspiel in fünf Aufzügen, nach Shakespeare neu bearbeitet von Schiller). 39 Vgl. Hans-Heinrich Borcherdt, Schillers Bühnenbearbeitungen Shakespearescher Werke. In: Shakespeare Jahrbuch, 91, 1955, S. 52–64.

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sondere geht es ihm darum, über die Auseinandersetzung mit der Shakespeare’schen Tragödie das Modell eines tragischen Helden zu definieren, der als eine moralisch zweifelhafte Figur wie etwa Wallenstein auftritt, dessen Untergang keinem widrigen Schicksal, sondern in erster Linie dem Protagonisten selbst und seinen Handlungen anzulasten ist. Die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen individueller Verantwortung und Schicksal in der tragischen Verstrickung für Schiller im Mittelpunkt des Interesses stand, geht aus einem Brief an Goethe von 1796 hervor, in dem er zum Wallenstein feststellt: Auch ist das Proton Pseudos in der Katastrophe, wodurch sie für eine tragische Entwicklung so ungeschickt ist, noch nicht ganz überwunden. Das eigentliche Schicksal thut noch zu wenig, und der eigne Fehler des Helden noch zuviel zu seinem Unglück. Mich tröstet hier aber einigermaßen das Beispiel des Macbeth, wo das Schicksal ebenfalls weit weniger Schuld hat als der Mensch, daß er zu Grunde geht.40

Als Schiller im Jahr 1800 die Macbeth-Bearbeitung für die Aufführung am Weimarer Hoftheater in Angriff nimmt, ist die Übersetzung als solche im Verhältnis zur theoretischen Reflexion über das Tragische von nur zweitrangiger Bedeutung. Auch in diesem Fall bedient er sich anderer Übersetzungen, vor allem derer von Johann Joachim Eschenburg und Christoph Martin Wieland,41 und vergleicht diese mit dem Originaltext, weil da „der Geist des Gedankens viel unmittelbarer wirkt“ und „den wahren Sinn“ der Shakespeare’schen Tragödie zu erfassen erlaubt.42 Die Verwendung von Übersetzungen anderer Autoren, die im berühmten satirischen Gedicht Trost bei einer schwierigen Unternehmung von August Wilhelm Schlegel an den Pranger gestellt wird,43 sieht Schiller als legitim an, wenn sie dem Erreichen seines Zweckes dienlich ist, eine Version des fremdsprachigen Werkes zu erstellen, die verständlich ist und den Erfordernissen der zeitgenössischen Nationalkultur gerecht wird und gleichzeitig den Sinn des übersetzten Werkes in seiner Gesamtheit zu erhalten vermag. Schiller zögert im Übrigen nicht, die bereits vorliegenden Übersetzungen hinsichtlich ihrer literarischen Form erheblich zu verändern, indem er den Prosa-

40 Brief an Goethe vom 28. November 1796, NA 29, 15. 41 Vgl. William Shakespear’s Schauspiele, hg. von Johann Joachim Eschenburg, 13 Bde., Zürich 1775–1782; Shakespear, Theatralische Werke, aus dem Englischen übersezt von Herrn Wieland, Zürich 1762–1766. Zu den Übersetzungen von Eschenburg und Wieland siehe Roger Paulin, The Critical Reception of Shakespeare in Germany 1682–1914, Hildesheim–Zürich–New York 2003, S. 106–131. 42 Brief an Goethe vom 2. Februar 1800, NA 30, 141. 43 „Nur wenig Englisch weiß ich zwar, / Und Shakspeare ist mir gar nicht klar: / Doch hilft der treue Eschenburg / Wohl bei dem Macbeth mir hindurch“ (August Wilhelm Schlegel, Poetische Werke, hg. von Eduard Böcking, Leipzig 1846, Bd. 2, S. 212).

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text zu einem jambischen Versfuß umformt und dabei besonderen Wert auf die rhythmisch-klangliche Ausarbeitung und deren Wirkung auf den Zuschauer legt. Wie schon bei der Iphigenie sind die zeitgenössischen Übersetzungen für Schiller Vergleichsvorlagen, deren Funktion für ihn insofern nahezu identisch mit der des englischen Originaltextes ist. An Körner schreibt er: Vergleiche ihn [Macbeth, G. P.] genau mit dem Original und den bisherigen Übersetzungen. Freilich macht er gegen das englische Original eine schlechte Figur; aber das ist wenigstens nicht meine Schuld, sondern der Sprache und der vielen Einschränkungen welche das Theater nothwendig machte.44

Darüber hinaus greift er massiv in den Text ein, und zwar durch die Tilgung von Szenen und Figuren und durch Überarbeitungen zentraler Textstellen, wodurch die Deutung der Handlung gesteuert wird. Der Einsatz solcher hermeneutischen Filter ist äußerst scharfsinnig von Schleiermacher kommentiert worden, der Schillers Macbeth eine detaillierte Rezension widmete,45 die zwölf Jahre vor seinem bahnbrechenden Aufsatz Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens46 anonym veröffentlicht wurde. Schleiermachers Rezension ist bedeutsam für die Erforschung der Übersetzungskonzeptionen an der Schnittstelle zwischen Klassik und Romantik, nicht nur, weil sie aus der Feder eines der Vorreiter der modernen Übersetzungstheorie stammt, sondern auch, weil sie unmittelbar auf die durch Schillers „Übersetzung“ hervorgerufene kritische Reaktion der Romantiker, speziell jene August Wilhelm Schlegels, Bezug nimmt.47 Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Schiller mit seiner Arbeit in mehrfacher Hinsicht in Konkurrenz zum wenige Jahre vorher begonnenen Übersetzungsprojekt des Shakespeare’schen Gesamtwerks durch Schlegel und Tieck tritt, das zudem, wie die Ironie des Schicksals es wollte, 1796 in Schillers

44 Brief an Gottfried Körner vom 16. Juni 1800, NA 30, 163. 45 Friedrich Schleiermacher, Rezension von William Shakespeare: Macbeth. Ein Trauerspiel, zur Vorstellung auf dem Hoftheater zu Weimar eingerichtet von Schiller. In: Litteratur-Zeitung, Bd. 6, Nr. 148–149, 1801. Jetzt in Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birchner et al., Berlin/New York 1980 ff. (im Folgenden SKA), Bd. 3, S. 389–398. 46 Vgl. SKA, Bd. 11, S. 65–94. 47 Siehe den Brief vom 17. Mai 1801 an Henriette Herz, in dem Schleiermacher schreibt, dass es ihm, nachdem er Schlegels Kommentare zu Schillers Macbeth gehört hat, „grausam in den Fingern juckt, ihn zu rezensieren“. (SKA, Briefe, Bd. 1, S. 266). Schlegel bringt seine Zustimmung zur Rezension zum Ausdruck, wenn er sie auch als „zu gründlich und zu philologisch“ beurteilt, d. h. zu wenig polemisch (August Wilhelm Schlegels Brief an Schleiermacher vom 7. September 1801, SKA, Briefe, Bd. 5, S. 192 f.), worauf Schleiermacher antwortet, dass er sich vielleicht etwas „Pikanteres“ erwartet hätte, aber „[w]as nöthig ist steht doch da“ (Brief an August Wilhelm Schlegel vom 17. September 1801, SKA, Briefe, Bd. 5, S. 206).

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Zeitschrift Die Horen angekündigt worden war. Der Macbeth wurde allerdings erst später von Dorothea Tieck übersetzt, die sich streng an das Kriterium der größtmöglichen Nähe zum Originaltext hielt, sogar bis hin zur Reproduktion der Silbenzahl. Dessen ungeachtet, sind Schlegels sarkastische und Schleiermachers philologische Reaktionen auf die Veröffentlichung von Schillers Bearbeitung ein wichtiger Hinweis auf die grundsätzliche Diskrepanz zwischen dessen Übersetzungskonzept und der von den Romantikern initiierten Übersetzungspraxis.48 Trotz seines respektvollen Tons gegenüber der Arbeit eines prominenten Dramendichters vom Schlage Schillers, analysiert Schleiermacher systematisch in seinem Aufsatz die Abweichungen vom Original, sowohl in sprachlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die dramaturgische Bearbeitung, wobei er zeigt, dass diese „das Ganze“ der Shakespeare’schen Tragödie verfälschen. Bemerkenswert ist in diesem Sinn die relativierende Vorwegnahme eventueller Gegenargumente, mit der die Rezension beginnt: Diese „dem Original so ungleich nähere Nachbildung [...] wird bald, was als Vorbereitung auf ganz treue Darstellungen unumgänglich nöthig ist – jeden früheren Macbeth von unsern angesehensten Bühnen entfernen“.49 Wenn auch Schillers Version die gängigen Übersetzungen der Zeit übertrifft, kann sie somit dennoch lediglich als Vorläuferin des sich später durchsetzenden Übersetzungsmodells angesehen werden, das den Wortsinn des Originals respektiert, ohne dabei jedoch die historische und intellektuelle Distanz zur Kultur des Zieltextes außer Acht zu lassen. Diese offenbare in der Tat, dass „jede Aenderung, die man sich, aus welchem Grunde es auch sey, vermeintlich nur am Einzelnen erlaubt, dennoch ins Ganze eingreift, und daß es im Shakespeare wirklich eine unverletzbare Einheit und Ganzheit giebt“.50 Schleiermachers Analyse dekonstruiert gewissermaßen Schillers Bearbeitung, indem sie deutlich macht, dass deren interpretative Prämissen die Gesamtaussage des Werkes entstellen. Die Auswirkungen von Schillers dramentheoretischen Auffassungen kommen besonders deutlich an einigen Schlüsselstellen der Macbeth-Übertragung zum Ausdruck, bei denen es sich allerdings keinesfalls um reine übersetzerische Entscheidungen, sondern vielmehr um tatsächliche dramaturgische Eingriffe handelt. Am auffälligsten ist unter diesen wohl die Anfangsszene, in der die Hexen als antike Gottheiten, als Erinnyen oder Parzen, dargestellt werden, wodurch sie nur noch wenig mit Shakespeares schauerlichen und höhnischen

48 Siehe dazu die sorgfältige Analyse von Roger Paulin, Schiller’s Macbeth reconsidered. In: Texte, Motive und Gestalten der Goethezeit, hg. von John L. Hibberd und Hugh B. Nisbet, Tübingen 1989, S. 131–149. 49 SKA I.3, 379. 50 SKA I.3, 380.

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Höllengestalten gemein haben. Die Dimension der Darstellung wird ‒ ein Aspekt, den Schleiermacher als erster von vielen Interpreten hervorhebt ‒ von der sprachlichen Gestaltung sekundiert, insofern nämlich, als Schiller die wirre Redeweise der Hexen in zusammenhängende Aussagen im jambischen Versmaß überträgt, das dann im gesamten Drama gleichmäßig durchgehalten wird.51 Es ist aber in erster Linie durch die inhaltliche Umformung von Versen, dass eine moralische Reflexion in das Drama eingeführt wird, die in Shakespeares Original keinesfalls enthalten ist, den modernisierenden und rationalisierenden Ansatz Schillers deutlich zum Vorschein kommen lässt und sich in einen radikalen Gegensatz zum neuen, implizit in Schleiermachers Rezension favorisierten romantischen Modell setzt. So heißt es in der ersten Szene des ersten Aktes: Erste Hexe. Aber die Meisterin wird uns schelten, Wenn wir mit trüglichem Schicksalswort Ins Verderben führen den edeln Helden, Ihn verlocken zu Sünd und Mord. Dritte Hexe. Er kann es vollbringen, er kann es lassen; Doch er ist glücklich, wir müssen ihn hassen. Zweite Hexe. Wenn er sein Herz nicht kann bewahren, Mag er des Teufels Macht erfahren. Dritte Hexe. Wir streuen in die Brust die böse Saat, Aber dem Menschen gehört die That.52

Schiller führt hier ein Konzept der moralischen Verantwortung ein, welches seiner Vorstellung vom tragischen Konflikt entspringt. Er ist sich durchaus der von ihm vorgenommenen Abweichung vom Original bewusst und rechtfertigt diese mit der Notwendigkeit, den Sinn des Werkes für das zeitgenössische Publikum verständlich zu machen.53 Die Rücksichtnahme auf das Gefühl des Publikums führt darüber hinaus zur Tilgung oder Umgestaltung komischer oder grotesker Elemente wie etwa in der Szene des Pförtners. Der Pförtner, der McDuff und Lenox nach der Ermordung des Königs einlässt, träumt davon, Wächter

51 Vgl. SKA I.3, 391 f. 52 NA 13, 76 f. 53 Er antwortet in diesem Sinn folgendermaßen auf Körners diesbezügliche Zweifel: „Deine Bemerkung wegen der in die erste Hexenscene eingeschobenen deutlichen Enunciationen mag wohl gegründet seyn; aber sie schienen mir für das Theater nöthig, weil die Masse des Publicums zu wenig Aufmerksamkeit hat und man ihr vordenken muß“ (Brief an Körner vom 3. Juli 1800, NA 29, 169).

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der Hölle zu sein und gibt im Alkoholrausch eine Reihe von vulgären Ausdrücken von sich, wohingegen er in Schillers Version ein Morgenlied trällert.54

IV Fazit Schillers pragmatische Vorgehensweise bei der Übertragung fremdsprachiger Werke zeigt sich nicht nur in den augenfälligsten dramaturgischen Eingriffen, sondern auch in den subtileren und hintersinnigen Aspekten der sprachlichen und stilistischen Gestaltung, deren Nuancen der Begründer der modernen Hermeneutik vor allen anderen erkannt hat. Mit seinem Macbeth, der zweifelsohne – wie gezeigt werden konnte – keine Aufnahme in die Kategorie der Übersetzungen im eigentlichen Sinne finden kann, verfolgt Schiller ein Konzept, das mit der Übersetzung der Iphigenie des Euripides beginnt und bei dem es sich weder um das Prinzip der belles infidèles handelt noch um dasjenige, in erster Linie von August Wilhelm Schlegel verfochtene, der Originaltreue, bei dessen Anwendung die kulturelle Distanz hervorgehoben wird. Vielmehr repräsentiert Schillers Konzept sozusagen eine Aneignung des Originalsinns bei dessen gleichzeitiger Aktualisierung, wobei der Übersetzer keinesfalls hinter dem Text verschwindet, sondern kontinuierlich und absichtlich als interpretierender Vermittler agiert.

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54 Siehe dazu Ian Findlay, The Porter Scene in Schiller’s Macbeth. In: Modern Languages Notes, 88, 1973, S. 980–987.

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Die Ariosto-Übersetzungen für Schillers Neue Thalia und die intertextuelle Ariosto-Rezeption in Schillers Dramenfragment Die Gräfin von Flandern Als Modell für die Form des Kleinepos und als Alternative zu der klassizistisch geprägten epischen Großform erlebte Ludovico Ariostos Orlando Furioso in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine markante Konjunktur.1 Durch die in Christoph Martin Wielands Teutschem Merkur erschienenen Auswahlübertragungen angeregt, kulminierte die Ariosto-Renaissance in der epochemachenden Nachdichtung des Furioso durch Johann Diederich Gries (1808). Die Geschichte dieses interkulturellen Transferprozesses rekonstruiert die fundamentale Studie von Peter Kofler Ariost und Tasso in Wielands Merkur.2 Von der Forschung bisher kaum beachtet blieb dagegen die Rolle, welche Friedrich Schiller und seine Zeitschrift Die neue Thalia bei dieser translationalen Ariosto-Renaissance spielten. Der vorliegende Beitrag möchte zwei bisher nicht ausgewertete Teilübersetzungen aus dem Furioso analysieren, die Schillers Wieland-Nachfolge bei der Wiederentdeckung des italienischen Dichters bezeugen. Die eine Übertragung erschien anonym 1793 in der Neuen Thalia. Die andere, unpublizierte Auswahlübersetzung aus dem vierten und sechsten Gesang des Furioso, die ursprünglich ebenfalls für die Thalia entstanden war und Korrekturen von Schillers Hand aufweist, stammt dagegen von Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen, geborene von Lengefeld. Im Folgenden sollen die Thalia-Übertragungen übersetzungsgeschichtlich perspektiviert und mit den versifizierten Übersetzungen von Friedrich August Clemens Werthes (1774, 1778) kontrastiert werden. Die Analyse von Schillers Übertragung der 22. Stanze aus dem ersten Gesang des Furioso, ihre Kontextualisierung vor dem Hintergrund der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung und die Rekonstruktion der Ariosto-Rezeption in Schillers dramatischem Spätwerk sollen den Beitrag abrunden. 1 Vgl. Elena Polledri, Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit. Deutsche Übersetzungen italienischer Klassiker von Tasso bis Dante, Tübingen 2010; zur Konjunktur des italienischen Epos in der Goethezeit vor allem S. 106–117. 2 Peter Kofler, Ariost und Tasso in Wielands Merkur. Übersetzungsprobe als Textsorte, Bozen 1994. https://doi.org/10.1515/9783110542202-008

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I Die anonyme Ariosto-Übersetzung im dritten Band der Neuen Thalia (1793) Die Autorschaft der adespoten, einzig mit dem Kürzel „D.“ unterzeichneten Auswahlübertragung aus dem ersten Gesang, die 1793 im ersten Stück des dritten Bandes der Neuen Thalia erschien, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln. Stammen könnte die Übersetzung von Wilhelm von Humboldt,3 von dessen Ehefrau Caroline von Dacheröden oder von Caroline von Lengefeld, welche weitere für Schillers Zeitschrift vorgesehene und nicht publizierte Auswahlübertragungen aus dem Furioso verfasste.4 Der anonyme Übersetzer knüpfte an die bereits etablierte translationale Rezeption Ariostos an, die in Wielands Teutschem Merkur ihr wichtigstes Forum hatte,5 und brachte die zweitälteste deutsche Auswahlübersetzung des Furioso in Versform hervor. Vor ihr erschien nämlich eine einzige Versübertragung, die von Friedrich August Clemens Wer-

3 Auf Wilhelm von Humboldt bezieht sich seine Frau in ihrer Korrespondenz zuweilen mit dem Kürzel „D.“ Vgl. den Brief vom 21. Januar 1790 in: Charlotte von Schiller und ihre Freunde. Auswahl aus ihrer Korrespondenz, hg. von Ludwig Geiger, Berlin 1908, S. 86. 4 Für Caroline von Lengefeld als Verfasserin plädieren Paul Schwenke (Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß. In: Zeitschrift für Bücherfreunde. Monatshefte für Bibliophilie und verwandte Interessen, 9 [1905/06] 2–3: Mai–Juni 1905, S. 49–62, hier S. 55) sowie Ursula Naumann in ihrem Kommentar der Nationalausgabe (NA XXXIV 2, S. 245). Beide erklären allerdings nicht, wie es zum Kürzel „D.“ kam. 5 Dass der Übersetzer der Neuen Thalia sowohl Werthes’ Übertragung aus dem ersten Gesang, die 1774 im Merkur erschien, sowie dessen 1778 als Einzelveröffentlichung erschienene Auswahlübersetzung aus den ersten acht Gesängen des Furioso gekannt haben dürfte, verraten seine Reimlösungen in den Strophen 27 und 42. Vgl. „Als deine Hand Argalien erschlagen, / Und der ich bin, den deine Augen schaun, / Versprachst du nicht, den Helm in wenig Tagen / Nebst meiner Wehr der Fluth anzuvertraun?“ ([Friedrich August Clemens Werthes], L. Ariosts Rasender Roland aus dem Italiänischen, Bern 1778, S. 19, Str. 27) und: „Denk nach, Ungläubiger, als du / Den Bruder von Angeliken erschlagen, / Was sagtest du auf Treu und Wort ihm zu? / Versprachst du nicht, nach wenig Tagen / Die Rüstung sammt dem Helm dem Strome zu vertraun? / Ein Zufall endlich lässt der Wünsche Ziel mich schaun.“ (Ariosts Rasender Roland. Neue Übersetzung. In: Neue Thalia 3, 1793, 1, S. 83–107, hier S. 96, Str. 27, meine Hervorhebungen), sowie: „Die junge Schöne gleicht der Morgenrose, / Des Himmels Lust, der frohen Erde Zier; / Noch blüht sie einsam auf in Florens Schosse: / Aurora lacht, die Weste schmeicheln ihr;“ ([Friedrich August Clemens Werthes,] Versuch einer Übersetzung des Orlando Furioso. In: Der Teutsche Merkur 2, 1774, S. 288–320, hier S. 307, Str. 34) und: „Die Jungfrau gleicht der jungen Rose, / Die in des stillen Gartens Schoose, / Aufblüht in still verborgner Zier. / So lang kein Schäfer naht, noch Heerden von der Aue, / Wiegt sie die linde Luft, im zarten Morgenthaue, / Zum Schmuck dient Erd’ und Wasser ihr.“ (Ariosts Rasender Roland, S. 104, Str. 42, meine Hervorhebungen).

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thes, die 1774 in Wielands Zeitschrift, 1778 in einer verbesserten Fassung in Buchform publiziert wurde. Es überrascht nicht, dass Wieland als Initiator einer neuen historisierendretrospektiven Translationsästhetik, die gerade das Medium der Prosaübersetzung favorisierte, Werthes’ Nachbildung von Ariostos Stanzenform äußerst skeptisch gegenüberstand: Eine Uebersetzung von Ariosts Orlando Furioso, in achtzeiligen Stanzen, worinn die Versund Reimart der italienischen Ottave rime vollkommen beybehalten wird, ist unstreitig eine der verwegensten und mühsamsten Unternehmungen, an die sich ein teutscher Dichter wagen kann; ja, in Ansehung der Armuth unsrer Sprache an Reimen, und des großen Vorzugs, den die Italienische überdies an Geschmeidigkeit vor der unsrigen hat, trage ich kein Bedenken, eine solche Uebersetzung, wenn sie auch dem Ausdruck des Originals getreu bleiben soll, für unmöglich zu erklären.6

Auf die Schwierigkeit, den Furioso in eine andere Sprache zu übertragen, hatte vor Wieland bereits Cervantes hingewiesen.7 Irritiert hatte Wieland an Werthes Übersetzung offensichtlich vor allem, dass sie die formale Sorgfalt in der Nachbildung der italienischen Stanzenform mit einer semantischen Untreue und der Reduktion der ursprünglich 81 Stanzen auf 67 erkauft hatte. Um dem abzuhelfen, empfahl Wieland eine Lockerung der Stanze nach dem Vorbild der zehnzeiligen Stanzen seines Neuen Amadis. Den von Wieland vorgeschlagenen, übersetzungsästhetischen Kompromissweg hat sich der anonyme Furioso-Übersetzer der Neuen Thalia zu eigen gemacht. Von den dort übertragenen 48 Strophen bilden nämlich einzig zwei – namentlich die 5. und die 16. Strophe – das Reimschema von Ariostos Stanze nach:8

6 Werthes, Versuch einer Übersetzung des Orlando Furioso, S. 288. 7 So betrachtet der Dorfpfarrer im sechsten Kapitel des Don Quijote den Orlando Furioso als geradezu unübersetzbar und kritisiert dessen unglückliche kastilianische Version durch Jerónimo Jiménez de Urrea (1510–1573): „[Y] en verdad que estoy por condenarlos no mas que á destierro perpetuo, siquiera porque tienen parte de la invencion del famoso Mateo Boyardo, de donde tambien tejió su tela el cristiano poeta Ludovico Ariosto; al cual si aquí le hallo, y que habla en otra lengua que la suya, no le guardaré respeto alguno; pero si habla en su idioma, le pondré sobre mi cabeza. […] [Y] aquí le perdonáramos al señor capitan que no le hubiera traido á España y hecho castellano; que le quitó mucho de su natural valor, y lo mismo harán todos aquellos que los libros de verso quisieren volver en otra lengua, que por mucho cuidado que pongan y habilidad que muestren, jamas llegarán al punto que ellos tienen en su primer nacimiento.“ (Miguel de Cervantes Saavedra, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha. Primera parte, Leipzig 1866, S. 24 f.). 8 Freilich behilft sich der Übersetzer in der fünften Stanze mit einem unreinen Reim („Trophäen“/„Höhen“/„Pyrenäen“).

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V. Nach tausend glänzenden Trophäen Die, für Angelika entbrannt, In Indien, am Phrat und auf des Kaukas Höhen, Held Roland sich ersiegt an ihrer Hand, Erschien er jetzt mit ihr am Fuss der Pyrenäen, Wo streitend für sein Vaterland Die fränkischen und deutschen Schaaren Im Lager Karls versammelt waren.9 XVI. Da er dem Dienst der Schönen sich geweiht, Vielleicht von Lieb entbrannt, wie jene beiden, Stand er zu ihrem Schutz bereit, Schnell fliegt das Eisen aus der Scheiden, Als deck’ ein Helm sein Haupt, eilt er zum Streit. Rinald, gewohnt, kein Treffen zu vermeiden, (Schon mehrmals trafen sie in Kämpfen sich) Erwartet den, der ihm an Muthe glich.10

Die restlichen Strophen entfernen sich erheblich von der klassischen Stanzenform. Die Dreireimigkeit wird in insgesamt nur fünf Strophen eingehalten.11 Der Kreuzreim wird in 35 Strophen vollständig oder teilweise verletzt. Den finalen Paarreim schließlich reproduziert der Übersetzer in 22 Strophen.12 Noch häufiger aber, nämlich in 25 Strophen, verzichtet er auf den abschließenden Reim.13 Von einem übersetzungsästhetischen Kompromiss zeugt auch die Metrik, die von der jambischen Pentapodie als deutscher Entsprechung des Endecasillabo abweicht. Der fünfhebige Jambus wird fast durchgehend um eine Hebung verkürzt oder erweitert. Ebenfalls im Unterschied zu den weiblichen Reimen der Ottavarima sind die Kadenzen unregelmäßig alternierend. Obwohl die Lockerung der Stanzenform im Sinne Wielands das Prinzip der semantischen Äquivalenz stärker zu wahren erlaubt, besitzt die Übersetzung zugleich ein beträchtliches Kreativitätspotential, das sich vornehmlich in der empfindsamen Überformung des Prätextes zeigt. So gießt der Übersetzer das vierte Kolon („gli amori“) des berühmten Eröffnungschiasmus in die sentimentale Antithese „von der Liebe Glück und Qual“ um. Die empfindsame Tendenz

9 Ariosts Rasender Roland, S. 85. 10 Ariosts Rasender Roland, S. 91. 11 In den restlichen Strophen operiert der Übersetzer durchgehend mit vier Reimen. 12 In insgesamt vier Strophen wird der finale Reim verdoppelt (abab ccdd). 13 Sechs von diesen Strophen ohne Paarreim sind als vierreimige sizilianische Stanzen gebaut und setzen den Kreuzreim bis zum Ende der Strophe fort.

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verrät auch die Entscheidung, die Übersetzung des ersten Gesangs mit Sacripantes Liebesklage für Angelica abzuschließen. Ausgeklammert wird dadurch der Zynismus der Angelica, welche Sacripante ihre Zuneigung nur vortäuscht, um unter seinem Schutz ins heimatliche Cathay zurückkehren zu können: „Tanto ch’a quel biſogno ſe ne ſerua / Poi torni all’uſo ſuo dura e proterua“.14 Bereits De Tressan hatte Angelica sentimentalisiert und ihr Rührung Sacripantes Klage zugeschrieben.15 In De Tressans Nachfolge stilisiert der Übersetzer das Zusammentreffen der Heroine mit dem Sarazenen zu einer Liebesidylle: „Kaum in Jahrtausenden blüht solch ein Glück / Den Liebenden, als ihm in diesem Augenblick“.16 Der empfindsame Liebesdiskurs führt auch zu einer Psychologisierung von Ariostos Vorlage. Sie zeigt sich nicht nur in interpolierten Affektschilderungen – wie in der 11. Strophe, wo Angelica mit „furchtgebleichter Wange“ flieht 17 –, sondern auch im Medium der erlebten Rede. In der 24. Strophe, in welcher Ferrau den im Fluss verlorenen Helm sucht, personalisieren die Abtönungspartikel „Ja“, das Adverb „vielleicht“ und der Ausruf „Umsonst“ den Duktus durch eine Interferenz zwischen Erzähler- und Figurenrede.18 Dieselbe Subjektivierung erreicht der Übersetzer in der 39. Strophe durch anaphorisch gereihte, rhetorische Fragen, die Angelicas Furcht betonen und den Erzählertext durch den Figurentext überlagern.19 Den Personentext amplifiziert der Übersetzer schließlich auch durch die Umwandlung der oratio relata in oratio recta wie in der 30. Strophe: XXX Ma la vergogna il cor ſi gli trafiſſe Che giurò per la vita di Lanfuſa

14 Orlando Furioso di Ludovico Ariosto. Secondo le stampe del 1516, 1521, 1532 rivedute dall’Autore: riproduzione letterale a cura di Filippo Ermini, 3. Bd.: Edizione 1532, Roma 1913, S. 11 (I 51). 15 „Tandis que le Roi de Circassie continue à se plaindre, son heureux sort voulut qu’Angélique qui l’écoutoit en fut émue“ (Œuvres choisies du Comte de Tressan, avec figures, 4. Bd: Roland furieux, poëme héroïque de l’Arioste, avec figures, Paris 1788, S. 53). 16 Ariosts Rasender Roland, S. 107. Dem empfindsamen Ton dürfte auch die stilistische Glättung des umgangssprachlichen „matto“ zu „Thor“ in der ersten Strophe zuzuschreiben sein. 17 Ariosts Rasender Roland, S. 88. 18 „Ja, an desselben Stroms Gestad, / In dem sein Helm versank, muss er sich wieder finden. / Da alle Hoffnungen, den Pfad / Des Fräuleins zu erspähn, aus seinem Busen schwinden, / Steigt er hinab zum feuchten Strand, / Ob er vielleicht den Helm noch rette, / Umsonst! Der lag tief in des Stromes Bette, / Begraben in dem tiefen Sand.“ (Ariosts Rasender Roland, S. 95, meine Hervorhebung). 19 „Erscheint ein Feind um Schaden ihr zu bringen? / Erscheint ein Freund ihr zum Gewinn?“ (Ariosts Rasender Roland, S. 102).

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Non voler mai ch’altro elmo lo copriſſe Se non quel buono che gia in Aſpramonte Traſſe dal capo Orlando al fiero Almonte.20 Nie, rief er aus, ich schwör es hier, nie soll, Ich schwör es bey Lanfusens meiner Mutter Leben, Ein andrer Helm die Stirn umgeben, Als den vom Haupte des Almont Rolando riss bey Aspramont.21

Modernisiert wird auch die Metaphorik. Zu verzeichnen sind Bildungen wie die Synästhesie der „Hieben Donnerstrahl“ 22 in der 17. Strophe und die Verbmetapher über den Übermut des Agramante, der in der 6. Strophe Frankreich mit Barbaren „überschneit“.23 Schließlich lässt sich eine Simplifizierung des Duktus konstatieren. Onomastische Periphrasen wie die Umschreibungen von Rinaldo24 und Angelika25 in der zwölften Strophe werden aufgelöst, litotische Wendungen positiviert 26 und Antithesen zum Zweck der größeren Übersichtlichkeit gebildet.27 Nicht weniger ins Gewicht fällt die Prozedur vergegenwärtigender Dramatisierung durch Tempuswechsel.28 20 Orlando Furioso di Ludovico Ariosto, S. 9. 21 Ariosts Rasender Roland, S. 98. 22 Ariosts Rasender Roland, S. 91. 23 Ariosts Rasender Roland, S. 86. 24 „Era coſtui quel paladin gagliardo“: „Es war Rinald, ein edler Sohn“ (Ariosts Rasender Roland, S. 91). 25 „Come alla donna egli drizzo lo ſguardo / Riconobbe: quantunque di lontano: / L’angelico ſembiante e quel bel volto / Ch’all’amoroſe reti il tenea inuolto.“: „Kaum dass nach ihr sich seine Blicke wenden, / Erkennt er in Angelikens Gestalt / Der hohen Schönheit Allgewalt, / Den holden Reitz, der seine Brust entzückte, / Und längst ihn mit der Liebe Netz umstrickte.“ (Ariosts Rasender Roland, S. 91). 26 „Carlo, che non avea tal lite cara,/ che gli rendea l'aiuto lor men saldo“: „Besorgt, durch diesen unglücksvollen Streit / Zwey tapfre Krieger zu verlieren“ (Ariosts Rasender Roland, S. 87). 27 „Er kam just zu gelegner Zeit, / Den Muth der Christen anzufeuern, / Dem Uebermuth des Agramant zu steuern“; „Und setzte sie zum Preis des Heldenmuths / Für den, der sie in nächster Schlacht erkämpfte, / Mit Strömen Sarazenenbluts / Den Uebermuth der Feinde dämpfte“ (Ariosts Rasender Roland, S. 86 und 87). 28 „Ma toſto ſi pentí d’eſſerui giunto“: „Doch bald bereut er, dass er kam.“ (Ariosts Rasender Roland, S. 86); „E quando biſognò le ſpalle diede: Preſaga che quel giorno eſſer rubella / Douea Fortuna alla chriſtiana fede, / Entrò in vn boſco: e ne la ſtretta uia / Rincontrò vn cauallier ch’a piè venía“: „Und jetzt, da das verrätherische Glück / Zum Untergang der Christen sich verschworen, / Giebt sie dem schnellen Ross die Sporen. / Durch einen Wald führt sie ein dichtverwachsner Steg, / Auf einmal tritt ein Ritter ihr in Weg.“ (Ariosts Rasender Roland, S. 88).

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II Die Ariosto-Übersetzung Caroline von Lengefelds aus dem Boerner-Nachlass Das zweite Übersetzungskonvolut aus dem Furioso besteht aus Übersetzungsproben, welche ebenfalls für eine Publikation in der Neuen Thalia bestimmt waren und deren Autorschaft diesmal mit Sicherheit Schillers Schwägerin Caroline von Lengefeld zuzuschreiben ist, da die überlieferten Manuskript-Blätter ihre Handschrift tragen. Ihr Brief an Schiller aus Erfurt vom 15. März 1792 bestätigt ihre Tätigkeit als Ariosto-Übersetzerin für die Neue Thalia.29 Dass sie dort allerdings vom „Ende des Gesangs“ spricht, das sie „nächstens“ schicken würde, lässt vermuten, dass das ursprüngliche Übersetzungskonvolut umfangreicher als das erhaltene gewesen sein dürfte. Nach ihrem Tod wurden die erhaltenen Übersetzungsfragmente an ihre Dienerin Wilhelmine Schwenke vererbt und heute befinden sie sich im Nachlass von deren Nachfahren Peter Boerner in Bloomington (Indiana).30 Das Besondere an diesen Übersetzungsfragmenten ist, dass sie noch nicht ausgewertete Korrekturen von Schillers Hand aufweisen. Sie beweisen, dass Schiller im Unterschied zu Wieland an der Möglichkeit einer Versübersetzung festhielt. Seine Geringschätzung der Prosa-Übertragung Heinses belegt übrigens auch eine unveröffentlichte Xenie von 1796: „Wohl, Ariost, bist du ein wahrhaft unsterblicher Dichter, / Denn da du hier nicht starbst, stirbst du, du Göttlicher, nie“.31 Bei Carolines Übersetzungskonvolut handelt es sich um Auszüge aus dem vierten und sechsten Gesang des Furioso, datiert „Jena 1792“.32 Sie betreffen die Erzählung von der Befreiung Rogers aus der Gefangenschaft des Zauberers

29 „Hier etwas vom Ariost; […] In der nächsten Thalia muß doch wohl das Ende des Gesangs kommen! Ich schicke es nächstens“ (NA 34.1, S. 141 f.). Der Brief ist mit „Caroline von Beulwitz“ unterzeichnet, da die Verfasserin seit 1784 mit dem Geheimen Legationsrat und Kanzler Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz verheiratet war. Nachdem die Ehe 1794 geschieden wurde, heiratete Caroline den Legationsrat Wilhelm von Wolzogen. 30 An dieser Stelle sei Nancy Sanden Boerner herzlich gedankt, die mir freundlicherweise digitale Reproduktionen des handschriftlichen Konvoluts aus dem Nachlass ihres Gatten zur Verfügung stellte. Dies hat mir erlaubt, vereinzelte Abschreibfehler von Paul Schwenke zu emendieren. 31 NA II 2 B, S. 96, Nr. 588. Als „Unsterblicher“ hatte Heinse selbst Ariosto in seiner Übersetzung apostrophiert. Vgl. Roland der Wüthende. Ein Heldengedicht von Ludwig Ariost dem Göttlichen. Aus dem Italiänischen aufs neue übersetzt durch Wilhelm Heinse, Hannover 1782, S. 4. 32 Wie Paul Schwenke vermutet, fiel die Übersetzungsarbeit wohl in den August/September 1792, als Caroline zu Besuch bei Schiller in Jena war. Vgl. Schwenke, Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß, S. 56.

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Atlas durch Bradamante (IV 35–36) und die Schilderung des in einen Baum verwandelten Astolf von seiner Ankunft bei der Zauberin Alcina (VI 35–42). Dass Caroline eine französische Übersetzung herangezogen hat, belegt ein Brief an Charlotte vom 15. März 1792.33 Vermutlich handelt es sich um die auch von Schiller zu Rate gezogene Ariosto-Übersetzung von De Tressan. Dass die Übersetzerin allerdings auch Italienischkenntnisse besaß, lässt sich aus ihrer Abschrift des dritten Gesangs von Dantes Inferno aus dem Bloomington-Nachlass schließen.34 Mustert man Carolines Übersetzungen, so unterscheiden sich diese formal nicht grundsätzlich von der in der Neuen Thalia publizierten Übertragung. Auch hier lässt sich ein übersetzungsästhetischer Kompromiss zwischen Form und Semantik konstatieren, der sich in der Lockerung der Stanzenform bekundet. Einzig die 35. und die 38. Strophe aus dem sechsten Gesang entsprechen reimästhetisch dem klassischen Stanzenaufbau: XXXV Und wir, verfolgend unsre Bahn, von einem bösen Schicksal fortgezogen, wir landen in der Früh’ an einem Ufer an, von Frühlingsreiz umblüht, es hebt sich aus den Wogen, ein glänzend Schloß – Alzinens Aufenthalt, wir sahn die Fee am Wasser stehn, es zogen ihr schaarenweis die Fische in die Hand, die weder Angel hielt, noch Neze ausgespannt.35 XXXVIII Nur durch Alzinens Zauberwort beschworen, entfliehn die Fische ihrem tiefen Grund, Morgana ward mit ihr zugleich gebohren, Ob ältre Schwester, ob als Zwilling, ist nicht kund. Alzine sah mich an; daß mich ihr Herz erkohren verrieth mir leicht ihr Auge liebewund, Mit List sann sie mich den Gefährten zu entrücken; u.[nd] ach der Anschlag mußt ihr glücken!36

33 „Wenn Schiller die deutsche Übersetzung dazu nähme, so kann ich die französische hier behalten“ (NA 34.1, S. 142). 34 Peter Boerner, „Ich schreibe, um mit mir selbst umzugehen“. Mitteilungen aus dem literarischen Nachlaß Caroline von Wolzogens. In: Caroline von Wolzogen 1763–1847, hg. von Jochen Golz, Weimar 1998, S. 101–121, hier S. 117. 35 [Caroline von Wolzogen, Proben einer Ariost-Übersetzung. In:] Paul Schwenke, Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß, S. 56. 36 [Caroline von Wolzogen, Proben einer Ariost-Übersetzung. In:] Paul Schwenke, Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß, S. 57.

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Dagegen weicht die Reimanordnung der restlichen Strophen von der traditionellen Stanzenform in unterschiedlicher Weise ab.37 Die Übertretung der jambischen Pentapodie sowie die unregelmäßige Kadenzierung erinnern ebenfalls an das Übersetzerprofil der Neuen Thalia. Wie dort zeigt sich schließlich auch in Carolines Übersetzung eine modernisierende Überformung des Originals. Auffallend sind Strategien der Subjektivierung, die sich etwa in Ausrufen (Quel che di lui ſeguí poi, non m’è noto“: „Ach sein Geschick blieb mir seitdem verborgen!“, VI 42) und in der internen Fokalisierung durch ein ergänztes SubjektIch („e poco valſe“: „ich acht’ es nicht“, VI 41, „e quaſi ſi ſommerſe“: „Ich sah ihn nah am Untergang“, VI 42) niederschlagen. Ansatzweise vorhanden ist auch bei Caroline eine empfindsame Färbung der Vorlage („e ſubito le piacque / l’aſpetto mio, come moſtrò ai ſembianti“: „daß mich ihr Herz erkoren / verrieth mir leicht ihr Auge liebewund“, VI 38). Auffallend ist zudem die Intensivierung der Bildlichkeit. So verbessert Caroline ihre Erstübersetzung von „penſò con aſtuzia e con ingegno“ (VI 38) – „Mit List sann sie“ – zu: „späht ihr listger Blick“. Auf eine Verbmetapher rekurriert sie in der Verbesserung des nächsten Verses, dessen ursprüngliche Fassung: „Und ach der Anschlag mußt ihr glücken!“ zu: „Und ach den Anschlag krönt das Glück!“ (VI 38) revidiert wird. Die Amplifizierung der Bildlichkeit lässt sich auch an weiteren Stellen belegen, und zwar nach einem Steigerungsgesetz, demzufolge ein Monokolon zum Dikolon („acheta il mare“: „der wilde Sturmwind schweigt, das Meer sich sanfter wieget“, VI 40), ein Dikolon zum Trikolon („e quel dí tutto e la notte che venne“: „Tag und Nacht, und bis zum andern Morgen“, VI 42) und ein Trikolon seinerseits zu einem Tetrakolon mit antithetischem Binnenchiasmus („chi scaglioso, chi molle e chi col pelo“: „schuppicht, kraus, / voll Stacheln bald, bald glatt“, VI 39) erweitert wird. Die vergegenwärtigende Dramatisierung durch Tempuswechsel, die bereits die Übersetzung aus der Neuen Thalia charakterisierte, zeigt sich auch hier: „Alzine sah mich an, ihr Auge liebewund / verrieth mir leicht daß mich ihr Herz erkoren. / Nach Mitteln mich zu

37 Vgl. IV 32 (recte 35): abbac1ddc2, 33 (recte 36): aabc1bc2bdd; VI 36: abab, 37: aabbabcc (von der Übersetzerin zu: aabbcdcd emendiert), 39: aabbccdd, 40: abbac1c2dd, 41: abbacddc, 42: ababcddc. Die Freiheit im Strophenbau erreicht ihren Höhepunkt wohl in der 33. (recte 36.) Strophe aus dem vierten Gesang, die aus neun Versen besteht. Die 36. Strophe aus demselben Gesang wurde nicht vollständig übertragen, hält sich aber in den ersten vier übersetzten Versen am alternierenden Reimschema der Stanzenform. Dass die Übersetzerin wenig Wert auf die Einhaltung der Reimkonventionen legt, zeigt auch ihre Überarbeitung der 38. Strophe aus dem sechsten Gesang. Dort vertauscht sie nämlich die Verse 5 und 6, was die Verletzung der sonst korrekten Reimanordnung zur Folge hat.

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fangen späht ihr listger Blick / Und ach den Anschlag krönt das Glück!“ (VI 38, 2. Fassung, meine Hervorhebung).38 Schiller war mit der italienischen Sprache zwar seit der Zeit der Karlsschule dank seines Sprachlehrers Matteo Procopio vertraut. Seine Emendationen zu Carolines Übersetzung sind allerdings nicht hauptsächlich vom semantischen Äquivalenzprinzip geleitet, sondern zielen offenbar darauf ab, das dichterische Niveau der Übersetzung als zweites Original zu erhöhen. Schillers Korrekturen tilgen Kakophonien wie: „und rasch izt theilen“ (VI 41), die zu „Mit Blitzesschnelle theilen“ verbessert wird, und Wiederholungen wie in der 40. Strophe – „Ich Thor, ich folgte“ (VI 40) wird dort zu: „Ich folge dem Gelust, zu dem mein Herz mich neigte, / und springe auf – o ich Thor! besteige den Delphin“ (VI 40). Andererseits überformt Schiller den Furioso im Einklang mit seiner philosophischen Anthropologie. So motiviert er Astolfs Besteigung des Walfisches – den Schiller vermutlich aus Reimgründen in einen Delphin verwandelt – nicht durch seinen Initiativgeist („fui troppo […] / volonteroso“, VI 40), sondern sein „Gelust“ – „Ich folge dem Gelust“ –, welches die Auflösung der Harmonie von Pflicht und Neigung nach sich zieht. Im Hintergrund dieser Übersetzerentscheidung steht offenbar die philosophische Anthropologie der zeitgenössischen Abhandlung Über Anmuth und Würde, die in demselben Thalia-Heft wie die anonyme Ariosto-Übersetzung erschien.39 Ein Echo aus Schillers philosophischen Traktaten lässt sich auch in der Passage über die Zauberin Alcina vernehmen. Von Carolines Nachdichtung unbefriedigt,40 übersetzt Schiller das Incipit neu, indem er den Begriff der ‚Anmut‘ ins Spiel bringt. Das italienische Original – „Ci venne incontra con allegra faccia / Con modi graziosi e riverenti“ (VI 39) – wird somit zu: „Voll Anmut trat sie jetzt heran / Die herrlichste Gestalt, mit Liebreiz angethan“. Auch diese Übersetzungslösung verrät die Arbeit an der Abhandlung Über Anmuth und Würde, umschreibt dort

38 Vgl. auch: „Ci venne incontra con allegra faccia“, „Sie naht sich uns mit lieblicher Gestalt“ (VI 39), „Rinaldo si cacciò ne l’acqua a nuoto“: „Mir nach wirft sich Rinaldo in die Wogen“ (VI 42, meine Hervorhebungen). Ebenfalls zur Vergegenwärtigung dient die Interpolation des Zeitadverbs „jetzt“ in derselben Strophe: „levossi un furioso Noto“: „Durchheulte izt des Sturmes dumpfer Klang“ (VI 42, meine Hervorhebung). 39 Bei seiner Besteigung des Walfisches folgt Astolf in Schillers Übersetzung einem sinnlichen Drang, der über seine Vernunft die Oberhand gewinnt. Sein Fall entspricht in Über Anmuth und Würde dem des Menschen, der „den vernünftigen Teil seines Wesens dem sinnlichen unter[ordnet]“, er „folgt also bloß dem Stoße, womit ihn die Naturnothwendigkeit gleich den andern Erscheinungen forttreibt“ (NA 20, S. 280). 40 „Sie hat sich uns mit lieblicher Gestalt / mit heitrem Blick von Grazien umwallt“ (VI 39).

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Abb. 1: Caroline von Lengefeld, Proben einer Ariosto-Übersetzung (1792), 35. Stanze des VI. Gesangs des Orlando Furioso [oben: Carolines Version mit Schillers eigenhändigen Korrekturen; unten: Schillers Reinschrift der korrigierten Fassung mit weiteren Emendationen]. Gedruckt mit freundlicher Genehmigung von Nancy Sanden Boerner (Bloomington, Indiana).

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gerade die Kategorie der ‚Anmut‘ einen unerwarteten Einklang der Natur mit der Vernunft, den Schiller für die Liebe verantwortlich macht.41 Schillers handschriftliche Verbesserungen verraten auch den homme de théâtre. Sie bereichern die Kulissenbildung und amplifizieren die redebegleitende Gestik quasi als Regie-Anweisungen. So nimmt Schiller in der 35. Strophe die von Caroline interpolierte Apposition „vom Frühlingsreiz umblüht“ wieder auf („an einem blühenden Gestad“) und baut sie in einem zweiten Entwurf gar zu einem eigenständigen Vers aus („wo seinen ganzen Schmuck der Frühling ausgebreitet“). Ferner betont er zusätzlich die theatralische Pose der Zauberin, indem er sie mit „ausgestreckten Händen“ die Scharen der Fische zu sich ziehen lässt, wie es im zweiten Entwurf heißt: [Carolines Version:] Und wir, verfolgend unsre Bahn Von einem bösen Schicksal fortgezogen, wir landen in der Früh’ an einem Ufer an, von Frühlingsreiz umblüht, es hebt sich aus den Wogen ein glänzend Schloß – Alzinens Aufenthalt, wir sahn die Fee am Wasser stehn, es zogen ihr schaarenweis die Fische in die Hand, die weder Angel hielt, noch Neze ausgespannt. [Schillers Fassung, erste Korrekturstufe:] Einst landen wir, verfolgend unsern Pfad von einem bösen Schicksal fortgezogen in früher Dämmerung an einem blühenden Gestad wo aus den Wogen Alcinens Wohnung stieg. Die Fee selber stand am Ufer, es zogen am Strom ihr schaarenweis die Fische in die Hand, die weder Angel hielt, noch Neze ausgespannt. [Schillers Fassung, zweite Korrekturstufe:] Einst landen wir auf unserm Wasserpfad von einem bösen Stern geleitet, ganz früh an einem blühenden Gestad, wo seinen ganzen Schmuck der Frühling ausgebreitet. Alcinens schimmernder Palast stand hier

41 „In der Anmuth […] sieht die Vernunft ihre Foderung in der Sinnlichkeit erfüllt, und überraschend tritt ihr eine ihrer Ideen in der Erscheinung entgegen. Diese unerwartete Zusammenstimmung des Zufälligen der Natur mit dem Nothwendigen der Vernunft, erweckt ein Gefühl frohen Beyfalls […]. Diese Anziehung nennen wir Wohlwollen – Liebe; ein Gefühl, das von Anmuth und Schönheit unzertrennlich ist.“ (NA 20, S. 302).

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Alcinens schimmernde Behausung stand und Wir sahn Alcinens Schloß im Morgenrothe glühn, Sie selbst die Fee sahn wir am Ufer stehn sie selbst am Strande stehn und mit ausgestreckten Händen die weder Garn noch Angelschnur und ohne Garn und Angel anzuwenden der Fische Schaaren zu sich ziehn.42

III Die Synkrisis des Homer und Ariosto in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) und Schillers eigene Ariosto-Übertragung Ariosto erhält eine zentrale Bedeutung auch in Schillers ästhetischen Reflexionen. In Wielands Nachfolge plädiert auch Schiller für das moderne ariostische Ritterepos und belegt dies bereits 1791 durch seine Übersetzung der Aeneis in achtzeiligen Stanzen, die den Kulturdichter Vergil dem Naturdichter Homer entgegensetzt. Diese Grundopposition zwischen dem Hexameterepos und dem in Stanzen geformten Ritterepos vertieft Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) durch die Synkrisis des Homer und Ariosto. Hier rückt Schiller von Meinhards Charakterisierung Ariostos als eines zweiten Homers ab43 und unterstreicht vielmehr die Modernität des Renaissance-Dichters durch die Kontrastierung des Rüstungstausches zwischen Glaukos und Diomedes aus dem sechsten Gesang der Ilias mit dem Friedensschluss zwischen Rinaldo und Ferraù aus dem ersten Gesang des Orlando Furioso. „Beyde Beyspiele,“ schreibt Schiller, „so verschieden sie übrigens seyn mögen, kommen einander in der Wirkung auf unser Herz beynahe gleich, weil beyde den schönen Sieg der Sitten über die Leidenschaft mahlen, und uns durch Naivetät der Gesinnungen rühren.“ 44 Die poetische Schilderung dieses von der Gesinnung her naiven „Siegs der Sitten über die Leidenschaft“ falle allerdings Schiller zufolge unter-

42 [Caroline von Wolzogen, Proben einer Ariost-Übersetzung. In:] Paul Schwenke, Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß, S. 56. 43 „Ariost erschien unter seinen Landsleuten, als ein zweyter Homer, so wie Tasso nach ihm, als ein zweyter Virgil; und ich getraue mir zu behaupten, daß sie eben dasjenige waren, was Homer und Virgil selbst gewesen seyn würden, wenn sie unter den Sitten, dem Geschmacke, den Vorurtheilen der damaligen Zeit, und in der Sprache des neuern Italiens gedichtet hätten.“ (Johann Nicolaus Meinhard, Versuche über den Charakter und die Werke der besten Italiaenischen Dichter. Bd. 2. Braunschweig 1774, S. 68). 44 NA 20, S. 434.

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schiedlich aus: objektiv und gefühlskalt bei Homer, der auch Bedenken gegen den ungleichen Tausch von Gold gegen Erz erhebt, subjektiv und gerührt dagegen bei Ariosto. Gegenüber Homers Unempfindlichkeit attestiert Schiller Ariosto eine Emotionalität, die von seiner sentimentalischen Sehnsucht nach den verlorenen Werten der Ritterlichkeit Zeugnis ablege: Ariost, der Bürger einer späteren und von der Einfalt der Sitten abgekommenen Welt kann bey der Erzählung dieses Vorfalls, seine eigene Verwunderung, seine Rührung nicht verbergen. Das Gefühl des Abstandes jener Sitten von denjenigen, die sein Zeitalter charakterisiren, überwältigt ihn. Er verläßt auf einmal das Gemählde des Gegenstandes und erscheint in eigener Person.45

Wie bereits häufig betont,46 überhört Schillers Interpretation des Friedensschlusses zwischen Rinaldo und Ferraù im ersten Gesang des Orlando Furioso die subtile Ironie des Erzählerkommentars in der 22. Stanze und der dort konstatierten „gran bontà de cavallieri antiqui“. Die Solidarisierung der ehemaligen Feinde Ferraù und Rinaldo liefert in der Tat weniger ein Beispiel vergangenen ritterlichen Großmuts als vielmehr den Erweis eines durchaus ‚modernen‘ Pragmatismus und zeigt, dass bereits für die „cavallieri antiqui“ das Ritterethos seine Verbindlichkeit eingebüßt hatte. Eine solche moderne zweckmäßige Rationalität, die sich um des verfolgten Zieles – der schönen Angelica – willen sogar über den konfessionellen Gegensatz christlich vs. heidnisch hinwegsetzt, wird vom Erzähler nur noch im ironisch-desillusionierten Sinne als „gran bontà de cavallieri antiqui“ apostrophiert. Bisher wurde übersehen, dass Schillers Missverständnis der 22. Stanze des ersten Gesangs sich auch in seiner eigenen Übersetzung dieses Passus in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung niedergeschlagen hat: XXII O gran bōtà de cauallieri antiqui Eran riuali, eran di fé diuerſi, E ſi ſentian de gli aſpri colpi iniqui Per tutta la perſona ancho dolerſi, E pur per ſelue oſcure e calli obliqui Inſieme van ſenza ſoſpetto hauerſi: Da quattro ſproni il deſtrier pūto arriua Oue vna ſtrada in due ſi dipartiua.47

45 NA 20, S. 434. 46 Vgl. zuletzt Christian Rivoletti, Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando furioso in Francia, Germania e Italia, Venezia 2014, S. 263. 47 Orlando Furioso di Ludovico Ariosto, S. 42.

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O Edelmuth der alten Rittersitten! Die Nebenbuhler waren, die entzweyt Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten Am ganzen Leib vom feindlich wilden Streit, Frey von Verdacht und in Gemeinschaft ritten Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit. Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte Bis wo der Weg sich in zwey Straßen theilte.48

Das Incipit von Schillers Übersetzung – vom Reimaufbau und Metrum her eine tadellose Stanze (abababcc) – folgt Werthes’ Übertragung,49 verändert aber „Zeiten“ zu „Sitten“ und unterstreicht somit das ritterliche Ethos. In dieselbe Richtung weist die Wiedergabe von „van“ durch „ritten / Sie“ (V. 5/6). Diese Lösung, flankiert auch vom pathetisch-heroischen Reim „litten/ritten“, lässt die „Rittersitten“ von V. 1 noch einmal anklingen und gibt Schiller erneut die Möglichkeit, das ritterliche Wertesystem zu markieren. Das gemeinsame Reiten hebt Schiller auch dadurch hervor, dass es jetzt nicht mehr – wie in Ariostos parataktischer Syntax – gleichwertig mit den anderen verbalen Handlungen rangiert. Sämtliche bei Ariosto vorausgehende, gereihte Hauptsätze verwandelt Schiller in Nebensätze. Zusammen bilden sie eine spannungsschaffende Protasis, die sich in der Apodosis des einzigen Hauptsatzes entlädt, welcher die Megalopsychia der beiden Ritter inszeniert: „Frey von Verdacht und in Gemeinschaft ritten / Sie“.50 Dass später Johann Diederich Gries in seine berühmte Übersetzung des Furioso Schillers Übersetzung der Stanze I 22 einbaute, dürfte auf die Anregung August Wilhelm Schlegels zurückzuführen sein. Schlegel hatte in seiner Besprechung Gries’ Verdeutschung dieser Stanze getadelt 51 und sie mit Schillers Übertragung kontrastiert: „Schillers Nachbildung ist den Worten nach weniger genau, hat aber mehr Freiheit und Schwung, und giebt daher den Hauptein-

48 NA 20, S. 434. 49 Dies wurde bereits von Luigi Reitani konstatiert. Vgl. Luigi Reitani, Il poeta sentimentale e la tragedia. Letture italiane di Schiller. In: Schiller e la cultura italiana [Cultura tedesca 28], Roma 2005, S. 183–195. 50 Die durch Synaphie unterstützten Enjambements von V. 2/3 und 5/6 bekräftigen die Wucht, mit der sich die Sequenz von Nebensätzen im Hauptsatz entlädt. 51 „O jener alten Ritter große Güte! / Sie waren Nebenbuhler, glaubensfeind, / Und von den rauhen, bittern Streichen glühte / Ihr ganzer Leib, durch manchen Hieb gebräunt; / Und doch, ohn’ allen Argwohn im Gemüthe, / Im dunkeln Walde ritten sie vereint. / Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte / Bis wo der Eine Weg in Zwei sich theilte“ (Lodovico Ariosto’s Rasender Roland, übersetzt von J. D. Gries, Erster Theil, Jena 1804, S. 12).

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druck richtiger wieder“.52 Daraufhin übernahm Gries in die bearbeitete Fassung seiner Übersetzung Schillers Version – allerdings mit einer markanten Änderung im ersten Vers („Biederkeit“ anstelle von „Edelmuth“), welche von der Verbürgerlichung Ariostos in der Romantik zeugt: O Biederkeit der alten Rittersitten! Die Nebenbuhler waren, die entzweyt Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten Am ganzen Leib vom feindlich wilden Streit, Frey von Verdacht und in Gemeinschaft ritten Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit. Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte Bis wo der Eine Weg in Zwey sich theilte.53

IV Schillers intertextueller Dialog mit Ariosto im Ritterdrama Die Gräfin von Flandern Dass Schillers translatorische Ariosto-Aneignung auch eine intertextuelle Koda besitzt, sei abschließend durch einen kurzen Hinweis auf sein Spätwerk um die Jahrhundertwende gezeigt, d. h. in einer Zeit, die im Zeichen der AriostoKanonisierung durch die romantische Generation stand. 1798 erschien Tiecks Sternbald-Roman, 1799 ließ Tieck im Prinz Zerbino Ariosto die romantische Bühne betreten und in demselben Jahr publizierte August Wilhelm Schlegel im Athenäum seine Übersetzung des elften Gesangs des Furioso. Es ist für die Konkurrenz zwischen Schiller und den Romantikern symptomatisch, dass sich Schiller etwa zeitgleich ebenfalls erneut Ariosto zuwandte, und zwar im Umfeld der Vorarbeiten zu seinem nachgelassenen Dramenfragment Die Gräfin von Flandern.54 Schillers Ariosto-Rezeption in dieser Spätphase dialogisiert mit den Romantikern, grenzt sich aber auch von ihnen ab. Der Autor des Furioso scheint Schiller Gelegenheit zu geben, – wie es in dem Brief an Goethe über die Stanzenform heißt 55 – an „gewissen Rechten des Romantischen“ zu partizi52 August Wilhelm Schlegel, Ludovico Ariosto’s Rasender Roland, übersetzt von J. D. Gries. 1804–1808. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, 3, 1810, S. 193–234, hier S. 220–221. 53 Lodovico Ariosto’s rasender Roland, übersetzt von J. D. Gries. Neue Bearbeitung, Erster Theil, Wien 1820, S. 6. Auch im letzten Vers weicht Gries von Schillers Version ab und bleibt der Erstfassung von 1804 treu. 54 Die drei Bände des Furioso erhielt er laut Tagebucheintrag von Jagemann am 29. April 1797, vermutlich in der Übersetzung durch De Tressan. 55 In seinem Briefwechsel mit Goethe begründet Schiller seinen Rat an Goethe, für sein geplantes episches Gedicht Die Jagd achtzeilige Stanzen zu verwenden, mit dem Argument, dass

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pieren, ohne zum Romantiker werden zu müssen. Symptomatisch ist hierfür Schillers Brief an Körner vom 21. Januar 1802. Die dortige Charakterisierung seiner Ariosto-Lektüre durch die romantik-affinen Kategorien der Entgrenzung und der Unendlichkeit hindert Schiller nicht daran, hervorzuheben, dass trotz der Entgrenzungsdynamik Ariostos Epos ein geformtes Ganzes darstellt, das von „Form und Plan“ durchwaltet wird: Ich habe dieser Tage den rasenden Roland wieder gelesen, und kann Dir nicht genug sagen, wie anziehend und erquickend mir diese Lectüre war. Hier ist Leben und Bewegung, und Farbe und Fülle; man wird aus sich heraus ins volle Leben, und doch wieder von da zurück in sich selbst hineingeführt; man schwimmt in einem reichen, unendlichen Element und wird seines ewigen identischen Ichs los, und existirt eben deswegen mehr, weil man aus sich selbst gerissen wird. Und doch ist, trotz aller Ueppigkeit, Rastlosigkeit und Ungeduld, Form und Plan in dem Gedicht, welches man mehr empfindet, als erkennt, und an der Stetigkeit und sich selbst erhaltenden Behaglichkeit und Fröhlichkeit des Zustandes wahrnimmt.56

Während ferner die Romantiker Wielands Ariosto-Nachfolge kritisierten, schloss Schiller in seinem geplanten Ritterschauspiel immer noch an Wieland gerade als Autor des Oberon an. Wielands Bedeutung für Schiller geht nicht nur aus dem Modellcharakter des Oberon für den geplanten Schluss der Gräfin von Flandern, sondern auch aus der Vermittlerrolle hervor, die bei Schiller De Tressan spielt, welcher bereits bei Wielands Ariosto-Rezeption als Katalysator gewirkt hatte. Eine berühmte Szene des Furioso, die Schiller in der Gräfin von Flandern zitiert, ist die Freierwahl aus dem 27. Gesang. Im Lager der Sarazenen entscheidet König Agramante den Streit Mandricardos und Rodomontes um den Besitz der schönen Doralice derart, dass die junge Frau den Bewerber wählen darf, der ihr am besten gefällt. Die beiden willigen ein, wobei der afrikanische Ritter Rodomonte zuversichtlich ist, dass Doralice ihn küren wird. Dieses Selbstvertrauen kommt ihm aus den ruhmreichen Taten, die er für Doralice vollbracht

die Stanze eine moderne, romantische Form repräsentiert: „Außerdem, daß selbst der Gedanke des Gedichts zur modernen Dichtkunst geeignet ist und also auch die beliebte Strophenform [d. h. die Stanze, M. Z.] begünstigt, so schließt die neue metrische Form schon die Conkurrenz und Vergleichung aus, sie giebt dem Leser ebensowohl als dem Dichter eine ganz andere Stimmung, es ist ein Conzert auf einem ganz andern Instrument. Zugleich partizipiert es alsdann von gewissen Rechten des romantischen Gedichts, ohne daß es eigentlich eines wäre, es darf sich wo nicht des Wunderbaren doch des Seltsamen und Überraschenden mehr bedienen […]; die griechische Welt, an die der Hexameter unausbleiblich erinnert, nimmt diesen Stoff daher weniger an, und die mittlere und neue Welt, also auch die moderne Poesie, kann ihn mit Recht reclamieren.“ (NA 29, S. 88, meine Hervorhebung). 56 NA 31, S. 90.

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hat, so dass sowohl er als auch seine Krieger sich Doralices Gunst sicher glauben. Umso verblüffender ist es, dass Doralices Wahl nicht auf den afrikanischen Ritter, sondern auf den Tartaren Mandricardo fällt: CVII […] Et ella abbaſſò gli occhi vergognoſi, E diſſe, che più il Tartaro hauea caro: Di che tutti reſtar marauiglioſi, Rodomonte ſi attonito e ſmarrito Che di leuar non era il viſo ardito.57

Die Ironisierung des ritterlichen Ethos könnte kaum deutlicher sein. Während Rodomonte auf Doralice sein eigenes ritterliches Wertesystem projiziert, ihre Begierde mit seinem Ritterkodex besetzt, macht sie ein autonomes Recht auf eine Entscheidung geltend, die nicht mehr an den Werten des Rittertums orientiert ist. Schiller übernimmt in der Gräfin von Flandern das Motiv der verblüffenden Wahl, die wie bei Ariosto den selbstbewussten Freier Montfort in Rage versetzt: Montfort tut nun, als wenn alles für ihn gewonnen wäre, und triumphiert voreilig über die abgefertigten unglücklichen Liebhaber, indem er sich schon als den Gemahl der Gräfin betrachtet. Gräfin scheint anders gesinnt und gibt dem Grafen von Aremberg seinen sichtbaren Vorzug. Auch beim Abgehen nimmt sie seinen Arm an und läßt Montfort stehen. Dieser fühlt seinen Stolz sehr gekränkt und ist wütend.58

Zugleich dämpft Schiller aber auch die damit verbundene Ironisierung des Ritterethos und verleiht dem Motiv der verblüffenden Wahl eine dramaturgische Binnenbegründung. Bei der Entscheidung der Gräfin für den Grafen von Aremberg handelt es sich nämlich nur um eine Scheinwahl, die es der zur Heirat gedrängten Gräfin erlaubt, Zeit zu gewinnen und den unliebsamen Grafen von Montfort auf Distanz zu halten. Weitere Impulse kamen Schiller aus der intradiegetischen Erzählung der „Contessa d’Olanda“ aus dem neunten Gesang des Furioso. Bei Ariosto wird Holland durch den König der Friesen Cimosco bedrängt. Dank seiner Wunderwaffe – der Arkebuse, die das Wertesystem des Rittertums zerstört und den Heldenmut zunichtemacht – scheint er unbesiegbar. Vor allem will Cimosco die Gräfin Olimpia zur Heirat mit ihrem Sohn Arbante zwingen. Eine ähnliche Konstellation findet sich in Schillers Dramenentwurf. Flandern wird dort durch

57 Orlando Furioso di Ludovico Ariosto, S. 357. 58 NA 12, S. 283.

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Robert Prinz von Artois bedroht, der selbst Anspruch auf die Hand der Gräfin erhebt. Bei Ariosto wie bei Schiller ist die Gräfin in ihrem eigenen Schloss gefangen. Im Orlando Furioso übergibt das Volk Schloss samt Gräfin dem König Cimosco. Auch bei Schiller wird die Gräfin vom Volk gefangen genommen und zur Heirat mit dem Feind gedrängt, um den Krieg zu beenden. Im Unterschied zu Ariostos Olimpia, die zur Heirat gezwungen wird, bleibt Schillers Gräfin allerdings standhaft. Darüber hinaus lässt Schiller die Gefangenschaft der Gräfin auf die Ereignisse der Französischen Revolution hin transparent werden. Dies gehört zu den denkwürdigsten Aspekten seiner Ariosto-Transformation: „Das Volk erobert das Schloß, wo Montforts Diener die Gräfin gefangen halten; diese aber stürzt von der aristokratischen Tyrannei unter die demokratische […]. Komisch-fürchterliche Szenen der Volksherrschaft […]. Lächerliches Betragen des Pöbels.“ 59 Eine Notiz am Rande betont: „Es werden doch Exzesse begangen“. Ferner scheint Schiller auf die misslungene Flucht Ludwig XVI. und der königlichen Familie nach Varennes anzuspielen, wenn er notiert: „Sie [die Gräfin., M. Z.] sucht umsonst, einen aus dem Volk zu bestechen; ihre Flucht mißlingt.“ 60 In diesem anachronistischen Gegenwartsbezug liegt eine markante strukturelle Analogie zwischen Schillers Drama und Ariostos Epos. Der Erfindung des Schießpulvers durchaus vergleichbar, die bei Ariosto das ritterliche Wertesystem destruiert, unterminiert in der Gräfin von Flandern der anachronistische Schatten der Revolution die Fundamente jenes idealisierten Absolutismus, den Schiller noch einmal vergeblich gegen die französischen Zustände beschwört.

V Fazit Schillers Ariosto-Rezeption bildet einen kaum bekannten und unterschätzten Aspekt seines Œuvres. Ihr Kreativitätspotential zeigt sich einerseits in der Übersetzungspraxis, andererseits in Schillers intertextueller Funktionalisierung von Ariostos Epos als Vorlage für einen neuen dramatischen Text. Die von Schiller betreuten Ariosto-Übertragungen schlagen einen Kompromissweg ein, indem sie am klassizistischen Prinzip der versifizierten und gereimten Übertragung zwar festhalten, auf eine formstrenge Imitation der Stanzenform jedoch verzichten. In den Ariosto-Übertragungen für die Neue Thalia dokumentieren Strategien der empfindsamen Psychologisierung, die sich nicht zuletzt

59 NA 12, S. 289. 60 NA 12, S. 289.

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in einer markanten personalen Färbung des Erzählertextes niederschlägt, das kreative Potential des übersetzerischen Transfers. In Schillers eigener AriostoÜbersetzung der 22. Stanze des ersten Gesangs zeigt sich dagegen vor allem eine heroisierende Überformung des Furioso, welche die ironische Textur des Originals verdunkelt. Diese Heroisierung präludiert die für das Spätwerk charakteristische, antirevolutionäre Idealisierung des Rittertums, wie sie in dem von Ariostos Erzählung der „Contessa d’Olanda“ angeregten Dramenfragment Die Gräfin von Flandern deutlich zum Ausdruck kommt. „Gebt mir Märchen und Rittergeschichten, da liegt doch der Stoff zu allem Großen und Schönen!“ 61 – vielleicht sind die kolportierten Worte, die Caroline von Wolzogen am Bett des Sterbenden gehört haben will, doch nicht apokryph.

Bibliographie Quellen Ariosto, Ludovico, Orlando Furioso. Secondo le stampe del 1516, 1521, 1532 rivedute dall’Autore, hg. von Filippo Ermini, 3. Bd., Edizione 1532, Roma 1913. Ariosts, Rasender Roland. Neue Übersetzung. In: Neue Thalia 3, 1793, 1, S. 83–107. Lodovico, Ariosto’s Rasender Roland, übersetzt von Johann Diederich Gries, Jena 1804–1808. Lodovico, Ariosto’s Rasender Roland, übersetzt von Johann Diederich Gries. Neue Bearbeitung, Wien 1820. Cervantes Saavedra, Miguel de, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha. Primera parte, Leipzig 1866. Heinse, Wilhelm, Roland der Wüthende. Ein Heldengedicht von Ludwig Ariost dem Göttlichen. Aus dem Italiänischen aufs neue übersetzt durch Wilhelm Heinse, Hannover 1782. Meinhard, Johann Nicolaus, Versuche über den Charakter und die Werke der besten Italiaenischen Dichter, Bd. 2, Braunschweig 1774. Schiller, Charlotte, Charlotte von Schiller und ihre Freunde. Auswahl aus ihrer Korrespondenz, hg. von Ludwig Geiger, Berlin 1908. Schiller, Friedrich, Werke (= Nationalausgabe), begr. von Julius Petersen, fortgef. von Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hrsg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers, Weimar 1943 ff. Schlegel, August Wilhelm, Ludovico Ariosto’s Rasender Roland, übersetzt von J. D. Gries. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, 3, 1810, S. 193–234. Vergne, Louis-Élisabeth de la, comte de Tressan, Œuvres choisies du Comte de Tressan, avec figures. 4. Bd.: Roland furieux, poëme héroïque de l’Arioste, avec figures, Paris 1788. [Werthes, Friedrich August Clemens], Versuch einer Übersetzung des Orlando Furioso. In: Der Teutsche Merkur 2, 1774, S. 288–320.

61 NA 42, S. 430.

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[Werthes, Friedrich August Clemens], L. Ariosts Rasender Roland aus dem Italiänischen, Bern 1778. [Wolzogen, Caroline von], Proben einer Ariost-Übersetzung. In: Paul Schwenke, Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß. In: Zeitschrift für Bücherfreunde. Monatshefte für Bibliophilie und verwandte Interessen, 9.2–3, 1905, S. 49–62.

Forschungsliteratur Boerner, Peter, „Ich schreibe, um mit mir selbst umzugehen“. Mitteilungen aus dem literarischen Nachlaß Caroline von Wolzogens. In: Caroline von Wolzogen 1763–1847, Weimar 1998, S. 101–121. Kofler, Peter, Ariost und Tasso in Wielands Merkur. Übersetzungsprobe als Textsorte, Bozen 1994. Polledri, Elena, Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit. Deutsche Übersetzungen italienischer Klassiker von Tasso bis Dante, Tübingen 2010. Reitani, Luigi, Il poeta sentimentale e la tragedia. Letture italiane di Schiller. In: Schiller e la cultura italiana (Cultura tedesca 28), Roma 2005, S. 183–195. Rivoletti, Christian, Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando furioso in Francia, Germania e Italia, Venezia 2014. Schwenke, Paul, Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß. In: Zeitschrift für Bücherfreunde. Monatshefte für Bibliophilie und verwandte Interessen, 9.2–3, 1905, S. 49–62. Zuber, Roger, Les ‚belles infidèles‘ et la formation du goût classique, Paris 1995.

Erik Schilling

Goethes Römische Elegien und Venezianische Epigramme als übersetzende Aneignung der Carmina Priapeia Das antike Corpus Priapeiorum versammelt 80 lateinische Gedichte in Hendekasyllaben, Distichen sowie Choriamben, wobei die Frage einer einheitlichen Autorschaft umstritten ist.1 Es ist nach Martial, vermutlich im frühen zweiten nachchristlichen Jahrhundert entstanden. Die Texte sind erotischen Inhalts, sie haben den Gott Priap, dessen Fähigkeiten und Wirken zum Thema. In der christlichen Spätantike und im Mittelalter wird die Figur Priap aufgrund ihrer betonten Sexualität bekämpft, etwa von den frühen Kirchenvätern. Die entstehenden Vorbehalte kann selbst das kurzzeitige Interesse der Humanisten nicht beseitigen; erst im 18. Jahrhundert erfolgt verstärkt eine Auseinandersetzung mit der mythologischen Figur und der antiken Textsammlung.2 So beschäftigt sich Lessing kommentierend mit den Priapeia, um „zur kritischen Berichtigung dieser unsauberen Thorheiten einige Zeilen zu verlieren“.3 Zur Begründung seiner Bemühungen um den „unsauberen“ Stoff führt er an, dass der Wert der textkritischen Verbesserung unabhängig vom Inhalt des Textes bestehe. Auch Goethe greift an verschiedenen Stellen auf die Carmina Priapeia zurück, wobei er sich teils als textkritischer Kommentator, teils als Übersetzer, teils – und insbesondere – als poetischer Bearbeiter zeigt, der die antiken Texte produktiv in das eigene Werk integriert. Über eine Reihe von expliziten und impliziten Bezugnahmen mit entsprechenden Rezeptionsdokumenten in theoretischen und literarischen Schriften Goethes ergibt sich ein vielfältiges Bild des aneignenden Umgangs mit dem antiken Korpus. Dieser reicht – wie im Folgenden zu zeigen ist – bis hin zur poetologischen Gestaltung sowohl der Römischen Elegien als auch der Venezianischen Epigramme.4 1 Vgl. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. 3., verb. und erw. Aufl. Bd. II, Berlin/Boston 2012, S. 893. 2 Zum historischen Überblick vgl. Knud Willenberg, Priapus – der letzte der Götter. Zur Bedeutung des antiken Gottes in der deutschen Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. In: Antike und Abendland, 25, 1979, S. 68–82, hier S. 68 f. 3 Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 7: Werke 1770–1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000, S. 269. 4 Zu einer gemeinsamen Interpretation der beiden Sammlungen vgl. Reiner Wild, „Ich ließ mich Fremder verführen“. Goethes „Römische Elegien“ und „Venezianische Epigramme“. In: https://doi.org/10.1515/9783110542202-009

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Goethe ist als Übersetzer in verschiedener Hinsicht in Erscheinung getreten. Markus May und Evi Zemanek betonen, dass in Goethes Schaffen „die Auseinandersetzung mit dem Übersetzen einen zentralen Platz ein[nimmt], sowohl was die diachrone Kontinuität betrifft, mit der Goethe sich der Übersetzung als kreativem Akt gewidmet hat, als auch hinsichtlich des Skopus, der Reichweite der dadurch eingeschlossenen […] Phänomene und der ihnen gewidmeten Reflexionen.“ 5 Schon Werner von Koppenfels weist in seinem Beitrag über Übersetzung als Form von Intertextualität darauf hin, dass die Übersetzung nie nur in einer anderen Sprache wiederholt, sondern zugleich auch abändert und dass sie daher „als poetische Hermeneutik zu betrachten“ 6 ist. Entsprechend bezeichnen May und Zemanek die Übersetzung als „Ernstfall jeglicher Hermeneutik“,7 der sowohl das eigene als auch das allgemeine Verständnis eines Textes verhandle. Genau eine solche poetische Hermeneutik, die einen Schritt weiter geht als die bloße Übersetzung, wird für Goethe im Folgenden zu beobachten sein. Sie steht im Kontext einer Auseinandersetzung mit dem Thema, die von Goethes Übersetzung des Hohelieds über Fausts Eingangsmonolog bis zum West-östlichen Divan 8 reicht und beispielsweise Übertragungen aus dem Englischen (Byron), Französischen (Voltaire) und Italienischen (Manzoni) umfasst. In einigen Werkphasen verdrängt sogar „die Übersetzung das eigene Schaffen fast“.9 Auch für die Römischen Elegien und die Venezianischen Epigramme spielt die Frage der Übersetzung eine entscheidende Rolle: Nicht nur sind intertextuelle Referenzen in Goethes genannten Gedichtsammlungen teils wörtliche Belege seiner übersetzenden Aneignung des lateinischen Textes, auch wird der Vorgang des Übersetzens selbstreflexiv thematisiert, wenn etwa das Venezianische Epigramm Nr. 38 nach einer deutschen Entsprechung sowohl für das

Sexualität im Gedicht, hg. von Theo Stemmler und Stefan Horlacher, Tübingen 2000, S. 195– 210. 5 Markus May und Evi Zemanek, Inspiration und Transformation. Goethes Poetik der Übersetzung – Zur Einführung. In: Annäherung – Anverwandlung – Aneignung. Goethes Übersetzungen in poetologischer und interkultureller Perspektive, hg. von dens., Würzburg 2013, S. 7–30, hier S. 7. 6 Vgl. Werner von Koppenfels, Intertextualität und Sprachwechsel. Die literarische Übersetzung. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfisterer, Tübingen 1985, S. 137–158. 7 May und Zemanek, Inspiration und Transformation, S. 7. 8 Vgl. Monika Schmitz-Emans, Wandern, Schauen, Schreiben. Goethes Paratexte zum Westöstlichen Divan als Beiträge zu einer Konzeption des Übersetzens. In: Annäherung – Anverwandlung – Aneignung. Goethes Übersetzungen in poetologischer und interkultureller Perspektive, hg. von Markus May und Evi Zemanek, Würzburg 2013, S. 207–234. 9 May und Zemanek, Inspiration und Transformation, S. 12.

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griechische phallos als auch das lateinische mentula sucht. Dass Goethe sich jedoch nicht auf diese Fragen der Übersetzung beschränkt, sondern auf ihnen aufbauend eine an den Priapeia orientierte Poetologie entwickelt,10 die die Römischen Elegien rahmt und auch für die Venezianischen Epigramme zentral ist, ist die wichtigste These dieses Beitrags.

I Goethes philologische Aneignung der Carmina Priapeia Anfang 1790 verfasst Goethe einige Bemerkungen zum Corpus Priapeiorum.11 Sie gehören zu insgesamt nur vier Texten, die Goethe in lateinischer Sprache schreibt, weswegen schon früh gemutmaßt wurde, dass der Sprachwechsel der philologischen Camouflage des als anstößig empfundenen Untersuchungsobjekts dienen sollte.12 Für seine Auseinandersetzung mit den antiken Gedichten greift Goethe auf die von Caspar Schoppe (Scioppius) besorgte Ausgabe der Priapeia zurück, die neben dem Text auch einen Kommentar des Herausgebers sowie Anmerkungen von Scaliger und Friedrich Lindenbrog enthält.13 Goethe setzt sich mit den verschiedenen Kommentaren kritisch auseinander, wenn er etwa in Bezug auf Carmen Nr. 45 schreibt: Scaligeri sententia ad genium sensum hujus carminis proprius quam Scioppii accedere videtur. Priapus enim quendam Cinoedum Capillos Capitis crispantem ut puellae similis fiat, deprehendens more rustico ipsum i[n]crepans deus ait: Num te potiorem puella credis fieri si ipsos capillos qui mentulam comitantur ferro ustulare et calamistro componere institueres.14 Scaligers Meinung scheint der richtigen Bedeutung dieses Gedichts näher zu kommen als Scioppius. Priapus, der einen bestimmten Lustknaben ausschimpft, weil dieser sein Kopfhaar so kraus trägt, daß er wie ein Mädchen aussieht, schilt ihn nämlich in grober

10 Zu poetologischen Reflexionen der Venezianischen Epigramme allgemein vgl. Stephan Oswald, Früchte einer großen Stadt – Goethes Venezianische Epigramme. Heidelberg 2014, S. 379–400. 11 Vgl. Hans-Georg Dewitz, Kommentar. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Bd. I.12: Bezüge nach Außen, Übersetzungen II, Bearbeitungen, hg. von Hans-Georg Dewitz, Frankfurt am Main 1999, S. 1064. Alle Zitate aus der Frankfurter Ausgabe werden im Text mit der Sigle FA angeführt. 12 Vgl. FA I.12, S. 1064. 13 Vgl. FA I.12, S. 1066. 14 FA I.12, S. 189.

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Weise, indem er sagt: Glaubst du nicht, daß du dich mehr zu einem Mädchen machst, wenn du dir Mühe gibst, deine Schamhaare mit einem Brenneisen zu kräuseln?15

Wenn Goethe hier nach dem genium sensum des Gedichts fragt und dazu die jeweiligen Kommentare heranzieht, zeugt seine Auseinandersetzung mit dem Text von einer hermeneutischen Herangehensweise. Stärker philologisch im strengen Sinne des Begriffs orientiert sind Goethes Überlegungen zu Carmen Nr. 67, worin er sich mit der lautlichen Ähnlichkeit einiger griechischer und lateinischer Begriffe beschäftigt, die die Pointe des entsprechenden Gedichts bildet. Auf dieser Basis schlägt er eine Konjektur vor, um den Text zu verbessern. Bisweilen greift Goethe in seiner philologisch-interpretatorischen aemulatio mit den Vorgängern Scaliger und Schoppe gar auf ironische Kommentare zurück. So wirft er Schoppe vor, den Begriff fibula in Carmen Nr. 77 falsch verstanden zu haben. Goethe liefert nicht nur eine kulturgeschichtliche Erläuterung zum besseren Verständnis des Gedichts, er nutzt die Gelegenheit auch für eine ironische Spitze: quomodo hoc Scioppium Archaeologiae Phallicae studiosissim[um] fugere potuerit […] iure miror.16 Ich bin tatsächlich erstaunt, daß diese Tatsache Scioppius entgangen sein soll, der in der Archäologie des Phallus sehr bewandert war […].17

Dieser kursorische Überblick über Goethes philologische Aneignung der Priapeia verdeutlicht, in wie vielfältiger Weise Goethe sich dem antiken Korpus nähert. Ähnlich wie Lessing es von seiner Herangehensweise sagt, scheint der philologische Zugriff eine Rechtfertigung für die Auseinandersetzung mit den Texten zu bieten. Dass Goethe jedoch nicht nur rezeptiv verfährt, sondern die Gedichte auch produktiv in sein eigenes lyrisches Schaffen integriert, wird der folgende Abschnitt zeigen.

II Das Corpus Priapeiorum als intertextueller Referenzpunkt Goethes Für sein eigenes poetisches Werk macht Goethe die philologische Auseinandersetzung mit den Carmina Priapeia in vielerlei Hinsicht fruchtbar. Referenzen 15 FA I.12, S. 1068. 16 FA I.12, S. 190. 17 FA I.12, S. 1070.

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lassen sich u. a. auf metrischer, semantischer, motivischer und poetologischer Ebene finden. Metrisch und gattungstheoretisch stehen insbesondere die Venezianischen Epigramme in der Tradition der spätantiken Sammlung.18 Das Versmaß des Distichons verbindet auch die Römischen Elegien mit dem Corpus Priapeiorum, wenngleich deren zentrale intertextuelle Bezugspunkte sicherlich die in der 5. Elegie genannten „Triumvirn“ Catull, Properz und Tibull sind, darüber hinaus Ovid.19 Dennoch greift Goethe auch im Kontext der Römischen Elegien mehrfach auf seine Kenntnis der Carmina Priapeia zurück. Insbesondere in den beiden für den Druck ausgesonderten Elegien – den sogenannten Priapeia – gibt es eine Reihe von Referenzen. So dankt im zweiten dieser Gedichte Priap dem Künstler, dass er ihm „[u]nter Göttern den Platz der mir und andern gebührt“,20 verschafft habe. Hans Rudolf Vaget und Florian Krobb haben überzeugend dafür plädiert, Goethes Priapeia als ursprünglich geplantes Einleitungs- und Schlussgedicht der Römischen Elegien zu verstehen: Im ersten der beiden Gedichte ernenne Goethe Priap „zum Hüter und Schutzherrn seines literarischen Liebesgartens“,21 im zweiten, beschließenden danke der Gott dem Dichter für den „literarischen Liebesdienst“.22 Krobb zufolge führt Priap demnach zum erotischen Inhalt der Römischen Elegien hin.23 Bernd Witte sieht ihn darüber hinaus gemeinsam mit Amor Jupiter als zentrale mythologische Referenzfigur ablösen.24 Schon dieser Überblick wirft mehrere Schlaglichter auf die poetische Fruchtbarkeit von Goethes philologischer und übersetzender Auseinandersetzung mit dem Corpus Priapeiorum. Im Detail lassen sich zunächst einige metrische Bezugnahmen auf das antike Korpus konstatieren. Wie prägend die Epigrammform in Kombination mit der intertextuellen Referenz für Goethes

18 Dass darüber hinaus insbesondere Martial als Vorbild relevant ist, betonen W. Daniel Wilson, Goethe, Männer, Knaben. Ansichten zur ‚Homosexualität‘, Berlin 2012, S. 106 f. sowie Oswald, Früchte einer großen Stadt, S. 115–138. 19 Vgl. z. B. Terence James Reed, Liebeslehre. Goethes Fünfte Römische Elegie. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Goethe. Gedichte und Interpretationen, hg. von Olaf Hildebrand, Köln [u. a.] 2003, S. 51–69; Uwe Japp, Amor / Roma. Goethes Liebeskonzeption in den „Römischen Elegien“. In: Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800, hg. von Carsten Rohde und Thorsten Valk, Berlin/Boston 2013, S. 145–163. 20 FA I.1, S. 441. 21 Hans Rudolf Vaget, Die Rettung des Priap. Betrachtungen zu Goethes erotischer Lyrik. In: Schweizer Monatshefte, 79, 1999, S. 18–24, hier S. 21. 22 Vaget, Die Rettung des Priap, S. 22. 23 Florian Krobb, Priapeian Pursuits. In: Orbis Litterarum, 65, 2010, S. 1–21, hier S. 9. 24 Bernd Witte, Roma – Amor. Antike Tradition und moderne Erfahrung in Goethes „Römischen Elegien“. In: Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa, hg. von Bernhard Beutler und Anke Bosse, Köln [u. a.] 2000, S. 499–513, hier S. 503 f.

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Gedichte wirkt, illustriert ein Blick auf das 40. nachgelassene Venezianische Epigramm: Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen, Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch.25

Dass die Option des Stellungswechsels den Reiz des Mädchens über denjenigen des Knaben stellt, ist bereits in der antiken Dichtung topisch. So schreibt Martial im 67. Epigramm des 9. Buchs: fessus mille modis illud puerile poposci: ante preces totas primaque verba dedit. Ermattet von tausend Stellungen wollte ich’s so, wie man’s Knaben macht. Bevor ich fertig war mit Bitten, schenkte sie’s mir nach den ersten Worten.26

Bei Goethe wird die Pointe neben der inhaltlichen Bezugnahme durch das Metrum zusätzlich betont und in den Kontext seiner Auseinandersetzungen mit den antiken Priapeia gerückt: Während der Hexameter eine (bereits in sich kontroverse) These entwickelt, treibt der Pentameter die argutia auf die Spitze. Die Mittelzäsur des Verses steht exakt an der Stelle, an der der geschilderte Geschlechtsakt kurz innehält, um den Stellungswechsel zu vollziehen. Metrisch wie inhaltlich wird eine kurze Pause erzeugt, ehe das Epigramm in seine überraschende Schlusswendung ausläuft. Unterstützt wird diese durch die chiastische Verwendung von Knabe/Mädchen, ebenfalls in formaler wie inhaltlicher Hinsicht. Auch die Carmina Priapeia führen den Gedanken des Stellungswechsels aus, der für den Sprecher mit einer geschlechtlichen Differenzierung verbunden ist, ohne dass damit sexuelle Präferenzen Priaps für ein bestimmtes Geschlecht oder Alter offenbart würden:27 Percidere puer, moneo: futuere puella: barbatum furem tertia poena manet. (CP 13)28

25 FA I.1, S. 472. 26 Zitiert nach Martial, Epigramme. Lateinisch/Deutsch, hg. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2008, S. 152 f. 27 Priap verschmäht nur alte Frauen und Knaben, die von ihm penetriert werden wollen. Goethe verzichtet auf die Darstellung von Priaps Lust an der Vergewaltigung. Vgl. Wilson, Goethe, Männer, Knaben, S. 97. 28 Die Carmina Priapeia werden hier und im Folgenden unter Angabe der Sigle CP zitiert nach Priapeia. Poems for a Phallic God, hg. von W. H. Parker, London/Sydney 1988.

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Junge, ich warne dich, du wirst von hinten gestoßen: Mädchen, du von vorne gefickt: den Dieb mit Bart erwartet die dritte Strafe.29

Bei Goethe jedoch gewinnt das Epigramm durch drei Änderungen einen zusätzlichen Kniff: Erstens ist der Sprecher nicht eindeutig mit Priap identifiziert, so dass die explizit homoerotische Komponente im ersten Halbvers den Rezipienten überraschen mag, zweitens findet der Stellungswechsel mit derselben Person statt, drittens wird die Aufwertung des Mädchens gegenüber dem Knaben ironisiert.30 Im entsprechenden Carmen Priapeium hingegen erfolgt die Differenzierung ohne Wertung, nur nach Geschlecht und Alter. Die metrischen und gattungsgeschichtlichen Bezugnahmen binden das Corpus Priapeiorum in Goethes eigene Texte ein, stellen jedoch keine exklusive intertextuelle Referenz dar, sondern eher eine Systemreferenz, die die antike Epigramm- und Elegiendichtung insgesamt im Blick hat. Konkreter sind die Rückgriffe Goethes in semantischer und motivischer Hinsicht. Hierfür sollen im Folgenden detailliert beleuchtet werden: a) das Motiv des Gartens mit der Rolle des Priap und b) der Wechsel von impliziter und expliziter Sprachverwendung, der Mehrdeutigkeit erzeugt.

III Das Motiv des Gartens in den Venezianischen Epigrammen und Römischen Elegien Folgt man der Annahme von den Priapeia als Rahmengedichten der Römischen Elegien,31 so wird die Raumsemantik des Gartens gleich im ersten Vers der Sammlung programmatisch entwickelt und mit einer poetologischen Aussage verbunden, die für alle Gedichte zentral ist:32 Hier ist mein Garten bestellt, hier wart ich die Blumen der Liebe Wie sie die Muse gewählt weislich in Beete verteilt.33

29 Die Übersetzungen der Carmina folgen Christiane Goldberg, Carmina Priapeia, Heidelberg 1992, hier S. 112. 30 Wilson, Goethe, Männer, Knaben, S. 120 liest das Epigramm als Verwischung der Geschlechter. Dem folge ich zwar insofern, als der Sprecher eine Indifferenz in seinem Begehren explizit ausspricht; nicht aber insofern, als das Epigramm ja doch eine sexuelle Präferenz präsentiert, freilich beschränkt auf die Variatio im Akt. 31 Vgl. – wie oben – Vaget, Die Rettung des Priap; Krobb, Priapeian Pursuits. 32 Zur Poetologie der Römischen Elegien vgl. auch Benedikt Jessing, Sinnlichkeit und klassische Ästhetik. Zur Konstituierung eines poetischen Programms im Gedicht. In: Gedichte von Johann Wolfgang Goethe, hg. von Bernd Witte, Stuttgart 1998, S. 129–148. 33 FA I.1, S. 440, V. 1–2.

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Über das Motiv des Gartens sind wesentliche Gedanken angelegt: Es geht in den Gedichten um die Früchte des Gartens, allerdings um die ‚ästhetischen‘ Früchte der Blumen, nicht um Nutzpflanzen. Zugleich sind diese metaphorisch gebraucht als „Blumen der Liebe“, womit die erotische Thematik von Beginn an aufgerufen ist. Auch die Verbindung von Erotik und Gedicht wird unmittelbar festgelegt, wenn sich die Blumen der Muse verdanken. In diesem Zusammenhang wird das Konzept des Gartens erneut relevant: Liebe und poetische Erzeugnisse wuchern nicht wild, sondern „weislich in Beete verteilt“. Das erste Distichon des ersten Gedichts entwirft also nicht nur bereits die Dualität von Liebe und Gedicht, sondern es privilegiert eine bestimmte Form für beide: die der Ordnung. Nach einer Variation des ausgeführten Gedankens im zweiten Distichon tritt sodann Priap auf den Plan. Aufgerufen wird er über seine traditionelle Funktion als Hüter des Gartens, wobei diese eine entscheidende Veränderung erfährt: Während Priap in den Carmina Priapeia für die Abwehr von Dieben zuständig ist, wird auf diese seine Funktion hier explizit verzichtet: Stehe du hier an der Seite Priap! ich habe von Dieben Nichts zu befürchten und frei pflück und genieße wer mag[.]34

In der antiken Sammlung hingegen heißt es gleich im ersten Gedicht, der Widmung an den Leser: non soror hoc habitat Phoebi, non Vesta sacello, nec quae de patrio vertice nata dea est. sed ruber hortorum custos, membrosior aequo, qui tectum nullis vestibus inguen habet. aut igitur tunicam parti praetende tegendae, aut quibus hanc oculis aspicis, ista lege. (CP 1, V. 3–8) Nicht Phoebus’ Schwester wohnt in diesem kleinen Heiligtum, nicht Vesta, auch die Göttin nicht, die aus dem Scheitel ihres Vaters stammt, sondern der rote Gartenwächter, mit seinem Glied in Übergröße, der seine Scham durch keine Kleider bedeckt hält. Also breite entweder deine Tunika vor den Teil, der zu bedecken ist, oder mit denselben Augen, mit den du ihn anschaust, lies dies.

Bereits im Einleitungsgedicht ist der Gott als hortorum custos also in der Wächterfunktion aufgerufen, die Goethe abändert: Nicht die Diebe werden bei ihm bestraft, sondern „die Heuchler“ (V. 7). Priap züchtigt sie körperlich. Allerdings ist auch in den antiken Priapeia die Wächterfunktion Priaps in weiten Teilen

34 FA I.1, S. 440, V. 5–6.

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eine Farce: Der Gott wartet in seinem Garten geradezu auf Eindringlinge, die er für ihr Vergehen sexuell bestrafen kann. So legt CP 5 Priap die folgenden Worte in den Mund:35 quod meus hortus habet sumas inpune licebit, si dederis nobis quod tuus hortus habet. (CP 5, V. 3–4) „Was mein Garten hat, das darfst du straflos nehmen, wenn du mir gegeben hast, was dein Garten bietet.“

Das Wort ‚Garten‘ erhält hier im zweiten Fall die metaphorische Bedeutung, die auch für Goethes Variation der Figur Priap entscheidend ist. Goethe wendet sich also nur scheinbar von den Prämissen der antiken Sammlung ab, de facto ist auch seine Pointe ein intertextueller Verweis. Darüber hinaus – und darin schließt sich Goethe dem Vorbild ebenfalls an – wird in den Carmina Priapeia häufig ein poetologischer Bezug zwischen Priap und den Gedichten hergestellt. Im ersten Gedicht geschieht dies – wie eben zitiert – dem erotisch-frivolen Charakter der Sammlung entsprechend über einen halbironischen Verweis auf die Augen, die sowohl zur Lektüre als auch zur erotischen Anschauung eingesetzt werden können. In CP 41 wird der Garten des Priap explizit auch zu einem Garten der Dichtung: Quisquis venerit huc, poeta fiat et versus mihi dedicet iocosos. (CP 41) Wer immer hierher kommt, soll Dichter werden und mir Verse weihen voller Witz.

Schon der antiken Sammlung geht es also keineswegs ausschließlich um das körperliche Element, sondern um das Material, das die Körperlichkeit für die ironische Pointe im Gedicht bietet. Es ist jedoch eine Pointe, die nur für eingeweihte Leser zu verstehen ist, worauf etwa die (weiter unten besprochenen) Sprachspiele verweisen oder die (ebenfalls unten genannten) topischen Attribute der Götter, um deren phallische Bedeutung man wissen muss, um den Witz des Epigramms zu erfassen. So wie der Garten ein hortus conclusus für die erotischen Aktivitäten Priaps und seiner Gäste ist, ist also der Garten des Gedichts ein abgeschlossener, geordneter Raum für den Sprecher und seine eingeweihten Leser. Bereits anhand seines Aufenthaltsorts im Garten wird Priap von Goethe verschiedentlich aufgerufen und funktionalisiert. Die Figur dient Goethe dane-

35 Ähnlich auch CP 51, V. 28, in dem es heißt: „hoc vos et ipsum, quod minamur, invitat“/ „[G]erade das, womit ich drohe, lädt euch ein“.

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ben für Pointen, die über die Ebenen von Sexualität und Gedicht hinausgehen. So nutzt das zweite nachgelassene Venezianische Epigramm den paganen Gott für einen Vergleich mit dem christlichen: Heraus mit dem Teile des Herrn! heraus mit dem Teile des Gottes! Rief ein unglücklich Geschöpf blind für hysterischer Wut, Als, die heiligen Reste Gründonnerstag Abends zu zeigen, In Sanct Markus ein Schelm über der Bühne sich wies. Armes Mädchen was soll dir ein Teil des gekreuzigten Gottes? Rufe den heilsamern Teil jenes von Lampsacus her.36

Das tertium comparationis der beiden Götter ist das „Teil“, das sich über seine semantische Zweideutigkeit sowohl auf die Reliquie Christi als auch auf das Geschlechtsteil Priaps, des Gottes „von Lampsacus“, beziehen lässt. Goethe ironisiert damit die Devotion der gläubigen Person, die in ihrer religiösen Ekstase der sexuellen strukturell nicht fernsteht – man denke etwa an Berninis berühmte Skulptur der Theresa von Ávila in Santa Maria della Vittoria in Rom. Beide Formen der Ekstase werden gegeneinandergehalten und in ihrer heilsamen Wirkung verglichen, wobei die religiöse – zumindest in Goethes Epigramm – eindeutig das Nachsehen hat. Goethe, so kann man bezogen auf das Motiv des Gartens sagen, übernimmt somit mehrere Aspekte der Carmina Priapeia, um sie für seine Zwecke fortzuentwickeln. In beiden Fällen ist Dichtung etwas Geordnetes, ja Intimes, das gerade in dieser Intimität mit der erotischen Anzüglichkeit spielen kann. In beiden Fällen sind Körperlichkeit und Textualität eng miteinander verbunden, ja die Körperlichkeit ist beinahe die Voraussetzung für das poetische Erzeugnis. Der Garten bleibt daher auch im weiteren Verlauf sowohl der Venezianischen Epigramme als auch der Römischen Elegien entscheidender Ort der Handlung. Besonders prominent wird er im letzten Gedicht der Römischen Elegien – Goethes zweitem Priapeium – erneut aufgegriffen, um die Sammlung zu beschließen. Dort heißt es: Hinten im Winkel des Gartens da stand ich der letzte der Götter Rohgebildet, und schlimm hatte die Zeit mich verletzt.37

Das Gedicht setzt also ein mit einem Blick in die Vergangenheit, die durch die fehlende Beachtung und Kraft Priaps gekennzeichnet ist. Demgegenüber steht die Gegenwart, die von neuer Virilität des Gottes zeugt:

36 FA I.1, S. 465. 37 FA I.1, S. 440 f., V. 1–2.

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Häßlich bin ich nicht mehr, bin ungeheuer nur stark. Dafür soll dir denn auch halbfußlang die prächtige Rute Strotzen vom Mittel herauf, wenn es die Liebste gebeut Soll das Glied nicht ermüden, als bis ihr die Dutzend Figuren Durch genossen wie sie künstlich Philänis erfand.38

Was nun führt zu diesem grundsätzlichen Wandel von einem ermatteten Priap zu einem in jugendlicher Kraft neu erblühenden – womit Goethe die Reihenfolge des antiken Korpus gerade umkehrt, in der – wie Niklas Holzberg zeigen konnte39 – die Kraft des Gottes sukzessive nachlässt? Es ist die Leistung des Dichters, für die Priap sich in Goethes Schlussgedicht entsprechend bedankt: Nun, durch deine Bemühung o! redlicher Künstler gewinn ich Unter Göttern den Platz der mir und andern gebührt. Wer hat Jupiters Thron, den schlechterworbnen, befestigt? Farb und Elfenbein, Marmor und Erz und Gedicht. Gern erblicken mich nun verständige Männer und denken Mag sich jeder so gern wie es der Künstler gedacht.40

Erneut werden also Erotik und Gedicht enggeführt. Goethe kann dafür auf die entsprechenden Vorbilder der Carmina Priapeia zurückgreifen, doch er versieht die Rolle des Dichters mit einer fulminanten Steigerung. Ähnlich wie sich in Wanderers Sturmlied die Musen zum Dichter gesellen, weil dieser sie inspiriert – der klassische Musenanruf also kontrafaziert ist –,41 bedarf im zweiten Priapeium der Gott des Dichters, um seine Potenz wiederzuerlangen. Versteht man das Gedicht als Schlussstein der Römischen Elegien, so wird die darin programmatisch ausgeführte Verbindung von Körper und Gedicht mit einer zusätzlichen Pointe versehen: Nicht nur lässt sich der Dichter – wie in der 5. Elegie – von körperlichen Erfahrungen für seine poetischen Werke inspirieren, auch bedingt umgekehrt das Gedicht eine Steigerung der körperlichen Fähigkeiten im Sinne einer hierarchiefreien Wechselwirkung beider Pole.

38 FA I.1, S. 440 f., V. 18–22. 39 Vgl. Niklas Holzberg, Impotence? It Happened to the Best of Them! A Linear Reading of the „Corpus Priapeiorum“. In: Hermes, 133, 2005, S. 368–381. 40 FA I.1, S. 440 f., V. 11–16. 41 Vgl. Erik Schilling, Goethes Hymnen als liminale Lyrik. In: Euphorion, 108, 2014, S. 135– 157 mit weiterführender Literatur sowie ders., Liminale Lyrik. Freirhythmische Hymnen von Klopstock bis zur Gegenwart, Stuttgart 2018, S. 113–120.

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IV Mehrdeutigkeit in den Venezianischen Epigrammen und Römischen Elegien Dass Goethes Gedichte und seine philologischen Überlegungen eng miteinander verknüpft sind, die Gedichte dabei das Philologentum aber bisweilen ironisieren, belegt das nachgelassene Venezianische Epigramm Nr. 38: Gib mir statt „Der Sch...“ ein ander Wort o Priapus Denn ich Deutscher ich bin übel als Dichter geplagt. Griechisch nennt ich dich φαλλος, das klänge doch prächtig den Ohren, Und lateinisch ist auch Mentula leidlich ein Wort. Mentula käme von Mens, der Sch... ist etwas von hinten, Und nach hinten war mir niemals ein froher Genuß.42

Vordergründig handelt es sich um eine sprachvergleichende Ausführung zum Begriff des Phallus, in die sowohl klangliche als auch etymologische Überlegungen einfließen. Während die (scheinbare) Dignität des griechischen Begriffs mit seinem Wohlklang begründet wird, fußt die Akzeptanz des lateinischen auf seiner (scheinbaren) sprachgeschichtlichen Herleitung von mens. Der Wohlklang freilich ist eine arbiträre Kategorie, wobei die vollständige Ironie des Begründungszusammenhangs erst im Zuge der falschen etymologischen Herleitung deutlich wird. Weil sich mentula angeblich auf mens zurückführen lässt, verliert das Körperliche seine Obszönität und wird zu einer Wirkkraft des Geistes. Dass die Carmina Priapeia eine solche Konnotation von mentula keineswegs vorsehen, illustriert CP 20, in dem das Geschlechtsteil als rein körperliches Merkmal von Priap den Attributen der anderen Götter gegenübergestellt wird, wobei die Ironie in diesem Fall darin besteht, dass alle anderen Götter als mit einem ebenso phallischen Attribut ausgestattet beschrieben werden wie Priap, auch wenn dies nicht explizit geschieht: Fulmina sub Iove sunt, Neptuni fuscina telum; ense potens Mars est; hasta, Minerva, tua est; sutilibus Liber committit proelia thyrsis; fertur Apollinea missa sagitta manu; Herculis armata est invicti dextera clava: at me terribilem mentula tenta facit. (CP 20) Blitze stehen Jupiter zur Verfügung, Neptuns Waffe ist der Dreizack, durch sein Schwert ist Mars mächtig, die Lanze, Minerva, gehört dir, mit seinen laubumwundenen Thyrsi beginnt Liber die Kämpfe,

42 FA I.1, S. 472.

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es fliegt, von Apollos Hand gesandt, der Pfeil, die Rechte des unbesiegbaren Hercules ist mit der Keule bewaffnet: mich aber macht zum Schrecken mein straffgespannter Schwanz.

Die res ist in allen Fällen dieselbe: Selbstverständlich verweisen fulmina, fuscina, ens, hasta, thyrsis, sagitta und clava topisch ebenso auf das männliche Geschlechtsteil wie die mentula Priaps. Das verbum ist zunächst also wiederholt implizit, dann einmal drastisch explizit gestaltet. Stellt der Leser die Assoziation aber her, fällt der Unterschied, der durch das harte at sowie den Wechsel vom Impliziten zum Expliziten scheinbar betont wird, in sich zusammen. Ähnlich wie in CP 20 die Differenz von verba und res purifiziert bei Goethe die Pseudo-Etymologie vordergründig das Skandalon. Die Pointe besteht in einer Kombination aus der etymologischen Herleitung, der Übersetzung ins Deutsche und der Konnotation, die dieser Sprachwechsel bedingt. Weil sich die metaphorische Verwendung des Wortes ‚Schwanz‘ als Bezeichnung für das männliche Geschlechtsteil vom ‚tierischen‘ Schwanz am Körperende ableiten lässt, tritt erstens der gegenteilige Effekt der Purifikation durch mens ein: Der Begriff wird durch seine Wortherkunft nicht gesäubert, sondern beschmutzt. Gewiss ist Goethes Rückgriff auf die lateinische Tradition auch – wie Vaget meint – ein strategischer Zug, um die herrschenden Geschmacksnormen zu umgehen.43 Vor allem aber dient er der Ironie. Zweitens wird auf dieser Basis die Assoziation mit einer bestimmten Sexualpraktik („nach hinten“) gebildet, die zwar nicht als moralisch verwerflich, aber doch als unangenehm dargestellt wird. Hierin nähert sich das Gedicht ebenfalls den Priapeia an, in denen der Gott sein Geschlechtsteil dazu einsetzt, die Diebe zu penetrieren, die in seinen Garten eindringen. Insofern ist die Tatsache, dass gerade Priap um linguistischen Beistand angefleht wird, ebenfalls ironisch grundiert. Mit seiner unmittelbaren Verhandlung anatomischer Terminologie – die scheinbar betonte Dezenz dient nur der Verschleierung – ist dieses Epigramm daher ein Beispiel für die offen ausgestellte Verwendung expliziter Sprache. Unter dem Gewand des sprachpuristischen Philologen verbirgt sich der Phallus des Priap auf der Suche nach „frohe[m] Genuß“. Auch andere Venezianische Epigramme erreichen ihre ironische Pointe über ein Sprachspiel, etwa das folgende nachgelassene Nr. 39: Camper der jüngere trug in Rom die Lehre des Vaters Von den Tieren uns vor wie die Natur sie erschuf, Bäuche nahm und gab, dann Hälse, Pfoten und Schwänze. Alles gebrochenes Deutsch so wie geerbter Begriff.

43 Vgl. Vaget, Die Rettung des Priap, S. 21.

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Endlich sagt’ er: „Vierfüßiges Tier wir haben’s vollendet Und es bleibet uns nur, Freunde, das Vöglen zurück!“ Armer Camper du hast ihn gebüßt den Irrtum der Sprache, Denn acht Tage darnach lagst du und schlucktest Merkur.44

War das Sprachproblem im 38. Epigramm bis zum Ende ein linguistisches, zeitigt die Unsicherheit der philologischen Benennung im hier vorliegenden Text höchst konkrete Folgen. Interessant ist dabei vor allem, dass der Wechsel der Sprachebene von konkret zu metaphorisch nicht explizit markiert wird, sondern sich als schleichender Prozess darstellt, der sich erst im Rückblick vom sprachlich eindeutigen Ende des Gedichts her nachvollziehen lässt. Durch zwei Kunstgriffe wird zunächst der Eindruck sprachlicher Eindeutigkeit erzielt: Geschildert wird ein wissenschaftlicher Vortrag, etwaige sprachliche Ungenauigkeiten lassen sich angeblich auf die nicht sichere Sprachbeherrschung des Nicht-Muttersprachlers erklären. Doch der nominalistische „Irrtum der Sprache“ schlägt ganz real zurück: In dem Zeitsprung, der zwischen den Versen 6 und 7 erfolgt sein muss, um das Fazit des letzten Verses logisch möglich zu machen, muss Camper seine zoologisch-konkrete Rede von „[v]ierfüßige[m] Tier“ und „Vöglen“ in die anthropologisch-metaphorische Wendung (und zugleich in die Tat) umgesetzt haben. Die dabei eingefangene Syphilis wird durch das „Merkur“ des letzten Verses kuriert. Im Rückblick erhalten nun auch die anderen Begriffe, die Camper verwendet, eine doppelte konkrete und metaphorische Bedeutung: Die „Lehre des Vaters / Von den Tieren“ ist auch die Lehre vom Verhalten des Menschen in seinen tierischen Trieben, die Bäuche, die gegeben und genommen werden, verweisen auf den zunächst wachsenden und dann rapide schrumpfenden Bauch der Schwangerschaft, die „Schwänze“ stellen den unmittelbaren Anschluss an das voranstehende Epigramm her. Um einen ganz konkreten Phallus drehen sich auch Goethes philologischzeichnerische Überlegungen zu CP 54. Dieses entwirft ein Bilderrätsel: ED si scribas temonemque insuper addas, qui medium vult te scindere, pictus erit. (CP 54) Wenn du CD [sic!] schreibst und eine Stange darüber fügst, wird der gemalt sein, der dich in der Mitte spalten will.45

44 FA I.1, S. 472. 45 Die Übersetzung von Goldberg legt hier eine abweichende Textkonstitution zugrunde (CD statt ED).

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Goethe löst das Rätsel unter Rückgriff auf den Kommentar von Schoppe. Dieser entschuldigt sich zunächst dafür, dass das Carmen der Interpretationsarbeit nicht würdig sei, erklärt dann aber doch, was es mit dem Rätsel auf sich habe: Hoc dicit. Si scribas E D & temonem in medio addas hoc modo: E-D, tum mentula erit quodammodo depicta […].46 Dies bedeutet: Wenn du E D schreibst und folgendermaßen einen Balken in der Mitte hinzufügst: E-D, wird auf diese Weise ein Schwanz gezeichnet sein. [meine Übersetzung]

Goethe nimmt sich des Rätsels nicht nur im Text, sondern auch im Bild an:47

Anders als in den o.g. Beispielen scheint hier kein Fall von Zwei- oder Mehrdeutigkeit 48 vorzuliegen, zumindest sofern man das Rätsel versteht und korrekt löst. Doch bereits Schoppe macht auf eine onomatopoetische Ambiguität aufmerksam: Spricht man das Epigramm laut, ist es im zweiten Vers schwer, allein vom Klang der Phoneme her zwischen „te“ und „D“ zu unterscheiden. Schoppe bietet die Variante, die „D“ setzt und die Goethe zur Grundlage seiner Zeichnung macht. Orientiert man sich hingegen an der lautlichen Variante (wie in den oben zitierten Fassungen von CP 54), geht das Epigramm vom Zeichen zur Tat über. Dann spaltet der Balken nicht mehr (nur) das D, sondern (auch) das im Text angesprochene Du, das in den Priapeia in der Regel mit den Figuren gleichzusetzen ist, mit denen Priap sexuell verkehrt. Und so wird nicht nur die Schrift gespalten, sondern auch der Körper. Was von beidem ‚tatsächlich‘ gemeint ist, ist rein lautlich nicht zu entscheiden – es liegt also ein Fall von Polyphonie vor, die simultan unterschiedliche Handlungen zum Ausdruck bringt.49 Ähnlich verhält es sich mit der Ambiguität in Goethes 48. nachgelassenem Venezianischen Epigramm: Fürchte nicht, liebliches Mädchen, die Schlange die dir begegnet! Eva kannte sie schon, frage den Pfarrer mein Kind.50

46 Priapeia, sive diversorum poetarum in Priapum lusus, hg. von Caspar Schoppe, Padua 1664, S. 59 f. 47 Vgl. FA 12, S. 193. 48 Zu den Begriffen vgl. Gerhard Kurz, Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit, Göttingen 1999, v. a. S. 100–109. 49 Zu dem von Michail Bachtin abgeleiteten Begriff und seiner Anwendung im Bereich der Lyrik vgl. Erik Schilling, Dialog der Dichter. Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2015, v. a. S. 7–22. 50 FA I.1, S. 473.

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Hier ist die Ambiguität nicht lautlich, sondern semantisch bedingt. Das Epigramm funktioniert problemlos, wenn man ausschließlich die biblische Ebene als Deutungshorizont zugrunde legt, mit der Schlange im Paradies am Baum der Erkenntnis („Eva kannte sie schon“), dem anschließenden Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies – wofür der Pfarrer zweifellos der richtige Ansprechpartner ist. Im Kontext der anderen Venezianischen Epigramme sowie im Lichte der beständigen Bezugnahme auf die Carmina Priapeia mit ihrem gut bestückten Protagonisten ist freilich auch an die metaphorische Schlange des männlichen Genitals zu denken. Selbst vor diesem Hintergrund lässt sich die biblische Deutung aufrechterhalten, führt doch Evas Ursünde auch zur Erkenntnis der Nacktheit und in der Folge der Vertreibung aus dem Paradies zu Sexualität und Fortpflanzung auf dem Wege schmerzhaften Gebärens. In einem dritten Schritt erst offenbart das Epigramm seine ironische Spitze, die erneut die Kirche trifft, denn der Pfarrer ist in diesem Zusammenhang nicht länger nur als theologischer Experte für die Deutung des biblischen Wortes zu verstehen, sondern auch als körperlicher Experte für den Umgang mit der metaphorischen Schlange – wobei offenbleibt, ob mit einer solchen ‚Schlange‘ dann die des Pfarrers selbst oder die eines anderen Mannes gemeint ist. In jedem Fall stehen die wörtliche und die übertragene Lesart gleichermaßen gültig nebeneinander und beeinflussen einander.

V Fazit Goethes philologische Auseinandersetzung mit den Carmina Priapeia hat vielfältige Spuren in seinem poetischen Werk hinterlassen. Es konnte gezeigt werden, dass die Römischen Elegien und die Venezianischen Epigramme nicht nur formal Anleihen bei der antiken Sammlung nehmen, sondern insbesondere inhaltlich das Motiv des Gartens, die Figur des Priap und die poetologische Verbindung von Eros und Gedicht aufgreifen. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass gerade der übersetzende Umgang mit dem Prätext von Goethe mehrfach thematisiert und jeweils zur Basis einer ironischen Pointe wird. Die Übersetzung bildet also einerseits die notwendige Voraussetzung für das eigene poetische Schaffen, sie wird dabei aber – ebenso wie die eigene dichterische Tätigkeit – auch selbstreflexiv-kritisch hinterfragt. Was bleibt, ist die unauflösliche Verbundenheit von Körper und Geist, die in den Carmina Priapeia angelegt ist und von Goethe übernommen wird.

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Iris Plack

Die Herausbildung der philologischdokumentarischen Übersetzung am Beispiel von Johann Joachim Christoph Bode und Ludwig Tieck In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie sich das sinkende Prestige der Dichterübersetzer und die damit einhergehende Aufwertung des Originals im Zeitalter der Romantik und des aufkommenden Historismus auf die zeitgenössische deutsche Übersetzungspraxis auswirkten. Die aufstrebende Übersetzungstheorie konstituierte sich in Deutschland gewissermaßen als Gegenentwurf zum vorherrschenden französischen Modell, was mit einem Rückgang der verbreiteten Praxis der Übersetzung ‚aus zweiter Hand‘ über das Französische einherging.1 Es wurde eine Wende in der Übersetzungsgeschichte angestoßen, die von Deutschland wiederum auf Frankreich und ganz Europa ausstrahlte. Zwei bekannte Persönlichkeiten, deren Übersetzungen weitreichende Wirkung entfalteten, ja z. T. sogar Eingang in den deutschen Literaturkanon fanden, stehen exemplarisch für diese kulturhistorische Entwicklung: Johann Joachim Christoph Bode und Ludwig Tieck. Anhand dieser beiden Fallbeispiele soll aufgezeigt werden, wie sich im Deutschland um die Wende zum 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund des Wandels des Übersetzerberufs die philologisch-dokumentarische Übersetzung herauszubilden begann. Es gilt u. a. zu zeigen, dass das philologisch-dokumentarische Verfahren nicht im Widerspruch zum Konzept der poetisch-schöpferischen Übersetzung steht: Im Rahmen des aufkommenden Kulturrelativismus der Romantik musste der Übersetzer sich das Fremde in einem schöpferischen Prozess aneignen, um es erfahrbar zu machen und zu verhindern, dass „die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt“.2 Methodische Grundlage ist die kontrastive Übersetzungsanalyse, also der Vergleich ausgewählter Passagen aus den Übersetzungen Bodes und Tiecks mit dem Original und einer oder mehreren deutschen Vorgängerfassungen.

1 Vgl. Antoine Berman, L’épreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique, Paris 1984, S. 62. 2 Wilhelm von Humboldt, Einleitung zu „Agamemnon“. In: Hans Joachim Störig, Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1963, (Wege der Forschung 8), S. 83. https://doi.org/10.1515/9783110542202-010

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I Die Abkehr vom französischen Vorbild im Zeitalter der Romantik und des aufkommenden Historismus Die Praxis der literarischen Übersetzung ist eingebettet in historische und geistesgeschichtliche Entwicklungen, die zugleich den Nährboden und die Kontrastfolie für die untersuchten Fallbeispiele bilden. So begann sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Gegenbewegung zur französischen Übersetzungspraxis herauszubilden, die mit der Hinwendung zu englischen Vorbildern einherging. Folgt man der viel zitierten These Antoine Bermans, so entstand die dortige Auffassung vom Übersetzen gar in bewusster Abgrenzung zu Frankreich,3 wo seit den beiden Blütezeiten der belles infidèles im 17. und 18. Jahrhundert die freie Umgestaltung des Originals an der Tagesordnung war. Geistesgeschichtlich vollzog sich Ende des 18. Jahrhunderts ein Bruch mit der bisherigen, von der Aufklärung geprägten Weltsicht, der Michel Foucault zufolge alle Wissensbereiche umfasste: La constitution de tant de sciences positives, l’apparition de la littérature, le repli de la philosophie sur son propre devenir, l’émergence de l’histoire à la fois comme savoir et comme mode d’être de l’empiricité, ne sont qu’autant de signes d’une rupture profonde.4

In der Übersetzungstheorie fand parallel dazu die sogenannte „Herdersche Wende“ statt, die mit einer Historisierung und Nationalisierung des Sprachund Übersetzungsbegriffs einherging: Laut Johann Gottfried von Herder gibt es keinen universellen poetischen Maßstab im Namen der sprachübergreifenden Vernunft, sondern jede Nation müsse an ihren eigenen Standards gemessen werden. Folglich steht es auch dem Übersetzer nicht zu, Fehler zu korrigieren und dunkle Stellen aufzuhellen.5 Herder führte das Konzept der „tonzentrierten“ Übersetzung ein, das auf das Wesen des Kunstwerks in seiner Gesamtheit zielte und Inhalt und Form gleichermaßen umfasste. Seine Empfehlung, zur Bereicherung der eigenen Sprache „von den sinnlichen Sprachen durch Über-

3 Vgl. Berman, L’épreuve de l’étranger, S. 62. Erinnert sei vor allem an Herders Polemik gegen den französischen „Kulturimperialismus“, vgl. Jörn Albrecht, Übersetzer und Übersetzungswesen in Europa. Ein kulturhistorischer Abriss. In: Übersetzung. Translation. Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. 3. Bd., hg. von Harald Kittel, Juliane House u. a., Berlin/Boston 2011, S. 2594–2612, hier S. 2603. 4 Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1986, S. 233. 5 Vgl. Iris Plack, Indirekte Übersetzungen. Frankreich als Vermittler deutscher Literatur in Italien, Tübingen 2015, S. 70.

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setzungen und Nachbilden [zu] borgen“,6 zeugt von der Hinwendung zu England, von wo aus das Ideal des ‚Originalgenies‘ und der unbedingten Autorität des Urtextes nach Deutschland strahlte.7 So sieht denn auch August Wilhelm Schlegels romantisches Konzept von Dichtung als „organischer Kunstform“ und von Übersetzen als „poetischem Nachbilden“ die Beibehaltung von Fehlern und dunklen Stellen im Ausgangstext vor.8 Der ‚fremde Genius‘ wurde gar absolut gesetzt, wie die folgende Bemerkung Schlegels über die Bhagavad-Gita illustrieren mag: Der ächte Übersetzer, [...] der nicht nur den Gehalt eines Meisterwerkes zu übertragen, sondern auch die edle Form, das eigenthümliche Gepräge zu bewahren weiß, ist ein Herold des Genius [...]. Er ist ein Bote von Nation zu Nation, ein Vermittler gegenseitiger Achtung und Bewunderung, wo sonst Gleichgültigkeit oder gar Abneigung Statt fand.9

Die frühromantischen Übersetzungstheoretiker waren damit weit entfernt vom Geist kultureller Überlegenheit, der im zeitgenössischen Frankreich immer noch vorherrschte, sie begegneten der fremden Kultur auf Augenhöhe. Mit der „Erfindung des Originals“ 10 stellte sich erstmals auch die Frage nach einbürgernder oder verfremdender Übersetzungshaltung, wie sie Friedrich Schleiermacher in seinem berühmten Akademievortrag Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813) formulierte. Er selbst präferierte bekanntlich das verfremdende Übersetzen, von dem er sich vor allem eine Bereicherung der eigenen Kultur versprach. Für die Frühromantiker war das Übersetzen aber nicht Selbstzweck; es ging vielmehr um eine Aneignung des Fremden auf der sprachlichen Grundlage des Deutschen, um so zur ursprünglichen Einheit der Poesie – der „Universalpoesie“ im Sinne Schlegels – zurückzufinden.11 Es galt, ein weltliterarisches Programm aufzustellen, als dessen wesentlichster Bestandteil die Übersetzungsliteratur angesehen wurde.12 Wenn in der Frühromantik

6 Johann Gottfried von Herder, Zur schönen Literatur und Kunst. Erster Theil, In: Johann Gottfried von Herder’s sämmtliche Werke, hg. von Christian Gottlob Heyne, Tübingen 1805, S. 193. 7 Vgl. Herder, Zur schönen Literatur und Kunst, S. 193. 8 August Wilhelm Schlegel, Sprache und Poetik, Stuttgart 1962, S. 86. 9 August Wilhelm Schlegel, Über die Bhagavad-Gita. In: Das Problem des Übersetzens, hg. von Hans Joachim Störig, Darmstadt 1963, (Wege der Forschung 8), S. 97–100, hier S. 98. 10 Andreas Poltermann, Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, hg. von Brigitte Schultze, Berlin 1987, S. 14–52. 11 Vgl. Marek Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer und Herausgeber. Zur frühromantischen Idee einer „deutschen Weltliteratur“, Heidelberg 1994, S. 18; 207. 12 Vgl. Reinhard Tgahrt, Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, München 1982, (Marbacher Kataloge 37), S. 498; Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 18 f.

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gar Übersetzung und Dichtung auf eine Stufe gestellt wurden,13 so entsprang dies der romantischen Universalisierung des Übersetzungsbegriffs14 und war keinesfalls, wie zur Zeit der ‚schönen Ungetreuen‘, als Ausdruck der Überlegenheit des Dichterübersetzers gegenüber dem Originalautor zu verstehen.

II Die Herausbildung eines professionellen Übersetzerberufs und deren Folgen: vom otium cum dignitate zum Übersetzungsmarkt Mit dem Aufkommen des romantischen Idealbildes eines schöpferischen Autorgenies verlor der Übersetzer immer mehr an Prestige.15 Aber nicht nur die Begründung eines neuen Kunst- und Literaturbegriffs in der frühromantischen Theoriebildung, sondern auch der damit eng verknüpfte soziale und ökonomische Wandel, der durch die aufklärerische Bewegung im 18. Jahrhundert ausgelöst wurde, wirkte sich auf den Status des Übersetzers aus.16 Der um das Jahr 1750 einsetzende kulturelle Aufstieg des Bürgertums führte zur Herausbildung eines bürgerlichen Lesepublikums, das sich in Lesegesellschaften organisierte. Gebildete Kreise beklagten gar die Ausbreitung einer ‚Lesewut‘ in den unteren Schichten. Zugleich wurde das Buch zur Ware, und es entstand ein literarischer Markt. Autor und Leser traten auseinander, Widmungen und Vorreden wurden immer seltener und der Leser wurde mehr und mehr idealisiert. In dem Maße, wie Dichter zu freien Berufsschriftstellern wurden, wuchs auch die Übersetzungsliteratur an. Die schriftstellerische Tätigkeit und das Übersetzen fielen mit der Herausbildung eines eigenen Berufsstandes des Übersetzers auseinander: Von der gelehrten Nebenbeschäftigung des Literaten gemäß dem Lebensideal des otium cum dignitate wurde das Übersetzen zum Broterwerb gegen ein Übersetzerhonorar, quasi sordidi lucris causa, und richtete sich nicht länger an eine kulturelle Elite, sondern an ein breites Lesepublikum. Damit verlor der Übersetzer seinen angestammten Rang, ja sein Name erschien häufig gar nicht

13 Vgl. Tgahrt, Weltliteratur, S. 497. 14 Vgl. Tgahrt, Weltliteratur, S. 497. 15 Vgl. Hans J. Vermeer, Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus (15. und 16. Jahrhundert). 1. Bd.: Westeuropa, Heidelberg 2000, S. 47. 16 Hierzu und zum Folgenden vgl. Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 23 ff.

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mehr auf dem Titelblatt der Übersetzung.17 Auswüchse des entstehenden Übersetzermarktes waren die von Christoph Friedrich Nicolai spöttisch beschriebenen „Übersetzungsfabriken“,18 die fleißig „Fließband- und Dampfmaschinenübersetzungen“ produzierten.19 Einhergehend mit dem Prestigeverlust des Übersetzers, der sich nicht mehr als Literat, sondern bestenfalls als Philologe betrachten konnte, fand ein Wandel der vorherrschenden Übersetzungsstrategie statt: Rechtfertigte in der Epoche der ‚schönen Ungetreuen‘ noch das Bemühen um sprachliche Eleganz des Zieltextes eine dezidiert freie Übersetzungshaltung, so rückte nun die Treue zum Original in den Vordergrund. Vom Zusammenhang zwischen Übersetzungsstrategie und Status des Übersetzers zeugt das Verlagsrecht von Oskar Wächter (1858), das den Schutz des Autors vor unbefugten Übersetzungen von deren Verhältnis zum Original abhängig machte: Eine freie Übersetzung wurde als eigenständiges literarisches Erzeugnis, eine treue hingegen als Nachdruck eingestuft.20 Noch bis zum Inkrafttreten der Berner Übereinkunft im Jahr 1886, mit der die Übersetzung unter den Begriff des „geistigen Eigentums“ fiel, herrschte uneingeschränkte Übersetzungsfreiheit. Der Erstübersetzer war nicht vor Konkurrenzfassungen geschützt, so dass nicht selten ein regelrechtes Wettrennen um die Originale stattfand.21

III Auf dem Weg zur philologischdokumentarischen Übersetzung Am Beispiel der beiden sehr unterschiedlichen Übersetzerpersönlichkeiten Johann Joachim Christoph Bode und Ludwig Tieck soll die oben geschilderte Entwicklung nun nachgezeichnet werden. Beide haben sich mit ihren Übersetzungen Ruhm erworben, der ‚Berufsübersetzer‘ Bode mit der Verdeutschung Laurence Sternes und Tobias Smolletts, der Schriftstellerübersetzer Tieck mit seinem Don Quijote und der zusammen mit August Wilhelm Schlegel besorgten

17 Vgl. Albrecht, Übersetzer und Übersetzungswesen in Europa, S. 2603. 18 Christoph Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1776), zitiert nach Albrecht, Übersetzer und Übersetzungswesen in Europa, S. 2603. 19 Norbert Bachleitner, ‚Übersetzungsfabriken‘. Das deutsche Übersetzungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 14, 1989, S. 1–49, hier S. 1 f. 20 Anna Körkel, Die Übersetzung aus juristischer Perspektive. Von der Übersetzungsfreiheit zur Durchsetzung des Übersetzungs- und Übersetzerrechts. In: Moderne Sprachen, 46.2, 2002, S. 134–151, hier S. 139 f. 21 Vgl. Körkel, Die Übersetzung aus juristischer Perspektive, S. 138.

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Shakespeare-Ausgabe, inzwischen zwei Klassikern der deutschen Literatur. Als Übersetzer aus den ‚seltenen‘ Sprachen, zu denen das Englische und das Spanische damals zählten,22 entsprachen beide dem Geist ihrer Zeit. Es soll gefragt werden, welche Züge der philologisch-dokumentarischen Methode in den Übersetzungshaltungen Bodes und Tiecks bereits erkennbar sind und auf welche Weise sie jeweils der ,Fremdheit des Fremden‘ begegnen. Ferner wird der Frage nach dem Verhältnis zwischen philologisch-dokumentarischen und poetisch-schöpferischen Praktiken nachgegangen. Die Klassifikationskriterien „einbürgernd“ versus „verfremdend“ und „wörtlich“ versus „frei“ dienen dabei der Differenzierung kultureller und im engeren Sinne sprachlicher Aspekte der Übersetzungsstrategie und -technik.

III.1 Die philologisch-dokumentarische Übersetzung: Versuch einer Definition Wie lässt sich nun die philologisch-dokumentarische Übersetzung für unsere Zwecke definieren? Sie fußt auf dem wissenschaftlichen Verständnis eines Textes als Dokument eines bestimmten Zeitabschnitts und Kulturraums, das erst mit dem geistesgeschichtlichen Umbruch des Historismus üblich wurde. Bis dahin beurteilte man Texte im Lichte des aufklärerischen Ideals einer sprachübergreifenden Vernunft, ohne Ansehen ihrer Entstehungsumstände. Die dokumentarische Übersetzung setzt eine neutrale Haltung voraus, die keinem spezifischen Übersetzungszweck verpflichtet ist außer vielleicht dem didaktischen, den Leser „in das [...] Werk einzuführen, damit er imstande ist, mit Hilfe der Uebersetzung den Urtext selbst zu verstehen und zu begreifen“.23 Als differentiae specificae bieten sich zwei Kriterien an: erstens das von Schleiermacher in seinem Akademievortrag favorisierte Konzept der „Verfremdung“, also der Einbettung des Textes in ein ausgangskulturelles Umfeld mit dem Ziel der Bereicherung der eigenen Kultur; zweitens das rein sprachliche Verfahren der Übersetzung betreffende Konzept der „Treue“, verstanden als sprachlich korrekte Wiedergabe, die sich dennoch so eng am Original orientiert, dass dessen sprachliche Muster durchscheinen.24 Der Altphilologe Wolfgang Schade-

22 Für das Englische vgl. Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin/Stettin 1773; Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 1988, S. 99. 23 Eduard von Tunk, Beispiele und Probleme der Schulübersetzung. In: Schweizer Schule, 28.23, 1941, S. 826–828, hier S. 826. 24 Vgl. Jörn Albrecht, Übersetzung und Linguistik, Tübingen 22013, (Grundlagen der Übersetzungsforschung 2), S. 42.

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waldt subsumiert sogar solche Übersetzungen, die die zielsprachliche Norm verletzen, der dokumentarischen Übersetzungshaltung. Er rechtfertigt dies durch die „dreifache Bindung“ an den Ausgangstext, die zugleich Vollständigkeit, das Beibehalten der ursprünglichen Vorstellungen und der Folge dieser Vorstellungen, d. h. enge Orientierung an der ursprünglichen Syntax, gebietet. Dass dies – zumal für das Griechische – nur um den Preis einer deutlichen Abweichung von der zielsprachlichen Norm zu erreichen ist, versteht sich von selbst.25 Schadewaldt rückt damit die philologisch-dokumentarische in unmittelbare Nähe der poetisch-schöpferischen Übersetzung, zu deren Exponenten er neben Luther und Johann Heinrich Voß auch Ludwig Tieck zählt.26

III.2 Der ‚Berufsübersetzer‘ Johann Joachim Christoph Bode Dem älteren der beiden hier vorzustellenden Übersetzer, dem Niedersachsen Johann Joachim Christoph Bode (1730–1793), gebührt als einem frühen Vertreter des Standes der reinen Literaturübersetzer ein besonderer Rang. Er war – vielleicht neben dem zeitgenössischen Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß – einer der wenigen, die sich allein durch das Übersetzen einen Namen gemacht haben.27 Sein Ruhm war derart gefestigt, „daß man ‚Schiller, Lessing, Bode, Goethe‘ (Jean Paul) in einem Atemzug zu nennen gewohnt gewesen war“.28 Einige seiner Werke, darunter eine Auswahl aus seiner Übersetzung von Montaignes Essais und seine Fassung von Laurence Sternes Sentimental Journey, sind noch in jüngerer Zeit neu verlegt worden.29 Die Bezeichnung ‚Berufsübersetzer‘ hat bei Bode durchaus seine Berechtigung, denn er arbeitete, wie zu seiner Zeit bereits üblich, gegen Honorar. Gerade die Übersetzung englischer Romane war für ihn recht einträglich, denn Übersetzungen aus dem Englischen waren gefragt: Für seinen Smollett und seinen Goldsmith z. B. erhielt er Bogenhonorare von jeweils fünf Reichsthalern.30 Carl August Böttiger urteilt über seine Übersetzungskunst:

25 Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Zur Übersetzung. In: Homer, Die Odyssee, Hamburg 1958, S. 321–326, hier S. 323. 26 Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Zur Übersetzung. In: Sophokles, König Ödipus, Berlin/Frankfurt am Main 1955, S. 90–95, hier S. 94. 27 Vgl. hierzu Carl August Böttiger, J. J. C. Bode’s literarisches Leben. In: Michael Montaigne’s Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände, 6. Bd., Berlin 1795, S. 7. 28 Karl Dedecius, Vom Übersetzen, Frankfurt am Main 1986, S. 162. 29 Jörn Albrecht, Literarische Übersetzung. Geschichte. Theorie. Kulturelle Wirkung, Darmstadt 1998, S. 274 f. 30 Vgl. Jennifer Willenberg, Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts, München 2008, S. 240.

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Es ist ja von keinem gemeinen Gesellen im Übersetzungshandwerke, es ist von einem Virtuosen in seinem Fache, von einem Meister die Rede, den Teutschland schon lange unter seine gute [sic] Schriftsteller, unter die geschmackvollen Bildner und Bereicherer seiner Sprache setzte, und der als der glücklichste Verpflanzer einer vorher nur unter brittischem Himmel gedeihenden Blume, der humoristischen Schreibart, auch dann noch in Ehren genannt werden wird, wenn manche unserer gepriesensten Originalwerke schon längst in die unerbittliche Lethe getaucht sind.31

Böttiger betrachtet also die „humoristische Schreibart“ als ein exklusives Merkmal englischer Romane, um dessen Verbreitung in Deutschland sich Bode verdient gemacht habe. Den englischen Humoristen wandte sich Bode nicht zufällig zu: Der humorvolle Stil Smolletts und Sternes feine Ironie kamen seinem Naturell ebenso entgegen wie später Montaignes Skeptizismus.32 Diese Affinität zum Autor, die es dem Übersetzer erleichtert, die Fremdheit zu überwinden und das Wesen des Autors hervortreten zu lassen, eint im Übrigen Bode und Tieck. Aufschlussreich ist aber insbesondere das Epitheton „geschmackvoller Bildner und Bereicherer seiner Sprache“, ein Hinweis auf Bodes sprachbereichernde Übersetzungshaltung, dem noch nachzugehen sein wird. Einer seiner ersten Übersetzungsversuche, die 1759 in Hamburg erschienene Übertragung der englischen Schrift Die Weisheit an die Menschen durch einen begeisterten Braminen, ließ von diesem Talent jedenfalls noch nichts erahnen: Es handelt sich um eine uneingestandene Übersetzung aus zweiter Hand über eine französische belle infidèle (Lescallier 1751).33 Zur Entfaltung kam es hingegen in seiner wirkmächtigen Übertragung von Sternes Sentimental Journey (Yoricks empfindsame Reise, 1768): Er hielt sich nicht nur, dem Geist der neueren Zeit entsprechend, eng an Sinn und Wortlaut des Originals, sondern sparte auch nicht mit eigenwilligen Wortschöpfungen. Zur Illustration mag eine Textstelle aus dem Kapitel „Paris“ des zweiten Teils genügen, in der sich Yorick damit brüstet, er habe Madame de V. aus der Epoche des Freigeists, der zweiten der „drei Epochen einer französischen Dame“ (Coquette, Freigeist und Betschwester), wieder in die der „Coquette“ zurückgeholt: I declare I had the credit all over Paris of unperverting Madame de V***.34

31 Böttiger, J. J. C. Bode’s literarisches Leben, S. 7 [meine Hervorhebung]. 32 Hans-Wolfgang Schneiders, Johann Joachim Christoph Bode: traducteur, imprimeur, francmaçon. In: Portraits de traducteurs, hg. von Jean Delisle, Ottawa 1999, S. 97–130, hier S. 109. 33 Vgl. Josef Wihan, Johann Joachim Bode als Vermittler englischer Geisteswerke in Deutschland, Prag 1906, S. 175. 34 Laurence Sterne, A Sentimental Journey through France and Italy by Mr. Yorick. Vol. II, London 1768, S. 163.

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[Bode:] Ich kann sagen, daß ich in ganz Paris dafür bekannt ward, Madame de V*** entfreygeistet zu haben.35 [Eitner:] Ich darf es wohl äußern, daß ich in ganz Paris im Rufe stand, Madame de V . . . . von der Freigeisterei bekehrt zu haben.36

Mit dem Neologismus entfreygeisten verletzt Bode die zielsprachliche Norm und wird sprachschöpferisch tätig.37 Zugleich trifft er damit den Sinn genauer als etwa sein Nachfolger Karl Eitner ein Jahrhundert später, der die Freigeisterei der Madame de V. eher wie eine vorübergehende Marotte erscheinen lässt. Das Paradebeispiel für Bodes sprachbereichernde Wirkung ist wohl die Wortschöpfung empfindsam im Romantitel, die er seinem Förderer Lessing verdankte. Bode gibt in seinem Vorwort dessen Ratschlag wieder: War es Sternen erlaubt, sich ein neues Wort zu bilden: so muß es eben darum auch seinem Uebersetzer erlaubt sein. Die Engländer hatten gar kein Adjectivum von Sentiment: wir haben von Empfindung mehr als eines. Empfindlich, empfindbar, empfindungsreich: aber diese sagen alle etwas anders. Wagen Sie, empfindsam. Wenn eine mühsame Reise eine Reise heißt, bey der viel Mühe ist, so kann ja auch eine empfindsame Reise eine Reise heissen, bey der viel Empfindung war.38

Bode rechtfertigt sein Vorgehen also damit, dass bereits das englische sentimental ein von Sterne eingeführter Neologismus sei. Seine Neubildung sollte später zur Epochenbezeichnung avancieren. Die dokumentarische Treue, der Bode sich bei seiner Sterne-Übersetzung verpflichtet fühlte, tritt besonders im Vergleich zu der relativ freien, schöpferischen Übertragung hervor, die er von John Hall-Stevensons Fortsetzung des Romans anfertigte. Die geringere Autorität dieser zwei der Neuauflage von 1769 beigegebenen Bände verleitete ihn gar zu einem Vexierspiel mit deren Autorschaft: Man hielt Bode selbst für den Verfasser, denn er verzichtete auf Hall-Stevensons Titelzusatz by Eugenius und

35 Laurence Sterne, Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, 2. Aufl., 2. Bd., Hamburg/Bremen 1769, S. 131 [meine Hervorhebung]. 36 Sterne’s Empfindsame Reise. Aus dem Englischen von Karl Eitner, Leipzig 1868, S. 174. 37 Hinsichtlich der sprachschöpferischen Bereicherung der Literatursprache ergibt sich eine Parallele zu Vossens Homer-Übersetzung; vgl. Günter Häntzschel, Johann Heinrich Voß. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung, München 1977. 38 Johann Joachim Christoph Bode, Der Uebersetzer an den Leser. In: Sterne, Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, 3. Aufl., 1. Bd., Hamburg/Bremen 1779, S. I–XXII, hier S. III.

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nannte lediglich in der Vorrede „einen von Sternens vertrauten Freunden“ als Autor.39 Besondere sprachschöpferische Kraft entfaltete Bode in seiner 1772 erschienenen Fassung von Smolletts Humphrey Clinker, einer seiner erfolgreichsten Romanübersetzungen, in der er geradezu mit Smolletts Komik wetteifert. Die sprachliche Treue mischt sich aber mit dem überkommenen Prinzip der „Verdeutschung“, das noch den Geist des Sturm und Drang atmet. So verleiht er seiner Fassung durch das derbe, aus verschiedenen plattdeutschen Mundarten künstlich geschaffene Missingsch, mit dem er die Bedienten charakterisiert, eine Art heimische Färbung.40 Nicht wenige Leser erlagen der Illusion, es handele sich um deutsche „Urschriften“.41 Auch Bodes einbürgernde Behandlung idiomatischer Wendungen läuft der rein dokumentarischen Übersetzungsmethode zuwider. Dies soll ein knapper Passus aus dem dritten Band des Romans belegen. Er entstammt einem Brief des Dienstmädchens Winifred Jenkins, bei Bode an „Jungfer Maria Jones, zu Brambleton-hall“ adressiert und mit „Meine liebe Mieckchen“ überschrieben. Bereits diese Form der Anrede (im Original schlicht „To Mrs. Mary Jones“ und „Dear Mary Jones“) zeigt, wie Bode das Geschehen in ein heimisches Umfeld einbettet: ’Tis a true saying, live and learn […].42 Der Mensch wird so alt, als ein’ Kuh, und lernt noch all’ Tag’ zu, pflog meine seelige Mutter zu sagen, und hatte groß Recht.43

Einmal mehr tritt Bodes starke eigene Handschrift hervor, die Smolletts Text einen ebenso bodenständigen wie komischen Grundton und eine landschaftliche Färbung verleiht. Seine selbstbewusst-zupackende Übersetzungshaltung unterscheidet ihn vom philologisch-dokumentarisch vorgehenden Übersetzer, der gegenüber dem Original eher zurücktritt. Als Schriftsteller trat Bode übrigens sehr viel bescheidener auf und war bemüht, seine Identität nicht preiszugeben.44

39 Vgl. Ursula Hartwieg, Nachdruck oder Aufklärung? Die Verbreitung englischer Literatur durch den Verlag Anton von Kleins am Ende des 18. Jahrhunderts. In: AGB, 50, 1998, S. 1–147, hier S. 68. 40 Vgl. Wihan, Johann Joachim Bode als Vermittler, S. 10. 41 Vgl. Wihan, Johann Joachim Bode als Vermittler, S. 193 f. 42 Tobias Smollett, The Expedition of Humphry Clinker, 3. Bd., London 1771, S. 168. 43 Tobias Smollett, Humphry Klinkers Reisen, 3. Bd., Leipzig 1772, S. 166. 44 Vgl. Böttiger, J. J. C. Bode’s literarisches Leben, S. 8.

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Bodes wirkmächtige Übersetzung von Sternes Tristram Shandy (1774), die überschwängliches Lob von Jean Paul und Wieland erhielt,45 zeichnet sich ebenfalls durch eine kulturell einbürgernde Übersetzungshaltung bei gleichzeitiger sprachlicher Treue aus. „Treue“ meint hier auch getreue Nachahmung der sprachlichen Form, die bekanntlich Herder zufolge den ‚Ton‘ einer Übersetzung nicht unwesentlich beeinflusst. Dazu ein Beispiel aus Kapitel vier des dritten Teils46 in Bodes Übersetzung sowie in der 1764 erschienenen Fassung von Johann Friedrich Zückert. Sterne vergleicht hier Leib und Seele des Menschen mit Oberstoff und Innenfutter eines Nachtwamses: Einige berühmte Persönlichkeiten gäben vor, bei ihnen bleibe das Innenfutter entgegen der allgemeinen Regel unversehrt, so sehr das Äußere auch malträtiert worden sei: – you might have rumpled and crumpled, and doubled and creased, and fretted and fridged the outside of them all to pieces; –47 [Bode:] – Man möchte das Oberzeug zerknollt und zerknickt, und zerwickelt und zerkrickelt, und zerhudelt und zersprudelt haben; –48 [Zückert:] – ihr möget die auswendige Seite derselben ganz zerknittert und zerkrumpen, in einander gewickelt und gefaltet, und ganz in Stücken zerrieben und zerstoßen haben, –49

Die in Sternes Zwillingsformeln gehäuft auftretenden Alliterationen und Assonanzen bildet Bode mit humorvollen Neologismen, die von seinem schöpferischen Genie zeugen, konsequent nach und wahrt so den eigentümlichen Klang. Bei Zückert bleiben die Alliterationen zwar ansatzweise erhalten, der Rhythmus geht dabei allerdings verloren.

45 Vgl. Wihan, Johann Joachim Bode als Vermittler, S. 74 f. Bezeichnend ist der Kontrast zur drei Jahre später publizierten französischen Übersetzung von Frénais, einer typischen belle infidèle. 46 Vgl. hierzu Wihan, Johann Joachim Bode als Vermittler, S. 80 f. 47 Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, 1. Bd., London 1794 [1759], S. 238. 48 Laurence Sterne, Tristram Schandis Leben und Meynungen. Übersetzt von Johann Joachim Christoph Bode, Hamburg 1774, S. 13. 49 Laurence Sterne, Das Leben und die Meynungen des Herrn Tristram Shandy. Nach einer neuen Uebersetzung, auf Anrathen des Herrn Hofrath Wieland herausgegeben, 2. Aufl., 3. und 4. Bd., Berlin 1774 [1764], S. 225.

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III.3 Der ‚Übersetzer im Dienste der Weltliteratur‘ Ludwig Tieck Jean Paul schrieb am 22. Juli 1784 in einem Brief an August Gottlieb Meißner: „Verdiente eine Schrift den Dank der Nation, so verdienten ihn die Übersetzer des Don Quixote und Tristram Shandy“.50 Der zuletzt Genannte ist uns bereits bekannt, nun soll von Ersterem die Rede sein. Anders als für Bode waren für Ludwig Tieck (1773–1853) Dichten und Übersetzen zwei Seiten derselben Medaille, des Strebens nach einer „Totalität des Schönen“.51 Daraus leitete Tieck das Bild des poetisch-schöpferischen Übersetzers ab, der als „Künstler und selbst schaffender Autor“ nach Maßgabe „des feinsten Taktes und des gebildeten Geschmackes“ 52 vorging. Er sah sich aber auch als besser verstehender Interpret im Schlegelschen Sinne53 und verstand seine literarische Vermittlungstätigkeit als philologische Wissenschaft, gemäß dem frühromantischen Ideal einer Synthese von Dichtung und Gelehrsamkeit.54 Auch sein übersetzerisches Interesse für Shakespeare und Cervantes – und eben nicht für die moderne englische Romanproduktion – ist typisch für seine Zeit, in der man sich verstärkt der Literatur der frühen Neuzeit zuwandte,55 dem Überschreiten von Gattungskonventionen und der romantischen Ironie.56 Zugleich war Tieck stärker als andere Frühromantiker als Übersetzer und Herausgeber dem Zeitdruck der Verlage ausgesetzt und musste den Tendenzen des literarischen Marktes und den Erwartungen des Bürgertums Rechnung tragen.57

50 Zitiert nach Wihan, Johann Joachim Bode als Vermittler, S. 74. 51 Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 203. 52 Ludwig Tieck, Nachwort. In: Schlegel/Tieck, Shakespeare’s dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck, 9. Bd., Berlin 1833, S. 416. 53 Friedrich Schlegel zufolge sollte ein guter Kritiker „einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat“. Vgl. Friedrich Schlegel, Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 16), hg. von Hans Eichner, München 1981, S. 168. 54 Vgl. Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 201 f. 55 Die ‚originalgetreue‘ Übersetzung insbesondere frühneuzeitlicher Romane ist genau genommen eine contradictio in adiectio, da die ‚Originale‘ im Sinne einer kompilatorischen Poetik aus verschiedenen Quellen schöpften, wobei der Übergang zwischen Übersetzung und imitatio fließend war. 56 Vgl. Ruth Neubauer-Petzoldt, „eine neue Welt den Deutschen aufzuschließen“. Ludwig Tiecks Übersetzungen des Don Quixote und der Werke Shakespeares zwischen Aktualisierung und Universalisierung. In: „Das Fremde im Eigensten“. Die Funktion von Übersetzungen im Prozeß der deutschen Nationenbildung, hg. von Bernd Kortländer und Sikander Singh, Tübingen 2011, S. 129–148, hier S. 129 f. 57 Vgl. Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 200; 53.

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Tiecks Übersetzungskonzeption lässt sich insbesondere an seinem Don Quixote ablesen, der den Romanhelden in Deutschland zum sprichwörtlichen „Ritter von der traurigen Gestalt“ werden ließ. Das geflügelte Wort beruht auf einem Missverständnis, dessen Langlebigkeit die gelungene Kanonisierung dieser Fassung als ‚deutscher Don Quijote‘ belegt. Treffender wäre das spanische caballero de la triste figura nämlich mit „Ritter mit dem traurigen Gesicht“ wiedergegeben.58 Das philologische Verdienst von Tiecks Übersetzung liegt schon in ihrer Vollständigkeit und der direkten Konsultation des Originals, zumal drei seiner Vorgänger sich auf eine französische belle infidèle aus der Feder von Filleau de Saint-Martin stützten und auch die bekannte Fassung von Friedrich Justin Bertuch (1775) umfangreiche Kürzungen enthielt.59 Weiterhin lagen Tieck wohl mehrere Editionen des spanischen Originaltextes vor,60 die er nach dem Kollationsverfahren vergleichend konsultierte. Von der aufklärerischen Übersetzungspraxis unterscheidet Tiecks Don Quixote das vollständige Fehlen gelehrter Anmerkungen, die die Interpretation des Textes lenken. Tieck betont im Gegenteil „den ironischen und poetischen Doppelcharakter des Werkes“ 61 und lässt so ganz im Sinne der philologischen Genauigkeit Raum für mehrere Deutungsmöglichkeiten.62 Drei Textstellen aus den beiden Anfangskapiteln des ersten Teils mögen einen Eindruck von seiner Übersetzungstechnik vermitteln, wobei eine Leipziger Ausgabe ‚aus zweiter Hand‘ und die unmittelbare Vorgängerfassung von Bertuch als Kontrastfolie dienen. Im ersten Beispiel schildert Cervantes, wie der Titelheld – wohlbemerkt noch bevor er sich selbst Don Quixote tauft – einen geeigneten Namen für sein Pferd ersinnt: [...] al fin le vino á llamar Rocinante, nombre á su parecer, alto, sonoro, y significativo de lo que había sido quando fue rocin ántes de lo que ahora era, que era ántes y primero de todos los rocines del mundo.63

58 Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass im Deutschen Wörterbuch Gestalt auch in der Bedeutung „Miene“ bzw. „Angesicht“ aufgeführt wird. Vgl. Das deutsche Wörterbuch von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 5, 1897, Sp. 4184. s. v. ‚Gestalt‘, zitiert nach der OnlineVersion http://dwb.uni-trier.de/de/die-digitale-version/online-version/ (letzter Zugriff: 17. September 2017). 59 Vgl. Jürgen von Stackelberg, Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Berlin/New York 1984, S. 73. 60 Vgl. Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 47 f. 61 Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 65. 62 Vgl. Albrecht, Übersetzung und Linguistik, S. 759. 63 Miguel de Cervantes Saavedra, El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha. Nueva edición corregida por la Real Academia Española. Parte Primera. Tomo I., Madrid 1780 [1605], S. 6.

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[Leipziger Ausgabe:] [...] so nennte er es endlich Rossinante. Dieses war seiner Einbildung nach ein großer und prächtiger Name, welcher überaus viel sagen wollte, und dem schönsten Pferde von der Welt nicht unanständig gewesen wäre.64 [Bertuch:] [...] nennte er es Rozinante: ein Nahme der, seinen Gedancken nach, gros, erhaben und sonorisch klänge, und zugleich überaus artig auf seinen vorigen und jetzigen Stand anspielte.65 [Tieck:] [...] wählte er endlich die Benennung Rozinante, ein nach seinem Urtheil erhabener, volltönender und bedeutungsvoller Name, bezeichnend, daß er ein Klepper gewesen, ehe er seinen jetzigen Stand bekommen, auch daß er der Erste und Fürnehmste von allen Kleppern auf der Welt sey.66

Die Schwierigkeit liegt hier in der Wiedergabe des Wortspiels, das Bertuch sogleich in aufklärerischer Manier in einer Fußnote erläutert: „Rozin heißt im Spanischen ein Klepper oder Reutpferd; antes aber zuvor, oder auch was den Vorzug vor Andern hat. Don Quixote nennt also sein Pferd darum Rozinante, weil es zuvor ein Rozin gewesen, und jetzt antes wäre, oder den Vorzug vor allen Pferden in der Welt verdiene“.67 In Tiecks eleganter Lösung klingen hingegen beide Deutungen an, er behält die ironische Note bei und überlässt es dem Leser, die eigenen Schlüsse zu ziehen. Die Leipziger ‚Umwegübersetzung‘ opfert mit dem Wortspiel auch die ironische Brechung, es bleibt nur der banale Hinweis auf die angebliche Größe des Namens, dem allenfalls die ein edles Streitross evozierende Schreibung Rossinante eine gewisse Komik verleiht. Alle drei Übersetzer behalten im Übrigen die spanischen Namenformen der Protagonisten bei, die zu Tiecks Zeit bereits sprichwörtlich geworden waren, auch wenn dieser bei den Nebenfiguren um konsequente Einbürgerung bemüht war.68 Bemerkenswert ist, dass der Eigenname Rosinante im Deutschen als Femininum in der Bedeutung „minderwertiges Pferd“ zum geflügelten Wort

64 Miguel de Cervantes Saavedra, Des berühmten Ritters Don Quixote von Mancha lustige und sinnreiche Geschichte, 2. Aufl., 1. Bd., Leipzig 1753, S. 7. 65 Miguel de Cervantes Saavedra, Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von Mancha. Neue Ausgabe, aus der Urschrifft des Cervantes, nebst der Fortsetzung des Avellaneda [Übersetzt] Von Friedr. Just. Bertuch, 1. Bd., Weimar und Leipzig 1775, S. 10. 66 Miguel de Cervantes Saavedra, Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Übersetzt von Ludwig Tieck. Erster Band. Dritte verbesserte Auflage, Berlin 1831 [1810], S. 6. 67 Cervantes, Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von Mancha, S. 10. 68 Vgl. Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 56.

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avancierte, obgleich auch Tieck das Maskulinum des spanischen Originals übernahm. Wie treffend sich im Namen des Tieres Wirklichkeit und Fiktion verbinden, wird dem Leser wenige Zeilen zuvor plastisch vor Augen geführt: Fué luego á ver á su rocin, y aunque tenia mas quartos que un real, y mas tachas que el caballo de Gonela, que tantum pellis, et ossa fuit, le parecío que ni el Bucéfalo de Alexandro, ni Babieca el del Cid con él se igualaban.69 [Leipziger Ausgabe:] Hierauf dachte er an seinen Gaul. Dieser kam ihm eben so schön vor, als des großen Alexanders Bucephalus, oder des Cid sein Babiesa; ob er gleich an allen vier Beinen Schäden hatte, und so hager war, daß die Sonne hätte mögen durchscheinen.70 [Bertuch:] Seine erste Sorge gieng nun auf seinen Klepper, welchen, ohngeachtet er mehr Ecken als ein Real, und mehr Mängel hatte als der Gaul des Gonela, qui tantum pellis et ossa fuit, er doch nicht für den Bucephalus Alexanders, oder den Babiesa des Cid vertauscht haben würde.71 [Tieck:] Sogleich ging er, seinen Klepper zu besuchen; ob dieser nun gleich unzähliche Schäden und mehr Gebrechen als das Pferd des Gonela hatte, das nur Haut und Knochen war, so schien es ihm doch, als wenn sich weder der Bucephalus Alexanders, noch der Babieca des Cid mit ihm messen dürften.72

Die Textstelle ist reich an historischen Anspielungen, die z. T. auf Plautus zurückgehen und in den deutschen Fassungen (mit Ausnahme der Leipziger) weitgehend erhalten bleiben. Eine nahezu unlösbare Schwierigkeit stellt das Wortspiel mas quartos que un real dar, da quarto sowohl den spanischen Viertelreal, eine Münze mit geringem Wert, als auch eine Hufkrankheit bei Pferden bezeichnet.73 Tiecks Übersetzung weist zwei Besonderheiten auf: Mit der vulgarisierenden Wiedergabe des lateinischen Zitats (das nur Haut und Knochen war) verfährt Tieck nach dem bewährten Prinzip der ‚Verdeutschung‘ und erzielt so einen gefälligeren Stil. Vor allem bemüht er sich aber, durch möglichst getreue Nachbildung der Syntax die sprachliche Musikalität des Originals zu wahren.74

69 Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha, S. 5. 70 Cervantes, Des berühmten Ritters Don Quixote von Mancha lustige und sinnreiche Geschichte, S. 7. 71 Cervantes, Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von Mancha, S. 9. 72 Cervantes, Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, S. 5. 73 Zu den Anspielungen vgl. El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha, compuesto por Miguel de Cervantes Saavedra y comentado por Don Diego Clemencin. Parte I. Tomo I., Madrid 1833, S. 16 f. 74 Vgl. Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 54.

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Er behält nicht nur die lange Satzperiode und die Verknüpfung der Haupt- und Nebensätze bei, sondern ahmt auch, anders als seine Vorgänger, die einleitende spanische Infinitivkonstruktion nach. Das Ausmaß von Tiecks sprachlicher Treue mag der dritte Passus illustrieren, in dem der Titelheld sich ausmalt, wie sich die Kunde seiner Abenteuer in künftigen Zeiten verbreiten wird – eine bissige Parodie auf den literarischen Stil seiner Zeit: Apénas habia el rubicundo Apolo tendido por la faz de la ancha y espaciosa tierra las doradas hebras de sus hermosos cabellos, y apenas los pequeños y pintados paxarillos con sus harpadas lenguas habian saludado con dulce y melíflua harmonía la venida de la rosada Aurora, […]75 [Leipziger Ausgabe:] Kaum hatte der helleuchtende Apollo angefangen, die goldenen Locken seiner gelben Haare über das Angesicht der Erden auszubreiten; kaum hatten die geflügelten Luftschaaren mit ihrer lieblichen Zusammenstimmung die schöne und die goldfarbige Morgenröthe begrüßet, [...]76 [Bertuch:] Kaum hatte der rubinrothe Apollo die goldnen Locken seines schönen Haupthaares über das weite Angesicht der Erde verbreitet, kaum hatten die kleinen bunten Vögelchen mit ihren Harfenzungen und süßer schmelzender Harmonie die Ankunft der rosichten Aurora gegrüßt, [...]77 [Tieck:] Der feuerrothe Apollo hatte kaum über das Angesicht der großen weitstreckigen Erde die güldenen Fäden seines schönen Haupthaares verbreitet; kaum hatten die kleinen buntgemalten Vögelein mit ihren Harfenzungen die rosigte Aurora mit süßer honiglieblicher Harmonie begrüßt, [...]78

Der preziöse Stil ist in allen drei deutschen Fassungen erkennbar. Tieck geht aber in sprachlicher Hinsicht weiter als der konventionelle Leipziger Übersetzer und der Aufklärer Bertuch, obgleich er Anleihen bei dessen Version macht.79 Zum Zweck der getreuen Nachbildung der sprachlichen Gestalt des Originals scheut er auch keine sprachbereichernden Neuschöpfungen im Schadewaldtschen Sinne, die die deutsche Norm verletzen: die philologisch-doku-

75 Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha, S. 9. 76 Cervantes, Des berühmten Ritters Don Quixote von Mancha lustige und sinnreiche Geschichte, S. 11. 77 Cervantes, Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von Mancha, S. 15 f. 78 Cervantes, Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, S. 9 [meine Hervorhebungen]. 79 Vgl. Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer, S. 48.

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mentarische geht hier in die poetisch-schöpferische Methode über. Auffällig sind vor allem ungewöhnliche Adjektivkomposita wie „weitstreckig“, „buntgemalt“ oder „honiglieblich“, mit denen Tieck jeweils das zweite Element der spanischen Paarformeln „ancha y espaciosa, pequeños y pintados, dulce y melíflua“ wiedergibt. Bertuch bleibt bei konventionellen Adjektiven, während der Verfasser der Leipziger Ausgabe sich ganz von seiner Vorlage entfernt. Tiecks Kompositum „Harfenzungen“, das in dieselbe Richtung weist, scheint hier von Bertuch übernommen. Bezeichnend ist auch, dass Tieck als einziger bei dem im Spanischen angelegten Bild der „güldenen Fäden“ anstelle der „gold[e]nen Locken“ bleibt.

VI Schlussbemerkung Der geistesgeschichtliche Umbruch während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ging mit einer Wende in der Übersetzungstheorie einher, die sich unter dem Einfluss Schleiermachers und der Brüder Schlegel zuerst in Deutschland abzeichnete. Zugleich unterlag der Übersetzerberuf selbst einem kulturhistorischen Wandel, und in der Praxis begannen sich philologisch-dokumentarische Formen des Übersetzens herauszubilden. Wie diese Prozesse in der konkreten Übersetzungspraxis evident wurden, wurde anhand der zwei prominenten Beispiele Bode und Tieck gezeigt. Den ‚Berufsübersetzer‘ und den übersetzenden Literaten eint nicht nur der Vorrang, den sie der Praxis gegenüber der Theorie einräumten, sondern auch die ausgeprägte eigene Handschrift. Beiden gelang eine Aneignung des Fremden,80 indem sie sich Originalen zuwandten, die ihrer Persönlichkeit bzw. ihrem Poetikverständnis entgegenkamen. Triebfeder war bei Bode eine Vorliebe für den englischen Geschmack, bei Tieck das historische Interesse an fremden Texten als Bestandteilen einer künftigen ‚deutschen Weltliteratur‘. Die punktuelle Übersetzungsanalyse förderte bei beiden Übersetzern philologisch-dokumentarische Züge zutage, die im Kontext ihrer jeweiligen Persönlichkeit und ihrer theoretischen Überzeugungen zu gewichten sind. Hinsichtlich der Übersetzungshaltung ergeben sich auffällige Parallelen: Beide legten vollständige Fassungen ‚aus erster Hand‘ ohne gelehrte Kommentare vor, die durch kulturell einbürgernde Elemente wie die weitgehende Verdeutschung von Eigennamen, die mundartliche Färbung bei Bode oder vulgarisierende Eingriffe bei Tieck noch die Nähe zu überkommenen Formen des Übersetzens ver-

80 Vgl. Humboldt, Einleitung zu „Agamemnon“, S. 83.

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raten. Diese geht allerdings einher mit einer neuartigen sprachlichen Treue zum Original, bei Tieck zudem mit einem Gespür für dessen Ambivalenzen. Die Treue zur sprachlichen Form, zum ‚Ton‘ des Textes war beiden ein zentrales Anliegen. Besonders Tieck bemühte sich um Wahrung der Musikalität, indem er die syntaktischen Strukturen weitgehend nachbildete. Was die Treue zur lexikalischen Gestaltung des Originals betrifft, so mündet die rein philologischdokumentarische Wiedergabe jeweils in einen poetisch-schöpferischen Aneignungsprozess. Sprachbereichernde Neuschöpfungen, für Schadewaldt Merkmal der dokumentarischen Übersetzung, prägen die individuelle Handschrift Bodes und Tiecks und tragen zur Wirkmächtigkeit ihrer Übersetzungen bei. Für Tieck sind sie gar Ausdruck seines Selbstverständnisses als Künstler.

Bibliographie Quellen Bode, Johann Joachim Christoph, Der Uebersetzer an den Leser. In: Sterne, Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, 3. Aufl., 1. Bd., Hamburg/Bremen 1779, S. I–XXII. Cervantes Saavedra, Miguel de, Des berühmten Ritters Don Quixote von Mancha lustige und sinnreiche Geschichte, 2. Aufl., 1. Bd., Leipzig 1753. Cervantes Saavedra, Miguel de, El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha. Nueva edición corregida por la Real Academia Española. Parte Primera. Tomo I, Madrid 1780 [1605]. Cervantes Saavedra, Miguel de, El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha, compuesto por Miguel de Cervantes Saavedra y comentado por Don Diego Clemencin. Parte I. Tomo I., Madrid 1833. Cervantes Saavedra, Miguel de, Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Übersetzt von Ludwig Tieck, 3. Aufl., 1. Bd., Berlin 1831 [1810]. Cervantes Saavedra, Miguel de, Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von Mancha. Neue Ausgabe, aus der Urschrifft des Cervantes, nebst der Fortsetzung des Avellaneda. [Übersetzt] Von Friedr. Just. Bertuch, 1. Bd., Weimar/Leipzig 1775. Herder, Johann Gottfried von, Zur schönen Literatur und Kunst. Erster Theil. In: Johann Gottfried von Herder’s sämmtliche Werke, hg. von Christian Gottlob Heyne, Tübingen 1805. Schlegel, August Wilhelm, Sprache und Poetik, Stuttgart 1962. Schlegel, Friedrich, Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil (= Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. 16), hg. von Hans Eichner, München 1981. Smollett, Tobias, Humphry Klinkers Reisen, 3. Bd., Leipzig 1772. Smollett, Tobias, The Expedition of Humphry Clinker, 3. Bd., London 1771. Sterne, Laurence, A Sentimental Journey through France and Italy by Mr. Yorick, 2. Bd., London 1768.

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Angela Sanmann

Die andere Kreativität Tendenzen weiblicher Übersetzungspraxis um 1800 am Beispiel von Meta Forkel-Liebeskind und Caroline Wuiet Um 1800 durchzieht die Praxis des literarischen Übersetzens in Europa eine Vielzahl von Konfliktlinien: Sei es die länderübergreifend geführte Kontroverse zwischen den Befürwortern eines wörtlichen, ja verfremdenden Übersetzens auf der einen und den Anhängern freier Adaptionen1 auf der anderen Seite oder aber die Frage nach einer Hierarchie zwischen dem Schreiben als einer originär-kreativen und dem Übersetzen als einer rein reproduktiven Tätigkeit. Während Werke von Dichter-Übersetzern wie z. B. August Wilhelm Schlegels „Hamlet“-Übertragung (1798) als literarisches Ereignis gefeiert werden,2 haftet dem Übersetzen im Allgemeinen oftmals noch das Etikett einer bescheiden dienenden – und damit typisch ‚weiblichen‘ Tätigkeit an.3 Vielen gebildeten Frauen bot das Übersetzen denn auch den ersten (und oft einzigen) Zugang zum literarischen Markt.4

1 Zum Phänomen der adaptierenden Übersetzungspraxis, die auch unter dem Schlagwort belles infidèles figuriert, vgl. u. a. Wilhelm Graeber: Blüte und Niedergang der Belles Infidèles. In: Übersetzung-Translation-Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, 2. Bd., hg. von Harald Kittel, Juliane House u. a., Berlin/New York 2007, S. 1520–1531. 2 Zur Bedeutung von Schlegels Shakespeare-Übersetzung vgl. Norbert Greiner und Felix C. H. Sprang, Europäische Shakespeare-Übersetzung im 18. Jahrhundert. Von der Apologie zum ästhetischen Programm. In: Übersetzung-Translation-Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, 3. Bd., hg. von Harald Kittel, Juliane House u. a., Berlin/New York 2011, S. 2453–2468, besonders S. 2465–2468. 3 Vgl. Sherry Simon, „Whether affirmed or denounced, the femininity of translation is a persistant historical trope. ,Woman‘ and ,translator‘ have been relegated to the same position of discursive inferiority.“ In: Sherry Simon, Gender in translation. Cultural Identity and the Politics of Transmission, London/New York 1996, S. 1. 4 Zu den unterschiedlichen Facetten und Funktionen der weiblichen Übersetzungspraxis um 1800, aber auch in anderen Epochen, sind in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Monographien, Sammelbände und Beiträge erschienen, darunter: Luise von Flotow, Translation and Gender. Translating in the ‚Era of Feminism‘, Manchester/Ottawa 1997, besonders S. 70–74; Sabine Messner, Michaela Wolf (Hg.), Übersetzung aus aller Frauen Länder. Beiträge zu Theorie und Praxis weiblicher Realität in der Translation, Graz 2001; Hilary Brown, Brunhilde Wehinger (Hg.), Übersetzungskultur im 18. Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Hannover 2008; Norbert Bachleitner, Striving for a position in the literary field: German women translators from the 18th to the 19th century. In: „Die Bienen fremder Literaturen“. Der literarische Transfer zwischen Großbritannien, Frankreich und dem https://doi.org/10.1515/9783110542202-011

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Die vorliegende Untersuchung widmet sich speziell den Übersetzungen dieser Frauen und erschließt damit ein breitgefächertes Panorama unterschiedlicher Reaktionsweisen auf die gesellschaftlich und literaturbetrieblich verankerten normativen Erwartungen, die den Literaturvermittlerinnen entgegengebracht werden. Für Übersetzerinnen in Deutschland und Frankreich, so soll in diesem Beitrag deutlich werden, bedeutet kreatives Übersetzen zweierlei: einen kreativen Akt und ein Problematisieren übersetzerischer Kreativität und ihrer Voraussetzungen. Anders gesagt: Kreativen Übersetzungsstrategien von Frauen eignet oft ein explizit selbstreflexives Moment, das die Bedingungen der Möglichkeit von weiblicher Kreativität (und Bildung überhaupt) thematisiert. Damit erheben sie die Übersetzung zu einem Medium der Reflexion über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und im literarischen Feld und erschließen sich ein eigenes „Diskussionspodium“.5 In diesem Sinne wenden sie das Attribut des ‚weiblichen‘ Übersetzens ins Positiv-Produktive und nutzen den Spielraum, den sie sich in ihrer Rolle als vordergründig unbeteiligte und bescheidene Vermittlerinnen eröffnen. Die folgenden Analysen zielen darauf ab, die von Frauen angewandten Übersetzungsstrategien, Vorworte und Anmerkungen lesbar zu machen als Teil der „Geschichte der Herausbildung weiblicher Identität durch Übersetzung“.6 Dabei wird zu zeigen sein, dass übersetzerische Interventionen nicht zwangsläufig mit einer klar emanzipatorischen Haltung der Verfasserin einhergehen müssen; auch gesellschaftlich konservative Anliegen können sprachlich kreativ umgesetzt werden. Aus dem breitgefächerten Spektrum an Verfahren rücken besonders zwei in den Fokus und werden durch sprechende Beispiele veranschaulicht: die kommentierende Übersetzung bei Meta Forkel-Liebeskind sowie die Praxis der Pseudoübersetzung bei Caroline Wuiet.7 Beide Verfahren

deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur (1770–1850), hg. von Norbert Bachleitner und Murray G. Hall, Wiesbaden 2012, S. 213–228; Hilary Brown, Luise Gottsched the Translator, Rochester 2012; Angela Sanmann, Martine Hennard Dutheil de la Rochère, Valérie Cossy (Hg.), fémin|in|visible. Women authors of the Enlightenment – Übersetzen, schreiben, vermitteln, Lausanne 2018, (Cahiers du CTL 58). 5 Daniela Kober, „Sie müssen meine neue englische Sprache studieren“. Bettina von Arnims Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. In: Grenzgängerinnen. Zur Geschlechterdifferenz in der Übersetzung, hg. von Nadja Grbić und Michaela Wolf, Graz 1999, S. 47–65, hier S. 51. 6 Sergia Adamo, Übersetzungsgeschichte als Geschichte der Frauen. Überlegungen zur Rolle der Frauen als Leserinnen und Übersetzerinnen im 18. Jahrhundert. In: Übersetzung aus aller Frauen Länder. Beiträge zu Theorie und Praxis weiblicher Realität in der Translation, hg. von Sabine Messner und Michaela Wolf, Graz 2001, S. 77–87, hier S. 80. 7 Für anregende Diskussionen zum übersetzerischen Werk von Meta Forkel-Liebeskind und Caroline Wuiet danke ich den Studierenden des MA-Seminars „Von der ‚Gehülfin‘ zur literari-

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sind natürlich nicht per se geschlechtsspezifisch, sondern werden von männlichen und weiblichen Übersetzern gleichermaßen eingesetzt. Für Frauen können sie im gegebenen Kontext aber insofern einen besonderen Stellenwert einnehmen, als sie mit Blick auf die eigene gesellschaftlich prekäre Rolle als Instrument der (subversiven) Camouflage sowie als Passage zwischen dem Übersetzen und dem eigenen Schreiben dienen.

I Meta Forkel-Liebeskinds kommentierende Carlisle-Übersetzung Die Übersetzungspraxis der ‚Universitätsmamsell‘8 Meta Forkel-Liebeskind (geb. Wedekind, 1765–1853) steht auf den ersten Blick ganz im Zeichen der Erwerbsarbeit 9 – und tatsächlich hat sie als eine der ersten professionellen Übersetzerinnen im deutschsprachigen Raum finanzielle Unabhängigkeit erlangt.10 Ein Jahr nach der Trennung von ihrem ersten Mann Johann Nikolaus Forkel tritt sie 1789 als Mitarbeiterin in Georg Forsters ‚Übersetzungsfabrik‘ ein,11 wo sie innerhalb kurzer Zeit eine große Anzahl z. T. umfangreicher literarischer Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen vorlegt, die entweder anonym oder aber unter Forsters Namen publiziert werden.12 Einerseits erstreitet sich Meta Forkel durch das Übersetzen also eine gewisse Autonomie, andererseits kann sie, wie auch bei ihren zwei anonym erschienenen eigenen Werken, nur bedingt auf persönliche Anerkennung hoffen.13 Neben dem finan-

schen Akteurin: Übersetzerinnen im 18. und 19. Jahrhundert“ an der Universität Lausanne im Frühjahr 2017. 8 Vgl. Eckart Kleßmann, Universitätsmamsellen. Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik, Frankfurt am Main 2008. 9 Zum Aspekt der Übersetzung als Broterwerb vgl. Ulrike Walter, Die Anfänge weiblicher übersetzerischer Erwerbsarbeit um 1800. In: Grenzgängerinnen – zur Geschlechterdifferenz in der Übersetzung, hg. von Nadja Grbić und Michaela Wolf, Graz 2002, S. 17–30. 10 Grundlegend zur Biographie von Meta Forkel-Liebeskind ist die Dissertation von Monika Siegel, „Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey...“ Das Leben der Schriftstellerin und Übersetzerin Meta Forkel-Liebeskind im Spiegel ihrer Zeit, Darmstadt 2001, Online-Quelle: http:// tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/epda/000222.Meta.pdf [Letzter Zugriff: 26. Juni 2017]. 11 Vgl. Kleßmann, S. 174. 12 Allein für die Jahre von 1788 bis 1791 sind dreizehn selbstständig verfasste und publizierte Übersetzungen nachgewiesen, vgl. Siegel, S. 102. 13 Die Titel lauten Originalbrief einer Mutter von achtzehn Jahren an eine Freundin, als diese ihr nach der Niederkunft zum erstenmal geschrieben hatte und Maria. Eine Geschichte in Briefen. Hierzu vgl. Siegel, S. 2.

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ziellen Interesse verfolgt ihre Übersetzertätigkeit zumindest punktuell auch ein gesellschaftliches Anliegen: Denn nicht nur in ihren Briefen, sondern auch im Rahmen von Übersetzungen reflektiert sie die Rolle der Frau und setzt ihre eigenen Überzeugungen sprachlich kreativ um.14 Meta Forkels deutsche Fassung der Thoughts in the form of maxims addressed to young ladies, on their first establishment in the world (1789) von Isabella Howard, Gräfin von Carlisle (1721–1795),15 sticht insofern aus dem umfangreichen Korpus heraus, als die (anonym bleibende) Übersetzerin diese nicht nur mit Paratexten und Anmerkungen flankiert, sondern ihr außerdem einen eigenen Versuch über weibliche Delikatesse zur Seite stellt. In der „Vorrede der deutschen Uebersetzerin“ insistiert sie auf ihrem Recht, Carlisles Werk zu kommentieren: „Der Anmerkungen, die ich zu machen hatte, sind wenig; wo mir aber meine Ueberzeugung die eingab, habe ich sie mir ohne Bedenken erlaubt“.16 Es wird zu zeigen sein, dass genau diese Kommentare eine Brücke zwischen der Carlisle-Übersetzung und Meta Forkels eigenem Schreiben schlagen. Nach dem bisherigen Stand der Forschung beruht das Zustandekommen der Carlisle-Übersetzung auf einem Entschluss der Übersetzerin und nicht auf einem von Georg Forster erteilten Auftrag, wie sonst oft in ihrer Laufbahn.17 Umso mehr drängt sich die Frage auf, wie es zu erklären ist, dass sich eine in Trennung lebende, berufstätige und finanziell unabhängige Frau wie Meta Forkel dazu entscheidet, ein Werk wie das der Lady Carlisle zu übersetzen, das junge Frauen dazu ermahnt, sich den gesellschaftlichen Normen und Erwartungshaltungen zu beugen und gegenüber ihrem Ehemann in jeder Hinsicht dienend, ergänzend und ausgleichend zu wirken: „Make choice of such amusements as will attach him to your company; study such occupations as will render you of consequence to him, such as the management of his fortune, and the conduct of his house; yet, without assuming a superiority unbecoming

14 Zu Meta Forkel-Liebeskind als Übersetzerin vgl. auch die Studie von Sophia Scherl, Die deutsche Übersetzungskultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Meta ForkelLiebeskind und ihre Übersetzung der „Rights of Man“, Berlin 2014, S. 74–101. 15 Isabella Howard, Countess of Carlisle, Thoughts in the form of maxims addressed to young ladies, on their first establishment in the world. By the Countess Dowager of Carlisle. Dublin 1790. 16 [Meta Forkel-Liebeskind], Vorrede der deutschen Uebersetzerin. In: Für junge Frauenzimmer sich und ihre künftigen Männer glücklich zu machen. Nach dem Englischen der Gräfin von Carlisle. Nebst einem Versuch der Uebersetzerin über weibliche Delikatesse, Leipzig 1791, S. iii–vi. 17 Siegel, „Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey...“, S. 102.

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your sex“.18 Meta Forkels eigener Erfahrungshorizont und ihre Laufbahn als Übersetzerin und Autorin scheinen mit den von Lady Carlisle formulierten Maximen zunächst nicht kompatibel.19 Kommentiert sie nun aber ihre deutsche Fassung, so tut sie dies interessanterweise nicht in dem Bestreben, den Aussagen der englischen Autorin grundsätzlich zu widersprechen und ein entgegengesetztes Frauenbild zu propagieren. Vielmehr ergänzen ihre Anmerkungen Carlisles Aussagen und werfen ein neues Licht auf das Gesagte: so auch in der Passage über die „Comödie“, deren Besuch Lady Carlisle jungen Frauen nachdrücklich empfiehlt, weil sie dort „unterrichtet und gebessert“ 20 würden. In Meta Forkels eigens hinzugefügter Anmerkung heißt es dazu: Vielleicht auch Kopf und Herz mit phantastischen Bildern gefüllt; voll von den bombastischen Liebeserklärungen des tragischen Liebhabers zu den Füßen seiner Göttin, die Ihnen die vernünftige Unterhaltung Ihres Gatten frostig und unschmackhaft machen.21

In desillusioniertem Tonfall unterstreicht die Übersetzerin die Diskrepanz zwischen der idealisierten Liebe auf der Bühne und dem aus ihrer Sicht wenig glamourösen Ehealltag. Dieser Befund kommt einer Warnung an die jungen Leserinnen gleich, sich von den „Comödien“ nicht zu falschen Vorstellungen von der Ehe verleiten zu lassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in diesem Kommentar Meta Forkels eigene Resignation über ihre gescheiterte Ehe mitschwingt. Meta Forkels Eingriffe beschränken sich nicht auf das Einfügen von Anmerkungen. Auch im Rahmen der Übersetzung selbst interveniert sie und flicht eigene Ideen in Carlisles Text ein. Dazu gehört auch die (ernstgemeinte?) Behauptung, dass die Bestimmung der Frau in ihrer Rolle als Ehefrau liege, die ihr Leben ganz dem Ehemann zu widmen habe. Gleich auf der ersten Seite erweitert sie einen Gedankengang der Lady Carlisle, die von jungen Frauen fordert, sich den Vorlieben des Ehemanns anzupassen: Habituate yourself to that way of life most agreeable to the person to whom you are united; be content in retirement, or with society, with the town or the country.22

Im Deutschen verleiht Meta Forkel der Forderung nach weiblicher Genügsamkeit und Unterordnung insofern besonderen Nachdruck, als sie in der eheli-

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Howard, Thoughts in the form of maxims addressed to young ladies, S. 2. Siegel, „Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey...“, S. 102 f. Forkel-Liebeskind, Für junge Frauenzimmer, S. 78 f. Forkel-Liebeskind, Für junge Frauenzimmer, S. 79. Howard, Thoughts in the form of maxims addressed to young ladies, S. 1.

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chen Verbindung eine Art Vorbestimmung erkennt, der sich die Frau unter allen Umständen zu fügen hat: Gewöhnen Sie sich an die Lebensweise, welche dem Gatten, dem das Schicksal Sie zugestellt hat, die angenehmste ist: seyn Sie zufrieden in Eingezogenheit oder in Gesellschaft; in der Stadt oder auf dem Lande.23

Mit der Ergänzung des im Original so nicht angelegten Schicksalsmotivs verschärft die Übersetzerin den normativen Gestus der Carlisleschen Maxime und schreibt der Frau eine passive, ‚dem Schicksal ergebene‘ Rolle zu. Meta Forkels übersetzerische Intervention fügt sich nahtlos in die Programmatik von Carlisles Text ein, der „vor unweiblichem Verhalten warn[t] und das Pathos weiblicher Entsagung predig[t]“.24 Interessanterweise findet sich die neu eingeführte Schicksalsmotivik nicht nur im Fließtext, sondern auch in der deutschen Variante des Titels wieder. Dieser lautet „Für junge Frauenzimmer sich und ihre künftigen Männer glücklich zu machen“ und spitzt die Thematik des Werkes auf das Eheleben zu. Dabei exponiert der deutsche Titel ein Ideal der Ehe, das die Frau ganz auf ihre supplementäre, dem Ehemann dienende Funktion festlegt und ihr eigenes Glück unauflöslich an das seine koppelt. Der englische Originaltitel Thoughts in the form of maxims addressed to young ladies, on their first establishment in the world hingegen fokussiert die Rolle der Frau in der Gesellschaft insgesamt. Auch wenn sich an dieser Stelle nicht eindeutig feststellen lässt, wer für die Wahl des deutschen Titels verantwortlich zeichnet – die Übersetzerin selbst, der Verleger oder beide zusammen –, so wird doch deutlich, dass die verschiedenen übersetzerischen Transformationen derselben Tendenz folgen. Darüber hinaus greift Meta Forkel die Schicksalsproblematik auch in ihrem eigenen Versuch über weibliche Delikatesse wieder auf und schlägt damit eine Brücke zwischen den beiden Tätigkeitsfeldern des Übersetzens und des Schreibens. In ihrem Versuch trifft sie eine klare Unterscheidung zwischen der Rolle des Mannes, „der mehr freier Herr seines Schicksals seyn mag“,25 und der Rolle der Frau, die ihr Tun ganz auf ihre Bestimmung als Ehefrau auszurichten und eigene Wünsche zurückzustellen hat. Hier wirkt der Konnex zwischen dem Rollenbild der Frau und dem von ihr verantworteten Eheglück in Meta Forkels eigenem Text fort:

23 Forkel-Liebeskind, Für junge Frauenzimmer, S. 1 [meine Hervorhebung]. 24 Siegel, „Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey...“, S. 103. 25 [Meta Forkel-Liebeskind], Fragmente zu einem Versuche über weibliche Delikatesse. In: Für junge Frauenzimmer sich und ihre künftigen Männer glücklich zu machen, Leipzig 1791, S. 105–134, hier S. 119.

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Es wird und muß für [die] künftige Bestimmung [der Frau], für ihr dereinstiges häusliches Glück die nachtheiligsten Folgen haben, wenn sie sich an Unabhängigkeit von Lagen und Umständen gewöhnt, wenn sie nicht auch in Kleinigkeiten sich Rücksichten, Gebräuchen, und allen Pflichten des Wohlstandes zu unterwerfen gelernt hat.26

Wie lässt sich nun der dreifache Einsatz dieser Schicksalsmotivik deuten, der im Versuch über weibliche Delikatesse kulminiert? In einer Anmerkung lenkt die Verfasserin die Aufmerksamkeit der Leser auf ihre eigene Biografie und behauptet, ihren Versuch „an einem auswärtigen Orte“ geschrieben zu haben, „im ersten Aufwallen einer gekränkten Empfindung für mein Geschlecht, die ich aus einem gewissen Zirkel mit zu Hause brachte“.27 Laut aktuellem Forschungsstand spielt Meta Forkel hier (von ihrem neuen Berliner Standort aus) auf die gesellschaftliche Geringschätzung an, der sie in Göttingen nach der Trennung von ihrem Mann ausgesetzt war.28 Selbst wenn der Verweis der Autorin auf ihr eigenes Leben eine gewisse Plausibilität haben mag, so bleibt es doch eine Herausforderung zu bestimmen, ob und inwiefern der Versuch über weibliche Delikatesse tatsächlich einen authentischen „Einblick in Metas psychologische Verfassung“ 29 nach ihrer Trennung erlaubt. Hat Meta Forkel ihren Text wirklich verfasst, um „ihr eigenes Missgeschick“, d. h. die Trennung und anschließende Scheidung „besser zu verstehen“?30 Versucht sie, im Medium des Schreibens und Übersetzens ihr früheres Verhalten im realen Leben zu revidieren? Oder soll der Verweis auf die Entstehungsumstände des Textes doch eher seine Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft unterstreichen? Ohne diese Fragen eindeutig beantworten zu können, bleibt festzuhalten, dass es Meta Forkel trotz des enormen Zeitdrucks, unter dem sie gearbeitet hat, offenbar wichtig war, sich in literarischer Form mit den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber jungen Frauen auseinanderzusetzen und dabei eigene Erfahrungen einfließen zu lassen. Mit der von ihr eigens hinzugefügten Schicksalsmotivik reagiert sie auf die gesellschaftlichen Rollenmuster der Zeit und spiegelt diese auf drei Ebenen: in der Übersetzung, in den Kommentaren und beim eigenen Schreiben. Um die Publikation ihres eigenen Textes im Anhang der Übersetzung zu rechtfertigen, initiiert Meta Forkel, wiederum in Form einer Anmerkung, verschiedene Defensivmanöver, angefangen bei dem Rekurs auf eine befreundete

26 Forkel-Liebeskind, Fragmente zu einem Versuche über weibliche Delikatesse, S. 119. 27 Forkel-Liebeskind, Fragmente zu einem Versuche über weibliche Delikatesse, S. 108. Hierzu vgl. Siegel, S. 103. 28 Siegel, „Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey...“, S. 83. 29 Siegel, „Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey...“, S. 102. 30 Siegel, „Ich hatte einen Hang zur Schwärmerey...“, S. 103.

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männliche Autoritätsperson, die ihren Versuch über weibliche Delikatesse angeblich hatte veröffentlichen wollen: Weil [der Freund] aber an der Fortsetzung gehindert wurde, und das davon erschienene nicht sehr in Umlauf gekommen ist, hab ich es mir verzeihn zu können geglaubt, wenn ich ihn hier anhänge, wo gerade ein leeres Plätzchen dafür ist, da es in der Hofnung und mit dem Wunsche geschieht, durch dieses Fragment eine geübtere Hand aufzufordern, reichhaltiger einen Gegenstand zu behandeln, über den ich noch wenig las, und der mir doch für junge Personen meines Geschlechts von unendlicher Wichtigkeit zu seyn scheint.31

Neben dem Verweis auf den Freund umfasst Meta Forkels Legitimierungsstrategie zwei weitere gängige Topoi, die von gebildeten Frauen vorgebracht werden: Bescheidenheit und Nützlichkeit. Die Übersetzerin bezeichnet den Buchanhang als ein „leeres Plätzchen“, das sich ihr „gerade“, also wie zufällig, für einen eigenen schriftstellerischen Beitrag angeboten habe. Den Text selbst apostrophiert Meta Forkel als doppelt unfertig und vorläufig, als „Fragment zu einem Versuche“, was ihre Behauptung stützt, er sei nicht geplant, sondern im „ersten Aufwallen einer gekränkten Empfindung für mein Geschlecht“ 32 entstanden. Dementsprechend soll er auch gar nicht für sich selbst stehen, sondern vielmehr als Appell an andere Literaten und Literatinnen dienen, sich ebenfalls mit der Rolle der Frau auseinanderzusetzen. Anders als in ihrem kritischen Kommentar zur Institution Ehe, die sie durch die Diskrepanz zwischen den „bombastischen Liebeserklärungen“ in der Komödie und den „frostig[en] und unschmackhaft[en]“ Gesprächen mit dem Ehemann illustriert, vertritt Meta Forkel hier wiederum eine eher konservativ-defensive Grundhaltung. Insgesamt lässt sich Meta Forkels Versuch über weibliche Delikatesse als ein Akt der Selbstverständigung und der öffentlichen Positionierung bezeichnen, den sie geschickt im Windschatten ihrer Carlisle-Übersetzung platziert. Dadurch entzieht die Verfasserin ihren selbstverfassten Text ein Stück weit der gefürchteten Kritik. Seine aufwendige Inszenierung als bloßer Nebenschauplatz lenkt von der Tatsache ab, dass Meta Forkel hier ihre Übersetzertätigkeit bruchlos ins eigene Schreiben überführt. Auch wenn ihre Carlisle-Publikation ohne Namensnennung erfolgt, so gibt sie sich doch zumindest als „Uebersetzerin“ zu erkennen. Auch hier stellt sich die Frage, ob Meta Forkel selbst ihre

31 Forkel-Liebeskind, Fragmente zu einem Versuche über weibliche Delikatesse, S. 108. 32 Forkel-Liebeskind, Fragmente zu einem Versuche über weibliche Delikatesse, S. 108. Die Behauptung, nicht die Verfasserin, sondern „weibliche Empfindungen“ seien die eigentliche Quelle eines schriftstellerischen Werkes, stellt Susanne Kord als eine gängige Rechtfertigungsstrategie schreibender Frauen dar. Vgl. Susanne Kord, Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft, Stuttgart 1996, S. 103.

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weibliche Identität hat betonen wollen oder ob sich der Verleger für dieses Vorgehen ausgesprochen hat, damit der Text für das weibliche Publikum zusätzlich an Glaubwürdigkeit gewinnt. Im Rahmen der Carlisle-Publikation schwankt Meta Forkel zwischen zwei Polen: einer eher defensiv und rollenaffirmativ wirkenden Haltung auf der einen Seite und der zu dieser Zeit in Deutschland alles andere als selbstverständlichen Kritik einer Frau an der Institution Ehe auf der anderen.33 Dieses ambivalente Mischverhältnis spiegelt ihre eigene Situation, in der berufliche bzw. private Emanzipation und gesellschaftliche Ächtung, intellektuelles Wirken und Im-Dienste-Stehen unauflöslich miteinander verbunden sind. Vielleicht ist die Wahl des Carlisle-Textes auch vor diesem Hintergrund zu erklären: als ein Akt der Auseinandersetzung mit restriktiven weiblichen Rollenbildern, die sich nicht nur in Maximen niederschlagen, sondern, wie in Meta Forkels Fall, in unmittelbaren Zwängen für die einzelne Frau resultieren. Im Rahmen des Carlisle-Projekts, so lässt sich festhalten, hat die Übersetzerin und Autorin ihre Resignation ob der normativen gesellschaftlichen Strukturen zwar nicht überwunden, aber doch in einzelnen Interventionen ins Produktive gewendet, ohne das Gegebene aktiv verändern zu wollen.

II Caroline Wuiets Pseudoübersetzung als Maskenspiel und Camouflage Das Phänomen der Pseudoübersetzung markiert einen Grenzfall literarischer Produktion, der im Frankreich des 18. Jahrhunderts bei Autorinnen und Autoren weit verbreitet ist, insbesondere im Kontext der bis ins 19. Jahrhundert ausstrahlenden Anglophilie, der Vorliebe für englische Romanliteratur.34 Die Funktion fingierter Übersetzungen, die das ‚Exotische‘ der behaupteten Vorlage betonen und es gleichzeitig auf die Erwartungshaltung eines bestimmten

33 Vgl. Barbara Becker-Cantarino zu der in Sophie von La Roches Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) enthaltenen Ehekritik aus der Perspektive einer Frau. Barbara Becker-Cantarino, Nachwort. In: Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Stuttgart 2011, S. 367–399, hier S. 398. 34 Vgl. Joëlle Prungnaud, La traduction du roman gothique anglais en France au tournant du XVIIIe siècle. In: TTR: traduction, terminologie, rédaction, 7.1, 1994, S. 11–46. Grundlegend dazu auch Wilhelm Graeber, Normen und Konventionen der äußeren Textgestaltung. In: Übersetzung-Translation-Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hg. von Harald Kittel, Juliane House u. a., Berlin/New York 2004, 1. Bd., S. 915–920, hier besonders S. 917.

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Zielpublikums hin zuschneiden, erschöpft sich jedoch nicht im Stillen der unablässigen Nachfrage nach englischer Romanliteratur, die das ‚Übersetzen ohne Original‘ zu einem einträglichen Geschäft macht, zumal wenn die Namen renommierter Schriftsteller bzw. Schriftstellerinnen auf dem Titelblatt figurieren. Darüber hinaus verfügt die Pseudoübersetzung insofern über ein kritisches Potential, als sie den Akt des Übersetzens als solchen inszeniert und sämtliche daran gekoppelte Normen und Vorannahmen exponiert und zur Diskussion stellt. Die fingierte Übersetzung erlaubt es schreibenden Frauen, in die Rolle der Übersetzerin zu schlüpfen, sich spielerisch mit den dazugehörigen Normen auseinanderzusetzen und auf diese Weise die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit weiblicher Kreativität zu problematisieren. Exemplarisch vollzogen wird dieses Maskenspiel von Caroline Wuiet in Le Couvent de Sainte Catherine, ou les Mœurs du XIIIe siècle (1810), in dessen Untertitel es heißt: „Roman historique d’Anne Radcliffe; Traduit par Mme la baronne Caroline A*********, née W*** de M*******, agrégée à plusieurs Académies étrangères, auteur du Phénix, d’Esope au bal de l’Opéra, des Mémoires de Babiole, du Sterne du Mondego, etc., etc., etc.“.35 Zuletzt ist das wissenschaftliche Interesse an Caroline Wuiet (1766–1835)36 und ihren vielfältigen künstlerischen Aktivitäten stark angewachsen, wobei vorrangig ihre Tätigkeit als Dramaturgin, Komponistin und Kunstkritikerin im Fokus steht und ihre Rolle als Schriftstellerin und Verfasserin von Pseudoübersetzungen nur am Rande gestreift wird. Die Frage nach der treibenden Kraft hinter Wuiets fingierter Radcliffe-Übersetzung wird mit dem Verweis auf ein rein finanzielles Interesse scheinbar abschließend beantwortet: „[The] savvy Wuiet [...] was undoubtedly trying to capitalize on the mania for English gothic literature that was sweeping through early nineteenth-century France“.37 Ohne den Aspekt der Erwerbstätigkeit außer Acht zu lassen, gilt es im Folgenden, der bislang von der Forschung vernachlässigten Frage nachzugehen, inwieweit der rhetorisch aufwendigen Präsentation des Couvent de Sainte Catherine neben dem ökonomischen Interesse auch eine kritische Reflexion über die Rolle der Frau im literarischen Feld zugrunde liegt. Dabei soll deutlich werden, dass

35 [Caroline Wuiet], Le couvent de Sainte Catherine, ou Les mœurs du XIIIe siècle, roman historique d’Anne Radcliffe, traduit par Mme la baronne Caroline A***, née W*** de M**, Tome II, Paris 1810. 36 Vgl. den Eintrag „Wuiet, Caroline“. In: Le Dictionnaire universel des créatrices, hg. von Béatrice Didier, Antoinette Fouque und Mireille Calle-Gruber, Paris 2013, 3. Bd., S. 4626 f. 37 Heather Belnap Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener (1766–1835). In: Women Art Critics in Nineteenth-Century France. Vanishing Acts, hg. von Wendelin Guentner, Newark 2013, S. 327–334, hier S. 330 f.

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das Inszenieren eines Originalwerks als Übersetzung eine prädestinierte Strategie darstellt, um das Spannungsverhältnis zwischen dem Ideal der bescheiden dienenden Übersetzerin, den individuellen Emanzipationsbestrebungen eines weiblichen Ich und einem genuin künstlerischen Ausdruckswillen literarisch auszutarieren. Im komplexen Zusammenspiel zwischen fingierten Paratexten und kreativen ‚Übersetzungs‘-Strategien (die sich als Schreibstrategien entpuppen) tritt bei Wuiet ein weibliches Sprecher-Ich hervor, dessen Selbstbild zwischen ostentativ vorgetragener Bescheidenheit und selbstbewusst formuliertem Anspruch auf sprachliches Ausdrucksvermögen oszilliert. Bevor die Interaktion der verschiedenen Elemente von Caroline Wuiets Pseudoübersetzung in den Blick rückt, gilt es zunächst ihre Entstehungsumstände zu erhellen. Zum Zeitpunkt der Publikation im Jahr 1810 hat diese „femme extraordinaire“ 38 bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Als musikalisches Wunderkind von Marie Antoinette adoptiert, genoss sie über Jahre hinweg ihre Förderung, die auch den Musik- bzw. Literaturunterricht durch AndréErnest-Modeste Grétry bzw. Beaumarchais einschloss.39 Hat sich Caroline Wuiet vor dem Ausbruch der Französischen Revolution als Opernkomponistin und Verfasserin von Libretti einen Namen gemacht, so muss sie 1789 aufgrund ihrer engen Bindung an das französische Herrscherhaus nach England und Holland fliehen und kann erst 1797 nach Paris zurückkehren. Dort frequentiert sie den Salon von Thérèse Talliens und gründet eine (allerdings bald wieder aufgelöste) Frauengesellschaft.40 Zudem tritt Wuiet nicht nur als eine der ersten weiblichen Kunstkritikerinnen Frankreichs hervor,41 sondern fungiert auch als Herausgeberin von Zeitschriften wie Le Papillon und Le Phénix, Journal politique et littéraire.42 Nach ihrer Heirat mit dem Baron und Oberst Joseph Auffdiener 1807 folgt ihm Wuiet nach Lissabon, wo sie in den folgenden Jahren unter verschiedenen Pseudonymen lebt und arbeitet.43 In dieser Zeit erlebt sie die Besetzung Portugals durch Napoleon und muss nach dem Tod ihres Ehemanns 1809 selbst für ihren Lebensunterhalt

38 Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener, S. 327. 39 Vgl. Émile Souvestre, Une femme célèbre. In: Les drames parisiens, Paris 1859, S. 1–104, hier S. 5 f. Vgl. auch Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener, S. 327. 40 Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener, S. 328. 41 Heather Belnap Jensen, „C.W. … académicienne“. Caroline Wuiet and the Emergence of the Woman Art Critic in Postrevolutionary France. In: Women Art Critics in Nineteenth-Century France. Vanishing Acts, hg. von Wendelin Guentner, Newark 2013, S. 53–71, hier S. 66. 42 Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener, S. 329. 43 Vgl. Souvestre, Une femme célèbre, S. 80 f.; Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener, S. 330.

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sorgen, zum einen mit Musikstunden, zum anderen mit literarischen Publikationen, zu denen auch Le Couvent de Sainte Catherine gehört.44 Um ihren Roman glaubhaft als Übersetzung einer kaum bekannten gothic novel von Ann Radcliffe zu inszenieren,45 entwirft die Autorin eine aufwändige paratextuelle Rahmung. Während sich die umfangreiche Préface vorrangig als Dokument der Authentizitätsbeglaubigung liest, in dem Kreativität, weibliche Emotionalität und Mutterschaft miteinander verknüpft sind, steht die Note du traducteur ganz im Zeichen einer kritischen Reflexion weiblicher Schaffenskraft und ihrer Bedingungen. Erst durch das Wechselspiel zwischen diesen fingierten Paratexten – tatsächlich sind es integrative Bestandteile eines aus Übersetzung, Préface und Note du traducteur bestehenden französischsprachigen Originals – wird Le Couvent de Sainte Catherine zu einem Instrument der Kritik und der Emanzipation, das die im literarischen Feld etablierten Rollenmuster und Erwartungshaltungen beleuchtet und hinterfragt; angefangen bei der Wahl des Genres.

II.1 Wuiets Selbstinszenierung als Übersetzerin im Vorwort zum Roman Caroline Wuiets Entscheidung für eine Pseudoübersetzung ist bereits insofern bemerkenswert, als sie sich auf diese Weise die Möglichkeit erschließt, einen roman gothique zu verfassen und damit ein Genre auszuprobieren, das für eine französische Autorin ihrer Zeit alles andere als selbstverständlich war. In ihrer Rolle als ‚bloße‘ Übersetzerin eines bereits existierenden Schauerromans braucht sie sich jedoch für dessen Inhalt nicht zu rechtfertigen: „[De] manière à masquer son goût de la violence, jugé impudique, la baronne de Wuiet se travestit en traductrice et rejette sur Ann Radcliffe la responsabilité de toutes les entorses à la bienséance“.46 Tatsächlich eröffnet sich für Wuiet hinter der Maske der Übersetzerin als einer quasi unbeteiligten Vermittlerin ein Spielraum, in dem bestimmte tabuisierte Themen und Fragen für die französische Autorin überhaupt erst sagbar werden. Deshalb hat die Glaubwürdigkeit ihrer Übersetzung als Übersetzung für sie höchste Priorität. Dieses Hauptziel ist zwar im Prinzip allen Pseudoübersetzungen gemein, doch gerade für Autorinnen

44 Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener, S. 330. 45 Vgl. den bibliographischen Eintrag „Le Couvent de Sainte Catherine. Paris 1810. Supposedly translated – but actually written – by Baroness Caroline d’Aufdiener“. In: Ann Radcliffe. A Bio-Bibliography, hg. von Deborah D. Rogers, Westport/London 1996, S. 192. 46 Prungnaud, La traduction du roman gothique anglais, S. 31.

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bietet die fingierte Übersetzung einen kostbaren Raum, in dem das Verhältnis zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen den Rollen der Schriftstellerin und Übersetzerin und ihrem jeweiligen Verhältnis zum Publikum bzw. zur Kritik ausgelotet werden kann. Aus übersetzungswissenschaftlicher Perspektive sind diese Strategien weiblicher Selbstdarstellung in einem solchen Grenzbereich insofern besonders aussagekräftig, als die Verfasserinnen in ihrer heimlichen Doppelrolle als Autorin und Übersetzerin desselben Textes ein Höchstmaß an Leserlenkung ausüben können. Wie sieht diese Einflussnahme im konkreten Fall aus und was verrät sie über Caroline Wuiets Selbstbild? Den Anschein von Authentizität erzeugt sie mit dem gängigen Stilmittel der Anekdote, in der ein Mittelsmann das angebliche Originalmanuskript an den/die zukünftige/n Übersetzer/in übergibt; bei Wuiet tritt ein englischer Literat auf, der zudem mit Radcliffe verwandt sein soll:47 J’habitais Lisbonne lorsque le général Robert W... me présenta sir Archibald Hutton, traducteur en anglais d’Ésope au bal de l’Opéra; ce jeune littérateur, parent et ami de madame Radcliffe, me parla avec enthousiasme du Couvent de Sainte Catherine. Ce roman, à peine connu, même en Angleterre où il n’avait été publié que par souscription, n’avait point été traduit; il me proposa de l’entreprendre, et me confia l’original.48

Die Glaubwürdigkeit des Übersetzungsprojektes hängt zuallererst am Rekurs auf die männliche Autoritätsperson, die sowohl für die Existenz von Radcliffes Original (eines nur als Subskription veröffentlichten Romans) als auch für den Übersetzungsauftrag als solchen bürgt. Wuiet unterstreicht ihre Rolle der passiven Auftragsempfängerin, wenn sie ihre anfängliche Antipathie gegenüber Autorin, Werk und Genre hervorhebt und behauptet, sie habe die Arbeit gegen innere Widerstände begonnen: „Je l’avoue en toute humilité, je n’aimais pas madame Radcliffe ni ses productions. La première, que j’avais connue en Angleterre, m’avait paru fort au-dessous de ses ouvrages, et ses ouvrages encore plus au-dessous de leur célébrité“.49 In ihrer Rolle als Übersetzerin legt Wuiet es darauf an, bei ihrer Leserschaft jeden Zweifel am rein reproduzierenden Charakter ihrer Tätigkeit zu zerstreuen. Ihre mit Nachdruck hervorgehobene Abneigung gegenüber dem „genre

47 Hierzu vgl. Prungnaud, La traduction du roman gothique anglais, S. 31. 48 [Caroline Wuiet], Préface [zum Couvent de Sainte Catherine]. In: Recueil de préfaces de traducteurs de romans anglais 1721–1828, hg. von Annie Cointre und Annie Rivara, Saint-Etienne 2006, S. 173–175, hier S. 174. Dazu Prungnaud, La traduction du roman gothique anglais, S. 31. 49 Wuiet, Préface, S. 174. Dazu vgl. Prungnaud, La traduction du roman gothique anglais, S. 31.

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monstrueux“ 50 des roman gothique koinzidiert mit der Behauptung, dass es geradezu unmöglich sei, den Roman ins Französische zu übertragen. Dies hieße, „den Totenvögeln Schmetterlingsflügel [zu] verleihen“ („mettre des ailes de papillons à ses oiseaux de mort“).51 Erneut unterstreicht Wuiet ihre Ablehnung der genretypischen Elemente des Düsteren und Morbiden und verrät gleichzeitig mit den in der Schmetterlings-Metaphorik anklingenden Verfahren der Verschönerung und Anpassung, welcher Übersetzungstradition sie sich zugehörig fühlt: der Praxis einbürgernder Adaptionen, die in Frankreich als belles infidèles bis ins 19. Jahrhundert hinein dominieren. Wuiets Selbstinszenierung als passive Auftragsempfängerin geht noch weiter: Exponiert sie zunächst das positive Urteil des Literaten, dem sie sich trotz innerer Widerstände fügt, so führt sie anschließend ihren radikalen Sinneswandel gegenüber dem Übersetzungsprojekt auf die „circonstances“ 52 zurück. Diese seien politischer Natur, allen voran die Ächtung, der Wuiet als Anhängerin Marie Antoinettes in Frankreich ausgesetzt war und der sie sich durch ihre Flucht nach Holland und England zu entziehen suchte, bevor sie zu ihrem Mann nach Lissabon zog.53 Doch auch dort fand sie keine Ruhe, da das Land 1807 von Frankreich besetzt wurde. Als Witwe und zweifache Mutter in Kriegszeiten habe sich das Übersetzen eines Schauerromans schließlich als eine Tätigkeit mit geradezu therapeutischer Wirkung erwiesen, erläutert Wuiet mit durchaus pathetischer Geste: Ne trouvant alors d’autres distractions à ma terreur que la terreur même, je m’élançai sur les traces de la ténébreuse Anna. Prisonnière chez moi, veillant chaque nuit près de mes enfants, j’écrivais tandis que le tocsin ou le canon d’alarme annonçait de nouveaux attentats ; j’écrivais au bruit tumultueux des cris de mort, à la lueur des torches qui menaçaient d’embraser ma maison.54

Die täglich erlebte politische „terreur“ hat bei Wuiet offenbar das Bedürfnis nach einer fiktiven „terreur“ wachgerufen, „qui [fait] écho à la violence vécue au cours de cette période troublée et qui [peut] en même temps servir de dérivatif“.55 Reale und fiktive „terreur“ spiegeln einander und halten sich in einer fragilen Balance, die als Motor des Übersetzens begriffen wird. Die erlebte Gewalt und der dadurch bedingte emotionale Aufruhr motivieren aber nicht nur

50 51 52 53 54 55

Wuiet, Préface, S. 174. Wuiet, Préface, S. 174. Wuiet, Préface, S. 174. Vgl. Jensen, Caroline Wuiet, la Baronne Auffdiener, S. 330. Wuiet, Préface, S. 174. Prungnaud, La traduction du roman gothique anglais, S. 20.

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den Übersetzungsprozess, sondern regen auch die Einbildungskraft an, die das Übersetzen mit einem kreativen Vorzeichen versieht. In dem Maße, in dem die Grenzen zwischen erfundener und realer Gewalt schwinden, scheinen sich auch die Trennlinien zwischen Übersetzen und Schreiben aufzulösen. Das Kippmoment zeigt sich in den gewählten Verben: „Un jour j’écrivais les vers que Mathilde adresse à son fils, et je les écrivais d’inspiration; ils rendaient si bien les émotions douces et terribles qui froissaient ma vie!“ 56 Zweimal verwendet Wuiet das Verb „écrire“ statt „traduire“; beim zweiten Mal mit dem sprechenden Zusatz „d’inspiration“. Ihr psychischer Ausnahmezustand, hinund hergerissen zwischen den „emotions douces et terribles“, habe ihr eine besondere Empathiefähigkeit gegenüber den Romanfiguren verliehen. Als Mutter zweier Kinder finde sie sich insbesondere in Mathilde wieder, die um das Leben ihres Sohnes Henri bangt. Das weibliche Einfühlungsvermögen wird hier zur Quelle schöpferischer „inspiration“ erklärt. Zielt Wuiet mit der Wendung „j’écrivais d’inspiration“ auf den Grad an Wahrhaftigkeit, der ihrer Übersetzung eigen sei – oder gibt sie hier gar einen versteckten Hinweis auf ihre Autorschaft, und damit auf die Tatsache, dass die Figuren Mathilde und Henri ihrer eigenen Phantasie entsprungen sind? Festzuhalten bleibt in jedem Fall der Einfluss, den die weibliche Emotionalität und die Mutterrolle ihrer Ansicht nach auf ihre literarische Tätigkeit haben. Gilt die Empathie einerseits als Garant für die Authentizität des Geschilderten, so fungiert sie andererseits als Rechtfertigung für die Freiheiten, die sich Wuiet im Umgang mit dem ‚Original’ genommen haben will – auch und gerade mit Rücksicht auf ihr Publikum: Enfin, pendant six mois, ballottée par la guerre civile, ou par les tempêtes qui m’ont rejetée sur les côtes de France, je me suis occupée de cette traduction ; plus tranquille peut-être, elle eût été plus fidèle. Comment ne pas se ressentir de tant de commotions différentes ! Mais j’ose le croire, ces nuances de style étaient nécessaires pour corriger la monotonie de l’original, dont tous les traits distinctifs n’étaient qu’indiqués.57

Das weiblich apostrophierte Attribut der Empathie steht bei Wuiet also weniger für eine treue Wiedergabe des Originals in der Zielsprache, als für ein Höchstmaß an Wahrhaftigkeit. Diesem positiven Bild weiblicher Schaffenskraft stellt Wuiet gleich mehrmals den um 1800 gängigen Vorwurf gegenüber, gelehrte Frauen seien lächerlich.58 Denn auch wenn das anonyme Publizieren zu dieser

56 Wuiet, Préface, S. 174 [meine Hervorhebung]. 57 Wuiet, Préface, S. 175. 58 Die Kritik an gelehrten Frauen ist um 1800 europaweit verbreitet und lässt sich u. a. am Wandel des englischen Begriffs „bluestocking“ nachverfolgen, der ursprünglich die (weiblichen und männlichen) Teilnehmer des literarischen Zirkels (der „Blue Stockings Society“) um die englische Autorin und Salonnière Elizabeth Montagu (1718–1800) bezeichnet. Nach und

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Zeit nicht nur bei Frauen gängige Praxis war, so scheint die Namensnennung doch gerade in ihrem Fall einer besonderen Rechtfertigung zu bedürfen. Im Postskriptum der Préface rechtfertigt Wuiet sich dadurch, dass sie die Nennung ihres Namens als eine von den Umständen erzwungene Entscheidung markiert; sie reagiere damit auf unerlaubte Nachdrucke, die von ihren Werken zirkulierten: Il pourra paraître d’autant plus ridicule que je me sois nommée à la tête de cette traduction que j’avais gardé jusqu’à ce moment l’anonyme. Mais pendant ma longue absence, quelques officieux ayant adopté mes ouvrages, et quelques libraires mes éditions, j’ai été forcée de reprendre mon nom, pour revendiquer mes droits.59

Auch hier präsentiert sich Wuiet in der Rolle der passiven Frau, die nur reagiere, sei es auf das Verhalten anderer, zumeist männlicher Akteure, oder aber auf äußere Umstände.

II.2 Wuiets selbstreflexive Note du traducteur Der Vorwurf der Lächerlichkeit bildet auch den Einstieg in die einzige Anmerkung am Ende der Übersetzung, die sich auf die Romanfigur Mathilde Percival bezieht: (1) Note du traducteur, XIIIe. chapitre, page 162. COMME j’ai cru que Mathilde Percival ne devait pas avoir le ridicule d’être femme de lettres, j’ai placé à part cette tirade qui devait être insérée dans le XIIIe chapitre. [...].60

Wuiet zufolge hat Radcliffe der Figur der Mathilde im dreizehnten Kapitel ein Gedicht in den Mund gelegt, das sie selbst als unpassend empfunden und da-

nach nimmt der Begriff eine pejorative Konnotation an und dient fortan als herabwürdigende Bezeichnung von Schriftstellerinnen und gebildeten Frauen insgesamt. In Frankreich und Deutschland waren die entsprechenden Termini „bas bleu“ und „Blaustrumpf“ in Umlauf. Zu den blue stockings im Kontext weiblicher Übersetzungspraxis um 1800 zuletzt: Alessa Johns, Bluestocking Feminism and British-German Cultural Transfer, 1750–1837, Ann Arbor 2014. Als sprechendes Beispiel aus der deutschsprachigen Literatur ist Friedrich Schillers Gedicht Die berühmte Frau. Epistel eines Ehemanns an einen andern (1788) zu nennen. Vgl.: Friedrich Schiller, Werke (= Nationalausgabe), begr. von Julius Petersen, fortgef. von Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hrsg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers, Weimar 1943 ff., Bd. 1 (= Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799), S. 196–200. 59 Wuiet, Préface, S. 175. 60 Wuiet, Note du traducteur. In: Le couvent de Sainte Catherine, S. 265–268, hier S. 265.

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her in die Anmerkung verschoben habe. Offenbar verspürte die als Übersetzerin getarnte Verfasserin die Notwendigkeit, eine weibliche Romanfigur vor dem drohenden Spott der Leser zu schützen, die in Mathilde eine gedichtrezitierende „femme de lettres“ sehen könnten. Dies führt dazu, dass Wuiet im Rahmen ihrer fingierten Übersetzung ein angebliches Original korrigiert, verändert und kommentiert. Nur dass es sich eben nicht um eine Übersetzung handelt, sondern um einen von ihr selbst verfassten Text. Offenbar hat Wuiet ihren Roman von Anfang an genau so konzipiert, dass er ihr die Gelegenheit bietet, in ihrer Rolle als ‚Übersetzerin‘ in ebendieses ‚Original‘ einzugreifen, um den Topos der Lächerlichkeit gelehrter Frauen zu diskutieren. Dieses vielschichtige Manöver zeugt nicht nur von Wuiets Bewusstsein um die prekäre Lage der Frauen in gesellschaftlichen und insbesondere in literarischen Kreisen, sondern auch und gerade von ihrem Geschick, ebendiese Lage in einem subversiven literarischen Akt anzuprangern. Darüber hinaus stellt sie in der Note du traducteur selbstbewusst ihre übersetzungsgeschichtlichen Kenntnisse aus und legitimiert ihr Vorgehen im Rückgriff auf die Tradition der belles infidèles. Tatsächlich scheint Wuiets Anmerkung von umso komplexerer Natur zu sein, als sich die Übersetzerin nicht darauf beschränkt, den gelehrten Frauen gegenüber rekurrenten Vorwurf in vorauseilender Selbstkritik aufzugreifen und mit Blick auf die Figur der Mathilde zu entkräften, indem sie die als anstößig empfundene lyrische tirade kurzerhand streicht. Damit hätte ihre Intervention ihr Ziel erreicht haben können. Stattdessen vollführt Wuiet in ihrer Doppelrolle als Verfasserin und Übersetzerin eine rhetorische Volte und nutzt kurzerhand die sich bietende Gelegenheit, das angeblich aus dem englischen Original getilgte Gedicht in der Anmerkung auf Französisch zu präsentieren. Dabei lässt sie es sich nicht nehmen, das Übersetzen als Wettstreit mit der imaginierten englischen Vorlage zu deklarieren: „Je ne sais si je suis restée au-dessous de mon modèle en voulant imiter la force des images, mais je crois l’avoir égalé toutes les fois que j’ai peint le trouble de la douleur ou les émotions de l’amour maternel [...].“ 61 Hier verweist sie erneut auf die Praxis der belles infidèles, wenn sie mit dem Verb „imiter“ die imitatio (Nachahmung) aufruft und dieser mit der Formel „[égaler] mon modèle“ die aemulatio (wetteifernde Nachahmung) beigesellt. Erneut figuriert die mütterliche Empathie als Garant für die Wahrhaftigkeit der geschilderten Gefühle. Caroline Wuiet selbst fürchtet sich offenbar weniger davor, als gelehrte Frau verspottet zu werden, sondern stellt ihr sprachliches Ausdrucksvermögen

61 Wuiet, Note du traducteur, S. 265.

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offensiv zur Schau. Wie ist dieses Manöver einzuordnen? Offensichtlich empfindet Wuiet den Rahmen, den sie sich mit der Anmerkung eröffnet, als einen dem Urteil von Leserschaft und Kritik entzogenen Raum, in dem sie sich frei fühlt, ein als Übersetzung getarntes, tatsächlich aber selbst verfasstes Gedicht zu exponieren. Gleich darauf ruft Wuiet erneut eine männliche Autorität auf, die ihre freie Übersetzung legitimiert; in diesem Fall ist es der CervantesÜbersetzer Jean-Pierre Claris de Florian (1755–1794), demzufolge bei Unterhaltungswerken die Regel gelte, „la traduction la plus agréable“ sei „à coup sûr la plus fidèle“.62 Wuiets Pseudoübersetzung lässt sich als Akt mehrfacher Grenzüberschreitung bzw. Grenzreflexion bezeichnen. Bereits mit der Entscheidung für das Genre des Schauerromans erschließt sich die getarnte Autorin ein neues Tätigkeitsfeld. Doch auch und gerade im Rahmen der fingierten Paratexte thematisiert sie die ihrem Geschlecht auferlegten Restriktionen in vielfacher Weise, sei es durch den Rekurs auf männliche Autoritäten oder in der Darstellung gängiger Vorbehalte gegenüber gelehrten Frauen. Dabei werden die eng gesteckten Grenzen weiblicher Kreativität aufgezeigt, nur um anschließend unterwandert zu werden, wenn Wuiet vorgibt, ein von einer weiblichen Romanfigur vorgetragenes Gedicht zu tilgen, um es dann in einer Anmerkung selbstbewusst in der eigenen Übersetzung zu präsentieren. Préface und Note du traducteur fungieren als prädestinierte Orte eines emanzipatorisch motivierten Aushandlungsprozesses, in dem die Rolle der (schriftstellerisch tätigen) Frau hinterfragt wird. In einem aufwendig inszenierten Akt sondiert Wuiet das Spektrum spezifisch weiblicher Zuschreibungen – von außen auferlegte wie vom Sprecher-Ich reklamierte; ein Spektrum, das von der mütterlichen Empathie als literarischer Inspirationsquelle über das Tabu weiblicher Gelehrsamkeit bis hin zum selbstbewusst vorgetragenen Anspruch auf sprachliche Kunstfertigkeit reicht. Die Diskussion exemplarischer Übersetzungs- bzw. Schreibstrategien aus dem Roman Couvent de Sainte Catherine hat gezeigt, dass die Initialmotivation zu dieser fingierten Übersetzung nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine gesellschaftskritische gewesen sein muss: Die „mystificatrice“ 63 Caroline Wuiet eröffnet sich im Rahmen ihrer Pseudoübersetzung einen Spielraum, in dem sie durch kreative Eingriffe geschlechtsspezifische Normen reflektiert und problematisiert.

62 Wuiet, Note du traducteur, S. 265. 63 Prungnaud, La traduction du roman gothique anglais, S. 20.

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III Fazit Meta Forkel und Caroline Wuiet repräsentieren mit den hier vorgestellten Werken zwei unterschiedliche Facetten der kreativen weiblichen Übersetzungspraxis in Deutschland und Frankreich um 1800. In ihrer jeweiligen Doppelrolle – als Übersetzerin, die auch schreibt, bzw. als Autorin, die vorgibt, zu übersetzen – bewegen sie sich im Spannungsfeld weiblicher Autorschaft zwischen „Emanzipationsanstrengung, Erwerbsarbeit und Kunstanspruch“.64 Während Meta Forkels übersetzerische Anmerkungen nur zaghafte Kritik an den restriktiven Rollenmustern der Epoche üben und die konservativen Grundsätze der Lady Carlisle nicht grundsätzlich in Frage stellen, inszeniert Caroline Wuiet in ihrer fingierten Ann Radcliffe-Übersetzung eine aufwendige, weibliche Rollenmuster unterminierende Camouflage, mit der sie sich neue künstlerische Ausdrucksformen erschließt. So unterschiedlich die inhaltlichen Stoßrichtungen von Wuiets und Forkels Interventionen auch sein mögen: Beide Frauen bedienen sich der Übersetzung bzw. der Übersetzungsinszenierung als eines prädestinierten Mediums, um die Rollen von Frauen in der Gesellschaft im Allgemeinen und ihre eigene Rolle als Literatin im Besonderen zu reflektieren.

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64 Diese drei Aspekte, die Sigrid Weigel mit Blick auf die „Literaturproduktion von Frauen“ im Allgemeinen anführt, lassen sich m. E. nach auch und gerade gewinnbringend auf die weibliche Übersetzungspraxis anwenden. Vgl. Sigrid Weigel, „... führen jetzt die Feder statt der Nadel.“ Vom Dreifachcharakter weiblicher Schreibarbeit – Emanzipation, Erwerb und Kunstanspruch. In: Frauen in der Geschichte IV: „Wissen heißt leben ...“ Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Ilse Brehmer und Annette Kuhn, Düsseldorf 1983, S. 347–367, hier S. 365.

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[Forkel-Liebeskind, Margaretha Dorothea], Fragmente zu einem Versuche über weibliche Delikatesse. In: Für junge Frauenzimmer sich und ihre künftigen Männer glücklich zu machen. Nach dem Englischen der Gräfin von Carlisle. Nebst einem Versuch der Uebersetzerin über weibliche Delikatesse, Leipzig 1791, S. 105–134. Schiller, Friedrich, Werke (= Nationalausgabe), begr. von Julius Petersen, fortgef. von Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hrsg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers, Weimar 1943 ff. Wuiet, Caroline, Le couvent de Sainte Catherine, ou Les mœurs du XIIIe siècle, roman historique d’Anne Radcliffe, traduit par Mme la baronne Caroline A***, née W*** de M**, Tome II, Paris 1810. Wuiet, Caroline, Préface [zum Couvent de Sainte Catherine]. In: Recueil de préfaces de traducteurs de romans anglais 1721–1828. Anthologie réunie et commentée par Annie Cointre et Annie Rivara. Saint-Etienne 2006, S. 173–175.

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Übersetzung, Adaption und Genretransfer um 1800 Sophia Lees Roman The Young Lady’s Tale. The Two Emilys und Charlotte von Steins Drama Die zwey Emilien „Through the ages translation has been figured as something feminine. The language and metaphors used to discuss it are often highly gendered: translation is spoken about in terms of fidelity, faithfulness, inferiority and betrayal“.1 Mit dieser Überlegung eröffnet Hilary Brown ihre Studie zu Luise Gottsched the Translator, in der sie statt der in den vergangenen zwei Jahrzehnten weit häufigeren Untersuchung von Gottsched als ,Original‘-Dramatikerin das Augenmerk auf deren wesentlich umfangreichere Übersetzungstätigkeit richtet. In Misskredit, was das Verhältnis von Originalität und Adaption betrifft, war die Autorin bereits im 18. Jahrhundert geraten: Lessings im 17. Literaturbrief harsch geäußerte Kritik an Johann Christoph Gottscheds patchwork-Produktion des deutschsprachigen dramatischen ,Erstlings‘ Cato2 gerät im Rahmen der Hamburgischen Dramaturgie zu einem Verdikt auch gegen Frau Gottsched, unter anderem angesichts ihrer Übertragung der Cenie von Grafigny, bei der sie, Lessings Einschätzung gemäß, die ‚Sprache des Herzens‘ des französischen Originals verfehlt habe.3 Demgegenüber wird niemand leugnen wollen, dass

1 Hilary Brown, Luise Gottsched the Translator, Rochester/New York 2012, S. 9. 2 Johann Christoph Gottscheds übersetzender Zusammenschnitt zweier Dramen von Deschamp und Addison erschien 1731 unter dem Titel Sterbender Cato; in seinen Vorreden zu mehreren weiteren Drucken betont Gottsched wiederholt den Initialcharakter seines nun meist nur als Cato betitelten Stücks, z. B. anlässlich des Neudrucks in: Die deutsche Schaubühne nach den Regeln und Mustern der Alten, Bd. 1, Leipzig 1742, S. 12 f.: „Erstlich zwar ist dieses Stücke in der That das erste, welches bey der letzten Verbesserung unsrer deutschen Schaubühne, die seit zwölf Jahren erfolget ist, ans Licht getreten ist. […] War es nun also nicht billig, dieses Stück, das der neuern tragischen Poesie bey uns die Bahn gebrochen, auch in den 1. Band dieser Sammlung theatralischer Stücke einzurücken?“ [meine Hervorhebungen]. Lessing hatte sich über Gottscheds Versuch der Selbst-Kanonisierung in seinem 17. Literaturbrief mokiert, letzterer habe, „wie ein Schweizerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere seinen ,Cato‘“ verfertigt. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hg. von Herbert Georg Göpfert, Bd. 5, Darmstadt 1996, S. 71. 3 Vgl. Gaby Pailer, „Dieses vortreffliche Stück der Graffigny mußte der Gottschedin zum Übersetzen in die Hände fallen“. Lessings Umgang mit ,Theaterfrauen‘. In: Lessing Yearbook, 41, 2014, S. 237–252. https://doi.org/10.1515/9783110542202-012

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es sich bei Lessings eigenen Übertragungen von Dramen und Schriften Diderots um avancierte Kulturleistungen handelt,4 wie auch niemand ihm die Amalgamierung narrativer und dramatischer französisch- und englischsprachiger Quellen zur Herausformung des neuen Genremusters ‚bürgerliches Trauerspiel‘ als einfallslose Adaptionsvorgänge ankreiden würde. Vorgänge der Übersetzung, Adaption und des Genretransfers gelten also nicht per se als minderrangig, jedenfalls nicht, solange die Literaturbeziehung zwischen angesehenen männlichen Akteuren im literarischen Feld verläuft.5 Anders verhält es sich im Falle von Autorinnen, wie etwa der Hamburger Actrice und Theaterautorin Friederike Sophie Hensel, deren Drama Die Familie auf dem Lande (1770) als das erste ,bürgerliche Trauerspiel‘ weiblicher Feder gelten kann, als solches jedoch bislang nur marginal wahrgenommen wurde. Ein Grund hierfür mag sein, dass es sich um die Adaption eines Romans handelt, der Conclusion of the Memoirs of Miss Sidney Bidulph (1767) von Frances Sheridan, was neben dem allgemeinen gender-Vorurteil zum Verdacht mangelnder Originalität geführt haben mag.6 Ähnlich wie das Lob der schauspielerischen Brillanz Hensels – für das Lessing abermals federführend war – das Interesse an ihr als Dramatikerin mit Hartnäckigkeit überwog, war für Charlotte von Stein seit je das biographische Interesse vorherrschend, und zwar in strikter Relation zu Johann Wolfgang von Goethe. Erst seit den 1990er Jahren

4 Vgl. hierzu die Neuausgabe: Das Theater des Herrn Diderot. Zweisprachige, synoptische Edition von Denis Diderots „Le Fils naturel“ (1757) und „Le Pere de famille“ (1758) sowie den „Entretiens sur Le Fils naturel“ und dem Essay „De la Poésie dramatique“ in der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings (1760), hg. von Nikolas Immer und Olaf Müller, St. Ingbert 2014. 5 Auch Literaturbeziehungen zwischen den von Lessing bearbeiteten englischen und französischen Autoren sind hierfür von Interesse, z. B. zwischen Richardson und Diderot. Edward Moore, bekannt als Autor des Trauerspiels The Gamester (1753), verwarf den Plan, Samuel Richardsons Clarissa, or the History of a Young Lady (1747–1748) zu dramatisieren; wenig später bearbeitete er einen anderen zeitgenössischen Roman für die Bühne, Alain-René Lesages Histoire de Gil Blas de Satillane (1715–1735). Vgl. Anthony Amberg, Introduction. In: Edward Moore, The Foundling A Comedy and The Gamester A Tragedy, hg. von Anthony Amberg, Newark/London 1996, S. 45–128, hier S. 82 f. Für den vorliegenden Zusammenhang des übersetzerischen Kulturtransfers zum Genre des ,bürgerlichen Trauerspiels‘, bei dem Moore eine weit bedeutendere Rolle als George Lillo zukommt, vgl. Norbert Greiner, Die Arbeit am Trauerspiel. Zur übersetzerischen Rezeption von Edward Moores The Gamester im 18. Jahrhundert. In: Komödie und Tragödie – übersetzt und bearbeitet, hg. von Ulrike Jekutsch, Fritz Paul, Brigitte Schultze und Horst Turk, Tübingen 1994 (Forum Modernes Theater Schriftenreihe 16), S. 303–323. 6 Vgl. Gaby Pailer, Narrativer und dramatischer Modus. Zur Bühnenadaption von Frances Sheridans Sidney Bidulph-Romanen in Friederike Sophie Hensels Die Familie auf dem Lande / Die Entführung. In: Lenz-Jahrbuch, 18, 2011, S. 27–48; Susanne Kord, Tugend im Rampenlicht. Friederike Sophie Hensel als Schauspielerin und Dramatikerin. In: The German Quarterly, 66.1,

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wurde sie auch als Autorin literarischer Schriften entdeckt,7 wobei die Beschäftigung mit ihrem Drama Dido (entstanden um 1794) dominiert. Überliefert ist das Drama als Teil einer Edition der Briefe Goethes an Frau von Stein,8 eingebettet also in einen epistolaren Genrezusammenhang. Rezipiert wurde es zeitgenössisch als Schlüsseldrama, durch die Identifizierbarkeit einzelner Charaktere mit Weimarer Persönlichkeiten, allen voran Goethe. Erst in jüngerer Zeit wurde das Stück als Antikendrama neu gewürdigt, überwiegend im Vergleich zu Goethes Iphigenie auf Tauris (1779/1786), dem Prototypen gelungener Anverwandlung eines traditionsreichen antiken Stoffes an die Kulturkonzeption der Weimarer Klassik.9 Der einzige Text Steins, den sie zu Lebzeiten (anonym) zur Veröffentlichung freigab, ist Die zwey Emilien (1803). Allerdings widerfuhr diesem in der Forschung weit weniger Aufmerksamkeit als Dido und auch der Komödie Neues Freiheits-System, zum einen wohl, weil keine Handschrift erhalten ist, zum zweiten, weil der Untertitel „Nach dem Englischen“ 10 das Stück als Adaption markiert. 1993, S. 1–19. Eine Neuausgabe der zweiten Auflage von 1772 besorgte Anne Fleig: Friederike Sophie Hensel, Die Entführung, oder: Die zärtliche Mutter, Hannover 1998. 7 Vgl. Charlotte von Stein, Dramen (= Gesamtausgabe), hg. von Susanne Kord, Hildesheim/ Zürich/New York 1998. Es handelt sich hier um eine Faksimile-Ausgabe früherer Drucke mit Seitenzählung der Originale. Eine Neuausgabe existiert bislang nur von: Charlotte von Stein, Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe, hg. von Linda Dietrick und Gaby Pailer, Hannover 2006, basierend auf der Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv (GSA 122/5). Eine zweisprachige Neuausgabe des Dramas Dido planen Gaby Pailer und Laura Isakov für 2019. 8 Vgl. Goethes Briefe an Frau von Stein, hg. von Adolf Schöll, 2. vollst. Aufl. bearb. von Wilhelm Fielitz, Bd. 2, Frankfurt am Main 1885, S. 489–534 (Text) und 685–690 (Kommentar). 9 Frühe Beiträge zu Steins Dido: Arnd Bohm, Charlotte von Stein’s Dido, Ein Trauerspiel. In: Colloquia Germanica, 22, 1989, S. 38–52; Linda Dietrick, Woman’s State. Charlotte von Stein’s ,Dido. Ein Trauerspiel‘ and the Aesthetics of Weimar Classicism. In: Verleiblichungen. Literatur und kulturgeschichtliche Studien über Strategien, Formen und Funktionen der Verleiblichung in Texten von der Frühzeit bis zum Cyberspace, hg. von Burkhardt Krause und Ulrich Scheck, St. Ingbert 1996, S. 111–131; Susanne Kord, Not in Goethe’s Image. The Playwright Charlotte von Stein. In: Thalia’s Daughters. German Women Dramatists from the Eighteenth Century to the Present, hg. von Susan L. Cocalis und Ferrel Rose, Tübingen 1996, S. 53–75; Sarah Colvin, Bitter Comedy. The Dramatic Writing of Charlotte von Stein. In: Harmony in Discord: German Women Writers in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, hg. von Laura Martin, Oxford/ New York 2001, S. 145–160. Eine vollständig neue Perspektive auf Charlotte von Stein eröffnete die ihr gewidmete Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 2017, begleitet von einem Symposium, dessen Beiträge in dem Band: Charlotte von Stein. Schriftstellerin, Freundin, Mentorin, hg. von Elke Richter und Alexander Rosenbaum, Berlin 2018, erscheinen werden; s. hierin: Gaby Pailer, „Mein Betrug war gerechte Rache …“. Identitätsschwindel als female empowerment in Charlotte von Steins Die zwey Emilien (1803). 10 [Charlotte von Stein], Die zwey Emilien. Drama in vier Aufzügen. Nach dem Englischen, Stuttgart 1803. Hier verwendete Ausgabe: Dramen, hg. von Susanne Kord, Hildesheim/Zürich/

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Das klassisch-romantische Zeitalter um 1800, in das Steins dramatische Produktivität fällt, ist bekannt für die zugespitzte Geschlechterdichotomie, die auch dafür sorgt, dass eine grundsätzliche Refeminisierung des Übersetzungsgedankens erfolgt: „Increasingly, translation became associated with women’s writing and manual labour and was relegated (from the perspective of the cultural elite) to a second-class form of writing“.11 Ein interessantes zeitgenössisches Beispiel bildet Friederike Helene Unger, die u. a. den für das moderne Genre der Autobiographie als prototypisch geltenden Text, Jean Jacques Rousseaus Confessions (an deren Anzüglichkeiten sich Johann Joachim Christoph Bode nicht die Finger verbrennen wollte), ins Deutsche überträgt.12 Für dieses Phänomen ,weiblicher‘ Eindeutschung eines ,männlichen‘ Kanon-Textes verdient Beachtung, dass die für das Genre der Autobiographie seit Lejeunes These vom pacte autobiographique (1975) angenommene Personalunion von Autor und Protagonist nur idealiter existiert. Tatsächlich, so argumentiert Liz Stanley in ihrer Studie The Auto/Biographical I,13 handelt es sich bei der Autobiographie lediglich um einen Spezialfall der Biographie, bei der strukturanalytisch Autor und Protagonist weiterhin als getrennte Instanzen zu nehmen sind. Der Impetus, mit dem Rousseaus Confessions anheben, ist im Grunde nichts anderes als die narrative Selbstsetzung des unverwechselbar originalen, auktorialen, männlichen Ich: Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple et dont l’exécution n’aura point d’imitateur. Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; et cet homme ce sera moi. Moi seul.14

Im Übersetzungsvorgang wird die erzählerisch inszenierte Autorfunktion und, damit einhergehend, die Protagonistenfunktion modifiziert, was in Bezug auf den gender-Wechsel im Falle Unger/Rousseau die inszenierte Einstimmigkeit

New York 1998. Eine Neuausgabe auch dieses Stückes ist in Vorbereitung: Die zwey Emilien, hg. von Gaby Pailer und Laura Isakov, Hannover 2019. 11 Diana Spokiene, Introduction. Rethinking the Role of Translation and Translating in German Studies. In: Translation and Translating in German Studies, hg. von John L. Plews und Diana Spokiene, Waterloo 2016, S. 1–14, hier S. 3. 12 Hierzu vgl. Alexander Nebrig, Helene Ungers Übersetzung des ersten Teils von Rousseaus Confessions im Kontext der deutschen Bekenntnisliteratur um 1800. In: Übersetzungskultur im 18. Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, hg. von Brunhilde Wehinger und Hilary Brown, Hannover 2008, S. 87–119. 13 Liz Stanley, The Auto/Biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/Biography, Manchester 1992. Ihr Bezug gilt Philippe Lejeune, Le pacte autobiographique, Paris 1975. 14 Jean-Jacques Rousseau, Les Confessions. Livres I–IV, hg. von Catherine Bouttier-Couqueberg, Paris 1998, S. 43.

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des Ausgangstextes in eine interkulturelle Mehrstimmigkeit des Zieltextes überführt. Die von Brown konstatierte Metaphorik der Weiblichkeit in Bezug auf Übersetzung verläuft im 18. Jahrhundert also parallel zur zunehmend genderdichotomen Vorstellung von Literaturproduktion als ,autonomer‘ (und tendenziell ,männlicher‘) oder ,heteronomer‘ (und tendenziell ,weiblicher‘) Tätigkeit. Wichtig ist es mir daher, in der nachfolgenden Fallstudie zwischen ,Übersetzung‘ (als Produkt) und ,Übersetzen‘ (als Tätigkeit) zu unterscheiden15 und damit Vorgänge von Kulturtransfer und Dialogizität an die Stelle von Originalitäts- und Wertungsdiskursen treten zu lassen.16 Charlotte von Steins Die zwey Emilien stellt die deutschsprachige Dramatisierung von Sophia Lees Roman The Young Lady’s Tale. The Two Emilys (1798)17 dar, wobei Stein – so meine These – die narrative, dem Konzept der poetischen Gerechtigkeit folgende Melodramatik Lees in dramatische Tragikomik überführt. Während bei Lee die betrügerische Emily Fitzallen der noblen Emily Lenox, gebürtige Arden, Erbschaft und Gatten abjagen will und am Ende mit Krankheit, Siechtum und frühem Tod abgestraft wird, gerät sie bei Stein zur heimlichen Heldin, die am Ende Maskerade und Betrug in geradezu frühfeministischer Weise rechtfertigen darf und ungeschoren davonkommt. Für Handlungsaufbau und Figurencharakteristik sind einerseits Naturkatastrophen, insbesondere das sizilianisch-kalabrische Erdbeben von Messina (1783),18 wie andererseits der Einsatz schauerromantischer Elemente (nächtliche Geistererscheinungen, Scheintote) in der Transformation vom Roman zum Drama bedeutend. Leitmotivisch fungiert der Katastrophendiskurs sowohl in motivischer als auch in struktureller bzw. roman- und dramenpoetologischer Hinsicht. Im Folgenden soll zunächst Lees Roman und sodann Steins Dramati-

15 Vgl. John L. Plews, Diana Spokiene (Hg.), Translation and Translating in German Studies, Waterloo 2016, bes. den Beitrag von Gisela Brinker-Gabler, The Task of the Translator. Walter Benjamin’s Über-setzen in Cross-Cultural Practice, S. 15–26. 16 Vgl. Brunhilde Wehinger und Hilary Brown (Hg.), Übersetzungskultur im 18. Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Hannover 2008; Linda Dietrick und Birte Giesler (Hg.), Weibliche Kreativität um 1800, Hannover 2015. 17 Sophia Lee, The Young Lady’s Tale. The Two Emilys. In: Harriett Lee and Sophia Lee, The Canterbury Tales, Bd. 2, London 1798. Hier verwendete Neuausgabe mit ausführlicher Einleitung, Kommentierung und Bibliographie: The Two Emilys, hg. von Julie Shaffer, London 2009. Der Doppeltitel des Originals wird in der vorliegenden Untersuchung beibehalten, verweist er doch auf den ursprünglichen Veröffentlichungszusammenhang bzw. den expliziten Bezug auf die Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer (vgl. hierzu auch Anm. 44). 18 Ausführliche Materialien, dieses Erdbeben betreffend, stellt Shaffer im Anhang ihrer Neuedition von Lees Roman bereit.

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sierung in den Blick genommen werden, um drittens weitere Intertexte zu berücksichtigen: Jean Racines Phèdre et Hippolyte (1677) und Friedrich Schillers Maria Stuart (1801), letzteres im Vergleich zu Sophia Lees weiterem Roman The Recess, or a tale of other times (1785).

I Ausgangstext: Lees The Young Lady’s Tale. The Two Emilys Der chronologisch und in der dritten Person erzählte Roman The Young Lady’s Tale. The Two Emilys untergliedert sich handlungslogisch in drei größere Teile.19 Die Vorgeschichte um die beiden Vaterfiguren Sir Edward und Duke of Aberdeen behandelt die Umstände, durch die zwei junge Frauen namens Emily um das Erbe der Lady Bellarney und die Gunst des Marquis von Lenox wetteifern: Emily Arden, Tochter Sir Edwards, die nach dem Tod ihrer Mutter auf dem irischen Landsitz Bellarney bei ihrer Tante aufwächst; und Emily Fitzallen, die als Findling zu Lady Bellarney gebracht wird und deren bürgerlichen Namen erhält. Zwar nicht explizit, aber implizit, lässt sich erahnen, dass es sich hierbei um eben jenes Kind handelt, das der Duke of Aberdeen mit der Gesellschafterin seiner Frau zeugte. Zur selben Zeit bringt auch die Duchess of Aberdeen ein Kind zur Welt, einen Sohn, der von seinem Onkel Sir Edward den Titel Marquis of Lenox erhält. Beide Mädchen wachsen bei Lady Bellarney auf. Ihre Ziehtochter Emily Fitzallen gilt als Favoritin und Haupterbin, begibt sich aber eines Abends auf eine Tanzvergnügung, während der Emily Arden zur Pflegerin und Vertrauten ihrer Tante avanciert, die kurz darauf das Testament auf sie umschreiben lässt. Emily Arden und der Marquis von Lenox wurden bereits im Säuglingsalter von ihren beiden Vätern, Sir Edward und dem Duke of Aberdeen, einander als Brautpaar versprochen. Da der herangewachsene Marquis jedoch an dieser arrangierten Heirat mit der ihm unbekannten Cousine nicht interessiert ist und jedwede Begegnung mit ihr meidet, ersinnt Emily Arden eine Maskerade: Auf einem Landfest auf Bellarney, das er nolens volens zu besuchen einwilligt, gibt sie sich als das italienische Landmädchen „Marian“ aus, in das sich der Marquis unwillkürlich verliebt. Im Erzählsystem sind beide jungen Frauen von Anfang an als Gegensätze angelegt, die eine engelhaft blond, blauäugig, voll An-

19 Um die Verwandtschaftsverhältnisse des zahlreichen Romanpersonals auseinanderzuhalten, hilft ein Blick auf die von Shaffer bereitgestellte Stammtafel in: Lee, The Two Emilys, o. S.

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stand und Zartgefühl, die andere schwarzäugig, von rosenfarbenem Teint und hochmütiger Haltung: Miss Arden had blue eyes, long fair hair, and an air of the most exquisite feminine delicacy: the eyes of Miss Fitzallen were dark, penetrating, and impressive. Her complexion was of the white rose teint; and she strove to blend with a haughtiness of countenance, that sweetness which was foreign to her nature, though the genuine expression of her fair companion’s.20

Entsprechend ernten beide für ihre Unternehmungen am Ende – gemeinsam mit ihren Vätern – Segen oder Fluch. Die Haupthandlung des Romans entfaltet im melodramatischen Modus21 die trianguläre Verstrickung zwischen beiden Emilys und dem Marquis of Lennox, indem Sein und Schein, Maskerade und Katastrophenszenarien ineinandergreifen: Hatte Emily Arden sich als Marian verkleidet, um den Marquis für sich zu gewinnen, so wählt Emily Fitzallen die Verkleidung als der junge Maler Hypolito, der den Marquis auf seiner Grand Tour begleitet; als dieser in Messina ihre Verkleidung entdeckt, gibt sie sich als Emily Arden aus und lockt ihn in eine rasche Heirat, deren Vollzug durch den Ausbruch des Erdbebens verhütet wird. Der Marquis wird aus Meeresfluten auf ein Schiff gerettet, auf dem sich Sir Edward befindet; er glaubt Hypolito tot und beginnt sich nach dem Landmädchen Marian zurückzusehnen. Als ihm eben dieselbe kurze Zeit später entgegentritt, nun aber im Reisehabit seiner reichen Cousine Emily Arden, trifft ihn das wie ein ,Nachbeben‘ der kürzlich erlittenen Erderschütterung: The concussion of nature that swallowed up the impostor Hypolito, could alone equal that which now shook the mental system of the Marquis. Yet a single thought was conclusive; a single impulse conviction. Yes, the gracious, the graceful creature, now bending benignly to raise him from the earth where his misery had laid him, was, could be, only the angel daughter of Sir Edward; […] But whence then came the arch-fiend he had at Messina plighted his hand to? […] To his distempered fancy the chamber rocked with the earthquake of Sicily one moment, and the next was illuminated with the visible presence of a guardian angel, in the form of his adored Emily: nor were his slumbers more peaceful; marriage and death, by turns, seemed to demand a victim; and glad was he to see that day break, which restored to his eyes and heart the beloved object, who alone could chase away each painful thought. 22

20 Lee, The Two Emilys, S. 20. 21 Vgl. Peter Brooks, The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New Haven/London 1976. 22 Lee, The Two Emilys, S. 61.

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Doch das Vexierbild von Engel und Dämon drängt sich auch weiterhin in sein neu gefundenes Glück. Auf einem Maskenball anlässlich der Vermählung mit Emily Arden zeigt sich ihm plötzlich Hypolito, den von ihm erhaltenen Ring in die Höhe haltend: Yes, the ghastly phantom appeared in the very same boyish habiliments he wore when the Marquis last beheld him: and, oh! fatal memento of their tremendous meeting, and yet more tremendous parting, held up in full view the ring, the fatal ring, with which the Marquis had wedded the fair, the fascinating impostor.23

Nach der Vermählung dringt Emily Fitzallen mit immer dreisteren erpresserischen Forderungen an ihn heran – sie verlangt Brautschmuck und Prachtequipage seiner Frau –, und es gelingt ihr, Sir Edward gegen seinen Neffen so aufzubringen, dass er sich mit ihm duelliert und ihn zu töten vermeint. Der Marquis jedoch überlebt und entdeckt sich seiner Frau, als diese sich auf einem Landgut unweit Roms aufhält, indem er sich als Statue eines Fauns verkleidet und sie durch nächtliche Musik auf ihn aufmerksam macht. Doch nun kommt eine weitere Naturkatastrophe ins Spiel: Emily Arden schlägt dem Marquis vor, sich eine kursierende Pocken-Epidemie zunutze zu machen; mithilfe eines Arztes täuschen sie Emilys Tod vor und begeben sich dann auf die Heimreise. Allerdings ereilen die junge Marchioness nun tatsächlich die Pocken, und ihr Äußeres wird durch die Krankheit völlig entstellt: „In a few days the delicate skin of Emily was covered by the eruption. In a few more it became confluent. Her beautiful eyes were sealed up; and hardly dared her agonized husband hope ever to see them open“.24 Emily Fitzallen, die just mit ihrem Gefährten Graf Montalvo in der Gegend unterwegs ist, erkennt ihre Konkurrentin Emily Arden nicht wieder.25 Im dritten Teil kehren Marquis und Marchioness mit ihren drei seither geborenen Söhnen nach Bellarney zurück und mieten sich unter dem Inkognito Mr. und Mrs. Irwin im dortigen Bootshaus ein. Ihre in Italien in der Obhut Sir Edwards zurückgelassene Tochter Emily wird eines Tages auf das Gut gebracht, es kommt zur Anagnorisis und Versöhnung von Lenox und seiner Frau mit ihren beiden Vätern. Emily Ardens zweite Maskerade im Roman, das Spiel mit der Pocken-Epidemie, erscheint als Herausforderung von Naturgewalten, für die sie ihren Preis bezahlen musste. Äußere engelhafte Schönheit weicht innerer Reifung und Seelengröße. Diametral entgegengesetzt ist das Ende ihrer Kontrahentin Emily Fitzallen: Auch sie kehrt nach Bellarney zurück, indessen krank und

23 Lee, The Two Emilys, S. 68. 24 Lee, The Two Emilys, S. 148. 25 Vgl. Lee, The Two Emilys, S. 150.

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siech, das Opfer ihrer eigenen Ränke geworden. Wie sie sich in der Jugend durch den Tanz mit falschen Freunden um das Erbe von Bellarney brachte, so wird sie nun von ihren eigenen Bediensteten misshandelt und ausgeraubt. Ihrem ausführlichen Geständnis folgt das Öffnen eines Koffers, der einen Brief ihrer Gönnerin und Namensgeberin enthält sowie einen Schal, der – unverkennbar für Sir Edward und den Duke of Aberdeen – des letzteren ehemaliger Liebhaberin Miss Archer gehörte: Let your father be taken out of the room: – that wretch is his daughter – his own child – by Miss Archer. – Oh! Lenox, she is your sister: – and even earthquakes, in the wonderworking hand of heaven, can, to individuals, become mercy!26

Der Roman endet im Motiv des Geschlechterfluchs. Alles Unglück ist von den Vätern selbst verschuldet, vom Duke, dessen libertinäre Lebenshaltung den frühen Tod von Miss Archer verursachte, und von seinem Schwager Sir Edward als Mithelfer. Doch während Sir Edward einen Großteil seiner Schuld bereits abgebüßt hat, indem er vermeinte, erst seinen Neffen und Schwiegersohn getötet, dann seine Tochter verloren zu haben, und sich mit beiden wiederversöhnen konnte, fühlt der Duke keinerlei Reue: Die wiedergefundene Bastard-Tochter ist ihm lästig, er hofft, dass sie ihre Krankheit nicht überlebt, falls aber doch, wird er sie mit Alimenten abspeisen. Mit dem Gedanken, sein wollüstiges Leben mit dem italienischen Kindermädchen Beatrice fortzusetzen, legt er sich schlafen, doch nur, um von einem fürchterlichen Albtraum heimgesucht zu werden: Suddenly he dreamt that Miss Archer, wrapt in the shawl so lately displayed before his eyes, and holding in her hand her daughter, changed to a negro blackness, stood at his bed-side. The shock of seeing them was doubled, when the mother, in a voice of thunder, told him they were come to claim their own; and gashing with a single stroke, his bosom, they joined to pluck forth his heart, yet spouting with blood, and quivering with life.27

Der Traum von einer nun dunkelhäutigen Miss Archer, die ihm gemeinsam mit ihrer Tochter das Herz aus dem Leibe reißt, löst seinen Tod aus: fast zur selben Stunde wie Emily Fitzallen stirbt er unter einem Dach mit ihr. Sir Edward Arden dagegen erlebt eine Katharsis, „purified from his only fault“, während seine Tochter Emily „Virtue and sweetness“ personifiziert.28 Die melodramatische Modulation von Naturkatastrophen (Erdbeben, Pocken-Epidemie) und sozialen Katastrophen (Duell zwischen Sir Edward und

26 Lee, The Two Emilys, S. 193. 27 Lee, The Two Emilys, S. 198 f. 28 Lee, The Two Emilys, S. 199.

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dem Marquis; Überfall auf Fitzallen) führt zur Katastrophe im dramatischen Sinne, allerdings handelt es sich um eine von Beginn an angelegte, zwischen ,guter‘ und ,böser‘, engelhaft heller und dämonisch dunkler, Emily unterscheidender Abschreckungsdramaturgie, die dem Prinzip poetischer Gerechtigkeit folgt.

II Übertragung und Dramatisierung: Steins Die zwey Emilien Charlotte von Steins Schauspiel Die zwey Emilien 29 erscheint, durch Friedrich Schiller vermittelt, 1803 bei Cotta, unter Anonymisierung von Urheberin wie Herausgeber. Erhellend hierfür ist ein Brief Schillers an Cotta vom 9. Juli 1802, in welchem er nachfragt, ob der Verleger „Scenen aus dem Schauspiel Dido, wovon ich Ihnen gesagt, noch zu dem Damen Calender wünsche[n]“, und zugleich „das ganze Stück von derselben Dame, worüber wir überein gekommen sind“, binnen Monatsfrist zu senden verspricht.30 Nach Schillers unerwartet frühem Tod am 9. Mai 1805 wird das Stück erneut veröffentlicht und nun ihm als Autor zugeschrieben. Es führt den dritten Band der Repertoire-Sammlung Neueste deutsche Schaubühne für 1805 an, die des Weiteren ein Stück von Friedrich Laun, ansonsten sechs „Kleine dramatische Stücke“ von August von Kotzebue enthält.31 Steins Dramatisierung untergliedert sich in vier Akte. Die Handlung verdichtet sich auf wenige Tage in Neapel, etwa zwei Jahre nach dem Erdbeben von Messina – entspricht also dem Mittelteil von Lees Roman. Im Zentrum des

29 Bisher untersucht in Susanne Kords Einleitung zu Stein, Dramen, S. I–XXXIV, hier S. XVII– XXII; sowie kursorisch in: Gaby Pailer, Geliebte Schwestern, getäuschte Bräute. Charlotte Schiller als Dramatikerin. In: Charlotte von Schiller als Dramatikerin, Übersetzerin und Leserin Goethes, hg. von Silke Henke und Nikolas Immer, Weimar 2016, S. 11–34. 30 Friedrich Schiller, Werke (= Nationalausgabe), begr. von Julius Petersen, fortgef. von Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers, Weimar 1943 ff., Bd. 31, S. 149 (Text) und S. 519 (Kommentar) [Hervorhebung durch Sperrdruck im Original]. 31 Vgl. Die zwey Emilien. Ein Drama in vier Aufzügen. Nach dem Englischen, von Friedrich Schiller. In: Neueste deutsche Schaubühne für 1805, 3. Bd., Augsburg 1805, S. 1–208. Eine weitere Neuausgabe des Erstdrucks erfolgte im Jahrbuch der Sammlung Kippenberg, Bd. 3, 1923, S. 132–232. Schließlich erwähnt Julie Shaffer in ihrer Edition von Lees Roman die beiden Drucke des Dramas von Charlotte von Stein (1803, 1805) sowie eine zeitgenössische Übertragung ins Niederländische: The Twee Emilia’s, of De Ontwerpen der Wraakzucht: tooneelspiel in 4 bedrifven. Vgl. Shaffer in Lee, The Two Emilys, S. 276 f.

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ersten Aufzugs steht das Ehepaar, der Marquis von Lenox und seine Frau Emilie. Sie befinden sich in Neapel in Begleitung von Emilies Vater, Sir Eduard Arden. Aus ihren Dialogen und Monologen erhellen wesentliche Aspekte der Vorgeschichte, also des ersten Romanteils: Wie ihre Väter sie als Brautpaar versprochen hatten, der Marquis diesem Arrangement auswich, Emilie ihn aber durch ihre Verkleidung als das Landmädchen „Marie“ für sich gewinnen konnte. Zugleich drängt sich Hypolith in die Erinnerung des Marquis – angespielt wird hier auf die Ring-Episode auf dem Maskenball, die seine längere Krankheit auslöste. Simultan erzählt Emilie ihm von Emilie „Fitz Allen“, die ihr die Gunst ihrer Tante auf „Bellarmony“ geraubt, und die, wie der Marquis zu ahnen beginnt, mit Hypolith identisch ist.32 In der letzten Szene des ersten Aufzugs (I.7) tritt Emilie Fitzallen selbst in Erscheinung, begleitet von Graf Montalto, und beginnt Ansprüche auf Lenox, die Brautjuwelen und die Prachtequipage der Emilie Lenox geltend zu machen. Im zweiten und dritten Aufzug enthüllt sich sukzessive durch in Neapel anwesende Schotten und Engländer Emilie Fitzallens Doppelspiel; zunehmend gewinnt sie an Handlungsmacht und es gelingt ihr, Sir Eduard gegen seinen Schwiegersohn Lenox aufzubringen, so dass er ihn im Klostergarten (wo dieser gerne zur Meditation weilt) zum Duell fordert und, wie er meint, tötet. Der Höhe- und Wendepunkt erfolgt im zunehmend personalreicheren vierten Aufzug mit zwei Dramenschlüssen: Erstens enthüllt sich, dass Emilie Fitzallen die Tochter des Herzogs von Aberdeen ist aus dessen einstiger Affäre mit Miss Archer, und mithin die Halbschwester des Marquis von Lenox – das Erdbeben hatte also einen Inzest verhindert. Zweitens entdeckt Emilie Lenox, dass ihr Mann von ihrem Vater nicht getötet, nur verwundet wurde; das Paar findet sich wieder im Klostergarten, und beide kehren zu ihren Vätern zurück. Strukturell vertauscht Stein die beiden Schlüsse in Lees Roman, wo zuerst die glückliche Wiedervereinigung der Familie auf Bellarney (also die Belohnung der Guten), und erst danach die Enthüllung von Fitzallens Identität als Tochter des Duke (und Bestrafung der Bösen) erfolgt. Der im Roman zur Unterstützung der melodramatischen Handlungsentwicklung aufgerufene Katastrophendiskurs (1. Erdbeben von Messina, Scheintod von Fitzallen/Hypolito, am Ende wirkliches Katastrophenopfer und Tod; 2. Pocken-Infektion als Maskerade, Scheintod von Emily Lenox, später wirkliche Infektion, aber Heilung) ist im Drama komprimiert auf die Motivik von Erdbeben und Duell, der gesamte Handlungsteil der Pocken-Epidemie, des Inkognito als Mr. und Mrs. Irwin sind weggelassen; dafür wird ein Schotte dieses Namens Zeuge von Fitzallens Le-

32 Vgl. Stein, Die zwey Emilien, Szene I.1. Die Schreibweise des Namens weicht hier ab, im Personenverzeichnis und später: Fitzallen.

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bensbeichte, als sie gemeinsam mit anderen im Anschluss an das Erdbeben in einem Keller verschüttet sind.33 Zwar wird Emilie Fitzallen zu Beginn von Emilie Lenox als böse, dämonische Gegenspielerin beschrieben, ihr Auftreten im Laufe des Dramas zeigt sie aber im Unterschied dazu als gewitzte Aktivistin, die traditionelle Geschlechter-Entwürfe, im doppelten Verständnis von gender und Genealogie, spielerisch überschreitet. Im Dialog wird sie insbesondere mit Graf Montalto gezeigt, der neben ihr eine recht schwächliche und lächerliche Gestalt abgibt. Wie bereits aus I.7 hervorgeht, hält sie ihn sich gewogen: „Weil sie mir gefallen, und weil sie einen schönern Namen haben“.34 Sie erzählt ihm von ihrer Maskerade als Hypolith, der raschen Heirat und der Erdbebenkatastrophe. Seither, so erfährt man, nachdem Montalto die Szene verlassen hat, sucht sie den Marquis von Lenox heim, wie ein Dämon, um sich seinen Adelsnamen zu sichern: FITZALLEN. (allein) Mein guter Montalto! du bist noch nicht ins Freye, so lange du dich nicht allein zu beschäftigen weißt, und so lange mirs noch nicht langweilig ist, dir einen Zeitvertreib in meinem Hause zu geben – (sie sinnt nach) Ob ich ihr nur entdecke, durch welche List, und warum ich Lenox zu dieser Heirath mit mir bewog? Ja ich will ganz aufrichtig seyn. Ein volles Vertrauen wiegt manchmal eine böse That auf. Gräfin Montalto ist ein ehrenvoller Name; doch Lady Lenox, den Namen soll die stolze Emilie mir theuer bezahlen! (ruft) Petrino! Petrino!35

In der nächsten Dialogszene mit ihm (II.9) will sie einerseits Sir Eduard „die Schreckenspost [bringen], daß seiner Tochter Ehe ungültig sey“, und andererseits zum Herzog von Aberdeen nach Schottland, „meine Beweise dort niederzulegen“.36 Im Umgang mit Montalto verkehrt sie dabei die traditionellen Geschlechterrollen bzw. zitiert die traditionell weibliche Rolle, indem sie ihn fragt: „[S]oll ich jetzt demüthig bitten mir zu folgen, oder muß ich Ohnmachten und Krämpfe bekommen, um sie zu interessiren?“ 37 Im dritten Aufzug droht Fitzallen, den Kutscher zu entlassen, weil er die Emilie Lenox entwendete Kutsche „gegen meinen ausdrücklichen Befehl, zu rennen wie im Wettlauf, wenn er jemand von Eduards Livree sähe, so langsam gefahren [habe], als säß ich in einem Schneckenhaus“.38 Das resolute Auftreten Fitzallens erinnert hier gar an erlittene Unbilden mit Fuhrmann und Pferdegespann auf Charlotte von Steins Reise zu Sohn Fritz nach Strachwitz bei Breslau, wovon sie Charlotte Schiller

33 34 35 36 37 38

Vgl. Stein, Die zwey Emilien, Szene II.12. Stein, Die zwey Emilien, S. 24. Stein, Die zwey Emilien, S. 27. Stein, Die zwey Emilien, S. 47. Stein, Die zwey Emilien, S. 48. Stein, Die zwey Emilien, S. 65.

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am 20. April 1803 ausführlich berichtet; nach allerhand Verhandlungen, ihn zur Weiterfahrt zu bewegen, unterbreitet sie ihm schließlich den Vorschlag, „ob er sich nicht mit samt den Pferden im Wagen setzen wolte und mich vorspannen; dies nahm er sehr übel […]“.39 Bemerkenswert für die Figurenzeichnung ist, dass Emilie Fitzallen am Ende tatsächlich erreicht, worauf sie am meisten aus ist: einen legitimen Adelsnamen und -titel zu erhalten. Im vierten Aufzug kommt es zur Konfrontation mit dem Herzog von Aberdeen und Sir Eduard, die einstweilen noch vom Tod des Marquis von Lenox ausgehen. Da es sich um die Schlüsselszene handelt, soll sie ausführlich zitiert werden: HERZOG. Ich verzeihe dir den Tod meines Sohnes. Auch den der unglücklichen Miß Archer verzeihe ich dir. Ich will mein Unrecht an ihr so viel ich kann, wieder gut machen. – Emilie Lenox und ihr Kind, die uns noch gerettet sind, nehme ich als meine rechtmäßigen Kinder an. Diese Fitzallen versorge ich in einem Kloster. FITZALLEN. Wie Milord! Mich in ein Kloster, in diese mir verhaßten Mauern, wer giebt Ihnen diese Gewalt über mich? HERZOG. Es ist die mildeste Strafe, ja eine nur zu ehrenhafte Vergeltung Ihres Betrugs. FITZALLEN. Mein Betrug war gerechte Rache. – Ja, es bleibt wahr und gewiß. Nie standen die Frauen an ihrem gehörigen Platze, weder nach der Ordnung der Natur, noch nach dem Vertrag der gesellschaftlichen Einrichtung. Was der einen gelingt, stürzt die andere herab. Vorzügliche Eigenschaften schaden ihnen oft, oft nutzen ihnen ihre Fehler und tragen sie aus einer unbekannten Sphäre zu einer höhern Rolle empor. Einmal sind wir alles und bald darauf nichts – Aber ich habe eine Männerseele und will auf keine Art Fesseln tragen (sie geht ab). IRWIN. Das ist ja eine wahre Amazone! HERZOG. Gut, das sie fort ist! Lassen Sie uns die arme Emilie aufsuchen. EDUARD. O möchte mich ihre Unschuld, wie ein Feuer von jedem Flecken läutern (alle ab).40

Das Motiv des Geschlechterfluchs (im Sinne von genealogischer Schuld) mit der zur schwarzen Furie mutierten Miss Archer, deren sprechender Name (‚Bogenschützin‘) zu phallisch-vampyrischer Dimension anwächst, wird bei Stein positiv gewendet, insofern Fitzallen ihren Betrug als für ihr Geschlecht (gender) notwendige Maßnahme deklarieren darf, ohne dass ihr just wiedergefundener ‚natürlicher‘ Vater etwas dagegen tun könnte. Seine Vorstellung, sie in einem Kloster zu versorgen, straft sie Hohn, denn als Bastard steht sie außerhalb seiner väterlichen ‚Gewalt‘.

39 Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Signatur: GSA 83/1856,4 [Transkription G. P.; Orthographie wie im Original]. 40 Stein, Die zwey Emilien, S. 128 f.

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Durch die vertauschte Chronologie der Schlüsse wird zudem die scharfe Kontrastierung beider Frauen aufgehoben, denn bei beiden Emilien geht es um Möglichkeiten weiblicher Entwicklung und Selbstbehauptung. Emilie Lenox besteht auf ihrer Liebe zum Marquis, die sie durch ihren „unschuldigen Betrug“ 41 errungen hat. In Solidarität mit ihrem Mann, der von Fitzallen erpresst wird, will sie ihrem Vater „eine ehrliche Lüge erdichten“,42 ihn „hintergehen“;43 nachdem sich ihr Vater mit diesem duelliert und von ihr verlangt, ihren Geburtsnamen wieder anzunehmen, weigert sie sich, und wird für ihr selbstbewusstes Handeln am Ende durch die Wiedervereinigung mit dem Geliebten belohnt.

III Intertexte: Racines Phèdre et Hippolyte und Schillers Maria Stuart Das Vertauschen der Traumvision einer ‚schwarzen Furie‘ im Roman gegen den Eindruck einer ‚wahren Amazone‘ im Drama lässt aufmerken: Sicher nicht zufällig erinnert der Name Hypolito/Hypolith an Racines Tragödie Phèdre et Hippolyte (1677).44 Hippolyte, Sohn des Thésée (Theseus) und der Amazonenkönigin Antiope, ist als Figur selbst amazonisch-androgyn gezeichnet. Er lebt priesterlich-zölibatär, verwahrt sich gegen Nachstellungen seiner Stiefmutter Phèdre (Phädra), liebt derweilen die von seinem Vater verfolgte Prinzessin Aricie und kommt am Ende tragisch um, verfolgt und zerfetzt von einem vom Meeresgott aus der See gesandten Ungeheuer – veranlasst durch seinen Vater Thésée. Verschiedene motivische Elemente finden bei Lee und Stein Modulationen: der amazonisch-androgyne Hypolito/Hypolith alias Fitzallen als vermeintliches Erdbebenopfer, das wie eine Geistererscheinung auf Arden und die Familie wirkt. Weitere für tot Gehaltene sind Thésée im Drama Racines,45 der Mar41 Stein, Die zwey Emilien, S. 11. 42 Stein, Die zwey Emilien, S. 36. 43 Stein, Die zwey Emilien, S. 41. 44 [Jean] Racine, Phèdre et Hippolyte. In: Œuvres complètes. I. Théâtre – Poésie, hg. von Georges Forestier, Paris 1999, S. 815–904. Lees Roman spielt zudem im doppelten Titel auf Chaucers Canterbury Tales an (vgl. Anm. 17), deren erste, „The Knight’s Tale“, von Theseus, seiner Amazonenbraut „Ypolita“ und deren schöner jüngerer Schwester „Emelye“ handelt. Letztere ist das von zwei thebanischen, von Theseus nach Athen verschleppten Rittern, umkämpfte Liebesobjekt, deren einer am Ende von einer Furie niedergestreckt wird. Vgl. The Complete Works of Geoffrey Chaucer, hg. von Fred Norris Robinson, Boston u. a. 1933, S. 29. 45 Im zweiten Aufzug wird der Tod des Thesée vermutet (II.1), da er es gewagt hat, in den Hades hinabzusteigen, um die Frau eines Freundes heraufzuholen. Dies veranlasst Phèdre,

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quis bei Lee und Stein; in der Romanversion kommt Emily Arden hinzu, die durch ihren vorgetäuschten Tod an den Pocken der Situation in Italien entfliehen kann, dann aber von derselben Epidemie tatsächlich heimgesucht wird. Auf weiterer Ebene wäre die Rolle der Bedienten zu vergleichen, z. B. die bedingungslose und geradezu kongeniale Loyalität Connors gegenüber Emily Arden, im Unterschied zur Amme Phèdres, die gegenüber dem zurückkehrenden Thésée Phèdres Liebesbegehren in den Vorwurf der sexuellen Nachstellungen Hippolytes verkehrt.46 Bei Lee und Stein fungiert die Maskerade als Hypolito/Hypolith gleichermaßen, um den Marquis in eine rasche Heirat zu locken, die der Himmel dann durch das Erdbeben trennt, bei Lee in narrativ-melodramatischer Modulation und mit poetisch gerechtem Ausgang, bei Stein mit der ironischen Wende zum guten Ausgang für alle Figuren. Im Roman ist Emily Fitzallen eine schuldhafttragische Figur, die sich eher mit Phèdre als mit Hippolyte vergleichen lässt; da ihr Vater, der Duke of Aberdeen, in Wahnvorstellungen und Tod endet, lässt sich hier eine Referenz auf das antike Motiv des Geschlechterfluchs erkennen. Im Drama dagegen wird ihr androgynes Maskenspiel sukzessive enthüllt und es kommt am Ende zu einer direkten Konfrontation, aus der Emilie Fitzallen siegreich – als bewunderungswürdige Amazone – hervorgeht. Zwar hat Friedrich Schiller Racines Tragödie bekanntermaßen ins Deutsche übertragen, allerdings erst 1805, so dass seine Übersetzung als Anregung für Stein ausscheidet.47 Beachtung verdient aber unbedingt seine Maria

mit ihm ins Gespräch bezüglich der Herrschaftsnachfolge zu treten, bei dem sie unfreiwillig ihre brennende Liebe für ihn preisgibt (II.5). 46 Im dritten Aufzug kehrt der tot geglaubte Thesée überraschend zurück, und die Amme versucht ihre Herrin vor einer möglichen Enthüllung des Hippolyte zu schützen, indem sie ihn als den Aggressor ausgibt (III.1). Dies veranlasst Thesée, Neptune anzurufen (IV.3 u. passim), seinen Sohn zu richten. Im fünften Aufzug stürzt sich die Amme in die Meeresfluten (V.5); sodann wird von Verfolgung, Verstümmelung und Tod des Hippolyte berichtet (V.6), und schließlich gesteht Phädra ihre Schuld und stirbt an dem zuvor eingenommenen Gift (V.7). 47 Vgl. Friedrich Schiller, Phädra. Trauerspiel von Racine. In: Schiller, Werke (= Nationalausgabe), Bd. 15/II, S. 274–387 (Text), S. 576–707 (Kommentar). Der Erstdruck erschien postum mit einer kurzen Einleitung Cottas als: Phädra / Trauerspiel / von / Racine. / Uebersezt / von / Schiller. / Tübingen / in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung / 1805. Im selben Band der Nationalausgabe findet sich Friedrich Schillers Übertragung der ersten Szene von Racines Britannicus (S. 256–265 Text, S. 267–273 Faksimile der Handschrift, S. 541–575 Kommentar). Auch von Charlotte Schiller existiert eine bisher allerdings unveröffentlichte Britannicus-Übertragung, die alle fünf Akte umfasst (Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Signatur: GSA 83/1634). Vergleicht man die von beiden übersetzte Szene I.1, so wird deutlich, dass Charlotte Schillers Übertragung unabhängig von der Friedrich Schillers ist, obschon auch sie den Blankvers als Versmaß wählt. Die Arbeit beider an den Dramen Racines wäre indes eine gesonderte Untersuchung wert.

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Stuart,48 in der er eine alternate history entwirft, indem er als Höhe- und Wendepunkt das Gipfeltreffen der beiden Königinnen setzt, die sich historisch nie begegnet sind. In ihrer dramatischen Romanadaption Die zwey Emilien entfaltet Stein eine ganz ähnliche Fragestellung: Wer ist hier Bastard, wer die wahre Königin? Von Interesse ist der Vergleich mit dem Maria Stuart-Stoff auch deshalb, weil von Sophia Lee ein bereits früherer Roman existiert, The Recess or A tale of other times (1785),49 in welchem Zwillingstöchter der schottischen Mary Stuart von der englischen Elizabeth verfolgt werden. Lees Roman wurde bisher nur ansatzweise als mögliche Anregung Schillers in Erwägung gezogen, und zwar mit Blick auf die Mortimer-Figur, die bislang als rein fiktiv galt.50 Indes ist die Frage, ob Schiller den Roman kannte, für den vorliegenden Zusammenhang sekundär, es geht vielmehr um Steins mögliche Bekanntschaft mit Lees The Recess in Ergänzung zu Schillers Drama. Lees Roman wurde bisher als historischer Roman gelesen, der an das Genre der gothic novel angrenzt.51 Der bereits 1785 erschienene Roman ist in drei Bücher untergliedert, die jeweils in zwei Abschnitte unterteilt sind. Anders als The Young Lady’s Tale. The Two Emilys handelt es sich um einen Brief- bzw. Memorienroman.52 Erzählerin der Haupthandlung ist Matilda, eine der zwei Töchter Mary Stuarts, die gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Ellinor in einem unterirdischen Versteck aufwächst, bis sie eines Tages Lord Leicester kennenlernt, heiratet, mit ihm nach Frankreich flieht, nach seinem Tod mit ihrer neugeborenen Tochter nach Jamaica verschleppt wird, Jahre später nach England zurückkehrt und ihren Anspruch nach dem Tod Elizabeths bei ihrem Halbbruder James I. vergebens zu legitimieren versucht. Wichtigste Vergleichsaspekte zu Schillers Drama sind zum einen die Kerkersituation Maria Stuarts am englischen Hof, die Unerbittlichkeit Elizabeths auf der einen, der Vorwurf der Illegitimität ihrer Herrschaft (Bastard-Motiv) auf

48 Friedrich Schiller, Maria Stuart. In: Schillers Werke (= Nationalausgabe), Bd. 9/I. 49 [Sophia Lee], The Recess, or A tale of other times, London 1785. Neuausgabe: Sophia Lee, The Recess. hg. von April Alliston, Lexington 2000. 50 Vgl. Jennifer Driscoll Colosimo, Mortimers ‚Gothic‘ Vorgänger. Eine potenzielle Quelle für Schillers „Maria Stuart“ in der englischen Schauerliteratur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 129, 2010, S. 161–171. 51 Vgl. April Alliston, Introduction. In: Sophia Lee, The Recess, S. ix–xliv, mit Hinweisen zu weiterführender Literatur; sowie Frauke Reitemeier, Nationale Unterschiede? Sophia Lee und Benedikte Naubert. In: Geschichte(n) Erzählen. Konstruktionen von Vergangenheit in literarischen Werken deutschsprachiger Autorinnen seit dem 18. Jahrhundert, hg. von Marianne Henn, Irmela von der Lühe und Anita Runge, Göttingen 2005, S. 215–230. 52 Vgl. die recht ausführliche Inhaltswiedergabe und Analyse bei Reitemeier, Nationale Unterschiede?

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der anderen Seite.53 Interessant ist die Betonung Schillers, dass der Herzog von Norfolk auch unter die Liebhaber Maria Stuarts gehörte: „Hielt dieses Eisengitter sie zurück / Das edle Herz des Norfolk zu umstricken?“ 54 Im Roman ist er der Vater der Zwillinge. Noch bevor sie ihre Herkunft kennen, sehen die beiden Porträts ihrer Eltern in ihrem Unterschlupf. Einen weiteren Aspekt bildet die wiederholte Betonung von Marias Unschuld bzw. ihre bereits verjährte und abgebüßte Schuld, was das Mordkomplott gegen Darnley und mehr noch den „Wahnsinn blinder Liebesglut“,55 der sie zur Ehe mit Bothwell trieb, betrifft. Am meisten Übereinstimmung aber findet sich im Doppelspiel Leicesters, das im Dialog mit Mortimer (II.8) ausgebreitet wird. Leicester sagt, er sei es Leid, zehn Jahre lang auf die Hand Elisabeths zu warten, um diese nun an den Duc d’Anjou abtreten zu sollen; er erwähnt, dass er Maria schon früher versprochen war, jetzt erst erkenne er, dass sie viel höheren Wert besitze als Elisabeth. Nach Marias Enthauptung wird gemeldet, er sei nach Frankreich abgereist. Dieses Doppelspiel wird bei Lee auf die nächste Generation transponiert; Matilda sieht aus wie die reinkarnierte Mary Stuart, d. h. Leicester versucht einen früheren Fehler wettzumachen, indem er in der Tochter die Mutter heiratet, die Ehe aber geheim hält, und schließlich mit seiner schwangeren Frau nach Frankreich flieht, von wo sie von Mortimer, einem Neffen ihres Vaters Norfolk, auf dessen Sklavenkolonie nach Jamaica verschleppt wird. Ihre Schwester Ellinor bleibt in England zurück, ist am Hofe Elizabeths nach Entdeckung ihrer Herkunft schlimmsten Repressalien ausgesetzt, und geht eine heimliche Verbindung mit Essex, dem neuen Favoriten und ‚zweiten Leicester‘ der Königin, ein. Die Kontroverse der beiden Königinnen wird also auf beide Zwillingsschwestern transponiert und der zwielichte Liebhaber beider gleichfalls verdoppelt. Unterstützend ist die Funktion von Bildnissen und Schriftstücken für den Hand-

53 Für die Analyse von Schillers Maria Stuart vgl. insbesondere Nikolas Immer, Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie, Heidelberg 2008, S. 350–383. Immer betont Leicesters Doppelspiel, die Kerkersituation, sowie die Kontrastierung der beiden Königinnen im Sinne der Kantorowicz-These vom ,doppelten Körper‘ des Königs, der in diesem Drama auf zwei Königinnen aufgespalten ist: „Während die englische Königin nur einen Rechtsanspruch de lege vertritt, behauptet die schottische Königin einen Rechtsanspruch de natura“ (S. 368). Zu letzterem vgl. auch Peter-André Alt, Ästhetik des Opfers. Versuch über Schillers Königinnen. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 50, 2006, S. 176–204. 54 Schiller, Maria Stuart, V. 73–75 [Hervorhebung durch Sperrdruck im Original]; vgl. auch V. 753, wo von Thomas Howard, dem vierten Duke of Norfolk, die Rede ist. 55 Schiller, Maria Stuart, V. 325. Das Motiv erinnert fast wörtlich an Schillers Racine-Übertragung der Phädra, Szene IV.6, in der sich Phädra vorstellt, wie sie für ihren Liebeswahn verlacht wird. Racines „Au moment que je parle, ah mortelle pensée! / Ils bravent la fureur d’une amante insensée“ (V. 1253 f.) überträgt Schiller als: „Verlachen sie, o tödtender Gedanke! / Den ganzen Wahnsinn meiner Liebeswuth!“ (V. 1357 f.). Vgl. Schiller, Phädra, S. 360 f.

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lungsgang, hier wie dort: leitmotivisch die Bildnisse der Eltern Mary und Norfolk im Roman, in Schillers Drama das Porträt, das Maria Leicester durch Mortimer senden lässt. Doch zurück zu den zwey Emilien und der Frage, inwiefern der Streit der Königinnen Maria Stuart und Elisabeth I. roman- und dramenpoetologisch vergleichbar angelegt ist. Für Lees Romane gesprochen, fällt auf, dass sie eine starke Kontrastierung der beiden Hauptfiguren unternehmen bei gleichzeitig melodramatischer Entwicklung mit katastrophischen Handlungselementen. Der Wettbewerb zwischen Emily Lenox, née Arden, und Emily Fitzallen rekurriert auf den Königin-Bastard-Diskurs von Lees Recess, insofern letztere die kinderlose Bastard-Tochter des Duke of Aberdeen, erstere dagegen rechtmäßige Erbin, Mutter vierer Kinder, und zudem eine mutmaßliche Nachfahrin der Stuart-Linie ist.56 In Steins Dramatisierung sind die beiden Emilien einander angenähert, die Betonung liegt also auf dem Diskurs der schwesterlichen Verwandtschaft wie in Schillers Drama, mit dem Unterschied freilich, dass Lees Melodramatik nicht durch ein tragisches Ende, sondern durch Tragikomik ersetzt wird. In Parallelführung werden Maskerade und Betrug beider Emilien als valide ausgewiesen. Sie stellen Szenarien eines female empowerment dar, die – mit einem Augenzwinkern an Schiller – den Griff von Schriftstellerinnen zur Autorschaft legitimiert. Charlotte von Steins Übersetzung „[n]ach dem Englischen“ kann mithin selbst als ein Vorgang von ‚Maskerade‘ und ‚Betrug‘ an gleich mehreren ‚Originalen‘ (beiden Romanen Lees; Racines Phèdre et Hippolyte; Schillers Maria Stuart) verstanden werden. Erkennbar wird dies aber erst, richtet man den Blick vom Drama als Produkt der ,Übersetzung‘ auf die im Textsubstrat ablesbare Tätigkeit des ,Übersetzens‘, die zugleich Vorgänge von Kulturtransfer und Dialogizität auf neue Weise erkennen lassen, jenseits autonomieästhetischer gender-Zuschreibungen.

Bibliographie Quellen Chaucer, Geoffrey, The Complete Works, hg. von Fred Norris Robinson, Boston u. a. 1933. Diderot, Denis, Das Theater des Herrn Diderot, hg. von Nikolas Immer und Olaf Müller, St. Ingbert 2014.

56 Vgl. hierzu die Stammtafel in Shaffers Neuedition: Lee, The Young Lady’s Tale, o. S.

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Goethe, Johann Wolfgang von, Goethes Briefe an Frau von Stein, hg. von Adolf Schöll, 2. vollst. Aufl. bearb. von Wilhelm Fielitz, Bd. 2, Frankfurt am Main 1885. Gottsched, Johann Christoph (Hg.), Die deutsche Schaubühne nach den Regeln und Mustern der Alten, Bd. 1, Leipzig 1742. Hensel, Friederike Sophie, Die Entführung, oder: Die zärtliche Mutter, hg. von Anne Fleig, Hannover 1998. [Lee, Sophia], The Recess, or A tale of other times, London 1785. [Lee, Sophia], The Young Lady’s Tale. The Two Emilys. In: Harriett Lee and Sophia Lee, The Canterbury Tales, 5 Bde, London 1797–1805, Bd. 2, 1798. [Lee, Sophia], The Recess, hg. von April Alliston, Lexington 2000. [Lee, Sophia], The Two Emilys, hg. von Julie Shaffer, London 2009. Lessing, Gotthold Ephraim, Werke, hg. von Herbert Georg Göpfert, Bd. 5, Darmstadt 1996. Racine, Jean, Phèdre et Hippolyte. In: Œuvres complètes. I. Théâtre – Poésie, hg. von Georges Forestier, Paris 1999, S. 815–904. Rousseau, Jean-Jacques, Les Confessions. Livres I–IV, hg. von Catherine BouttierCouqueberg, Paris 1998. Schiller, Charlotte, [Britannicus-Übertragung], Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur: GSA 83/1634. Schiller, Friedrich, Werke (= Nationalausgabe), begr. von Julius Petersen, fortgef. von Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers, Weimar 1943 ff. [Stein, Charlotte von], Die zwey Emilien. Drama in vier Aufzügen. Nach dem Englischen. Stuttgart 1803. [Stein, Charlotte von], Brief an Charlotte Schiller vom 20. April 1803, Handschrift im Goetheund Schiller-Archiv Weimar, Signatur: GSA 83/1856,4. [Stein, Charlotte von], Die zwey Emilien. Ein Drama in vier Aufzügen. Nach dem Englischen, von Friedrich Schiller. In: Neueste deutsche Schaubühne für 1805, 3. Bd., Augsburg 1805, S. 1–208. [Stein, Charlotte von], Die zwey Emilien, in: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg, Bd. 3, 1923, S. 132–232. [Stein, Charlotte von], Dramen (= Gesamtausgabe), hg. von Susanne Kord, Hildesheim/ Zürich/New York 1998. [Stein, Charlotte von], Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe, hg. von Linda Dietrick und Gaby Pailer, Hannover 2006.

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Der Schweizerische Robinson Bearbeitungen – Übertragungen – Übersetzungen Im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur waren und sind die Übersetzungen und Bearbeitungen insbesondere von Klassikern einer der wichtigsten Bestandteile des heutigen Buchmarktes und sollten, wie die Übersetzungen an sich, von der Forschung als integrativer Teil der Literaturgeschichte untersucht werden. Auf dem Umweg über die Untersuchung dieser Literaturgattung kann zugleich die Entwicklung der Theorie des literarischen Übersetzens, wie sie sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum creative turn Ende des 20. Jahrhunderts gewandelt hat, in ihrer Ungleichzeitigkeit im Vergleich zur Praxis hinterfragt werden. Es kann gerade hier gezeigt werden, wie sich die Theorie des literarischen Übersetzens unter dem Einfluss der romantischen Modelle (und im Gegensatz zu den Ansätzen der Frühromantik) und deren Leitgedanken der formalen Treue und Wiedergabe der Autorintention sowie des linguistischen Bestrebens einer Transkodierung von der doppelten Kreativität des Übersetzers als Leser und Autor zuerst abgewendet hat. Der creative turn, wie ihn die Translation Studies und die pragmatische Wende der Linguistik ab 1980 einfordern, hat im Bereich der Praxis des Übersetzens von Kinderliteratur jedoch immer schon stattgefunden, ist sogar ein Fundament der Kinder- und Jugendliteratur an sich, auch in den sogenannten Originaltexten. In der Forschung werden die Übersetzerinnen und Übersetzer jedoch erst seit Ende des 20. Jahrhunderts als kreativ Schreibende wahrgenommen und die Erforschung der Übersetzungen von Kinderliteratur als Teil des literarischen Schaffens kämpft noch heute um Anerkennung.1 Mit einem Blick zurück zu den Anfängen der Übersetzung der Kinder- und Jugendliteratur und der Fallanalyse eines internationalen Bestsellers der Schweizer Kinder- und Jugendliteratur, Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer Prediger und seine Familie von Johann David Wyss,2 sollen 1 Vgl. Gillian Lathey, The Role of Translators in Children’s Literature. Invisible Storytellers, New York/London, 2010, S. 5: „As a result of the peripheral position of children’s books within the literary system […] and the resulting lack of status for translators, translators for children seem to be the most transparent of all.“ Vgl. auch Wolfgang Pöckl, Sprachgefühl und das Übersetzen von Kinderliteratur. In: Kreativität und Hermeneutik in der Translation, hg. von Larisa Cercel, Marco Agnetta und María Teresa Amido Lozano, Tübingen 2017, S. 77–93. 2 Johann David Wyss, Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer Prediger und seine Familie, hg. von Johann Rudolf Wyss, Bd. 1 und 2, Zürich 1812–1813; Bd. 3 und 4, Zürich 1826–1827. https://doi.org/10.1515/9783110542202-013

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auf den kommenden Seiten die unterschiedlichen Momente von Bearbeitung, Übertragung und Übersetzung in und zwischen den Sprachen in Theorie und Praxis beleuchtet werden.

I Der Schweizerische Robinson und seine Vorbilder Im Katalog der Schweizerischen Nationalbibliothek sind rund 50 Einträge für den Schweizerischen Robinson auf Deutsch vermerkt, aber über 70 auf Englisch und rund 60 auf Französisch. Die Entstehungs- und Editionsgeschichte dieses großformatigen, mehrbändigen „lehrreiche[n] Buch[es] für Kinder und KinderFreunde zu Stadt und Land“ 3 ist ebenso komplex wie seine Übersetzungsvarianten zahlreich sind. Wyss schreibt sich mit seinem Original in die lange Reihe der deutschsprachigen Robinsonaden4 ein, die ab dem 18. Jahrhundert und mit direktem Bezug auf Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) das Motiv des Schiffbrüchigen auf einer fremden, exotischen Insel voller Gefahren und Abenteuer behandeln. Zu nennen sind hier insbesondere Johann Gottfried Schnabels Die Insel Felsenburg (1731–43) und Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere (1779–80). Campe steht Wyss mit dessen Ziel, Wissen zu vermitteln und auch zur christlich religiösen Erziehung der Kinder beizutragen, wohl näher als Rousseau und dessen Roman Émile (1762), der zweifelsfrei ebenfalls zu den Vorbildern von Wyss gehört.5 Den Worten Johann Rudolf Wyss’, dem Herausgeber des Schweizerischen Robinsons, zufolge, war die „Absicht [seines Vaters], vier Knaben, die eine würdige Gattinn ihm geschenkt hatte, unterhaltend zu belehren und vorzüglich – zu bessern“.6 Der Schweizerische Robinson ist jedoch im Gegensatz zu seinen zahlreichen Vorbildern eine Familiengeschichte: Eine sechsköpfige Berner Familie erleidet auf der Reise nach Austra-

3 So der Untertitel in der Ausgabe von 1821: Johann David Wyss, Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer Prediger und seine Familie, hg. von Johann Rudolf Wyss, 2. Aufl., Zürich 1821. 4 Vgl. Jürgen Fohrmann, Das innere und äußere Fremde. Blick auf die deutsche Robinsonadenliteratur des 18. Jahrhunderts. In: Internationaler Germanisten-Kongress in Tokyo (Sektion 15: Erfahrene und imaginierte Fremde), hg. von Yoshinori Shichiji, München 1991, S. 15–23. 5 Vgl. Verena Rutschmann, Modernité et nostalgie: Textes de panneaux. In: Modernité et Nostalgie. La nature utopique dans la littérature enfantine suisse, hg. vom Institut suisse de littérature pour la jeunesse, Zürich 1992, S. 6–19. 6 Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1821, S. V.

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lien im Indischen Ozean Schiffbruch und kann sich allein von der ganzen Schiffsmannschaft überlebend auf eine Insel retten. Der Prediger-Vater mit seiner Frau und den vier Söhnen Fritz, Ernst, Jack und Franz leben auf dieser einsamen Insel über zehn Jahre ganz auf sich gestellt, entdecken die Natur und lernen das Leben in der Natur kennen. Tatsächlich gibt das Inselabenteuer dem Vater und Ich-Erzähler der Geschichte – und dem realen Autor und Pfarrer Johann David Wyss – die Gelegenheit, seine Söhne in sämtlichen Naturwissenschaften in einer exotischen Kulisse zu unterrichten und zu belehren. Aus heutiger Sicht zeigt sich dabei die belehrende und bessernde Zielsetzung des Buches wohl noch stärker und hat vereinzelte Rezensenten noch Ende des 20. Jahrhunderts zu vehementer Kritik an Wyss verleitet: Das Modell von Defoe sei „entstellt“, die von Wyss gewählte Form „schal“ und „moralisierend“.7 Ohne näher auf die Kritik und die Tatsache einzugehen, dass sich der Rezensent auf eine französische Bearbeitung und Übersetzung des Schweizerischen Robinson vom Beginn des 20. Jahrhunderts bezieht, ohne dies zu thematisieren, zeigt diese Aussage die noch Ende des 20. Jahrhunderts eingeforderte Transparenz des Übersetzers, die einen unmittelbaren Zugang zum Original garantieren soll. Dass die hier formulierte Kritik aber doppelt nicht greift, zeigt ein Blick ins kritisierte deutsche „Original“, das selbst bereits eine Bearbeitung mehrerer Vorlagen ist. Betrachtet man die Vorworte des Herausgebers des deutschen Textes, wird sichtbar, dass auch noch Anfang des 19. Jahrhunderts das Konzept des Originals fraglich bleibt und demzufolge die Funktion des Übersetzens keine wie auch immer geartete „treue“ Wiedergabe des Originals sein kann. Ja, das (Original-)Schreiben selbst ist keiner originalen Kreativität verpflichtet:8 Um

7 Vgl. etwa Jacques Dubois, Du roman au mythe: un Robinson hédoniste et helvète. In: Études françaises, 35.1, 1999, S. 25–42: „J’en veux au Robinson suisse ou la Famille naufragée de Johann David Wyss. C’est que, tout premier dérivé du roman fondateur que nous laissa Daniel Defoe, il me défigure son modèle, il le prive de tout ce qui faisait sa force problématique et perturbante. Un siècle après son apparition (le roman de Wyss est publié en 1812), le glorieux Crusoé ne s'y reproduit que sous une forme affadie et nettement moralisante“ (Online-Quelle: http://id.erudit.org/iderudit/036123ar, letzter Zugriff: 31. Juli 2017). Bemerkenswert ist hier die Tatsache, dass Dubois sich auf eine französische Übersetzung und Bearbeitung von 1911 bezieht (Le Robinson suisse, ou Histoire d'une famille suisse naufragée, übersetzt von F.-C. Gérard) und nicht auf das Original, das im Stil und im Inhalt stark vom helvetischen Original abweicht. 8 Vgl. Andreas Poltermann, Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, hg. von Brigitte Schultze, Berlin 1987, (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung 1), S. 14–52.

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dem eingestandenen „belehrenden“ Ziel des Werkes gerecht zu werden, wird der „gepriesene und wahrlich zu preisende Robinson“ 9 von Defoe explizit als Modell und Vorlage gewählt. Das Kind wird ergriffen von den Schicksalen des Einsamen und Verlassenen, der so ganz auf sich selbst steht, und den Kampf mit der Natur so ganz aus sich selber wagt. Er spiegelt uns das Menschengeschlecht in seiner ersten Entstehung und Hülflosigkeit ab; er zeigt wie die Vernunft und der eherne Fleiß Alles bezwingen; er zeigt wie die menschliche Gesellschaft in die Familie und Staat, mit alle den begleitenden Künsten und Erfindungen jedem Einzelnen zur Wohlfahrt so ganz unentbehrlich sind. – – Das Alles mag wohl schon hinreichend den Verfasser dieses vorliegenden Schweizer-Robinsons bestimmt haben, sein Familienbuch in einer solchen Gestalt zu schreiben; und die Beschaffenheit seiner Kenntnisse nebst der Richtung seines Geistes, da beyde der Naturgeschichte, und namentlich der ausländischen zugewandt waren, gab leicht dem schon einleuchtenden Plan einer Robinsonade vor irgend einem anderen den Vorzug.10

Der so konzipierte Schweizerische Robinson, zwischen 1792 und 1798 vom Berner Pfarrer Johann David Wyss geschrieben,11 wird für eine erste Publikation der ersten beiden Bände 1812 und 1813 von seinem Sohn Johann Rudolf Wyss, dem „Herausgeber“, stilistisch bearbeitet 12 und in den folgenden zwei Bänden von 1826 und 1827 „fortgesetzt“.13 Während Schleiermacher in den gleichen Jahren (1813) das „eigentliche“ Übersetzen und den „strengere[n] Begriff der Übersetzung“ 14 von der Paraphrase und insbesondere der Nachbildung trennt, von der er sagt, sie sei „nun nicht mehr jenes Werk selbst, es soll darin auch keineswegs der Geist der Ursprache selbst dargestellt werden und wirksam sein, vielmehr wird eben dem fremdartigen […] manches andere untergelegt“,15 so scheinen die unterschiedlichen Robinsonaden und deren übersetzte und übersetzende Bearbeitungen

9 Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1812, S. VII. 10 Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1812, S. VII f. 11 Vgl. François Walter, Lecture symbolique d’un espace insulaire. „Le Robinson suisse“ de J.-D. Wyss. In: Geographica Helvetica, 3, 1983, S. 121–126. 12 „Was nun den Herausgeber des Werkes betrifft, so bescheidet er sich, einzig an Styl und Darstellung, und nur äusserst selten an dem eigentlichen Inhalt der Erzählung, einen wesentlichen Antheil zu haben“. Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1812, S. IX f. 13 „Jetzt nach 4 Jahren endlich folgt eine Fortsetzung, die zu beyden Ausgaben [der ersten beiden Bändchen] dient, und nächstens mit einem vierten Bändchen soll geschlossen werden“. Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1826, S. III. 14 Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens. In: Das Problem des Übersetzens, hg. von Hans Joachim Störig, Darmstadt 1963, S. 38–70, hier S. 47. 15 Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens, S. 46.

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die ‚einzige‘ Originalität – oder, wie Schleiermacher sagt, die „Identität des Werkes“ 16 – aufzugeben. Dass die Nachbildung und Nachahmung trotz der von der hermeneutischen Theorie eingeforderten „verstehenden“ Übersetzung insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur eine äußerst schöpferische Praxis darstellt,17 zeigt der Schweizerische Robinson.

II Le Robinson Suisse von Isabelle de Montolieu Nachdem 1814 bereits die erste französische Übersetzung des Schweizerischen Robinson von Isabelle de Montolieu18 unter dem Titel Le Robinson Suisse ou Journal d’un père de famille naufragé avec ses enfans in Paris erscheint, wird 1816 wiederum in Paris eine „seconde édition, revue avec soin et augmentée des Petits Robinsons dans leur île, comédie“ zum Druck gebracht und 1824 mit einer neuen französischen Folge von Isabelle de Montolieu übersetzt und ergänzt. Auf dem Titelblatt dieser Ausgabe von 1824 verschwindet der Name des Autors, Johann David Wyss, und seines Herausgebers, Johann Rudolf Wyss, zugunsten eines Zitates aus der Nouvelle Héloïse von Jean-Jacques Rousseau (Abb. 1) und einer mehrseitigen Widmung an „M. J. Rodolphe Wyss, Professeur à Berne“, unterschrieben von „Votre très humble et très obéissante servante, Isabelle, baronne de Montolieu,19 À Bussigny, près de Lausanne, le 25 juillet 1824“:

16 Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens, S. 47. 17 Vgl. auch Poltermann, Die Erfindung des Originals, S. 29 f.: „[…] seit 1760 [ist] ein verstärkter Legitimationsdruck […] originalgetreu zu übersetzen [erkennbar]. […] Andere Gattungen, die, wie z. B. die romances, ihren Höhepunkt im Barock überschritten haben und fortan zur Trivial- und Kolportage-Literatur herabsinken, werden, aus ökonomischen Gründen und weil für sie keine ästhetischen Normen bestehen, oft sehr frei, paraphrasierend und auch aus zweiter Hand übersetzt. Das trifft aber auch zu für neue, in den ästhetischen Kanon noch nicht aufgenommene Gattungen wie z. B. die englische Reiseliteratur […]“. 18 Isabelle de Montolieu war eine Westschweizer Erfolgsautorin und Übersetzerin, insbesondere von Jane Austen, aber auch von Werken von Friedrich de la Motte-Fouqué, Heinrich Zschokke und Johanna Schopenhauer. Vgl. den biographischen Eintrag: http://www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D15902.php (letzter Zugriff: 4. August 2017). 19 Vgl. dazu die interessante Bemerkung von Poltermann (Die Erfindung des Originals, S. 21), der darauf verweist, dass die Autoren und Übersetzer in dem Moment, da sie ihren „Autorgeist“ entdecken, nur ihren Namen, ohne Titel, auf den Buchdeckel stellen.

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Abb. 1: Titelblatt von Le Robinson Suisse, continué par Madame Isabelle, Baronne de Montolieu, 1824.

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Dès que j’en eus connaissances, j’éprouvai un vif désir d’en enrichir notre littérature française; j’essayai de le traduire aussi fidèlement qu’il me fut possible, et je publiai ma traduction, en 1816, à Paris. Depuis lors, quatre éditions consécutives ont prouvé combien le public français a su apprécier cette production, qui fait le bonheur des enfans, et par conséquent de leurs parens. Mais il leur manquait une suite et une fin; […]. J’avais lieu de croire que cette fin tant désirée existait, soit dans votre porte-feuille, soit dans les papiers laissés par monsieur votre père.20 Je vous ai demandé souvent, avec insistance, de la faire paraître et de me l’envoyer à mesure pour la traduire. […] ayant appris de vous qu’il n’était pas même commencé, et m’étant engagée avec mon libraire pour un temps fixé, j’ai dû vous demander la permission d’y travailler seule, d’après un plan dont j’avais conçu l’idée. […] Cet ouvrage ayant été, dans l’origine, composé seulement pour les jeunes garçons, il entrait dans mon plan de le rendre, en même temps, instructif et agréable aux jeunes filles. C’est dans ce dessein que j’ai introduit l’épisode d’une femme et de ses deux filles naufragées avec elle, et restées sans aucun secours. En emmenant cette mère infortunée et ses enfans dans l’île de nos Robinsons, j’ai voulu tranquilliser l’imagination du lecteur sur leur avenir, en évitant cependant tout ce qui pouvait éveiller les passions. J’ignore, Monsieur, si ce plan se rapporte en quelque chose à celui de monsieur votre père, et je ne le crois pas.21

Was dieses lange Zitat sichtbar macht, ist die Spannung zwischen einem deklarierten Ziel, die Bereicherung der französischen Literatur durch eine möglichst treue Übersetzung („enrichir notre littérature française [et] traduire aussi fidèlement [que] possible“), und einer umgesetzten, literarischen Kreativität, die es der Übersetzer-Autorin erlaubt, sogar gegen die Intention des Originalautors, die männliche Abenteuergeschichte auch für die weiblichen Leserinnen ergiebig und angenehm zu gestalten („il entrait dans mon plan de le rendre, en même temps, instructif et agréable aux jeunes filles“) – ohne dabei eine mögliche, lustvolle Leidenschaft zu entfachen („en évitant cependant tout ce qui pouvait éveiller les passions“). Doch während Isabelle de Montolieu zur Unterhaltung der jungen Leserinnen eine junge Mutter aus Hamburg, Emilie Hirtel, mit ihren beiden Töchtern Sophie und Mathilde auf einer Nachbarinsel stranden lässt und in die Geschichte einbaut, erweitert Johann Rudolf Wyss seine Geschichte im vierten Band von 1827 um die Geschichte einer gestrandeten Engländerin, Jenny, die sich vorerst als den in einen Matrosen verkleideten Lord Montrose ausgibt und nicht die ‚Leidenschaften‘ der jungen Leserinnen erwecken sollte, sondern vielmehr dazu diente, das „Entzücken“ der jungen Männer über das Entdecken des „Brudergeschlecht[s]“ „auszugießen“:

20 Johann David Wyss stirbt im Januar 1818. 21 Wyss, Le Robinson Suisse, 1824, 1. Bd., S. II–IV.

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[Wir] hörten fast im nämlichen Moment ein Rascheln in einem unfern stehenden Baumwipfel, aus welchem sofort ein flinker, hübsch gewachsener Matrose, wie es der Kleidung nach schien, zum Vorschein kam, und sich mit Behendigkeit am Stamm herunter machte. Es ist unsäglich, was für seltsame und wunderbar gemischte Empfindungen sich unser bey dem überraschenden Anblicke bemächtigten. Volle zehen Jahre hindurch war die ganze Menschheit gleichsam todt gewesen für uns, und jetzt lebte sie so zu sagen in diesem einzigen Stellvertreter dergestalt wieder auf, daß alle Gefühle des Wohlwollens, der Freude und der Theilnahme an unserem Brudergeschlecht, wie mit zusammengesparter Kraft, dieser Einen Menschengestalt aus allen unseren Herzen entgegen flogen, während wir doch vor der ungewohnten Erscheinung regungslos erstarrten, und gleichsam in der Verlegenheit unser ganzes Entzücken auszugießen, uns eine Weile hindurch weder Ton noch Gebärde abgewonnen.22

Beide Bearbeitungen des Originals schreiben sich in je zwei unterschiedliche Muster ein: Isabelle de Montolieu übernimmt wie Wyss den kolonialistischen und didaktischen Wissenschafts-Diskurs und schreibt ihn in die Form eines abenteuerlichen und zugleich rührseligen Familienromans ein. Sie erweitert die Erzählung jedoch einerseits durch die Entführung der Schweizer Mutter mit einem der drei Söhne durch die kannibalischen „Wilden“ 23 und gibt andererseits in der hinzugefügten weiblichen Robinsonade das komplementäre, stereotype Bild des faszinierend exotischen „Negerleins“ wieder, das im Kontrast zu den zwei blonden, rosa Töchterlein der gestrandeten Hamburger Emilie gezeichnet ist: Ces petites filles, aux cheveux blonds, au teint rose et blanc, et ce petit négrillon au milieu d’elles, ayant tous trois les grâces de l’enfance, formaient un tableau délicieux que je ne pouvais regarder sans attendrissement. ‚Mes filles, pensais-je, s’exercent aux devoirs maternels; elles en ont déjà le sentiment, et jamais peut-être elles ne connaîtront ce premier des bonheurs……’ Ma femme sourit en silence, et son regard jeté sur les enfans exprimait sa pensée. Emilie la comprit, lui serra la main et reprit sa narration.24

Diese (und andere) Erweiterungen der deutschen Vorlage erlauben es der französischen Bearbeiterin, eine weibliche Abenteuergeschichte zu schreiben, in der die Natur nicht bezwungen, sondern sanft genutzt und lieblich kitschig beobachtet wird. Und damit die von Isabelle de Montolieu auch in ihrem Originalwerk mehrfach gewählte Gattung des süßlichen Liebesromans, des roman

22 Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1827, S. 329. 23 „Jack vint le dernier et le plus consterné ; il était allé du côté de la mer, et se jeta dans mes bras en me disant avec des sanglots convulsifs : ‚Ce sont les sauvages, ils sont venus, ils ont emmené ma mère et François, qu’ils ont mangés peut-être ; j’ai vu la marque de leurs horribles pieds sur le sable, j’ai vu aussi celle des bottines de François‘“ (Wyss, Le Robinson Suisse, 1824, 2. Bd., S. 97). 24 Wyss, Le Robinson Suisse, 1824, 3. Bd., S. 124.

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sentimental, bedient werden kann, führt sie die Geschichte gleich mit mehreren Heiraten zum Schluss: Ernest hat auf einer Reise in die Schweiz seine verwaiste Kusine Henriette Bodmer – „une aimable, jolie et simple Suisse, qui nous convient à tous“ 25 – geheiratet und kommt mit der schwangeren Frau zurück auf die „île heureuse“,26 die „glückliche Insel“; dort sollen die junge Witwe Emilie Hirtel den ältesten Pfarrerssohn Fritz, und die verbleibenden zwei Söhne Jack und François die zwei Töchter von Emilie, Sophie und Mathilde, heiraten und die Idylle dauerhaft machen. In einem kreuzgereimten Vierzeiler endet Isabelle de Montolieu ihren Robinson Suisse und führt ihn, wörtlich, ins ewige Glück: Dans ce séjour simple et tranquille On jouit des vrais biens du coeur. Oh! Restons, restons dans notre île, Sachons y fixer le bonheur.27

Die Bearbeitung des deutschen Textes durch den Sohn des Autors bleibt hingegen dem erzieherischen Ziel des Werkes bis zum Schluss treu. Obwohl Johann Rudolf Wyss im Vorwort zu seinem dritten Band von 1826 direkt Bezug auf diese französische Erfolgsgeschichte28 nimmt, scheint er seine Bearbeitung des Stoffes nicht (direkt) auf Isabelle de Montolieus Version abzustützen und grenzt sich in seinem Vorwort zum 4. Band sogar davon ab: Es versteht sich von selbst, dass der hier gegebene Schluß des Buches auf die Arbeit der Frau von Montolieu nicht hat Rücksicht nehmen dürfen. Ich befolgte die Urschrift meines Vaters ganz wie bisher, doch immer mit derjenigen Freyheit, die schon bei den frühern Bänden gewaltet hatte. […] Auch zeigte sich das Ende der Geschichte mehr skizziert, als fleißig ausgearbeitet.29

Zwar werden mit Jenny Montrose und den beiden Töchtern der englischen Familie Wolston, die sich auf dem unerwartet eingetroffenen Schiff von Kapitän Littlestone befinden, wie bei Montolieu auch Frauen auf die Insel gebracht.30 25 Wyss, Le Robinson Suisse, 1824, 3. Bd., S. 179. 26 Wyss, Le Robinson Suisse, 1824, 3. Bd., S. 181. 27 Wyss, Le Robinson Suisse, 1824, 3. Bd., S. 182. 28 „Immerhin hat die erste Hälfte des Buches nicht nur in der deutschen Lesewelt, sondern selbst in Frankreich und England so reichlichen Beyfall gefunden, dass sogar die französische Bearbeitung durch die geistreiche Frau von Montolieu mit einer Fortsetzung und Beendigung der Geschichte hat ausgestattet werden müssen, um die erregte Theilnahme der französischen Jugend zu befriedigen“ (Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1826, S. IV f.). 29 Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1827, S. VII f. 30 Dass auch Frauen auf die Inseln kamen, ist keine Seltenheit. Vgl. zum Beispiel Jeannine Blackwell, An Island of Her Own. Heroines of the German Robinsonades from 1720 to 1800. In: The German Quarterly, 58.1, 1985, S. 5–26. Ich verdanke den Hinweis Daniele Vecchiato.

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Doch bis zum Moment des Abschieds von Fritz und Franz, die mit Kapitän Littlestone nach Europa zurückfahren, überwiegen die enzyklopädisch aufgelisteten Namen von Gegenständen und die belehrenden Erklärungen bis zum schulmeisterlich pedantisch ausformulierten Schluss: Nicht mit dem Dünkel eines gelehrten Erziehers schrieb ich; unverholen gab ich, was just bey uns und von uns geschah. […] Begierig sollte die Jugend Alles einsaugen, was sich wissen lässt und begreifen lässt, wenn es nur nicht ein Böses ist; und rastlos sollte sie sich üben in jeder Geschicklichkeit, die der redlichen Menschenkraft und dem unverkünstelten Menschenglück irgend entsprechen kann.31

Die Entwicklung und Bearbeitung des Textes im Original und in den Übersetzungen erfährt ausgehend von dieser Konstellation weitere Fortschriften, die sich keineswegs an die Anfang des 19. Jahrhunderts und im Gegenzuge zu den belles infidèles entwickelte Idee der Treue32 halten. Vielmehr wird hier, aber doch bereits im Bewusstsein des Regelverstoßes, auf Überlegungen des 18. Jahrhunderts zurückgegriffen. Einer der weiteren Herausgeber der französischen Übersetzungen des Schweizerischen Robinson, Pierre-Jules Hetzel,33 überblickt 1864 knapp 40 Jahre Editionsgeschichte des Robinson Suisse in Frankreich und kommt zu einem vernichtenden Urteil: Das Buch sei schlecht, der Autor unbekannt und nur dank der Arbeit der Übersetzer zu einem Verkaufserfolg geworden: Au lieu de trahir leur original, ses traducteurs français l’avaient servi. […] Sentant bien qu’ils n’étaient pas là devant un de ces chefs-œuvre qu’il faut respecter jusque dans ses imperfections, chacun des traducteurs avait soit ajouté, soit retranché au texte primitif, et nous oserons dire que, le texte original sous les yeux, les plus absolus en matière de fidélité littéraire seraient mal venus à prétendre qu’ils avaient eu tort. Loin de souffrir de ces procédés comme en eût souffert une œuvre supérieure, Le Robinson Suisse y avait presque toujours gagné.34

31 Wyss, Der Schweizerische Robinson, 1827, S. 447. 32 Vgl. Jürgen von Stackelberg, Blüte und Niedergang der „Belles Infidèles“. In: Die literarische Übersetzung. Stand und Perspektiven ihrer Erforschung, hg. von Brigitte Schultze, Berlin 1988, (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung, Bd. 2), S. 16–29. 33 Der Verleger Pierre-Jules Hetzel gründet 1864 die Bibliothèque d’Education et de Recréation und nimmt den Robinson Suisse in seine Reihe auf. Vgl. Cécile Térouanne, Politiques éditoriales et traductions. In: Traduire les livres pour la jeunesse: enjeux et spécificités, hg. von Nic Diament, Corinne Gibello und Laurence Kiefé, Paris 2008, S. 75–84. 34 NN, Quelques mots de préface sur les améliorations spéciales apportées à cette édition. In: Wyss, Le Robinson Suisse, traduction nouvelle par Eugène Muller, S. III–XII, hier S. VI–VII. Térouanne zufolge ist Pierre-Jules Hetzel der Autor des Vorwortes. Dem Inhalt zufolge kann es sich weder um Eugène Muller noch Jean Macé handeln, die beide als Übersetzer, resp. Bearbeiter auf der Titelseite erscheinen, aber im Vorwort verdankt werden.

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Über hundert Jahre später nimmt Hetzel hier fast wörtlich die Argumente auf, die 1751 im Journal helvétique anonym als ‚Beobachtungen zum Übersetzen und zu einigen Übersetzern, formuliert wurden: On demande à ce sujet, s’il est permis à un Traducteur, d’orner & d’embelir son Original? S’il ne doit pas le rendre tel qu’il est, même avec tous ses défauts? Je pense qu’un Traducteur doit être un Pintre fidèle, & qu’il ne doit pas doner des graces & de la beauté à une persone laide & mal faite, mais il ne lui est pas défendu de dérober quelques imperfections, quelques legères taches, en conservant la ressemblance. On ne sauroit le blamer de montrer l’Original par ses beaux côtés.35

Wie Hetzel es bereits 1864 bemerkte, haben die französischen Übersetzer des Robinson das Original tatsächlich immer von seinen besten Seiten zu zeigen versucht,36 indem sie die lehrreiche Geschichte entweder mit unterhaltsamen Abenteuern erweitert oder mit Kürzungen gestrafft haben. Dabei zeigt sich, dass der Gedanke der verstehenden Übersetzung des sogenannten Originals zwar in der Theorie ab Mitte des 18. Jahrhunderts immer stärker präsent ist, von der Praxis, und insbesondere der Praxis der Übersetzung von Kinder- und Jugendliteratur, jedoch weit entfernt bleibt.37 Dass sich auch im französischen Sprachraum und trotz der „marktbeherrschenden freien Übersetzung“ 38 die Theorie, genauso wie im deutschsprachigen Raum, hin zum Ideal der Treue zum Original entwickelt, beweist auch das Vorwort von Chateaubriand zu seiner Milton-Übersetzung von 1836: On dit que de nouvelles traductions de Milton doivent bientôt paraître; tant mieux! on ne saurait trop multiplier un chef-d’œuvre: mille peintres copient tous les jours les tableaux de Raphaël et de Michel-Ange. Si les nouveaux traducteurs ont suivi mon système, ils reproduiront à peu ma traduction; ils feront ressortir les endroits où je puis m’être trompé: s’ils ont pris le système de la traduction libre, le mot à mot de mon humble travail sera comme le germe de la belle fleur qu’ils auront habilement développée. Me serait-il permis d’espérer que si mon essai n’est pas trop malheureux, il pourra amener quelque jour une révolution dans la manière de traduire? Du temps d’Ablancourt les traductions s’appelaient de belles infidèles; depuis ce temps-là on a vu beaucoup d’infidèles qui n’étaient pas toujours belles: on en viendra peut-être à trouver que la fidélité, même quand la beauté lui manque, a son prix.39

35 [Anonym], Observations sur la traduction et sur quelques traducteurs. In: Journal helvétique, 4, 1751, S. 305–323, hier S. 311. 36 In der Schweizerischen Nationalbibliothek sind zwischen der ersten Übersetzung von Isabelle de Montolieu bis 1861 noch acht weitere Übersetzer des Robinson auf Französisch aufgezeigt. 37 Vgl. Poltermann, Die Erfindung des Originals, passim. 38 Poltermann, Die Erfindung des Originals, S. 35. 39 John Milton, Le Paradis perdu, übers. von François-René Chateaubriand, Paris 1861, S. XII.

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Dass hier nicht von Kinderliteratur gesprochen wird und zugleich ein anerkannter Autor das Wort ergreift, hat diese Aussage erleichtert und den Grundstein zu einer neuen Konzeption, oder wie Chateaubriand sagt, zu einer „révolution dans la manière de traduire“, zumindest in der Theorie, geführt. Dazu beigetragen hat ebenfalls die Entwicklung des Urheberrechtes gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich und ab den 1830er Jahren im deutschen Sprachraum: „Als […] jede Übersetzung einem Original rechtlich gleichgestellt wird, kommt mit dem Urheberrecht der Autoren auch das Recht der Übersetzer auf originalgetreue Übersetzung zur Geltung“.40 Doch diese Entwicklung gilt im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur offenbar nicht. Und dies gerade auch im englischsprachigen Raum, wo sich doch die Idee des geistigen Eigentums schon sehr früh im Zuge des gesteigerten Selbstbewusstseins der Autoren durchgesetzt hatte.41

III Der Schweizerische Robinson in weiteren Bearbeitungen Die ersten Übersetzungen des Schweizerischen Robinson auf Englisch und Italienisch zeichnen sich nicht nur durch eine gewisse kreative Freiheit dem Original gegenüber aus, wie dies der Fall von Isabelle de Montolieus Übersetzungen ist, sondern stellen sich direkt in die Folge der französischen Versionen und schreiben diese weiter: Tatsächlich erscheinen die englischen und italienischen Versionen unmittelbar nach der Publikation von Isabelle de Montolieus französischer Bearbeitung: The family Robinson Crusoe, or, Journal of a father shipwrecked, with his wife and children, on an uninhabited island, übersetzt von William Godwin 1814 in London,42 und Il Robinson svizzero ovvero Giornale di

40 Poltermann, Die Erfindung des Originals, S. 39. 41 Vgl. Hannes Siegrist, Die Geschichte des geistigen Eigentums und der Urheberrechte. Kulturelle Handlungsrechte in der Moderne. In: Wissen und Eigentum. Geschichte, Recht und Ökonomie stoffloser Güter, hg. von Jeanette Hofmann, Bonn 2006, S. 64–80. 42 Vgl. die Internetseite von Ellen Moody zu Isabelle de Montolieu: „Montolieu produced the first French adaptation/translation in 1814 which included material she had added herself;“ the first English translation was probably the work of William Godwin and was published by his wife, M. J. Godwin in 1814 […] as The Family Robinson Crusoe and described as a translation ,from the German of M. Wiss,‘ though it incorporated some of Montolieu’s additions. The Godwin version was re-issued in a longer version in 1816, and the book’s familiar title first used in 1818. […] The reader will want to know that William H. G. Kingston’s version of The Swiss Family Robinson is an Englished shortened version of Isabelle de Montolieu’s Le Robinson suisse, ou, Journal d’un père de famille, naufragé avec ses enfans. Other English editions which

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un padre di famiglia naufragato co’ suoi figli, 1818 ohne den Namen des Übersetzers in Mailand veröffentlicht. Doch während der italienische Robinson kaum weitere Spuren hinterlässt, ist die englische Rezeption eine eigentliche Erfolgsstory43 mit unzähligen Ausgaben von über 30 verschiedenen Übersetzern, die sich teilweise schon im Titel auf die Übersetzung von Isabelle de Montolieu beziehen wie z. B. die 1877 in London erschienene Übersetzung von Mrs. Henry H. B. Paull.44 Insgesamt wird der Schweizerische Robinson, nachdem er bis 1850 auf Französisch, Englisch und Italienisch rezipiert wurde, in zwanzig Sprachen übersetzt, davon auch je einmal ins Afrikaans, Arabische, Dänische, Finnische, Kroatische, Ungarische, Japanische, Lettische, Polnische und Swahili. 2012 kehrt das Buch auf unerwartete Weise in seine Schweizer Heimat zurück: Ich habe den Schweizerischen Robinson als Kind gelesen und nie vergessen. Als ich das Buch vor einiger Zeit meinen Kindern vorlesen wollte, fand ich, dass es in den USA zwar immer noch äußerst populär war, im deutschen Sprachraum aber vergriffen und nahezu vergessen. Also entschloss ich mich, eine neue, für Kinder geeignete Fassung zu schreiben.45

So beschreibt der Schweizer Autor Peter Stamm46 sein Vorhaben, den Schweizerischen Robinson neu zu schreiben oder, wie es im Untertitel heißt, „nachzuerzählen“. Peter Stamm gehört zu den wichtigsten und erfolgreichsten Autoren

claim include the whole of the Wyss-Montolieu narrative are by W. H. Davenport Adams (1869–0) and Mrs H. B. Paull (1879). As Carpenter and Prichard write, ,with all the expansions and contractions‘ over the past two centuries (this includes a long history of abridgements, condensations, Christianizings, and Disney products), Wyss’s original narative has long since been obscured, and the book is chiefly characterized by its improbable profusion of animals – – penguins, kangaroos, monkeys and even a whale – conveniently gathered together on a tropical island“ (Online-Quelle: http://www.jimandellen.org/montolieu/robinsonsuisse.​ html, letzter Zugriff: 9. August 2017). 43 The Swiss Family Robinson ist im amerikanischen Kontext nicht nur der Name eines Romans, sondern evoziert unmittelbar das „Baumhaus“, das „Swiss Family Treehouse“, das durch die Verfilmungen und die Walt Disney Parks popularisiert wurde. 44 Vgl. Johann David Wyss, The Swiss Family Robinson: or, the adventures of a shipwrecked family on an uninhabited island near New Guinea. A new and unabridged translation from the original, with the additions made by Isabelle de Montolieu, übers. von Mrs. Henry H. B. Paull, London 1877. Zudem wird die Schweizer Robinsonade im englischsprachigen Raum ab den 1940er Jahren fürs Kino, das Fernsehen und die Bühne mehrfach adaptiert. 1984 erscheint auch ein Videogame. 45 Vgl. Peter Stamm, Editorische Notiz. In: Johann David Wyss, Der Schweizerische Robinson, nacherzählt von Peter Stamm, Frankfurt am Main 2012, S. 323–324, hier S. 323. 46 Vgl. http://www.peterstamm.ch (letzter Zugriff: 12. August 2017) und Christof Hamann, Wissen und Pädagogik. Peter Stamms „Nacherzählung“ des Schweizerischen Robinsons. In:

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der deutschsprachigen Schweiz des 21. Jahrhunderts. Sein Name und die Tatsache, dass die kompakte Nacherzählung der auf rund 300 Seiten gestrafften Geschichte mit einem Nachwort von Peter von Matt versehen ist, verleiht der im Kinder- und Jugendbuchprogramm vom S. Fischer Verlag erschienenen Geschichte auch im deutschsprachigen Raum jenen originalen Werkcharakter, den sie sich in der 200jährigen französischen und englischen Übersetzungsgeschichte schon längst angeeignet hat. Bezeichnenderweise verweist Stamm in seiner Nacherzählung auf den Ursprung, d. h. auf das in der Burgerbibliothek in Bern aufbewahrte Manuskript, obwohl „die Handschrift nur schwer zu entziffern [ist] und […] nie transkribiert [wurde]“.47 So wird noch einmal der Mythos des Originals heraufbeschworen, um die kreative Bearbeitung des Romans durch „Peter Stamm, ein[en] herausragend[en] Erzähler der Gegenwart“, zu legitimieren oder vielleicht gerade umgekehrt, über die aktualisierte Neuschöpfung das „nie transkribiert[e]“ Original erst zu schaffen:48 [Peter Stamm] hat dem seltsamen Klassiker vieles von seiner Fremdartigkeit belassen. Nun kann sich zeigen, wie die Kraft, mit der das Buch die jugendliche Phantasie seit zweihundert Jahren immer neu entzündet hat, auch in unseren Tagen fortwirkt.49

Bibliographie Quellen Wyss, Johann David, Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer Prediger und seine Familie, hg. von Johann Rudolf Wyss, Bd. 1 und 2, Zürich 1812–1813; Bd. 3 und 4, Zürich 1826–1827. Wyss, Johann David, Der Schweizerische Robinson, nacherzählt von Peter Stamm, Frankfurt am Main 2012. Wyss, Johann David, Il Robinson svizzero ovvero Giornale di un padre di famiglia naufragato co’ suoi figli, Milano 1818–1819. Wyss, Johann David, Le Robinson Suisse ou Journal d’un père de famille naufragé avec ses enfans, übers. von Mme Isabelle Polier de Montolieu, Paris 1814. Wyss, Johann David, Le Robinson suisse, ou Journal d’un père de famille, naufragé avec ses enfans, 2. Aufl., mit der Komödie „Des petits Robinson dans leur île“ versehen, Paris 1816.

Sprechen am Rande des Schweigens. Annäherungen an das Werk Peter Stamms, hg. von Andrea Bartl und Kathrin Wimmer, Göttingen 2016, S. 217–227. 47 Vgl. Stamm, Editorische Notiz, S. 323. 48 Vgl. Peter von Matt, Nachwort. In: Johann David Wyss, Der Schweizerische Robinson, nacherzählt von Peter Stamm, Frankfurt am Main 2012, S. 325–331, hier S. 331. 49 Vgl. von Matt, Nachwort, S. 331.

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Wyss, Johann David, Le Robinson suisse, ou Journal d’un père de famille, naufragé avec ses enfans, übers. von Madame Isabelle, Baronne de Montolieu, Paris 1824. Wyss, Johann David, The family Robinson Crusoe, or, Journal of a father shipwrecked, with his wife and children, on an uninhabited island, übers. von William Godwin, London 1814. Wyss, Johann David, The Swiss Family Robinson: or, the adventures of a shipwrecked family on an uninhabited island near New Guinea. A new and unabridged translation from the original, with the additions made by Isabelle de Montolieu, übers. von Mrs. Henry H. B. Paull, London 1877.

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Deutsche Übersetzungen des Orlando innamorato zwischen Kreativität und philologischer Sorgfalt Ein Beitrag zur Geschichte der Boiardo-Rezeption um (und nach) 1800 Das Interesse der Goethezeit an der italienischen Renaissance und deren Versepik erschöpfte sich nicht mit der Rezeption von Torquato Tasso und Ludovico Ariosto, deren Werke im Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum eine außergewöhnliche Konjunktur erlebten.1 Auch Matteo Maria Boiardos Orlando innamorato (oder L’inamoramento de Orlando, wie der Text in der verloren gegangenen Originalausgabe vermutlich hieß)2 erfreute sich einer beachtlichen – wenn auch etwas verspäteten – Popularität: Zwischen 1819 und 1840, im Laufe von rund 20 Jahren, wurden drei Übersetzungen des Ende des 15. Jahrhunderts erschienenen Versepos veröffentlicht, die – freilich mit unterschiedlichem Erfolg – zu dessen Bekanntmachung in den deutschen Landen beitrugen.3 Die erste Übertragung – eigentlich eine

1 Hierzu vgl. u. a. Lionello Vincenti, Ariosto in Germania. In: Alfieri e lo „Sturm und Drang“ e altri saggi di letteratura italiana e tedesca, Firenze 1966, S. 57–87; Gabriele Kroes, Zur Geschichte der deutschen Übersetzungen von Ariosts Orlando furioso, sowie Ulrich Schulz-Buschhaus, Schwierigkeiten mit der Versepik (vor allem Torquato Tassos). In: Italienische Literatur in deutscher Sprache. Bilanz und Perspektiven, hg. von Reinhard Klesczewski und Bernhard König, Tübingen 1990, S. 11–26 und S. 27–40; Peter Kofler, Ariost und Tasso in Wielands Merkur. Übersetzungsprobe als Textsorte, Bozen/Innsbruck 1994; Elena Polledri, Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit. Deutsche Übersetzungen italienischer Klassiker von Tasso bis Dante, Tübingen 2010, passim; Christian Rivoletti, Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando furioso in Francia, Germania e Italia, Venezia 2014, S. 171– 321. Zu den kulturellen Rahmenbedingungen dieser Konjunktur vgl. Karlheinz Stierle, Italienische Renaissance und deutsche Romantik. In: „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850, hg. von Frank-Rutger Hausmann, Tübingen 1996, S. 373–404. 2 Vgl. Andrea Canova, Introduzione. In: Matteo Maria Boiardo, Orlando Innamorato. L’inamoramento de Orlando, hg. von Andrea Canova, Milano 2011, Bd. 1, S. 5–65, hier S. 10–12. 3 Vgl. Volker Kapp, Frank-Rutger Hausmann u. a. (Hg.), Bibliographie der deutschen Übersetzungen aus dem Italienischen von 1730 bis 1990, Tübingen 1992 ff., S. 158 f. Anmerkung: Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines durch ein Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsvorhabens an der Humboldt-Universität zu Berlin. https://doi.org/10.1515/9783110542202-014

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Prosaadaption „[n]ach dem Italiänischen“ – stammt von Marie Wilhelmine Schmidt (geb. Nauen), der Frau des Berliner Romanisten Friedrich Wilhelm Valentin Schmidt, welcher die 1819 veröffentlichte Ausgabe in zwei Bänden betreute und 1820 um einen dritten ergänzte.4 Die zweite Übersetzung, zwischen 1835 und 1839 in vier Teilen publiziert, war das letzte große Unternehmen von Johann Diederich Gries, der im frühen 19. Jahrhundert aufgrund seiner Übersetzungen von Ariostos Orlando furioso (1804–1808), Tassos Gerusalemme liberata (1810) und den Schauspielen von Calderón de la Barca (1815–1842) als „de[r] Verdeutscher romanischer Reimkunst“ 5 seiner Zeit berühmt wurde.6 Die dritte Version, die fast zeitgleich mit der Gries’schen entstand, wurde von Johann Gottlob Regis angefertigt und kam 1840 als vollständige Ausgabe auf den Buchmarkt.7 Obwohl diese drei in Intention, Form und ästhetischer Qualität stark voneinander differierenden Übersetzungen zur Verbreitung des Boiardo’schen Epos im deutschsprachigen Raum entscheidend beigetragen haben, sind sie von der Forschung so gut wie unbeachtet geblieben. Dies erklärt sich zum einen durch die Tatsache, dass Boiardo – vielleicht aufgrund der Komplexität und vermeintlichen Rauheit seiner Sprache – weniger bekannt und geschätzt war als die späteren Versmeister der italienischen Renaissance.8 Zum anderen wurde

4 [Wilhelmine Schmidt], Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern. Nach dem Italiänischen des Grafen Bojardo, hg. von Friedrich Wilhelm Valentin Schmidt, 3 Bde., Berlin/ Leipzig 1819–1820. 5 Reinhard Tgahrt (Hg.), Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Marbach 1982, (Marbacher Kataloge 37), S. 525. 6 Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland. Zum erstenmale verdeutscht und mit Anmerkungen versehen von Johann Diederich Gries, 4 Bde., Stuttgart 1835– 1839. 7 Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiana [sic], Verliebter Roland, als erster Theil zu Ariosto’s Rasendem Roland nach den bisher zugänglichen Texten der Urschrift zum erstenmale vollständig verdeutscht, mit Glossar und Anmerkungen herausgegeben von Gottlob Regis, Berlin 1840. Zu Gries und Regis vgl. Tgahrt, Weltliteratur, S. 523–550. 8 Dagegen war die Boiardo-Rezeption in Spanien und Frankreich bedeutsamer, wie die zahlreichen, z. T. sehr frühen Übersetzungen des Innamorato bezeugen. Vgl. Giovanni Caravaggi, Un capitolo della fortuna spagnola del Boiardo. La traduzione dell’Innamorato iniziata da Hernando de Acuña. In: Il Boiardo e la cultura contemporanea, hg. von Giuseppe Anceschi, Firenze 1970, S. 117–155; Marcella Leopizzi, L’Orlando Innamorato de Matteo Maria Boiardo traduit en prose par François de Rosset et adapté par Alain-René Lesage. In: Tradurre. Riflessioni e Rifrazioni, hg. von Alfonsina De Benedetto, Ida Porfido und Ugo Serani, Bari 2008, S. 169–179. In England wurde der Innamorato früh und von wichtigen Autoren wie Edmund Spenser rezipiert; allerdings erschien die erste Übersetzung, die übrigens auf Domenichis Bearbeitung basierte, erst 1598, wobei eine breite Rezeption des Epos erst durch das Interesse der britischen

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der Orlando innamorato von Anbeginn als die Grundlage für Ariostos Furioso gelesen und hauptsächlich aufgrund dieser Vorfahren- bzw. Dienstfunktion aufgewertet. Nach einem Abriss der deutschen (übersetzerischen) Rezeption9 Boiardos werden im Folgenden die Übersetzungen von Schmidt, Gries und Regis einzeln präsentiert und im Hinblick auf ihre textspezifischen Eigenschaften ausgelotet. Dabei wird besondere Aufmerksamkeit sowohl auf die Übersetzervorreden und sonstigen Paratexte10 als auch auf die jeweils verwendeten kreativen Übersetzungspraktiken gerichtet, die im Zusammenhang mit dem dynamischen Übersetzungsbegriff der Zeit um und nach 1800 zu analysieren sind. Während Schmidts Prosaübersetzung noch im Zeichen der frühneuzeitlichen belles infidèles steht, versuchen Gries und Regis Inhalt und Form des Originals so getreu wie möglich zu reproduzieren. Beide jedoch arbeiten zugleich kreativ, wie es von jeder rhythmischen und metrischen Übertragung zu erwarten ist. Während sich aber Gries hie und da poetische Lizenzen erlaubt, etwa um skabröse Stellen zu zensieren oder um seinen Text für das deutsche Ohr angenehmer zu machen, arbeitet Regis strenger originalgetreu und versieht seinen Text mit einem ausführlichen Apparat, der von einem philologisch-dokumentarischen Anspruch zeugt.11 Anhand der Boiardo-Übersetzungen wird sich also exemplarisch zeigen, dass um und nach 1800 verschiedene Zugänge zum literarischen Übersetzen und unterschiedliche Kreativitätsbegriffe koexistierten. Zugleich wird die Beschreibung des Übergangs von Schmidts freier Gestaltung hin zu Regis’ Originaltreue durch die gewandte Verbindung beider Extreme bei Gries vor Augen führen, wie die Nachahmungspoetik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung verlor zugunsten einer Auffassung von Übersetzung, die dem modernen ,Reiz des Fremden‘ und der Forderung nach größerer Nähe zum Original entgegenkommt.12 Romantik für italienische Heldengedichte ermöglicht wurde. Hierzu vgl. James V. Mirollo, La Fortuna del Boiardo in Inghilterra (e in America). In: Il Boiardo e la cultura contemporanea, hg. von Giuseppe Anceschi, Firenze 1970, S. 319–327. 9 Vgl. Elisabeth Ahrend, Übersetzungsforschung und Rezeptionsforschung. Fragen der Theorie und Praxis am Beispiel der übersetzerischen Rezeption italienischer Literatur im deutschen Sprachraum von 1750 bis 1850. In: „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850, hg. von Frank-Rutger Hausmann, Tübingen 1996, S. 185–214. 10 Zur Bedeutung der Vorreden zur Bestimmung der Intention der Übersetzer und zur Begründung ihrer Strategien vgl. Helmut Knufmann, Das deutsche Übersetzungswesen des 18. Jahrhunderts im Spiegel von Übersetzer- und Herausgebervorreden. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 91, 1969, S. 491–572. 11 Zur philologisch-dokumentarischen Übersetzung vgl. den Beitrag von Iris Plack im vorliegenden Band. 12 Vgl. u. a. Hans-Wolfgang Schneiders, Die Ambivalenz des Fremden. Übersetzungstheorie im Zeitalter der Aufklärung (Frankreich und Italien), Bonn 1995, S. 146–171.

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I „[S]o muß man dem Bojardo seinen Platz neben den höchsten Meistern aller Zeit anweisen“. Die deutsche Boiardo-Rezeption um 1800 Die Rezeptionsgeschichte des Orlando innamorato ist von Anfang an eine Geschichte kreativer Umschreibungen, Bearbeitungen und Fortschreibungen. Bereits die lückenhafte Überlieferung des Textes und dessen zerklüftete Editionsgeschichte im frühen 16. Jahrhundert machen es unmöglich, von einem Original stricto sensu zu sprechen: Die erste Ausgabe der beiden ersten Bücher, die zwischen 1482 und 1483 vermutlich in Reggio Emilia, Modena oder Scandiano erschien,13 ist aufgrund ihres großen Erfolgs buchstäblich verbraucht worden, weswegen uns heute keine Überlieferung vorliegt, während die dutzenden Auflagen, die das Heldengedicht in den ersten Jahrzehnten nach seiner Erstveröffentlichung erlebte, Lücken und Unstimmigkeiten aufweisen.14 Dieses prekäre Bild verkompliziert sich durch die mehrfachen Bearbeitungen des Werkes im frühen Cinquecento, die eine deutliche Konturierung des Ausgangstextes erschweren. Unter diesen Bearbeitungen sind vor allem zwei zu erwähnen, die sich auch internationaler Resonanz erfreuten: die gänzliche Umarbeitung (rifacimento) von Francesco Berni (1542)15 und die sprachliche Erneuerung (rimaneggiamento) von Lodovico Domenichi (1545).16 Während Letzterer darum bemüht war, Boiardos ungeschmückte Sprache zu glätten und die veralteten

13 Die 1495 (posthum) von Camillo Boiardo, dem Sohn des Dichters, herausgegebene Gesamtausgabe, die auch die ersten neun Gesänge des dritten Buchs beinhaltet, gilt ebenso als verschollen. 14 Eine auf den neuesten Stand gebrachte Einführung in die Editionsgeschichte des Innamorato bietet Tiziano Zanato, Boiardo, Roma 2015, S. 145–161. Für eine vollständige Auflistung und Besprechung der verschiedenen Texteditionen sowie der Bearbeitungen des Werkes vgl. Neil Harris, Bibliografia dell’„Orlando Innamorato“, 2 Bde., Modena 1988–1991. 15 Zu den Innovationen von Bernis rifacimento vgl. H. F. Woodhouse, Language and Style in a Renaissance Epic. Berni’s Corrections to Boiardo’s Orlando innamorato, London 1982; Danilo Romei, L’„Orlando“ moralizzato dal Berni. In: Da Leone X a Clemente VII. Scrittori toscani nella Roma dei papi medicei (1513–1534), Roma 2007, S. 181–201. 16 Domenichis Fassung stellt in der Tat eine nach damaligen Standards konzipierte „kritische Edition“ dar, d. h. eine Edition, die vor allem um die sprachliche Korrektur (riforma) und Zugänglichmachung des Originals bemüht war. Hierzu vgl. Carlo Dionisotti, Fortuna e sfortuna del Boiardo nel Cinquecento. In: Il Boiardo e la cultura contemporanea, hg. von Giuseppe Anceschi, Firenze 1970, S. 221–241, hier S. 240 f.

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und landschaftlichen Ausdrücke zu emendieren, ohne dabei den Inhalt und Gang des Gedichts anzutasten, entfernte sich Ersterer, der sich Ariosto zum Vorbild nahm, deutlicher vom Ausgangstext und veränderte ihn sowohl inhaltlich als auch strukturell, „so dass der ursprüngliche Bojardo bald ganz vergessen war“.17 Eine eigene Abhandlung würden darüber hinaus die lukrativen Fortschreibungen des Innamorato verdienen, die sogenannten giunte, die das Fragment gebliebene Epos ausgehend von den von Boiardo angedeuteten Entwicklungslinien des Plots um weitere Gesänge, ja um ganze Bücher ergänzten.18 Im 18. Jahrhundert wurde der Orlando innamorato am häufigsten entweder in der Ausgabe von Domenichi oder in derjenigen von Berni gelesen, welche besonders seit ihrer vierten Auflage im Jahr 1725 einen stets wachsenden Beifall fand. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der Behauptung der Philologie und der Erprobung moderner Editionsmethoden wurde versucht, den fast verschollenen Boiardo in seiner ursprünglichen Gestalt wiederherzustellen: Unabhängig voneinander brachten Antonio Panizzi in London (1830) und der deutsche Romanist Gottlob Heinrich Adolph Wagner in Leipzig (1833) zwei Ausgaben heraus, die – auch wenn sie nach heutigen textkritischen Maßstäben als problematisch erscheinen19 – einen ersten Beitrag zur Rückgewinnung der Boiardo’schen ,Originalfassung‘ leisteten. Während Panizzi sieben frühere Ausgaben kollationierte, legte Wagner die vollständige Edition einer einzigen venezianischen Inkunabel von 1527 vor und erwarb – zumindest in Deutschland – den Ruhm, „den alten Dichter aus seinem fast 300jährigen Schlummer zuerst erweckt zu haben“.20 Das erste Zeugnis einer schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Orlando innamorato im deutschsprachigen Raum datiert auf die Jahre 1794 und 1795 zurück, als das sechste und siebte Buch der Vermischten Gedichte und prosaischen Schriften von Ludwig Heinrich von Nicolay veröffentlicht wurden: Im sechsten Teil findet sich eine freie Umdichtung der Episode der Morgana

17 Anonymus, [Rezension von:] Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland, herausgegeben von Gottlob Regis. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 152, 1844, Sp. 1209–1214, hier Sp. 1210. 18 Die bekannteste giunta war diejenige von Agostini. Hierzu vgl. Elisabetta Baruzzo, Nicolò degli Agostini continuatore del Boiardo, Pisa 1983. 19 Panizzi standen keine der älteren Ausgaben zur Verfügung und Wagner nahm eine einzige, sehr verderbte Ausgabe als Textgrundlage für seine Edition. 20 Johann Diederich Gries, Vorrede. In: Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland. Zum erstenmale verdeutscht und mit Anmerkungen versehen von Johann Diederich Gries, Bd. 1, Stuttgart 1835, S. III–XLVIII, hier S. XXIII.

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(II, Ges. 8 und 9),21 während im siebten ausgewählte Stationen der Liebesgeschichte zwischen Rinaldo und Angelica bearbeitet werden.22 Für seine Verse geht Nicolay mit Boiardos Text äußerst frei um und verwendet ihn eher als Stoff zur Entwicklung einer eigenen Dichtung. Der Autor, der sich in den ersten Strophen von Morganens Grotte als Ariostos Schüler bekennt, nimmt Boiardos Werk, das er als besonders derb empfindet, nicht ernst und fühlt sich legitimiert, es mit eigener Kreativität zu bearbeiten: Ein wild Gewässer, schwer berüchtigt, Ist des Bojardo Lied. Zwar alter Worte Rost Schliff Berni weg; doch blieb die Fabel ungezüchtigt, Und aus Bescheidenheit hast du, mein Ariost, Die seidnen Faden deiner Spule Den zwirnen angeknüpft auf dem verlassnen Stuhle. Warum entfernt sich denn mein Lied Von dir, wenn ich so klar den Unterschied Des Liebenden, des Rasenden bemerke? – Aus Lust zur Änderung, zur Prüfung eigner Stärke. In deiner Schule nur geübt, Such’ ich ein Feld, das grössre Freiheit giebt, Das ich unsträflicher verwandle, Und als mein Eigenthum behandle.23

Als Ariostos Verehrer schreibt Nicolay das im 18. Jahrhundert bereits konsolidierte Vorurteil fort, Boiardos Dichtung sei im Vergleich zu jener seines Nachfolgers nicht so raffiniert, und gerade in dieser Schwäche des Originals sieht er den Anlass für eine durchaus kreative Umarbeitung, die er sozusagen ohne Schuldgefühle durchführen kann, weil er sich aufgrund der angeblichen poetischen Unreife des Ausgangstextes von jeder Verpflichtung gegenüber demselben befreit fühlt. Der Vergleich mit Ariosto war also auch in den deutschen Landen von Anfang an ein spezifisches Merkmal der Boiardo-Rezeption: Wie bereits angedeutet, wurde der Innamorato erst Jahre nach dem Furioso entdeckt und vor allem in der Rolle des Vorgängers von Ariostos Text gelesen. Doch bereits bei seiner Entdeckung im frühen 19. Jahrhundert vermehrten sich die Stimmen, die Boiardos Qualitäten anerkannten und zugleich versuchten, ihn aus dem Schatten des berühmten Nachfolgers zu holen. So beobachtet etwa Friedrich Schlegel in

21 Vgl. Ludwig Heinrich von Nicolay, Morganens Grotte. In vier Büchern. In: Vermischte Gedichte und prosaische Schriften, 6. Bd., Berlin/Stettin 1794. 22 Vgl. Ludwig Heinrich von Nicolay, Reinhold und Angelika, Eine Rittergeschichte in zwölf Gesängen. In: Vermischte Gedichte und prosaische Schriften, 7. Bd., Berlin/Stettin 1795. 23 Nicolay, Morganens Grotte, S. 3 f.

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seinen Wiener Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur (1812): Von Seite der Erfindung und der Fülle der Fantasie, die man ihm sonst wohl zutraut, verliert Ariost viel, sobald man seine Quelle [Boiardo, D. V.] kennen lernt. Der ganze Vorrat an Erfindungen und Erzählungen, womit er uns unterhält, findet sich schon bei seinem Vorgänger, und auch die malerische Kraft der Beschreibung ist dieselbe; nur die größere Sorgfalt, Leichtigkeit und Anmut in Sprache und Verskunst hat Ariost voraus, und etwa den Vorzug, daß er Stellen aus der Odyssee, dem Ovid, oder sonst einzelne Blumen aus den alten Dichtern mit noch glücklicherem Kunstsinn zu benutzen und zu entlehnen weiß.24

Ein ähnliches Urteil fällt der spätere Boiardo-Übersetzer Gries in einem Brief vom 21. Juni 1812 an August Wilhelm Schlegel, in dem er über seine Erfahrung mit der tastenden Übertragung eines Gesanges des italienischen Rittergedichts berichtet: [D]as Gedicht […] verdient [es wohl], den Deutschen bekannter zu werden. An Erfindung und Phantasie steht Bojardo dem Ariost gewiß nicht nach, wenn er ihm vielleicht an Witz und Lebhaftigkeit weichen muß. Dagegen hat Bojardo dann wieder den Vorzug der Priorität und Originalität; denn ohne ihn würde Ariost vielleicht nie auf den Gedanken gekommen seyn, ein Gedicht, wie der Furioso ist, zu schreiben.25

Schlegel und Gries heben die stoffliche Originalität und die bildliche Phantasie des Innamorato als Voraussetzungen für Ariostos Furioso hervor und wünschen sich, dass Boiardos Dichtung aufgewertet und dem deutschen Publikum nähergebracht wird. Der Wunsch nach der Entdeckung von Boiardo in Deutschland kennzeichnet auch die Intention der ersten Gesamtübersetzung des Epos, der „prosaische[n] Darstellung“ 26 von Wilhelmine Schmidt (1819). Hier wird auf der einen Seite der Bezug zu Ariosto verkaufsstrategisch beibehalten (die Lektüre Boiardos wird als Vorbedingung präsentiert, um Ariosto vollkommen schätzen und

24 Friedrich Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 6), hg. von Hans Eichner, München/Paderborn/Wien 1961, S. 218. 25 Johann Diederich Gries, Brief vom 21. Juni 1812 an August Wilhelm Schlegel. In: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel, hg. von Josef Körner, Zürich/Leipzig/Wien 1930, Bd. 1, S. 275‒282, hier S. 282. Die digitalisierte Handschrift des Briefes ist einzusehen auf der Seite: http://august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/briefid/588 (letzter Zugriff: 4. Oktober 2017). 26 Vgl. Friedrich Wilhelm Valentin Schmidt, Über die italiänischen Helden-Gedichte aus dem Sagenkreis Karls des Großen. In: [Wilhelmine Schmidt], Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern. Nach dem Italiänischen des Grafen Bojardo, Bd. 3, Berlin/Leipzig 1820, S. 196.

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verstehen zu können);27 auf der anderen Seite wird der Versuch unternommen, Boiardo auch unabhängig von seinem sperrigen Nachfolger zu rehabilitieren. Mit den Worten des Herausgebers Valentin Schmidt musste man „dem Bojardo seinen Platz neben den höchsten Meistern aller Zeit anweisen“, und zwar als „der Schöpfer jenes göttlichen Gedichtes [des Orlando innamorato, D. V.], in welchem die ganze Wunderwelt des romantischen Ritterlebens wahrhaft eingekehrt ist, und dessen Vollendung […] der Tod des Dichters verhinderte“.28 In diesem Satz werden im Übrigen zwei der Hauptgründe für das Interesse der deutschen Romantik an Boiardos Epos genannt: die Darstellung des mittelalterlichen Ritterlebens und seiner Werte, die zum ersten Mal durch eine synkretistische Mischung von Figuren und Elementen aus den karolingischen und den arthurianischen Zyklen zum Ausdruck kamen, und die unvollendete Natur des Gedichts, die der Faszination der Romantiker für das Fragment entsprochen haben muss. Schmidts Prosaadaption des Orlando innamorato hatte jedoch nicht die Resonanz, die sich der Herausgeber gewünscht hatte. Erst mit der Edition von Wagner (1833) und vor allem mit der Übersetzung von Gries (1835–1839), „der wohl besten bislang vorliegenden deutschen Versübersetzung“,29 wurde die Aufmerksamkeit der deutschen Leser wieder auf das Werk Boiardos gelenkt. Gries, der seine Aufgabe als Kulturvermittler sehr ernst nahm, stellt seinem Verliebten Roland eine längere Vorrede voran, in der er nicht nur eine sorgfältige Darstellung der Entstehungs- und Editionsgeschichte sowie der Struktur, Sprache und Inhalte des Innamorato bietet, sondern auch ein detailreiches biographisches und intellektuelles Profil des Dichters rekonstruiert und sogar kurz auf seine weniger bekannten literarischen Erzeugnisse eingeht.30 Die letzte Etappe auf dem unebenen Weg der deutschen Boiardo-Rezeption im frühen 19. Jahrhundert stellt die 1840 erschienene Übersetzung von Regis dar, welche einzelne von Gries zensierte Stanzen einschließt und deswegen den Ruhm verdient, die erste – und bisher letzte – vollständige Verdeutschung

27 So behauptet der Herausgeber in der Vorrede, dass der populäre Orlando furioso „nur eine Fortsetzung des Gedichtes Bojardo’s“ darstelle und dass vieles bei Ariosto ohne „die Bekanntschaft mit seinem großen Vorgänger […] völlig unverständlich“ sei (Friedrich Wilhelm Valentin Schmidt, Vorrede des Herausgebers. In: [Wilhelmine Schmidt], Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern. Nach dem Italiänischen des Grafen Bojardo, Bd. 1, Berlin/Leipzig 1819, S. III–VI, hier S. V). 28 Schmidt, Über die italiänischen Helden-Gedichte, S. 184. 29 Florian Mehltretter, Vorbemerkung. In: Matteo Maria Boiardo, Der Verliebte Roland, erzählt und kommentiert von Florian Mehltretter mit einer Auswahl der Übersetzung von Johann Diederich Gries, München 2009, S. 7 f., hier S. 7. 30 Vgl. Gries, Vorrede, S. III–XLVIII.

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des Orlando innamorato zu sein. Im Gegensatz zu Gries, der Ariosto in seiner Vorrede nur nebenbei erwähnt, um Boiardo im Fokus zu halten,31 vermarktet Regis seinen Verliebten Roland schon auf der Titelseite ausdrücklich als den „erste[n] Theil zu Ariosto’s Rasendem Roland“ 32 – ein Brandzeichen, das die Rezeption des Orlando innamorato für den Rest des 19. Jahrhunderts prägte und bis heute den Grafen von Scandiano als zweitrangig erscheinen lässt.

II „Bojardos Zauberbaum aus italiänischem Boden in den deutschen […] verpflanzen“. Wilhelmine Schmidts Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern (1819) Eine Analyse der deutschen Boiardo-Übersetzungen im 19. Jahrhundert muss bei der Prosaadaption von Wilhelmine Schmidt anfangen. Lange Zeit wurde in der Forschung behauptet, diese anonym erschienene Übertragung sei das Werk der Schriftstellerin Benedikte Naubert, an deren Tod in der Vorrede erinnert wird.33 Es handelt sich allerdings um ein Missverständnis, das aufgrund einer frühen Rezension des Werkes entstanden ist 34 und bis in die jüngste Forschung hinein beständig wiederholt wurde.35 Im Gegensatz zu Naubert, deren Werk mittlerweile in der Dixhuitièmistik besondere Prominenz errungen hat, ist Schmidt nur wenigen Spezialisten als die Übersetzerin von Walter Scotts The Heart of Midlothian (Der Kerker von Edinburgh, 1821–1822) und verschiedener Stücke von Calderón de la Barca (u. a. Der Liebhaber als Gespenst und Das Mädchen des Gomez Arias, beide 1825 veröffentlicht) bekannt.36 Ihr übersetze-

31 Vgl. Gries, Vorrede, S. XXXIV f. 32 In einer Notiz an den Verleger Cotta über seine Übersetzung betont Regis die Bedeutung dieses Ariosto-Bezugs: „Hierdurch wird das Publicum“ darauf „aufmerksam gemacht: […] daß Ariost ohne diese erste Hälfte des gesammten Rolands-Gedichtes nie gehörig verstanden werden kann“ (Johann Gottlob Regis, Brief vom 7. Juli 1838 an Johann Georg von Cotta. Zitiert in: Tgahrt, Weltliteratur, S. 544 f., hier S. 545). 33 Vgl. Schmidt, Vorrede des Herausgebers, S. III. 34 Vgl. Carl Wilhelm Otto August von Schindel, Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 2, Leipzig 1825, S. 270. 35 Vgl. etwa Hilary Brown, Benedikte Naubert (1756–1819) and her Relations to the English Culture, Leeds 2005, S. 30. 36 Vgl. Henry W. Sullivan, Calderon in the German Lands and the Low Countries. His Reception and Influence, 1654–1980, Cambridge/New York 1983, bes. S. 195–209 und S. 316 f.; Carol Tully, Cultural Hierarchies and the Global Canon. German Hispanism, Translation and Gender

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risches Werk verdanken wir mit aller Wahrscheinlichkeit der intensiven Zusammenarbeit mit ihrem Mann, dem Berliner Gelehrten Valentin Schmidt, der die Herausgabe der Boiardo-Adaption betreute und ihr vermutlich auch alle anderen Übersetzungen für seine eigenen Studien in Auftrag gab.37 In der Regel arbeitete Wilhelmine Schmidt nicht bloß mimetisch oder reproduktiv, sondern pflegte einen ziemlich freien Umgang mit den jeweiligen Originalen, was auch als ein Ausdruck der emanzipatorischen Bestrebungen der Übersetzerin gedeutet werden kann.38 Dass sie besonders in der Wiedergabe des Orlando innamorato in Prosa ihre schriftstellerischen Ambitionen verwirklicht sah, bezeugt die Tatsache, dass sie ihre späteren Übersetzungen unter dem (weiblichen!) Titlonym „von der Verfasserin der Rolands Abentheuer“ veröffentlichen ließ. Es ist schwer zu eruieren, mit welcher Vorlage Schmidt gearbeitet hat. 1819 waren die Editionen von Panizzi und Wagner noch nicht erschienen und es ist durchaus möglich, dass sie eine Bearbeitung (von Berni oder Domenichi) oder sogar eine Übersetzung herangezogen hat, obwohl es im Untertitel „nach dem Italiänischen des Grafen Bojardo“ heißt. Ihr Mann verzeichnet in seinen Ausführungen zum Innamorato die verschiedenen ihm bekannten „Ausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen“, ohne jedoch zu präzisieren, welche für die Adaption verwendet wurde(n) bzw. zu welchen er und seine Frau Zugang hatten.39 Stattdessen gibt er reichlich Auskunft über das Modell und die leitende Intention der Übersetzung:

in the Nineteenth Century. In: Oxford German Studies, 42.2, 2013, S. 119–138, bes. S. 132–135. Für weitere biobibliographische Informationen zu Wilhelmine Schmidt vgl. Julius Eduard Hitzig, Gelehrtes Berlin im Jahre 1825, Berlin 1826, S. 244 f. 37 Man kann also im Hinblick auf Wilhelmine Schmidt eine ähnliche Rolle als ,Gehülfin‘ vermuten, wie es bei der Gottschedin der Fall war. Hierzu vgl. u. a. Hilary Brown, Luise Gottsched the Translator, Rochester 2012. 38 Zu den Spezifika weiblicher Übersetzungspraxis um 1800 vgl. Andrew Piper, The Making of Transnational Communities. German Women Translators, 1800–1850. In: Women in German Yearbook, 22, 2006, S. 119–144; Hilary Brown, Brunhilde Wehinger (Hg.), Übersetzungskultur im 18. Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Hannover 2008, (Aufklärung und Moderne 12); Norbert Bachleitner, Striving for a Position in the Literary Field: German Women Translators from the 18th to the 19th Century. In: „Die Bienen fremder Literaturen“. Der literarische Transfer zwischen Großbritannien, Frankreich und dem deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur (1770–1850), hg. von Norbert Bachleitner und Murray G. Hall, Wiesbaden 2012, S. 213–228; Angela Sanmann, Martine Hennard Dutheil de la Rochère, Valérie Cossy (Hg.), fémin|in|visible. Women Authors of the Enlightenment – Übersetzen, schreiben, vermitteln, Lausanne 2018, (Cahiers du CTL 58). Darüber hinaus vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Angela Sanmann und Gaby Pailer. 39 Vgl. Schmidt, Über die italiänischen Helden-Gedichte, S. 193–196.

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Rolands Abentheuer, deren Herausgabe mir gütigst anvertraut worden, sollte dem Wesen und der Form nach an das deutsche Buch der Liebe erinnern. Wie dort gute ältere Bücher, in denen der Geist christlich-europäischer Tugenden der Männer und Weiber weht, in deutscher Zunge den Freunden des guten und schönen zur Ergötzung und Belehrung erneut sind, ohne ängstlich die jedem Volk eigenthümliche nationelle Form beizubehalten: eben so versuchte die verehrte Verfasserin auch hier Bojardos Zauberbaum aus italiänischem Boden in den deutschen zu verpflanzen, und so viel als möglich einheimisch zu machen.40

Schmidts Prosaübersetzung soll also ein zweifaches Programm erfüllen: Wie das 1809 initiierte – und nach dem ersten Band nicht weitergeführte – Projekt von Johann Gustav Büsching und Friedrich Heinrich von der Hagen, „die ächten alten Ritterbücher, noch aus der wirklichen Ritterzeit“ in einem Buch der Liebe neu zu edieren,41 zielen Rolands Abentheuer einerseits darauf, dem deutschen Publikum die Werte jener Zeit „zur Ergötzung und Belehrung“ vorzustellen; andererseits sollen sie Boiardos Werk – gemäß der typisch frühneuzeitlichen Praxis der einverleibenden Übersetzung – vereinheimischen, es also mit Blick auf den Horizont der Zielkultur und nicht jenen des Originals übertragen. Folglich haben wir es hier erklärtermaßen mit einer belle infidèle zu tun, d. h. mit einer schönen, aber untreuen Nachbildung, in der die übersetzerischen Eingriffe mit dem Ziel größerer Eleganz, Logik und Klarheit vorgenommen werden, wobei nicht der Grad der Nähe zum Original, sondern die Leistung für die Literatur der Zielsprache entscheidend ist.42 Wie der Titel es verrät, werden Rolands Abentheuer „in hundert romantischen Bildern“ wiedergegeben, wobei hier ,romantisch‘ im Sinne von ,romanesk‘ verwendet wird. Die 69 Gesänge des Orlando innamorato werden in einzelne Erzählsegmente zergliedert und dessen über 35.000 Verse auf ca. 530 Seiten in Prosa komprimiert. Dabei arbeitet Schmidt zu Beginn relativ nah am Original, während ihre Übersetzung ab der Mitte des zweiten Buchs einen paraphrastischeren Charakter annimmt und nicht selten sogar Elemente aus dem Orlando furioso in die Diegese integriert.43 Doch selbst in den originalgetreueren Teilen

40 Schmidt, Über die italiänischen Helden-Gedichte, S. 196 f. [Hervorhebung im Original]. 41 Johann Gustav Büsching, Friedrich Heinrich von der Hagen, Vorrede. In: Buch der Liebe, hg. von Johann Gustav Büsching und Friedrich Heinrich von der Hagen, Bd. 1, Berlin 1809, S. III–LII, hier S. III. 42 Hierzu vgl. Wilhelm Graeber, Blüte und Niedergang der belles infidèles. In: Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, 2. Bd., hg. von Harald Kittel, Juliane House u. a., Berlin/New York 2007, S. 1520–1531. 43 Vgl. die in den Fußnoten angegebenen Verweise auf Ariosto in Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 2, S. 37, 84, 102, 106, 124, 146, 151, 154, 193, 195, 201, 205, 209, 217, 225, 235, 244 und 252.

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geht Schmidt mit der Vorlage kreativ um, und dies nicht nur wegen des nachvollziehbaren Unterschieds zwischen Vers und Prosa. Bereits im ersten Bild, das den Titel König Karls Hoflager, und Angelica trägt und grosso modo den Inhalt der Stanzen 3 bis 35 vom ersten Gesang des Innamorato wiedergibt, werden als entbehrlich empfundene Details, wie die Namen der Gäste am Fest Karls des Großen oder einzelne Dialoge (St. 10 und 16–18), weggelassen. Noch gravierender erscheint die Tilgung der Rahmenfiktion, nach welcher der Bischof von Reims Turpin – der übliche Chronist der Heldentaten christlicher Paladinen – die kompromittierende Geschichte Rolands eigentlich versteckt.44 Neben solchen Auslassungen greift Schmidt aber auch mit Ergänzungen in den Text ein, etwa wenn sie Realia der karolingischen Zyklen wie Baiardo – „das treffliche Roß des Reinhold von Montalban“ – oder Durindana – „Rolands gutes Schwert“ – durch kurze Appositionen erklärt.45 Solche für das Verständnis des Textes notwendige Erläuterungen sind eben ein Zeichen für jene programmatische ,Verpflanzung‘ des Boiardo’schen Textes in das deutsche Kultursystem, von der Valentin Schmidt in Bezug auf die Übertragung seiner Frau sprach. Ein weiteres Beispiel für Schmidts translatorische Kreativität ist das mit Eingang betitelte Kapitel, in dem die beiden ersten Strophen des Epos zusammengefasst und gleichsam aktualisiert werden. Das berühmte Incipit von Boiardo lautet: Signori e cavalier che ve adunati Per oldir cose diletose e nove, Stati atenti e quïeti e ascoltati La bela istoria che il mio canto move […].46

Bei Schmidt geht der traditionelle Bezug zur mündlichen Überlieferung des Epos („oldir“, „ascoltati“, „il mio canto“) verloren. Stattdessen wird auf das Buchmedium hingewiesen: Wenn ihr, edle Herren und Frauen, euch gern der lehrreichen und unterhaltenden Geschichte der Vorwelt erfreuen mögt, so schenkt auch diesen Blättern eure Aufmerksamkeit.47

44 „Questa novella è nota a poca gente, / Perché Turpino istesso la nascose, / Credendo forsi a quel conte valente / Esser le sue scriture dispetose, / Poiché contra ad Amor pur fu perdente / Colui che vinse tutte l’altre cose“. Matteo Maria Boiardo, Orlando Innamorato. L’inamoramento de Orlando, hg. von Andrea Canova, Milano 2011, Bd. 1, S. 119 (I, Ges. I, St. 3). Turpin wird bei Schmidt als der Erzähler der Geschichte nur nebenbei erwähnt (vgl. Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. 1). 45 Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. 1. 46 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 117 (I, Ges. I, St. 1). 47 Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. XI.

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Auffällig ist ebenso die Tatsache, dass bei Schmidt nicht nur Herren und Ritter, sondern auch Frauen zum idealen Publikum des Werkes gezählt werden: Obwohl die „Damen“ auch bei Boiardo in mehreren Passagen angesprochen werden,48 will die Übersetzerin an prominenter Stelle betonen, dass Frauen nun durch die Verbreitung der Lektüre einen direkten Zugang zur Literatur haben und am Genuss dieses Werkes teilhaben können. In diesem Zusammenhang erklärt sich auch der Hinweis auf das pädagogische Potenzial dieser Lektüre: Neben der Unterhaltsamkeit der Geschichte wird nicht so sehr ihre Neuigkeit („cose diletose e nove“) betont, sondern mehr die Tatsache, dass sie zugleich „lehrreich[ ] und unterhaltsam[ ]“ ist, gemäß dem um 1800 beliebten Motto des prodesse et delectare, das besonders für die Frauenliteratur galt. Lehrreich sein sollte Schmidts Version des Innamorato nicht nur, weil sie die „heldenmuthige Tapferkeit“ und den „reife[n], vielfach bewährte[n] Verstand“ des Protagonisten zur Schau stellt, sondern vor allem, weil sie die Macht der „allesvermögenden Liebe“ vorführt, der „keiner auf Erden […] zu widerstehen fähig sey“.49 Ganz im Sinne des Buchs der Liebe wird der herrschende Affekt der alten Epen als eine bildende Kraft gepriesen, welche „die Seele der lieblichsten und adelichsten Tugenden“ bewegen kann.50 In Bezug auf das Werk von Boiardo notiert Valentin Schmidt, dass Roland, „der immer jungfräuliche Held der alten Sagen“, nun „in reiner Liebe brennend und strahlend“ auftritt, um dieses Liebesideal zu veranschaulichen, denn allein durch die Liebe können die ritterlichen „Tugenden bis zu ihrer höchsten Entwickelung gesteigert werden“.51 Obgleich die Liebe unbestreitbar eine kardinale Funktion im Epos einnimmt,52 erweist sich diese Interpretation als kurzsichtig und allzu idealistisch. Wie Gries in der Vorrede zu seiner Übersetzung gerade in Bezug auf diese Stelle bei Schmidt kritisch bemerkt, ist nichts lächerlicher, als die Behauptung, Boj. habe den Roland als ein Ideal aller ritterlichen Tugenden, „in reiner Liebe brennend und strahlend“, darstellen wollen. Vielmehr macht er sich oft genug über dessen Unbeholfenheit im Lieben lustig; und Rolands Buhlschaft mit der schändlichen Origille, die ihn so oft betrügt und doch immer wieder zu Gnaden aufgenommen wird, stellt diesen eben nicht als Kostverächter dar. Auch die Liebe zu

48 Vgl. hierzu Andrea di Tommaso, Structure and Ideology in Boiardo’s Orlando Innamorato, Chapel Hill 1972, S. 36 f. 49 Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. XI f. 50 Büsching, von der Hagen, Vorrede, S. IX. 51 Schmidt, Über die italiänischen Helden-Gedichte, S. 187 f. 52 Vgl. u. a. Denise Alexandre-Gras, L’héroïsme chevaleresque dans le Roland Amoureux de Boiardo, Saint-Etienne 1988, S. 69–126; Fabio Cossutta, Gli ideali epici dell’Umanesimo e l’„Orlando innamorato“, Roma 1995, S. 485–524.

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Angelica ist doch nicht gerade sehr rein zu nennen, da Roland gleich zu Anfang (C. I. St. 22.) als Ehemann aufgeführt wird […].53

Laut diesen Ausführungen ist Schmidt, der von Gries als etwas bigott dargestellt wird,54 von einem stark idealisierten Bild der Liebe geleitet – und genau dies spiegelt sich in der Übersetzung seiner Frau wider. So werden dort sämtliche Stellen, die das Leidenschaftliche und sogar Skabrös-Sexuelle an der Liebe thematisieren, sorgfältig zensiert. Dies ist nicht nur bei der Erwähnung von Rolands Frau Alda im ersten Gesang der Fall: Auch der brutale nekrophile Akt in der Geschichte um Stella und Marchino55 wird in der Version von Schmidt getilgt,56 während das langwierige erotische Treffen von Brandimarte und Fiordelisa,57 von dem weiter unten noch die Rede sein wird, lediglich in eleganter Weise angedeutet wird: Alles um sie her war nun vergessen, weder Marsisens noch Reinholds, noch des wilden Kriegs, der draußen wüthete, gedachten sie mehr. Sie suchten sich einen schattigen Ruheplatz aus, mit frischem Grase und duftenden Veilchen bedeckt, und dort flogen ihnen unter Liebkosungen und süß-vertraulichem Gespräch die Stunden wie Minuten hin.58

Mit ähnlich zensorischem Gestus streicht Schmidt ebenso sämtliche vulgären Ausdrücke sowie jene trivialen59 oder humoristischen60 Elemente, die Boiardos ironischen Blick auf die Ritterzeit verraten – ein Blick, der mit der einseitigen Verherrlichung der boni mores der Vorwelt kollidiert. So verzichtet Schmidt auf die Übersetzung einzelner Details wie zum Beispiel der hyperbolischen Zahlen-

53 Gries, Vorrede, S. XXXVII. 54 „Schmidt war, bei all’ seiner staunenswürdigen Belesenheit, ein höchst einseitiger, von Vorurtheilen angefüllter Kopf, ein abgesagter Feind aller heitern Poesie, trübsinnig, pietistisch und zuletzt (wie man sagt) auch katholisch“ (Gries, Vorrede, S. XXXVII). Zu Valentin Schmidt vgl. Hitzig, Gelehrtes Berlin im Jahre 1825, S. 243 f.; Neuer Nekrolog der Deutschen. Neunter Jahrgang, 1831. Zweiter Theil, Ilmenau 1833, S. 903 f. 55 Vgl. Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 380–382 (I, Ges. VIII, St. 43–48). 56 Vgl. Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. 100–106. 57 Vgl. Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 703–707 (I, Ges. XIX, St. 56–64). 58 Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. 221. Elemente aus der 57. („ogni altra cosa alor dimenticava: Né più Marfisa né Renaldo apreza, / Né di lor guerra più se ricordava“) und 58. Stanze („selva umbrosa / Dove era l’erbe fresche e le vïole“) werden hier aufgegriffen und bearbeitet. 59 Hierzu vgl. Cossutta, Gli ideali epici dell’Umanesimo, S. 485–524. 60 Hierzu vgl. Alexandre-Gras, L’héroïsme chevaleresque, S. 187–252; Christopher Davies, An Analysis of How Humour is Created in Boiardo’s Orlando Innamorato, Reading 1990. Dass die Parodie eine gewisse Sehnsucht nach den Werten der Ritterzeit mit sich bringt, zeigt Giulio Reichenbach, L’Orlando innamorato di M. M. Boiardo, Firenze 1936, S. 217–246.

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angaben bei der Beschreibung von Versammlungen oder Schlachten, die Boiardo zur Parodierung der Gattungskonventionen der Ritterepen verwendet: Die genau „[v]intedoamila e trenta“ 61 Gäste beim Turnier Karls des Großen werden schlicht zu „über zwanzig tausend“,62 und die „cento e sei battaglie“ 63 der Marfisa finden nicht einmal Erwähnung.64 Solche Eingriffe in das Original sind als bedeutende Verluste zu betrachten, denn sie tasten die Grundintentionen von Boiardo und das Wesen des Gedichts an. Man kann also festhalten, dass Schmidts Prosaübersetzung trotz ihres Verdienstes, Boiardos Orlando innamorato zum ersten Mal breiteren Leserkreisen in Deutschland zugänglich gemacht zu haben, der Anfang des 19. Jahrhunderts noch marktbeherrschenden Strategie der belles infidèles folgt und das Epos im Grunde wie eine Romanze behandelt – eine Gattung, die zu diesem historischen Zeitpunkt eher „zur Trivial- und Kolportage-Literatur“ gehörte und „aus ökonomischen Gründen und weil für sie keine ästhetischen Normen best[and]en, oft sehr frei, paraphrasierend und auch aus zweiter Hand übersetzt“ wurde.65 Durch die Fokussierung auf die Zielkultur werden Elemente des Originals häufig geglättet oder erläutert, oft aber auch missverstanden oder zensiert, sodass manche Spezifitäten von Boiardos Dichtung hinter den Intentionen der Übersetzerin und des Herausgebers verschwinden.

III „Allein die Treue ist die Pflicht des Nachbilders, so ist sie doch nicht die einzige“. Der Verliebte Roland von Johann Diederich Gries (1835–1839) Mit anderen Voraussetzungen arbeitete Gries an seiner Übersetzung. Er, der wie die Brüder Schlegel die Idee einer „mimetischen Übersetzung“ verfocht, die philologisch-kritisch und somit prinzipiell ausgangstextlich orientiert ist,

61 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 124 (I, Ges. I, St. 12). 62 Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. 3. 63 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 658 (I, Ges. XVIII, St. 8). 64 Vgl. Schmidt, Rolands Abentheuer, Bd. 1, S. 193–199. 65 Andreas Poltermann, Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, hg. von Brigitte Schultze, Berlin 1987, (Göttinger Beiträge zur Übersetzungsforschung 1), S. 14–52, hier S. 30.

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aber zugleich die Zielkultur im Blick behält und dadurch eine Synthese zwischen dem Fremden und dem Eigenen anstrebt,66 bemüht sich um eine inhaltlich und formal getreue Übertragung des Originals, aber auch um dessen produktive Verwandlung und Vergegenwärtigung. Anders als Schmidt, der keine modernen Auflagen des Orlando innamorato zur Verfügung standen, konnte Gries seine Übersetzung auf der Basis der wenige Jahre zuvor erschienenen Editionen von Panizzi und Wagner gestalten,67 die er – wie den Anmerkungen zu den verschiedenen Varianten zu entnehmen ist – an mancher Stelle auch mit der Bearbeitung von Berni interpoliert. In Einklang mit der wachsenden „Konzentration auf das Original“, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der deutschen Übersetzungstheorie und -praxis zu beobachten ist,68 bietet er also keineswegs eine belle infidèle, sondern nähert sich dem Text mit philologischem Blick und versucht, semantische und phonetische Äquivalenzen zu schaffen, ohne jedoch dabei das Spannungsverhältnis zwischen dem Entstehungskontext des Originals und seiner eigenen Zeit zu vergessen. Von Anfang an bildet „die „grösstmögliche Treue“ das „Haupt-Augenmerk“ 69 der Gries’schen Übersetzung: Diese Treue schien mir bei einem in Deutschland noch fast ganz unbekannten Dichter das erste Erforderniss; und um diese zu erreichen, bin ich von meinen sonstigen Grundsätzen in Ansehung der Reimstellung einigermaassen abgewichen. In den Uebersetzungen des Tasso und Ariost habe ich den weiblichen Reim allemal vorangestellt, bei’m Bojardo aber bald den weiblichen, bald den männlichen, so wie durch die eine oder die andere der beiden Stellungen ein genaueres Anschmiegen an das Original möglich ward. Dass dennoch eine metrische und gereimte Uebersetzung, zumal in einer so schwierigen Versart wie die Ottavarima, nur selten eine wörtliche seyn kann, leuchtet Jedem ein. Doch

66 Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Elena Polledri, „Uebersetzungen sind [philologische] Mimen“. Friedrich Schlegels Philologie und die Übersetzungen von Johann Diederich Gries. In: Friedrich Schlegel und die Philologie, hg. von Ulrich Breuer, Remigius Bunia und Armin Erlinghagen, Paderborn 2013, (Schlegel-Studien 7), S. 165–187. Zum Übersetzungsbegriff der Brüder Schlegel und der (Früh-)Romantiker vgl. vor allem Andreas Huyssen, Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung. Studien zur frühromantischen Utopie einer deutschen Weltliteratur, Zürich/Freiburg im Breisgau 1969; Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S. 89–167; Roger Paulin, Die romantische Übersetzung. Theorie und Praxis. In: Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften, hg. von Nicholas Saul, München 1991, S. 250– 263. Zu Gries vgl. Elisabeth Campe, Aus dem Leben von Johann Diederich Gries. Nach seinen eigenen und den Briefen seiner Zeitgenossen, Leipzig 1855. 67 Wobei die Edition von Wagner „immer zuerst berücksichtigt“ wurde (Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 1, S. 372). 68 Poltermann, Die Erfindung des Originals, bes. S. 35–37. 69 Gries, Vorrede, S. XLIV.

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versteht sich von selbst, dass kein historischer Punkt, auch von geringer Bedeutung, übergangen oder verändert werden darf, und dass man Farbe und Ton des Orig. mit grösster Beharrlichkeit festhalten muss.70

Neben dem Inhalt des Werkes war es Gries also wichtig, die Form des Originals, dessen „Farbe und Ton“ zu reproduzieren, um so eine auf Wirkungsgleichheit gerichtete Übersetzung vorzulegen. Die Schwierigkeit bei der Wiedergabe der formalen Strenge der ottava rima71 überwindet der inzwischen erfahrene Versübersetzer mit dem Rekurs auf die jambische Pentapodie als deutsche Entsprechung des endecasillabo und mit der Einhaltung des festen Reimschemas ABABABCC. Doch anders als in seinen früheren Übersetzungen – bei denen auf sechs kreuzgereimte Verse mit alternierenden weiblichen und männlichen Kadenzen durchweg weiblich endende Paarreim-Verse folgten – geht Gries hier weniger formenstreng um. Ein Beispiel für diesen freieren Umgang mit den Reimen, der Boiardos ,Ton‘ bewahren sollte, bietet folgende Stanze (II, Ges. I, St. 2): So dazumal, als Tugend, Tapferkeit Bei Herrn und Rittern noch in Blüthe standen, War bei uns heimisch Freud’ und Höflichkeit; Doch dann entflohen sie nach fremden Landen. Den Weg verloren sie auf lange Zeit, Und kein Gedank’ an Rückkehr war vorhanden. Doch Sturm und Winter räumen nun das Feld, Und neue Tugendblüthe schmückt die Welt.72

m w m w m w m m

Das „genauere[ ] Anschmiegen“ der Gries’schen Übersetzung an das Original zeigt sich nicht nur im Reimschema und in der prosodischen Strukturierung, sondern auch in der sorgfältigen Reproduktion bestimmter phonetischer oder rhetorischer Effekte.73 Rein exemplarisch sei das Beispiel der berühmten Paronomasie „La cuccia il cacia in pista con tempesta“ 74 angeführt, die bei Gries

70 Gries, Vorrede, S. XLIV f. 71 Zu den Debatten des späten 18. Jahrhunderts zur Übertragung italienischer Metren ins Deutsche vgl. im vorliegenden Bande die Beiträge von Mario Zanucchi und Elena Polledri. 72 Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 1, S. 3. 73 Zu den Reimstrukturen und den Lautfiguren im Innamorato vgl. Marco Praloran, Le lingue del racconto. Studi su Boiardo e Ariosto, Roma 2009, bes. S. 15–77. Für eine ausführliche Besprechung der kreativen übersetzerischen Lösungen von Gries vgl. [Heinrich] Abeken, [Rezension von:] Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland. Zum erstenmale verdeutscht von J. D. Gries. In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Nr. 89–92, Mai 1837, Sp. 710–731. 74 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 851 (I, Ges. XXV, St. 10).

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folgendermaßen klingt: „Die Hündinn jagt und plagt mit Hast den Gast“.75 Eindrückliche Beispiele für geschickt wiedergegebene Alliterationen und lautliche Wiederholungen bieten darüber hinaus die folgenden Verse: [Boiardo:] Ciò che vediva ch’al conte gradava, Quel gli chiedeva, e sol di ciò parlava.76 [Gries:] Was sie dem Grafen wohlgefällig weiss, Das fragt sie nur, und spricht davon mit Fleiss. [Boiardo:] Con tanti corni e tamburin e trombe Che par che ’l mare e ’l ciel tuto rimbombe.77 [Gries:] Mit Hörner-, Trommeln- und Trommeten-Schall, Und Meer und Himmel dröhnt vom Widerhall.78

Bei aller inhaltlicher und formeller Treue gegenüber dem Ausgangstext erlaubt sich Gries die Freiheit, „[i]n einem Puncte […] mit Wissen und Willen vom Original ab[zuweichen]“, und bearbeitet oder tilgt einzelne Stellen des Epos, die seiner Ansicht nach den damaligen „Begriffen von Sitte und Anstand widersprechen“.79 Es handelt sich einerseits um jene das Liebestreffen zwischen Brandimarte und Fiordelisa betreffende Stelle, die bereits von Schmidt zensiert wurde, und andererseits um Leodillas Erzählung ihrer Liebesgeschichte mit Folderico. Im ersten Fall lässt Gries vier Stanzen (I, Ges. XIX, St. 60–63) in eine einzige zusammenfließen;80 im zweiten streicht er im XXI. Gesang eine (St. 68) und im XXII. drei Stanzen (St. 25–27) vollständig weg.81 Diese Auslassungen rechtfertigt der Übersetzer durch die empfundene „Pflicht“, den „zarteren und mit Recht bedenklicheren Theil[ ] der Lesewelt“ zu schützen und diesem doch

75 Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 2, S. 190. 76 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 924 (I, Ges. XXVII, St. 38). 77 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 2, S. 1439 (II, Ges. XV, St. 11). 78 Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 3, S. 222. 79 Gries, Vorrede, S. XLV. Zu Gries’ Eingriffen in den Text vgl. Anonymus, [Rezension von:] Verliebter Roland, Sp. 1212. 80 Vgl. Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 2, S. 85. Hierzu vgl. Matteo Maria Boiardo, Der Verliebte Roland, erzählt und kommentiert von Florian Mehltretter mit einer Auswahl der Übersetzung von Johann Diederich Gries, München 2009, S. 105–111. 81 Es handelt sich um jene Stellen, an denen die anstößige Leodilla untreu zu werden droht und ihre erste sexuelle Erfahrung beschreibt. Vgl. Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 765 und 778 f.

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„den Zugang zu einem so herrlichen und so wenig gekannten Gedichte nicht zu verschließen“.82 Gries denkt also an sein potenzielles Publikum und traut sich nicht, die sexuell expliziteren Stellen des Epos zu übersetzen. Mit den Gedanken stets bei der deutschen Leserschaft verweilend, versucht er zugleich für die Genießbarkeit seiner Übersetzung zu sorgen, die sich nach seiner Auffassung „wohllautend, fliessend, zwanglos“ – sprich: „wie ein Original […] lesen lassen“ sollte.83 Wie er in seiner Vorrede schreibt, ist nämlich die Treue „nicht die einzige [Pflicht des Nachbilders]“:84 Für Gries bedeutet Übersetzen nicht nur das punktuelle Wiedergeben des Originals und das Lösen aller stilistischen Herausforderungen, die der Text stellt, sondern auch das Erobern einer „schriftlichen Stimme“ im Sinne von Novalis, die den übersetzten Text als ein performatives, genießbares „Hör-Erlebnis“ konfiguriert.85 Der Übersetzer leistet nach Gries (und den Romantikern) eine holistische, rhetorisch-hermeneutische Arbeit, die ihn gleichzeitig zum deutenden Leser des Originals, zum Textproduzenten und zum kritischen Leser seines eigenen Textes werden lässt. Er muss seinen Text so bearbeiten, dass er „die Art der Lektüre und des Verstehens in seinem Sinne optimal zu steuern oder zumindest zu beeinflussen hoffen darf“.86 Um dies zu erreichen, soll er nicht schlicht die Treue der Lesbarkeit aufopfern, sondern „sorgsam erwägen, auf welcher Seite in jedem bestimmten Falle die grössere Wichtigkeit ist; er soll erforschen, was vom Original durchaus nicht aufgeopfert werden darf, hieran festhalten und das minder Wichtige diesem bequemen“.87 Mit seiner Übersetzung des Orlando innamorato jongliert Gries also bewusst zwischen den „beiden Uebersetzungsweisen, dem Original ganz treu und seiner Nation verständlich und behaglich zu seyn“, und zielt „mit Ernst und Ausdauer“ auf deren Verbindung.88 Sein Text will das Ergebnis eines hermeneutischen und kreativen Aktes sein, in dessen Rahmen das inhaltliche und formelle Studium des Originals unter Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des Zielpublikums erfolgt.

82 Gries, Vorrede, S. XLVI. 83 Gries, Vorrede, S. XLVI. 84 Gries, Vorrede, S. XLVI. 85 Vgl. Reiner Kohlmayer, Kreativität beim Literaturübersetzen. Eine Bestimmung auf rhetorischer Grundlage. In: Kreativität und Hermeneutik in der Translation, hg. von Larisa Cercel, Marco Agnetta, Marìa Teresa Amido Lozano, Tübingen 2017, (Translationswissenschaft 12), S. 31–58, bes. S. 40–45. 86 Kohlmayer, Kreativität beim Literaturübersetzen, S. 41. 87 Gries, Vorrede, S. XLVI f. 88 Gries, Vorrede, S. XLVIII.

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IV „[D]ie jetzt und künftig lebenden Landsleute auf den Standpunkt der Zeitgenossen [des] Dichter[s] zurückzuversetzen“. Johann Gottlob Regis’ Verliebter Roland (1840) Während Gries an seinem Verliebten Roland in Fortsetzungen arbeitete, erfuhr er vom Konkurrenzunternehmen von Gottlob Regis, der seine Übersetzung in einem Stück veröffentlichen wollte und den er als einen „gefährliche[n] Nebenbuhler“ ansah.89 Tatsächlich war Regis ein versierter Dichter und Übersetzer, der sich bereits intensiv mit Texten aus dem Französischen (Rabelais), Englischen (Shakespeare und Swift), Spanischen (Cid-Romanzen) und Italienischen (Michelangelo) beschäftigt hatte. Obwohl er ein vielseitiger, „sprachmächtiger Künstler“ war, ist sein Name heutzutage nicht so bekannt, einerseits weil er grundsätzlich verfremdend übersetzte und deswegen als „schwierig galt“, andererseits weil „er sich keiner Übersetzerpartei anschloß“ und sich „nicht an den Diskussionen beteiligte“, sodass seine Werke nur in kleineren Kreisen zirkulierten und er „eher für einen Gelehrten als für einen Belletristen gehalten [wurde]“.90 Die Aura des Gelehrten ist auch in seiner Übersetzung des Orlando innamorato zu spüren, welche die erste „uncastrirte deutsche Übersetzung“ des Boiardo’schen Epos darstellt: „Während die Griesische […] aus übergrosser Zartheit, gewisse an sich unverfängliche Stellen unterdrückt hat“,91 fehlt in seiner Version nichts vom ursprünglichen Text. Der Anspruch, das Original zum ersten Mal unversehrt zu übersetzen, ist ein Zeichen für das textzentrierte Bewusstsein, mit dem Regis an seiner Verdeutschung arbeitete. Im Zuge der im frühen 19. Jahrhundert wachsenden Tendenz, „das ,Werk‘ als letzten verbindlichen Wert anzusehen“,92 kümmert sich Regis darüber hinaus nicht nur um die Übersetzung, sondern auch um die Herausgabe des Textes, die er mit wissenschaftlicher Sorgfalt und relativ fortschrittlichen Editionsmethoden realisiert. Die paratextuellen Beigaben, die seine philologische Arbeit am anschaulichsten zeigen und dem Buch den Anschein einer kritischen Studienausgabe verleihen, schließen ausführliche Anmerkungen ein, in denen er die verschiedenen lectiones verzeichnet und auf sprachliche Fragen eingeht,93 ein Glossar mit 89 So Gries in einem Brief an Johann Georg Rist aus dem Jahr 1838. Zitiert in: Campe, Aus dem Leben von Johann Diederich Gries, S. 171. 90 Tgahrt, Weltliteratur, S. 524 f. 91 Gries, Brief vom 7. Juli 1838 an Cotta, S. 545. Die Boiardo-Übersetzung kam jedoch nicht bei Cotta heraus. 92 Poltermann, Die Erfindung des Originals, S. 36. 93 Vgl. Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 331–370 und S. 474 f.

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Erläuterungen zu fiktiven und historischen Figuren, Orten usw.,94 ein Namenregister95 sowie eine kurze editorische „Nachschrift“.96 Anders als Gries gibt Regis keine eingehende Beschreibung der leitenden Prinzipien seiner Übersetzung. Nur an einer Stelle erklärt er, dass es „ein Hauptzweck“ seiner Arbeit war, „die jetzt und künftig lebenden Landsleute auf den Standpunkt der Zeitgenossen beider Dichter [Boiardo und Ariosto, D. V.] zurückzuversetzen“.97 Sein Wunsch ist es also nicht, den Text vor dem Verständnishorizont der zeitgenössischen Gegenwart einzubürgern, sondern er möchte die Leser – im Sinne Schleiermachers98 – zu dem Text führen, sie mit sich auf eine Reise in die italienische Renaissance nehmen und den Reichtum an sprachlichen, historischen und kulturellen Differenzen aufrechterhalten und erklären. Aus diesem Grund betrachtet Regis jene „Anstöße i[m] […] Versbau, Provinzialismen, veraltete[n] Sprachformen,“ das „von keiner Cruska gegängelte Idiom“ und die „nachlässige Bildung mancher Stanze“ weniger als störende Elemente denn als reizvolle Charakteristika des Boiardo’schen Epos,99 die beibehalten und nicht – wie es in der traditionellen Rezeption des Textes der Fall war – geglättet oder adaptiert werden müssen. So arbeitet Regis sehr nah an der Vorlage und versucht, jede sprachliche Nuance in der deutschen Version gebührend zu valorisieren. Um exemplarisch zu zeigen, dass er sowohl in phonetischer als auch in syntaktischer Hinsicht den Text sorgfältig wiederzugeben wusste, seien folgende Beispiele einer Alliteration, eines doppelten Trikolons und eines Chiasmus angeführt und mit der Gries’schen Übersetzung verglichen: [Boiardo:] D’ira soffiando sì comme un serpente Mena a doe mano e bate dente a dente.100 [Regis:] Faucht schlangengleich ihn voll Erbitt’rung an, Haut mit zwey Händen, und knirscht Zahn auf Zahn.101

94 Vgl. Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 371–462, hierin bes. das als Porträt konzipierte Lemma zu Boiardo, S. 378–403. 95 Vgl. Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 463–474. 96 Vgl. Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 476. 97 Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 388. 98 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens. In: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birchner u. a., Berlin/New York 1980 ff., Bd. 11, S. 65–94. 99 Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 388. 100 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 948 (I, Ges. XXVIII, St. 24). 101 Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 136.

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[Gries:] Und nun, vor Zorn wie eine Schlange blasend, Haut er mit beiden Händen zu, wie rasend.102 [Boiardo:] Ciascun è morto e sbigotito e bianco: Chi piange, chi lamenta e chi sospira.103 [Regis:] Betäubt war alles, todtenbleich und starr; Hier weint, da seufzt, dort lamentirt ein Ritter.104 [Gries:] Bestürzt sind Alle, bleich, fast todt vor Schrecken; Der seufzt und Dieser weint und Jener klagt.105 [Boiardo:] Cadendo foglie e fiori a gran fusone, Qual corbo diveniva e qual falcone.106 [Regis:] Aus all’ des Laubes und der Blüthen Schwalle Ward hier ein Rab’, ein Falke dort im Falle[.]107 [Gries:] Denn Blatt und Blüthe, wie sie niederwehen, Verwandeln sich in Falken und in Krähen.108

Aus dem Vergleich geht hervor, dass beide Übersetzer sprachschöpferisch begabt waren und mit unterschiedlicher Sensibilität nach einer möglichen sprachlichen Äquivalenz zum Original suchten. Regis konstruiert seinen Text enger am Italienischen und wirkt manchmal unnatürlicher und etwa preziöser im Ton als Gries, dessen Übersetzung sich in der Regel fließend liest und so unmittelbar an Boiardos klare und bewegliche Diktion erinnert.109

102 Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 2, S. 259. 103 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 1, S. 357 (I, Ges. VII, St. 64). 104 Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 42. 105 Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 1, S. 188. 106 Boiardo, Orlando Innamorato, Bd. 2, S. 1968 (III, Ges. II, St. 17). 107 Boiardo/Regis, Verliebter Roland, S. 299. 108 Boiardo/Gries, Verliebter Roland, Bd. 4, S. 225. 109 Vgl. hierzu Boiardo/Mehltretter, Der Verliebte Roland, S. 110. Anderer Meinung ist der anonyme Rezensent der ALZ, der behauptet, Regis habe „mehrere holperige Verse […] absichtlich gebaut“, um der „Kindlichkeit und Unbefangenheit der Sprache“ Boiardos vollen Ausdruck zu verleihen (Anonymus, [Rezension von:] Verliebter Roland, Sp. 1213).

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Der Übersetzung von Regis kommt das Verdienst zu, den Orlando innamorato zum ersten (und letzten) Mal vollständig und in beinahe dokumentarischer Manier ins Deutsche transponiert zu haben. Allerdings resultiert aus seiner Entscheidung, das Original verfremdend wiederzugeben, eine oft unpolierte, holprige Sprache, welche – zusammen mit dem Exzess an Paratexten, die vom ,gemeinen Leser‘ generell als schwerfällig und pedant empfunden werden110 – der Etablierung dieser Fassung auf dem Buchmarkt geschadet hat: Während die Übersetzung von Gries im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrmals aufgelegt wurde und sich einem breiteren Publikum einprägte,111 blieb diejenige von Regis im Grunde ein übersetzerisches Nischenunternehmen.

V Abschließende und weiterführende Bemerkungen Die drei besprochenen Übersetzungen des Orlando innamorato, die von einer intensiven, im Rahmen der deutschen Rezeption italienischer RenaissanceEpen um (und nach) 1800 ganz und gar vernachlässigten Auseinandersetzung mit Boiardo zeugen, erweisen sich als unterschiedlich kreative Annäherungsversuche an das Original. Während Schmidts Prosaübersetzung noch vollkommen in der Tradition der belles infidèles steht, sind die Übertragungen von Gries und Regis von einem Treue- und Äquivalenzideal geleitet, das jedoch durch die Transponierung der ottave rime in metrisch gebundene Stanzen in deutscher Sprache notwendigerweise zuallererst in sprachliche Schöpfungen mündet. Im Gegensatz zu Regis, dessen Verliebter Roland mit einem streng philologischen Anspruch und einer vorwiegend ausgangstextlichen Orientierung geschrieben und herausgegeben wurde, übersetzt Gries den Text von Boiardo grundsätzlich originalgetreu, gestattet sich allerdings an einzelnen Stellen poetische Lizenzen, die entweder der Zensur gewagter Stellen oder aber einer bes-

110 Wie Poltermann beobachtet, eröffnet der Paratext eine Kluft zwischen dem Leser und dem Original und verleiht der Übersetzung einen Hauch von Gelehrsamkeit, die auch im Jahrhundert der Philologie und des Historismus allmählich an Attraktivität zu verlieren beginnt: „Obgleich die Praxis noch lange anhält, Übersetzungen mit Anmerkungen, Vorreden, Explikationen und Kommentaren auszustatten, häufen sich doch die Mahnungen, einen Originaltext nicht durch Zusätze zu verunstalten“ (Poltermann, Die Erfindung des Originals, S. 36). 111 Die Gries’sche Übersetzung erschien erneut 1886 bei Reclam mit einem Vorwort von Wilhelm Lange und 1895 bei Cotta mit einer Einleitung von Ludwig Fränkel (vgl. Julius A. Molinaro, Matteo Maria Boiardo: A Bibliography of Works and Criticism from 1487–1980, Ottawa 1984, S. 30). Keine der beiden Auflagen ergänzt die von Gries getilgten Stellen.

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seren Lesbarkeit der Übersetzung dienen. Gries, der die Übersetzung als einen komplexen Prozess verstand, der „aus einer hermeneutischen Reflexion der Differenz entsteht und das performativ-improvisatorische Handeln mit der kritisch-philologischen Reflexivität und der dichterischen Kreativität verbindet“,112 bildet somit das Vermittlungsglied zwischen der freien Gestaltung von Schmidt, die noch von der frühneuzeitlichen Praxis der schönen, aber untreuen Prosaübersetzungen geprägt ist, und der als absolut intendierten Originaltreue von Regis, die vollkommen im Zeichen des Positivismus des 19. Jahrhunderts steht. Zudem muss hervorgehoben werden, dass die drei Verdeutschungen des Innamorato von der Simultanität unterschiedlicher Übersetzungsverfahren um 1800 zeugen. Die von Goethe in seiner triadischen Typologie entwicklungsgeschichtlich als „Epochen“ der Übersetzung genannten Stationen113 koexistieren gleichzeitig im Erscheinungszeitraum der hier besprochenen Übersetzungen (1819–1840): Schmidts paraphrastische Übertragung ist in gewissem Sinne deckungsgleich mit dem „prosaischen“ Typus, von dem Goethe spricht, und selbst wenn sich die hermeneutische Übersetzung von Gries schwerlich mit der „parodistischen“ (d. h. suppletorischen) vergleichen lässt, weist doch Regis’ verfremdendes Verfahren Ähnlichkeiten mit der „sich identisch machend[en]“ bzw. interlinearen Übersetzung auf, welche die sprachlichen Eigenheiten des Ausgangstextes zu bewahren sucht, um somit die Zielkultur zu bereichern. In Bezug auf Regis stellt sich im Übrigen die Frage, ob die angekündigte Treue gegenüber dem Original tatsächlich umgesetzt wird oder ob es zu einer Ästhetisierung der Vorlage im Medium der Übersetzung kommt. Es entsteht nämlich der Eindruck, dass Regis in seine Version Signale der Treue einbaut (metrische, lautliche und sogar syntaktische Treue), die metonymisch den Anschein erwecken sollen, die gesamte Vorlage sei treu übersetzt worden, auch wenn sie im Hinblick auf die Semantik notwendigerweise untreu oder verflachend sind. Anders als Gries, der sich eine Idee vom Original macht und diese zur Richtschnur seiner Übersetzung werden lässt, scheint Regis seine Verdeutschung so gestalten zu wollen, als sei sie die italienische Fassung – was natürlich nur auf einer konzeptionellen Ebene, nicht aber auf einer sprachlich-empirischen möglich ist. Zum Schluss sei ein kurzer Ausblick auf die gegenwärtige Boiardo-Rezeption in Deutschland geworfen. Jahrzehntelang ist der Orlando innamorato hierzu-

112 Polledri, „Uebersetzungen sind [philologische] Mimen“, S. 172. 113 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans. In: Goethes Werke. Gedichte und Epen (= Hamburger Ausgabe, Bd. 2), hg. von Erich Trunz, 10. Aufl., München 1976, S. 126–267, hier S. 255–258.

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lande unübersetzt und unveröffentlicht geblieben, bis Florian Mehltretter 2009 im Rahmen einer Publikationsreihe des Lyrikkabinetts München eine Neuausgabe betreute, in der ausgewählte Stanzen aus der Übersetzung von Gries durch „erzählende und erläuternde Zwischentexte“ 114 in Prosa ergänzt werden. Das Ergebnis ist eine kompendiarische115 Nacherzählung, die dem Modell der Umschreibungen des Orlando furioso und der Gerusalemme liberata folgt, welche 1970 zeitgleich von Italo Calvino und Alfredo Giuliani publiziert wurden. Selbst wenn darin der Breite und Komplexität des Originals – wie in der langen Tradition der Bearbeitungen von Boiardos Epos üblich – wieder einmal unrecht getan wird, stellt Mehltretters Der verliebte Roland doch eine interessante kulturelle Operation dar, die dem heutigen Lesepublikum endlich wieder den Zugang zu einem in Deutschland fast vergessenen Text ermöglicht 116 und gleichzeitig erfahrbar machen will, dass Boiardos Gedicht „auch für sich selbst betrachtet“, d. h. unabhängig von Ariosto, „eine äußerst lohnende Lektüre ist“.117

Bibliographie Quellen Boiardo, Matteo Maria, Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland. Zum erstenmale verdeutscht und mit Anmerkungen versehen von Johann Diederich Gries, 4 Bde., Stuttgart 1835–1839. Boiardo, Matteo Maria, Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiana [sic], Verliebter Roland, als erster Theil zu Ariosto’s Rasendem Roland nach den bisher zugänglichen Texten der Urschrift zum erstenmale vollständig verdeutscht, mit Glossar und Anmerkungen herausgegeben von Gottlob Regis, Berlin 1840. Boiardo, Matteo Maria, Matteo Bojardo’s verliebter Roland. Deutsch von J. D. Gries, hg. von Wilhelm Lange, Leipzig 1886.

114 Mehltretter, Vorbemerkung, S. 7. 115 Mehltretter stellt den Inhalt des ersten Buchs des Innamorato in zehn Kapiteln dar und widmet dem zweiten und dritten Buch jeweils ein Kapitel seiner Bearbeitung. 116 Wie ein Rezensent bemerkt hat, ist vermutlich „diese Art der Präsentation eines im Original mittlerweile selbst für muttersprachliche Leser sperrigen Werks sogar die einzig zeitgemäße Form, einem derart voraussetzungsreichen Text überhaupt noch ein größeres Lesepublikum zu erschließen“ (Olaf Müller, „treffliche Historie!“ Florian Mehltretter erzählt Boiardos „Orlando innamorato“ nach. In: literaturkritik.de, 11.12, 2009, S. 268–270, hier S. 269, Online-Version: http://literaturkritik.de/id/13638, letzter Zugriff: 10. Oktober 2017). 117 Mehltretter, Vorbemerkung, S. 7.

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Boiardo, Matteo Maria, Matteo, Der verliebte Roland. Aus dem Italienischen übersetzt von J. D. Gries, hg. von Ludwig Fränkel, Stuttgart 1895. Boiardo, Matteo Maria, Matteo, Der Verliebte Roland, erzählt und kommentiert von Florian Mehltretter mit einer Auswahl der Übersetzung von Johann Diederich Gries, München 2009. Boiardo, Matteo Maria, Matteo, Orlando Innamorato. L’inamoramento de Orlando, hg. von Andrea Canova, 2 Bde., Milano 2011. Goethe, Johann Wolfgang, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans. In: Goethes Werke. Gedichte und Epen (= Hamburger Ausgabe, Bd. 2), hg. von Erich Trunz, 10. Aufl., München 1976, S. 126–267. Schlegel, August Wilhelm, Briefe von und an August Wilhelm Schlegel, hg. von Josef Körner, Zürich/Leipzig/Wien 1930. Schlegel, Friedrich, Geschichte der alten und neuen Literatur (= Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. 6), hg. von Hans Eichner, München/Paderborn/Wien 1961. [Schmidt, Wilhelmine], Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern. Nach dem Italiänischen des Grafen Bojardo, hg. von Friedrich Wilhelm Valentin Schmidt, 3 Bde., Berlin/Leipzig 1819–1820.

Forschungsliteratur Abeken, Heinrich, [Rezension von:] Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland. Zum erstenmale verdeutscht von J. D. Gries. In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Nr. 89–92, Mai 1837, Sp. 710–731. Ahrend, Elisabeth, Übersetzungsforschung und Rezeptionsforschung. Fragen der Theorie und Praxis am Beispiel der übersetzerischen Rezeption italienischer Literatur im deutschen Sprachraum von 1750 bis 1850. In: „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850, hg. von Frank-Rutger Hausmann, Tübingen 1996, S. 185–214. Alexandre-Gras, Denise, L’héroïsme chevaleresque dans le Roland Amoureux de Boiardo, Saint-Etienne 1988. Anonymus, [Rezension von:] Matteo Maria Bojardo’s, Grafen von Scandiano, Verliebter Roland, herausgegeben von Gottlob Regis. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 152, 1844, Sp. 1209–1214. Apel, Friedmar, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982. Bachleitner, Norbert, Striving for a Position in the Literary Field. German Women Translators from the 18th to the 19th Century. In: „Die Bienen fremder Literaturen“. Der literarische Transfer zwischen Großbritannien, Frankreich und dem deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur (1770–1850), hg. von Norbert Bachleitner und Murray G. Hall, Wiesbaden 2012, S. 213–228. Baruzzo, Elisabetta, Nicolò degli Agostini continuatore del Boiardo, Pisa 1983. Brown, Hilary, Benedikte Naubert (1756–1819) and her Relations to the English Culture, Leeds 2005. Brown, Hilary, Luise Gottsched the Translator, Rochester 2012. Brown, Hilary, Brunhilde Wehinger (Hg.), Übersetzungskultur im 18. Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Hannover 2008, (Aufklärung und Moderne 12).

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Register Abildgaard, Nicolai Abraham 135 Agostini, Nicolò degli 301 Aleksej Petrovič [Carevič] 60, 69 Alexis, Willibald 3 Anna Ivanovna 54 f., 57, 60, 70 Appel, Friedrich Ferdinand 52 Araja, Francesco 60 Ariosto, Ludovico 9 f., 109 f., 113, 115–119, 121, 123–125, 127–130, 177–197, 297– 299, 301–305, 312, 317, 321 Aristoteles 78, 98, 101 Auerbach, Berthold 46 Auffdiener, Joseph 247 August der Starke 53, 69 Baggesen, August 9, 136 f., 139, 145, 148– 150, 153 f. Baggesen, Carl 139, 145, 148–150, 153 f. Baggesen, Jens 9, 133–139, 141–156 Baggesen, Sophie 143–145 Barnasconi, Andrea 52 Barnes, Joshua 160 Barthes, Roland 91 Batteux, Charles 149 f., 154 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 247 Benzler, Johann Lorenz 141, 154 Berman, Antoine 32–35 Berni, Francesco 300 f., 306, 312 Bernini, Gian Lorenzo 208 Bernstorff, Peter Andreas 135 Bertuch, Friedrich Justin 229–234 Boccaccio, Giovanni 123 Bode, Johann Joachim Christoph 11, 217, 221–228; 233–236, 262 Bodmer, Johann Jakob 93, 104 Boethius [Anicius Manlius Severinus Boethius] 85, 91 Boiardo, Camillo 300 Boiardo, Matteo Maria 12, 123, 297–313, 316–321 Boie, Heinrich Christian 140, 154 Bon, Girolamo 59 Bonaparte, Napoleon 139, 143, 145, 151 Borchardt, Rudolf 31 https://doi.org/10.1515/9783110542202-015

Bordoni, Faustina 54 Borges, Jorge Luis 91, 104 Böttiger, Karl August 143, 155 Breitinger, Johann Jakob 92 f., 96, 101, 104 Breitkopf, Immanuel 24, 27 Brentano, Clemens 34 Brinkmann, Carl Gustaf von 142 Brumoy, Pierre 158, 160 Bruni, Leonardo 91 Bruun, Malthe Konrad 134 Buonarroti, Michelangelo 316 Büsching, Johann Gustav 307 Byron, George Gordon 200 Caldara, Antonio 51 Calderón de la Barca, Pedro 298, 305 Calvino, Italo 321 Camper, Peter 211 f. Cartagena, Alfonso de 91 Catull [Gaius Valerius Catullus] 203 Cella, Johann Jakob 20 Cervantes Saavedra, Miguel de 8 f., 11, 75– 80, 83–87, 90 f., 95, 97, 99, 101–103, 105, 179, 228–232, 234 Chodowiecki, Daniel 28 Claude-Joseph, Dorat 111 f., 130 Clemens, Frederik 135 Corneille, Pierre 51, 68, 165, 166 Cotta, Johann Friedrich von 41, 268, 305, 316 Cramer, Karl Friedrich 26–28 Dacheröden, Caroline von 10, 178 Dall’Oglio, Domenico 59 Damm, Christian Tobias 144 Danton, Georges Jacques 145 Defoe, Daniel 12, 282–284 Diderot, Denis 3, 40, 168, 266 De Quincey, Thomas 3 Domenichi, Ludovico 298, 300 f., 304, 306 Donizetti, Gaetano 45 Dryden, John 103 Ennius [Quintus Ennius] 141 Erasmus von Rotterdam 85 f., 91, 101

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Register

Eschenburg, Johann Joachim 171 Euripides 10, 157 f., 160–165, 167, 175 f. Eustathius von Thessalonike 144 Ewald, Johannes 135 Fichte, Johann Gottlieb 20 f., 23, 28 f., 32 Filleau de Saint-Martin, François 229 Florian, Jean-Pierre Claris de 254 Forkel-Liebeskind, Meta 11, 237–245, 255 Forster, Georg 146 Friedrich Christian II. von Schleswig Holstein-Sonderburg-Augustenburg 135

Hölty, Ludwig 141, 154 Holzbauer, Ignaz 52 Homer 3, 9, 41 f., 137, 139–144, 154–156, 158, 189 f. Horaz [Quintus Horatius Flaccus] 76, 82, 100, 149, 154 Hottinger, Johann Jacob 28 Howard, Isabelle [Lady on Carlisle] 11, 240– 242, 244 f. Hugo, Victor 45 f. Humboldt, Wilhelm von 10, 163, 175, 178 Iffland, August Wilhelm 168

Galuppi, Baldassare 52 Giorgi, Caterina 59 Giorgi, Filippo 59 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 109, 112, 114, 118 f., 129 Gluck, Christoph Willibald 52, 151 Goethe, Johann Wolfgang von 2–4, 10–13, 34 f., 39–41, 93, 96, 109 f., 125 f., 133, 135, 138, 155 f., 160–162, 166, 169, 176, 199–214, 219, 223, 236, 260 f., 320 Goldoni, Carlo 57 Gottsched, Luise [geb. Kulmus] 259, 306 Gottsched, Johann Christoph 92, 98, 103 f., 259 Gretry, André-Ernest-Modeste 247 Gries, Johann Diederich 12 f., 177, 191 f., 196, 298 f., 303–305, 309–320 Hagen, Friedrich Heinrich von der 307 Hamann, Johann Georg 31 Hanow, Michael Christoph 22 f. Harsdörffer, Georg Philipp 39 Hartknoch, Johann Friedrich 27 Hasse, Johann Adolf 8, 52–60, 62, 64 f., 70 f. Heinse, Wilhelm 9, 109–131, 109 f., 113, 115– 118, 123, 125, 127, 129–131, 183, 196 Hensel, Friederike Sophie 260 Herder, Johann Gottfried 1, 30, 40, 93, 134, 155, 218 f., 227, 234 Hermann [der Cherusker] 146, 155 Herz, Henriette 172 Hieronymos, Sophronius Eusebius 4, 91 Holberg, Ludvig 135 f., 148, 154 f. Hölderlin, Friedrich 113, 130

Jacobi, Friedrich Heinrich 137, 153 Jacobi, Johann Georg 113, 125 f., 128 Jean Paul [Johann Paul Friedrich Richter] 223, 227 f. Jesus von Nazareth 208 Jommelli, Niccolò 52 Kant, Immanuel 20, 164 Karl der Große 308, 311 Karl VI. 51 f., 56, 62, 69 Katharina II. 55, 71 Klopstock, Friedrich Gottlieb 115 f., 129, 136, 138, 146, 149 Knjažnin, Jakov Borisovič 71 Kohler, Josef 2, 23 Körner, Gottfried 159 f., 163, 168, 172, 174 Kotzebue, August von 268 Kunzen, Friedrich Ludwig Aemilius 151 f. Laun, Friedrich 268 Lee, Sophia 11, 259–279 Leibniz, Gottfried Wilhelm 105 Leo, Leonardo 52 Lessing, Gottfried Ephraim 93, 136, 165, 199, 202, 223, 225, 259 Lillo, George 260 Löwenwolde, Karl Gustav 70 Luther, Martin 4, 137, 223 Macpherson, James 141 Madonis, Geronima 59 Madonis, Luigi 59 Manzoni, Alessandro 200 Marie Antoinette 247

Register

Martial [Marcus Valerius Martialis] 199, 203 f. Masani, Caterina 59 Massow, Elisabeth von 113, 115, 117 f. Matthison, Friedrich von 148 Mauvillon, Jakob 121 f., 128 Mazzolà, Caterino 52 Mechau, Simon Gottlieb 25 Meinhard, Johann Nicolaus 109 f., 113, 130, 189, 196 Merck, Johann Heinrich 126 Metastasio, Pietro 8, 51–60, 62, 64, 68 f., 70 f., 113 Montaigne, Michel de 223 f., 235 Montolieu, Isabelle de 12, 285–294 Moore, Edward 12, 260 Morigi, Pietro 59 Mozart, Wolfgang Amadeus 52 f. Münich, Burchard Christoph von 60, 70 Myslicevek, Joseph 52 Nast, Johann Jacob 159 Naubert, Benedikte [geb. Ebenstreit] 305 Naumann, Johann Gottlieb 52 Nicolai, Friedrich 24, 28 Nicolay, Ludwig Heinrich von 301 f. Niebuhr, Barthold Georg 143 f. Novalis [Friedrich von Hardenberg] 30–36, 40 f., 315 Oehlenschläger, Adam 147, 154 Opitz, Martin 1, 117, 129 Ovid [Publius Ovidius Naso] 203 Panizzi, Antonio 301, 306, 312 Perez, Davide 52 Peter I. 60 f., 69 Peter III. 55 Petrarca, Francesco 113 Petron 111–114, 126 Petrovna, Elisaveta 54 f., 59–65, 69 f. Piccolomini, Alessandro 91 Pico della Mirandola 85, 86, 89, 91 Platon 3, 30, 118, 140 f., 143, 154 Plinius d. J. [Gaius Plinius Caecilius Secundus] 82 Porpora, Nicolò 53 Prevost, Pierre 158

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Properz [Sextus Aurelius Propertius] 203 Proust, Marcel 91 Pütter, Johann Stephan 23 Quintilian [Marcus Fabius Quintilianus] 82, 91 Rabelais, François 316 Racine, Jean 4, 10, 36, 41, 51, 157, 159, 161, 165–170, 176, 264, 272 Radcliffe, Ann 248 f., 252, 255 Raphael [Raffaello Sanzio da Urbino] 36 Ramler, Karl Wilhelm 148–151, 154 Regis, Johann Gottlieb 12 f., 298 f., 304 f., 316–320 Reich, Philipp Erasmus 24–28 Reinhold, Karl Leonhard 137, 142–144, 153 Rellstab, Carl Friedrich 26–28 Reventlow, Christian Ditlev 135 Reventlow, Sibylle 148 Rey, Marc Michel 27 Richardson, Samuel 260 Rist, Johann Georg 316 Rousseau, Jean-Jacques 12, 26–28, 262 Ruvinetti Bon, Rosa 59 Sander, Christian Levin 145 Sarti, Giuseppe 52 Scaliger, Julius Caesar 201 f. Scarlatti, Alessandro 53 Schiller, Charlotte 158, 178, 184, 196, 270, 273 Schiller, Friedrich 10, 96, 157–176, 177 f., 183 f., 186–197, 264, 268 Schimmelmann, Heinrich Ernst Graf von 135 Schlegel, August Wilhelm 3, 18, 109, 125, 127, 129–131, 137, 171 f., 175, 191, 196, 219, 221, 228, 233–237, 303, 311 f. Schlegel, Friedrich 30–37, 40–43, 302 f., 311 f. Schleiermacher, Friedrich 1, 3 f., 30 f., 35, 43, 101, 157, 172–175, 219, 222, 233, 284 f., 317 Schliemann, Heinrich 156 Schmidt, Marie Wilhelmine [geb. Nauen] 12, 298 f., 303–312, 314, 319 f. Schmidt, Friedrich Wilhelm Valentin 298, 304, 306, 308–310

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Register

Schoppe, Caspar 201 f., 213 Schulz, Johann Abraham Peter 148, 151 Scott, Walter 3, 305 Seneca, Lucius Annaeus 1, 85, 90 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 141, 154 Shakespeare, William 8, 10 f., 35, 41, 76, 141, 146, 157, 165, 170–174, 176, 222, 228, 235, 316 Sheridan, Frances 12, 260 Smollett, Tobias 11, 221, 223 f., 226, 234 Sophokles 1 Spenser, Edmund 298 Stählin, Jacob von 8, 54 f., 58, 60–62, 70 f. Stamm, Peter 293 f. Stein, Charlotte von 12, 259–279 Stein, Friedrich von 270 Steinbrüchel, Johann Jacob 160 Sterne, Laurence 11, 221; 223–227, 234 f. Stolberg, Christian Graf zu 139 f., 154 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 134, 136, 139–143, 154–156 Sulzer, Johann Georg 117, 129 Swift, Jonathan 316 Tallien, Thérèse 247 Tasso, Torquato 9, 109 f., 113, 115–118, 123, 125, 127–130, 297 f., 312 Theresa von Ávila 208 Tibull [Albinus Tibullus] 203 Tieck, Ludwig 3, 11, 18, 172 f., 192, 217, 219, 220–224, 228–236 Traetta, Tomaso 52 Tufano, Lucio 59 Turpin von Reims 308

Unger, Friederike Helene 262 Vensky, Georg 98, 104 Vergil [Publius Vergilius Maro] 42, 117, 137, 138 f., 154, 157 Vergne, Louis-Elisabeth de la, comte de Tressan 181, 184, 192 f., 196 Voltaire [François Marie Arouet] 68 f., 146, 169, 200 Voß, Abraham 140, 154 Voß, Ernestine 140 Voß, Johann Heinrich 3, 9, 41–43, 134, 136– 144, 149, 154–156, 223, 225, 235 Wagenseil, Georg Christoph 52 Wagner, Gottlob Heinrich Adolph 301, 304, 306, 312 Werthes, Friedrich August Clemens 177–179, 196 f. Werthes, Wilhelm 110, 116, 126, 129 Wieland, Christoph Martin 8 f., 75 f., 78, 86, 92–99, 101–105, 109–120, 122–127, 129–131, 135, 151 f., 171, 177–180, 183, 189, 193, 197, 227, 235 Winckelmann, Johann Joachim 156 Wolf, Friedrich August 42 Wolzogen, Caroline von [geb. von Lengefeld, gesch. von Beulwitz] 10, 158, 178, 183– 185, 187–189, 196 f. Wuiet, Caroline 11, 237 f., 245–255 Wyss, Johann David 12, 281–285, 287 Wyss, Johann Rudolf 12, 282, 284, 289 Xenophon 144 Zachariä, Karl Salomo 22