Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept: Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie 9783791771113, 3791771116

Authentizität ist ein schillerndes, gleichzeitig aber sehr populäres Wort: In Medien und Populärkultur wird "authen

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German Pages 385 Year 2016

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung
Ansgar Kreutzer: Authentizität: Leitbild im Kontext der Individualisierung – Herausforderung für die Theologie
1. Kulturwissenschaftliche Erkundungen
Imelda Rohrbacher: Authentizität als Diskursfigur - Etappen der Begriffsgeschichte
Barbara Schrödl: „MY BEST FRIEND“ - Von der neuen Sehnsucht nach Authentizität in der Mode
2. Sozialwissenschaftliche Kontextualisierungen
Paul Eisewicht, Julia Wustmann, Michaela Pfadenhauer: Authentizität – ein Element kompetenter Zugehörigkeit zu Szenen
Heiner Keupp: Das spätmoderne Subjekt – von der Suche nach dem authentischen Glück erschöpft?
Karl Gabriel: Religiöse Individualisierung und Authentizität
3. Philosophische Bestimmungen
Michael Hofer: Undarstellbarkeit und expressives Ideal - Dimensionen personaler Authentizität
Klaus Viertbauer: Authentizität und Selbst-Bestimmung - Die Aporetik des „ethischen Selbst“ bei Habermas mit einem Seitenblick auf Taylor
4. Theologische Aufnahmen
Bibelwissenschaft
Gerd Theißen: Authentische Jesusüberlieferung - Über verdeckte, milieubezogene und anekdotische Authentizität
Christoph Niemand: Was an der Bibel authentisch sein kann: Texte, Interpretationen, Menschen
Systematische Theologie
Hanjo Sauer: Authentizitätsideale in Literatur und Theologie der Romantik
Walter Raberger: Ist nur „Gott“ authentisch?Gnadentheologische Erwägungen und philosophische Erregungen
Ansgar Kreutzer: Authentisches Zeugnis – zwischen theologischer Affinität und soziologischer Skepsis
Franz Gruber: Authentische Religiosität und authentisches Lehramt - Eine systematisch-theologische Analyse des status quaestionis
Praktische Theologie
Hildegard Wustmans: Individuell und authentisch sein – und was internationale Freiwilligendienste damit zu haben
Ludmila Muchová: Religiöse Bildung und die „Pädagogik der Wende“ - Tschechische Erfahrungen mit authentischem Glauben
Nach-Gedanken
Christoph Niemand: Was Authentizität sei und wozu Authentizitätsdiskurse gut sein können - Ein persönliches Fazit
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Buchinfo
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Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept: Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie
 9783791771113, 3791771116

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SKUL

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Ansgar Kreutzer/ Christoph Niemand (Hg.)

Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie

SCHRIFTEN DER KATHOLISCHEN PRIVATUNIVERSITÄT LINZ VERLAG FRIEDRICH PUSTET

SKUL Schriften der Katholischen Privat-Universität Linz Band 1

Ansgar Kreutzer/ Christoph Niemand (Hg.)

Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

Mit freundlicher Unterstützung des Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliere bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

eISBN 978-3-7917-7111-3 (pdf) © 2016 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlag: Martin Veicht, Regensburg eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich: ISBN 978-3-7917-2777-6 Weitere Titel aus unserem Verlagsprogramm finden Sie unter www.verlag-pustet.de.

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung ANSGAR KREUTZER Authentizität: Leitbild im Kontext der Individualisierung – Herausforderung für die Theologie ...…………………………………. 11

1. Kulturwissenschaftliche Erkundungen IMELDA ROHRBACHER Authentizität als Diskursfigur. Etappen der Begriffsgeschichte ……………………………………….. 29 BARBARA SCHRÖDL „MY BEST FRIEND“. Von der neuen Sehnsucht nach Authentizität in der Mode ………….... 43

2. Sozialwissenschaftliche Kontextualisierungen PAUL EISEWICHT / JULIA WUSTMANN / MICHAELA PFADENHAUER Authentizität – ein Element kompetenter Zugehörigkeit zu Szenen ….. 67 HEINER KEUPP Das spätmoderne Subjekt – von der Suche nach dem authentischen Glück erschöpft? ….…..…..… 89 KARL GABRIEL Religiöse Individualisierung und Authentizität ….……..……..…..… 117

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Inhaltsverzeichnis

3. Philosophische Bestimmungen MICHAEL HOFER Undarstellbarkeit und expressives Ideal. Dimensionen personaler Authentizität ..……..………………….…... 135 KLAUS VIERTBAUER Authentizität und Selbst-Bestimmung. Die Aporetik des „ethischen Selbst“ bei Habermas mit einem Seitenblick auf Taylor ………………………………….. 161

4. Theologische Aufnahmen Bibelwissenschaft GERD THEISSEN Authentische Jesusüberlieferung. Über verdeckte, milieubezogene und anekdotische Authentizität ...... 181 CHRISTOPH NIEMAND Was an der Bibel authentisch sein kann: Texte, Interpretationen, Menschen ...……….….…..……..….……… 201

Systematische Theologie HANJO SAUER Authentizitätsideale in Literatur und Theologie der Romantik ……... 231 WALTER RABERGER Ist nur „Gott“ authentisch? Gnadentheologische Erwägungen und philosophische Erregungen ... 257 ANSGAR KREUTZER Authentisches Zeugnis – zwischen theologischer Affinität und soziologischer Skepsis …...… 279

Inhaltsverzeichnis

7

FRANZ GRUBER Authentische Religiosität und authentisches Lehramt. Eine systematisch-theologische Analyse des status quaestionis …..... 307

Praktische Theologie HILDEGARD WUSTMANS Individuell und authentisch sein – und was internationale Freiwilligendienste damit zu tun haben ...….. 331 LUDMILA MUCHOVÁ Religiöse Bildung und die „Pädagogik der Wende“. Tschechische Erfahrungen mit authentischem Glauben ……..……... 349

Nach-Gedanken CHRISTOPH NIEMAND Was Authentizität sei und wozu Authentizitätsdiskurse gut sein können. Ein persönliches Fazit ..…………………………………..…….…… 373

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ..….………………….….…… 383

Zur Einführung

Ansgar Kreutzer

Authentizität: Leitbild im Kontext der Individualisierung – Herausforderung für die Theologie

1.

Popularität und Relevanz von „Authentizität“

„Authentisch sein – ein Navigator durch das Auf und Ab des Lebens“; „Gemeinschaftsbildung: Der Weg zu authentischer Gemeinschaft“; „Authentische Beziehungen. Die verlorene Kunst des Miteinanders“; „Authentische Körpersprache. Ihr überzeugender Auftritt im Beruf“; „Asiatische Küche. Authentische Rezepte aus Thailand, Myanmar, Laos, Kambodscha und Vietnam“. Einträge wie diese finden sich zuhauf, wenn man aktuelle Ratgeberliteratur zum Thema „Authentizität“ im Internet recherchiert.1 Von der Lebensführung über die Gemeinschaftsbildung und Beziehungspflege bis hin zu Körpersprache, Berufsausübung und Kochkunst: Menschen, Handlungen, Texte, Dinge – was auch immer mit dem Wort authentisch belegt wird, erhält dadurch eine positive Ausstrahlung. Dieser kleine empirische Befund, der die Prominenz der Rede von Authentizität in der Gesellschaft überhaupt und besonders in der Ratgeberliteratur belegt, lässt erste Rückschlüsse auf die Bedeutung von „Authentizität“ in zeitgenössischen Diskursen und Lebenswelten zu:2 Gerade die Verbindung des Labels „authentisch“ mit der boomenden Ratgeberliteratur3 zeigt die weite Verbreitung des Authentizitätsdiskurses. Diese Popularität ist kein Zufall, sondern lässt sich soziologisch erklären.

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Vgl. z. B. Online-Quelle Nr. 1 am Schluss des Literaturverzeichnisses. Vgl. zur soziologischen Auswertung des Genres der Beratungsliteratur die instruktive Dissertation: DUTTWEILER, Sein Glück machen. Vgl. DUTTWEILER, Glück ist machbar (Online-Quelle Nr. 2): „Ratgeber zum Glück boomen seit den 1980ern und kein Ende dieses Trends ist in Sicht.“

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Ansgar Kreutzer

Tatsächlich erweisen sich Ratgeber, deren Ideal Authentizität darstellt, als passgenau zu heutigen sozialstrukturellen Bedingungen. Denn durch Prozesse der Individualisierung, wie der Deinstitutionalisierung und der Enttraditionalisierung werden Menschen mehr und mehr aus determinierenden sozialen Bindungen entlassen und von vorgegebenen Orientierungen entbunden.4 Damit erfahren sich die Individuen zunehmend auf sich selbst gestellt, müssen aus sich heraus die Maßstäbe für ein von ihnen als gelungen empfundenes Leben entwickeln. Diese Orientierung an sich selbst verbindet sich mit dem schillernden Etikett des „Authentisch-Seins“, des „Mit-sich-selbst- (also gewissermaßen der letztverbindlichen Instanz unter individualisierten Bedingungen) in-Einklang-Stehens“. Authentizität wird somit zu einer normativen Chiffre für ein gelingendes Selbstverhältnis, zum idealtypischen Leitbild der individualisierten Gesellschaft: „Den Sinn Ihres Lebens kann Ihnen niemand von außen geben, sondern er liegt in Ihnen“ – lautet bezeichnenderweise die repräsentative Maxime eines prominenten Lebensratgebers.5 Betrachtet man dieses normativ aufgeladene Selbstverhältnis näher, erweist es sich als rein formal: Denn im verbreiteten Imperativ, authentisch zu sein, sich also in Übereinstimmung mit sich selbst zu bringen, sind ja gerade keine inhaltlichen Vorgaben für die Art und Weise der Lebensführung enthalten. Entscheidend ist nicht, welchem Lebensentwurf man folgt, sondern dass es der eigene ist, dem man nachzukommen sucht. „[Lebenshilferatgeber, A.K.] verpflichten auf Freiheit, sie setzen Glück und Selbstbestimmung in eins und sie geben letztlich vor allem einen Ratschlag: Orientiere Dich an dir selbst“.6 Nähert man sich dem Motiv „Authentizität“ über begriffliche Bestimmungen, zeichnen sich ähnliche Diskursmerkmale ab, wie sie im Authentizitätsmotiv der Ratgeberliteratur durchscheinen. In seinen instruktiven begrifflichen Annäherungen zu Authentizität – im Rahmen einer sozialgeschichtlichen Studie zur Authentizitätskultur der 1960er-Jahre – bestimmt Sven Reichardt Authentizität ebenfalls als eine „formale Relationskategorie“.7 In der Alltagssprache werden unter Authentizität „Ehrlichkeit, Un-

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Vgl. als eine Einführung in die umfangreiche soziologische Debatte um Individualisierung: JUNGE, Individualisierung. So der Bestseller-Ratgeber „Simplify your life“, zitiert nach DUTTWEILER, Glück ist machbar. DUTTWEILER, Erkenne Dich selbst, 2. REICHARDT, Authentizität. Zur Rezeption dieses begriffsgeschichtlichen Abrisses vgl. auch den Beitrag von EISEWICHT / WUSTMANN / PFADENHAUER in diesem Band.

Authentizität – Leitbild und Herausforderung

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verfälschtheit und Eigenständigkeit“8 verstanden, verweist ein authentisches Auftreten also auf die Übereinstimmung mit sich. Dabei kann das Etikett des Authentischen nicht bloß auf Menschen, sondern ebenso auf Dinge und Artefakte angewandt werden. Auch hier meint Authentizität Echtheit, Übereinstimmung von Anspruch und Wirklichkeit, Rückführbarkeit auf behauptete Autorenschaft: „Authentizität bezeichnet zunächst, gemäß dem Ursprung aus dem griechischen Wort authenticum, einen Gewalthaber, der etwas mit eigener Hand und aus eigener Kraft vollbringt. In der latinisierten Form steht authenticum für eine Schrift oder Urkunde, die vom angegebenen Verfasser selbst stammt. In der Rechtswissenschaft ist diese Bedeutung noch aktuell, da die vom Gesetzgeber selbst im ‚Wortlaut‘ veröffentlichten Gesetzestexte authentisch genannt werden. Auch im Authentifizieren von Urkunden, Dokumenten oder Kunstgegenständen durch Rechtsanwälte, Notare, Historiker oder Kunstsachverständige ist sie erhalten geblieben“.9 Sowohl in der personalen als auch in der dinglichartifiziellen Version ist Authentizität normativ positiv besetzt, sozusagen ein Gütesiegel der Echtheit, das von außen durch eine Autorität verliehen wird. „Authentizität und Authentifizierung heißt in diesem ersten Sinne nicht bloß passives Ausweisen, sondern auch einen aktiven Gestaltungsakt“.10 In dieser positiven Normativität verbinden sich die dinglichmateriale und die personale Authentizität. Begriffe aus dem Wortfeld der Authentizität wurden z. B. in der gesellschaftlich einflussreichen Strömung der Existenzphilosophie „nicht nur auf menschliche Haltungen angewandt, sondern auch auf menschliche Produkte wie etwa das authentische Kunstwerk oder ein Ausstellungsstück bezogen. Subjekt- und Objektauthentizität wurden eng miteinander verknüpft“.11 Die wichtigste zeitdiagnostische Bedeutungsebene der Authentizität bleibt freilich ihre Verbindung mit dem für die individualisierte Gesellschaft so typischen Ideal der Selbstverwirklichung, dem sich ihre oben skizzierte Prominenz in der Lebenshilfeliteratur verdankt: „Der Begriff thematisiert Konfigurationen des Selbst und weist über Autonomie und Selbstbestimmung hinaus auf die weiter greifende und emphatische Ebene der Selbstverwirklichung“.12

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REICHARDT, Authentizität, 60. Ebd. 60f. Ebd. 61. Ebd. mit Bezug zum existenzphilosophischen Authentizitätsdiskurs bei Heidegger („Eigentlichkeit“ / „Uneigentlichkeit“) und Sartre („néant“ / „mauvaise foi“). Ebd. 60.

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Ansgar Kreutzer

Die Bedeutung, die das Authentizitätsmotiv in der populären Kultur, in Lebens- und Alltagswelten besitzt, wird wissenschaftlich gespiegelt: Tatsächlich greifen dabei die Wissenschaften den Authentizitätsdiskurs auf, in denen die verschiedenen hier angerissenen Aspekte von Authentizität zum Tragen kommen. In den mit Artefakten befassten Kunst- und Kulturwissenschaften finden beispielsweise Debatten um die Kategorien Originalität, Echtheit, Authentizität in der materialen und ideellen Kultur statt.13 Ist ein Gemälde, ein Buch, ein Ausspruch „echt“, also realiter dem Autor/ der Autorin zuzuordnen, dem / der sie zugeschrieben werden? Auf der Metaebene kann gefragt werden, inwiefern sich „Echtheit“, Authentizität, überhaupt bestimmen lässt oder ob sie nicht vielmehr Zuschreibungs- und Konstruktionscharakter besitzt, und welche sozialen und kulturellen Funktionen solche Authentizitätskonstrukte dann ausüben: „Vorstellungen von Echtheit, Eigentlichkeit, Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit sind gesellschaftlich bedingte, kontingente Konstrukte, die kommunikativ generiert und im Rahmen von Machtbeziehungen verhandelt werden“.14 In der Sozialwissenschaft boomt die differenzierte Beschäftigung mit dem sozialen Prozess der Individualisierung, der – wie skizziert – den sozialstrukturellen Hintergrund zur Herausbildung eines Authentizitätsideals bildet: „Individualisierung bedeutet, dass das Individuum zentraler Bezugspunkt für sich selbst und die Gesellschaft wird“.15 Auch die Philosophie hat eine mehrfache Zuständigkeit für Authentizität.16 Die schillernde Kategorie ist einer klareren Begriffsanalyse zu unterziehen. Selbstverhältnisse sind Gegenstand der Subjektphilosophie. Insofern „authentisch leben“ eine Art kategorischen Imperativ der Gegenwart

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Vgl. RÖSSNER / UHL (Hg.), Renaissance. Naturgemäß spielt die Frage nach Authentizität auch in einer Kulturwissenschaft eine prominente Rolle, der es wesentlich um das Spiel mit Echtheit und Inszenierung geht: der Theaterwissenschaft; vgl FISCHER-LICHTE u. a. (Hg.), Inszenierung. Der Band „widmet sich der für die Erforschung des Theatralen grundlegenden Frage, wie der unhintergehbare Inszenierungscharakter der Wirklichkeit mit dem weitverbreiteten kulturellen Postulat der Authentizität zu vereinbaren ist“ (FISCHER-LICHTE, Theatralität, 10f.). RÖSSNER / UHL, Vorwort, 9. JUNGE, Individualisierung, 7. Vgl. die Einträge „Authentisch“ (K. RÖTTGERS / R. FABIAN) und „Authentizität“ (E. KRÜCKEBERG) im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Entscheidender Philosophischer Inspirator einer „Kultur der Authentizität“ ist ohne Zweifel Charles TAYLOR: Vgl. ders., Unbehagen; ders., Zeitalter. Vgl. dazu MENKE, „Ethik der Authentizität“.

Authentizität – Leitbild und Herausforderung

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darstellt, ist auch die normativ-wertende Perspektive der Praktischen Philosophie zuständig für Authentizität.17 All diese Diskurse der Kultur- und Sozialwissenschaften wie der Philosophie haben eine Relevanz für die ebenfalls normativ ausgerichtete Theologie. Grundsätzlich ist die Theologie, wie das II. Vatikanische Konzil eingeschärft hat, angehalten, nach den „Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 4). Christinnen und Christen verstehen sich, so das Konzil, solidarisch in „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ mit den „Menschen von heute“ (ebd. Nr. 1). Insofern ist auch die Reflexionsgestalt der christlichen Religion, die Theologie, grundsätzlich auf die Sinnsuchen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen verwiesen, die sie häufig unter den Leitwert des „Authentisch-Seins“ stellen.18 Tatsächlich wirken die skizzierten Aspekte des Authentizitätsdiskurses auch auf die verschiedenen Einzeldisziplinen der Theologie in unterschiedlicher Weise ein: Die Frage nach der Authentizität von Texten, Überlieferungen, zugeschriebenen Autorenschaften fällt in die Zuständigkeit der historischexegetischen Fächer der Theologie. Zum Gegenstand systematischer Theologie, welche die Geltungsansprüche des Glaubens auch vor den Foren einer säkularen Vernunft zu begründen sucht, zählen die Instanzen der Glaubwürdigkeit des Glaubens, die seine „Authentizität“ verbürgen. In der katholischen Tradition spielt hier nicht zuletzt das authentische Lehramt eine große Rolle.19 Schließlich sind in den praktisch-theologischen Fächern Fragen nach christlichen Lebensentwürfen, ihren Ausdruckformen und institutionell-kirchlichen Einbindungen zu stellen, die ebenfalls unter dem Leitbild des Authentischen stehen.20

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Vgl. PARTHE, Authentisch leben? Vgl. die Aufsatzsammlung des systematischen Theologen H-.M. BARTH zum christlichen Selbstverständnis unter dem Titel und Leitmotiv „Authentisch glauben“. Vgl. die Artikel „Authentizität“ (systematisch-theologisch: K. KIENZLER / M. SECKLER; kirchenrechtlich: R. PUZA) im Lexikon für Theologie und Kirche (3. Aufl.), in denen Authentizität primär in Kontext der Fragen nach legitimen Autoritäten im Glauben behandelt wird. Für die Frage nach Lebensentwürfen unter dem Leitbild der Authentizität ist freilich auch die theologische Handlungswissenschaft, die Moraltheologie, zuständig. Vgl. die Dissertation: SAUTERMEISTER, Identität.

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Ansgar Kreutzer

Der vorliegende Band greift diese lebensweltlichen Relevanzen von und wissenschaftlichen Annäherungen an Authentizität konsequent auf und versucht, diese schillernde Kategorie im interdisziplinären Zugriff von verschiedenen Seiten auszuleuchten.

2.

Aufbau und Inhalte des Bandes

Der Aufbau des Bandes ist nach den (genannten) Perspektiven oder Disziplinen gegliedert, die sich der Authentizität widmen: Die ersten beiden Sektionen beinhalten kulturwissenschaftliche Erkundungen und sozialwissenschaftliche Kontextualisierungen. Die dritte und die vierte Sektion nehmen diese Befunde im Feld von Kultur und Gesellschaft auf und stellen sie unter die zumindest teilweise normativen Perspektiven der Philosophie und der Theologie, die innerhalb theologischer Fakultäten eng miteinander verbunden sind. Die theologischen Beschäftigungen mit Authentizität bilden den materialen Schwerpunkt des vorliegenden Buches. Bislang nimmt die Thematik der Authentizität im theologischen Diskurs keinen prominenten Status ein, sodass gerade der intensivierten Auseinandersetzung der Theologie mit dieser Thematik ein innovatives Potenzial innewohnen dürfte. Der Band wird mit resümierenden „Nach-Gedanken“ beschlossen. Den Beginn in der kulturwissenschaftlichen Sektion macht Imelda Rohrbacher mit ihrem literaturwissenschaftlichen Beitrag: Sie gibt einen Überblick über die Semantik von Authentizität, über ihre Bedeutung in der Rhetorik und über Motive personaler Authentizität in der Literatur (z. B. bei den literarischen Figuren von J.W. von Goethe wie Werther oder Götz von Berlichingen). Dabei betont die Autorin den (notwendigerweise) bleibend unbestimmten Charakter von Phänomen und Diskurs der Authentizität. Die Kunstwissenschaftlerin Barbara Schrödl fokussiert auf ein für das Authentizitätsmotiv einschlägiges Phänomen: die Mode. Denn einerseits ist Mode ein Mittel des (authentischen) Selbstausdrucks; zugleich ist gerade diese an authentischer Expressivität ausgerichtete Kulturform stark von gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen abhängig. Schrödl zeigt das Ringen um Authentizität in der Modebranche exemplarisch am Modedesigner Carol Christian Poell, der sich am „authentischen Material“ Leder abarbeitet. Der Beitrag von Paul Eisewicht, Julia Wustmann und Michaela Pfadenhauer eröffnet die sozialwissenschaftliche Sektion: Er erhellt den wichtigen

Authentizität – Leitbild und Herausforderung

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Konstruktions- und Zuschreibungscharakter von Authentizität. Der authentische Auftritt übernimmt in sozialen Szenen zentrale soziologische Funktionen: Er entscheidet über Zugehörigkeit, Status, Sozialprestige. Daher stellt die Fähigkeit zu einer „szenegemäßen“ authentischen Selbstinszenierung eine entscheidende soziale Kompetenz dar. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp führt sodann eindrücklich das gesellschaftlich vorgegebene Postulat der individuellen Suche nach dem authentischen Glück vor Augen. Von einer wertenden Position aus verweist Keupp auf die psychopathologischen Folgen des überhitzten gesellschaftlichen Leitbildes authentischen Glücks, das strukturell zur Erschöpfung führt. Zugleich zeigt er in salutogenetischer Perspektive auf, wie mit den Belastungen dieser Art „selbstzerstörerischer Selbstverwirklichung“ konstruktiv umgegangen werden kann. Der dritte Beitrag im sozialwissenschaftlichen Teil schlägt den Bogen zur Religion: Karl Gabriel gibt als Religionssoziologe und Sozialethiker einen Abriss der soziologischen Prozesse der Individualisierung und ihre Auswirkungen auf das religiöse Feld. Als normatives Leitbild sozialer Individualisierung bestimmt Gabriel im Anschluss an den Philosophen Charles Taylor Authentizität. Sowohl der soziale Wandel der Individualisierung als auch die normative Bedeutung von Authentizität, die beide das Individuum stark in den Vordergrund rücken, sind mit erheblichen Herausforderungen für den christlichen Glauben und seine institutionellen Formen verbunden, denen sich Kirche und Theologie produktiv zu stellen haben. Im philosophischen Teil betrachtet Michael Hofer Authentizität unter zwei philosophisch einschlägigen Perspektiven: unter der erkenntnistheoretischen Frage der Möglichkeit von Selbsterkenntnis („Kernmodell von Authentizität“) und der praktisch-philosophisch ausgerichteten Frage eines handlungsleitenden Selbstentwurfes („Projektmodell von Authentizität“). Aus dem Text spricht insgesamt eine Kritik gegenüber überzogenen Authentizitätsvorstellungen. Denn erkenntnistheoretisch ist auf die Grenzen der Selbsterkenntnis zu verweisen, praktisch-philosophisch auf die beschränkte Kontrolle eigener Expressivität: „Der Mensch gehört nur halb sich selbst – die andere Hälfte ist Ausdruck“ (Hans Blumenberg). Im praktisch-philosophischen Feld ist der Beitrag von Klaus Viertbauer angesiedelt. Er untermauert mit seinem Gewährsmann Jürgen Habermas (und mit einem Seitenblick auf Charles Taylor) die schon philosophisch zu konstatierende Einbindung von Selbstverhältnissen in unhintergehbare Sozialbeziehungen. Auch in seinem Beitrag wird die so selbstbezügliche Authentizität aus einer rein individualistischen Sicht herausgelöst und die Bedeutung der Sozialität für ein „authentisches Selbstverständnis“ unterstrichen.

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Ansgar Kreutzer

Die theologischen Aufnahmen des Authentizitätsmotivs erfolgen im „Prisma“ der theologischen Einzelfächer. Der erste der beiden Beiträge aus der (neutestamentlichen) Bibelwissenschaft stammt von Gerd Theißen. Er hatte seit den 1970er-Jahren zur Weiterentwicklung der Jesus-Forschung entscheidende methodische und inhaltliche Anstöße gegeben. Nun differenziert und erweitert er den einschlägigen Authentizitätsdiskurs, der üblicherweise den Grad an Fakten-Referenz der jeweils untersuchten Überlieferungsmaterialien verhandelte, und führt die Konzepte einer „verdeckten“, „milieubezogenen“ und „anekdotischen Authentizität“ ein. Der Beitrag von Christoph Niemand setzt mit der Beobachtung ein, dass die biblische Exegese sich bislang fast ausschließlich mit Fragen der historischen Authentizität befasste. Das gegenwärtig virulente Verständnis von Authentizität als Phänomen personaler Integrität im Zusammenhang mit der Kommunikation von Lebensentwürfen sei aber in der exegetischen Fachdiskussion bislang noch kaum angekommen: Anlass genug für den Versuch, an den Gestalten des „erzählten Jesus“ und des „Briefe schreibenden Paulus“ typische Momente authentischen Kommunizierens zu skizzieren. Die systematisch-theologischen Beiträge werden von Hanjo Sauer eröffnet, der kultur- und theologiehistorisch bei der Epoche ansetzt, in der menschliche Introspektion und damit Authentizitätsideale eine entscheidende Aufwertung erfahren: der Romantik. Sauer konstatiert, dass in der Kultur der Romantik der Authentizitätsbegriff zwar kaum eine Rolle spielt, funktionale Äquivalente wie „Individualität“, das „Eigene“, „Subjektivität“ und „Personalität“ jedoch von erheblicher Bedeutung sind. Anhand zweier Schriftsteller und eines Theologen, Johann Ludwig Tieck, Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schleiermacher, präpariert Sauer Leitbilder von Literatur und Theologie der Romantik und ihren Beitrag zum Ideal der Authentizität heraus, das nun auch das Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts zu prägen scheint. Der Dogmatiker Walter Raberger ordnet das Motiv der Authentizität aus der Sicht seines Faches in den Traktat der Gnadenlehre ein. Im Durchgang durch philosophisch und theologisch einschlägige Zitate und Texte entwickelt er in anthropologischer Auswertung der Gnadentheologie eine bipolare Sicht auf das menschliche Selbstverständnis: als „Gegebensein und Selbstgegebenheit“. In normativer Hinsicht wird damit einerseits die Idee menschlicher Autonomie verteidigt wie zugleich die Überschätzung von Autonomie in zerstörerischer menschlicher Selbstinstrumentalisierung (z. B. in Wirtschaft und Biogenetik) kritisiert. Ansgar Kreutzer beschäftigt sich als Fundamentaltheologe mit der Prominenz der theologischen Rede vom authentischen Zeugnis in seinem

Authentizität – Leitbild und Herausforderung

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Fach (etwa bei Hansjürgen Verweyen und Edmund Arens). Die theologische Affinität zur Authentizität des christlichen Zeugnisses konfrontiert er mit der rollentheoretisch begründeten soziologischen Skepsis gegenüber Authentizitätskategorien. In der konstruktiven Zusammenführung beider Perspektiven plädiert Kreutzer schließlich für ein grundsätzliches Beachten der sozialen Kontextualität von Glaubenszeugnissen. Es sind auch im Bezeugen des Glaubens unterschiedliche Grade an gebotener Authentizität zu berücksichtigen, um Zeuginnen und Zeugen, Adressatinnen und Adressaten des Zeugnisses sowie Situationen der Bezeugung nicht zu überfordern und damit den Zeugnisakt performativ scheitern zu lassen. Das Thema des authentischen Lehramts ist eine klassische theologische Aufnahme des Authentizitätsmotivs. Der Dogmatiker Franz Gruber stellt zunächst den Authentizitätsbegriff des „authentischen Lehramts“ und den der Suche nach einem individuell bestimmten „authentischen Leben und Glauben“ idealtypisch gegenüber, um zugleich ihre wechselseitige Verwiesenheit aufzuzeigen. Authentischer Glaube beinhaltet sowohl Vorgaben, überlieferte und normativ geschützte Anhaltspunkte des gegebenen Glaubens, wie individuelle Übernahmen, Aneignungen und Ausformungen in einer selbst verantworteten Lebensführung und Glaubensform. Im praktisch-theologischen Teil beschäftigt sich die Pastoraltheologin Hildegard Wustmans mit der Tragfähigkeit des Authentizitätskonzeptes als Deutungsmuster heutiger (religiös geprägter) Sinn- und Lebensentwürfe. Empirisch fokussiert sie auf Freiwilligendienste, die sich als Umsetzung von Authentizitätsidealen (Selbstfindung, Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung und Selbstübereinstimmung) interpretieren lassen. Der Text der Religionspädagogin Ludmila Muchová stellt vom literarischen Genre eine Besonderheit dar. Er ist in weiten Teilen ein Selbsterfahrungsbericht über christliches Glaubensleben, das unter dem Anspruch persönlicher Authentizität einerseits und den politischen Bedingungen eines verordneten Atheismus andererseits stand. Muchová reflektiert ihre Glaubensbiographie im Rahmen des religionsfeindlichen kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei. Zugleich setzt sie ihre autobiographischen Deutungen in Beziehung zu Grundmotiven der tschechischen Existenzphilosophie etwa bei Jan Patočka oder Vaclav Havel. In einem „persönlichen Fazit“ formt Christoph Niemand aus den verschiedenen Dimensionen und Funktionen von Authentizität – als Diskursfigur und als Leitbild – eine eigene Synthese.

Ansgar Kreutzer

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3.

Einige übergreifende Motive im interdisziplinären Authentizitätsdiskurs

Das Konzept des vorliegenden Bandes sieht eine Zusammenschau unterschiedlicher Authentizitätsdiskurse vor, wie sie sich in diversen Fächern der Geisteswissenschaften finden. Im Sinne der interdisziplinären Anlage der Publikation scheint es daher sinnvoll, einen ersten Vergleich der unterschiedlichen Perspektiven auf den gemeinsamen Gegenstand der Authentizität anzustellen, um – freilich nur exemplarisch anhand der hier versammelten Beiträge und aus subjektiver Sicht – einige Merkmale des interdisziplinär ausgerichteten Authentizitätsdiskurses zu ermitteln:21

3.1

Diskurstheoretische Beobachtungen

Zumeist in den Einleitungspassagen nehmen viele Autorinnen und Autoren eine Art Analyse des Authentizitätsdiskurses vor. Sie beobachten die weite Verbreitung und die Relevanz des Authentizitätsmotivs für die heutige Gegenwarts-, nicht zuletzt Populärkultur. Die Diskurseigenschaften, die sie dabei ausmachen, ranken sich um die unmögliche Präzisierung eines klaren Begriffs von Authentizität. Der Diskurs um dieses Leitwort „changiert“ (Schrödl), ist „schillernd“ (Rohrbacher u. ö.), zeigt sich „amorph“ (Theißen) oder stellt ein „Ensemble von Geltungsqualitäten und Geltungsansprüchen“ (Raberger), von Konnotationen und Bedeutungen dar.

3.2

Ähnliche Begriffsbestimmungen

Trotz des nahezu unisono festgestellten amorph-schillernden Charakters der Authentizitätskategorie in Kulturen und Diskursen der Gegenwart arbeiten sich die Autorinnen und Autoren – ebenfalls eher in den Anfangspassagen ihrer Beiträge – doch an instruktiven Begriffsbestimmunen ab. Tatsächlich gibt es hierbei – bei aller Differenziertheit – gewisse Überschneidungen. Authentizität erscheint als eine Relationskategorie, die auf Übereinstimmung abzielt und sich auf Personen wie Dinge (im gegenständlichen oder ideellen Sinn) beziehen kann. Es ist u. a. die Rede von

21

Die Bezugnahmen auf die einzelnen Texte sind in dieser überblickshaften Auswertung exemplarisch, nicht systematisch oder repräsentativ.

Authentizität – Leitbild und Herausforderung

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„Echtheit“ (Rohrbacher); „Entsprechung von Entwurf und Vollzug“ (Niemand in seinen Nach-Gedanken am Schluss den Bandes); „Treue zu sich“ (ein häufiger gebrauchtes Zitat Charles Taylors, der in Summe den wichtigsten Referenzautor der Beiträge darstellt), dem Selbst als „Kern“ oder „Projekt“ (Hofer), dem Selbstverhältnis (S. Kierkegaard zit. n. Viertbauer) im sozialen Kontext (J. Habermas, zit. n. Viertbauer), „Individualität“, „Originalität“ (Sauer). Damit ist zwar keine übergreifende und exakte Begriffsbestimmung von Authentizität im Spiegel unserer Beiträge möglich, dennoch ergibt sich bei aller Ungenauigkeit der Kategorie, an der die Autorinnen und Autoren ausdrücklich festhalten (siehe Punkt 3.1), doch eine Art semantischer Verdichtung.

3.3

Normative Aufladung

Ein deutliches Leitmotiv der Darstellungen ist, dass Authentizität keineswegs eine wertneutrale Beschreibungskategorie ist, sondern eindeutig normativ aufgeladen und in aller Regel positiv besetzt ist. Authentizität ist in den einzelnen untersuchten Feldern der Kultur, der Gesellschaft, der Ethik und der Religion z. B. ein „Sehnsuchtsbegriff“ (Schrödl) oder ein „utopischer Begriff“ (Eisewicht / Wustmann / Pfadenhauer). Freilich kann sich in die positive Konnotation von Authentizität auch ein Unbehagen mischen, das sich an einer den Selbstschutz gefährdenden oder andere Personen durch ein Zuviel an Intimität überfordernden allzu „offenherzigen“ Art festmacht (Kreutzer). Authentizität ist einerseits als Leitwert der Lebensführung normativ von Bedeutung. Andererseits geht Authentizität auch eine enge Verbindung mit Autorität ein. Authentizität gilt als Autoritätsausweis. Bei Szenen ist sie Beleg für Zugehörigkeit und sozialen Status (Eisewicht / Wustmann / Pfadenhauer). In der christlichen Überlieferung kommt z. B. den für authentisch gehaltenen Jesusworten eine besondere Autorität zu (Theißen, Niemand). Das authentische Lehramt der katholischen Kirche begründet seine Leitungsautorität mit seinem Anspruch, authentische Interpretationen des Glaubens vorzunehmen (Gruber). Raberger weist auf den Zusammenhang von Authentizität mit dem Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit hin. Bei Muchová ist die Frage nach authentischem Glauben von existenzieller Relevanz angesichts der Unterdrückung von Glaubensbiographien unter religionsfeindlichen politischen Regimen.

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3.4

Ansgar Kreutzer

Sozialer Hintergrund: Individualisierung und ihre Dialektiken

Der soziale Hintergrund des Authentizitätsideals, die Individualisierung, wird ebenfalls häufig genannt. Sie ist das zentrale Thema bei Gabriel (Individualisierung als „Hardware für die kulturellen Umbrüche der letzten fünfzig Jahre“); sie bildet z. B. die gesellschaftstheoretische Hintergrundfolie bei den sozialpsychologischen Überlegungen Keupps und den dogmatischen Reflexionen Grubers. Dabei bringen die Individualisierungsprozesse, die sozialen Freisetzungen der Einzelnen, durchaus Dialektiken hervor, die auch auf die Interpretation der Authentizität einwirken. So macht das von Schrödl thematisierte Phänomen der Mode die Dialektik von individuell bestimmter Expressivität und gesellschaftlich vorgegebenen ästhetischen Standards deutlich. Eine ähnliche Dialektik findet sich auch bei der sozial konstruierten Authentizität, von der Eisewicht / Wustmann / Pfadenhauer innerhalb von Szenen sprechen. Gruber spielt die Dialektik von heteronomer Vorgabe und autonomer Selbstbestimmung, die sich im Authentizitätsdiskurs verdichtet, anhand des authentischen kirchlichen Lehramts und selbstbestimmten authentischen Glaubensformen durch, die er freilich miteinander vermitteln möchte. Auch Rabergers gnadentheologische Anthropologie bewegt sich in der Dialektik von „Gegebensein und Selbstgegebenheit“. Das Ringen der Individuen um Authentizität heute spielt sich offenbar an der Schnittstelle von subjektiver Individualität und intersubjektiv-objektiver Sozialität, von Selbstbestimmung und Vorgegebenheit ab. Eine zweite mit Vorgegebenheit und Selbstgegebenheit menschlicher Identität in Zusammenhang stehende Dialektik bezieht sich auf die zeitliche Dimension. Die Frage nach „authentischem Selbstsein“ arbeitet sich offenbar auch am Verhältnis von bleibender Identität und stetem Wandel ab. Keupp spricht von der Arbeit an der Identität als einem „unabschließbaren Projekt“, von einer Gestaltungsräume eröffnenden und strukturell überlastenden „grenzenlosen Plastizität“. Das populäre Phänomen der Mode ist, so lässt sich Schrödls Beitrag interpretieren, Sinnbild einer zugleich befreienden und erschreckenden Mentalität steten Wandels, das auch die tragischen Konnotationen von Vergänglichkeit und Tod aufruft.

Authentizität – Leitbild und Herausforderung

3.5

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Eigene normative Stellungnahmen der Autorinnen und Autoren

Es ist auffällig, dass die Autorinnen und Autoren nicht nur Popularität, Relevanz und Normativität der Kategorie Authentizität registrieren und reflektieren, sondern sich selbst zur Authentizität normativ, also wertend verhalten – dies gilt auch über die Fächer der Philosophie und Theologie hinaus, zu deren Wissenschaftsverständnis Findung und Begründung von Werturteilen gehören. Bemerkenswert ist, dass die eigenen Urteile durchaus in einem Kontrast zu den diagnostizierten Werturteilen zur Authentizität stehen. Während durchgängig die positive Wertigkeit des Leitbildes Authentizität konstatiert wird (siehe Punkt 3.3), ist die Bewertung von Authentizität durch die Autorinnen und Autoren selbst überwiegend durch Differenzierung und Ambivalenz bestimmt. Gruber unterstützt die „berechtigte Kritik eines ‚Authentizitätsmythos‘“, betont aber zugleich die Bedeutung einer Kultur der Authentizität als „Wertressource“. Kreutzer kontrastiert theologische Affinität mit soziologischer Skepsis der Authentizität gegenüber. Positiven Wertungen von Authentizität, wie der „Intensivierung eigener Existenz“ bei Wustmans oder der gebotenen „Verantwortung für Freiheit“ bei Muchová, stehen Warnungen vor einem überhitzten Authentizitätsideal gegenüber, das zur überfordernden Erschöpfung in der Selbstgestaltung (Keupp), zur Selbstinstrumentalisierung (Raberger) führen oder Nähen zum ethisch problematischen „Enhancement“ (Viertbauer) aufweisen kann. Grundsätzlich überwiegt im Gesamt der Beiträge eine klare Präferenz für einen flexiblen Begriff und eine flexible Handhabung von Authentizität. Die Dialektik vom Verbergen und Entbergen der eigenen Persönlichkeit muss schon zu ihrem eigenen Schutz aufrecht erhalten bleiben (Hofer im Rückgriff auf Helmuth Plessner; Kreutzer im Rückgriff auf Erving Goffman). Theißen spricht in seinem offenen Authentizitätskonzept von der „Verwischung der Autorenschaft“ und „verdeckter Authentizität“. Rohrbacher und Schrödl machen für ihre Fächer der Literatur- und Kunstwissenschaft den changierend-schillernden, den „mäandernden“ (Schrödl) Charakter des Leitbildes Authentizität stark, den sie zugleich normativ bejahen. Gerade eine authentische Kunst komme nicht ohne den Prozess der „Verbergung der Kunst“ aus (Rohrbacher). In der Zusammensicht unserer Beiträge zeigt sich, dass den Thematisierungen von Authentizität von unseren Autorinnen und Autoren große Relevanz und Aktualität für heutige Diskurs- und Lebenswelten beigemessen

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Ansgar Kreutzer

wird. Trotz der gerade herausgearbeiteten Knotenpunkte des Authentizitätsdiskurses bleibt es bei einer großen Unbestimmtheit und Variationsbreite im Gebrauch der sprachlichen und normativen Chiffre Authentizität, die sich je nach diskursivem und lebensweltlichem Zusammenhang als Modewort, Leitbild und reflexives Konzept erweisen kann.

4.

Institutionelle Verortung des Projektes

Die hiermit vorgelegte interdisziplinäre Studie zum Thema Authentizität geht zurück auf die „Interdisziplinäre Forschungsgruppe Authentizität“ (IFGA), die seit einigen Jahren institutionell an der Katholischen PrivatUniversität Linz (KU Linz) verankert ist. In ihr kooperieren Mitglieder des Instituts für Philosophie, des Instituts für Bibelwissenschaften des Alten und Neuen Testaments, des Instituts für Fundamentaltheologie und Dogmatik sowie des Instituts für Pastoraltheologie und Christliche Sozialwissenschaften der Fakultät für Theologie an der KU Linz. Darüber hinaus betreibt die IFGA eine über die KU Linz und die Fächer der Theologie hinausgehende interdisziplinäre Vernetzung. Der vorgelegte Sammelband dokumentiert Ergebnisse, die aus diesem Forschungsnetzwerk und seinen Aktivitäten (z. B. Kolloquien, Workshops, Gastvorträge) zum Forschungsgegenstand der Authentizität hervorgegangen sind. Die beiden Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für die gute Kooperation bei der Publikation, ihren Mitarbeiterinnen Gudrun Becker, Astrid Kriechbaum und Martina Resch für die sorgfältige Korrekturlektüre und Dr. Rudolf Zwank vom Verlag Friedrich Pustet für die angenehme Zusammenarbeit.

Authentizität – Leitbild und Herausforderung

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Literaturverzeichnis BARTH, H.-M., Authentisch glauben. Impulse zu einem neuen Selbstverständnis des Christentums, Gütersloh 2010 DUTTWEILER, S., Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie (Analyse und Forschung: Sozialwissenschaften), Konstanz 2007 DUTTWEILER, S., Erkenne Dich selbst und finde dein Glück. Ratgeberliteratur als Anleitung privater Selbstoptimierung, in: Interesse. Soziale Informationen 2/2008, 1–2 FISCHER-LICHTE, E. u. a. (Hg.), Inszenierung von Authentizität (Theatralität, 1), Tübingen 22007 FISCHER-LICHTE, E., Theatralität und Inszenierung, in: dies. u. a. (Hg.), Inszenierung von Authentizität (Theatralität, 1), Tübingen 22007, 9–28 JUNGE, M., Individualisierung (Campus Einführungen), Frankfurt a.M. 2002 KIENZLER, K. / SECKLER, M., Authentizität. Systematisch-theologisch, in: LThK3 I (1993), 1287–1289 KRÜCKEBERG, E., Authentizität, in: HWP I (1971), 692–693 MENKE, Ch., Was ist eine „Ethik der Authentizität“?, in: M. Kühnlein / M. Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk Charles Taylors (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2018), Berlin 2011, 217–238 PARTHE, E.-M., Authentisch leben? Erfahrung und soziale Pathologien in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2011 PUZA, R., Authentizität. Kirchenrechtlich, in: LThK3 I (1993), 1289 REICHARDT, S., Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2075), Berlin 22014 RÖSSNER, M. / UHL, H. (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld 2012 RÖSSNER, M. / UHL, H., Vorwort, in: dies. (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen (Kulturund Medientheorie), Bielefeld 2012, 9–12 RÖTTGERS, K. / FABIAN, R., Authentisch, in: HWP I (1971), 691–692

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SAUTERMEISTER, J., Identität und Authentizität. Studien zur normativen Logik personaler Orientierung (Studien zur theologischen Ethik, 138), Fribourg u. a. 2013 TAYLOR, Ch., Das Unbehagen an der Moderne (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1178 ), Frankfurt a.M. 31997 TAYLOR, Ch., Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009 Online-Quelle Nr. 1: http://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss?__mk_de_DE=%C3%85M%C3% 85%C5%BD%C3%95%C3%91&url=search-alias%3Dstripbooks&fieldkeywords=Authentisch&rh=n%3A186606%2Ck%3AAuthentisch [Stand: 23.01.2016] Online-Quelle Nr. 2: DUTTWEILER, S., „Glück ist machbar ... vorausgesetzt Du änderst Dich!“, in: http://www.bdwi.de/forum/archiv/themen/gesund/5670882.html [Stand: 23.01.2016] (gedruckt in: Forum Wissenschaft 1/2012, 12–15)

1. Kulturwissenschaftliche Erkundungen

Imelda Rohrbacher

Authentizität als Diskursfigur Etappen der Begriffsgeschichte

I. Authentizität bestimmt als Konzept die Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur auf verschiedensten Ebenen. Das soll eine kurze Überlegung zu einigen Bedeutungsfacetten des schillernden Begriffs, der gerade als solcher immer wieder, oft geradezu reflexartig, charakterisiert wird, aufzeigen. Auffallend ist, dass „Authentizität“ in hohem Maß als interdisziplinärer Begriff diskutiert wird, dessen Definitionsversuche die Einbeziehung der jeweiligen Auffassung vor allem in der Philosophie, den Sozialwissenschaften und der Theologie fordern. Gut abzulesen ist dies am entsprechenden Eintrag im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“1, der der Geschichte des Begriffs der Authentizität in der Rhetorik zuerst dessen Verwendung in Philosophie, Ästhetik, Literatur- und Medienwissenschaft voranstellt, um in der Folge zu einer Begriffsbestimmung zu gelangen. Man könnte demgemäß davon sprechen, dass es sich bei der Erfassung des „Authentischen“ um eine genuin kulturwissenschaftliche Bemühung handelt, die nur dann sinnvoll ist, wenn sie disziplinenübergreifend erfolgt. Dies verweist auf ein hohes Potential des Ausdrucks: Gerade das Prekäre seiner Bestimmung verwandelt sich ins Tragfähige, indem es zur Grundlage einer gemeinsamen Anstrengung wird. Der Begriff ist in besonderem Sinn abstrakt, da per se perspektivisch – und das ist angesichts seiner „Unverwechselbarkeit“ evozierenden Bedeutung ein reizvoller Widerspruch, der eine eigene Denkfigur begründet, die im Zusammenhang mit dem „Authentischen“ öfter diskutiert wird. Gerade das, was auf einen „Kern“, eine inhärente, eben gerade nicht abstrakte Qualität des Nicht-

1

UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 79-91.

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Imelda Rohrbacher

mehr-Hinterfragbaren, man könnte sagen: eine erfreulich leibliche Dimension von Wörtlichkeit, hinweist, ist so schwer zu bestimmen. Gerade dies löst aber offensichtlich einige Lust der Entdeckung aus, wie die sich differenzierende Forschungslandschaft zeigt.2 Ein zentraler Aspekt der Auslotung des „Unverfälschten“ liegt daher in der notwendig multiperspektivischen Erschließung, sie eignet sich so in besonderer Weise für das „Symposion“ und stellt den Inbegriff eines Forschungsdesiderats dar.

II. In sprachlicher Hinsicht mag aus aktuellem Blickwinkel erscheinen, die Rede vom „Authentischen“ sei besonders mit der Zunahme der RatgeberLiteratur und des Großauftritts der Internet-„Definitoren“ – der marktbeherrschenden Suchmaschinen –, also mit der Medien-Entwicklung der „Nullerjahre“ zur Allgegenwärtigkeit aufgestiegen. Glaubt man Notierungen ebendieser Quellen, ergibt die Eingabe des Adjektivs in der bekanntesten Suchmaschine heute doppelt so viele Treffer wie noch vor wenigen Jahren. Längst wird also der Begriff so häufig gebraucht, dass er schon rein aus der Frequenz der Anwendung dem Verdacht der Sinnentleertheit unterliegt und, ähnlich wie die Labels, die der Bezugnahme auf ökologische Lebensmittel und -haltungen im weitesten Sinn dienen, zum beliebigen Formelschatz dieser Ausrichtungen gehört. Tatsächlich gilt das 20. Jahrhundert als jenes der „eigentliche[n] Karriere“ des Begriffs.3 Ein zunehmender Gebrauch der Vokabeln „authentisch“ sowie „Authentizität“ ist etwa dem Google-ngram viewer deutlich zu entnehmen.4 Diese Konjunktur ist jedoch nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es insgesamt eine lange Geschichte des Wortgebrauchs im Deutschen und vor allem auch eine lebhafte Differenzierung des Lexems gibt. So listet das Deutsche Fremdwörterbuch die Lemmata „authentisch“, „Authentie“, „Authentifikation“, „authentifizieren“, „Authentikum / Authentik(en)“, „au-

2

3 4

So ist etwa dem Begriff der „historischen Authentizität“ aktuell ein Leibniz-Forschungsverbund gewidmet: http://www.leibniz-gemeinschaft.de/forschung/leibnizforschungsverbuende/historische-authentizitaet/ (7.8.2015). Vgl. UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 88. Siehe https://books.google.com/ngrams unter der Eingabe der Vokabeln im Zeitraum 1800–2000.

Authentizität als Diskursfigur

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thentisieren“ „Authentisierung“ und schließlich „Authentizität“; vor allem der adjektivische Gebrauch ist seit dem 16. Jahrhundert belegt. Aus dem Amts- und Kanzleiwesen, dem rechtssprachlichen Bereich und insbesondere natürlich dem Kirchenrecht wird der Begriff zudem früh übertragen auf die auf verschiedenen Ebenen geltende Beglaubigung von Kunst- und Wertgegenständen im Sinne von zuerst „original-, urschriftlich; urkundlich, beurkundet, beglaubigt“ und ist ab Mitte des 18. Jahrhunderts stark im kulturellen Bereich verankert.5 Geschichts- wie Literaturwissenschaft übernehmen und variieren bald die Bedeutungen von quellenkundlicher Verbürgtheit, Korrektheit und Absicherung hin zur Notion der Nachvollziehbarkeit, Glaubhaftigkeit im Sinn von Glaubwürdigkeit und schließlich der getreuen Wiedergabe einer Autorintention in Übersetzungen und Interpretationen, die „den eigentlichen ursprünglichen, zum Entstehungszeitpunkt vom Autor, Komponisten gemeinten Inhalt, Charakter wiedergebend, original-, text-, werkgetreu“ sind.6 Relevant für die heutige Geläufigkeit von „Authentizität“ ist auch, dass dieser Ersatz für das vorherige, aber selten gebrauchte „Authentisierung“ (zurückgehend auf „Authentie“ < gr. αὐϑεντία ‚eigene Macht, Selbstherrschaft‘) ab der Mitte des 18. Jahrhunderts „wohl unter Einwirkung von frz. authenticité“ aufkommt und damit dann eine nicht geringe Bandbreite von Bedeutungen abdeckt: „Urkundlichkeit, Rechtsgültigkeit, Echtheit; zuverlässige (historische, literarische) Glaubwürdigkeit, Richtigkeit, Gültigkeit, Bewährtheit, (Werk-)Treue; Wirklichkeitsnähe; Gefühlsechtheit“.7 Angesichts dieses Spektrums kann man also bezüglich des heutigen Gebrauchs vor allem in den Massenmedien eine Tendenz hin zur letztgenannten Bedeutung und zur emotionalen Besetzung im doppelten Sinn konstatieren: Mit „authentisch“ oder „Authentizität“ wird oft sowohl auf „intensiv Gefühltes“ oder die Fähigkeit zu emotionaler Tiefe angespielt als auch der Begriff selbst durch Häufigkeit der Verwendung und die Übertragung in unterschiedlichste Kontexte emotional aufgeladen. Eine – und für die heutige Begriffsbestimmung damit äußerst relevante – Konsequenz aus diesem Bedeutungswandel und seiner Vergrößerung des Spektrums ist natürlich, dass damit die Gefahr eines „Kernverlusts“ durch Beliebigkeit mehr denn je gegeben ist; die zeitgenössische Satire hat daher den Begriff

5 6 7

SCHULZ, Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 2, 536f. Ebd. 537. Ebd. 537f.

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längst im Repertoire. Allerdings ist auch dies beileibe keine neue Erscheinung – ein wiederkehrendes Motiv der Fackel von Karl Kraus ist jenes vom „authentischen Hörensagen“ zur Aburteilung journalistischer Beleg„Treue“ und als Spiegel der Wiener Klatschsucht: „[…] Haben Sie gelesen, was der Fackelkraus geschrieben hat?“ „Ah, du meinst den, der was immer nur zerstören und nix aufbauen kann?“ „Ja, den mein ich […] über den Fackelkraus kann ich Ihnen etwas verraten, was hier in Tripolis noch niemand weiß. Warum, glauben Sie schimpft er ineinemfort auf die Neue Presse?“ „Was, auf die Neue Press schimpft er, die so angesehn is im Ausland, der Lump?“ „Ja, grad auf die. Warum also glauben Sie schimpft er? Weil er nicht hineingekommen is!“ „Was Sie nicht sagen! Aber woher wissen Sie?“ „Woher? Weil es doch klar is, daß man das sonst nicht verstehn könnt! Wenn er hineingekommen wär, könnt er doch nicht schimpfen?“ „Das seh ich ein.“ „Wenn wir in der Situation wären, wir möchten auch schimpfen. Aber passen Sie auf, wenn er engagiert wird, gibt er Ruh.“ „Das glaub ich auch.“ „Wenn wir engagiert werden möchten, wir würden doch auch Ruh geben?“ „Selbstredend. Sie wissen es also ganz sicher?“ „Authentisch. Wie ich letzten Sommer in Wien war, hat ganz Wien davon gesprochen. Die Toilettefrau im Imperial hat gesagt, daß sie es direkt von einem Polyhistor weiß, der alles weiß und viel verkehrt.“ „Was Sie nicht sagen! Also hörst du, sie weiß es von einem, der viel weiß und alles verkehrt. Und weiß er es selbst, der Fackelkraus? […]“.8

Zur heutigen Beleglage sei aber ergänzt, dass es gerade im Journalismus abseits der Boulevardisierung auch einen weniger trendbehafteten Gebrauch gibt, der den Begriff entsprechend seiner Sprachgeschichte im Deutschen weiter stark im Zusammenhang der Kulturberichterstattung, vor allem der Theater- und Filmkritik, zeigt. Dies ist etwa an den Belegen, die das elexikon des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim zusammenstellt, gut abzulesen; als Beispiel daraus kann (gekürzt) angeführt werden: „Claudio Abbado überzeugte, ohne allerdings eine Ausnahmeleistung wie Muti in Neapel zu erreichen; durch seine Vorliebe für die Rhythmik ging einigen Nummern die verhaltene Spannung verloren (Habanera, Schmugglerquintett, […]). Mailand hatte sich für die gereinigte Urfassung mit Dialogen statt Rezitativen entschieden; das verdienstvolle Bemühen um Authentizität fand jedoch im holperigen BühnenFranzösisch schnell seine Grenzen“.9

Ein Grund schließlich für die frühe Etablierung vor allem des adjektivischen Lexem-Gebrauchs könnte im Mangel an Alternativen zu suchen sein. Das Deutsche Fremdwörterbuch listet zehn Spalten mit Belegen zum Wortgebrauch der genannten Lemmata, deren erster Johann Fischarts Ge-

8 9

KRAUS, Die europäische Kultur hält ihren Einzug, 51f. http://www.owid.de/artikel/168031?module=elex&pos=13 (7.8.2015): H85 / KZ1. 15726 Die Zeit, 28.12.1984, S. 34; Die Reform stellt sich selber ein Bein.

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schichtklitterung (= Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung) von 1575, einer freien Übersetzung und Nachdichtung von Rabelais‘ Romanzyklus Gargantua und Pantagruel, entnommen ist: „Nun will ich zu verschiedenen Neuigkeiten, Welche hieselbst vorgefallen sind, schreiben. Sie sind zwar meist unangenehm und schlecht, Aber doch alle authentisch und ächt“.10 Der geradezu manische Wortspieler und -erfinder Fischart wollte das Experiment als Methode nicht nur den Naturwissenschaften vorbehalten wissen, seine Zusammenstellung von „authentisch“ und „echt“ gehört daher zu den typischen Reihungen und Zwillingsformeln, die auch die moderne experimentelle Literatur kopiert, sie kann außerdem als Ironisierung des Dichterideals des poeta doctus der Frühen Neuzeit gelesen werden. Man könnte vermuten, dass die Hinzufügung von „echt“ das Fremdwort verdeutlichen soll, allerdings war das indigene „echt“ keineswegs im ganzen deutschen Sprachraum verbreitet, das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (begonnen 1854) vermerkt: „ein der alten sprache in allen hohen dialecten unbekanntes wort, selbst heute weisz das volk in der Schweiz, in Baiern, Schwaben nichts davon und nur durch verkehr mit der schriftsprache wird es ihm zugebracht. KEISERSBERG, LUTHER brauchen es nie, bei DASYPODIUS, MAALER steht es nicht“.11 Das Adjektiv „echt“ hat auch im Deutschen Wörterbuch einen überraschend kurzen Eintrag, als erste Bedeutung wird jene von „ehelich geboren“ angesetzt („Echtefrau“ = Ehefrau), die angeführten Belege zeigen deutlich, dass es sowohl semantisch wie im Gebrauch noch im 19. Jahrhundert eine eher eingeschränkte Vokabel war, wenn sie sich auch über Friedrich Hagedorn und Friedrich von Logau bis Goethe, Schiller und Lenz belegen lässt.12 Es ist also zu vermuten, dass der Gebrauch von „authentisch“ im Deutschen seine Konjunktur nicht nur aus seiner eigenen Bezeichnungskraft zieht, sondern auch aus einem Mangel bedeutungsstarker autochthoner Alternativen. Diese Bedeutungsstärke wird unter den Belegen, die das Fremdwörterbuch für die modernen Verwendungen von „authentisch“ anführt, im Besonderen durch eine Stelle aus Theodor W. Adornos Noten zur Literatur demonstriert. Adorno verengt den Begriff des Authentischen anhand des 10 11

12

SCHULZ, Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 2, 538. GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 20 bis 21, echt bis echterlein: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GE001 12#XGE 00112 (7.8.2015). Vgl. ebd.

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Vergleichs mit jenem der Autorisierung durch eine Instanz der Macht (auctoritas), interessanterweise unter Hinweis auf die mangelnde Integration von „Authentizität“ als Terminus, und fügt ihm vor allem eine entscheidende Bedeutungskomponente hinzu, nämlich jene der Ausweitung auf eine soziale Übereinkunft: „Ich habe im Zusammenhang mit Proust, und auch sonst zuweilen, von ‚Authentizität‘ gesprochen. Nicht nur ist das Wort ungebräuchlich; die Bedeutung, die es in dem Zusammenhang annimmt, in den ich es zog, ist keineswegs durchaus sichergestellt. Es soll der Charakter von Werken sein, der ihnen ein objektiv Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven Ausdrucks Hinausreichendes, zugleich auch gesellschaftlich Verbürgtes verleiht. Hätte ich einfach ‚Autorität‘ gesagt, also ein wenigstens eingebürgertes Fremdwort, so wäre dadurch zwar die Gewalt bezeichnet worden, die solche Werke ausüben, nicht aber das Moment von deren Berechtigung kraft einer Wahrheit, die schließlich auf den gesellschaftlichen Prozess zurückverweist“.13

III. Adornos Begriff der „Authentizität“ steht im Mittelpunkt auch des Eintrags im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“,14 das ebenso wie das „Historische Wörterbuch der Rhetorik“ dessen Ästhetik, ausgehend von „Philosophie der neuen Musik“ von 1948, zentrale Bestimmungskraft für das 20. Jahrhundert zuordnet. Während bei Walter Benjamin noch die Begriffe der Aura und der Echtheit dominierten, so die Argumentation, komme mit Adorno der Begriff zu seiner vollen Entfaltung und werde nun zum „Leitbegriff der ästhetischen Moderne“.15 Die soziale Dimension nämlich des Begriffs, die bei Adorno so ausschlaggebend ist, kehrt wieder in der strukturalistischen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, die in den Mitteln moderner medialer Kommunikationsmöglichkeiten und ihrer Technik der Entfernung die Grundlage inauthentischer Interaktion und damit eines endgültigen gesellschaftlichen Bruchs gekommen sieht. Um diesen Punkt dreht sich letztlich die Begriffsgeschichte bis heute, so wird

13 14 15

ADORNO, Wörter aus der Fremde, 230f. Vgl. RITTER, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 692f. Vgl. KNALLER, Ein Wort aus der Fremde, 7. Anzumerken ist, dass Adorno „Authentizität“ Werken der klassischen Moderne kaum noch zuspricht, sondern diese nach Goethe und Flaubert nur noch vereinzelt als Qualität, etwa bei Proust, beschreibt, vgl. ADORNO, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, 45.

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gefolgert, da diese Definition einen Kern liefert, dessen Diskussion immer noch anhält: „So [mit Lèvi-Strauss, I.R.] entsteht das Konstrukt der primitiven, authentischen Gesellschaft, die in der Moderne höchstens noch in kleinen Gemeinschaften verwirklicht werden kann. In diesem Sinne spielt die A. als gegen die Gesellschaft zu verwirklichende, von Empathie und lebensweltlicher Nähe geprägte Utopie in der Rhetorik linksalternativer Milieus der End-1960er- und 1970er-Jahre eine entscheidende Rolle. […] Gleichzeitig gewinnt A. vor allem mit dem Siegeszug des Massenmediums Fernsehen an Bedeutung als eine mediale Kategorie, die ebenso umstritten wie ersehnt ist, weil der Glaube an ‚die‘ Wirklichkeit und ‚das‘ Original schwindet. Angesichts der digitalen Reproduktionstechniken erklären postmoderne Theoretiker wie BAUDRILLARD die Unterscheidung zwischen Original und Kopie gar für gänzlich unmöglich, was den Begriff der A. letztlich hinfällig macht. Auch wenn sich diese postmoderne Sicht im Authentizitätsdiskurs nicht durchgesetzt hat, stellt sie dennoch einen Bruch dar, der die Rede von der A. entscheidend problematisiert: Spätestens seit ihrer radikalen Dekonstruktion kann A. nicht mehr – und wenn doch, dann nur aus utopischer Sicht – als primäre Größe, sondern nur noch als Substrat einer für immer entzauberten Echtheit, Natürlichkeit, Originalität oder Unmittelbarkeit gelten. Rhetorische Inszenierung von A. ist somit stets als äußerst schwieriges, stillschweigendes oder offenes Spiel mit ihrer eigenen Unmöglichkeit zu verstehen – was sie umso wirkmächtiger erscheinen läßt, wenn ein Redner sie ‚erwischt‘“.16

IV. „Daher muss der Redner unauffällig ans Werk gehen und keinen gekünstelten, sondern einen natürlichen Eindruck erwecken (dies nämlich überzeugt, jenes bewirkt das Gegenteil, denn die Leute fühlen sich betrogen, wenn man heimlich etwas gegen sie im Schilde führt, ähnlich wie wenn Wein gepanscht wird)“.17

Die Performanz des guten Redners, also des Orators, der sein Können und die Ausgefeiltheit seiner Rede verbirgt, mithin die „Darstellung, die vorgibt, keine Darstellung zu sein“,18 dient als besonderes Exempel in der Erläuterung der Rolle des „Authentischen“ in den literarischen Künsten, aber nicht nur in diesen. Entgegen allen anderen Definitionstraditionen der Disziplinen, in denen stets die Formen der „Eigentlichkeit“ wie bei Heidegger oder der Verwirklichung des Individuums im Sinn der „Treue zu sich

16 17 18

UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 89. ARISTOTELES, Rhetorik III, 2, 4. Vgl. UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 87 mit Verweis auf STRUB, Trockene Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität, 7–17.

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Imelda Rohrbacher

selbst“ (Charles Taylor) diskutiert werden,19 kann in der Rhetorik Unverfälschtheit im Sinn einer zweckfreien Größe nicht angenommen werden. Die zentrale Frage ist hier wie im größeren Szenario von Literatur und Kunst allgemein jene der dissimulatio artis: „Aus rhetorischer Sicht ist A. als performative Inszenierung von Echtheit, Natürlichkeit, Aufrichtigkeit, Originalität oder Unmittelbarkeit zu begreifen. […] Die Rhetorik interessiert sich für das rhetorische Potential der A., also für ihre spezifische Leistung im Prozess der Persuasion. […] Die A. wird dem Adressaten über bestimmte Codes und Markierungen signalisiert, die im gemeinsamen Wissensvorrat einer Gesellschaft oder Kultur verankert sind, historischen Veränderungen unterliegen und je nach Textgattung und oder Situationstyp variieren“.20 Die Mittel der ars dienen dazu, den Eindruck der Nichtkünstlichkeit (natura) zu erwecken, wobei die Frage, was jeweils als nichtkünstlich empfunden wird, natürlich vom Rhetor (vom Künstler) gewusst werden muss. Ergebnis ist immer eine sekundäre Authentizität, erzeugt wird der Anschein der Echtheit, ein persuasiver Prozess im weitesten Sinn. Das Eingangszitat verweist hier auf jene Art der Wirkung, die der antike Redner vor allem in zwei Bereichen haben sollte: „Diese personale Protoauthentizität ist vor Gericht und in der Volksversammlung besonders gefragt – in der Epideiktik kann es hingegen auch angemessen sein, rhetorische Kunstgriffe offen zur Schau zu stellen“.21 Stets geht es aber nicht um Täuschung, sondern um die Natürlichkeit zweiter Ordnung, die die Kunstmittel erwirken, variieren kann der Modus des Umgangs mit dem Wissen um die Konstruiertheit, dies gilt ebenfalls schon in der antiken Rhetorik. – Eine nachhaltig wirksame Facette kommt dabei in Renaissance

19

20 21

Zu diesen normativen Authentizitäts-Begriffen vgl. UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 80: Ein solcher „[…] rekurriert auf das ethische Ideal der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Subjekts. Wer in diesem Sinne authentisch ist, ist ‚sich selbst treu‘ und erhält dafür die Anerkennung der anderen. Die A. kann dabei zwar als intersubjektive, nicht jedoch als kommunikative oder persuasive Größe gefasst werden“. Zusätzlich kann ein empirischer Authentizitätsbegriff zur Kennzeichnung etwa der „gesicherte[n] Urheberschaft oder Echtheit von Objekten wie Manuskripten, Kunstwerken oder archäologischen Artefakten“ angesetzt werden, und schließlich ein interpretativer Begriff, der Authentizität nicht als „falsifizierbare Eigenschaft oder anzustrebendes Ideal (‚authentisch sein‘), sondern als Resultat eines Zuschreibungsprozesses (‚authentisch erscheinen‘)“ versteht (ebd.). UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 79 und 85. UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 87 (Hervorhebung original).

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und Barock dazu bzw. wird nun zu einer gesuchten Qualität erklärt: Unter dem Begriff der sprezzatura führt Baldassare Castigliones Il libro del cortigiano (1528) das Verhaltensideal der Lässigkeit ein, dem perfekten Hofmann sollten Mühe und Anstrengung nicht ablesbar sein, so das Rednerideal, die eingenommene Rolle also nicht mehr als solche erkennbar.22 Der Theorie des Wie-zufälligen war kein langes Nachleben beschieden, gehalten hat sich aber die Rede vom „gewissen Etwas“, das einer Person eignen kann. Mit dem Ende der Selbst-Zucht zur Erlangung der Gunst des Fürsten und der damit verbundenen Befreiung aus dem Korsett höfischer Rollenauffassung endet schließlich auch nach Auffassung der Rhetorik das Zeitalter der „Protoauthentizität“. Die großen sozialen Änderungen, die die Aufklärung einläutet, bedeuten den endgültigen Anstoß für die Entwicklung hin zum Individualitätsideal der Moderne, als zentrales Vorläuferkonzept der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) der letzten Jahrzehnte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten Rousseaus Forderungen der freien individuellen Entfaltung und Selbstbestimmtheit. Das verändert auch grundlegend die Idee der Aufgabe der Künste: „Die Quelle dieses Selbst ist jedoch nicht mehr, wie in der Aufklärung, die Vernunft, sondern das Gefühl des Daseins, das jeder nur auf seine eigene Weise und in Abkehr von der Gesellschaft verwirklichen kann. Rousseaus äußerst innovativer Anspruch auf authentischen, also natürlichen und aufrichtigen Selbstausdruck stößt auf eine Realität gesellschaftlicher Verhaltensweisen und literarischer Techniken, die sich der Verwirklichung dieses Anspruchs noch weitgehend entzieht, da sie weiterhin von ‚künstlichen‘ Inszenierungsformen und Konstruktionsregeln bestimmt wird. […] Das Theater gilt ihm als Institution, welche Schauspieler und Zuschauer von ihrem jeweiligen Selbst entfremde, weil sie sich in immer neue Rollen einzufühlen hätten. Dagegen wird die Rhetorik gesetzt: Der Redner ‚stellt nur sich selber dar, spielt nur seine eigene Rolle […] und sagt nichts oder sollte nichts sagen, was er nicht auch denkt‘. Solange also ein Mensch sich selbst darstellt, ist das Rollenspiel für Rousseau kein Authentizitätsproblem“.23

Die Abkehr von den nunmehr als künstlich empfundenen Inszenierungsformen der Frühen Neuzeit und des Barock könnte weitreichender nicht sein; als eine der ersten Formen der Literatur, die erfolgreich die neuen Beglaubigungsmuster transportiert, tritt der Briefroman von England aus einen Siegeszug durch Europa an, seiner Vielstimmigkeit und multiperspektivischen Darstellung – ein Ereignis wird oft aus der Sicht mehrerer

22 23

Vgl. ebd. UEDING, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 87f.

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Imelda Rohrbacher

Protagonisten dargeboten – wird besondere Glaubwürdigkeit zugeschrieben. Auch für die deutsche Literatur wird die Aneignung und Umwandlung des sentimentalism vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Öffnung zu einem zentralen Moment ihrer Selbstbestimmung, und genau dem, ihrer Selbstbestimmung, gehen die Heldinnen und Helden einer ganzen Reihe von Werken nun nach, sie erkunden das Selbstbewusstsein des Individuums auch nicht-adliger Herkunft im Bürgerlichen Trauerspiel und der Komödie wie bei Lessing, behaupten ihre Rechte und gehen an die Grenzen gesellschaftlicher Schranken wie bei Schiller und sind auf der Suche nach den Möglichkeiten, das neue Selbst tatsächlich zu leben wie bei Karl Philipp Moritz und Goethe bis hin zu Faust. Exemplarisch basiert auch dessen früher Ruhm auf der Erschaffung von Figuren, die geradezu prototypische Authentiker sind, auf Götz von Berlichingen, dessen Schwäbischer Gruß zur Urformel der Verweigerung von Fremdbestimmung wird, und auf Werther, dessen Tiefe der Gefühle ihn in mehrfacher Weise zum sozialen Außenseiter macht. Auch er verheddert sich sowohl beruflich in den Schranken der Standesregeln wie in den definierten Bahnen der möglichen privaten Verbindungen, die ihn als wahrhaft Liebenden ausschließen; die Diskrepanz zwischen den Verwirklichungsmöglichkeiten des / der Einzelnen und dem gesellschaftlich Vorgegebenen oder Lebbaren wird das Thema der Literatur ab der Aufklärung und über das 20. Jahrhundert hinaus bestimmend bleiben. Formal lösen sich in Götz klassische Dramenregeln der Einheit von Zeit, Ort und Handlung und wird Werther zum Inbegriff der Stimme eines authentischen Schreibers, da er den Weg in die Sünde des Selbstmords durch bekenntnishafte Beschreibung, im Briefstil der Mündlichkeit ganz nahe, begreifbar macht und zum Akt freier Wahl umdeutet, die Zeitgenossenschaft sollte ihm weder die Tränen der Empathie noch den Respekt für die konsequente, genialische Tat verweigern. – Mit welcher technischen Raffinesse Goethe dies in Szene setzt, erläutert ein Kommentar zu einem zentralen Textausschnitt, in dem Werther seinen ersten Tanz mit Lotte beschreibt, die Beschreibung kann als Musterbeispiel der dissimulatio artis gelten: „[…] wie wohl mir’s war, als sie [Lotte, I.R.] auch in der Reihe die Figur mit uns anfieng, magst du fühlen. Tanzen muß man sie sehen. Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabey, ihr ganzer Körper, eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst

Authentizität als Diskursfigur

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nichts dächte, nichts empfände, und in dem Augenblikke gewiß schwindet alles andere vor ihr […]“.24

Werthers Beschreibungen des ersten Tanzes mit Lotte, die er gerade erst kennengelernt hatte, enthalten eine Fülle von Informationen für den Leser, so auch seine Beobachtung, dass eine Bekannte Lotte beim Reihentanz scherzhaft mit dem Finger mahnt, woraus klar wird, dass Lotte verlobt ist, die Grundkonstellation der späteren Katastrophe wird also gleich zu Beginn eingeführt; es geht generell in Werther nicht um eine etappenweise Enthüllung des Unglücks im Sinne einer dramatischen Spannung des suspense, sondern um die Entwicklung, Entfaltung eines Zustandes, der sich für die Figuren Schritt für Schritt ergibt. Beobachtung ist, wie der zitierte Ausschnitt zeigt, das Prinzip der Vermittlung dieser Beschreibungen, mit Werthers Augen beobachten also auch wir Lotte beim Tanzen und entnehmen gleichzeitig der detaillierten Beschreibung das Signal der Hochgestimmtheit Werthers, der die Szene im Genuss des Nacherlebens widergibt, wir werden damit zu Augenzeugen des Moments, der Momente, in denen sich Werther verliebt. Martin Huber, der Goethes Adaption des englischen Briefromans hin zum individuell dargebrachten Drama Werthers herausarbeitet, beschreibt eindringlich, worauf die Wirkung dieser Szene beruht – verschiedene Perspektiven werden im Auge der einen Figur zusammengeführt: „Werther als Briefschreiber gelingt es souverän, weil nahezu unbemerkt, die Wahrnehmungsperspektiven hin und her zu schieben. Kommunikationstheoretisch gesehen stärkt Werther durch diese Technik die Mitteilungsseite gegenüber der Informationsseite und erzeugt so ein hohes Maß an ‚Wahrhaftigkeit‘. […] Die Wahrnehmung wechselt vom Erzähler (‚wie wohl mir’s war‘) zum Leser (‚magst du fühlen‘), nimmt dann eine übergeordnete Außenperspektive ein (‚Tanzen muß man sie sehen‘), bindet diese wieder an den Leser an (‚Siehst du‘), wandert dann wieder zum Erzähler, der die Wirkung von Lottes Verhalten nach außen beschreibt (‚ihr ganzer Körper, eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre‘), um schließlich aus einer Innenperspektive Lottes momentanes Gefühl zu vermuten (‚und in dem Augenblikke gewiß schwindet alles andere vor ihr‘). Mit multiperspektivischem Erzählen, das der Briefroman gattungstypisch anwendet, hat dies freilich nichts zu tun, mehrere eigenständige Perspektiven werden nicht entwickelt. Die besondere Leistung des Erzählens in Passagen wie der zitierten ist vielmehr die Plausibilisierung eines einzigen Bewußtseinszustandes, nämlich der des Helden und der dazugehörigen Gefühle, – dies erst schafft die Voraussetzung für eine gesteigerte Empathie des Lesers mit der Figur“.25

24 25

GOETHE, Die Leiden des jungen Werthers, 44/45. HUBER, Der Text als Bühne, 114f.

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Imelda Rohrbacher

Die kurze Textstelle aus Werther steht hier daher exemplarisch für das Prinzip der Authentifizierung durch Kunst und für jene Perfektionierung von literarischen Beglaubigungsstrategien, die das 18. Jahrhundert zugleich mit dem in der Rhetorik grundlegenden Wandel hin zum persuasiven Orator aus persönlich integerer Motivation hervorgebracht hat, der verbreiteten zeitgenössischen Maximen zur Selbstmaximierung immer noch abgelesen werden kann und im medial-politischen Prozess mehr denn je floriert (wohl gerade weil die dissimulatio artis des politischen Geschäfts Allgemeinwissen darstellt). Der Rhetorik insgesamt wie der fiktiven Literatur hat die Epoche bis heute nachhaltig wirksame Erwartungsmuster beschert, der Aufstieg des Romans zur bestimmenden Gattung geht auf die „Sattelzeit“ zurück und wird sich im „langen 19. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) verfestigen. Die Leiden des jungen Werthers als Bekenntnisroman steht nicht zufällig am Beginn dieses Prozesses; dem Roman als Literaturform, die das Versprechen der Identifikationsmöglichkeit mit der fiktiven Gestalt scheinbar am weitestgehenden erfüllen kann, kommt in der Kunstauffassung einer heutigen Gesellschaft eine immense Rolle zu. Dies gilt ähnlich für den Genie-Gedanken des aus sich selbst schaffenden Künstlers, der aus dem ingenium des angeborenen, quasi per se natürlichen Talents schöpft und als poeta alter deus neue Welten, neue Möglichkeiten erschafft. Werther mit seiner auch den Zeitgenossen stets bewussten Inszenierung von Überlieferung und als persönliche vermittelte Verbürgtheit mag aber darüber hinaus auch als Marker für die Unmöglichkeit stehen, von „Authentizität“ ohne Kontext zu sprechen, die hohe Rhetorizität gerade dieses Klassikers der „Unmittelbarkeit“ verweist auf die Notwendigkeit der je neu zu bestimmenden Konstanten, die freilich nicht auf die Literatur beschränkt bleibt. Die Autobiographieforschung zeigt die Grenzen einer unterkomplexen Anwendbarkeit des Begriffs eindrücklich dort auf, wo es um die Vermittlung historischer Inhalte und realer Ereignisse geht, deren Darstellung niemals ohne dramaturgische Elemente, also den Prozess der Verbergung der Kunst auskommt, will sie als eben das, als „authentisch“ wahrgenommen werden.26

26

Vgl. dazu insbesondere DE MAN, Autobiographie als Maskenspiel und ZELLER, Ästhetik des Authentischen.

Authentizität als Diskursfigur

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Literaturverzeichnis ADORNO, TH.W., Wörter aus der Fremde, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt 1974 [1961], 216–232 ADORNO, TH.W., Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt 1974 [1961], 41–48 ARISTOTELES, Rhetorik, übs. u. hg. v. G. Krapinger (Reclams UniversalBibliothek 18006), Stuttgart 2005 DE MAN, P., Autobiographie als Maskenspiel, in: Ch. Menke (Hg), Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a.M. 1993, 131–146 GOETHE, J.W., Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der beiden Fassungen, Stuttgart 1999 GRIMM, J. / GRIMM, W., Deutsches Wörterbuch (1854–1971), Bd. III EForsche: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&le mid=GE00112#XGE00112 (7.8.2015) HUBER, M., Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800, Göttingen 2003 KNALLER, S., Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007 KRAUS, K., Die europäische Kultur hält ihren Einzug, in: Die Fackel 372/373 (1913) 49-52 (Photomechanischer Nachdruck, hg. v. Heinrich Fischer, München 1970) RITTER, J. (Hg), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Darmstadt 1971 SCHULZ, H. (Begr.), Deutsches Fremdwörterbuch, 2. Auflage, völlig neu bearbeitet im Institut für Deutsche Sprache, Bd. 2: Antinomie-Azur, Berlin 1996 STRUB, CH., Trockene Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität, in: J. Berg / H.O. Hügel / H. Kurzenberger (Hgg), Authentizität als Darstellung, Hildesheim 1997, 7–17 UEDING, G. (Hg), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 10: Nachträge A-Z, Berlin 2012 ZELLER, CH., Ästhetik des Authentischen, Literatur und Kunst um 1970, Berlin 2010

Barbara Schrödl

„MY BEST FRIEND“

Von der neuen Sehnsucht nach Authentizität in der Mode

Authentizitätsdiskurse sind derzeit allgegenwärtig. Dies gilt ebenso für die soziale und kulturelle Praxis wie auch für die theoretische Auseinandersetzung. Die Diskurse um Authentizität sind durch gegenläufige Tendenzen gekennzeichnet: Einerseits wird der Begriff in Frage gestellt, andererseits lässt sich eine neue Sehnsucht nach Authentizität beobachten. Die neue Sehnsucht nach Authentizität hat gerade auch in der bildenden Kunst und der Kunsttheorie Konjunktur. Dabei kommt eine bis in den ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts zurückreichende Tradition ins Spiel, die sich im Laufe der historischen Entwicklung breit ausdifferenziert hat und ebenso das Werk, wie das Verhältnis zwischen UrheberIn und Werk, gesellschaftlichem Kontext und Werk, RezipientIn und Werk sowie dem Werk und seiner bildlichen Darstellung betrifft. Im Kontext der zunehmenden Amalgierung von Kunst und Mode gewinnt die Sehnsucht nach Authentizität auch in der Mode neue Bedeutung. Der rückwärtige Klappentext des Katalogs zu der von Ursula Guttmann kuratierten Ausstellung „LOVE & LOSS– Mode und Vergänglichkeit“, die 2015 im Lentos Kunstmuseum in Linz zu sehen war, beispielsweise erklärt: „Die Suche nach Authentizität, Melancholie als Haltung sowie kühne Formexperimente waren bis dahin der bildenden Kunst vorbehalten. Nun werden sie in der Mode aufgegriffen“.1 Mich interessiert, was damit gemeint sein könnte, wenn in der Mode nach Authentizität gesucht wird und welche Bedeutung dieser Suche nach Authentizität im Feld der Mode zukommen könnte.

1

GUTTMANN / ROLLIG, Love & Loss, Cover.

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1.

Barbara Schrödl

CAROL CHRISTIAN POELL und das „authentische“ Material Leder

Die Bedeutung des Begriffs der Authentizität changiert zwischen Echtheit, Einmaligkeit, Originalität, Individualität, Ursprünglichkeit, Unverfälschtheit, Unmittelbarkeit oder Wahrhaftigkeit. Wonach wird somit gesucht, wenn in der Mode von Echtheit, Einmaligkeit, Originalität, Individualität, Ursprünglichkeit, Unverfälschtheit, Unmittelbarkeit oder Wahrhaftigkeit gesprochen wird und welche Bedeutung kommt dieser Suche zu? Diese Fragen trage ich an einige Objekte des Labels CAROL CHRISTIAN POELL heran.2 Das Label wurde 1993 von dem aus Linz stammenden in Mailand lebenden und arbeitenden Modedesigners Carol Christian Poell zusammen mit Sergio Simone als Partner gründet. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es eine hohe handwerkliche Qualität mit einem konzeptuellen Ansatz verbindet. Besondere Aufmerksamkeit kommt einem speziellen Material, dem Leder, zu. Leder könnte man als ein authentisches Material deuten. Es ist ein Material natürlichen Ursprungs. Als Leder wird eine durch Gerbung chemisch haltbar gemachte Tierhaut bezeichnet, deren natürliche Faserstruktur weitgehend erhalten ist. Leder wird meist aus der Dermis genannten Hautschicht gewonnen. Vom Pelz unterscheidet sich Leder dadurch, dass der Begriff Pelz nicht auf die Haut bezogen ist, sondern das Fell von Säugetieren mit dicht stehenden Haaren meint. Leder und Pelz verbindet, dass sie als begehrte, hochwertige und exklusive Materialien gelten. Je nach Herkunft und Verarbeitung schwanken die Preise deutlich, doch jeweils hat Leder seinen Preis. Dies ist einer der Gründe, warum man im unteren Preissegment gerne auf Kunstleder zurückgreift. Das heute teure und exklusive Material Leder fand bereits in der Kleidung der Menschen der Steinzeit Verwendung. Leder ist also ein Material, das in der menschlichen Bekleidung eine lange Tradition hat, und die Lederverarbeitung ist ein traditionsreiches Handwerk. CAROL CHRISTIAN POELL setzt Leder jedoch nicht unbedingt im Sinne der Tradition ein. Die Besonderheit des Labels liegt darin, dass mit dem traditionellen Handwerk der Lederverarbeitung experimentiert wird. So finden sich in der Herrenkollektion DISJOINTED Herbst / Winter 2007 / 2008 Schuhe, die sich aus ungegerbter 2

Die Schreibweise in Versalien für den Namen, die Werktitel und einige Wortkreationen des Labels CAROL CHRISTIAN POELL folgt einer Vorgabe des Designers. Ist hingegen eher dessen Person gemeint, wird der Name normal geschrieben.

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Tierhaut gefertigt beim nachträglichen Gerbprozess unkalkulierbar verändert hatten. Ungewöhnlich ist zuweilen auch die Herkunft der Häute. So wurde bereits aus Häuten von Lamas oder Kängurus gewonnenes Leder verarbeitet. Carol Christian Poell träumt gar davon, Menschenhaut zu Leder verarbeiten, doch fehlt ihm dazu bislang die Konzession.3 Wenn schon nicht auf menschliche Haut, so wurde bereits wiederholt auf eine andere Ressource menschlicher Herkunft zurückgegriffen: In mehreren Kollektionen wurde menschliches Haar verarbeitet. In der FE-MALE Kollektion Herbst / Winter 2000 / 2001 finden sich beispielsweise ein gewebter Mantel oder ein gestrickter Pullover aus menschlichem Haar. Diese Materialwahl wirkt überraschend, obwohl die Verwendung von menschlichem Haar im Bereich der Mode eigentlich nichts Ungewöhnliches ist. Insbesondere in der Perückenherstellung hat sie eine lange Tradition. Traditionsreich ist sie aber auch in der Herstellung von Schmuck. Für Liebes-, Freundschaftsoder Trauerschmuck war die Verwendung „authentischen“ Haares, also Haares der geliebten Person für den eigenen Schmuck oder eigenen Haares für Präsente an die geliebte Person beliebt. Menschliches Haar besitzt einen hohen emotionalen Wert. Es ist in der europäischen Kultur ebenso wie die menschliche Haut mit besonderen Faszinationen verbunden. Haar und Haut können dafür eingesetzt werden, den ganzen Menschen zu repräsentieren und ihnen werden in bestimmten Kontexten magische Kräfte zugeordnet.4 Wenn Objekte des Labels CAROL CHRISTIAN POELL Bezeichnungen, wie HUMAN HAIR SLEEVELESS COAT oder HUMAN HAIR JUMPER (BOAT NECK PULLOVER), tragen, die ihre ungewöhnliche Materialität deutlich markieren, bringen sie damit diese Faszinationen ins Spiel.5 An die Grenzen des Gewohnten und Akzeptierten hinsichtlich des Materialeinsatzes und dessen expliziter sprachlicher Markierung geht der Designer auch im Falle einiger Objekte der FE-MALE Kollektion Herbst / Winter 1999 / 2000. So finden sich in dieser Kollektion einige mit Bullenblut gefärbte Lederhosen, -röcke oder -hosenröcke sowie ein Ledergürtel, deren Bezeichnung beispielsweise als BULL’S BLOOD-DYED PIG-SKIN – TROUTHER-SKIRT auf ihre Materialität verweist: die Gewinnung des Leders aus

3 4 5

Vgl. DANICKE, CAROL CHRISTIAN POELL. Vgl. RICHTER, Erinnerungsspuren, 49–54. Siehe Bildhinweis CAROL CHRISTIAN POELL: HUMAN HAIR SLEEVELESS COAT und HUMAN HAIR JUMPER (BOAT NECK PULLOVER).

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Schweinehaut und das Eingefärbtsein des Leders mit Bullenblut.6 Carol Christian Poell begründet das Färben des Leders mit Blut damit, dass er bestrebt gewesen sei, dem Material das ihm genommene „Leben zurückzugeben“.7

2.

Der Designer Carol Christian Poell und seine „authentische“ Beziehung zum Leder

Authentisch ist, so könnte man sagen, nicht nur der Materialeinsatz des Designers, sondern auch der deutliche Verweis auf diesen in den Benennungen der Objekte. Als authentisch kann aber auch seine Faszination für das Material wahrgenommen werden. Ursula Guttmann charakterisiert Carol Christian Poell als einen „Forscher“, „der sich mit ‚Haut und Haaren‘ dem Material Leder“ verschrieben habe.8 Der Designer ist dem Material und dessen handwerklicher Bearbeitung eng verbunden. Er vergibt weder Lizenzen noch lässt er seine Stücke außer Haus fertigen. Eine industrielle Herstellung würde zwar die Stückzahlen steigern und wäre sicherlich finanziell lukrativ, doch lehnt er diesen Weg für sich ab. Produziert wird mit einer überschaubaren Anzahl an MitarbeiterInnen in der kleinen Mailänder Werkstatt des Designers. Dadurch, dass er Tuchfühlung behält, kann er eine hohe Qualität seiner Stücke garantierten. Carol Christian Poells innige Beziehung zum Handwerk, zum Material und insbesondere zum Leder geht – wie er immer wieder herausstreicht – auf seine Kindheit zurück. Sein Großvater besaß eine Gerberei, die sein Vater, ein gelernter Ledertechniker, übernahm und sein Stiefvater war Schneider.9 Auf der Homepage des Spezialarchivs des österreichischen Museums für angewandte Kunst in Wien (MAK) wird formuliert: „Noch hat er den Geruch des Leders in der Nase, in der Gerberei des Großvaters, mit Pferden ist er aufgewachsen, aber die Jäger bringen das frisch erlegte Wild zum Abhäuten und der nahe liegende Schlachthof ist der Ort des Grauens (noch

6 7 8 9

Siehe Bildhinweis CAROL CHRISTIAN POELL: BULL’S BLOOD-DYED PIG-SKIN – TROUTHER-SKIRT. DANICKE, CAROL CHRISTIAN POELL. GUTTMANN, Mode und Vergänglichkeit, 9. Vgl. WINKLER / HATZIUS, Mann ohne Eigenschaften, 98.

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heute kann er kein Blut sehen) und der Faszination. DAS TIER, DAS WIR 10 TÖTEN, UM UNS ZU KLEIDEN, IST IHM NICHT GLEICHGÜLTIG“.

3.

Eine Handtasche und die Reflexion des Verhältnisses von Leben und Tod

CAROL CHRISTIAN POELL zeichnet sich nicht nur durch eine experimentelle Herstellung und Verarbeitung von Leder sowie eine innige Beziehung zu diesem Material aus, sondern zudem auch durch eine grundlegende Reflexion des Umgangs mit diesem Material. Thematisiert wird, dass das Leder aus der Haut von Tieren gewonnen wird und dies regt zum Nachdenken über das Verhältnis Leben und Tod an. Besonders deutlich geschah dies im Falle der Präsentation der Herrenkollektion Frühjahr / Sommer 2001. Die mit THREE REFRIGERATED CELLS betitelte Kollektion wurde in einem Schlachthaus präsentiert. Der Designer mietete dort drei Kühlräume: Im ersten Raum befand sich die überwiegend aus Leder gefertigte Kollektion, im zweiten Raum wurden in zarte Gaze gehüllte enthäutete Tiere präsentiert und im dritten Raum standen ein Stuhl und ein Spiegel. Die weniger an eine traditionelle Modenschau als vielmehr an eine Kunstinstallation erinnernde Präsentation erachtet der Designer als eine „Hommage an die Tiere“.11 Von besonderem Interesse ist in diesem Kontext auch die FE-MALE Kollektion Frühjahr / Sommer 2000 mit dem Titel TRILOGY OF MONOTYPOLOGIES II. Sie ist die zweite Damenkollektionen des Designers und untersucht zusammen mit seiner ersten und seiner dritten Kollektion für Damen jeweils unterschiedliche Bereiche des weiblichen Körpers: zunächst den Unterkörper, dann den Oberkörper und schließlich den ganze Körper. Die Kollektion der ersten Saison bestand überwiegend aus Röcke und Hosen, die der zweiten Saison aus Jacken, Hemden und Blusen und die der dritten Saison aus Mänteln, Kleidern sowie langen Hemden. Aus der zweiten, auf den Oberkörper fokussierten Kollektion, wurde jedoch nicht eine Jacke, ein Hemd oder eine Bluse besonders bekannt, sondern ein Objekt, das man als Accessoire charakterisieren könnte. Es trägt den Titel MY BEST FRIEND.

10 11

http://carolchristianpoell.mak.at//biography. Ebd.

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CAROL CHRISTIAN POELL, MY BEST FRIEND, FE-MALE Kollektion Frühjahr / Sommer 2000

Dieses Objekt ist auch für meine Befragung der Suche nach Authentizität im Feld der Mode und der Bedeutung dieser Suche von besonderem Interesse. Es handelt sich um ein präpariertes Ferkel, das mit Details eines traditionellen Aktenkoffers versehen wurde. Auf dem Rücken des Tieres ist der mit hellem Haar umwickelte Griff eines Aktenkoffers montiert und die vier Füße des Koffers befinden sich unter dessen Klauen. Diese Kombination aus präpariertem Ferkel und Aktenkofferteilen erinnert an eine Damenhandtasche. Handtaschen weisen in Größe, Material, Form und materiellem Wert eine beachtliche Variationsbreite auf. Sie haben zwar eine praktische Funktion, vor allem aber sind sie heute eines der wichtigsten Accessoires der weiblichen Garderobe. Handtaschen sind in der Gegenwart so eng mit Weiblichkeit identifiziert, dass kaum mehr erinnert wird, dass sie historisch zunächst ausschließlich ein Bestandteil der männlichen Garderobe waren. Erst in der Renaissance wurden sie zunehmend auch von Frauen verwendet. In ihrer damaligen Form als Lederbeutel stellten sie im Kreise der aufstrebenden Kaufmannsschicht ein Statussymbol dar, das sichtbar getragen wurde, während sie der Adel eher in der Kleidung versteckte. Im Rokoko kamen dann kleine seidene Beutel, die in der Hand gehalten oder über die Schulter gehängt wurden, in Mode. Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich wurde der Metallrahmen erfunden und damit

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konnte die Gestalt der Handtasche deutlicher als zuvor variiert werden. Ende des 19. Jahrhunderts erhielt die Damenhandtasche dann einen starren Henkel und wurde zumeist wieder aus Leder gefertigt. Diese Gestaltungsmerkmale sind noch heute die dominierenden. Für das Innenfutter wird das preiswerte Schweinsleder bevorzugt, während für die sichtbaren Partien meist edlere Lederarten gewählt werden. Im 20. Jahrhundert erlebte die lederne Henkeltasche einen Boom, der bis heute anhält. An diese modische Bedeutung der Damenhandtasche anknüpfend lancierte die Industrie in den 1990er-Jahren das Phänomen der „It-Bag“. Die „It-Bag“ unterliegt, da sie nur in einer kleinen Stückzahl und für kurze Zeit produziert wird, einem rasanten modischen Wechsel. Dies begründet ihren Status als ein herausgehobener Luxusartikel. Deutlich wird ihr besonderer Status in der Rede von der Handtasche als der Frauen allerliebste Begleiterin.12 In einer online-Ausgabe der renommierten „Süddeutschen Zeitung“ findet sich sogar die Formulierung: „Der liebste Begleiter der Frau ist nicht der Mann, sondern die Handtasche“.13 Die Handtasche MY BEST FRIEND kann man zwar tragen, doch ist sie eigentlich untragbar, denn sie ist ihrer praktischen Funktion beraubt. Sie verfügt über keine Öffnung in welche man Dinge hineinlegen und transportieren könnte. Die Handtasche hat also keine praktische Funktion, aber das macht sie nicht bedeutungslos. Ganz im Gegenteil: Der Verzicht auf eine praktische Funktion lenkt den Blick auf ihre symbolischen Funktionen und rückt sie in die Nähe der Kunst. Die Deutung der Handtasche als liebste Begleiterin der Frau, lässt eine ähnliche, noch weitaus geläufigere Formulierung assoziieren: die Deutung des Hundes als besten Freund des Menschen. Die Handtasche in Form eines Ferkels von CAROL CHRISTIAN POELL nimmt in der Titelgebung deutlich darauf Bezug: MY BEST FRIEND. Die Handtasche als bester Freund. Der beste Freund in der Handtasche. Der beste Freund als Handtasche. Die Ferkelhandtasche ist absurd und doch nicht ganz fern der Realität. „It-Girls“ wie beispielsweise die aus einer sehr vermögenden Familie stammende Paris Hilton – so liest man in „It-Magazinen“ – tragen ihre kleinen Hunde gerne in einer „It-Tasche“ oder als „It-Taschenersatz“ mit sich herum.14 Im Falle von Paris Hilton war dies bis zu seinem Tod im Frühjahr 2015 ein Chihuahua namens Tin-

12 13 14

Vgl. ANONYM, It-Bags der Saison. ANONYM, Ausstellung in München. Vgl. ANONYM, Paris Hilton.

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kerbell. Der Hund war von seiner Besitzerin wiederholt demonstrativ in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt worden und hatte darüber einige Berühmtheit erlangt: Er war zum „It-Hund“ geworden. Der „It-Hund“ in der „It-Tasche“ oder der „It-Hund“ als „It-Tasche“ erklären den Hund zum Modeaccessoire. Für kleine Mädchen geht man gerne noch einen Schritt weiter, wenn Stofftier und Handtäschchen verschmolzen werden. Wer kennt sie nicht die Mädchenhandtäschchen im Plüschhund-Design, wie beispielsweise das Modell „Plüsch-Wolf Tasche Rotkäppchen“?15 Wenigstens leidet der Plüschhund in Handtaschenform nicht. Im Falle des Modehundes muss man dies dagegen annehmen, denn sein „It-Status“ dürfte für ihn kaum einen adäquaten Ersatz für eine artgerechte Haltung darstellen. Selbst wenn in der Tat einmal am Rande von den Bedürfnissen des Modehundes die Rede ist, bemüht man sich kaum zu kaschieren, wie gering deren Bedeutung ist. So liest man etwa auf der Homepage eines Vertriebs für Kleinhundezubehör über die Hundetransporttasche Modell „Tote Bag Leopard“: „Frauchen soll eine elegante Tasche haben und Ihr kleiner Liebling soll sich ja darin optimal wohl fühlen“.16 MY BEST FRIEND lässt sich aus dieser Perspektive als ein Objekt verstehen, dass einen Trend treffend auf den Punkt bringt und zugleich unser Verhältnis zum Tier zur Diskussion stellt. Wichtig ist in diesem Kontext, dass es sich bei den tierischen Bestandteilen der zwar nicht singulären, doch streng limitierte Handtasche MY BEST FRIEND – sie wurde lediglich zweimal ausgeführt – um Tierpräparate handelt, die nicht auf das Töten von gerade erst geborenen Ferkeln zurückgehen, sondern auf zwei Totgeburten.17 Dies wird auf den Seiten des Spezialarchivs CAROL CHRISTIAN POELL des MAK deutlich markiert: „ES GAB ZWEI TOTE FERKEL, DIE MIR VON MEINEM PRÄPARATOR NAHEGELEGT WURDEN. DIE IDEE DAHINTER, WIE TIERE BEHANDELT WERDEN: KRI18 TISCH GEGENÜBER DEM TIER ALS ACCESSOIRE“. Die Kritik am Status des Tieres als modisches Accessoire und die damit verbundene Unterordnung seiner Bedürfnisse unter die wechselnden Erfordernisse der Mode könnte man mit dem Trend zum veganen Lebensstil kontrastieren. VeganerInnen verzichten gänzlich auf den Konsum von Produkten mit tierischen Bestandteilen. Unter veganer Mode versteht man

15 16 17 18

Siehe Bildhinweis: Plüsch-Wolf Tasche Rotkäppchen. Siehe Bildhinweis: Tote Bag Leopard. Vgl. http://carolchristianpoell.mak.at/keyissues/l/topic13. Ebd.

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Kleidung, die auf den Einsatz tierischer Materialien wie Pelz, Wolle, Seide, Daunen oder Leder verzichtet. Verwendung finden ausschließlich synthetische Stoffe oder Materialien pflanzlichen Ursprungs. Vegane Kleidung ist allerdings nicht immer umweltfreundlich und / oder fair produziert. Verbinden sich jedoch diese drei Aspekte kann man von nachhaltiger Mode sprechen. Als nachhaltige Mode wird derzeit Kleidung erachtet, bei der drei Dimensionen von Nachhaltigkeit ineinandergreifen: Soziales, Ökonomisches und Ökologisches. CAROL CHRISTIAN POELL lässt sich kaum als ein veganes, in gewisser Hinsicht jedoch als ein nachhaltiges Label bezeichnen. In sozialer Hinsicht erlaubt dies die Fertigung der Stücke in der Mailänder Werkstatt des Designers, die nicht nur eine hohe handwerkliche Qualität der Produkte garantiert, sondern den MitarbeiterInnen auch arbeitsrechtliche und sicherheitstechnische Standards, wie die in den die Textilproduktion dominierenden Regionen der Welt nur im Ausnahmefall überhaupt bekannt sind. In ökonomischer Hinsicht sind dies die auf Langfristigkeit angelegten Gebrauchszyklen. Die hohen Qualitätsstandards, die stattlichen Preise und der Verzicht auf einem Folgen der modischen Vorgaben in Materialwahl, Farbgebung sowie Formfindung legen den KonsumentInnen eine jahrelange Nutzung nahe. Auch in ökologischer Hinsicht lässt sich ein Streben in Richtung Nachhaltigkeit feststellen. Zwar richtet sich das Interesse nicht auf die Produktion klassischer Bioprodukte, doch auf Verfahren der Ledergewinnung, die beanspruchen, das Tier zu achten und sogar zu schützen. Vergleichbar der Forschungen zur Fleischgewinnung aus Zellkulturen, die jedwede Nutztierhaltung zum Zwecke der Fleischproduktion obsolet werden lassen soll, beschäftigt man sich mit der Hautproduktion aus Zellkulturen. Zellkulturen stellen eine neuartige Variante des Umgangs mit tierischen Ressourcen dar, die zwar die Nutztiere in gewisser Hinsicht zu schützen versprechen, doch die hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Tiere, die Menschen und das Verhältnis von Mensch und Tier noch kaum durchdacht sind. Das „austrianfashion.net“ interpretiert diese Bemühungen jedoch ungeachtet dieser Unsicherheiten als demonstratives Bekenntnis zur Nachhaltigkeit: „Sein grundlegendes Motiv beruht auf Nachhaltigkeit. Aus einer Dynastie aus Gerbern und Ärzten stammend, verfolgt Carol Christian Poell das Ziel, Tierhäute gentechnisch zu beeinflussen, um die Haut zur Gewinnung von Leder beliebig oft reproduzierbar zu machen, ohne Tiere töten zu müssen“.19 Das aus einem

19

BUCHTA, Scientific Skin.

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Tierpräparat gefertigte Objekt MY BEST FRIEND ist zwar alles andere als vegan, und doch bringt es einen Zeitgeist zur Darstellung, der unseren Umgang mit den Tieren radikal neu denkt. MY BEST FRIEND trägt dieses Anliegen so herausfordernd, anrührend und auf den Punkt gebracht vor, dass man sich der Wirkung des Objektes kaum entziehen kann und ins Nachdenken gerät – nicht nur über die Vermodung des Tieres und die Verwertung tierischer Materialien in der Mode, sondern auch grundsätzlicher über das Verhältnis von Mode, Vergänglichkeit und Tod. Dieses Verhältnis beschäftigte den Designer bereits wiederholt. So auch Juni 2003 im Kontext der Präsentation seiner Kollektion Frühjahr / Sommer 2004. Die Kollektion wie auch die Fashionshow trugen den Titel MAINSTREAM / DOWNSTREAM. Das Publikum war an den Mailänder Canale Naviglio geladen. Dort wies zunächst nichts auf das bevorstehende Ereignis hin. Es gab weder einen Laufsteg, noch Sitzgelegenheiten oder Menschen, die als Security-Personal identifizierbar gewesen wären. Irgendwann jedoch schwammen ein Paar orange Schuhe, dann weiße Hemden und weitere Kleidungsstücke vorbei und schließlich zwischen vereinzelten Kleidungsstücken sechzehn männliche Models, die in der neuen Kollektion von CAROL CHRISTIAN POELL gekleidet waren.20 Mit ausgestreckten Armen und Beinen lagen die Models vollkommen bewegungslos im Wasser. Möglich wurde dies durch auf dem Rücken montierte Luftpolster und an den Armen, Beinen sowie am Oberkörper angebrachten Schienen, die unter der Kleidung verborgen waren. Das langsame Vorbeigleiten der Models in der sanften Strömung des Flusses hatte eine poetische Anmutung. In ihrer Haltung und Regungslosigkeit erinnerten sie an Wasserleichen. Zugleich regte die Szenerie ein genaues Studium der Kleidungsstücke an. Darüber hinaus wurden die Gedanken zum Fließen gebracht. Die in einen Kanal der Modestadt Mailand im sanften Abendlicht in der neuesten Kollektion von CAROL CHRISTIAN POELL gekleideten vorbeitreibenden Modells legten im Zusammenspiel mit dem Titel der Schau bzw. der Kollektion, MAINSTREAM / DOWNSTREAM, dem Publikum nahe über das System der Mode, speziell die enge Verflochtenheit von Mode, Vergänglichkeit und Tod, nachzudenken. Der Kommentar des Designers setzt an diesem Punkt an: „WAS DIE PRÄSENTATION BETRIFFT, ES WAR MIR WICHTIG, HATTE DIE IDEE, DAS GEFÜHL, DASS ALLES IN DER MODE IN EINE RICHTUNG GEHT – MAINSTREAM, WAS ICH NICHT GUT FAND. DAS KON-

20

Siehe Bildnachweis CAROL CHRISTIAN POELL: MAINSTREAM / DOWNSTREAM.

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– SO GEHT ALLES DEN BACH RUNTER – DOWNSTREAM. ES WAR 2003: ‚DAS JAHR DES WASSERS‘ … KEINE SONSTIGE INSPIRATION, ODER EIN FILM … DIE IDEE, DASS ALLES DEN BACH RUNTERGEHT – WOLL21 TE DAS AUCH VISUALISIEREN“. Und an anderer Stelle erklärt er: „Ich bin in einem Dauerkonflikt mit dem Modesystem“.22 Einerseits agiert er mit seinem Label innerhalb des Systems der Mode und andererseits stellt er dieses System radikal in Frage: Auf die Geschwindigkeit der industriellen Massenproduktion antwortet er mit der Langsamkeit einer handwerklichen Herstellung. Der Flüchtigkeit des saisonalen Wandels setzt er eine Gestaltung entgegen, die nie wirklich modern ist, aber damit auch eine längere Gültigkeit behält. Die Kunsthistorikerin und Journalistin Sandra Danicke beobachtet: „Noch heute kann man ein Poell-Einzelstück von vor acht Jahren im Laden finden, sie werden nicht unmodern. Anders als üblich richtet sich Poell auch nicht nach Saisons. Die Läden – weltweit 26 exklusive Adressen wie ‚The Library‘ in London oder ‚Atelier New York‘ – werden beliefert, wenn etwas fertig ist, und eine Jacke hängt da eben so lange, bis sie verkauft wird, Preisnachlässe gibt es nicht“.23 Carol Christian Poell erweist sich damit als einer der Modemacher, die der seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft im kulturellen Diskurs mit Oberflächlichkeit assoziierten Mode seit einigen Jahrzehnten eine neue Tiefendimension verleihen. ZEPT WAR AUCH

4.

Die Mode und die Kunst – und ein Zeitgeist, der sich nach Authentizität sehnt

Die Radikalität seiner in den Kollektionen und ihren Präsentationen wie auch anhand der einzelnen Objekte stattfindenden Auseinandersetzungen mit dem System der Mode weist in Richtung der Kunst. Der Designer hat Modedesign studiert und stellt Dinge her, die man anziehen kann. Daher liegt es nahe, ihn als Modemacher zu bezeichnen. Die hohe Selbstreflexivität seiner Mode liefert jedoch auch Argumente, ihn als Künstler zu betrachten, der im Feld der Mode arbeitet. In seinen publizierten Selbstdeutungen beschreibt er sich selber jedoch als einen Forscher.24 Dies könnte

21 22 23 24

http://carolchristianpoell.mak.at/collections/male/ss04/notiz. HILPOLD, Munition im Material. DANICKE, CAROL CHRISTIAN POELL. Vgl. http://carolchristianpoell.mak.at//biography.

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man als eine Fährte in Richtung der künstlerischen Forschung verstehen oder schlicht als ein Markieren der Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung. Aus dieser Perspektive kann man von einer neuen Authentizität in der Mode sprechen. Mode ist traditionell auf das Engste mit Geschwindigkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit verbunden. Seit sie im späten Mittelalter in dem zunehmend durch Kapitalismus, Handel und Urbanisierung geprägten Norden Italiens auftauchte, ist sie durch ihr Streben nach Innovation geprägt. Anfang des 18. Jahrhunderts gewann dieses Streben durch die Industrielle Revolution und die damit verbundene grundlegende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse weiter an Bedeutung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam neue Dynamik ins Spiel. Dabei war die Textilindustrie eine treibende Kraft. Die Kleidermode war aber auch eines der Felder, das in besonderem Maße von den neuen Geschwindigkeiten geprägt wurde. Dies gilt für die Damen- und Herrenmode gleichermaßen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. Die Damenmode unterlag einem stetigen Wechsel. Im schnellen Rhythmus wandeln sich seither Formen, Farben, Materialien, Kombinationen und Inspirationen. Die Männermode bildete dagegen den Herrenanzug heraus, der ihrem Träger körperliche und soziale Bewegungsfreiheit schenkt und die realen Körperbewegungen wie auch die Beweglichkeit des Körpers allgemein ins Bild setzt. Allgegenwärtig, kaum variierend und sich nur leicht verändernd tendierte die Uniform des bürgerlichen Mannes rasch zur Unsichtbarkeit. Mode, darunter verstand man bald ganz selbstverständlich allein die Damenmode. Das Verhältnis der – weiblichen – Mode zum modernen Tempo bildete auch eines der zentralen Motive der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Modetheorie. Der Schriftsteller Charles Baudelaire war einer der Ersten, der ihre Flüchtigkeit als das Charakteristische der Mode erachtete. 1863 formulierte er ausgehend von Arbeiten des Künstlers Constantin Guys eine zukunftsweisende Definition moderner Schönheit: „Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, das, wenn man will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird.“25 Interessant ist Baudelaires Wertschätzung des Flüchtigen: „Ohne dieses zweite Element, das wie der unterhaltsame, den Gaumen kitzelnde und die Speiselust reizende Überzug des göttlichen Kuchens ist, wäre das

25

BAUDELAIRE, Der Maler des modernen Lebens, 215.

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erste Element unverdaulich, unbestimmbar, der menschlichen Natur unangemessen und unangepasst“.26 Die Wertschätzung des Flüchtigen, mit der Baudelaire die ästhetische Moderne begründete – sie verband Mode, Modernität und Flüchtigkeit. Georg Simmel setzte 1905 hier an und legte die Mode auf die unmittelbare Gegenwart fest: „Ihre Frage ist nicht Sein oder Nichtsein, sondern sie ist zugleich Sein und Nichtsein, sie steht immer auf der Wasserscheide von Vergangenheit und Zukunft und gibt uns so, solange sie auf ihrer Höhe ist, ein so starkes Gegenwartsgefühl, wie wenige andere Erscheinungen“.27 Die Modetheorie fokussierte sich, wie auch in den zitierten Aussagen von Baudelaire und Simmel deutlich wird, auf das Moment des Wechsels. Untersucht wurde die Geschwindigkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Mode. Dem Moment des Wechsels kam in der Mode der bürgerlichen Gesellschaft zentrale Bedeutung zu. Die bürgerliche Mode hatte ein System hervorgebracht, dass auf einem saisonalen Wechsel beruhte. Zweimal im Jahr wurden neue Kollektionen präsentiert, die mit ihrem Erscheinen die Mode der letzten Saison altmodisch werden ließen. In den letzten Jahren hat sich das Tempo des modischen Wechsels nochmals entscheidend beschleunigt. Der immer schnellere Wechsel erfasste zunächst das untere Preissegment, mittlerweile aber auch die gehobene Mode, die „Haute Couture“ und das „ready-to-wear“. Gegen die „Fast Fashion“ formiert sich seit einigen Jahren eine immer einflussreicher werdende Gegenbewegung – die „Slow Fashion“. Ihr geht es um ein Plädoyer für eine neue Langsamkeit. Langfristig könnte sich durchaus die „Slow Fashion“ gegen die „Fast Fashion“ durchsetzen. Aktuell wird zumindest diskutiert, dass der Textil- und Modeindustrie eine grundlegende Wende bevorstehe.28 In einer Zeit, in der das Maß der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und von Arbeitskräften zunehmend als bedenklich erachtet wird, kommt die „Slow Fashion“ in Mode. Mode geht aber nicht allein im Vernünftigen und Nützlichen auf. Mode ist nicht nur Kleidung, sondern der ästhetische Überschluss, der über moralischen Fragen wie auch über ihre praktischen Funktionen hinausgeht.29 Dieser Überschuss eröffnet Spielräume. Betrachtet man aktuelle Kollektionen und das in sie eingelassene Geschichtenrepertoire, so fällt wiederholt eine spezifische Themati-

26 27 28 29

Ebd. SIMMEL, Philosophie der Mode, 17. Vgl. ENGELHARDT, Schwarzbuch Baumwolle. Vgl. LEHNERT, Das vergängliche Kleid, 274.

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sierung von Zeit auf, die man als eine Entdeckung der Langsamkeit beschreiben könnte. Ein neues Interesse der Mode am Phänomen der Zeit beobachtete Barbara Vinken bereits im ausgehenden 20. Jahrhundert. Sei die Mode zuvor durch den Versuch bestimmt gewesen, der Zeit zu entrinnen – ihre Flüchtigkeit habe darauf gezielt über Vergänglichkeit und Tod zu triumphieren –, sei es in der Spätmoderne gerade ihr Anliegen, die Vergänglichkeit ins Bild zu setzen.30 Die Thematisierung der Dimension der Zeit unter dem Stichwort der Vergänglichkeit lässt sich als ein selbstreflexives Moment verstehen: Die Mode untersucht ihre eigenen Voraussetzungen. Als ein selbstreflexives Moment lässt sich auch die gegenwärtige Entdeckung der Langsamkeit lesen. Das zunehmende Tempo der Modeindustrie wird dabei unter negativen Vorzeichen zum Thema gemacht. Im Falle von „Isabell de Hillerin“ geschieht dies beispielsweise mittels der handwerklichen Produktion, dem Verweis auf traditionelle Kleidung und der klassisch anmutenden Grundstruktur der Entwürfe. Es schwingt jedoch etwas mit, das – stärker noch als im Falle des Interesses der Mode an der Vergänglichkeit – nicht in der Untersuchung ihrer eigenen Voraussetzungen aufgeht: Eine Sehnsucht – nach Ruhe, Geborgenheit und Verortung. „Isabell de Hillerin“ ruft diese Sehnsucht auf sanfte Weise auf, andere ModermacherInnen schlagen dagegen laute oder sogar schräge Töne an. „Viktor&Rolf“ beispielsweise stellten ihre Winter-Kollektion 2008 / 09 unter das Stichwort „No“. Präsentiert wurden Mäntel aus grauem Wollstoff denen dreidimensional Worte wie „No“ oder „Dream on“ appliziert waren, Kleidung mit gehefteten Nähten und Mäntel sowie Shirts, die in PunkAttitude die Schriftzüge „No“ oder „Wow“ trugen. Der ärmlich-provokante Chic, der Einsatz von Heftklammern, der Verweis auf die PunkBewegung und das buchstäbliche Bekenntnis zur Verweigerung lässt sich als Zeugnis eines ambivalenten Verhältnisses zum gegenwärtigen System der Mode lesen. Auch das Duo äußerte sich in dieser Richtung: „Wir lieben Mode, aber es geht so schnelllebig. In dieser Saison wollten wir einfach mal ‚Nein‘ sagen.“31 Ein Nein zum schnellen Rhythmus der internationalen Mode formuliert auch die Wiener Modemacherin Susanne Bisovsky. Dieses Nein rückt sogar ins Zentrum ihrer Arbeit. Keine der Kollektionen ihres 2003 gegründeten Labels ist einer bestimmten Saison zugeordnet – und dadurch implizit mit einem Ablaufdatum verbunden. Zudem

30 31

Vgl. VINKEN, Mode nach der Mode, 35–37 und 65–67. ANONYM, Viktor & Rolf.

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werden sie eher im Kunst- denn im Modekontext der Öffentlichkeit vorstellt. Darüber hinaus tragen zwei Kollektionen – die „everlasting collection“ und die „everlasting collection II“ – den Anspruch der Dauerhaftigkeit sogar im Namen. Susanne Bisovskys Entwürfe umkreisen immer wieder das Thema der Tracht. Meist setzt sie sich mit ganz konkreten Bestandteilen mitteleuropäischer Trachten auseinander. Die Verfestigung der sich im Vergleich zur Mode nur langsam wandelnden regionalen Kleidungstraditionen zur Tracht geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Als Gegenreaktion zu Industrialisierung und Urbanisierung entstanden, zeugt sie von der Sehnsucht nach Heimat und Tradition – und stand sehr bald selber für diese Werte. Susanne Bisovsky arbeitet das Künstliche der Form gewordenen Heile-Welt-Sehnsüchte heraus. Das Heimatgefühl wird darüber als eine Konstruktion ausgewiesen, die mit unseren Gefühlen spielt. Und dennoch agiert das Label – augenzwinkernd – mit der Sehnsucht nach Verortung und der Faszination an Beständigkeit. Die Entdeckung der Langsamkeit in der Mode korrespondiert mit einem Zeitgeist, der sich nach Entschleunigung sehnt. Man kann davon sprechen, dass die Entdeckung der Langsamkeit in der Mode diesen Aspekt des Zeitgeists zur Darstellung bringt. Barbara Vinken schreibt über das Verhältnis von Mode, Kunst und Zeitgeist: „Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Mode das geworden, was die Kunst hätte sein wollen: In ihr kommt der Zeitgeist zur Darstellung“.32 Eine Deutung der konkreten ästhetischen Erscheinungen der Mode als Ausdruck des Zeitgeistes, wie sie Vinken ausgehend von ihrer Beobachtung, dass die Mode seit den 1980er-Jahren die Zeit ins Bild setzt, vornimmt, bricht mit dem in der Modetheorie lang tradierten Diktum von Georg Simmel von der „Gleichgültigkeit der Mode als Form gegen jede Bedeutung ihrer besonderen Inhalte“.33 Michael R. Müller kritisiert, dass dieser Gedanke heute so selbstverständlich geworden sei, dass er „einen neuerlichen analytischen Blick auf Mode … perspektivisch erschwert“.34 Simmel und seine NachfolgerInnen gehen davon aus, dass es im Zusammenspiel von Angleichung und Abgrenzung in der Mode stets nur um das Neue schlechthin gehe. Die Frage, welche Bilder durch die modischen Formfindungen hervorgebracht würden, könne daher vernachlässigt wer-

32 33 34

VINKEN, Mode nach der Mode, 35. SIMMEL, Die Mode, 82. MÜLLER, Apartheid der Mode, 188.

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den. Eine lange Tradition hat jedoch auch die gegenteilige Position: die Deutung der Mode als Ausdruck der Gesellschaft. Bereits 1879 vertrat Friedrich Theodor Vischer die These, dass sich das „In Kleidern nackt“Sein der bürgerlichen Frauen seiner Zeit als Ausdruck ihrer sozialen Position – ihrer Angewiesenheit auf eine standesgemäße Heirat – deuten ließe.35 Mir erscheint eine Wendung der Modetheorie in Richtung der Tradition Vischers sinnvoll. Die neue Wertschätzung der Langsamkeit in der Mode verleiht der Mode eine neue Bedeutung. Der Blick wird vom Moment des Wechsels hin zu den konkreten ästhetischen Gestaltfindungen gelenkt. Damit werden Momente in der Mode wichtiger, die traditionell eher dem Feld der Kunst denn dem der Mode zugeordnet wurden: die ästhetische Schulung des Publikums, die Bereitschaft zu einem aufmerksamen Studium der Objekte, ihres Kontextes und ihres Gebrauchs sowie das Bemühen um eine intensive Reflexion der mit dem Objekt gemachten Erfahrungen. Zwar stellen Kunst und Mode noch immer zwei unterschiedliche Welten dar, doch zeigen sie zunehmend strukturelle Ähnlichkeiten und gehen ästhetische sowie strategische Verbindungen ein. Wie die Kunst muss so auch die Mode als ein komplexes Bedeutungsgefüge verstanden werden. Dies erlaubt es kaum, Sinn so einfach dingfest zu machen, wie es Vischer versuchte. Wichtig ist dabei, dass gegenüber der Kunst der BetrachterIn eine noch weitaus aktivere Rolle zukommt. Betont der rezeptionsästhetische Ansatz, wie ihn Wolfgang Kemp konzipierte, dass im Feld der Kunst Bedeutung nicht allein aus dem Zusammenspiel von KünstlerIn und Kunstwerk hervorgeht, sondern die BetrachterIn am Prozess der Bedeutungskonstruktion entscheidend Anteil hat, so ist ihre Rolle im Feld der Mode noch wesentlich komplexer. Seit dem Fall der Kleiderordnungen zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft zeigt die Kleidung nicht mehr den Stand einer Person an, sondern gilt vor allem als Ausdruck der Persönlichkeit. Damit werden „die feinen Unterschiede“ wichtig.36 Die vestimentäre Kommunikation der Mode basiert auf permanenter Selbst- und Fremdkontrolle. Gesteigerte Aufmerksamkeit und Reflexivität sind nötig, um stets das „richtige Bild“ zu verkörpern. Unablässig gilt es durch modisches Handeln am Selbst zu arbeiten. Mit der Mode zu gehen, erfordert stets in Bewegung zu bleiben. Das Tempo des Modewandels reflektiert nicht nur das Tempo der Gegenwart, sondern fordert auch vom Einzelnen, das Tem-

35 36

Vgl. VISCHER, Mode und Zynismus, 38. Vgl. BOURDIEU, Die feinen Unterschiede.

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po der Gegenwart zu verinnerlichen. Es gilt Modeneuheiten immer schneller zu erfassen und umzusetzen. Das modische Spiel verlangt von den Einzelnen aber nicht nur immer mehr Tempo, sondern auch mehr Engagement. Elke Gaugele spricht von „Styl-Post-Pro-Duktionen“, um zu markieren, dass sich die AutorInnenschaft in Richtung der Logik der Auswahl verschoben hat.37 Die Vorschläge der DesignerInnen müssen von den KonsumentInnen interpretiert werden. Mode ist immer auch eine Alltagspraxis. AkteurInnen, wie DesignerInnen, Models, MultiplikatorInnen, VerkäuferInnen und KonsumentInnen, bringen die Kleidung in Räumen, wie Wohnungen, Geschäften, Straßen, Laufstegen, Modezeitschriften, Museen oder dem Internet, an privilegisierten oder marginalisierten Orten der Welt zur Aufführung. Die „cultural performance“ der Mode ist kein freies Spiel,38 sondern in Machtstrukturen eingelassen. Ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital erfordernd, setzt sie ebenso auf den Geschlechterkonstruktionen, der sozialen Schichtung wie dem Verhältnis von Regionalem und Globalem auf, wie sie diese mit formt. Kollektives wird dabei mit Individuellem verzahnt. In diesem Prozess, so könnte man argumentieren, wird über Aspekte verhandelt, die mit dem Begriff der Authentizität gefasst werden. Die AkteurInnen im Feld der Mode haben an einem kreativen Prozess teil, dessen Materialisierungen in Objekten und / oder Handlungen darauf angelegt sind, eine partielle Distanz zum Alltag zu befördern und zur Reflexion herausfordern. Betrachtet man die Kollektionen und insbesondere das Objekt MY BEST FRIEND von CAROL CHRISTIAN POELL und das in sie eingelassene Geschichtenrepertoire, so werden für das heutige Publikum – das sich aus den KonsumentInnen wie auch den BetrachterInnen der im Alltag getragenen bzw. in Ausstellungen, Katalogen und anderen Medien präsentierten Kleider und Accessoires zusammensetzt –, Lektüreanleitungen vorstrukturiert, die verschiedenste Aspekte des Bedeutungsspektrums des Begriffs der Authentizität wie Echtheit, Einmaligkeit, Originalität, Individualität, Ursprünglichkeit, Unverfälschtheit, Unmittelbarkeit oder Wahrhaftigkeit ins Spiel bringen. Es geht um eine grundlegende Befragung unseres modischen Alltags, die uns allzu selbstverständlich und damit unsichtbar Gewordenes erneut ins Bewusstsein ruft und dessen Reflexion ermöglicht. Die wichtigsten Ansatzpunkte sind dabei das Material, das Handwerk, die

37 38

Vgl. GAUGELE, Style-Post-Pro-Duktionen. Vgl. LEHNERT, Die Kunst der Mode, 12.

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Form, der Umgang mit anderen Lebewesen und die Bedingungen unserer eigenen Existenz. An die Stelle des Bekenntnisses der Mode und Modetheorie der Moderne zu Geschwindigkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit tritt ein neues Streben nach Entschleunigung, Bleibendem und Grundsätzlichem. Die mit Oberflächlichkeit assoziierte Mode gewinnt eine neue Tiefendimension und rückt in die Nähe zur Kunst. Darüber wird das System der Mode zur Disposition gestellt. Man kann die Entwicklung begrüßen oder bedauern oder auch beides zugleich – auf jeden Fall aber gilt es diesem Prozess Beachtung zu schenken. Mindestens genauso weitreichend und bedeutsam, wie die Frage danach was im Feld der Mode gesucht wird, wenn nach Authentizität gesucht wird, ist die Frage, welche Bedeutung dieser Suche zukommt. Bezogen auf die Kunst stellt sich die Frage, ob, und – wenn ja – welche Konsequenzen es für die zeitgenössische Kunst hat oder haben könnte, wenn die Mode ihre Wertschätzung des Flüchtigen zugunsten einer neuen Tiefendimension aufgibt. Charles Baudelaire hatte in seiner Begründung der ästhetischen Moderne Mode, Modernität und Flüchtigkeit auf das Engste verbunden und das Flüchtige dabei über den Verweis auf die Mode ins Spiel gebracht. Diese gewichtige Frage gilt es an anderer Stelle zu verfolgen. Ich möchte im Rahmen dieses Aufsatzes nur allgemein danach fragen, ob die neue Sehnsucht nach Authentizität in der Mode einen Zeitgeist zur Darstellung bringt, der unter dem schillernden Deckmantel des modischen Begriffes der Authentizität erneut nach Echtheit, Einmaligkeit, Originalität, Individualität, Ursprünglichkeit, Unverfälschtheit, Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit verlangt, obwohl längst überdeutlich geworden ist, dass diese Werte nie dauerhaft zu erreichen oder gar zu haben sind. Der Begriff der Authentizität steht meines Erachtens weniger für einen Zustand oder für eine Eigenschaft als vielmehr für eine in weiter Ferne angesiedelte, kaum näher fassbare Sehnsucht, nach deren Erfüllung es sich zwar zu streben lohnt, doch der man höchstens in wenigen Augenblicken des Glücks kurzzeitig nahekommen kann – und das ist auch gut so. Diese Unbestimmtheit wirkt bis in meine Überlegungen hinein. Sie bleiben vage. Was denn nun unter Authentizität in der Mode, in der Kunst und darüber hinaus in der sozialen und kulturellen Praxis wie auch in der theoretischen Auseinandersetzung zu verstehen ist und welche Bedeutung der Suche danach zukommt, wird zwar umkreist, aber nicht dingfest gemacht. Wie die Sehnsucht im Fluss bleibt, so mäandert auch meine Argumentation. Die Handtasche in Form eines Ferkels von CAROL CHRISTIAN POELL mit dem Titel MY BEST FRIEND vermag das Verhältnis von Mode, Vergänglichkeit

Sehnsucht nach Authentizität in der Mode

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und Tod zu thematisieren, uns im Innersten anzurühren und für einen kurzen Moment die Tragik unseres Sehnens und unserer Existenz aufblitzen zu lassen, doch verflüchtigen sich diese Gedanken sofort wieder und zurück bleibt ein Tierpräparat, das mit Details eines traditionellen Aktenkoffers versehen wurde – und vielleicht doch eine chice Handtasche abgäbe?

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Bildhinweise / Bildnachweise CAROL CHRISTIAN POELL, HUMAN HAIR JUMPER (BOAT NECK PULLOVER), FE-MALE Kollektion Herbst/Winter 2000/2001: http://carolchristianpoell.mak.at/keyissues/l/11/image11_3 [Aufruf 16.07.2015] CAROL CHRISTIAN POELL, HUMAN HAIR SELEEVELESS COAT, FE-MALE Kollektion Herbst/Winter 2000/2001: http://carolchristianpoell.mak.at /keyissues/l/11/image11_5 [Aufruf 16.07.2015] CAROL CHRISTIAN POELL, MAINSTREAM / DOWNSTREAM. Video der Präsentation der Herrenkollektion Frühjahr/Sommer 2004 am 25.6.2003 in Mailand: http://carolchristianpoell.mak.at/collections/male/presentations/videomain [Aufruf 16.07.2015] CAROL CHRISTIAN POELL, MY BEST FRIEND, FE-MALE Kollektion Frühjahr/Sommer 2000: http://carolchristianpoell.mak.at/keyissues/l/13/ image13_5 [Aufruf 16.07. 2015] Plüsch-Wolf Tasche Rotkäppchen, http://www.google.de/imgres? imgurl=http%3A%2F%2Fimage.karneval-megastore.de%2Fbig%2F pluesch_wolf_tasche_rotkaeppchen_grau_karneval_fasching_kostuem _accessoires_artikel_kostuemzubehoer_ shop_online-44560.jpg& imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.karneval-megastore.de%2Fhtml%2F product_info.php%3Fproducts_id%3D44 560&h=650&w=500&tbnid= jLt8ncBafAJNfM%3A&zoom=1&docid=djMTlF7QPekHnM&ei=LHq VVYmaLIj6ywOOhZuQDA&tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=4073& page=1&start=0&ndsp=29&ved=0CDIQr QMwBg [Aufruf 02.07.2015] Tote Bag Leopard, http://www.exclusive-dog-boutique.de/product_info. php?info=p3426_louisdog-hundetasche-tote-bag-leopard-details-.html [Aufruf 02.07.2015]

2. Sozialwissenschaftliche Kontextualisierungen

Paul Eisewicht Julia Wustmann Michaela Pfadenhauer

Authentizität – ein Element kompetenter Zugehörigkeit zu Szenen

1.

Die Unmöglichkeit der Authentizität und der authentische Imperativ

Der Begriff der Authentizität nimmt in der Gegenwart, ob als Vermarktungsslogan bei Werbekampagnen oder als Bewertungskategorie öffentlicher Personen und Institutionen, durch fast inflationäre Verwendung eine äußerst prominente Rolle ein. Authentizität wird reklamiert, bestritten und gefordert – so werden industriell gefertigte Massenkonsumprodukte und Marken von Großkonzernen als ‚authentisch‘ beworben und Politiker/innen wird Inszenierung vorgeworfen, wenn sie sich nicht ‚authentisch‘ verhalten. Kurz: Menschen sollen in den verschiedensten Situationen und Rollen ‚authentisch‘ sein und sie wollen Dinge, die gleichfalls ‚authentisch‘ sind. Dem unternehmerischen Selbst1 könnte man mit Leichtigkeit auch einen authentischen Imperativ – Sei authentisch! – zur Seite bzw. in den Reigen gegenwartsdiagnostischer Charakterisierungen stellen. Auch wenn der Begriff des Authentischen im zeitgenössischen medialen, öffentlichen wie auch alltäglichen Leben scheinbar unisono mit einer Seins-Form des Wahrhaftigen, des Ehrlichen und Ursprünglichen assoziiert wird, so zeigt die Begriffsgeschichte, wie sie Sven Reichardt detailliert nachzeichnet,2 einige einschneidende Wandlungsprozesse, welche zum heute gängigen Verständnis des Begriffs Authentizität geführt haben. So 1 2

Vgl. BRÖCKLING, Das unternehmerische Selbst. Vgl. REICHARDT, Authentizität.

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P. Eisewicht / J. Wustmann / M. Pfadenhauer

liegt die ursprüngliche Bedeutung, abgeleitet vom griechischen bzw. später lateinischen „authenticum“, im rechtwissenschaftlichen Bereich, in welchem ‚Authentizität‘ zur Bekundung der Originalität eines Dokumentes oder Gegenstandes verwendet wurde und bis heute wird. Im Zeitalter der Aufklärung des 18. Jh. und allen voran durch die Arbeiten JeanJacques Rousseaus habe der Begriff dann insoweit eine bedeutende Wendung erfahren, als dieser fortan „die Treue der Person zur eigenen inneren Natur und damit der Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber thematisierte“.3 Innerhalb der Diskussionen des philosophischen Existenzialismus der 1960er- und 1970er-Jahre wurde ‚Authentizität‘ dann als eine Existenzweise verhandelt, die durch Freiheit und Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Vorstellungen und sozialen Erwartungen charakterisiert gewesen sei.4 Damit wird deutlich, dass ‚Authentizität’ „Konfigurationen des Selbst [thematisiert] und […] über die Autonomie und Selbstbestimmung hinaus auf die weiter greifende und emphatische Ebene der Selbstverwirklichung [weist]“.5 Jenseits kulturwissenschaftlicher, philosophischer und historischer Verhandlungen bildet der Begriff auch innerhalb soziologischer Debatten einen argumentativen Dreh- und Angelpunkt. Bereits Helmuth Plessner beschrieb den Menschen in seiner Doppelstellung zu Welt – als von ihr geprägt und ihr gegenüberstehend – als „Kulturwesen“6, das durch eine „exzentrische Positionalität“ geprägt sei. Diese besondere Form der Positionalität ermöglicht nach Plessner, dass der Mensch – anders als offen organisierte Pflanzen oder zentrisch organisierte Tiere – zu seiner Umwelt und zu sich selbst reflexiv ins Verhältnis treten kann.7 Daran knüpft an, dass sich der Mensch mithilfe kultureller Techniken eine Vorstellung von der Welt um sich herum und von sich selbst als Person in ihr macht. Diese jeweilige Vorstellung ist kulturell codiert und wird von Plessner darin als „vermittelte Unmittelbarkeit“ charakterisiert.8 Der Mensch hat über Sprache vermittelt auch ein vermitteltes Verhältnis zu sich selbst. Auch ohne eine/n Zuschauer/in ihres Adhoc-Verhaltens, können Handelnde ihr eigenes Verhalten ex-post zum Gegenstand der eigenen Betrachtung machen –

3 4 5 6 7 8

Ebd. 60f. Vgl. ebd. Ebd. 60. Vgl. zum Überblick REHBERG, Mensch. Vgl. PLESSNER, Stufen, 360 ff. Vgl. ebd. 400ff.

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

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als eigene/r Zuschauer/in kann man somit eine Außenperspektive (eine ex-zentrische Position) zu sich selbst einnehmen. Damit ist es fraglich, ob Authentizität sich allein dadurch qualifizieren lässt, dass ein Verhalten nicht an einem Publikum orientiert ist. In dieser Perspektive wäre nach Peter Donnelly, Kevin Young und Kathryn Joan Fox zu bezweifeln, dass „a significant indicator is when the participant is no longer worried about the general audience, […] [or] that no longer performing for any audience was a sign of authenticity“.9

Symbolisch vermittelt ist diese Vorstellung über vor allem sprachliches, aber auch über körperliches Wissen. Der Mensch, der sich gemäß seiner Sonderstellung immer zu etwas verhalten muss, ist dem folgend ein von Grund auf künstliches Wesen. Der Begriff der Authentizität in seiner alltäglichen Konnotation als etwas essentialistisch Ursprüngliches bzw. Natürliches ist demzufolge ein utopischer Begriff, denn „[w]as authentisch ist, kann nicht geklärt werden“.10 Dies gilt dergestalt auch für „die Idee eines authentischen und mit sich selbst identischen Subjekts“.11 Für wissenschaftliche Analysen – so der Tenor – ist ein solcher auf Natur rekurrierender, naiver Authentizitätsbegriff generell unbrauchbar.12 Trotz oder gerade aufgrund ihrer Unmöglichkeit ist Authentizität für Menschen in modernen individualisierten Gegenwartsgesellschaften ein zentraler Orientierungspunkt ihres Handelns.13 Authentizität als eine Form der Handlungsorientierung fungiert in diesem Sinne ganz ähnlich wie die von Gerhard Schulze diagnostizierte Erlebnisorientierung.14 Aufgrund der Entbettung des Menschen aus selbstverständlichen traditionalen Sinnzusammenhängen findet sich dieser sozusagen „[j]enseits von Stand und Klasse“15, herausgelöst aus den Sicherheiten und der Ordnung traditionaler Gewissheiten und damit mehr oder minder verdammt zu einem zunehmend selbstverantwortlichen Leben, in dem seine gesellschaftliche Position weniger qua Geburt und Zuschreibung fremdbestimmt, sondern zunehmend qua Leistung, Qualifikation und Motivation selbstbestimmt ist. Für die aufgrund fehlender gesamtgesellschaftlich verbindlicher, ‚höherer‘ Instanzen riskant gewordenen Entscheidungen dient nun das positiv erfahrene subjektive Erleben als Gradmesser für die ‚Richtigkeit‘ eben dieser

9 10 11 12 13 14 15

DONNELLY / YOUNG und FOX zitiert nach BEAL / WEIDMAN, Authenticity, 351. LETHEN, Versionen, 209; vgl. BARKER, SAGE Dictionary, 9. GEIMER, Das authentische Selbst, 112. Vgl. ebd.; JENSS, History, 387; LETHEN, Versionen, 209. Vgl. HANDLER, Authenticity; TRILLING, Sincerity. Vgl. SCHULZE, Erlebnisgesellschaft. BECK, Jenseits von Stand; vgl. GIDDENS, Consequences.

70

P. Eisewicht / J. Wustmann / M. Pfadenhauer

Entscheidung. Kurz: Die Suche nach Erlebnissen wird in individualisierten Gesellschaften zur Orientierung und zum stetigen Problem: Wie, wo und wann kann man mit wem was erleben bzw. lässt sich mehr erleben als anderswo, mit anderen? Auch Authentizität ist infolge dieser Freisetzung des Einzelnen aus allgemein verbindlichen Gewissheiten und der daraus erwachsenden Selbstverantwortlichkeit zum individuellen Problem und zu einem zentralen Orientierungspunkt menschlichen Lebens geworden. Eine Orientierung für die ‚Richtigkeit‘ von Entscheidungen kann insofern aus der Selbsterfahrung als authentisch erwachsen, da damit eine Kongruenz zwischen den eigenen Erwartungen an eine Situation (bspw. an die eigene Rolle und an das eigene Erleben in dieser Situation) und der Erfahrung einer Situation (wenn Erlebniserwartungen gewissermaßen für den Einzelnen eingelöst werden) impliziert ist. In dieser gedanklichen Erweiterung (von der gegenwartsdiagnostisch attestierten Erlebnissuche zur notwendig eigenverantwortlichen Suche nach individuell als authentisch erlebten Erlebnissen) ist nicht jedes Erlebnisangebot und nicht jedes gesellschaftlich proklamierte Erlebnisversprechen für jede/n passend, d. h. authentisch. Ein Rave in einem Techno-Klub mag als erlebnisverheißendes Event angepriesen werden – es kann allerdings für einen gestandenen Punk kein besonders großes Vergnügen sein. Axel Schmidt und Klaus Neumann-Braun zitieren ähnlich dazu einen GothicAnhänger in seiner Beschreibung von Techno: „Und vielleicht auch ein bisschen das, dass die Leute halt nicht irgendwie diesem Techno-Trend verfallen sind, sich alles Rosa zu färben. Okay, wenn man damit Spaß hat, hat man Spaß, wenn man keinen hat, hat man keinen. […] Weil ich find das halt auch ziemlich verlogen sich selbst gegenüber. Etwas was ich auch bei Techno nie verstehen werde, dass Leute wirklich komplett ausklinken aus ihrem Alltagsleben einfach nur um drei, vier Tage lang durchzutanzen und sagen okay, die Welt ist geil, die Welt ist toll, alles andere vergessen, schmeißen wir noch ein paar Pillchen ein, und das war’s dann“.16

Ob eine Handlung, Rolle, Situation etc. vom jeweiligen Handelnden als authentisch, d. h. als mit der eigenen Identität übereinstimmend erfahren wird, ist so allein eine Frage des subjektiven Empfindens. Es ist damit also keine Frage der Natürlichkeit oder Nicht-Natürlichkeit. Jegliche kulturellen Handlungsmuster können als authentisch erlebt und als solche ausge-

16

SCHMIDT / NEUMANN-BRAUN, Welt, 138f.

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

71

drückt und dargestellt werden. Dies gilt damit auch für sogenannte posttraditionale Vergemeinschaftungen.17 Dieses subjektive Empfinden kann aber auch zum Gegenstand einer Darstellung werden. Als authentisches Rollenspiel bezeichnet es die Kongruenz zwischen dargestelltem, d. h. zum Ausdruck gebrachtem Erleben auf der einen und faktischem innerlichem Erleben auf der anderen Seite.18 Die Anzeige von und – in dieser Perspektive – auch der Anspruch auf Authentizität (im hier gemeinten Sinn) ist dann eine Form sozialen Handelns, das an anderen ausgerichtet ist. Mit dieser Erweiterung des Selbstanspruchs um einen Fremdanspruch auf Authentizität geht ein analytischer Perspektivenwechsel von einem rein subjektiven zu einem interaktionistischen Verständnis von Authentizität einher. So geht es in dieser erweiterten Sichtweise nicht mehr allein um das subjektive Empfinden von Authentizität, sondern auch um dessen Herstellen innerhalb von Interaktionen. Im Sinne eines „Doing“ sprechen wir, wenn diese analytische Ebene adressiert wird, daher auch von Authentifizierung, um die prozesshafte Herstellungsleistung zu markieren, die damit verbunden ist. Der Grad des Authentizitätsanspruchs variiert jedoch nach jeweiligem Kontext. In vielen Arbeitskontexten ist Authentizität typischerweise weniger erforderlich als eine bestimmte Form von Professionalität.19 Aber auch innerhalb von Arbeitskontexten treten Varianzen auf. So sind die Authentizitätsanforderungen umso höher, je stärker eine Arbeit gesellschaftlich als individuelle Berufung gesehen wird. Typischerweise wird kreativ-intellektuell Beschäftigten (z. B. Künstler/innen, Schriftsteller/innen, aber auch Wissenschaftler/innen) mehr Authentizität abverlangt, als Beschäftigten in standardisierten Arbeitsfeldern (z.B. Verkäufer/innen im Niedriglohnbereich).

Grundlegend lässt sich jedoch festhalten: Je stärker Aushandlungen der Anerkennung von Zugehörigkeit als „authentisch“ sichtbar werden, desto weniger sind diese Zugehörigkeiten strukturell bedingt und /oder zugeschrieben (sei es beruflich, freizeitlich oder anderweitig), d. h. desto mehr sind diese Zugehörigkeiten individuellen Interessen erwachsen und werden in freiwilligen Assoziation mit Gleichgesinnten realisiert. Authentizitätsansprüche und deren Anerkennung oder Bestreiten dienen dabei der sozialen Verortung von Akteur/innen vor dem Hintergrund einer kollektiv, als legitim erachteten und in diesem Sinne authentischen Verhaltensweise.

17 18 19

Vgl. HITZLER, Vergemeinschaftung. Vgl. TRILLING, Sincerity, 2; MARSCHIK, Identitäten, 300. Vgl. PFADENHAUER, Professionalität.

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Authentizität ist vor allem eine Folge anerkannter, stetig reaktualisierter Zugehörigkeit20 und darin weniger hinreichendes Merkmal einer Szeneelite. Die Aberkennung von Authentizität kann im Gegenzug jedoch als Form der szeneinternen Abwertung und als Ausschluss(versuch) betrachtet werden. Zusammenfassend kann man damit von drei Konnotationen von Authentizität sprechen: a) Authentizität als subjektives Erleben, b) Authentizität als Handlungsorientierung (bzw. als erwünschter Ausdruck) und c) Authentizität als sozial legitimierte, d. h. akzeptierte und anerkannte Darstellung (vgl. Abb. 1). Im Folgenden wird dargestellt, wie das Thema Authentizität in der Szeneforschung verhandelt wird, um in einer anschließenden Kritik an diesen Darstellungen den Vorschlag zu eröffnen, Authentizität als szenespezifische Form kompetenter Zugehörigkeit aufzufassen. Authentizität wird dabei folgend vor allem im Sinne einer innerhalb der Szene sozial legitimierten Darstellungsorientierung verstanden.

Authentizität als …

Fokus

Dimension

Gegenstand der Analyse

Qualität von Erfahrung

Orientierung in der Darstellung

Zuschreibung zu Dargestelltem

Kongruenz von Erwartung und Erleben Æ subjektiv

Kongruenz von Erleben und Ausdruck Æ (inter-)aktionistisch

Kongruenz von Darstellung und Konventionen Æ strukturell

Bestätigung (positives Erleben) // Inkongruenz (Fremdheitserfahrung)

authentisches Rollenspiel // zynisches Rollenspiel

akzeptierte Zugehörigkeit // problematisierte Zugehörigkeit

subjektive Motive und Relevanzen und die Bildung von Erfahrung

Gestaltungsmöglichkeiten von Rollen (Verhalten, Materialität etc.)

Aushandlungen, Legitimationen, Bewertungsgrundlagen

Abb. 1: Perspektiven auf Authentizität

20

Vgl. EISEWICHT / GRENZ / PFADENHAUER, Techniken.

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

2.

73

Authentizität in Szenen

Szenen lassen sich im Anschluss an die oben angeführte Gegenwartsdiagnose von Individualisierung als Antwort auf die Entbettung des Einzelnen in der Moderne verstehen. Als Form der Wiedereinbettung verstanden, sind Szenen insofern als posttraditional gekennzeichnet, als dass Menschen hier nicht aufgrund vorgängiger Gemeinsamkeiten (wie soziale Herkunft, Geschlecht etc.) zusammenkommen, sondern aufgrund eines gemeinsam geteilten Interesses. Über diese Gemeinsamkeiten hinaus bieten Szenen aber auch die Chance zur Vergemeinschaftung, wenn Menschen dort Zusammengehörigkeitserfahrungen machen, stabilisieren und organisieren. Szenen haben dabei keine festen Mitgliedschaften oder anderweitige Sicherheiten, sondern reaktualisieren sich lediglich in einem geteilten, an ihnen orientierten Handeln Vieler, zu bestimmten Zeiten und an spezifischen Orten.21 Da Szenen sich nicht aus einer strukturell bedingten Zugehörigkeit begründen (wie etwa Herkunft, Bildungsgrad oder Geschlecht), sind in ihnen Aushandlungen und Verhandlungen darüber, wer wieweit dazugehört und wer nicht, an der „Tagesordnung“.22 Es überrascht also wenig, dass sich in und auch zwischen Szenen eine Vielzahl von Attesten und Aberkennungen von Authentizität finden lassen. Es kann unterschieden werden zwischen Interszenenvergleichen, also der Frage danach, was authentische Szenen kennzeichnet bzw. wie Szenen als Mesogebilde als authentisch beschrieben werden und Intraszenenvergleichen, die der Frage nachgehen, wie innerhalb von gegenwärtigen Szenen den Zugehörigen Authentizität attestiert wird. Damit stellt sich zunächst die Frage, welche Referenzpunkte für Authentizitätsdarstellungen in Szenen vorhanden sind und welche Anforderungen an erfolgreiche ‚Authentifizierung‘ gestellt werden.

21

22

Wegen der Kürze des Beitrags kann hier nicht auf die Besonderheiten und Feinheiten des Szenebegriffs (vgl. HITLZER / NIEDERBACHER, Leben; zur Verortung vgl. EISEWICHT / PFADENHAUER, Gesellungsgebilde) eingegangen werden. Vgl. MÜLLER / CALMBACH / RHEIN, Pleasure, 39.

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74

2.1

Referenzen für Authentizität

Authentizität findet sich in vielen Studien als zentrales Beschreibungsmerkmal von Szenen und Szenegänger/innen.23 Dabei werden vorrangig szenespezifische Darstellungsformen von Szenezugehörigen, aber auch Charakteristika von authentischen Objekten in Szenen (z.B. authentischer Musik bzw. damit auch authentischer Musiker) in den Blick genommen.24 Generell scheint in einer Vielzahl von Szenen die Frage nach der Herstellung und Aufrechterhaltung von Authentizität virulent geworden zu sein. Im „Mainstream der Minderheiten“25 also einem vielfältigen Geflecht aus Szeneangeboten, die ohne gesellschaftlich organisierter hierarchischer Ordnung nebeneinander stehen, finden sich insbesondere zwischen Szenen Abgrenzungen in Form von Vorwürfen fehlender Authentizität, insbesondere je mehr die Szenen in stilistischen Merkmalen und szenespezifischen Einstellungen voneinander abweichen. Winfried Gebhardt beschreibt diesen Wegfall einer zentralen Instanz der Ab- und Eingrenzung wie folgt: „‚We are different!‘ heißt heute nur noch bedingt, wir sind ‚anders‘ als unsere Eltern oder die Erwachsenen. ‚We are different!‘ steht heute fast ausschließlich für den Willen, ‚anders‘ zu sein als andere Jugendliche. […] Zunehmend zerfällt Jugend heute in unterschiedliche, teilweise sogar in miteinander konkurrierende Teile, deren ‚Gegenüber‘ nicht mehr die ‚Gesellschaft‘ ist, sondern diejenigen, die einen anderen Lebensstil praktizieren und andere ästhetische Vorlieben teilen. […] Es ist heute nur noch bedingt die ‚Gesellschaft‘ als Chiffre für die ‚verachtete‘ Welt der Erwachsenen, die als ‚Kontrapunkt‘ und auch als ‚Reibungsfläche‘ für jugendliches Orientierungsverlangen und Jugendliche Identitätsbildung dient, sondern die im jugendinternen ‚Kampf um Bedeutung‘ beteiligten Konkurren-

23

24 25

Allgemein vgl. LAUENBURG, Jugendszenen. Vgl. z. B. zu Indie EISEWICHT / GRENZ, ‚Frei und auf den Beinen …‘, 83ff und GRENZ / EISEWICHT, Ordnung; zu HipHop KLEIN / FRIEDRICH, Is this real?, 55–83; zu Gothics SCHMIDT / NEUMANN-BRAUN, Welt und LIEBSCH, Szenen, 100ff; zu Metal ARNETT, Metalheads; GRÜNWALD, Male Spaces, 182ff; zu Punk WIDDICOMBE / WOOFFITT, ‚Being‘ versus ‚Doing‘ Punk; LEWIN / WILLIAMS, Ideology und FORCE, Consumption Styles; zu Hardcore CALMBACH, More than music, 233ff; zu Skatern BEAL / WEIDMAN, Authenticity. Vgl. generell MOORE, Authenticity; HELMS / PHLEPS, Ware Inszenierung. HOLERT / TERKESSIDIS, Mainstream.

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

75

ten. Der ‚Feind‘ steht nicht mehr außen vor, er befindet sich in den eigenen Reihen“.26 In dieser Konkurrenz der Szenen untereinander finden sich nicht nur Abwertungen von anderen Szenen als unauthentisch,27 sondern auch Konstruktionen innerhalb der Szene als authentisch. Wenn, wie eingangs beschrieben, Authentizität keine essentialistische Eigenschaft ist, sondern von Handelnden hergestellt und aufrecht erhalten wird, dann stellt sich die Frage, woraufhin Handlungen, Personen, Dinge und Situationen ‚authentifiziert‘ werden. In Anlehnung und Erweiterung an Sue Widdicombe und Rob Wooffitt sowie Frank Lauenburg schlagen wir vor, die Referenzen von Authentizität nach Referenzhorizont und zeitlicher Kontextualisierung zu unterscheiden (vgl. Abb. 2).28 Mit ‚Referenzhorizont‘ meinen wir die Differenzierung danach, ob die Referenz für die Authentizität innerhalb der Szene oder außerhalb der Szene angesiedelt, d.h. an anderen Szenen oder gesellschaftlichen Tendenzen orientiert ist. Mit zeitlicher Kontextualisierung unterscheiden wir zwischen einer historisierenden Referenz (also einer Orientierung an einer gemeinsam geteilten Zeitlichkeit) und einer biographischen Referenz (also eine Orientierung hinsichtlich subjektiver Zeitlichkeit). Horizont Kontext

Historisch

Biographisch

Intern

Extern

‚old school‘ als ursprünglich vs. ‚new school‘ als originell

Gründungsmythen als Reaktion auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen vs. Adaption/Transformation mit gesellschaftlichen Wandel

Szeneerfahrene als Autoritäten vs. Szeneneulinge als Innovatoren

typisches Einstiegsalter bzw. typische Einstiegssituation vs. Quereinsteiger/innen

Abb. 2. Referenzen für Authentizitätskonstruktionen in Szenen

26 27 28

GEBHARDT, We are different!, 329f. Vgl. NEUMANN-BRAUN / SCHMIDT, Ethnografie, 389; WIDDICOMBE / WOOFFITT, ‚Being‘ versus ‚Doing‘ Punk, 262. WIDDICOMBE / WOOFFITT, ‚Being‘ versus ‚Doing‘ Punk; LAUENBURG, Jugendszenen.

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So lassen sich vier Typen von Referenzkonstruktionen mit je eigenen Ausprägungen bilden. 1. Intern-historische Referenz Szenen kultivieren oft Ursprungserzählungen und -mythen, auf deren Basis eine Szenegeschichte entfaltet wird.29 Je älter eine Szene ist, desto mehr bilden sich zeitlich spezifische Stile aus, an denen Szenezugehörige anknüpfen können. In einer Orientierung an ursprünglichen (meist historisch vorgängigen) Szeneformationen wird eine Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart vorgenommen, „which reveals the present to be inferior to the past […] by virtue of the ideology which was at that time explicitly represented by the subculture“.30 Andererseits evozieren gewandelte gesellschaftliche oder innerszenische Umstände den Wandel von Praktiken und Stilen innerhalb der Szene.31 Ein aktuellerer Stil kann gerade dann als Referenz für Authentizität gelten, wenn der kreative Selbstausdruck in der Szene stärker gewichtet ist als die Fortschreibung so gesehen ‚traditionaler‘ Elemente. 2. Extern-historische Referenz Szeneauthentizität kann auch in Verweis auf gesellschaftliche Tendenzen gelesen werden. Dergestalt kann „ein bestimmter vorherrschender szenebedingter Stil als (authentisch[es]) Ergebnis gegebener sozialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen“32 gelesen werden. Der Punk der 1970er-Jahre versteht sich z. B. in seiner konsequenten Do-It-YourselfHaltung und seinem von außen als provokant wahrgenommenen, non-konformen Verhalten als authentische Reaktion auf eine wahrgenommene Dominanz von Arbeits- und Konsumimperativen und als repressiv erfahrene Erziehungsstile. Zumindest letzteres ist heutzutage weniger verbreitet, so dass gegenwärtige Punks ihr Punk-Sein tendenziell anders legitimieren (und legitimieren müssen, wenn gesellschaftliche Referenzen infolge des sozialen Wandels an Gewicht verlieren). Ein ursprünglich authentischer Stil (oder ein daran orientiertes Auftreten) außerhalb der Entstehungszeit einer Szene erscheint dann gegebenenfalls als „nachfolgende Nutzung […] [und] entspräche nicht mehr diesem […] und damit auch nicht mehr diesen 29 30 31 32

Zu HipHop vgl. KLEIN / FRIEDRICH, Is this real?, 55; zu Gothic vgl. SCHMIDT / NEUMANN-BRAUN, Welt, 257ff. WIDDICOMBE / WOOFFITT, ‚Being‘ versus ‚Doing‘ Punk, 266. Vgl. LAUENBURG, Jugendszenen, 23ff. Ebd. 23.

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

77

(authentischen) sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die zur (authentischen) Entstehung dieser Szene und damit dieses Stils geführt haben“.33 3. Intern-biographische Referenz Erfahrene Szenegänger/innen (und darin nicht zwingend ältere Szenezugehörige, sondern solche, die länger innerhalb der Szene aktiv sind) verstehen sich oft als authentisch qua Erfahrung und durch ihr als tiefergreifender empfundenes Verständnis der Szene. “[L]ater members of the subculture are denigrated [verunglimpft bzw. verleumdet, Anm. der Autor/innen] in comparison to the older members. To accomplish this assessment speakers make use of three primary resources: labelling the new members, emphasizing the shallowness of the newer members’ motivations for joining, and focusing on the newer members’ adoption of prototypical characteristics of the group”.34

Szeneeinsteiger/innen können diesen vermeintlichen Nachteil aber als Möglichkeit nutzen, innovative Stile oder Praktiken zu entwickeln, die – wenn sie erfolgreich sind – in der Szenegeschichte als Demarkationslinien zwischen alten und neuen Szenestilen aufscheinen. 4. Extern-biographische Referenz Extern-biographische Referenzen finden sich vor allem bei Erzählungen des Szeneeinstiegs in Form der Darstellung einer Passung zwischen dem Szenezugehörigen vor seinem Szeneeintritt und den Stil- und Wertvorstellungen, die innerhalb der Szene geteilt werden. So wird im HipHop z. B. die Herkunft aus urbanen ‚Ghettos‘ (bzw. schlechter gestellten Randgebieten wie Plattenbauvierteln) mit hoher Kriminalitätsrate, Arbeitslosenquote etc. zusammen mit der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit als plausible Passung (womöglich Bedingung) für eine Affinität zu HipHop verhandelt, da diese Umstände als Ausdruck des im HipHop zentral thematisierten ‚Struggle‘ gelten (also die mühsame Bearbeitung alltäglicher Probleme, die mit einer gesellschaftlichen Minorisierung einhergehen und die diesen Zwangslagen entgegengesetzte Suche nach anerkannter Selbstbestimmung abseits von der Diskriminierung als fremd, arbeitslos, bildungsdepriviligiert und notgedrungen kriminell). Salopp formuliert hat ein privilegierter weißer, deutscher Junge am Privatgymnasium als Sohn zweier erfolgreicher, arbeitstätiger Akademikereltern erheblich mehr Prob-

33 34

Ebd. 25. WIDDICOMBE / WOOFFITT, ‚Being‘ versus ‚Doing‘ Punk, 267f.

P. Eisewicht / J. Wustmann / M. Pfadenhauer

78

leme, seinen ‚Struggle‘ in der HipHop-Szene als authentisch anerkannt zu bekommen. Quereinsteiger/innen können sich daher weniger auf typische Eintrittsverläufe berufen; sie müssen vielmehr ihren individuellen Zugang an diesen Abweichungen orientiert plausibilisieren.

2.2

Anforderungen an Authentizität

In Rückgriff auf die oben genannten Referenzen können Szenezugehörige Authentizität herstellen. Szeneinterne Diskriminierungen zwischen anerkannten und darin authentischen Zugehörigen und Unauthentischen zeigen jedoch, dass es dabei um mehr als stilistische Zitation geht. Diese findet sich z. B. zwischen „Real Punks and Pretenders“35, zwischen „True“ Believern und „Fakes“36, zwischen authentischen Metalheads und „Poseur Metal“ (bzw. Posern), „Lite Metal“ oder „False Metal“37 oder zwischen „Grufties“ und „Mode-Grufties“.38 Im Gegenzug kann auch eine Überidentifikation mit den Werten und Einstellungen der Szene von Zugehörigen kritisiert werden, wenn diese zu strikt oder rigide von Akteuren in Regeln übersetzt werden (z. B. im Gothic in der Bezeichnung als „Extrem-Gruftie“39 oder im Indie als „Indie-Spießer“.40

Anleitend für diese Unterscheidung sind in Szenen drei Dimensionen: 1. das Wissen über szenespezifische Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen, 2. das eigene Engagement in der Szene für die Gültigkeit dieses Wissens bzw. Commitment zur Szene, sowie 3. die Berechtigung zur Teilhabe an der Aushandlung von Authentizität.

2.2.1 Authentizität als Aneignung gültigen Szenewissens Typischerweise erfolgt die Diskriminierung zwischen authentischen und unauthentischen Personen auf Basis der szenespezifischen Wissensbestände – also wer, was, wie, wo, wann und warum tun oder nicht tun kann.

35 36 37 38 39 40

FOX, Punks. RICHARD, Hipster. WEINSTEIN, The Globalization, 39. SCHMIDT / NEUMANN-BRAUN, Welt, 68. Vgl. ebd. Vgl. EISEWICHT / GRENZ, ‚Frei und auf den Beinen …‘, 163f; 253

VON

APPEN, Wert,

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

79

Dieses Wissen kann man nach „Style“ und „Attitude“ differenzieren,41 d. h. nach konsumatorisch (selbst-)stilisierenden Praktiken, die eine Szene als distinkten und distinktiven Lebensstil kennzeichnen, sowie nach Wertvorstellungen, Bedeutungshorizonten und Normen, die in der Szene geteilt werden und diese Szenepraktiken anleiten. Dies zeigt an, dass Szenen typischerweise einen Lebensstil ausbilden, aber nicht jeder Lebensstil eine Szene konstituiert. Darüber hinaus ist auch nicht jede ‚bloße‘ Adaption eines szenespezifischen Lebensstils bereits ausreichend, um innerhalb der Szene akzeptiert zu werden. Hinzu kommt zumindest die Zuschreibung, dass über die „evaluation of physical appearances and lifestyles“42 hinaus bei authentischen Szenezugehörigen mit Hilfe dieser Selbstdarstellung auch szenespezifische Wertvorstellungen zum Ausdruck kommen. Der Attest von Authentizität erfolgt dergestalt in einem zweistufigen Prozess: während ein typisches Aussehen und Verhalten als Anzeige potentieller Zugehörigkeit gewertet wird, wird diese Annahme typischerweise über szenespezifische Interaktionsformen bestätigt oder verworfen (z. B. in Gesprächen, bei szenethematischen Aktivitäten etc.). Wenn Personen zwar den Style der Szene repräsentieren, aber Szeneaktivitäten nicht ausreichend beherrschen oder zentrale Wertorientierungen der Szene nicht teilen, d. h. nicht die notwendige Einstellung zum Ausdruck bringen, wird ihnen oftmals Authentizität und damit die Zugehörigkeit abgesprochen. Becky Beal und Lisa Weidman beschreiben anhand der Skate-Szene, dass es für die Zuschreibung von Authentizität essentiell ist, dass Skater/innen die Werte und Normvorstellungen der Szene annehmen, akzeptieren und ausdrücken.43 Zentral beim Skaten ist die Anzeige, dass es sich um eine selbst gewählte Aktivität handelt, die mit einer nicht-kompetitiven Einstellung verfolgt wird (im Gegensatz zu wettbewerbsorientierten Sportarten). Skater/innen sind an einem individuellen Stil als Form des Selbstausdrucks orientiert. Dass es sich beim Skaten um eine an einer Selbstentfaltung orientierten Aktivität handelt statt um einen wettbewerbsorientierten Sport, veranschaulicht gut folgendes Zitat eines Szenezugehörigen: “How do you express yourself playing football, playing basketball? When you’re skating it’s – basically skating reflects your mood

41 42 43

Vgl. GRENZ / EISEWICHT, Ordnung, 58. FOX, Real Punks, 351. Vgl. BEAL / WEIDMAN, Authenticity, 344ff.

80

P. Eisewicht / J. Wustmann / M. Pfadenhauer at the time and how you’re skating, what you’re doing. You know, it’s definitely, you know, a way to express yourself”.44

Dabei demonstrieren Skater/innen eine kreative Nonkonformität, indem sie sich elterlicher und staatlicher Autorität entziehen, z. B. durch Aneignung des öffentlichen Raums entgegen gängiger Verkehrsregeln und alltagsgültiger Nutzungsweisen. Skater/innen, die dagegen lediglich an ausgewiesenen und durch Autoritäten legitimierten Plätzen skaten – die also die eigentliche Aktivität, aber nicht die Haltung gegenüber verkehrssicherheitsrechtlichen Beschränkungen teilen – werden demzufolge weniger als Szenezugehörige anerkannt. Deutlich wird dadurch, dass Authentizität nicht von außen, sondern durch andere Szenezugehörige anhand der in der Szene gültigen Wissensbestände und Handlungsorientierungen attestiert wird: “[A]uthenticity is proven in the back region through an internalization and public display of the norms and values of the skateboard culture, which are really recognizable only to other experienced skateboarders”.45

2.2.2 Authentizität als Commitment in der Szene Zu diesem Wissen in Form stilistischer Selbstrepräsentation und szenespezifischer Einstellungen tritt das damit angezeigte Engagement innerhalb der Szene (auch für die Gültigkeit der szenespezifischen Normen). Eine Differenzierung innerhalb der Szene erfolgt also nicht nur anhand der Verteilung szenespezifischen Wissens, sondern auch über den Grad der Darstellung, zugehörig sein zu wollen. Darunter „zählen insbesondere die subjektive Bindungsbereitschaft bzw. -intensität, das Einhalten szenetypisch[er] Werte und das Engagement in der bzw. für die Szene“.46 Es geht also nicht nur darum zu wissen, was in Szenen relevant ist, und zu können, was in Szenen als Aktivität verfolgt wird, sondern auch die Bereitschaft anzuzeigen, dieses Wissen und Können zu demonstrieren. Damit geht es auch darum, die damit verbundenen Gefahren und Risiken zu bewältigen sowie die damit verbundenen Emotionen (z. B. die Angst, bei illegalisiertem Handeln ‚erwischt zu werden‘) auszuhalten. Das zugeschriebene Commitment zur Szene ist ausschlaggebend für das Attest von Authentizi-

44 45 46

Ebd. 343. Ebd. 351. CALMBACH, More than music, 54.

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

81

tät und der dadurch vermittelten Stellung der Zugehörigen innerhalb der Szene. Kathryn Joan Fox verdeutlicht dies mittels einer aus der Punk-Szene rekonstruierten Hierarchie: “The hardcore punks were the most involved in the scene, and derived the greatest amount of prestige from their association with it. They set the trends and standards for the rest of the members. The softcore punks were less dedicated to the antiestablishment lifestyle and to a permanent association with this counterculture, yet their degree of involvement was still high. They were greater in number and, while highly respected by the less committed participants, did not occupy the same social status within the group as hardcores. Their roles were, in a sense, dictated by the hardcores, whom they admired, and who defined the acceptable norms and values. The preppie punks were only minimally committed, constituting the largest portion of the actual membership. They were held in low esteem by the two core groups, following their lead but lacking the inner conviction and degree of participation necessary to be considered socially desirable within the scene”.47

2.2.3 Authentizität als Berechtigung Im vorangegangenen Zitat wird bereits deutlich, dass der Modus der Anerkennung von Authentizität und Position innerhalb der Szene nicht durch festgeschriebene Autoritäten erfolgt, sondern durch von anderen Szenegänger/innen anerkannten Eliten im Szenekern.48 Dies meint, dass als Eliten, Hardcores o.ä. anerkannte Szenegänger/innen typischerweise aufgrund ihres hohen akkumulierten Breiten-, Tiefenwissens und angezeigten starken, intensiven, sowie zeitlich extensiven Engagements zugeschrieben wird, authentisch zu sein und die Berechtigung zu haben, Personen, Praktiken und Objekte qua dieser Position zu authentifizieren (auch dann, wenn diese von legitimierten Authentizitätsdarstellungen abweichen). Dadurch setzen diese Szenegänger/innen in verschiedener Reichweite (von lokalen Gruppen bis hin zu nationalen und globalen Netzwerken) auch Standards von Authentizitätsdarstellungen. Authentizität und Autorität stehen damit in einem reziproken Verhältnis – als authentisch bewertetes Verhalten autorisiert Szenezugehörige und als Autoritäten anerkannte Szenezugehörige ‚authentifizieren‘ Verhaltensweisen, Szeneobjekte und andere Szenezugehörige.

47 48

FOX, Real Punks, 350. Vgl. HITZLER / NIEDERBACHER, Leben, 22; JENß, History, 398; LETHEN, Versionen, 227.

82

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Ob es z. B. zu den Aktivitäten eines authentischen Graffiti-Writers gehört, Züge zu besprühen, kann Teil lokaler Aushandlungen sein. An bestimmten Orten kann so von zumindest lokalen Szeneeliten das ‚Train Piece‘ als unauthentisch bewertet werden, da es sich hierbei um eine ‚plumpe Kopie‘ der amerikanischen Graffiti-Szene und nicht eine Aneignung von Graffiti im jeweils spezifischen lokalen Raum und damit weniger um eine authentische Form des Selbstausdrucks handelt – während andernorts ausschließlich solche ‚train pieces‘ als authentischer Ausdruck einer GraffitiKultur betrachtet werden. Analog beschreiben Gabriele Klein und Malte Friedrich, dass deutschsprachiger HipHop – besonders dann, wenn er von ethnischen Minderheiten vorgetragen wird – als „original“ und „authentisch“ verstanden wird.49 Im Gegensatz dazu steht eine Position, die lediglich US-amerikanischen „schwarzen Rap“50 im Zuge eines Ursprungsmythos als Referenz akzeptiert. „Die [nicht nur] mediale Inszenierung des Authentischen setzt nicht so sehr auf eine wesenhafte Echtheit, sondern eher auf die Glaubwürdigkeit, die sich in der Akzeptanz durch den Zuschauer [bzw. Szenezugehörigen, Anmerkung der Autor/innen] erst herstellt. Authentizität erscheint hier nicht substanzialisiert, sondern als Gegenstand von Verhandlung“.51 Diese Verhandlung erfolgt allerdings nicht in einem machtfreien Raum, sondern ist besonders durch szeneinterne Hierarchisierung und Positionierung der Szenezugehörigen zueinander gerahmt.

3.

Schlussfolgerung: Authentizität als Kompetenz

Die Kennzeichen und Bewertungsmaßstäbe für Authentizität sind dauerhafter Gegenstand der Aushandlung in Szenen. Demzufolge kann sich kaum ein Szenezugehöriger seiner Position in der Szene sicher sein, wenn er diese nicht beständig re-aktualisiert und seine Zugehörigkeit immer wieder selbst herstellt, aufrechterhält, d. h. managt.52 Zugehörigkeit managen und als zugehörig, d. h. authentisch in seiner Zugehörigkeitsdarstellung

49 50 51 52

KLEIN / FRIEDRICH, Is this real?, 72. Ebd. 77ff. Ebd. 78. Vgl. EISEWICHT / GRENZ, ‚Frei und auf den Beinen …‘; EISEWICHT, Techniken.

Autentizität und Zugehörigkeit zu Szenen

83

anerkannt zu werden, sind die Handlungsprobleme szeneaffiner Personen, die diese immer wieder, erfolgreich bearbeiten müssen. Authentisch zu sein meint also den Anforderungen an Authentizität einer jeweiligen Szene zu genügen (d. h. die eigene Darstellung an akzeptierten Referenzen in der Szene auszurichten), diese Authentizität in der eigenen Darstellung unter Rückgriff auf Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten leisten zu wollen und in dieser als berechtigt empfundenen Darstellung anerkannt zu werden. In der iterativen Problemlösung, d. h. dem beständigen Authentifizieren erweist sich Authentizität als eine Form von Kompetenz.53 In der Erfahrung, sich in dieser Authentifizierung der eigenen Person in der Szene als selbstwirksam zu erfahren, bestätigt sich typischerweise auch das Gefühl, in gerade dieser Szene ‚zu Hause‘ zu sein. Authentische Zugehörigkeit bedeutet dergestalt die Anerkennung des Zugehörigen durch andere Zugehörige und damit die Integration in Situationen (im Unterschied zu Mitläufern, Zaungästen und anderem Publikum, das lediglich geduldet wird). Authentizität ist im Falle posttraditionaler Zugehörigkeiten nicht fraglos gegeben, sondern wird immer ausgehandelt und muss erhandelt werden. Als Zugehörigsein-Können, Zugehörigsein-Wollen und Zugehörigsein-Dürfen bilden Szeneaffine im Zuge ihrer Sozialisation bzw. Akkulturation in eine Szene die Erfahrung von Zugehörigkeit aus (d. h. sie erfahren sich darin bestenfalls auch als authentisch zugehörig). Dergestalt wird hieran deutlich, wie sich Akteur/innen unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft eigenverantwortlich und planvoll wiedereinbetten in für sie und durch sie sinnhaft gemachte soziale Zusammenhänge, die ihnen Freude und Sicherheit bieten und – zumindest zeitweise – ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat in der prinzipiellen Heimatlosigkeit der modernen Welt.

53

Vgl. PFADENHAUER, Organisieren; PFADENHAUER / EISEWICHT, Kompetenzerwerb.

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Das spätmoderne Subjekt – von der Suche nach dem authentischen Glück erschöpft?

Wer wollte die Suche der Menschen nach Lebensglück diskreditieren? Ist das nicht die Suche nach einem authentischen Leben? Ist das nicht neben dem Vernunftideal das zweite zentrale Anliegen der Aufklärung? Von Johann Gottfried Herder stammt die entsprechende Zielformulierung: „Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam eine eigene Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle zu einander“.1 Das heißt ja wohl nichts anderes als dies: Was für mich stimmt, kann mir niemand vorgegeben. Ich muss es für mich selbst herausfinden. Das ist eine Idee der Moderne, und es ist ein wichtiger Motor für alle persönlichen und gesellschaftlichen Engagements. Selbstverwirklichung ist ein hohes Ziel, aber es ist auch ein gesellschaftlicher Anspruch, der nicht selten ideologisch überhöht und definiert wird. Je stärker Menschen traditionelle Lebensformen hinter sich lassen und selbstbestimmt eigene Wege gehen können – jedenfalls in höherem Maße als frühere Generationen –, desto größer ist die Gefahr der Grenzenlosigkeit. Und das Ideal der Authentizität erweist sich oft in seiner Ambivalenz, denn es kann zur Norm degenerieren und verkehrt sich in sein Gegenteil: Heteronomie statt Autonomie.2 In seinen Lebensformen passt sich die vorherrschende spätmoderne Charakterformation der unaufhaltsamen Beschleunigungsdynamik an. Der gesellschaftliche und berufliche Fitness-Parcours hat kein erreichbares 1 2

Zitiert nach TAYLOR, Unbehagen, 38. In der Erlebnisarena des Fußballs lässt sich das sehr anschaulich belegen. Der scheidende Trainer des deutschen Bundesligaclubs Borussia Dortmund wurde vom Marketing seines Clubs permanent wegen seiner Authentizität herausgestrichen. Ein Kommentator zeigt die Paradoxie dieser Strategie auf: „Wenn ein Dax-Konzern so redet, okay, aber bitte nicht Du, liebe Borussia! Denn ist ‚Authentizität vermitteln‘ nicht das genaue Gegenteil von ‚authentisch sein‘? Hat derjenige, der andauernd seine Identität betont, womöglich gar keine?“ (SUSSEBACH, Borussia, 20).

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Maß, kein Ziel, an dem man ankommen kann, sondern es ist eine nach oben offene Skala, jeder Rekord kann immer noch gesteigert werden. Hier gibt es trotz Wellness-Industrie keine Chance, eine Ökologie der eigenen Ressourcen zu betreiben. In einem unaufhaltsamen Steigerungszirkel läuft alles auf Scheitern und einen Erschöpfungszustand zu. Die steigenden Depressionsraten sind der Beleg dafür. Richard Sennett hat der Skepsis gegenüber den neoliberalen Lobgesängen über die Segnungen des neuen „flexiblen Kapitalismus“ eine prominente Stimme gegeben: „Ich behaupte, dass diese Veränderungen den Menschen keine Freiheit gebracht haben. Warum? Weil die Menschen äußerst besorgt und beunruhigt sind im Hinblick auf ihr Schicksal unter den Bedingungen des ‚Wandels‘. Was ihnen fehlt, ist ein mentaler und emotionaler Anker. Nachdem sich der alte soziale Kapitalismus aufgelöst hat, erzeugen die neuen Institutionen nur ein geringes Maß an Loyalität und Vertrauen, dafür aber ein hohes Maß an Angst vor Nutzlosigkeit“.3

1.

„Das erschöpfte Selbst“ – Ein einleitender Streifzug

Der Buchtitel von Alain Ehrenberg „Das erschöpfte Selbst“ ist zum nichtfachlichen Synonym für den Zustand der Depression geworden, aber nicht im Sinne einer vermeintlich kontextfreien psychopathologischen Diagnostik, sondern als Teil einer Gesellschaftsdiagnostik, die einen Zusammenhang zwischen subjektiven Erfahrungen und gesellschaftlichen Entwicklungen herstellt. Auch weitere aktuelle Bücher versuchen, die Depression in ihrer zeitdiagnostischen Bedeutung aufzuzeigen.4 Klassischerweise – und auch noch heute5 – wurde die Depression als „Melancholie“ bezeichnet. An der ambivalenten Geschichte der Bedeutungen, die jeweils der Melancholie zugeordnet wurden, ist die Kontextabhängigkeit dieses subjektiven Zustandes erkennbar. Bei dem griechischen Philosophen und Naturforscher Theophrast kann man die Frage lesen: „Aus welchem Grunde sind alle hervorragenden Männer, sei es, dass sie sich in der Philosophie, der Politik, der Poesie oder den bildenden Künsten

3 4 5

SENNETT, Angst. Vgl. etwa HORWITZ / WAKEFIELD, The Loss; BORCH-JACOBSON, Making. Vgl. BLAZER, The Age.

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ausgezeichnet haben, offenbar Melancholiker?“6 Melancholie wird also mit besonderer Geistesgabe in Verbindung gebracht. Das frühe Christentum kämpfte mit seinen Fundamentalisten, die sich als Eremiten in die Wüste zurückzogen und dort oft in einen Zustand der spirituellen Niedergeschlagenheit verfielen, der als Acedia oder Trägheit bezeichnet wurde und der von Papst Gregor I. den sieben Todsünden zugerechnet wurde. Doch bevor mit der Entstehung des Protestantismus die rastlose Tätigkeit zu einem gottgefälligen Tun verklärt wurde, gab es den berühmten Versuch von Albrecht Dürer der Melancholie einen anderen Sinn abzugewinnen.7 Dürers Kupferstich „Melancolia I“ aus dem Jahr 1514 gilt als Ikone der Melancholie. Den großen Engel, der vor abendlicher Landschaft nachdenklich sinniert, könnte man als Personifikation und Idealisierung eines Wissenschaftlers verstehen, der auf der Basis seiner Erkenntnismöglichkeiten herauszufinden versucht, was die Welt „im Innersten zusammenhält“. Um das zu schaffen, ist kein hektischproduktiver, sondern ein reflexiver Habitus gefordert. Den faustischen Menschen der frühen Neuzeit und beginnenden Moderne bestimmt dieses Bild noch nicht. Als achtzehn Jahre später Lukas von Cranach der Ältere die Dame Melancholie in Öl porträtiert, hat er die Akzente deutlich verschoben.

6

7

Pseudo-Aristoteles, Problem XXX, I. Die dem Aristoteles zugeschriebenen Schrift Problemata dürfte tatsächlich von der Hand seines Schülers Theophrast stammen: hier zitiert nach SILLEM, Melancholie, 20. Die Anregung, sich das Thema Melancholie über die bildende Kunst zu erschließen, kam durch die von Paris 2005 nach Berlin geholte Ausstellung „Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst“ (vgl. CLAIR, Melancholie).

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Auf diesem Bild ist eine junge Frau zu sehen, die in den Tag hinein lebt, ohne ein erkennbares produktives Ziel. Zum Zeitvertreib schnitzt sie an einem Stock herum und beobachtet das fröhliche Spiel der Putti. Aber diese entspannt-fröhliche Szenerie steht im heftigen Kontrast zu einer nahenden Wolke, auf der die apokalyptischen Reiter drohendes Unheil ankündigen. Die Melancholie verliert hier die Wertschätzung, die ihr noch Dürer erteilt hatte. Man könnte fragen, ob hier die Reformation den Bedeutungswandel vorangetrieben hat. Für Martin Luther war die Melancholie ein Werk des Teufels. In seinen „Tischreden“ hat er dies drastisch formuliert: „Die Traurigkeit, die Epidemien und die Melancholie kommen vom Satan“.8 Wie Max Weber9 in seiner klassischen Studie zur Rolle des Protestantismus bei der soziokulturellen Verankerung der ökonomischen Formation des Kapitalismus im „innengeleiteten Charakter“10 des modernen Menschen aufgezeigt hat, war der Protestantismus ein zentraler Motor bei der Entstehung der kapitalistischen Moderne. Jetzt wurde die aktive Beteiligung an der entstehenden Produktionsgesellschaft zu einer „gottgefälligen“ Grundhaltung. Luxuriöse Untätigkeit, Rückzug aus dem Alltag in religiöse oder esoterische Sonderbezirke oder die Flucht in einen Habitus von Seelenund Weltschmerz galten immer weniger als akzeptable Lebensformen.

8 9 10

Zitiert nach SOLINAS, Melancholie, 84. Vgl. WEBER, Ethik. Vgl. RIESMAN / DENNEY / GLAZER, Masse.

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Die entstehende kapitalistische Gesellschaft hat eine Norm durchgesetzt, nach der ein melancholischer Habitus jede Wertschätzung verlor. Diese Haltung hat sich bis heute fortgesetzt, auch wenn das religiöse Deutungsregime keine Dominanz mehr hat. An die Stelle der Religion ist die Definitionsmacht der Psychoprofessionen getreten, die aus der Melancholie den Formenkreis der Depression konstruierten, den gesellschaftsdiagnostischen Stellenwert der wachsenden Zahl diagnostizierter Depressionen bislang aber kaum erkannt und thematisiert haben. Mit ihrer Klinifizierung vertun sie die Chance, darauf hinzuweisen, dass der sich globalisierende Kapitalismus einen Steigerungszyklus der (Selbst-)Ausbeutung der Subjekte in Gang gesetzt hat, der zu einer dramatischen mentalen Erschöpfung führt. Mit der Medikalisierung dieses Prozesses wird ihm seine soziokulturelle Lesbarkeit entzogen.11

2.

Die Datenlage: Depression wird zur „Volkskrankheit Nr. 1“

Die uns vorliegenden epidemiologischen Daten, die immer stärker die Einschätzung stützen, die Depression werde zur „Volkskrankheit Nummer 1“, legen die Frage nach den Ursachen nahe. Der Frankfurter Psychoanalytiker Heinrich Deserno schreibt dazu: „Seit etwa 15 Jahren zeichnet sich deutlich ab, dass Depressionen für den spätmodernen Lebensstil beispielhaft werden könnten, und zwar in dem Sinne, dass sie das Negativbild der Anforderungen beziehungsweise paradoxen Zumutungen der gesellschaftlichen Veränderungen darstellen und deshalb in besorgniserregender Weise zunehmen könnten, wie von der Weltgesundheitsorganisation hochgerechnet: Im Jahr 2020 sollen Depressionen weltweit und in allen Bevölkerungsschichten die zweithäufigste Krankheitsursache sein“.12

Die deutsche Stimme der Weltgesundheitsorganisation, Ilona Kickbusch, hat sich so zu diesem Thema geäußert: „Immer mehr Menschen haben mit einem immer schnelleren Wandel von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen zu kämpfen. Sie können das Gleichgewicht zwischen Belastungs- und Bewältigungspotentialen nicht mehr aufrechterhalten und

11

12

Dieser Prozess wird in der internationalen Fachliteratur zunehmend kritisch beleuchtet: Vgl. BLAZER, The Age; BORCH-JACOBSON, Making; CONRAD, The Medicalization; HORWITZ / WAKEFIELD, The Loss; SZASZ, The Medicalization. DESERNO, Liebe, 188.

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Heiner Keupp werden krank. Depression ist zum Beispiel nach den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation eine der wichtigsten Determinanten der Erwerbsunfähigkeit. […] Schon heute sind weltweit ca. 121 Millionen Menschen von Depressionen betroffen. Denn unser Leben gewinnt zunehmend ‚an Fahrt‘, sei es zwischenmenschlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich oder im Informations- und Freizeitbereich“.13

Die uns vorliegenden Daten lassen sich durchaus als empirische Untermauerung solcher Aussagen lesen. Auch im politischen Raum wird dieses Problem erkannt – nicht zuletzt als volkswirtschaftliches Problem. Die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat in einem Interview ein Problem benannt, das lange auf eine politische Wahrnehmung gewartet hat:14 „Es gibt ein Thema, das bislang viel zu kurz gekommen ist: die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt. Jeder dritte Bürger, der heute vorzeitig in Rente geht, tut das, weil er den Anforderungen seines Jobs psychisch nicht mehr gewachsen ist. Im Schnitt gehen die Leute mit Mitte Vierzig. Das ist für die Betriebe wie für die Gesellschaft ein Riesenverlust. Allein die Behandlungskosten dafür belaufen sich auf geschätzte 27 Milliarden Euro im Jahr. Diese Zahlen sollten aufrütteln“.

Das Wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) hat am 19. April 2011 in einer Pressemitteilung beunruhigende Daten präsentiert, die der Ministerin bekannt gewesen sein dürften. Unter der Überschrift „Burnout auf dem Vormarsch“ wird u. a. ausgeführt:15 „Nach einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) setzt sich der Anstieg von psychischen Erkrankungen unverändert fort. So ist 2010 nahezu jeder zehnte Ausfalltag auf eine psychische Erkrankung zurück zu führen. Bei der Untersuchung der Krankmeldungen von mehr als 10 Millionen AOK-versicherten Arbeitnehmern zeigt sich: Die Diagnose Burnout (Ausgebrannt) wird von den Ärzten zunehmend dokumentiert. Um nahezu das 9-fache sind die Krankheitstage zwischen 2004 und 2010 wegen Burnout angestiegen. Insbesondere Frauen und Menschen in erzieherischen und therapeutischen Berufen sind von einem Burnout betroffen.“

13 14 15

KICKBUSCH, Gesundheitsgesellschaft, 15. „Saarbrücker Zeitung“ vom 27.11.2011. Die Webadresse ist unter den online-Quellen am Schluss des Literaturverzeichnisses als Nr. 1 (Pressemeldung AOK 19.04.2011) angegeben.

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Abb. 1: Zunah hme der Arbeittsunfähigkeit auuf Grund der D Diagnose Burnou ut von 2004 biss 2010 (Quelle: WIdO 2011)

In der Mitteilu ung der AOK K heißt es weiiter: „Die Fehlzeeiten aufgrund ppsychischer Errkrankungen sin nd seit 1999 um m nahezu 80 Prozent ang gestiegen und füühren zu langen n Ausfallzeiten:: Diese dauern m mit 23,4 Tagen je Fall doppelt so langge wie der Durrchschnitt mit 11,6 Tagen je FFall im Jahr Z 20044 und 2010 habeen sich damit die d 8,1 Arbeitsuunfähigkeits2010. […] Zwischen tage je 1.000 AOK-Mitglieeder auf 72,3 Taage nahezu um das 9-fache erhhöht.“

Abb. 2: Arrbeitsunfähigkeit durch psychissche Erkrankunge en von 1999 biss 2010 (Quelle: WIdO 2011)

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Auch die vorliegenden Daten der anderen großen Krankenkassen (DAK, TK, BKK) gehen in die gleiche Richtung. Sie zeigen dramatische Zuwachsrate bei der Diagnose psychische Störung und die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage, die durch diese Diagnose begründet wird, steigt in sehr viel höherem Maße als bei allen anderen klassischen krankheitsbedingten Gründen, die zum Arbeitsausfall führen. Die aktuellen DAKBefunde zeigen, dass die Zuwachsrate der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen von 2006 bis 2011 bei 61% liegt und allein von 2010 auf 2011 bei 16%. Auch bei Heranwachsenden und insbesondere bei jungen Erwachsene wird immer häufiger die Diagnose Depression gestellt. Das Deutsche Studentenwerk hat in einer vielbeachteten Presseerklärung16 darauf aufmerksam gemacht, dass auch bei Studierenden ein wachsender Beratungsbedarf wegen depressiver Probleme entstanden sei. Im „Deutschen Studentenwerk Journal“ 200717 wird darauf hingewiesen: Immer mehr Studierende leiden unter dem für Manager typischen Burnout-Syndrom. Dazu gehören z. B. Depressionen, Angstattacken, Versagensängste, Schlafstörungen oder Magenkrämpfe. In den psychologischen Beratungsstellen der Studentenwerke meldeten sich, laut diesem Beitrag, verstärkt Studierende mit solchen Beschwerden. DSW-Präsident Prof. Dr. Rolf Dobischat spricht von einer besorgniserregenden Entwicklung: „Die Studierenden stehen unter immer stärkerem Erwartungs-, Leistungs- und vor allem Zeitdruck. Die vielen laufenden Hochschulreformen dürfen aber nicht dazu führen, dass ein Studium krank macht.“ Dobischat appellierte an die Hochschulen, insbesondere die neuen Bachelor- und Master-Studiengänge nicht zu überfrachten: „Gemäß der aktuellen 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hat jeder siebte Studierende Beratungsbedarf zu depressiven Verstimmungen sowie zu Arbeits- und Konzentrationsschwierigkeiten; jeder siebte Studierende will sich zu Prüfungsängsten beraten lassen“.18

Welche Schlüsse ziehen wir aus solchen Befunden? Die schon angesprochene, aus Frankreich stammende Diagnose „Das erschöpfte Selbst“ von Alain Ehrenberg ist ein wichtiger Beitrag, um eine Brücke zwischen sozialwissenschaftlicher Gegenwartsdeutung und der Zunahme diagnostizier16 17 18

Die Webadresse ist unter den online-Quellen als Nr. 2 (Das Deutsche Studentenwerk, Presseerklärung 02.07.2007) angegeben. SCHUMANN, Studieren. Das Deutsche Studentenwerk, 02.07.2007.

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ter Depressionen zu schlagen. Er geht davon aus, dass Subjekte in der globalisierten Gesellschaft ein hohes Maß an Identitätsarbeit leisten müssen.19 Die zunehmende Erosion traditioneller Lebenskonzepte, die Erfahrung des „disembedding“,20 die Notwendigkeit zu mehr Eigenverantwortung und Lebensgestaltung haben Menschen in der Gegenwartsgesellschaft viele Möglichkeiten der Selbstgestaltung verschafft. Zugleich ist aber auch das Risiko des Scheiterns gewachsen. Vor allem die oft nicht ausreichenden psychischen, sozialen und materiellen Ressourcen erhöhen diese Risikolagen. Die gegenwärtige Sozialwelt ist als „flüchtige Moderne“ charakterisiert worden,21 die keine stabilen Bezugspunkte für die individuelle Identitätsarbeit zu bieten hat und den Subjekten eine endlose Suche nach den richtigen Lebensformen abverlangt. Diese Suche kann zu einem „erschöpften Selbst“ führen, das an den hohen Ansprüchen an Selbstverwirklichung und Glück gescheitert ist.22 Die Dissertation von Elisabeth Summer23, einer Psychotherapeutin mit langjähriger Erfahrung, die mit dem an Ehrenberg geschärften Blick ihren 10-jährigen Klientenstamm reanalysiert hat, zeigt deutlich, dass die ins Ich-Ideal verinnerlichten gesellschaftlichen Leistungs- und Selbstwirklichungsideologien eine destruktive Dynamik auslösen können. Es handelt sich also nicht um eine „Krankheit der Freiheit“, sondern um die Folgen einer individuellen Verinnerlichung der marktradikalen Freiheitsideologien. Wenn wir diese Spur weiterverfolgen wollen, dann reicht es offensichtlich nicht, nur über „psychohygienische“ und psychotherapeutische Wege zu reden, so wichtig diese sind, wenn Menschen schwere psychische Probleme haben. Es ist notwendig, den gesellschaftlichen Rahmen mit in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, wie er einerseits den einzelnen Menschen mit Erwartungen und Ansprüchen fordert und zunehmend überfordert und andererseits die „vereinzelten Einzelnen“ damit alleine lässt. Hier ist keine strategische Böswilligkeit zu unterstellen. Man könnte es mit einem Auto auf rasanter Fahrt vergleichen, in dem zwar ständig das Gaspedal gedrückt wird, ein Bremspedal scheint es jedoch nicht zu geben. Wir haben es mit einer tiefen Krise im gesellschaftlichen Selbstverständnis zu tun. Es wird nicht einmal mehr über unterschiedliche mögliche Zielvor19 20 21 22 23

Vgl. KEUPP u. a., Identitätskonstruktionen; KEUPP / HÖFER, Identitätsarbeit. Vgl. GIDDENS, Konsequenzen. Vgl. BAUMAN, Liquid Modernity. Vgl. EHRENBERG, Das erschöpfte Selbst. Vgl. SUMMER, Macht die Gesellschaft depressiv?

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stellungen gestritten. Es scheint keine mehr zu geben. Es gibt kaum eine Idee über den Tag hinaus; auf allen Ebenen sehen wir das, was Christopher Lasch24 in seiner Diagnose vom „minimal self“ schon Mitte der 1980erJahre festgestellt hatte und Jürgen Habermas25 zur gleichen Zeit analysierte: uns seien die „utopischen Energien“ ausgegangen; ganz präzise zitiert, ist bei ihm von der „Erschöpfung der utopischen Energien“ die Rede. Es geht um Problemlösungen für den Augenblick, den Tag. Die Legislaturperiode oder der anstehende Quartalsbericht muss überstanden werden. Die mangelnde Zielorientierung verbirgt sich, ohne sich wirklich verstecken zu können, hinter phrasenhaft verwendeten Begriffen wie „Reform“, „Vision“ oder „Leitbild“. In hektischer Betriebsamkeit wird jeden Tag eine Lösung verworfen und wie in einem Hamsterrad wird die gleiche Inszenierung noch einmal aufgelegt, erneut wird sie jedoch als „Reform“, „Vision“ oder „Leitbild“ verkauft. Keiner glaubt mehr daran; es ist eine Art kollektiver „Wiederholungszwang“ oder eine „manische“ Verleugnung der Ziel- und Aussichtslosigkeit. Hier zeichnet sich eine Gesamtsituation ab, die man mit dem Begriff „erschöpfte Gesellschaft“ überschreiben könnte. Wo aber finden wir hilfreiche Angebote, die uns Wege aus der erschöpften Gesellschaft weisen und Zukunftsfähigkeit versprechen könnten? Da ist es erst einmal hilfreich, dass es so etwas wie eine „Trendforschung“ gibt, die sich – für gutes Geld – nicht scheut, ihren Blick auf hoffnungsvolle Zukunftsmärkte zu richten. Unter dem Publikationstitel „Neue Werte, neue Wünsche. Future Values“ wird etwa von Heiner Barz und einem Team des Heidelberger Instituts GIM (Gesellschaft für innovative Marktforschung) mit den Begriffen „Futurität“ bzw. „Zukunftskompetenz“ eine für das begonnene Jahrhundert überlebensnotwendige Schlüsselqualifikation eingeführt und so charakterisiert: „Innovationsbereitschaft und ein fortwährendes Navigieren und Neupositionieren wird für Individuen wie Organisationen, für das Selbstmanagement wie das Produktmarketing unverzichtbar“.26

Der „Besitz von ‚Future Tools‘ als Accessoires eines zukunftsorientierten Lebensstils“ wird eine Überlebensnotwendigkeit, und „der immer neue Beweis der eigenen ‚Updatability‘ gewinnt an Bedeutung“.27 Ist das eine

24 25 26 27

Vgl. LASCH, The Minimal Self. Vgl. HABERMAS, Krise, 141. BARZ u. a., Werte, 24. Ebd.

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Vision oder beschreibt es erst einmal nur den Zeitgeist der Multioptionsgesellschaft, mehr eine Ideologie als die gelebte Realität? Wie wir spätestens seit Ludwig Wittgenstein wissen, transportieren wir mit unseren Sprachspielen mehr als nur Wörter, wir konstruieren immer auch Weltbilder, also Bilder unserer Welt. Es geht zwar um Zukunftskompetenz, aber nicht nur im Sinne der Reproduktion des „Trendigen“, sondern auch der Entwicklung von Widerständigkeit und Eigensinnigkeit. Für den Erwerb von Zukunftsfähigkeit ist die Analyse von gesellschaftlichen Trends zwar wichtig, aber nicht um an ihrer kräuselnden Oberfläche zu besonders fitten Schnäppchenjägern zu werden und damit dem Erschöpfungskreislauf selbst zuzuarbeiten, sondern um diesen aufzubrechen. Um dieser Differenz willen, muss unsere Suche nach Wegen aus der erschöpften Gesellschaft fortgesetzt werden. Zunächst will ich die Signatur dieser Gesellschaft im Erschöpfungszustand noch etwas genauer in den Blick nehmen und mich dann der Frage zuwenden, ob es Wege gibt, ihn zu überwinden.

3.

Spätmoderne gesellschaftliche Verhältnisse

Im globalisierten Kapitalismus vollziehen sich dramatische Veränderungen auf allen denkbaren Ebenen und in besonderem Maße auch in unseren Lebens- und Innenwelten. Anthony Giddens, einer der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostiker, hat folgende Diagnose gestellt:28 „Die wichtigste der gegenwärtigen globalen Veränderungen betrifft unser Privatleben – Sexualität, Beziehungen, Ehe und Familie. Unsere Einstellungen zu uns selbst und zu der Art und Weise, wie wir Bindungen und Beziehungen mit anderen gestalten, unterliegen überall auf der Welt einer revolutionären Umwälzung. … In mancher Hinsicht sind die Veränderungen in diesem Bereich komplizierter und beunruhigender als auf allen anderen Gebieten. … Doch dem Strudel der Veränderungen, die unser innerstes Gefühlsleben betreffen, können wir uns nicht entziehen“.

Globalisierung verändert also den Alltag der Menschen in nachhaltiger Form und damit auch ihre psychischen Befindlichkeiten.29 Es sind vor allem folgende Erfahrungskomplexe, die mit diesem gesellschaftlichen Strukturwandel verbunden sind und die eine Mischung von 28 29

GIDDENS, Entfesselte Welt, 69. Vgl. HANTEL-QUITMANN / KASTNER, Globalisierung.

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Belastungen, Risiken und auch Chancen beinhalten, aber genau in dieser Mischung eine hohe Ambivalenz implizieren: • Wir erleben, erleiden und erdulden eine Beschleunigung und Verdichtung in den Alltagswelten, was zu dem Grundgefühl beiträgt, getrieben zu sein, nichts auslassen und keine Zeit vergeuden zu dürfen, immer auf dem Sprung sein und Umwege als Ressourcenvergeudung betrachten zu müssen. Verkürzte Schulzeiten, Verschulung des Studiums, um den jung-dynamischen „Arbeitskraftunternehmer“ möglichst schnell in die Berufswelt zu transportieren oder die Reduktion der Lebensphasen, in denen man als produktives Mitglied der Gesellschaft gelten kann, erhöhen permanent den Beschleunigungsdruck. • Wir spüren die Erwartungen, ein „unternehmerisches Selbst“30 zu werden, das sein Leben als eine Abfolge von Projekten sieht und angeht, die mit klugem Ressourceneinsatz optimal organisiert werden müssen. Auch staatliches Handeln, nicht zuletzt im Bereich der Sozialpolitik, setzt immer stärker auf das individuelle Risikomanagement anstelle von kollektiver Daseinsvorsorge. Ich bin für meine Gesundheit, für meine Fitness, für meine Passung in die Anforderungen der Wissensgesellschaft selbst zuständig – auch für mein Scheitern. Nicht selten erlebt sich das angeblich „selbstwirksame“ unternehmerische Selbst als „unternommenes Selbst“.31 • Eine Deregulierung von Rollenschemata, wird einerseits als Gewinn an selbstbestimmter Lebensgestaltung verstanden, trägt aber andererseits in die Alltagswelten eine Unsicherheit hinein, die nicht immer leicht akzeptiert und ertragen werden kann. Die Erfahrung der allenthalben erlebten Enttraditionalisierung ist nicht selten ein Antrieb für die Suche nach Verortung in fundamentalistischen Weltbildern. • Die Arbeit an der eigenen Identität wird zu einem unabschließbaren Projekt. Fertige soziale Schnittmuster für die alltägliche Lebensführung verlieren ihren Gebrauchswert. Sowohl die individuelle Identitätsarbeit als auch die Herstellung von gemeinschaftlich tragfähigen Lebensmodellen unter Menschen, die in ihrer Lebenswelt aufeinander angewiesen sind, erfordert ein eigenständiges Verknüpfen von Fragmenten. Bewährte kulturelle Modelle gibt es dafür immer weniger. Die roten Fäden für die Stimmigkeit unserer inneren Welten zu spinnen wird

30 31

Vgl. BRÖCKLING, Selbst. Vgl. FREYTAG, Mensch.

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ebenso zur Eigenleistung der Subjekte, wie die Herstellung lebbarer Alltagswelten. Menschen in der Gegenwart brauchen die dazu erforderlichen Lebenskompetenzen in einem sehr viel höheren Maße als die Generationen vor ihnen. • All die Anstrengungen stets fit, flexibel und mobil zu sein, sind nicht nur als Kür zu betrachten, sondern sie werden von der Angst motivational befeuert, nicht dazu zu gehören. Wir führen gegenwärtig eine höchst relevante Fachdiskussion um das Thema Exklusion und Inklusion. Vom „abgehängten Prekariat“ spricht die Friedrich-Ebert-Stiftung, von den „Ausgegrenzten der Moderne“ Zygmunt Bauman.32 Die Sorge, nicht mehr gesellschaftlich einbezogen, gefragt und gebraucht zu werden, bestimmt viele Menschen und sie sind deshalb oft bereit, sich an Bedingungen anzupassen, die ihnen nicht gut tun. • Die Suche nach sicheren Bezugspunkten für ein gesichertes Fundament für ihre Alltagsbewältigung wird noch verstärkt, durch die Entwicklung hin zu einer „Sicherheitsgesellschaft“, die die defensive Variante des Ordnungstraumes der Moderne darstellt: Diese hatte und hat den Anspruch, alles Unberechenbare, Uneindeutige, Ambivalente, Fremde und Störende zu beseitigen und eine berechenbare und eindeutige Welt zu schaffen. Auch wenn dieser Traum der Moderne nur noch selten in naiver Emphase vorgetragen wird, es gibt ihn noch und die Sicherheitsgesellschaft lebt davon. Sie will möglichst viele Risiken eliminieren und verstärkt dafür ihre Sicherheitssysteme. • Die Landnahme des Kapitalismus hat längst auch in unseren beruflichen Welten stattgefunden. Einst in den 1970er-Jahren veröffentlichte Erich Wulff seinen spannenden Aufsatz „Der Arzt und das Geld“, in dem er aufzeigte, wie unbemerkt die Geldlogik die ärztliche Fachlichkeit und Ethik unterhöhlt.33 Wir wandten uns angewidert ab und wollten für den Bereich der psychosozialen Versorgung einen anderen Weg gehen. Doch inzwischen hat die Monetarisierung, Ökonomisierung und „Verbetriebswirtschaftlichung“ auch uns erreicht und Qualität scheint nur noch in Geldwert ausdrückbar zu sein. Die benannten Erfahrungskomplexe an der Nahtstelle von Subjekten und Gesellschaft zeigen, wie stark sich der Turbokapitalismus in unseren Lebenswelten, in Menschenbildern und in Ideologien schon verankert hat.

32 33

Vgl. BAUMAN, Verworfenes Leben. Vgl. WULFF, Arzt.

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Deshalb sehen wir oft gar keine Alternativen mehr und arrangieren uns mit dem scheinbar naturhaften Ablauf der Dinge. Genau in dieser Mischung von „innerer Kolonisierung“ und dem fatalistischen Arrangement mit der Unabwendbarkeit der gesellschaftlichen Abläufe werden wir immer wieder auch zu Komplizen des status quo und verlieren die Hoffnung, dass man etwas gegen die Verhältnisse unternehmen könnte und dass Utopien motivierende Handlungsqualitäten freisetzen können. Jürgen Habermas hat uns in seinem Buch „Die postnationale Konstellation“ eine großartige Gegenwartsdiagnose geliefert. Aus ihr will ich nur seine Diagnose eines „Formenwandels sozialer Integration“ aufgreifen, der in Folge einer „postnationalen Konstellation“ entsteht: „Die Ausweitung von Netzwerken des Waren-, Geld-, Personen- und Nachrichtenverkehrs fördert eine Mobilität, von der eine sprengende Kraft ausgeht“.34 Diese Entwicklung fördert eine „zweideutige Erfahrung“, nämlich „[…] die Desintegration haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjudizierenden und gefangen nehmenden Verhältnissen. Kurzum: die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entlässt die Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können“.35

An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude, der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns eine „fluide Gesellschaft“ oder die „liquid modernity“36 zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist.

34 35 36

Vgl. HABERMAS, Konstellation, 126. Ebd. 126f. Vgl. BAUMAN, Liquid Modernity.

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Abb. 33: Die fluide Ge esellschaft (Que elle: BARZ, Neuee Werte, 67)

Der mächtigee neue Kapittalismus, der die Contain D nergestalt dess Nationals staates demon ntiert hat, greeift unmittelb bar auch in diie Lebensgesttaltung der S Subjekte ein. Auch die bioographischen Ordnungsmu uster erfahrenn eine reale D Dekonstruktio on. Am deutllichsten wird das in Erfahrrungen der A Arbeitswelt: E Einer von dreei Beschäftigtten in den US SA hat mit seiner gegenwäärtigen Bes schäftigung weniger w als eiin Jahr in sein ner aktuellen Firma verbrracht. Zwei v drei Bescchäftigten sinnd in ihren ak von ktuellen Jobs weniger als ffünf Jahre. V 20 Jahreen waren in G Vor Großbritannieen 80% der beruflichen b T Tätigkeiten v vom Typus der „40 zu 40““ (40-Stunden n-Arbeitswocche über 40 B Berufsjahre h hinweg). Heu ute gehören geerade noch eiinmal 30% zu u diesem Typpus und ihr A Anteil geht weiter w zurück.

104

4.

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Ein neues Menschenbild: Der Authentizität simulierende „proteische Charakter“

Kenneth J. Gergen sieht ohne erkennbare Trauer durch die neue Arbeitswelt den „Tod des Selbst“, jedenfalls jenes Selbst, das sich der heute überall geforderten „Plastizität“ nicht zu fügen vermag: „Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete ‚one-style-for-all‘ Individuum. Solch eine Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel. […] Wir feiern jetzt das proteische Sein. […] Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Erwartungen sind endlos, Optionen allüberall und die Zeit ist eine knappe Ware“.37

Was hier als neuer Menschentypus gefeiert wird, könnte man im Sinne von Robert Lifton38 auch als ein „proteisches Selbst“ nennen. Dabei wird auf die griechische Mythologie zurückgegriffen: Der (Meer-)Gott Proteus findet in sich zwar nicht die wahre Bestimmung – Authentizität würden wir das heute nennen –, ist aber von einer solch fluiden Offenheit, dass er jede beliebige Gestalt annehmen kann. Die neoliberal getönten Narrationen betonen die grenzenlose Plastizität der menschlichen Psyche und die Steuerungsverantwortung des Ego-Taktikers, der sich endgültig von allen institutionellen Sicherheitsgarantien verabschiedet hat und die Regie über seine Arbeitskraft vollkommen selbst übernommen hat, der „Arbeitskraftunternehmer“.39 Interessanterweise ist bereits von einer „proteischen Karriere“ die Rede.40 Rosina Gasteiger greift die US-amerikanische Diskussion auf und schreibt:41 „In dieser Arbeit wird die Metapher des Proteus verwendet, um die zunehmend in der Arbeitswelt geforderte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zum Ausdruck zu bringen. Während sich Berufslaufbahnen traditionell in ein bis zwei Organisationen entwickelten und durch verhältnismäßig hohe Arbeitsplatzsicherheit gekennzeichnet waren, kristallisieren sich gegenwärtig neue, individualisierte Laufbahnformen heraus. Erwerbstätige müsse immer häufiger mit Veränderungen in der Arbeitswelt zurechtkommen. Gleichzeitig verschieben Organisationen die Verantwortung für die Karriereentwicklung immer mehr auf die Arbeitnehmer. Die Herausforderung für den Einzelnen ist dabei, sich nicht nur flexibel auf immer wieder neue Bedin-

37 38 39 40 41

GERGEN, The Self, 104. Vgl. LIFTON, The Protean Self. Vgl. VOSS / WEISS, Burnout. Vgl. HALL, Careers; HALL, The Protean Career; HALL / MOSS, The New Protean Contract; BRISCOE / HALL, The Interplay. GASTEIGER, Laufbahnmanagement, 15.

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gungen einstellen zu können, sondern zugleich die eigene Identität zu wahren und persönliche Werte und Ziele mit der beruflichen Tätigkeit in Einklang zu bringen. Der amerikanische Laufbahnforscher Douglas Hall bedient sich in diesem Zusammenhang des Proteus-Mythos der Antike, um zu verdeutlichen, dass berufliche Laufbahnen angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt zunehmend einen proteischen Charakter aufweisen“.42

Die Ambivalenz der Vorlage aus der griechischen Mythologie wird nicht genutzt, um eine solche Entwicklung kritisch zu reflektieren. Sie wird vielmehr zu einer affirmativen Normalität verklärt. Die einseitige Vereinnahmung des Proteus in seiner faszinierenden Verwandlungskunst und die Vernachlässigung seines Scheiterns macht diese Figur besonders interessant und führt uns zu der Frage, ob nicht die Fitnesskultur engstens mit der dramatischen Zunahme von Erschöpfungszuständen und Depressionen zu tun hat. Ines Geipel, ehemalige Weltklassesprinterin aus der Retortenwelt der DDR und reflektierte Wissenschaftlerin, beschäftigt sich nach dem Tod von Robert Enke mit dem Zusammenhang von Depression und Leistungsdruck. Für sie „erzählt sich“ die „Depression […] nicht nur als Metapher oder generischer Begriff, nicht nur als Forschungsmaterial oder Fall für die klinische Psychiatrie“, sondern sie eröffnet den Blick auf eine „dunkle Grammatik des Selbst“.43 In seinem viel beachteten Buch „Der flexible Mensch“ liefert Richard Sennett, von dem schon die Rede war, eine kritisch gestimmte Analyse der gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt. Der „Neue Kapitalismus“ überschreitet alle Grenzen, demontiert institutionelle Strukturen, in denen sich für die Beschäftigten Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrung sedimentieren konnten. An ihre Stelle ist (1.) die Erfahrung einer Drift getreten: Von einer „langfristigen Ordnung“ zu einem „neuen Regime kurzfristiger Zeit“.44 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie dann überhaupt noch Identifikationen, Loyalitäten und Verpflichtungen auf bestimmte Zeit entstehen sollen. Dazu kommt (2.) eine fortschreitende Deregulierung: An die Stelle fester institutioneller Muster treten netzwerkartige Strukturen. Der flexible Kapitalismus baut Strukturen ab, die auf Langfristigkeit und Dauer angelegt sind. „Netzwerkartige Strukturen sind weniger schwerfällig“.45 An Bedeutung gewinnt die „Stär-

42 43 44 45

Vgl. HALL, Careers in and out of Organizations; ders., The Protean Career. GEIPEL, Seelenriss, 8. SENNETT, Mensch, 26. Ebd. 27.

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ke schwacher Bindungen“, womit zum einen gemeint ist, „dass flüchtige Formen von Gemeinsamkeit den Menschen nützlicher seien als langfristige Verbindungen, zum anderen, dass starke soziale Bindungen wie Loyalität ihre Bedeutung verloren hätten“.46 Die permanent geforderte Flexibilität entzieht (3.) festen Charaktereigenschaften den Boden und erfordert von den Subjekten die Bereitschaft zum „Vermeiden langfristiger Bindungen“ und zur „Hinnahme von Fragmentierung“. Diesem Prozess geht nach Sennett immer mehr ein begreifbarer Zusammenhang verloren. Die Subjekte erfahren das (4.) als Deutungsverlust: „Im flexiblen Regime ist das, was zu tun ist, unlesbar geworden“.47 So entsteht (5.) der Menschentyp des flexiblen Menschen, der sich permanent fit hält für die Anpassung an neue Marktentwicklungen, der sich nicht zu sehr an Ort und Zeit bindet, um immer neue Gelegenheiten nutzen zu können. Lebenskohärenz ist auf dieser Basis kaum mehr zu gewinnen. Sennett hat erhebliche Zweifel, ob der flexible Mensch menschenmöglich ist. Zumindest kann er sich nicht verorten und binden. Die wachsende Gemeinschaftssehnsucht interpretiert er (6.) als regressive Bewegung, eine „Mauer gegen eine feindliche Wirtschaftsordnung“48 hochzuziehen. „Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die Stärkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Gemeinde. All die emotionalen Bedingungen modernen Arbeitens beleben und verstärken diese Sehnsucht: die Ungewissheiten der Flexibilität; das Fehlen von Vertrauen und Verpflichtung; die Oberflächlichkeit des Teamworks; und vor allem die allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen, nichts ‚aus sich machen zu können‘, das Scheitern daran, durch Arbeit eine Identität zu erlangen. All diese Bedingungen treiben die Menschen dazu, woanders nach Bindung und Tiefe zu suchen“.49

Also: Die großen Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem Urteil relativ einig. Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gehen ans „Eingemachte“ in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte und das hat auch Konsequenzen für Bildungsprozesse. In Frage stehen zentrale Grundprämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche, die Burkart Lutz schon 1984 als den „kurzen Traum immerwährender Prospe-

46 47 48 49

Ebd. 28. Ebd. 81. Ebd. 190. Ebd. 189f.

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rität“ bezeichnet hatte. Diese Grundannahmen hatten sich zu Selbstverständlichkeiten in unseren Köpfen verdichtet. Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Menschenbild des „modularen Menschen“, der mit seiner „IKEAIdentität“ ein „Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten darstellt“.50 Oft genug aus der Angst heraus, nicht „dabei zu sein“,51 passt er sich in seinen Lebensformen der unaufhaltsamen Beschleunigungsdynamik an. Und wir brauchen eine „Kultur des Scheiterns“, weil Scheitern vermehrt zu unserer Erfahrung gehört, weil Scheitern die Basis für Lernprozesse ist, weil Scheitern die Chance zum Neuanfang enthält und weil Scheitern ein Tabu ist. Unsere Kultur wird zunehmend eine „Winner“-Kultur, sie will vor allem Sieger- und Erfolgsgeschichten hören und sie verdrängt die andere Seite der Medaille. Notwendig sind Trauerarbeit und Empowerment. Empowerment heißt, die eigenen Ressourcen und Kräfte wahr- und ernst zu nehmen. Dies heißt auch, sich von den dominierenden ideologischen Menschenbildvorgaben des neoliberalen Herrschaftsmodells ebenso zu befreien wie von der Hoffnung auf eine obrigkeitliche Lösung.

5.

Eine salutogenetische Perspektive

Mit diesen Überlegungen bin ich bereits bei der Frage angekommen, wie man mit Belastungen umgehen sollte. Es gehört zwingend dazu, sich dieses Steigerungszirkels bewusst zu sein, um ihm nicht ausgeliefert zu sein. Das erfordert nicht selten auch, für sich bewusst Grenzen zu ziehen. Wichtig ist so etwas wie eine Haltung der Achtsamkeit auf die eigenen körperlichen und psychischen Ressource. „Selbstsorge“ hat es Michel Foucault genannt. Das ist eine zentrale Einsicht und Annahme von Gesundheitsförderung und Prävention. Am besten ist sie im salutogenetischen Modell aufgehoben, das Aaron Antonovsky entwickelt hat und das inzwischen als empirisch gut bewährt gelten kann. Lebenserfahrungen, in denen Subjekte sich als ihr Leben Gestaltende konstituieren können, in denen sie sich in ihren Identitätsentwürfen als aktive Produzentinnen und Produzenten ihrer Biographie begreifen können,

50 51

BAUMAN, Unbehagen, 158. Wie die DAK-Daten gezeigt haben, steigen auch Angststörungen erheblich an.

108

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sind offensichtlich wichtige Bedingungen der Gesunderhaltung. Der israelische Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky hat diesen Gedanken in das Zentrum seines „salutogenetischen Modells“ gestellt. Es stellt die Ressourcen in den Mittelpunkt der Analyse, die ein Subjekt mobilisieren kann, um mit belastenden, widrigen und widersprüchlichen Alltagserfahrungen produktiv umgehen zu können und nicht krank zu werden. Wer war Aaron Antonovsky – und gehört er zu der Fraktion der chronischen Optimisten, die mit ihrem Ressourcendenken auch dort noch positive Möglichkeiten sehen, wo es für die meisten Menschen nur Leid und Schmerzen gibt? Diese Frage wird durch ein Zitat beantwortet, das aus einer Rede stammt, die Antonovsky bei seinem einzigen Besuch in dem Land gehalten hat, das sein Volk vernichten wollte: „Ich bin tief und überzeugt jüdisch. 2000 Jahre jüdische Geschichte, die ihren Höhepunkt in Ausschwitz und Treblinka fand, haben bei mir zu einem profunden tiefen Pessimismus in Bezug auf Menschen geführt. Ich bin überzeugt, dass wir uns alle immer im gefährlichen Fluss des Lebens befinden und niemals sicher am Ufer stehen“.52

Das ist ein Bekenntnis zu einem eher pessimistischen Bild und die Metapher vom „gefährlichen Fluss“ ist in Antonovskys Denken sehr wichtig, es ist für ihn das Bild für das Leben: „Ich gehe davon aus, dass Heterostase, Ungleichgewicht und Leid inhärente Bestandteile menschlicher Existenz sind, ebenso wie der Tod. Wir alle, um mit der Metapher fortzufahren, sind vom Moment unserer Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir die Kante des Wasserfalls passieren, um zu sterben, in diesem Fluss. Der menschliche Organismus ist ein System und wie alle Systeme der Kraft der Entropie ausgeliefert.“53

Dem pathogenetischen Denken unterstellt Antonovsky ein homöostatisches Modell: Es geht davon aus, dass wir uns im Gleichgewicht mit uns und der Welt befinden, wenn wir gesund sind. Krankheit gefährdet dieses Gleichgewicht und muss deshalb bekämpft werden. Wenn krank machende Faktoren entfernt worden sind, dann haben wir wieder unser Gleichgewicht gefunden. Unsere westliche Medizin sieht Antonovsky – weiter in seinem Bild bleibend – als „gut organisierte, heroische und technologisch aufgerüstete Unternehmung, ertrinkende Menschen aus einem wilden Fluss herauszuziehen“.54 Und sie fragt nicht, warum eigentlich Menschen

52 53 54

ANTONOVSKY, Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung, 7. Ebd. 8f. ANTONOVSKY, Salutogenese, 89.

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immer ertrinken. Hätte man ihnen vielleicht das Schwimmen beibringen müssen? Ja, würde Antonovsky selbstverständlich antworten, das genau ist die Konsequenz der salutogenetischen Perspektive. Bei seinem Deutschlandvortrag hat er noch ein weiteres Bild bemüht, das für einen Bayern näher liegt, als für einen Bürger Israels: Eine lange Skipiste, die wir herunterfahren, „an deren Ende ein unumgänglicher und unendlicher Abgrund ist. Die pathogenetische Orientierung beschäftigt sich hauptsächlich mit denjenigen, die an den Felsen gefahren sind, einen Baum, mit einem anderen Skifahrer zusammengestoßen sind, oder in eine Gletscherspalte fielen. Weiterhin versucht sie uns zu überzeugen, dass es das Beste ist, überhaupt nicht Ski zu fahren. Die salutogenetische Orientierung beschäftigt sich damit, wie die Piste ungefährlicher gemacht werden kann und wie man Menschen zu sehr guten Skifahrern machen kann“.55

Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potential gegeben sind. Sie hängen von dem kulturellen, materiellen und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind „symbolisches Kapital“, also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eine emotionale Sicherheit in Bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen. Antonovsky zeigt auf, dass alle mobilisierbaren Ressourcen in ihrer Wirksamkeit letztlich von einer zentralen subjektiven Kompetenz abhängt: Dem „Gefühl von Kohärenz“. Dieses Kohärenzgefühl ist ein zugleich kognitive wie emotionale Prozesse thematisierendes Konstrukt. Es ist eine Art Vertrauen in die eigene Person und beinhaltet die Vorstellung,

55

ANTONOVSKY, Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung, 11.

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1) dass die Anforderungen es wert sind, sich dafür anzustrengen und zu engagieren (Sinnebene); 2) dass die Ressourcen verfügbar sind, die man dazu braucht, um den gestellten Anforderungen gerecht zu werden (Bewältigungsebene); 3) und dass die Ereignisse der inneren und äußeren Umwelt strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehensebene). Antonovsky transformiert eine zentrale Überlegung aus dem Bereich der Sozialwissenschaften zu einer grundlegenden Bedingung für Gesundheit: Als Kohärenzsinn wird ein positives Bild der eigenen Handlungsfähigkeit verstanden, die von dem Gefühl der Bewältigungsmöglichkeit von externen und internen Lebensbedingungen, der Gewissheit der Selbststeuerungsfähigkeit und der Gestaltbarkeit der Lebensbedingungen getragen ist. Der Kohärenzsinn ist durch das Bestreben charakterisiert, den Lebensbedingungen einen subjektiven Sinn zu geben und sie mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang bringen zu können. Das Kohärenzgefühl repräsentiert auf der Subjektebene die Erfahrung, eine Passung zwischen der inneren und äußeren Realität hergestellt zu haben. Umso weniger es gelingt, für sich Lebenssinn zu konstruieren, desto weniger besteht die Möglichkeit, sich für oder gegen etwas zu engagieren und Ressourcen zur Realisierung spezifischer Ziele zu mobilisieren.

6.

Hat die Depression einen Sinn?

Es mag absurd erscheinen, nach dem Sinn der Depression zu fragen oder nach „Dem Nutzen der Schwermut“ wie es Jonah Lehrer im „New York Times Magazine“ getan hat. Er verweist auf Charles Darwin, der immer wieder von schweren Depressionen betroffen war, sich dann als arbeitsunfähig erlebte und nicht ohne Bitterkeit feststellte: „Ich sollte mich wahrscheinlich damit zufriedengeben, die Fortschritte zu bewundern, die andere in der Wissenschaft machen“.56 Das sagt jemand, der zu den ganz Großen der modernen Wissenschaften zu rechnen ist. War seine Depression dafür nicht nur kein Hindernis, sondern vielleicht sogar die Bedingung? Sie ermöglichte ihm, sich aus dem Trubel des Wissenschaftsbetriebs zurückzuziehen und gründlich nachzudenken. Darwin formulierte es so: „Jedes

56

Zitiert nach LEHRER, Nutzen (Online-Quelle Nr. 3).

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Leiden verursacht Depressionen, wenn es nur lange genug anhält. Doch es macht auch wachsam gegenüber großem und plötzlichem Übel“.57 Ganz auf den evolutionstheoretischen Spuren Darwins fragt Jonah Lehrer, warum ein Zustand so häufig auftritt, den sich jeder Mensch doch gerne ersparen würde. Hat er möglicherweise einen evolutionären Sinn? Diese Frage beantworten der Evolutionspsychologe Paul Andrews und der Psychiater Anderson Thomson positiv.58 Sie wollten wissen, ob ein paar Monate noch so sinnlos scheinender innerer Monologe nicht am Ende auch ihr Gutes haben können. Vielleicht hilft der von Selbstekel begleitete Trauerprozess, Beziehungsmuster zu überdenken und soziales Verhalten neu zu definieren. „Es schien uns nicht logisch, dass das Gehirn ausgerechnet dann versagt, wenn es am meisten gebraucht wird“,59 sagt Andrews. „Vielleicht sucht es nur besonders konsequent nach einem Ausweg.“ Andrews und Thomson: „Wenn es die Depression nicht gäbe, würden wir Lebenskrisen weniger gut meistern.“60 Anders ausgedrückt: Weisheit ist nicht billig zu haben, und der Preis dafür ist das Leiden. Keine leicht verdauliche Botschaft in einer Welt, die sich Wellness und Glück ganz oben auf die Agenda geschrieben hat. – Jonah Lerner fasst die Grundideen so zusammen: „Was könnte insgesamt die Lehre aus diesen Beobachtungen sein? Therapeutisch käme es im Zweifelsfall darauf an, den Patienten dahin zu bringen, dass er sein Leiden akzeptiert. Dass er den Grundton der Verzweiflung annimmt und vielleicht sogar begrüßt, weil er den Weg frei macht für ein geändertes, besseres Leben nach der Depression. Eines muss man dennoch einräumen: Dass eine Depression einem Zweck dienen kann, dass Trauer uns möglicherweise schlauer macht, nimmt beidem nicht die Schwärze und den Schrecken. Auch ein Fieber kann hilfreich sein – trotzdem bekämpfen wir es mit Pillen. Man kann darin ein weiteres Paradox der Evolution sehen: Selbst wenn tiefer Schmerz uns auf Dauer weiterhilft, bleibt die instinktive Flucht vor ihm doch der stärkste Impuls, den wir kennen“.61

57 58 59 60 61

Ebd. Vgl. ANDREWS / THOMSON, The Bright Side. Zitiert nach LEHRER, Nutzen (Online-Quelle Nr. 3) Ebd. Ebd.

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7.

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Schlussfolgerungen

1. Subjekte einer individualisierten und globalisierten Netzwerkgesellschaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr problemlos auf kulturell abgesicherte biographische Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken ungeheure Potentiale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber auch das Risiko und die leidvolle Erfahrung des Scheiterns. Die Zunahme der Depression verweist auf dieses Risiko. Sie ist aber nicht ein „Fluch der Freiheit“, sondern verweist auf einen Mangel im „Handwerk der Freiheit“. 2. Die „Klinifizierung“ oder „Medikalisierung“ der Depression und die daraus in der Regel folgende medikamentöse Behandlung verhindert die Chance, den persönlichen und gesellschaftlichen Sinn der Depression zu erkennen. Er besteht in seiner Funktion als Haltesignal und einem Nachdenken über Bedingungen und Möglichkeiten einer reflexiven Identitätsarbeit. 3. Zum Verständnis der Depression müssen wir eine differenzierte Gesellschaftsdiagnostik betreiben und diese im öffentlichen Raum kommunizieren: Die in den privatisierten und individualisierten Problem- und Leidenszuständen der Subjekte enthaltenen gesellschaftlichen Hintergründe kann man entschlüsseln und sichtbar machen. Dies ist auch die Voraussetzung für sinnvolle Projekte der Prävention und Gesundheitsförderung. 4. Erforderlich ist eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Menschenbildannahmen. Die Figur des „unternehmerischen Selbst“ ist auf den kritischen Prüfstand zu stellen. Sie verweist auf ein neoliberales Menschenbild, das eine maximierte Selbstkontrolle als Fortschritt anpreist. Ausbeutung und Entfremdung werden zunehmend weniger als fremd gesetzter Zwang von Menschen erlebt, sondern mehr und mehr zu einer Selbsttechnologie, zu einer Selbstdressur, die allerdings in den Ideologien des Neoliberalismus in einem Freiheits- oder Autonomiediskurs daher kommt. Selbst das Authentizitätsideal der modernen Gesellschaft verwandelt sich in diesem Kontext als heteronomes Konformitätsmodell. 5. Präventionsprojekte können hilfreiche Angebot sein, sich in diesen gesellschaftlichen Umbruchprozessen Unterstützung bei einer Neuorientierung, Reflexion und Selbstorganisation zu holen. Sie sollten keinesfalls „Trainingslager“ für Fitness im Netzwerkkapitalismus liefern. Sie stellt einen Rahmen der „inneren Modernisierung“ dar, aber die Frage, was in diesem Rahmen Emanzipation oder Affirmation sein kann, bleibt auf der Tagesordnung.

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Heiner Keupp

WEBER, M., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1963, 17–206 WULFF, E., Der Arzt und das Geld. Der Einfluss von Bezahlungssystemen auf die Arzt-Patient-Beziehung, in: Das Argument. Studienhefte 69 / Heft 11–12 (1971) 955–970

Online-Quellen Nr. 1 (Pressemeldung AOK 19. 94. 2011) http://www.wido.de/fileadmin/wido/downloads/pdf_pressemitteilungen/wi do_pra_pm_krstd_0411.pdf [07.07.2015]. Nr. 2 (Das Deutsche Studentenwerk, Presseerklärung 02.07.2007) http://verbaende.com/news.php/Ausgebrannt-Burn-out-bei-Studierendennimmt-zu-Studentenwerke-registrieren-Anstieg-von-Burn-out-Syndrombei-Studierenden-Studieren-bis-zum-Umfallen-Bericht-im-neuen-DSWJournal-des-Deu?m=47037 [07.07.2015] Nr. 3 (online-Version von LEHRER, Depression’s upside bzw. Nutzen) http://www.nytimes.com/2010/02/28/magazine/28depression-t.html?_r=0 – deutsch: http://www.faz.net/aktuell/wissen/mensch-gene/psychologievom-nutzen-der-schwermut-1957347.html [14.09.2015]

Karl Gabriel

Religiöse Individualisierung und Authentizität

1.

Einführung

Was ist in den westlichen Gesellschaften zwischen 1960 und 1970 geschehen? Heute drängt sich aus verschiedenen Richtungen die Erkenntnis auf, dass der Umbruch der 1960er-Jahre für Gesellschaft und Kultur einen tiefen Einschnitt bedeutete – schwerwiegender als etwa das Kriegsende 1945/1946. Für Religion, Christentum und Kirche wird dies schon auf den ersten Blick deutlich. Hier knüpfte man in den 1950er-Jahren relativ mühelos an die Situation vor 1933 (Deutschland) bzw. 1938 (Österreich) an, hatte sogar gewisse Erfolge mit einer kirchlich forcierten Rechristianisierungsstrategie. Umso radikaler veränderte sich die Lage für Kirche und Christentum mit der häufig als „Kulturrevolution“ titulierten Umbruchzeit der 1960er-Jahre: Seitdem hat sich die Situation für das kirchlich verfasste Christentum fundamental gewandelt. Die Integrationskraft der Institution Kirche hat einen „Knacks“ bekommen. Seitdem schwindet der Glaubensgehorsam, werden kirchliche Normansprüche fraglich und lässt die Teilnahme an der kirchlich-rituellen Praxis nach. In Deutschland etwa stellen die Konfessionslosen inzwischen die größte Gruppe dar, knapp über der Mitgliedschaft jeweils der katholischen und evangelischen Kirche. Was in den sechziger Jahren wirklich geschehen ist, das sich als so folgenreich erwiesen hat, scheint mir bis heute nicht ausreichend aufgeklärt. Im Weiteren gehe ich davon aus, dass die Beschäftigung mit den Themen der religiösen Individualisierung und Authentizität in dieser Frage möglicherweise weiterhelfen kann. In folgenden Schritten werde ich meine Überlegungen vortragen: Meinen Ausgangspunkt nehme ich beim soziologischen Konzept der Individualisierung. Es bietet die strukturelle Grundlage, gewissermaßen die „Hardware“ für die kulturellen Umbrüche der letzten fünfzig Jahre. Im zweiten

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Schritt geht es um die Individualisierungsprozesse auf dem Feld des Religiösen. Die Ambivalenz des Individualisierungsphänomens wird in besonderer Weise im Bereich der Religion deutlich. Zu einem besseren Verständnis unserer Ausgangsfrage vermag das Individualisierungskonzept dann beizutragen, wenn man es mit dem neueren Diskurs um Authentizität in Verbindung bringt. Ich werde dabei schwerpunktmäßig an das Konzept der Authentizität bzw. der Kultur der Authentizität von Charles Taylor anknüpfen.

2.

Individualisierung

Ein diagnostisches Konstrukt zieht seit einigen Jahren eine hohe Aufmerksamkeit auf sich: das einer wachsenden Individualisierung.1 Die weitergehende und sich verschärfende Modernisierung in den schon modernisierten Gesellschaften des Westens lässt die moderne Gesellschaft als eine individualisierte Gesellschaft erscheinen. Komplexität und Ambivalenz des Phänomens kommen insbesondere dann zum Vorschein, wenn man mindestens vier Dimensionen der Individualisierung unterscheidet:

2.1

Individualisierung als Freisetzung

Unter dem vielschichtigen Begriff der Individualisierung werden dabei zunächst Phänomene angesprochen, die auf ein verändertes Verhältnis der Menschen zu bisher weitgehend vorgegebenen Lebensformen, Lebensdeutungen und Institutionen hinweisen. Aus selbstverständlich erachteten Vorgaben des Familienlebens, der Geschlechterrollen, der lebenslangen Erwerbsarbeit, der regionalen und religiösen Bindungen sehen sich immer mehr Menschen herausgelöst. Wie die Statistik belegt, verschwinden die herkömmlichen Lebensformen zwar damit nicht schlagartig – faktisch bewegt sich die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor in ihren Bahnen; sie haben aber ihren Charakter des Vorgegebenen und Selbstverständlichen eingebüßt. Angesichts verfügbarer Alternativen werden sie zu Objekten komplizierter Wahlvorgänge und Entscheidungen. Damit verändert sich 1

Vgl. BECK, Risikogesellschaft, 113–248; BECK / BECK-GERNSHEIM, Individualisierung; KAUFMANN, Selbstreferenz; HONNETH, Selbstverwirklichung.

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der Charakter der sozialen Verortung des Einzelnen in der Gesellschaft: Sozial ortloser werden die Individuen insofern, als ihnen selbstverständlich vorgegebene soziale Orte immer seltener zur Verfügung stehen.2 Die Verortung erfolgt prinzipiell auf eigene Rechnung, zumindest wird sie angesichts verfügbarer Alternativen gesellschaftlich als selbst getroffene Wahl behandelt und zugerechnet. Individualisierung besitzt den Charakter eines spezifischen Musters der gesellschaftlichen Zurechnung.

2.2

Individualisierung als Krise überkommener Lebensdeutungen

Mit der Freisetzung aus überkommenen Bindungen und der Vervielfältigung der Lebensformen ist eine Enttraditionalisierung der Lebensdeutungen verbunden. Überkommene Deutungen verlieren angesichts aufbrechender Alternativen ihre selbstverständliche und gleichsam schicksalhafte Geltung. Vielmehr muss im Sinne einer lebenslangen Aufgabe auch Lebenssinn vom einzelnen Individuum unter verfügbaren Deutungsmöglichkeiten selbst ausgewählt und gewonnen werden. „Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm selber einen gibt“, erweist sich heute in der Umfrageforschung als der mit Abstand am stärksten akzeptierte Satz auf dem Feld der Sinnfragen.3

2.3

Individualisierung als Transformation der Sozialkontrolle

Freisetzung – so das mehrdimensionale Verständnis von Individualisierung – ist nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit einem eindeutigen und unbegrenzten Freiheitsgewinn. Vielmehr verschärfen sich auch die gesellschaftlichen Zwänge. Nicht nur die Lebensformen und Lebensdeutungen werden individualisiert, sondern auch die gesellschaftlichen Zwänge. Die aus den überkommenen Lebensformen und Lebensdeutungen herausgelösten Individuen treffen auf unverfügbare gesellschaftliche Vorgaben, die sie nun als Einzelne, gewissermaßen ohne gemeinschaftliche Abpufferungen, unmittelbar betreffen. Die Vorgaben gehen zu allererst von der anonymen

2 3

Vgl. BAUMAN, Dialektik, 123ff. ZENTRALARCHIV etc., Bevölkerungsumfrage 1992, 93.

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Macht eines sich verengenden Arbeitsmarkts aus. Traditionelle Normierungen des Lebenslaufes und der alltäglichen Lebensführung durch soziale Herkunft, Geschlecht oder Alter werden durch neue, vom Arbeitsmarkt herkommende Normierungen abgelöst.4 Die Lebensmacht des Arbeitsmarkts greift immer früher in die Lebenswirklichkeit der einzelnen ein und zwingt sie, eine individuelle und zugleich konkurrenzbezogene Lebensperspektive zu entwickeln. Nicht anders verhält es sich mit der Macht öffentlicher Daseinsvorsorge. Aus der Sicherung des Kollektivschicksals riskanter Lohnarbeit ist ein komplexes System individualrechtlicher Regelungen geworden, die vom Einzelnen vielfältige Anpassungsleistungen verlangen, will er gravierende Nachteile vermeiden.5

2.4

Individualisierung als Biographisierung

Als Prozess der Ablösung aus vorgegebenen Lebensformen und sozialen Bindungen mit gleichzeitiger Steigerung anonymer, die Menschen als einzelne betreffender Abhängigkeitsbeziehungen bedeutet Individualisierung also nicht ohne weiteres Steigerung von Freiheit und Autonomie. Im Zentrum individualisierter Lebenspraxis steht vielmehr der Zwang, eine eigene Biographie zu entwickeln und sich Verantwortung für das eigene Lebensschicksal zuschreiben zu lassen.6 Selbstverwiesenheit und Selbstbezüglichkeit werden damit zu einer Konstante der Lebensführung, die aber den Bestand und die Herstellung solidarischer Bindungen nicht von vornherein verunmöglichen, wohl aber unter neuartige Bedingungen stellen.7 Soziale Bindungen werden als Teil eines je eigenen Lebensentwurfs gewählt und müssen sich in Aushandlungsprozessen bewähren. Als Wahlbindungen sind sie einerseits voraussetzungsvoller und prekärer, andererseits wohnt ihnen möglicherweise eine größere selbstbindende Kraft inne. Prozesse der Selbstbindung dürften dann nicht nur zur Basis möglicher solidarischer Beziehungen werden, sondern zur Voraussetzung für die Bewältigung von Individualisierungsprozessen.

4 5 6 7

Vgl. KOHLI, Normalbiographie. Vgl. BECK, Risikogesellschaft, 208ff. Vgl. KAUFMANN, Selbstreferenz, 36ff.; HONNETH, Selbstverwirklichung, 154ff. Vgl. GABRIEL / HERLTH / STROHMEIER, Solidarität.

Religiöse Individualisierung und Authentizität

3.

121

Der Individualisierungsschub der sechziger Jahre und seine Ursachen

Es scheint an dieser Stelle sinnvoll, einen kurzen Blick auf den Komplex von Ursachen zu werfen, die den Individualisierungsschub getragen und befeuert haben. Drei Entwicklungen der Nachkriegszeit sind dabei vornehmlich zu nennen, die es in der Sozial- und Menschheitsgeschichte in dieser Ausprägung bisher nicht gegeben hat. Binnen weniger Jahre erhöhte sich der materielle Lebensstandard breiter Bevölkerungsgruppen auf ein Niveau, das ihnen vielfältige Konsummöglichkeiten jenseits unmittelbarer Existenzsicherung bot. Ein Markt von Erlebnisgütern entstand, der die Handlungsform des Auswählens zu einem dominanten Muster der Alltagspraxis werden ließ.8 Eine massive Bildungsexpansion hat im Zeitraum von nur einer Generation das Bildungsniveau sprunghaft nach oben klettern lassen und die Relation der unterschiedlichen Bildungsabschlüsse von Hauptschule und Gymnasium auf den Kopf gestellt. Begleitet waren beide Entwicklungen vom Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und Versorgung, die zum ersten Mal in der Sozialgeschichte faktisch allen einen gesicherten Normallebenslauf in Aussicht stellten.9

4.

Individualisierung des Religiösen

Die Religionssoziologie ist teils schon vor der Ausarbeitung des Konzepts der Individualisierung in der Allgemeinen Soziologie auf Phänomene religiöser Individualisierung gestoßen. Anstöße gaben die Religionssoziologie Thomas Luckmanns, aber auch die Theorie des religiösen Feldes von Pierre Bourdieu. Die Individualisierung des Religiösen verändert das „religiöse Feld“ von Grund auf.10 Der wichtigste Parameter der Veränderung besteht in einer folgenreichen Verschiebung der Machtbalance zugunsten des Individuums. An die Stelle des klassischen Modells klar definierter Reli-

8 9 10

Vgl. SCHULZE, Erlebnisgesellschaft, 34ff. Vgl. MOOSER, Auflösung. BOURDIEU, Rede und Antwort, 231f. versteht unter dem „religiösen Feld“ einen Raum, „in dem – noch zu bestimmende – Akteure (Priester, Prophet, Zauberer usw.) Kämpfe um die Durchsetzung einer legitimen Definition sowohl des Religiösen als auch der verschiedenen Arten, die religiöse Rolle zu erfüllen, austragen“.

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gion mit organisierter Repräsentanz ist bisher kein ähnlich strukturiertes, alternatives Modell getreten. Es ist auch kein Symbol- und Ritualkomplex geschweige denn eine Instanz in Sicht, die die Leerstelle des alten Modells füllen könnte.11 Vielmehr wandelt sich das einst von einem Monopolanbieter beherrschte religiöse Feld hin zu einer Struktur, in der sich die einzelnen ihre Religion bis zu einem gewissen Grad selbst konstruieren.12 Je nach Alter, Milieueinbindung und Beeinflussung durch modernisierte Lebensstile – so mit Blick auf die westlichen Gesellschaften formuliert – variiert das Muster der Konstruktion. Der „religiöse Flickenteppich“ (Thomas Luckmann) der Älteren zeigt trotz unübersehbarer Phänomene der Auswahl nach wie vor eine große Nähe zum überkommenen religiösen Modell. Mit einer deutlichen Grenze um das 50. Lebensjahr herum nehmen zu den jüngeren Jahrgängen hin die eigengewirkten Anteile zu. Den Extrempol in dieser Richtung bilden Jugendliche aus der Okkultszene mit einer ausgeprägten „Sinn-Bastelei“ und der Suche nach einer hohen Erlebnisintensität.13 Neben dem Alter ist als beeinflussender Faktor für das jeweilige Muster der „Konstruktion“ die Nähe und Ferne zu den kirchlichkonfessionellen Milieus von Bedeutung. In ihrer Nähe nimmt die „Konstruktion“, die Form einer persönlichen Hierarchisierung der Glaubenswahrheiten und des synkretistischen Einbaus neuer Elemente zu. So scheint es heute einer Vielzahl von Kirchgängern keine großen Schwierigkeiten zu bereiten, Vorstellungen einer Reinkarnation in ihr kirchlich geprägtes individuelles Glaubenssystem zu integrieren.14 Lebenslange Auswahl und häufig wechselnde Lösungen der Sinnsuche mit hohen reflexiven Anteilen finden wir insbesondere in den neureligiösen Szenen des „New Age“.15 Auch in den ländlich geprägten Regionen hat in den letzten Jahren mit dem Nachlassen der kollektiven Kontrollen insgesamt der Anteil der sogenannten „Auswahlchristen“ erkennbar zugenommen. In dieser Dimension bildet die auf schnellen Umschlag und Verbrauch hin angelegte „City-Religion“16 der jungen Gutverdienenden in den großstädtischen Ballungszentren einen Extremfall eigener Konstruktionsarbeit.

11 12 13 14 15 16

Vgl. LUCKMANN, Religion, 178–183. Vgl. BECK, Gott, 13-67. Vgl. HELSPER, Okkultismus. Vgl. KRÜGGELER, Inseln; SACHAU, Reinkarnationsvorstellungen. Vgl. STENGER, Konstruktion. Vgl. HÖHN, Gegen-Mythen, 118.

Religiöse Individualisierung und Authentizität

123

Das neue Feld des Religiösen hat die Tendenz, den Raum des Religiösen eher zu erweitern, als zu verengen. Die Macht zur Eingrenzung des Religiösen können die Kirchen nur noch in spezifischen Fällen von als sozial schädlich definierbaren Jugendsekten mehr oder weniger erfolgreich behaupten. In diesen Zusammenhang gehören Phänomene der Wiederkehr des Okkulten in den Alltag hochmodernisierter Gesellschaft oder die Tendenz zur Sakralisierung von Liebesbeziehungen. Das neue religiöse Feld verändert aber auch die Qualität der Religion. Sie nimmt eine stärker persönlich-subjektive, erlebnis- und erfahrungsbezogene Form an. Damit sinkt die Transzendenzspannweite des Religiösen. Große Transzendenzen ohne herstellbare Bezüge zur Erlebniswelt des Einzelnen lassen sich nur noch schwer und unter besonderen Vorkehrungen tradieren. Sie sind zu ihrer Plausibilisierung auf mittlere und kleine Transzendenzen angewiesen.17 Symptomatisch erscheint die Tendenz zur Sakralisierung von Subjektivität und von Gruppenbezügen als typische Orte individualisierter Religiosität und ihrer Folgen. Sichtbar werden die neuen Formen von Religiosität etwa in Ritualisierungen innerhalb abweichender Jugendszenen und den demonstrativen Massenritualen der Musikszene.18 Dabei stellt die christliche Bilder- und Symbolwelt nach wie vor hauptsächlich das Material, aus dem auch die Formen neuer Religiosität schöpfen. Unverkennbar sind die Phänomene einer individuellen „Konstruktionsarbeit“, und selbst die Sakralisierung des Subjekts in der modernen Christentumsgeschichte – insbesondere in der protestantischen Tradition, aber nicht nur in dieser – angelegt. Daran mag es liegen, dass die tiefgreifenden Veränderungen des religiösen Feldes bis heute nicht zu einem revolutionären Umbruch im Religionssystem insgesamt geführt haben. Durch vielfältige, konfliktreiche Inkulturationsprozesse ist es den Kirchen bis heute gelungen, dem Wandel des Religiösen so weit zu folgen, dass die in den neuen Entwicklungen angelegte Sprengkraft nicht ihre volle Wirkung erzielt hat.

17 18

Vgl. LUCKMANN, Religion,166–171. Vgl. SOEFFNER, Ordnung.

124

5.

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Marktanaloge Pluralisierung der religiösen Anbieter

Der Auflösung des tradierten religiösen Modells und der Tendenz zur Individualisierung des Religiösen entspricht auf der Seite der Anbieter eine marktanaloge Pluralisierung der Akteure. Um das vom tradierten Modell freigegebene Feld des Religiösen wird auf vielfältige Weise gerungen. Alle Akteure bewegen sich in einem Feld, dessen Institutionalisierung nur noch sekundären Charakter besitzt. Die Kirchen selbst haben ihren Charakter als zwangsbewehrte Primärinstitutionen verloren und sind zu Sekundärinstitutionen geworden. Sie – wie alle Akteure im religiösen Feld – sind zu Anbietern von Symbolen, Ritualen und Lebensstilen auf einem Quasimarkt geworden, der strukturell den privaten Nachfragerinteressen Entscheidungsmöglichkeiten bietet bzw. abverlangt. Zur neuen Macht der Begrenzung des Religiösen wird damit tendenziell die Logik des Marktes. Sie schafft die neue Pluralität des Religiösen, hat aber auch die Tendenz, sie gleichzeitig nach Marktgesichtspunkten zu begrenzen. Für faktisch alle Felder des klassischen religiösen Monopols existieren heute erfolgreich als nichtreligiös definierte Alternativen oder zumindest Substitute, auf die das wählende Publikum ausweichen kann. Dank der Massenmedien erreicht das Angebot an Alternativen und Substituten auch den letzten Winkel der Gesellschaft. Die neue Marktsituation und die durch sie erzeugte kulturelle Reflexivität geben den Anbietern „neuer Religiosität“ wachsende Chancen. Die Verbreitung der als „Neue religiöse Bewegungen“ etikettierten Psychokulte und Therapien spiegelt deutlich die Logik des Marktes wieder. Sie finden ihre Anhänger unter den gut verdienenden Großstädterinnen und Großstädtern zwischen 30 und 50, die sich die Kursgebühren auf dem spirituellen Weg zu Einsicht, Gesundheit, Glück und Erfolg leisten können.19 Für eine Dynamisierung des Marktes von Weltdeutungen und Lebensstilen sorgen die Massenmedien, allen voran das Fernsehen und neuerdings natürlich das Internet. Die Massenmedien überzeichnen tendenziell unter dem Gesichtspunkt des Informations- und Sensationswerts von Nachrichten Quantität und Verbreitung der alternativen Angebote auf dem religiösen Markt.20 Unter dem Etikett „Neue religiöse Bewegungen“

19 20

Vgl. WAßNER, Religiöse Bewegungen. Vgl. BARKER, Neue religiöse Bewegungen.

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verbergen sich auch jene Angebote, die auf die marktinduzierte Verunsicherung nicht mit einer Erhöhung der Reflexivität reagieren, sondern umgekehrt ihre Vernichtung versprechen. Fundamentalistische Angebote verdanken ihre Chancen insofern der Marktlogik, als sie jenes für die religiöse Tradition zentrale Bedürfnis ausbeuten, das die marktförmige Religion nicht mehr zu erfüllen vermag: das Bedürfnis nach alternativloser Sicherheit und absoluter religiöser Beheimatung. Streng hierarchische Strukturen, eine scharfe Abgrenzung nach außen und dualistisch abwertende Deutungen der Umwelt sollen einen stets gefährdeten Damm bilden gegen den Bazillus des verunsichernden religiösen Selbstbezugs. Mit Blick auf (West-)Europa weniger von Säkularisierung als von religiöser Individualisierung zu sprechen, bietet die Möglichkeit, die nur schwach oder (noch) nicht institutionalisierten religiösen Erfahrungs- und Kommunikationsformen analytisch erschließbar zu machen. Welche Realität und Bedeutung man auf dem Feld des Religiösen den Ausprägungen eines vorinstitutionellen Raums zuspricht, bestimmt in hohem Maße die Präferenzen der Begriffs-, aber auch der Methodenwahl. Entscheidet man sich exklusiv für ein massenstatistisch-quantitatives Forschungsinstrumentarium, verschwindet die individualisierte Religiosität leicht im Zwischenraum von Religionslosigkeit und religiös indifferenter Halbdistanz zur Kirchlichkeit.21 Bezieht man auch das qualitative Forschungsinstrumentarium mit ein, bekommt verständlicherweise die individualisierte Religiosität erst ihre Konturen.

6.

Authentizität

An vielen Stellen meiner bisherigen Überlegungen ist schon das angeklungen, was Charles Taylor mit dem Begriff der Authentizität zur Sprache bringt. Unter der „Kultur der Authentizität“ versteht er „die Auffassung des Lebens, die im Zuge des romantischen Expressivismus des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts aufkommt, wonach jeder seine eigene Art hat, sein Menschsein in die Tat umzusetzen, und wonach es wichtig ist, den eigenen Stil zu finden und auszuleben, im Gegensatz zur Kapitulation vor der Konformität mit einem von außen – seitens der Gesellschaft, der

21

Deutlich wird dies an der Kritik Pollacks an der religiösen Individualisierungsthese: POLLACK, Säkularisierung, 149–182.

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vorigen Generation oder einer religiösen oder politischen Autorität – aufoktroyierten Modell“.22 Taylor rechnet die Kultur der Authentizität zu den Narrativen der Säkularisierung. Die Ausbreitung der Kultur der Authentizität in den westlichen Gesellschaften nach dem 2. Weltkrieg führt Taylor auf Synergien dreier Entwicklungen zurück: Es entsteht eine primär auf das eigene Selbst gerichtete Konsumkultur, die insbesondere der Jugendkultur ein verändertes Gepräge gibt. Gehörte bis dahin zur Jugend, sich auf ein Morgen vorzubereiten, heute Bedürfnisse aufzuschieben und Verzicht zu üben, so lautet nun die jugendkulturelle Maxime: Lebe und konsumiere jetzt und verwirkliche Dich selbst. Die neue Konsumkultur befeuert die Ausbreitung – so Taylor – eines expressiven Individualismus, der seine Wurzeln im romantischen Aufstand gegen die Aufklärung besitzt. Als dritten Faktor identifiziert Taylor die Entstehung von Räumen wechselseitiger Zurschaustellung, die der Mode einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft verleiht. Taylor resümiert, dass die mit der Mode verbundene Konformität und Entfremdung sich in paradoxer Weise mit dem Gefühl der authentischen, freien Wahl verbindet. Markenwaren werden zu Trägern eines individuellen Ausdrucks und der Selbstdefinition von Identität. Gleichzeitig sind sie das Ergebnis von Konzernstrategien, die exzeptionelle Individualität und soziale Anerkennung zugleich versprechen. Taylor interpretiert den Umbruch der 1960er-Jahre in den westlichen Gesellschaften in einer kultur- und religionstheoretischen Langzeitperspektive. Er sieht eine weitreichende Verschiebung des Orts des Sakralen in der Gesellschaft, die er in folgende idealtypische Stufenfolge bringt: In der – wie er formuliert – paläodurkheimischen Ordnung „folgte aus der Verbindung zum Sakralen, dass man auch einer Kirche angehörte, die ihrerseits wiederum die ganze Gesellschaft umfasste“.23 Während in diesem System eine zwangsmäßige Einordnung und Verbindung zum Sakralen legitim erschien, gilt dies für die nächste Stufe, die „neodurkheimische Ordnung“ nicht mehr. Nun entscheidet man sich für eine eigene Konfession, die den Gläubigen mit einer Kirche und mit einem politischen Gebilde verbindet. Auf dem Weg der Entscheidung geht als dritte Stufe der Entwicklung – so die Argumentation Taylors – die sich in der Kulturrevolution der sechziger Jahre durchsetzende postdurkheimische Ordnung einen fundamentalen Schritt weiter. Nun gilt folgende Maxime: „Das religiöse

22 23

TAYLOR, Zeitalter, 791f. Ebd. 810.

Religiöse Individualisierung und Authentizität

127

Leben, die religiöse Praxis, an der ich mich beteilige, muss nicht nur von mir gewählt worden sein, sondern sie muss mich auch ansprechen – sie muss im Sinne meiner spirituellen Entwicklung deutbar sein“.24 In den Zusammenhang des Umbruchs von einer neo- zu einer postdurkheimischen Ordnung stellt Taylor die Erosion der aus dem 19. Jahrhundert stammenden religiösen und säkularen Glaubensgemeinschaften und -systeme. Als Beispiel verweist er auf die Situation des Katholizismus wie des Republikanismus in Frankreich, die beide ihre Anhängerschaft verloren hätten. Taylor sieht heute an vielen Stellen einen Kampf zwischen dem Festhalten an neodurheimischen Prinzipien und der Bewegung hin zu einer expressivistischen, postdurkheimischen Kultur. Taylor konstatiert eine tief reichende Krise des Christentums im Zeitalter der Authentizität. Sie spitzt sich auf dem Feld der mit dem expressiven Individualismus verbundenen sexuellen Revolution zu. So habe sich die durch die Kulturrevolution der 1960er-Jahre geprägte Generation völlig von der Kirche entfremdet. Für die katholische Kirche liege darin eine besondere Tragik. Der Grund sei darin zu suchen, dass die Kulturrevolution die Einheit von christlichem Glauben, Ethos der Disziplin, Selbstbeherrschung und Entsagung und der herrschenden zivilisatorischen Ordnung erfolgreich aufgesprengt habe. Damit sei eine lange Tradition an ihr Ende gekommen. Die Verbindung von Kirchenreform, moralischem Rigorismus und sexueller Unterdrückung lasse sich bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgen. In der katholischen Reform – als Antwort auf die Reformation – hätten dann der Moralismus und die Konzentration auf das Sexuelle eine zentrale Rolle gespielt. Gegen die Beichte als Instrument der sexuellen Unterdrückung und der klerikalen Kontrolle habe es früh Widerstände gegeben. Als erste hätten sich im 19. Jahrhundert die Männer dieser Kontrolle erfolgreich entzogen. Mit dem Umbruch der 1960er-Jahren seien nun die Frauen gefolgt. Für die Popularkultur der Authentizität mache die Sexualität einen wesentlichen Bestandteil der Identität aus. Die Rehabilitierung des Körpers und die Gleichheit der Geschlechter stellten zentrale Motive der Kultur der Authentizität dar. Für die katholische Kirche tragisch schätzt Taylor den Zeitpunkt der Kulturrevolution ein: Sie setzt sich genau zu demselben Zeitpunkt durch, als die katholische Kirche auf dem II. Vatikanum sich von Klerikalismus, Moralismus und angstbesetztem Glaubensgehorsam zu verabschieden beginnt. Die Kulturrevolution trägt dazu

24

Ebd. 811.

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Karl Gabriel

bei, dass die Klerikerkirche aus Angst um ihre eigene Autorität am vorkonziliaren Moralismus festhält. „Tatsächlich scheint der Vatikan, was den Bereich der Sexualität angeht, derzeit den strengsten Moralismus beibehalten und keine Regeln abschwächen zu wollen. Das Resultat ist, dass Menschen mit ‚irregulärem‘ Sexualleben automatisch die Sakramente verweigert werden (sollen), während es für noch nicht überführte Mafiosi kein Hindernis gibt, ganz zu schweigen von unbußfertigen Großgrundbesitzern in der Dritten Welt und römischen Aristokraten, die genügend Einfluss haben, um sich eine ‚Annullierung‘ zu verschaffen“.25

7.

Krise der katholischen Kirche im Zeitalter der Authentizität

Der Katholizismus hat seit den 1960er Jahren einen tiefgreifenden Umbruch seiner gesellschaftlichen Lage erlebt. Er fällt mit dem Jahrzehnt des II. Vatikanischen Konzils zusammen, was innerkirchlich die Brisanz der Entwicklung verschärft hat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich eine Form der modernen Gesellschaft herausgebildet, in der die aus dem Zeitalter der Konfessionalisierung stammende Verflechtung von Thron und Altar durch eine Mobilisierung der Katholiken zum Schutz ihrer Kirche ersetzt wurde. Die Grundlage boten Gegenbewegungen gegen die mit antikatholischer und antiklerikaler Stoßrichtung betriebene Modernisierung durch liberale Eliten. Die Entwicklung war eingebettet in eine für das 19. Jahrhundert charakteristische Dialektik von Säkularisierung und Sakralisierung.26 Für drei bis vier Generationen wurde der Schutz des Staates für die katholische Religion erfolgreich ersetzt durch den Aufbau einer mit klaren religiös-kulturellen Grenzen versehenen katholischen Sonderwelt mit eigenen Strukturen und Milieus. Die zentralisierte und sakralisierte Kirchenorganisation mit einem charismatischen Papsttum an der Spitze erwies sich als erfolgreicher Angelpunkt der Neustrukturierung der katholischen Religion in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

25 26

TAYLOR, Zeitalter, 841. Vgl. GABRIEL, Das 19. Jahrhundert.

Religiöse Individualisierung und Authentizität

129

Im Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 hat dieses Verflechtungsmuster von katholischer Religion und moderner Gesellschaft sein Ende gefunden. Seitdem ist ein relativ kontinuierlicher Entkirchlichungsprozess zu beobachten, der in Westeuropa überall dort einen spezifisch dramatischen Verlauf aufweist, wo die Ausbildung einer katholischen Subkultur und katholischer Milieus besonders erfolgreich war, wie in den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Schweiz und Belgien. Es macht die gegenwärtige Krise der katholischen Kirche aus, dass sie bis heute keine überzeugende Antwort auf ihre veränderte gesellschaftliche Lage seit Beginn der 1970er-Jahre gefunden hat. Vom römischen Zentrum aus hat sich eine Richtungsentscheidung durchgesetzt, die an den neuen theologischen Akzenten des II. Vatikanums vorbei auf Kontinuität mit dem einmal gefundenen Pfad setzt. Dies kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass die Zentralisierung der Kirchenorganisation weiter verschärft und durch die Neufassung des kirchlichen Gesetzbuchs mit juristischen Mittel zementiert wurde.27 In Deutschland zwingen die Festlegungen auf eine im zölibatären Priestertum repräsentierte sakrale Kirchenorganisation zu weitreichenden Umstrukturierungen der Pfarreistrukturen an der Basis. Mit dem leitenden Pfarrer an der Spitze großer Seelsorgseinheiten erhält die Kirchenorganisation eine neue Hierarchieebene und die lokale Ebene des kirchlichen Lebens verliert an Gewicht. Weitreichende Anpassungen an neuere gesellschaftliche Entwicklungen – man denke nur an die Medialisierung des Katholizismus – und Innovationen lassen sich überall dort beobachten, wo sie sich mit der aus dem 19. Jahrhundert stammenden zentralistischen und klerikal geprägten Struktur der Kirche verbinden lassen. Auf zentralen Feldern, auf denen Innovationen unbedingt erforderlich wären, scheint sich die katholische Kirche aber selbst im Wege zu stehen. Auf die Frage, wie eine überzeugende Glaubenspraxis ohne traditionelle Milieueinbindung und unter den gegenwärtigen Bedingungen von Individualisierung und Authentizität aussehen könnte und welche Sozialformen sie benötigt, gibt es keine Antwort. Theoretisch ist klar, dass die Zukunft des Katholizismus nur gemeistert werden kann, wenn es gelingt, eine breite Schicht von Gläubigen zu gewinnen, die sich aus Glaubensgründen an die Kirche bindet und bereit ist, vor Ort Verantwortung für das kirchliche Leben zu übernehmen. Wo beginnt man von dieser Herausforderung her entschieden zu denken und zu planen? Die Schere im Kopf, man könne dabei festgezurrte Strukturfestlegungen be-

27

Vgl. KAUFMANN, Kirchenkrise, 166–170.

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Karl Gabriel

rühren, erzeugt Lähmung. So bleibt man verstrickt in Strukturfragen – auch und gerade dort, wo man behauptet, sie seien angesichts der heutigen Glaubens- und Gotteskrise zweitrangig. Die Selbstblockaden, in die sich die katholische Klerikerkirche hinein manövriert hat, erscheinen einigermaßen unverständlich angesichts des Umstands, dass das II. Vatikanische Konzil auf theologischer und pastoraler Ebene seit 50 Jahren Lösungen für die konstatierten Probleme bereithält. Voraussetzung für deren Wirksamkeit wäre auf Seiten der Kirchenleitungen die Bereitschaft, die Konzilsbeschlüsse im Lichte der neueren gesellschaftlichen Entwicklungen zu interpretieren und Diskontinuitäten zur Theologie und Realität der vorkonziliaren Kirche zuzulassen. Das zentrale Wertmuster der „Sakralisierung der Person“ hat die katholische Kirche in der konziliaren Erklärung zur Religionsfreiheit explizit zu ihrem eigenen Anliegen gemacht. Im Außenverhältnis wurden daraus sichtbare Konsequenzen gezogen, nicht aber im Innenverhältnis. Die Pastoralkonstitution hat die Kirche dazu verpflichtet, die „Zeichen der Zeit“ zu einer unabdingbaren Komponente ihrer Identität zu machen. Dies impliziert eigentlich die Legitimation theologisch und pastoral begründeter Diskontinuitäten. Die dogmatische Konstitution über die Kirche hat die vorrangige Identität der Kirche als Volk Gottes gleicher Würde aller Gläubigen begründet und Hierarchie und Klerus eine Dienstfunktion für Glaube und Kirche zugesprochen. Damit hat das Konzil eigentlich einer sich verselbstständigenden Klerikerkirche die Grundlage entzogen. Am Schluss knüpfe ich noch einmal an meine Ausgangsfrage an. Es hat sich gezeigt, dass Struktur und Kultur der Individualisierung und Authentizität die Lage von Christentum und Kirche seit den sechziger Jahren tiefgreifend verändert haben. Säkularisierungsprozesse prägten schon das 19. Jahrhundert. Die durch das Konzept von Authentizität auf die Spitze getriebenen Individualisierungsprozesse machen gegenwärtig aber die wohl größte Herausforderung für Kirchen aus. In ihrer pastoralen Praxis waren die Kirchen an vielen Stellen bemüht, sich der neuen Situation zu stellen. Ihre Glaubensgewissheiten wie insbesondere ihre institutionellen Strukturen sind unter heftige Spannungen geraten. Mit ihren sakralisierten Strukturfestlegungen, die im Grunde bis in die Zeit der Kirchenreform des 11. und 12. Jahrhunderts zurückreichen, steht die katholische Kirche im Zentrum der Anfragen. Will sie sich und ihrer Botschaft nicht selbst im Weg stehen, muss sie Organisationsformen finden, die auch durch Individualisierung und Authentizität geprägten Menschen den Weg zum christlichen Glauben ermöglichen.

Religiöse Individualisierung und Authentizität

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3. Philosophische Bestimmungen

Michael Hofer

Undarstellbarkeit und expressives Ideal Dimensionen personaler Authentizität

„aber ein unhinterfragtes Leben ist dem Menschen unerträglich“ Platon, Apologie 38a

I.

Grundlagen und Ausdifferenzierungen

Seit geraumer Zeit gehört das Wort „Authentizität“ zum Vokabular; und zwar nicht nur innerhalb von – im besonderen – sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachsprachen, vielmehr ist dieses Wort auch in die – jedenfalls deutsche – Umgangssprache eingewandert. In unterschiedlichsten Zusammenhängen kann einem dieser geradezu zum Schlagwort gewordene Ausdruck begegnen. Es ist daher kein Zufall, dass die Vagheit dieses Begriffs nicht nur wahrgenommen, sondern auch immer wieder beklagt wird. Diese vielfachen Verwendungsweisen sind auf die unterschiedlichen Bedeutungsnuancen zurückzuführen: Authentizität hat etwas mit Echtheit zu tun; worin aber das Echte besteht, hängt wesentlich von den Bezugsgliedern ab. Die Echtheit kommt durch eine Art Deckung zwischen den jeweiligen Gliedern, einem Ursprung bzw. Urheber und einer jeweiligen Erscheinungsweise zustande. Mit der Rede von Authentizität ist also eine Relation in Gestalt einer Deckung angesprochen. Um die Vielfalt der Verwendungen zu ordnen, kann man sich mit folgender Einteilung, die auf drei Arten von Authentizität hinausläuft, behelfen: Es lässt sich so etwas wie eine historische Authentizität ausmachen, die die jeweilige Erscheinungsweise einer Institution oder anderer Gegebenheiten (eines Textes als Quelle bzw. Urkunde, eines Bildes) an dem Deckungsgrad mit dem jeweiligen historischen Ursprung bemisst. So kann ein Bericht als authentisch gekennzeichnet werden, wenn es – gemessen an den berichteten Ereignissen – tatsächlich so stattgefunden hat; ein Bild kann als Original ausgewiesen werden, sofern die Urheberschaft des Künstlers sichergestellt ist und

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Michael Hofer

eine Tradition oder auch eine Institution ist authentisch, wenn sie ununterbrochen so gepflegt bzw. von Anfang an so vorhanden war. Zweitens lässt sich dann von einer hermeneutischen Authentizität reden, die sich auf die Deckung einer Interpretation mit dem Text bezieht.1 Darüber hinaus lässt sich aber auch bezüglich einer Person von Authentizität sprechen; in diesem Fall einer personalen Authentizität ist eine Deckung bzw. Entsprechung zwischen einem „Selbst“ und einer Erscheinungsweise, wie es also in seinem Verhalten und seiner Leibhaftigkeit zum Ausdruck kommt, gemeint. Diese Dimension von Authentizität ist im öffentlichen Sprachgebrauch besonders häufig und auch der Stellenwert, der dem „Authentischen“ beigelegt wird, ist enorm.2 Was authentisch ist bzw. als solches gilt, erfährt Wertschätzung. Im Folgenden soll das Augenmerk ausschließlich auf die personale Authentizität gerichtet sein. Ein Verständnis von Authentizität lässt sich anfanghaft konturieren unter Zuhilfenahme von Gegensätzen, die damit in Verbindung gebracht werden können. „Authentisch“ weist auch die Bedeutungsnuancen von originell in Differenz zu angepasst auf, außerdem können damit Vorstellungen von Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit in Verbindung gebracht werden, die eher in die Richtung von wild und roh gehen im Gegensatz zu zivilisiert oder eher als Naivität gefasst werden im Gegensatz zu Reflektiertheit.3 Um letzteres zu verdeutlichen, sei auf folgendes hingewiesen: Kinder gelten aufs Erste – und in vielerlei Hinsicht bzw. Zusammenhängen sicherlich zurecht – als unmittelbar und unbefangen, insofern als authentisch. Zugleich kennt man aber auch eine ganz eigene Affektiertheit, die wiederum mit der angesprochenen Reflektiertheit zu tun hat. Ein eindrückliches Beispiel findet sich in folgender Schilderung eines Kindheitserlebnisses: 1

2

3

Die Formulierung der Beziehungsglieder ist hier absichtlich allgemein gehalten, um hermeneutische Festlegungen jedenfalls im Sinne einer intentio auctoris oder operis zu vermeiden. Herkömmlich wird die sog. authentische Auslegung freilich mit Bezug auf die Absicht des Verfassers unternommen, vgl. dazu z. B. KANT, Der Streit der Fakultäten, 336 [A 109]: „Im ersteren Fall [der authentischen Auslegung, M.H.] muss die Auslegung dem Sinne des Verfassers buchstäblich (philologisch) angemessen sein“. Z. B. kann man immer wieder lesen, dass diverse Studien zum Ergebnis kommen: Authentizität sei die bei weitem wichtigste Eigenschaft eines guten Managers. Authentizität werde von Mitarbeitern generell höher bewertet als Fachkompetenz, Einfühlungsvermögen oder Belastbarkeit: vgl. KLÄSGEN, Ohne Maske, 73. Diese Gegensatzpaare verdanken sich A. ASSMANN, 29.

Undarstellbarkeit und expressives Ideal

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„Sehr früh war mein gutes Gedächtnis aufgefallen, und auch mein Feuer für Gedichte die ich gelesen und mir sofort eingeprägt hatte, war nicht unbemerkt geblieben. Man forderte mich auf zu deklamieren was ich kaum zu buchstabieren gelernt hatte, und das Lächeln über die kindische Wichtigkeit und Feierlichkeit, die ich meinem Vortrage gab, war nicht immer nur dasjenige einer harmlosen Belustigung, es war schon das der Rührung und des Erstaunens. Ich war geweckt genug um dies bald wahrzunehmen und mir in meiner Weise auszulegen, hatte schließlich etwas wie Rollen und ein Repertoire, das die Erwachsenen kannten, aus dem sie für mich wählten, und so war ich bald um alle Unbefangenheit gebracht und auf dem Wege die Musterstücke eitler Unleidlichkeit, wie sie in Berliner Häusern bei starker geistiger Treibung Aller durch Alle nichts seltenes waren durch ein weiteres zu vermehren, ohne daß einer mich bewahrte und zurechtrückte. Ich hatte mich daran gewöhnt, Urteile und Emotionen von denen ich Zeugnis ablegte, sofort aufgegriffen, ernst genommen, besprochen zu sehen, und mich durchaus im Mittelpunkte eines Interesses zu fühlen, das keineswegs meinen Fortschritten in Schulfächern und Species, sondern allgemein meiner Begabung oder meinem Naturell galt. So war es denn nicht verwunderlich daß ich eines Sonntags, im Wagen meiner Großmutter mit ihr durch den Tiergarten fahrend, in der Nähe der Hofjägerallee die bedenkliche Feststellung wagte, dies sei die Stelle an der sie, die Großmutter sich so darüber gefreut habe, daß ich solche Freude an der Natur hätte: Die kindische Selbstgefälligkeit mit der ich diesen Satz vergnügt zu Ende brachte wurde heftig durchbrochen. Ich hatte plötzlich zwei scharfe Backenstreiche erhalten, mein Gesicht brannte, Tränen des Schmerzes und der unglücklichsten Beschämung traten mir ins Auge, ich wollte aufbegehren, fragen, etwas vorbringen, aber die Worte stockten mir“.4

Das Beispiel ist aber auch noch in anderer Hinsicht aufschlussreich: Die Reflektiertheit des Kindes, das sich darüber ausspricht, dass sich die Großmutter gefreut habe über die Freude des Kindes, ist als solche nicht unehrlich, der ausgesprochene Sachverhalt vermutlich auch wahr, aber das Verhalten wird kaum als authentisch qualifiziert werden. Kann man daraus entnehmen, dass Authentizität etwas, das über Aufrichtigkeit hinausgeht, meint, gewissermaßen mehr meint? Was aber ist damit dann näher hin gemeint? Mit Sicherheit ist es keine Übertreibung festzustellen, „dass das Thema so ausgreifend, ja nahezu deckungsgleich mit der Kultur von vier Jahrhunderten ist“.5 Mit dem Themenfeld Authentizität sind Fragestellungen und Entwicklungen in komplexer Weise verbunden, die auseinander- und darzulegen tiefgehender Begriffs- und Kulturgeschichten bedürfte, die in unterschiedlicher Form unternommen wurden und werden und Erörterungen bezüglich des Gedankens des Individuums und der Autonomie zur Verfü-

4 5

BORCHARDT, Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt, 98–99. TRILLING, Das Ende der Aufrichtigkeit, Vorwort.

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gung stellen.6 Zweifellos ist die gehaltvolle Auffassung eines Individuums mit seiner einzigartigen Lebensgeschichte und seiner charakterlichen Eigenart ebenso wirksam für unsere Fragestellung, wie die Forderung nach freiheitlich-moralischer Selbstbestimmung;7 damit einher gehen in der Folge auch Fragen der Selbsterkenntnis, der Selbstverwirklichung und der Selbstachtung, deren Denkbarkeit und Möglichkeit. Allesamt Fragestellungen, wie sie in vielerlei Hinsicht auch in der Philosophie seit der Neuzeit vordringlich und zentral wurden. Darüber hinaus werden aber auch kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte relevant, die – um nur einige zu nennen – etwa in Gestalt der Organisation moderner Arbeitswelt und deren Trennung von Arbeit und Freizeit ebenso zu berücksichtigen sind8 wie die Ausdifferenzierung in unterschiedliche soziale Rollen, die wir wahrzunehmen haben, als auch die – in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit findende – Tatsache der Beschleunigung und rasanten Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse.9 Auch die zunehmende Bedeutung des Geldes durch Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist dabei von Gewicht, sofern man Geld als „Prinzip des Nicht-Authentischen“10 auffassen kann: Es ermöglicht Bedürfnisse zu befriedigen, die man gar nicht hat, sondern die beim Konsumenten erst geweckt werden; außerdem kann man nicht nur dem Irrtum erliegen, alles kaufen zu können – „wahre Gefühle“ als Ware, um es schlagwortartig zu formulieren.11 Darüber hin-

6

7 8 9 10 11

Vgl. dazu z. B. die großen Arbeiten von Charles TAYLOR, Sources of the Self (1989); ders., A Secular Age (2007); außerdem die Skizze: ders., The Ethics of Authenticity (1991, zuerst veröffentlicht unter dem Titel The Malaise of Modernity). Vgl. z. B. SCHNEEWIND, The Invention of Autonomy. Vgl. dazu für die jüngere Vergangenheit REINHARDT, Authentizität und Gemeinschaft, 57–90. Vgl. ROSA, Beschleunigung, 352–390 (Kap. XI: Situative Identität: Von Driftern und Spielern). TRILLING, Das Ende der Aufrichtigkeit, 118. Für die zunehmende Herrschaft des Geldes lässt sich – zeitlich markant – als Beispiel der „Barbier von Sevilla“ (Beaumarchais 1775) in den beiden Vertonungen, einmal von Paisiello (1782) und dann von Rossini (1816 mit dem Libretto von Sterbini) namhaft machen. Bei Paisiello liebt Bartolo, der ältliche Arzt und Vormund, Rosina tatsächlich: Seine Zuneigung ist ehrlich und echt. Graf Almaviva hingegen will verführen und Rosina will Veränderung. In dem Lustspiel macht man sich über den Alten – Bartolo – lustig; er ist – auch in seinem Empfinden? – von gestern und komisch. Am Ende setzt sich der Graf aufgrund seines Standes und Geldes durch und heiratet Rosina. Bei Rossini findet sich eine signifikante Än-

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aus verdienen Prozesse der Bewirtschaftung so gut wie aller Lebensbereiche durch weltumspannende Erzeuger sogenannter Markenartikel Beachtung; und die zunehmende Forderung der Selbstpräsentation – sei es bei der Arbeits- und der Wohnungssuche oder der Partnerwahl über Internetportale – sollte ebenfalls im Zusammenhang einer Kultur der Individualität und der Authentizität nicht übergangen werden. Bei personaler Authentizität geht es, um eine weitere Formulierung zur Kennzeichnung einzuführen, darum, sich selbst treu zu sein oder treu zu bleiben. Das ist – erneut – ein Hinweis, dass es dabei um etwas zu tun ist, das über Aufrichtigkeit hinausgeht. Jedenfalls stellt Aufrichtigkeit eine moralische Qualität dar im Gegensatz zur Lüge. Aufrichtigkeit wird dabei üblicherweise mit Äußerungen verbunden: wer sagt, was sie oder er denkt bzw. fühlt, gilt als aufrichtig; als offenherzig mag gelten, wer alles sagt, was er weiß. Wahrhaftigkeit kann ebenso als Kennzeichnung für beides – Aufrichtigkeit und Offenherzigkeit – gelten, reicht aber vermutlich darüber hinaus, insofern das Wort in jedem Fall auch für Handlungen Anwendung findet und damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass jemand für das einsteht, was er sagt bzw. denkt, da er es für richtig hält und danach auch handelt. Dabei bedarf es allerdings noch einer Ergänzung: Wahrhaftigkeit im angesprochenen Sinn wird wohl nur zuerkannt in Bezug auf breiter akzeptierte und wertgeschätzte Einstellungen und Überzeugungen. Wenn etwa jemand kein Hehl daraus macht, dass er nicht willens sei, Vereinbarungen zu halten, und dem entsprechend auch handelt, wird man kaum von Wahrhaftigkeit sprechen. Aufrichtig und wahrhaftig kann man immer in zweifacher Hinsicht sein: sich selbst als auch den anderen gegenüber; Offenherzigkeit gilt dagegen nur im Umgang mit anderen. Ist man bereit, diesen Unterscheidungen etwas abzugewinnen, dann wird dadurch das vielfältige und schillernde Verhältnis von Aufrichtigkeit und Authentizität im personalen Sinne augenfällig. Denn unterschiedliche Ausgestaltungen des Verhältnisses werden nun denkbar: Am einfachsten liegen die Dinge, wenn jemand als aufrichtig und authentisch zugleich erfahren wird. Vermutlich gilt: Wer aufrichtig ist, wirkt authentisch. Allerdings sind auch andere Konstellationen denkbar und oben war bereits davon die Rede, dass Authentizität über Aufrichtigkeit hinausgehe. Demnach kann es sich ergeben, dass jemand zwar aufrichtig ist, aber dabei nicht authentisch ist oder wirkt, weil er gewissermaßen gegen seine Absicht die derung vom wahren Gefühl hin zum Geld: Rosina ist reich und ihr Vormund Bartolo ist v.a. an ihrem Geld interessiert.

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Wahrheit sagt, ihm diese – wie es in solchen Fällen bezeichnenderweise heißt – „herausrutscht“. Bei den beiden bislang genannten, möglichen Verhältnissen können Selbst- und Fremdwahrnehmung zusammenfallen, d. h. eine Person wirkt so nach außen hin und erfährt sich auch selbst so. Möglicherweise lässt sich dieses Zusammenfallen von Innen und Außen auch noch für den folgenden Fall aufrecht erhalten: Jemand kann unaufrichtig sein und darin authentisch – weil es sich dabei um seine Eigenart handelt. Aber ist es dann auch denkbar, dass jemand als unaufrichtig und als nicht authentisch erfahren wird? Wenn jemand – wie es landläufig heißt – als verschlagen wahrgenommen wird: Trifft dies nur auf den drittgenannten Fall, das Zusammentreffen von Unaufrichtigkeit und Authentizität, zu? Zögert man, diese Kennzeichnung beim letztgenannten Fall anzubringen? Warum? – Vor allem stellt sich die Frage, wer das Ineinsfallen beziehungsweise die Divergenz von Selbst- und Fremdeinschätzung feststellen kann. Anhand dieser Überlegungen sollte auf folgendes aufmerksam gemacht werden: Ist es denkbar, dass Authentizität höher bewertet wird als Aufrichtigkeit? Sofern man Authentizität als Erfahrung der Deckung bzw. Entsprechung, oder noch hilfreicher in diesem Zusammenhang, als ein Treusein sich selbst gegenüber ansieht, dann sollte sich diese Frage mit Ja beantworten lassen.12 Damit soll nicht gesagt sein, dass es zu einer moralischen Indifferenz gegenüber Aufrichtigkeit und Verlogenheit gekommen sei. Vielmehr soll deutlich gemacht werden, dass Aufrichtigkeit als moralische Qualität nicht mehr das größte Gewicht hat, sondern Authentizität Aufrichtigkeit überflügeln kann. Dies mag darüber hinaus auch ein Hinweis sein, dass Authentizität keine moralische Qualität sein muss. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die vorauf geschilderten Verhältnisbestimmungen unterschiedlich gewichtet werden können, abhängig von jeweils zugrunde liegenden und von einander abweichenden Annahmen: Es kann die Auffassung vertreten werden, dass Aufrichtigkeit und Authentizität mehr oder weniger übereinkommen und dasselbe meinen, dass Aufrichtigkeit zur Authentizität führe bzw. führen könne oder dass Aufrichtigkeit von Authentizität abgelöst werde. Im folgenden wird zu zeigen sein, dass personale Authentizität in einem bestimmten Sinne entlang eines Kern-Modells aufgefasst werden kann. Diesem Modell liegt die Annahme eines wahren Selbst als Kern zu-

12

Dies ist im Wesentlichen die These, die L. Trilling vertritt.

Undarstellbarkeit und expressives Ideal

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grunde. Dem gilt der Abschnitt II. Mit Hilfe des Kern-Modells können Erfahrungen des Entzugs des wahren Selbst artikuliert werden: Sich nicht ausdrücken können oder auch sich nicht ausdrücken wollen, liegen dem als Erfahrung zugrunde. Zugleich kennen wir aber auch Erfahrungen, in denen der Ausdruck unserer selbst zu gelingen scheint, wir mit uns zur Deckung kommen. Darüber hinaus gibt es auch den Anspruch, sich ausdrücken und zeigen zu wollen. Ist hier das Kern-Modell ebenfalls hilfreich? Es wird in Abschnitt III zu zeigen sein, dass bezüglich des expressiven Ideals ein anderes Modell zur Artikulation hilfreich ist: das Projekt-Modell. In Abschnitt IV wird eine Korrespondenz dieser beiden Dimensionen von Authentizität – expressives Ideal und Undarstellbarkeit – mit anthropologischen Grundgegebenheiten des Sich-Zeigens und Verbergens aufgewiesen. Als Explikationshilfen wird auf Beispiele aus der Literatur zugegriffen, um bloß subjektive Einschätzungen und Schilderungen, die sich vermeintlich – aber recht besehen doch nur dem Verfasser – aufdrängen, zu vermeiden.

II.

Das Kern-Modell

Die Entsprechung, die mit der Rede von der Authentizität zum Ausdruck gebracht werden sollte, ist eine zwischen Selbst und seiner Erscheinung. Diese anfangs gegebene Bestimmung kann nun weiter angereichert werden. Das Selbst, das den Referenzpunkt abgibt, wird oft als das eigentliche oder wahre Selbst gekennzeichnet. Diesem gilt es zu entsprechen. Dies bringt, bei genauerem Hinsehen, einiges an Schwierigkeiten mit sich. Die erste Schwierigkeit lässt sich folgendermaßen kennzeichnen: Es ist denkbar – und mannigfache Zeugnisse lassen sich dazu angeben –, dass dieses wahre Selbst zwar den Kern der jeweiligen Person abgibt, aber als solcher das „Unverfügbare“13 darstellt, das von den jeweiligen Erscheinungen nicht erreicht wird. Erneut vermag die oben eingeführte Geschichte des kleinen Rudolf Borchardt einen Fingerzeig zu geben bzw. seine darin zu Wort kommende Großmutter, die mit folgender Bemerkung widergegeben wird: „es sei manchmal viel besser, die Worte nicht zu finden als sie parat

13

ASSMANN, Authentizität, 29.

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zu haben, und stecken zu bleiben, statt Applaus zu ernten“.14 Es sind also Situationen denkbar, in denen es authentischer ist, nichts zu sagen. Diese Undarstellbarkeit muss nicht nur eine negative Erfahrung im Sinne des Unzulänglichen abgeben. Es kann auch sein, dass man sich nicht zeigen, sondern schützen will. Allerdings kann die genannte Schwierigkeit auch tiefer gehen: Nicht nur manchmal, sondern grundsätzlich ist es nicht möglich, unser eigentliches Selbst auszudrücken, denn: Es ist „transzendent, unspielbar und undarstellbar“.15 Nietzsche formuliert pointiert: „Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Tier“.16 Vor dieser Position erweist sich alles äußere Gehabe als möglicherweise inszeniert; selbst körperliche Merkmale wie vor Wut oder aus Scham rot werden, können gespielt sein. Lässt sich aber nur Äußeres hinterfragen? Aufs Erste kann diese Auffassung als kritisch gegenüber äußeren Erscheinungsformen genommen werden. Angesichts des Befundes kann man nun bemüht sein, dennoch annäherungsweise unser wahres Selbst – also wissend um die Uneinholbarkeit – zum Ausdruck zu bringen; d. h. der Befund zieht nicht notwendigerweise nach sich, die Erscheinung unserer selbst als bloßen – im Sinne von trügerischen – Schein abzutun. Diese Unterscheidung zwischen undarstellbarem wahren Selbst und jeweiliger Erscheinung setzt aber auch eine Art Wissen um dieses Selbst voraus, um die jeweiligen Erscheinungsweisen zurückweisen zu können. – Kann dieser Verdacht des Gespieltseins aber nicht noch weiter verschärft werden und damit auch auf das eigene Innere ausgedehnt werden? Welche Gefühle sind tatsächlich echt? Oder allgemeiner gesprochen: Wie weit ist Selbsterkenntnis überhaupt möglich, die mein wahres Selbst zum Gegenstand hat? Aus der Undarstellbarkeit ist durch diese Verschärfung die Unzugänglichkeit geworden. – Hier hat nun allerdings Authentizität aufgehört, eine Relation zu bezeichnen. Vielmehr meint sie nur noch den unberührbaren und undarstellbaren, ja möglicherweise unzugänglichen Kern unseres wahren Selbst, der eine „Leerstelle“ ist, ein Grenzbegriff, der anzeigt, wo unser

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16

BORCHARDT, Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt, 99. ASSMANN, Authentizität, 35. Als Beispiel wird Hamlet I. Akt, 2. Szene, 75–86 angeführt: Weder sein tintenschwarzer Mantel, noch feierliche schwarze Kleidung, ebenso wenig Seufzen, Tränen oder ein betrübtes Gesicht wie alle Formen, Arten und Gestalten des Leids können sein wahres Ich ausdrücken („… that can denote me truly“: SHAKESPEARE, Hamlet, 1144). NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse IX 291, zitiert nach der Kritischen Studienausgabe (KSA), Band 5, 235.

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Erkennen an Grenzen stößt. Freilich, für diese Fragen und die Position, dass das wahre Selbst unerkennbar sei, bedarf es erkenntnistheoretischer Zurüstungen, die z. B. prominent von Kant vorgenommen wurden mit seiner Unterscheidung von Ding an sich und der Erscheinung. Wir werden auf den Stellenwert der Selbsterkenntnis für das Verständnis von Authentizität zurückkommen. Zu beachten ist, dass ein Bewusstsein dieser Undarstellbarkeit auch dazu führen kann, jeweilige Erscheinungsformen eines Selbst vom Gegenüber her zu relativieren und Anerkennung walten zu lassen: Die Anerkennung nämlich, dass die sich zeigende Andere immer mehr ist, als wie sie sich zeigt. Zugleich soll nicht übersehen werden, dass diese Undarstellbarkeit auch dahingehend wirksam werden kann, sich gegen von außen herangetragene Zumutungen zur Wehr zu setzen und – sofern nicht die völlige Unzugänglichkeit des Selbst behauptet wird – sich um entsprechende Ausdrucksgestalten seiner selbst zu bemühen. Im Rahmen von Verinnerlichungstendenzen, wie sie durch jüdischchristliche Traditionsströme wirksam wurden, war dieser innere Kern einer Person ein möglicher Ort der Begegnung von Gott und Mensch geworden, wodurch Selbsterkenntnis zustande kommt. Damit ist – darauf zielt die Rede von Verinnerlichung – etwas anderes gemeint, als das logistikon, das als Vermögen der Seele Erkenntnis ermöglicht (also – gemäß dem griechischen Sprachgebrauch – die Tugend der Seele ausmacht, sodass diese zur Erkenntnis taugt): nämlich sowohl Selbsterkenntnis als auch Erkenntnis Gottes. Selbsterkenntnis ist hier aber nicht in einem individuellen Sinne zu verstehen, sondern meint die Erkenntnis dessen, was einen Menschen ausmacht. Der Mensch ist wesentlich Seele, weil diese den Körper regiert. Sorge um sich selbst ist Sorge um die Seele. Diese Sorge besteht auch darin, dass die Seele sich selbst erkennt: Das geschieht in der Wendung auf sich selbst in Gestalt des erkennenden Vermögens. In dieser Selbstreflexion erkennt die Seele den vernünftigen „Teil“ ihrer selbst als gottähnlich und insofern als „gottfähig“, d. h. fähig, Gott zu erkennen. Hier wird das Programm einer Wesensbestimmung des Menschen verhandelt und keine individuelle Selbsterkenntnis. Das „Erkenne Dich selbst“ meint also sowohl die Selbsterkenntnis des Menschen im Abstand zu Gott17 und stellt

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Diese Auffassung des „Erkenne dich selbst“ hält sich bis in die Neuzeit durch und wird – im Zeichen des Abstands zu Gott – als Aufgabe der Einsicht in die Sterblichkeit gedeutet: vgl. z. B. das auf 1529 datierte Bild von Lukas Furtenagel im

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zugleich die Aufforderung dar, sich im Rahmen der Selbsterkenntnis – als dem Bewusstwerden des gottähnlichen Nous – auch der Aufgabe zu stellen, Gott zu erkennen.18 Der Aufstieg zu Gott ist insofern äußerlich, als er bei Platon z. B. durch sinnliche Wahrnehmung angeregt wird und „objektiven Gegebenheiten“ entlang läuft oder bei Aristoteles z. B. durch die Betrachtung der Gestirne seinen Auftakt nehmen kann. Darüber hinaus ist auch die Äußerlichkeit bezüglich der Auffassung der Individualität zu beachten: Das, was die Person X von der Person Y unterscheidet, ist die jeweilige Portion von Fleisch und Knochen und deren Beschaffenheit.19 Diese Auffassung einer rein materiell gefassten Individualität ändert sich durch das Aufkommen des Christentums. Die Lebensgeschichte und die Eigenart des Charakters, das „Herz“, werden zu unverwechselbaren Merkmalen des Individuums. Mit dieser Verinnerlichung geht auch einher das Erfahren der eigenen, unauslotbaren „Tiefe“. Als Topos können dafür die Confessiones des Augustinus gelten, wenn er festhält: „Grande profundum est ipse homo“, von dem deshalb gilt, dass „selbst noch seine Haare, die Du, Herr, gezählt hast, und deren keines verlorengeht bei Dir, leichter zu zählen“ sind, „als was sich regt und wegt in seinem Herzen“.20 Gott wird hier erfahren als derjenige, der in meinem Inneren ist; und genauso gilt, dass ich in ihm bin. Ich brauche Gott daher gar nicht zu bitten, dass er zu mir komme.21 Mir selbst bin ich Geheimnis, doch kann ich zur Selbst-

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20 21

Kunsthistorischen Museum Wien, das ein Ehepaar, Hans Burgkmair und seine Frau, darstellt: Die Frau, hinter ihr steht der Mann, hält einen Spiegel in der Hand, in dem sich zwei Totenköpfe „abspiegeln“. Auf dem Rand des Spiegels steht „Erken dich selbs“; am Bildrand rechts oben ist die Inschrift zu lesen: „Solche Gestalt vnser baider was, im Spiegel aber nix dan das.“ Die beiden Personen schauen dabei aus dem Bild heraus, geradezu auffordernd auf den, der vor dem Bild als Betrachter zu stehen kommt. Vgl. dazu PLATON, Alkibiades I, 129b ff. So heißt es 130e: „Die Seele also befiehlt uns kennenzulernen, wer das vorschreibt, sich selbst zu kennen.“ In 133c ist zu lesen: „Dem Göttlichen also gleicht dieses [logistikon, M.H.] in ihr [der Seele, M.H.], und wer auf dieses schaute und alles Göttliches erkennte, Gott und die Vernunft, der würde so auch sich selbst am besten erkennen“: zitiert nach ders., Werke I, 527–637. Vgl. dazu ARISTOTELES, Metaphysik VII 8 1034 a: „Das Ganze nunmehr, die so beschaffene Form in diesem Fleisch und in diesen Knochen, ist Kallias und Sokrates; und es ist ein je Verschiedenes wegen der Materie (denn diese ist eine je verschiedene), dasselbe aber der Form nach“. IV 14,22 zitiert nach AUGUSTINUS, Confessiones / Bekenntnisse, 175. Vgl. I 2,2 (ebd. 15).

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erkenntnis gelangen in und durch Gott.22 Zu mir komme ich durch Gott23 und die Abkehr von Gott bringt demnach immer auch den Verlust meiner selbst mit sich.24 Die Lebensgeschichte wird als die ureigenste, also individuelle Geschichte mit Gott begriffen, deren Aufzeichnung dem Bewusstwerden der eigenen Persönlichkeit und der Größe Gottes dient. Zu sich selbst findet man demnach nur in Gott: Wahrhaftes Selbstsein gründet in Gott und dem Wissen darum.25 Selbsterkenntnis ist hier individuell gewendet, wenn auch der formale Rahmen einer Koppelung von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis von Platon her, wie es oben angeführt wurde, bekannt ist. Verfasst werden die dreizehn Bücher vom „cor confitens“,26 vom bekennenden Herzen: Der Titel „Confessiones“ gewinnt so einen wohl bestimmten, mehrfachen Sinn: zunächst ist mit dem Bekennen gemeint, dass Augustinus die Begebenheiten seines Lebens Gott bekennt (tibi confiteor), wobei dies – aufgrund der Nähe Gottes – am wenigsten notwendig ist. Außerdem ist mit dem Bekenntnis aber auch gemeint, Gott in seiner Größe und Macht zu bekennen (confiteor te); so gesehen stellen die anders gearteten, weil nicht persönlich gehaltenen Erörterungen der letzten drei Bücher keinen Bruch dar. Darüber hinaus sind, eine Nuance zur zweiten Bedeutung, die Bekenntnisse auch noch als Glaubensbekenntnis zu verstehen, insofern er sich zu Gott bekennt. Durch die Veröffentlichung ist klar, dass die Bekenntnisse des eigenen Lebens nun auch vor den Menschen gemacht werden;27 damit verbindet Augustinus die Absicht, den Leserinnen und Lesern als Beispiel zu dienen und sie ebenfalls zum Lobpreis Gottes und zum Glauben an ihn zu gewinnen.28 Ebenso klar bleibt für Augustinus der primäre Adressat: Der barmherzige Gott ist es, dem sein Unternehmen gilt und zu dem er spricht, nicht ein Mensch.29

22 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. II 8,16 (ebd. 91); X 2,2 (ebd. 489). Vgl. VII 10,16 „intravi in intima mea duce te“ (ebd. 335). Vgl. V 2,2 (ebd. 193) und VII 11,17 „quia, si non manebo in illo, nec in me potero“ (ebd. 337). Vgl. II 6,14 (ebd. 87) und I 20,31 „et ero ipse tecum / und ich werde ich selber sein, seiend mit Dir“ (ebd. 63). II 3,1 (ebd. 73). Vgl. X 3,4 (ebd. 491). Vgl. II 3,5 (ebd. 71f); XI 1,1 (ebd. 603). Vgl. I 6,7: „quoniam ecce misericordia tua est, non homo, inrisor meus, cui loquor“ (ebd. 21).

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Ganz anders stellt es sich bei einem Unternehmen dar, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird: den Confessions Rousseaus. Wie der Titel angibt, handelt es sich auch hier um Bekenntnisse. Der Autor bekennt, allerdings nicht vor Gott, und auch ein Bekennen der Größe Gottes ist nicht das Thema. Die Bekenntnisse richten sich in diesem Fall vielmehr an die Mitmenschen. Diesen will er sich – möglichst unverstellt – zeigen. Dabei bringt er ein kaum zu überbietendes Bewusstsein seiner Individualität, seiner Einzigartigkeit zum Ausdruck. Gegenüber der – bei Platon – allgemein zu verstehenden Selbsterkenntnis, geht es hier nur um ihn als Individuum: „Moi seul“. Ich allein. Mit diesem ausgeprägten individuellen Selbstbewusstsein geht der Anspruch einher, sich selbst zu kennen. Dies gewinnt geradezu den Charakter einer Selbstbehauptung, denn: Er ist fest entschlossen, dieses Buch beim Jüngsten Gericht vorzulegen. Dort wird – abgesehen von möglichen Gedächtnislücken – nichts hinzuzufügen sein. Es braucht hier gewissermaßen keine weitere Instanz zur Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung. Gott wird zwar angesprochen und es wird eingeräumt, dass dieser ihn kenne, jedoch gilt er nicht als Ermöglicher der Selbsterkenntnis. Dies dient lediglich zur Untermauerung von Rousseaus Anspruch auf unverzerrte Darstellung seiner selbst: „J’ai dévoilé mon intérieur tel que tu l’as vu toimeme“.30 Gott hat seinem, Rousseaus, Unternehmen gewissermaßen nichts hinzuzufügen, allein für die Versammlung einer zahlreichen Leserschaft wird er gebeten zu sorgen. In diesem Zusammenhang ergibt sich ein Punkt, den er mit Augustinus teilt: Er möchte ebenfalls, dass sein Beispiel Wirkung zeigt, und anstiften, dass seine Mitmenschen eine solche Unternehmung auf sich nehmen. Im Rahmen dieser Selbsterkenntnis werden wiederkehrende Motive sichtbar, die Ausdruck eines sich festigenden und verlässlichen Charakters sind. Durch diese Vorgehensweise soll die Persönlichkeit in ihrer Eigenart verständlich und nachvollziehbar werden.31

30 31

So zu Beginn des ersten Buches der Confessions: I, 3 (ROUSSEAU, Oeuvres complètes I, 5). Dabei ist eine Spannung nicht zu übersehen, die aus Folgendem resultiert: Vorkommnisse, in denen er andern Schaden zufügt, werden zwar erzählt, aber als bloße Episoden, nicht als Ausdruck seines Wesens präsentiert. Diese verdanken sich auch keinerlei Absicht. Damit wird aber der Charakter ausgedünnt auf den einer tugendhaften Persönlichkeit, deren es auch andere gibt. So kommt es zu einer Spannung zwischen der persönlichen Eigenart und dem Ethischen eines Charakters

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Später wird Rousseau jedoch des Umstandes gewahr, dass er seinerzeit, bei der Abfassung der Confessions, zwar im guten Glauben an seine Selbsttransparenz geleitet war, es aber dennoch zu Verzerrungen seiner Selbstdarstellung kam, die von manchen Wunschbildern geleitet war.32 – Erneut wird hier die Frage nach der Möglichkeit der Selbsterkenntnis aufgeworfen. Was lässt einen sicher sein, dass selbst die größte Aufrichtigkeit einem selbst und den andern gegenüber das wahre Selbst zum Ausdruck bringen lässt? Damit ist wieder die erste Schwierigkeit erreicht, die in der Doppelgestalt der Undarstellbarkeit bzw. Unzugänglichkeit des wahren Selbst erörtert wurde. Nun ist aber unzweifelhaft, dass es Erfahrungen einer Übereinstimmung mit sich selbst gibt. Damit steht man vor der zweiten Schwierigkeit in Gestalt einer weiteren Dimension personaler Authentizität. Noch einmal mag dafür Rousseau als Beleg angeführt werden: „Jamais je n‘ai tant pensé, tant existé, tant vécu, tant été moi, si j’ose ainsi dire, que dans ceux que j’ai faits seul et à pied“.33 Angesichts solcher Erfahrungen emphatischen Selbstseins nimmt es sich als völlig unpassend aus, einen Einwand zu formulieren, etwa in der Gestalt: „Bist Du auch wirklich sicher, dass …?“ Hier ist keine Skepsis gegenüber der Darstellbarkeit des wahren Selbst gegeben. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang der Anspruch auf Ganzheit: tant été moi – nie war ich mehr ich selbst. Vielmehr geht es geradezu darum, sich auszudrücken, sich zur Kenntnis und zur Geltung zu bringen, so wie man ist. Bislang ist uns dieser Wunsch, sich selbst, d. h. sein Selbst, auszudrücken, bei Rousseau begegnet: In den ersten Zeilen seiner Autobiographie begegnen mehrmals die Ausdrücke „sich zeigen“, „sich enthüllen“. Ein anderes, aufschlussreiches Beispiel sei hier eingeführt, um in der Sache weiterzukommen: Ein junger Mann, Stephen, bespricht sich mit seinem Freund Cranley. Dabei bringt Stephen die Rede auch auf das Zerwürfnis mit seiner Mutter, das daher komme, dass er nicht mehr in die Kirche gehe; schließlich habe er den Glauben an die Eucharistie verloren. Den Vorschlag Cranleys, bloß der Form halber, zur Beruhigung seiner Mutter, an der Messe teilzunehmen, lehnt er aber ab. Ohne

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überhaupt. Vgl. dazu WILLIAMS, Truth and Truthfulness, bes. 172–185 (Kap. 4: From Sincerity to Authenticity). Vgl. dazu die berühmte Stelle in Les rêveries du promeneur solitaire, Promenade IV (ROUSSEAU, Oeuvres complètes I, 1025). So im vierten Buch der Confessions (ebd. 162).

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auf Details der gewieften Gesprächsführung von Seiten Cranleys einzugehen, nur noch ein Hinweis: Stephen verweigert die pro forma Teilnahme am Gottesdienst übrigens nicht – wie Cranley es nahelegt – aus Furcht vor Gott, denn: Wenn es Gott gibt, kann dieser ihn immer verdammen, egal ob er der Form halber zur Kommunion geht oder nicht; sondern weil er es sich selbst schuldig ist, nicht in „lügnerische Huldigung vor einem Symbol“ zu verfallen, das für „Autorität und Ehrfurcht“ steht. Für ihn ist es eben keine Autorität mehr und er kann auch keine Ehrfurcht diesbezüglich aufbringen, obwohl es – räumt er ein – sein kann, dass die Oblate tatsächlich mehr als ein Stück Brot ist. Soweit begegnet uns hier ein Musterstück von Aufrichtigkeit. Übrigens kommt hier auch die Dimension der Selbstachtung zum Tragen. Gegen Ende des Gesprächs und zugleich gegen Ende des Buches A Portrait of the Artist as a young Man wird Authentizität als expressives Ideal zum Ausdruck gebracht: “You have asked me what I would do and what I would not do. I will tell you what I will do and what I will not do. I will not serve that in which I no longer believe, whether it call itself my home, my fatherland, or my church: and I will try to express myself in some mode of life or art as freely as I can and as wholly as I can, using for my defence the only arms I allow myself to use – silence, exile, and cunning”.34 In dieser geradezu programmatisch anmutenden Stellungnahme sind zwei Punkte für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse: Als Medium des Ausdrucks wird einerseits die Kunst angeführt, andererseits auch das Leben. Der Anspruch auf Authentizität war sicherlich am Beginn des 20. Jahrhunderts reserviert für Künstler und die Bohème. Der Anspruch findet allerdings schon damals keine Grenze an der Kunst, sondern findet auch Anwendung auf das Leben. So wie Authentizität als ästhetisches Qualitätsmerkmal an Rang verloren, ja fragwürdig geworden ist, ist umgekehrt der Anspruch auf Authentizität über das Leben von Künstlerinnen und Künstler hinaus geradezu zum Allgemeingut geworden. Darüber hinaus ist es der Aspekt der Ganzheit, der verdient hervorgehoben zu werden. Es geht darum, sich als Ganzes zum Ausdruck zu bringen. Darin wird die Distanz zu bestimmten Rollen, die wir wahrzunehmen haben, und die uns in jeweils ganz unterschiedlicher Weise beanspruchen und jeweils bestimmte Aspekte betonen, deutlich. Authentisch

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JOYCE, A Portrait of the Artist as a young Man, 281. Die deutschsprachigen Zitatfragmente vorauf: JOYCE, Stephen der Held / Portrait, 522. Der Text erschien erstmals 1914–15 in der Zeitschrift Egoist, als Buch 1916.

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wären wir also dann, wenn es uns gelingt, uns ganz zum Ausdruck zu bringen; unser Ausdruck dem entspricht, was bzw. wer wir sind. Also eine Entsprechung zwischen unserem wahren Selbst und dem Ausdruck, wie er in Worten und Taten in Erscheinung tritt. Dabei ist nun die Kehrseite der vorauf diskutierten Auffassung von Authentizität erreicht, die einen gleichsam unberührbaren Kern annahm, der sich eben nicht ausdrücken lässt. Um Authentizität als expressives Ideal vertreten zu können, müssen in jedem Fall die oben zur Stützung der Undarstellbarkeit genannten Schwierigkeiten entkräftet werden. Von besonderem Gewicht sind dabei diejenigen, die Selbsterkenntnis betreffen. Nun mag es beide Dimensionen und die entsprechende Erfahrung geben: Einmal die Erfahrung des Gelingens, sodass ich ganz ich selbst bin, und im Gegensatz dazu die Erfahrung der Unzulänglichkeit eines jeden Ausdrucks gegenüber mir selbst. Dies ist grundsätzlich vereinbar, sobald klar ist, wie sich das expressive Ideal denken lässt. Schwieriger ist es hinsichtlich der grundsätzlicheren Version, die auf Unzugänglichkeit zielte. Ist hier nun mit dem expressiven Ideal das Gegenteil innerhalb des Kern-Modells behauptet? Also nicht zwei unterschiedliche Erfahrungen, sondern ein Widerspruch? Tatsächlich ist die Rede von einem wahren Selbst, wie es hier im Rahmen des Kern-Modells für das expressive Ideal vorausgesetzt wird, problematisch: Wenn man bereit ist, diesbezüglich Kant zu folgen, dann zeigt sich, dass Selbsterkenntnis ein besonderer Fall von Gegenstandserkenntnis ist; deren zu erkennender Gegenstand ich bin. Damit fällt auch die Selbsterkenntnis unter die Dichotomie von Ding an sich und Erscheinung. Wir erkennen, aufgrund der konstitutiven Leistung unseres Erkenntnisvermögens, die Dinge so, wie sie uns erscheinen. Dieser Erscheinungscharakter meint nun nicht Schein im Sinne von Unwahrheit, aber wie wir an sich sind, das bleibt uns unzugänglich. Darüber hinaus lassen sich, unabhängig von Kant, einige weitere Fragen an diese Vorstellung von Authentizität knüpfen. Das expressive Ideal findet des Öfteren den Ausdruck: Sei ganz Du selbst. Ein Punkt aus einem ganzen Arsenal von Gründen sei genannt: Die Rede vom wahren Selbst insinuiert hier, dass es bereits gegeben ist und gewissermaßen vorliegt. Dem Subjekt obliegt es nun, gewissermaßen „detektivistisch“ dieses wahre Selbst zu entdecken, das auch unabhängig von dieser Suchbewegung vorzuliegen scheint.35 Mit dieser Vermutung eines vorliegenden Selbst sind

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Vgl. dazu kurz und prägnant HONNETH, Verdinglichung, 80–83. Die Wendung „detektivistisch“ geht auf D. Finkelstein zurück.

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auch Konnotationen zu einem substanziell verfassten Subjekt nahegelegt, die nach Descartes zu Recht einer sowohl empiristischen als auch – letztlich gehaltvolleren, weil den Subjekt-Gedanken weiterführenden – transzendentalphilosophischen Kritik unterworfen wurden. Das Kern-Modell stellt für die Dimension der Undarstellbarkeit weniger Problem dar, wenn man sich im Klaren ist, dass das wahre Selbst als Grenzbegriff zu fassen ist. Für das expressive Ideal stellt das Kern-Modell hingegen keine geeignete Artikulationshilfe dar. Um dieser Dimension der Authentizität gerecht zu werden, bedarf es einer anderen Auffassung des Selbst.

III.

Das Projekt-Modell

Noch ein weiterer Punkt verdient unsere Aufmerksamkeit: Das zuletzt angeführte Joyce-Zitat gewinnt einen geradezu programmatischen Charakter, weil hier zukünftige Möglichkeiten und Absichten formuliert werden. Es werden Maximen formuliert, die als Grundlage künftigen Handelns dienen sollten und woraus sich so etwas wie ein Lebensziel oder Lebensplan aufbauen kann. Dadurch kommt es zu einer künftigen Bestimmung des Selbst: Ich will bzw. werde der und der sein. Diese Bestimmung bleibt nun mitpräsent im weiteren Verlauf. Das Selbstverhältnis zu sich als zukünftigem ist über den Willen bestimmt. Dabei ist nochmals auf den Aspekt der Ganzheit hinzuweisen: „Wille bedeutet hierbei nicht bloß Wollen oder praktisches Anstreben besonderer einzelner Zwecke in der Absicht, sie zu verwirklichen; Wille ist vielmehr ein spezifisches Verhältnis des Selbst zu sich; es bedeutet hier grundlegend das Sich-Verstehen und Sich-Entwerfen der Person der Intention nach als ganzer, und zwar im Hinblick auf einen zukünftigen anzustrebenden Zustand“.36 Ein weiteres Bestimmungsmoment, wie es in diesem Selbstverhältnis zum Ausdruck kommt, verdient ebenfalls hervorgehoben zu werden: Im Entwurf eines möglichen Selbst erfährt man sich als frei; diese Freiheit erlaubt die Einsicht in die eigenen Möglichkeiten, sich zu einer dieser Möglichkeiten zu bestimmen und diese

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DÜSING, Selbstbewusstseinsmodelle, 230f; vgl. insgesamt ebd. 229–255 (Kap. II/6: Das Selbstbewusstseinsmodell der voluntativen Selbstbestimmung). – Zur Diskussion und systematische Einordnung vgl. HOFER, Wie läßt sich Subjektivität denken?, 277–303.

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in Rücksicht auf sich und die Welt zu realisieren. Damit ist sich das Selbst einer solchen Selbstbeziehung, durch das Bewussthaben des Unterschiedes von Möglichkeit und Wirklichkeit, aber auch der Grenzen seiner Wirkmächtigkeit inne; zugleich weiß es um seine zeitliche Begrenztheit. Außerdem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass ein solches Vorhaben, wie es ein Lebensziel darstellt, intersubjektiv mitkonstituiert ist. D. h. dass ethische Wertvorstellungen die Intersubjektivität per se involvieren, da sie den Umgang mit anderen betreffen, ja sogar den Entwurf einer neuen Gesellschaft implizieren, auch wenn das kaum je ausdrücklich thematisiert wird. Zu beachten ist die Asymmetrie zwischen dem gegenwärtigen und zukünftigen Ich: Das Ich ist nicht alles, was es sein will. Zur Bestimmung dieses Selbstverhältnisses hat K. Düsing die Kennzeichnung „voluntative Selbstbestimmung“ eingeführt. Die hier gegebenen Hinweise verdanken sich seinen eingehenden Erörterungen einer möglichen Stufenfolge von Selbstbeziehungen. Ist damit eine Möglichkeit angezeigt, die vorauf genannten Schwierigkeiten zu vermeiden? Dies würde verlangen, Authentizität in der Dimension des expressiven Ideals nicht in Zusammenhang mit Selbsterkenntnis zu bringen, sondern mit Selbstverpflichtung. Das zugrunde liegende Modell ist nun nicht – wenn man dem terminologischen Vorschlag folgen will – das Kern-Modell, sondern das Projekt-Modell. Authentizität meint auch hier „that in our authentic moments we manage to be fully ourselves“37 und wird als Erfahrung der Deckung, Entsprechung aufgefasst, so wie in unserem Vorschlag im Abschnitt I: „To be fully oder wholly ourselves“. Folgt man dem Vorschlag von Ch. Larmore, dann meint diese Erfahrung des Authentisch-Seins, ein Treu-Sein zu dem, der man sein will. Die Entsprechung bezieht sich dabei aber auf kein vorgegebenes wahres Selbst, sondern auf etwas, das ich noch nicht bin, und zugleich auf mich, der dies sein will.38 Man kommt mit beiden Gliedern und mit dem Verhältnis zwischen beiden überein: „In short, if we coincide with ourselves in our authentic moments, we are coinciding with the essential noncoincidence with ourselves that makes us what we are“.39 – Mithilfe der vorauf geleis-

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LARMORE, The Practices of the Self, XIII. Vgl. ebd. 16 und 82 – unter Bezugnahme auf Sartres zweite These in Conscience de soi et connaissance de soi (dt.: SARTRE, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, 269): „we are what we are not and are not what we are“. LARMORE, The Practices of the Self, 142f. Nach seiner „ontology of the self“ (63, 137) – die ein Beitrag sein will zur Diskussion um die sog. Reflexionstheorie des

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teten Strukturerhellung dessen, was voluntative Selbstbestimmung meint, sollte dies nun leichter nachvollziehbar sein: Die Nicht-Koinzidenz ist die Asymmetrie zwischen dem gegenwärtigen Selbst und der zukünftigen Lebensmöglichkeit, die nicht dies und das betrifft, sondern mich als Ganzen. Das macht uns aus im Rahmen dieses Selbstverhältnisses. Diese Erfahrung lässt sich in unterschiedlichen Gestalten machen: Einmal gewissermaßen reflexionslos, „natural“ wie es bei Larmore heißt, wenn wir z. B. in – sagen wir – großen Gefühlen aufgehen. Die Beispiele sind klassisch: wir sind etwa erfasst von leidenschaftlicher Liebe oder Rache. Ebenso ist aber zu dieser Erfahrungsweise zu zählen, wenn man an etwas weggegeben, also ganz bei einer Sache ist. Auch hier werden normative Festlegungen hinsichtlich dessen, was wir für wahr und für gut halten, getroffen. Stimmen diese Festlegungen überein mit dem, was wir sein wollen, und mit uns, die wir das wollen, so ist dies eine Erfahrung der Authentizität. Daraus erhellt, dass durch unsere Worte und Taten Festlegungen hinsichtlich unseres zukünftigen Selbst getroffen werden, sei es, dass wir in Übereinstimmung mit bereits getroffenen Selbstbestimmungen handeln, sei es, dass wir diese Selbstbestimmungen abändern oder uns neu ausrichten. Bezüglich der Inanspruchnahme durch Leidenschaften heißt dies zugleich, dass die Rede vom „außer sich sein“ ihren Sinn nur hat, wenn ich mich von den Leidenschaften so hinwegreißen habe lassen, dass dies nicht mehr in Einklang mit meiner voluntativen Selbstbestimmung zu bringen ist. Da kein Zusammenhang herzustellen ist, lässt sich bezogen auf mich oder von mir retrospektiv sagen, dass ich „außer mir war“ oder – auch diese Redeweise kennen wir – geradezu „von Sinnen“. Denn es ist grundsätzlich möglich, aus dem Vollzug einer solchen Erfahrung zu wechseln in eine reflexive Einstellung: im angesprochenen Fall ist man dann wieder bei Sinnen, d. h. in der Lage, Überlegungen anzustellen. Die Reflexion gestattet in dieser Gestalt, eine an den Tag gelegte Verhaltensweise oder eine gefasste MaSelbstbewusstseins und die Vorschläge D. Henrichs – macht dieses Selbstverhältnis als Selbstverpflichtung unser Selbst grundlegend aus bzw. wird dieses dadurch konstituiert. Diese und die weiter reichenden Thesen können wir dabei auf sich beruhen lassen, allerdings nicht ohne deren Fragwürdigkeit zu betonen. Zwei Momente seien diesbezüglich noch hervorgehoben: Die Behauptung des Vorranges der praktischen Reflexion gegenüber der theoretischen als deren Möglichkeitsbedingung ebenso (135) wie die – an Hume gemahnenden – Hinweise auf die Kontinuität des Selbst als sich überlappende Projekte (vgl. XVI und 198). Eine programmatische Darstellung seiner Konzeption von Subjektivität bietet Larmore z. B. in: Vernunft und Subjektivität, 56–105 (Zweite Vorlesung: Subjektivität).

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xime oder die voluntative Selbstbestimmung im Ganzen ausdrücklich hervorzuheben und zu bekräftigen oder auch eine Neuausrichtung vorzunehmen. Larmore spricht diesbezüglich von „praktischer Reflexion“. Oft wird sie wirksam, weil wir eine Dissonanz in unserem Verhalten wahrnehmen. Durch sie wird eine Neuausrichtung oder erneute Abstimmung mit dem, wer wir sein wollen, vorgenommen. Davon hebt er die „kognitive Reflexion“ ab, die nicht auf Selbstverpflichtung, sondern auf Selbsterkenntnis abhebt und das darin zum Tragen kommende Selbstverhältnis wird als Subjekt-Objekt-Verhältnis aktuiert. Im Rahmen der kognitiven Reflexion kann z. B. auch die Frage vordringlich werden, was denn – wenn wir unser Verhalten, unsere Worte und Taten betrachten – unsere zugrunde liegenden Einstellungen eigentlich seien. Hier kommt es auf allgemeine Nachvollziehbarkeit an. Es bietet sich an, Aufrichtigkeit bei dieser Gestalt der Reflexion, im Bereich der Selbsterkenntnis, zu verorten. Authentisch sein heißt vor diesem Hintergrund auch unvertretbar zu sein. Individualität macht hier die eigene Lebensgeschichte aus und die Verantwortung, die man übernimmt für die Führung des eigenen Lebens. Das Hin- und Herwechseln zwischen Vollzug und Reflexion erlaubt den Aufbau komplexer Selbstverhältnisse. Durch Worte und Taten wird unsere Selbstbestimmung vorangetrieben, die wir nicht immer wahr haben wollen. Wir legen uns damit fest, was wir für wahr und erstrebenswert halten. Dort, wo es allerdings zu einer Übereinstimmung kommt, hat Authentizität statt. Umgekehrt wird auch der Inhalt der Reflexion als Selbstverpflichtung wirksam und hat Auswirkung auf unser Denken und Handeln. Hier hat Authentizität statt, wenn die getroffene Selbstbestimmung bekräftigt wird oder – wie im Fall von Joyce – eine Neuausrichtung ausdrücklich erfolgt. In beiden Fällen, der Erfahrung und der praktischen Reflexion, geht es um uns; beides macht uns als Individuen aus.

IV. Unsere Sichtbarkeit: Sich zeigen und sich verbergen Nun kann – buchstäblich – nicht übersehen werden, dass Authentizität nicht nur eine Entsprechung darstellt, die ich bemerken kann: sei es durch das Heben in Ausdrücklichkeit mittels Reflexion, sei es durch eine Art Selbstgefühl. Wir werden auch wahrgenommen und in unserer leiblichen

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Erscheinung bringen wir uns zum Ausdruck. Dabei ist klar, dass der Leib nicht bloßes Medium ist, sondern die Weise der Gegenwärtigkeit meint, die wir sind. Die Frage „Wie siehst denn Du aus?“ kann nicht nur erstaunt geäußert werden, wenn man sich für einen besonderen Anlass zurecht gemacht hat. Vielmehr kann sie einem in bestimmten Zusammenhängen ganz und gar ungelegen kommen: Etwa, wenn einen eine Nachricht erreicht hat, die einen erschüttert und, da nicht leicht abzutun, weiter in Anspruch nimmt, man sich aber dennoch zeigen muss, ohne sich dort mitteilen zu können oder zu wollen. Die Antwort „Ich sehe aus, wie ich will“, ist aber gewissermaßen nur die halbe Wahrheit. Sie mag zwar „Haltungswillen“ verraten, auf der anderen Seite wird aber auch die „Unfügsamkeit des Ausdrucks“ deutlich:40 Es kann etwas an mir sichtbar sein, das ich so an mir gar nicht sehen lassen will. Hans Blumenberg bringt in diesem Zusammenhang die Rede auch auf eine Einschätzung R.W. Emersons, der – egal ob man ihr hinsichtlich der quantitativen Verhältnisbestimmung zustimmen will oder nicht – den Punkt so formuliert: „Der Mensch gehört nur halb sich selbst – die andere Hälfte ist Ausdruck“.41 Das alles hat mit dem Sachverhalt zu tun, den Blumenberg als „Visibilität“ bezeichnet; damit ist gemeint, dass der Mensch das Wesen ist, das gesehen werden kann – durch den aufrechten Gang übrigens in besonderer Weise –, das sich sehen lassen und darstellen kann. Das Sich-Verbergen-Wollen bringt das Bewusstsein der Visibilität ebenso zum Ausdruck. Kurz: Der Mensch wird gesehen und er weiß darum. Das eröffnet vielfältige Möglichkeiten sowohl des Sich-Zeigens als auch des Sich-Verbergens; Innen und Außen sind beim Menschen nicht eins. Mit der Sichtbarkeit geht auch eine Opazität einher: „Der Leib verhindert nicht nur, dass wir unsichtbar sind, sondern auch, dass wir durchsichtig werden müssen“.42 Diesem Umstand, leibhaftig in die Erscheinung zu treten, sich auch dadurch öffnen oder verbergen zu können, ist Rechnung zu tragen, wenn man von der Erfahrung der Authentizität spricht: Eine Erfahrung, die ich jeweils mache bzw. machen kann und die andere an mir oder mit mir machen. Plessner hat dabei auf folgende Spannungsverhältnisse aufmerksam

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Dieser Abschnitt verdankt sich BLUMENBERG, Beschreibung des Menschen, 777– 896 (Kap. XI: Variationen der Visibilität), hier 842f, das eine enorme Fülle an Beispielen und deren reflexiver Durchdringung bietet. Ebd. 860. Ebd. 789.

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gemacht:43 Von Seiten dessen, der sich äußert, kann man von einer Spannung zwischen – pointiert gesprochen – „Eitelkeit und Schamhaftigkeit“, beim Gegenüber von einer „Realitätstendenz“ und einer „Illusionstendenz“ sprechen, insofern man einerseits wissen will, wie dieser Mensch da eigentlich ist, andererseits man aber auch Scheu davor hat und Abstand hält. Plessner spricht in Bezug auf die Innerlichkeit von „seelischem Leben“ und will darunter „Gefühle, Willensrichtungen, Affekte, Gedanken und Gesinnungen“44 gefasst sehen. Dieses seelische Leben, darauf weist auch der Terminus hin, ist keine Gegebenheit, sondern dynamisch zu fassen; deshalb eignet ihm auch keine Eindeutigkeit und ist es durch Bestimmungen nicht zu erschöpfen. Allerdings, so der Hinweis Plessners, ist angesichts dieser dynamischen Verfasstheit eine Gegensätzlichkeit zu bemerken: Man will Bestimmtheit und will sie auch nicht. Daraus resultiert die vorauf angesprochene Spannung von Eitelkeit und Schamhaftigkeit auf Seiten des Selbst. Man will sich zeigen und dem Urteil aussetzen vor sich und den anderen, zugleich weist man nicht nur so etwas wie endgültige Festlegungen zurück, sondern will sich in bestimmten Bereichen auch schützen. Sich zeigen und sich schützen bringt damit Umgangsformen hervor, die einem ermöglichen, mit dieser Spannung vielfältig umzugehen. Höflichkeit und Takt erlauben nicht die volle Expression meiner selbst, ebenso verbietet sich dadurch ein Eindringen in die sogenannte Privatsphäre.45 Rollen in der Öffentlichkeit wahrzunehmen bringt mit sich, die eigene Individualität zu schützen. Ohne sich (voll) zeigen zu müssen, füllt man die Rolle aus: Man ist dadurch etwas, ohne das Wagnis eingehen zu müssen, zu zeigen wer man ist. Die Öffentlichkeit als der Ort des Miteinander erlaubt es auch gar nicht, den andern in seiner Individualität zu erkennen oder gar darauf einzugehen. Von beiden Seiten sind hier Formen als Schutz wirksam. Bei einem Gefühlsausbruch z. B. weiß man in öffentlichen Räumen kaum, wie damit umzugehen sei. Wer hier aus der Rolle fällt, d. h. sich unmittelbar zeigt, trägt das „Risiko der Lächerlichkeit“.46

43 44 45

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PLESSNER, Die Grenzen der Gemeinschaft, 67 und 68 bzw. 85. Ebd. 63. Vgl. dazu ebd. 107: „Versuchen wir uns bloß einen Augenblick den Verkehr einander kaum bekannter Personen vorzustellen, die sagen wollen, was sie denken oder gar voneinander vermuten. Nach kurzem Zusammenprall müsste sich Weltraumkälte zwischen sie legen“. Ebd. 70.

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Das muss auch Prinz Klaus Heinrich erfahren. So sieht es die Dramaturgie Thomas Manns vor: Klaus Heinrich macht sich als junger Mann bei einem Ball lächerlich: Er tanzt und feiert mit andern jungen Leuten ausgiebig und wird zuletzt deren Spott, als er am Tanzparkett zu liegen kommt und einen Bowlendeckel zur Kopfbedeckung hat. Das war ihm, nicht zuletzt durch die Maßregelung seitens seines Lehrers Dr. Überbein, eine Lektion. Im weiteren Verlauf weiß er seine Rolle zu wahren, im Gegensatz zu seinem Bruder Albrecht, der den Thron innehat und unter den Repräsentationsaufgaben allzu sehr leidet und sich kränklich aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Gegenüber seinem Bruder bemerkt Albrecht einmal: „Ich wundere mich nicht, dass ein so beliebter Prinz wie du mit seinem Lose einverstanden ist. Ich für mein Teil lehne es ab, irgend jemand anders auszudrücken und vorzustellen als mich selbst – ich lehne es ab […]“. Im Laufe dieses Gesprächs kommt er auch auf folgenden Umstand zu sprechen: Er empfinde geradezu Scham, sich als König zu zeigen, und er halte es etwa für eine Zumutung, die Türsteher nicht mehr als die Türpfosten beachten zu können. Darin sei seine Art von „Volksfreundlichkeit“ zu sehen.47 Insgesamt ermüdet ihn, wie er sagt, die „Falschheit“ seiner Rolle.48 – Hier begegnet uns erneut das expressive Ideal der Authentizität und der Konflikt mit den Formen, die seine Rolle in der Gestalt vielfältigen Zeremoniells in besonderer Weise mit sich bringt. Die Maßnahme des Königs ist vor dem von uns erarbeiteten Hintergrund auch ganz folgerichtig: Er nimmt seine Rolle nicht mehr wahr, zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück und übergibt die Repräsentationsaufgaben seinem jüngeren Bruder Klaus Heinrich. Dieser erfüllt die Aufgaben einer „Königlichen Hoheit“ mit Bravour und genießt in der Folge eine hohe Beliebtheit bei seinen Untertanen. Er versteht sich auf das Spiel von Nähe und Distanz und hin und wieder kommt es auch zu „jener ein wenig falschen Unmittelbarkeit“, etwa wenn er Umgang pflegt mit den Offizieren des Regiments, dem er nominell auch zugehört, um „den Schein einer gewissen Kameradschaft […] zu wahren“.49 Die Begegnung mit der amerikanischen Milliardärstochter Imma Spoelmann wird zur Herausforderung. Sie wirft ihm eine scheinhafte Existenz vor: Er sei zum Schein zur Schule gegangen, ebenso zur Universität, immer gehe es darum, seiner Rolle angemessen,

47 48 49

MANN, Königliche Hoheit (1909), 146–147. Ebd. 157. Ebd. 201–202.

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den Schein zu wahren. Ihr gegenüber fällt der Prinz zum zweiten Mal in seinem Leben aus der Rolle: Er besucht sie unangemeldet bei seinem Geburtstag und verliert die Haltung. Es kommt zu einer Annäherung. Letztlich weiß auch die junge Frau nicht, wie sie mit diesem – oben nannten wir es – „natürlichen“ – Ausdruck seiner Persönlichkeit umgehen sollte: „Sie sind zum Schein auf die Welt gekommen, und nun soll ich Ihnen plötzlich glauben, dass es Ihnen mit irgend etwas ernst ist?“ Welche Rolle spielt er ihr gegenüber? Angesichts seines leidenschaftlichen Ausbruchs fragt sie sich, wie das überhaupt mit seiner Rolle, die auf Haltung und Form zielt, zusammengeht, und will ihn nicht davon abbringen: „[…] und ich kann nicht einmal wünschen, daß sie sich selber die Treue brechen“.50 – Dabei gestaltet Thomas Mann auf eindrucksvolle Weise das nun bereits anders gewordene Verhältnis: Der Prinz wird nämlich von Imma in seiner ganzen körperlichen Erscheinung wahrgenommen. Von Kindesbeinen an war es Klaus Heinrich gewöhnt, den linken Arm, der verkümmert war, gewissermaßen zu verstecken. Sie hat ihn darauf angesprochen und dadurch provoziert, dass er ihr gegenüber die Haltung verliert. Sie küsst diese Hand auch noch. In der Folge ist es dann auch ihm im Umgang mit ihr möglich, beide Hände zu gebrauchen und – siehe da – die linke „war keine Hemmung mehr“.51 Bei öffentlichen Auftritten kommt zwischen Prinz und Menschen eine „Liebe in Gala und ganz ohne Vertraulichkeit“52 zum Tragen. Im Liebesverhältnis zwischen Imma und Klaus Heinrich hingegen kommt es zu einem Wahrnehmen und Sich-Austauschen ganz anderer Art. Übrigens gewinnt Klaus Heinrich auch in Bezug auf seine Rolle, insofern nun klarer ist, dass er diese und nicht umgekehrt die Rolle ihn ausfüllt. – Auch dies deckt sich mit Plessner, der mehrmals auf die Gestalt eines Verhältnisses zu sprechen kommt, das die Spannungen zwischen Nähe und Distanz anders leben lässt: In Liebesverhältnissen ist die Form des Umgangs eine andere. Hier kann man sich zeigen, wie man sich sonst niemandem zeigt, und darf von sorgsamem Umgang ausgehen – und dies in Wechselseitigkeit. Vorauf stellten wir uns die Aufgabe, die personale Authentizität besser zu verstehen und eine begriffliche Fassung vorzuschlagen. Dabei ließen sich zwei Dimensionen von Authentizität herausheben, die Undarstellbar-

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Ebd. 307. Ebd. 311. 289. Ebd. 308.

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keit und das expressive Ideal, die beide auf jeweils eigene Weise – so zeigt sich nun – mit der Spannung zwischen Verbergen, Schutz und dem SichZeigen als anthropologischen Grundgegebenheiten korrespondieren. Um personale Authentizität in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu verstehen, ist es darüber hinaus hilfreich, sich die gestuften Anerkennungsverhältnisse vom gesellschaftlichen Umgang bis zur Liebesbeziehung vor Augen zu führen. Dadurch wird vielleicht ein Beitrag geleistet, die Ansprüche auf Authentizität einordnen und ihre polemische Dynamik – je nach Ort – zurücknehmen oder bewahren und verstärken zu können.

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Literaturverzeichnis ARISTOTELES, Metaphysik. Übersetzt und eingeleitet von Th.A. Szlezák, Berlin 2003 ASSMANN, A., Authentizität – Signatur des abendländischen Sonderwegs?, in: M. Rössner / H. Uhl (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld 2012, 27–42 AUGUSTINUS, Confessiones / Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, eingeleitet, übersetzt und erläutert von J. Bernhart, Darmstadt 41980 BLUMENBERG, H., Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass hg. v. M. Sommer (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2091), Frankfurt a. M. 2014 BORCHARDT, R., Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa VI, Stuttgart 1990, 59–176 DÜSING, K., Selbstbewusstseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München 1997 HOFER, M., Wie lässt sich Subjektivität denken?, in: Philosophischer Literaturanzeiger 52 (1999) 277–303 HONNETH, A., Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2127), Frankfurt a. M. 2015 JOYCE, J., A Portrait of the Artist as a young Man (Penguin popular classics), London 1996 JOYCE, J., Stephen der Held. Ein Portrait des Künstlers als junger Mann, übers. v. K. Reichert (Edition Suhrkamp N.F., 435), Frankfurt a. M. 1987 KANT, I., Der Streit der Fakultäten, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Band 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil, Darmstadt 1983, 261–393 KLÄSGEN, M., Ohne Maske, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 78 (4./5./6. April 2015) 73 LARMORE, Ch., The Practices of the Self, transl. by Sh. Bowman, Chicago and London 2010 (Original: Practiques du moi, Paris 2004) LARMORE, Ch., Vernunft und Subjektivität. Frankfurter Vorlesungen (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2029), Frankfurt a. M. 2012 MANN, Th., Königliche Hoheit (Gesammelte Werke in Einzelbänden), Frankfurt a. M. 1984

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Michael Hofer

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Klaus Viertbauer

Authentizität und Selbst-Bestimmung

Die Aporetik des „ethischen Selbst“ bei Habermas mit einem Seitenblick auf Taylor Der folgende Beitrag diskutiert kritisch am Beispiel von J. Habermas, wie ein Selbst zu bestimmen ist, um als authentisch zu gelten. Dabei soll gezeigt werden, dass der Versuch einer Fassung von Authentizität in Form einer Bewertung einzelner Handlungen aporetisch verläuft. Bei einer derartigen Bestimmung erfährt sich ein Selbst lediglich in Form eines „handelnden“, nicht allerdings in elementarer Weise als ein „existierendes“ Wesen. Die verschärfte Rückfrage nach dem „authentischen“ Gehalt der Existenz bricht konkret mit der Frage nach gentechnischen Modellierungen von Ungeborenen in den praktisch-philosophischen Diskurs ein. In diesem Zusammenhang bemüht sich Habermas, unter Bezugnahme auf Kierkegaard, um eine Kurskorrektur. Doch bleibt die Durchführung mit Bezug auf Kierkegaards „ethisches Selbst“ zu sehr am klassischen Handlungsmodell orientiert. Vor diesem Hintergrund setzt der Beitrag an: In einem ersten Schritt kommt Habermas’ Selbst-Bestimmung im Kontext der Entwicklungspsychologie zur Sprache. Dieses erste Diskursfeld thematisiert, wie ein Selbst nach Habermas beschaffen sein muss, um am gesellschaftlichen Diskurs partizipieren zu können. In einem zweiten Schritt gehen wir auf die verschärfte Anfrage nach der menschlichen Natur im Zusammenhang von Gentechnik ein. Dabei gilt es zu zeigen, inwiefern die Kierkegaard-Rezeption von Habermas im klassischen Handlungsmodell verharrt und somit aporetisch bleibt.

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Klaus Viertbauer

1.

Diskursfeld I: Authentizität und Gesellschaft – Habermas und die Entwicklungspsychologie

Die Frage nach dem Menschen, zumal dessen Natur, erscheint für den Sozialphilosophen J. Habermas grundsätzlich als sekundär. Entsprechende Thematisierungen begegnen stets nur implizit in der Bestimmung seiner Diskurstheorie bzw. der rückgekoppelten Frage, wie ein Mensch überhaupt erst diskursfähig wird, um sich in öffentliche Debatten einzubringen. Bei letzteren handelt es sich um Untersuchungen aus Habermas‘ Zeit am Max-Planck-Institut in Starnberg, wo er gemeinsam mit C.F. von Weizsäcker, E. Tugendhat oder C. Offe u. a. zwischen 1971 und 1981 tätig war. Das Ziel dieser Untersuchungen bestand in der kritischen Aufnahme der Entwicklungspsychologie für seine Diskurstheorie. Habermas beschäftigte sich damals v. a. mit den Schriften von H.S. Sullivan, E. Eriksson, J. Piaget, G.H. Mead, H. Blumer oder E. Goffman und grenzte sie zugleich scharf von der klassischen Psychoanalyse im Gefolge S. Freuds ab. Die bei Habermas im Hintergrund stehende These geht von einem Zusammenhang „zwischen Sozialisationsmustern, typischen Verläufen der Adoleszenz, entsprechenden Lösungen der Adoleszenzkrise und Formen der Identität“ mit „tieferliegende[n] politisch relevanten Einstellungen“ im späteren Erwachsenenleben aus.1 Dabei stellt sich die Frage nach Authentizität für Habermas im Sinne einer Übereinstimmung der psychosozialen Entwicklung einer Person mit ihrer späteren weltanschaulich-politischen Ausrichtung. Habermas verfährt deskriptiv oder – um seine Agenda aufzunehmen – auf nachmetaphysischem Niveau. In den Analysen Freuds erblickt er hingegen nur „das Erbe der idealistischen Philosophie in den nicht mehr idealistischen“ Begrifflichkeiten von Ich, Es und Über-Ich.2 Dahinter verbirgt sich allerdings nicht mehr als der bloße Versuch „des ontologischen oder … anthropologischen Denkens“ sich ein „normative[s] Fundament“ für die Ich-Identität zu sichern.3 Das ist aber in den Augen Habermas‘ nichts anderes als Metaphysik. Demgegenüber gilt es auf rein empirischem Wege prototypische Entwicklungsverläufe herauszuarbeiten und diese als Muster zu begreifen. Einem solchen Vorgehen liegen folgende methodische Parameter zugrunde: 1 2 3

HABERMAS, Moralentwicklung und Ich-Identität, 63. Ebd. 64. Ebd. 66.

Authentizität und Selbst-Bestimmung

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1. Man interpretiert die Sprach- und Handlungsfähigkeit eines Erwachsenen als Ergebnis der Integration vorangehender Reife- und Lernprozesse. 2. Dieser Entwicklungsprozess erfolgt als irreversible und diskrete Stufung, die vom einzelnen Subjekt nicht übersprungen werden kann und wobei jede höhere Stufe die vorangehende logisch einschließt. 3. Der Übergang von einer Stufe zur nächsthöheren setzt in der Regel mit einer Krise ein, die selbst den Anlass zum Übergang bildet. 4. Der Übergang von einer Stufe zur nächsthöheren stattet das Subjekt mit einer immer größeren Form von Autonomie aus. 5. Unter Identität des Subjekts versteht man die zunehmende Kompetenz, bestimmten Konsistenzforderungen zu genügen. 6. Es liegt die Auffassung zugrunde, dass es sich bei Lernprozessen um Umsetzungen von äußeren in innere Strukturen handelt. So beschreibt Habermas im Gefolge der empirischen Entwicklungspsychologie die Mechanismen, die für eine Vergesellschaftung des Individuums verantwortlich sind. Dabei dient L. Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung als argumentative Grundlage. Habermas übernimmt dessen methodisches setting und erweitert es um die Dimension der Rollenkompetenzen im kommunikativen Interagieren. So geht es „zunächst nicht um die Frage, welche … Normen Heranwachsende unterschiedlichen Alters anerkennen und ob sie sich entsprechend verhalten oder nicht“, sondern darum, welche „Interesse[n …] der Entwicklung von Begründungen normativer Urteile und den Orientierungen, die diese Urteile leiten“, zugrunde liegen.4 Entscheidend ist, dass sich die empirische Grundlage für die Zuordnung nicht direkt mit der Präferenz des Einzelnen, sondern erst mit der dieser nochmals zugrundeliegenden Begründung identifizieren lässt. Indem das einzelne Individuum sein Verhältnis zur Umwelt verändert, verändert es immer auch sein Selbst. Denn ein Selbst lässt sich im nachmetaphysischen Denken nicht mehr als Konstante fixieren. Es bleibt den Umwelteinflüssen ausgesetzt. So ist „die Idee, die Entfaltung der kognitiven und moralischen Urteilsfähigkeit folge einer immanenten Logik der Höherentwicklung“ konstitutiv.5 Als Motor für diese Entwicklung nimmt man „das Erleben von Widersprüchen“ an, die „zwischen bislang aufgebauten Handlungs4 5

OERTER / MONTADA, Entwicklungspsychologie, 593. NUNNER-WINKLER, Kognitive Entwicklungspsychologie, 59.

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schemata und neuen Erfahrungen“ auftreten.6 Habermas’ Bemühungen zielen nun darauf „Kohlbergs Stufen des moralischen Bewusstseins … in einem allgemeinen handlungstheoretischen Rahmen [zu] reformulieren“.7 In diesem Sinne stellt „die Theorie … einen Versuch dar, die spezifischen operatorischen Strukturen zu identifizieren, die bei der Lösung von … Problemen eingesetzt werden“.8 Die Begründungsformen werden in drei Ebenen (vorkonventionelle, konventionelle und das postkonventionelle Niveau) unterschieden, die weiters in je zwei Stufen untergliedert sind. Daraus versucht Habermas ein Muster für ein authentisches Selbstsein abzuleiten. Es geht um die Erschließungsmechanismen eines Selbst und dessen Umwelt, das protypisch nachgezeichnet und in seiner Entwicklungskurve ausgewertet wird.

2.

Diskursfeld II: Authentizität und Natur – Habermas und die „liberale Eugenik“

2.1

Zwischen „geformt“ und „gemacht“

Die Grundlage entwicklungspsychologischer Überlegungen bilden Kinder, deren Verhalten beobachtet und statistisch ausgewertet wird. In den Fokus gerät dabei die Frage nach dem Verhältnis eines Kindes zur Gesellschaft. Habermas beschreibt in Anlehnung an G.H. Mead den Prozess einer Individuierung als Form einer Vergesellschaftung.9 Dabei geht er von einem Kind aus und beschreibt dessen Entwicklungsgenese als Einbindung in die Kommunikationsgemeinschaft. Die Ende der 1990er-Jahre politisch debattierte biotechnische Möglichkeit genetischer Modellierungen an Ungeborenen, zumal mit dem Ziel eines Enhancement, unterläuft demgegenüber die argumentative Grundlage von Habermasʼ Theorie. Die Identität eines Menschen bildet sich dabei nicht durch entwicklungspsychologisch beschreibbare Interaktionsprozesse heraus, sondern wird pränatal durch genetische Konfigurierung vorgeformt. Dabei wird – zugespitzt formuliert – ein Mensch nicht einfachhin zu dem, wie er sich später vorfindet, „ge6 7 8 9

Ebd. 59. HABERMAS, Moralentwicklung und Ich-Identität, 74. OSER / ALTHOF, Moralische Selbstbestimmung, 43. Vgl. HABERMAS, Individuierung durch Vergesellschaftung, 187–241.

Authentizität und Selbst-Bestimmung

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formt“, sondern „gemacht“. Von daher sieht sich Habermas gezwungen argumentativ nachzujustieren. Denn mit dem Instrumentarium der Entwicklungspsychologie lässt sich nicht mehr entsprechend auf eine Liberalisierung der Eugenik reagieren. Es handelt sich dabei um Untersuchungen ab dem Jahr 1999. Darin versucht Habermas zu zeigen, dass ein Akt genetischer Modellierung immer schon einen Riss im diskursiven Band zwischen den Generationen vorwegnimmt. Mit dem Begriff der „Gattungsethik“ markiert er die Grenzüberschreitung der menschlichen Spezies. Denn ein Mensch, der sich selbst zum Gegenstand einer Betrachtung macht, stößt dabei in seinem Innersten auf die Interessen von Dritten. In einem Interview versucht Habermas dies anhand von folgendem Beispiel zu verdeutlichen: „Nehmen wir einmal an, dass sich Eltern eines Tages genetische Designs aussuchen können, um für ihr geplantes Kind bestimmte Eigenschaften, Dispositionen oder Fähigkeiten pränatal festzulegen. Der Heranwachsende, der von einer solchen Programmierung erfährt, begegnet dann unter Umständen genetisch fixierten Absichten, die er sich nicht als Bestandteil seiner Identität zu Eigen machen möchte. Der musikalisch Begabte, der lieber Hochleistungssportler werden möchte, kann seinen Eltern vorwerfen, ihn nicht mit athletischen Fähigkeiten ausgestattet zu haben. Niemand kann Entscheidungen, die unwiderruflich durch das Sozialisationsschicksal einer anderen Person hindurchgreifen, rechtfertigen. Niemand vermag vorauszusehen, was sich im lebensgeschichtlichen Kontext eines anderen als Fluch oder Segen erweisen wird – selbst wenn es sich um ‚genetische Grundgüter‘ wie ein gutes Gedächtnis oder Intelligenz handelt. In manchen Kontexten mag einem Kind gar eine leichtere körperliche Behinderung zum Vorteil gereichen. Die Folgen sind unkalkulierbar, weil die Verteilung genetischer Ressourcen Spielräume mitbestimmt, innerhalb derer eine andere Person einmal von ihrer ethischen Freiheit Gebrauch machen wird, um ihr Leben in eigener Regie zu gestalten. In Konfliktfällen würde sich eine programmierte Person nicht mehr als ungeteilte Autorin ihres Lebens verstehen können. Und wenn diese Art von Fremdbestimmung nicht auszuschließen ist, ist auch die grundsätzliche Gleichstellung berührt. Angesichts einer kumulativen Verdichtung vergangener eugenischer Entscheidungen würden sich die Nachgeborenen gegenüber früheren Generationen nicht mehr als ebenbürtig betrachten können“.10

Damit, so die ethische Konsequenz, gerät der intergenerationelle Zusammenhalt auf eine schiefe Ebene. „Habermas’ Vorbehalt gegen eine Ausweitung der Möglichkeiten genetischer Steuerung richtet sich dabei gegen das Prinzip und weniger gegen besondere Verfahren“.11 Denn das kom-

10 11

ASSHEUER / JESSEN, Auf schiefer Ebene, 33. BIRNBACHER, Habermas‘ ehrgeiziges Beweisziel, 122 (Hervorhebung KV).

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munikative Band zwischen Eltern und Kindern reißt in dem Moment, in welchem die genetische Programmierung nicht mehr durch den Zufall der Natur, sondern den Willen der Eltern bestimmt wird: „Was heute zur Disposition gestellt wird, ist … die Unverfügbarkeit eines kontingenten Befruchtungsvorgangs mit der Folge einer unvorhersehbaren Kombination von zwei verschiedenen Chromosomensätzen. Diese scheinbare Kontingenz scheint sich aber – im Augenblick ihrer Beherrschbarkeit – als eine notwendige Voraussetzung für das Selbstseinkönnen und die grundsätzliche egalitäre Natur unserer interpersonalen Beziehung herauszustellen“.12

Somit wäre im Fall einer pränatalen Modellierung dem intergenerationellen Verhältnis eine Asymmetrie eingeschrieben. Personen, die auf sich reflektieren, stoßen auf genetische Dispositionen, deren Provenienz im elterlichen Wunsch liegt. Mit anderen Worten: „Die Nachkommen werden einer Fremdbestimmung unterworfen, gegen die sie sich nicht zur Wehr setzen können und die sie zu einem Zeitpunkt trifft, zu dem sie noch nicht nach ihrer Zustimmung gefragt werden können“.13 Eben dieses Argument stützt Habermas unter Bezug auf Kierkegaard, den er „als Paradigma [wählt, um] eine [… nachmetaphysische] Ethik, die das Selbstverständnis der menschlichen Gattung artikulieren soll“, zu entwickeln.14 Kierkegaards Modell der Selbstwahl dient Habermas, so die These, als framework für die Präzisierung des unkündbaren Rechts auf Ja/Nein-Stellungnahmen jedes Einzelnen. Denn „das Gute ist nichts Vorgegebenes, sondern eine Aufgabe, die das Individuum selbst in freier und einzelner Entscheidung erfüllen muss“.15 Damit identifiziert Habermas Kierkegaard als den Ersten, der „auf signifikante Weise einen formalen Begriff des guten Lebens, der … nicht an bestimmte Inhalte“ gebunden ist, „sondern [rein] an die Form authentischen, unverzerrten Selbstseinkönnens“ entwickelt.16 Mit anderen Worten: „Deontologische Theorien in der Nachfolge Kants mögen noch so gut erklären können, wie moralische Normen zu begründen und anzuwenden sind; aber auf die Frage, warum wir überhaupt moralisch sein sollen, bleiben sie die Antwort schuldig“.17

12 13 14 15 16 17

HABERMAS, Begründete Enthaltsamkeit, 29. BIRNBACHER, Habermas‘ ehrgeiziges Beweisziel, 122. SCHMIDT, Menschliche Natur und genetische Manipulation, 289. Ebd. 290. Ebd. 290. HABERMAS, Begründete Enthaltsamkeit, 15.

Authentizität und Selbst-Bestimmung

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Es geht um die Einbindung der Moral in eine nachmetaphysische Ethik. Bei Kierkegaard bildet der christliche Glaube den weltanschaulichen Rahmen, ohne sich dabei allerdings auf eine bestimmte Metaphysik zu stützen. Dies ermöglicht Habermas, nunmehr in eine Rezeption einzutreten, die das Grundargument Kierkegaards unter genuin nachmetaphysischen Bedingungen zu rekonstruieren erlaubt. Den Abstoßpunkt bildet für Habermas Kierkegaards Übergang von einer „ästhetischen“ in eine „ethische Existenzform“, die in Entweder/Oder entwickelt wird: „Das Selbst, welches das Ziel ist, ist nicht bloß ein persönliches Selbst, sondern ein soziales, ein bürgerliches Selbst. Er hat also sich selbst als Aufgabe für eine Tätigkeit, durch die er als diese bestimmte Persönlichkeit in die Lebensverhältnisse eingreift. Hier ist seine Aufgabe nicht sich selbst zu bilden, sondern zu wirken, und doch bildet er zu gleicher Zeit sich selbst; denn … ein ethischer Mensch lebt auf die Art, daß er sich fort und fort aus dem einen Stadium in das andere übersetzt“.18

Kierkegaards „ethisches Selbst“ bildet für Habermas den Referenzpunkt. Es vollzieht sich in der Zeit, indem es sich selbst zum Gegenstand der Reflexion erhebt. In dieser Arbeit am je eigenen Selbst drückt sich die „Individualität“ gegenüber der bloßen „Gattungszugehörigkeit“ aus: „In der zeitlichen Dimension stiftet die Sorge um sich selbst ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit einer Existenz, die sich in den simultan verschränkten Horizonten von Zukunft und Vergangenheit vollzieht. [… Dabei gilt] alle Aufmerksamkeit … der Struktur des Selbstseinkönnens, d.h. der Form einer ethischen Selbstreflexion und Selbstwahl, die vom unendlichen Interesse am Gelingen des eigenen Lebensentwurfs bestimmt ist“.19

So konstituiert sich ein Individuum, indem es sich reflexiv seines Ortes in der Gesellschaft und Geschichte vergewissert: „Der Einzelne eignet sich die Vergangenheit seiner faktisch vorgefundenen und konkreten vergegenwärtigten Lebensgeschichte im Hinblick auf künftige Handlungsmöglichkeiten selbstkritisch an. Dadurch erst macht er sich zu einer unvertretbaren Person und zum unverwechselbaren Individuum“.20

Für Habermas ist damit – im groben Unterschied zu Kierkegaard – Subjektivität im Sinne der Unkündbarkeit von Individualrechten sichergestellt. Der Einzelne, der sich in Form von Ja/Nein-Stellungnahme gegenüber seiner biologischen und biographischen Faktizität und deren Potential erst konstituiert, kann nun in seiner dadurch herausgebildeten Identität nicht

18 19 20

KIERKEGAARD, Entweder/Oder II, 280. HABERMAS, Begründete Enthaltsamkeit, 19. Ebd. 19.

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mehr übergangen werden. Im Fall einer pränatalen Modellierung des Embryos würde man einen solchen reflexiven Selbstbezug von Seiten Dritter antizipieren und ein Individuum in der Herausbildung seines eigenen Selbstverständnisses grob bevormunden: „Mit der irreversiblen Entscheidung, die eine Person über die ‚natürliche‘ Ausstattung einer anderen Person trifft, entsteht eine bisher unbekannte interpersonale Beziehung. Diese Beziehung neuen Typs verletzt unser moralisches Empfinden, weil sie in den rechtlich institutionalisierten Anerkennungsverhältnissen moderner Gesellschaften einen Fremdkörper bildet“.21

Deshalb spricht sich Habermas dezidiert gegen eine solche Liberalisierung im Bereich der Genetik aus. Diese würde die Authentizität des Kindes radikal infrage stellen. Das gesellschaftliche, d.h. intergenerationelle Band von Eltern und Kindern drohe damit aber zu reißen: „Der heranwachsende Jugendliche wird eines Tages selbst die Verantwortung für seine Lebensgeschichte und für das, was er ist, übernehmen können. Er kann sich nämlich reflexiv zu seinem Bildungsprozess verhalten, ein revisionäres Selbstverständnis und auf sondierende Weise die asymmetrische Verantwortung, die Eltern für die Erziehung ihrer Kinder tragen, retrospektiv ausgleichen. Diese Möglichkeit einer selbstkritischen Aneignung der eigenen Bildungsgeschichte ist gegenüber genetisch manipulierten Anlagen nicht in derselben Weise gegeben“.22

Mit anderen Worten: „Die Kinder können sich nicht mehr nur bei einer anonymen Instanz wie der Natur, dem Schicksal oder Gott …, sondern bei benennbaren Akteuren“ über ihre genetische Ausstattung beklagen.23 Dies führe aber zu einer „neue[n], aggressivere[n] Qualität“ im intergenerationellen Verhältnis.24

2.2

Posthumanistische Verschärfung: Authentizität durch Enhancement

Versucht man nun im Anschluss an Kierkegaards „ethisches Selbst“ eine Kritik der Enhancement-Technologie zu lancieren, begibt man sich auf sehr dünnes Eis. So zeigte etwa N. Janßen, dass gerade „Authentizität das

21 22 23 24

Ebd. 30. Ebd. 31. BIRNBACHER, Habermas‘ ehrgeiziges Beweisziel, 125. Ebd. 125.

Authentizität und Selbst-Bestimmung

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[eigentliche] Ziel vieler Nutzer“ von Enhancementprodukten ist.25 Der Gedanke der „Authentizität“ lässt sich demnach nicht so ohne weiteres als Oppositionsbegriff zum „Enhancement“ in die Debatte einführen. So lässt sich konstatieren, dass gerade teleologische Moralkonzeptionen, zumal mit utilitaristischer Ausrichtung Enhancement vor dem Hintergrund der jeweiligen Authentizität befürworten. In der bioethischen Diskussion wird dabei regelmäßig auf das Psychopharmakon „Prozac“ verwiesen.26 Dabei handelt es sich um einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, der 1975 von Eli Lilly and Company als Patent angemeldet wurde und – wie der Vorgänger Zimelidin – v. a. gegen Depression verabreicht wird. Serotonin ist im menschlichen Organismus vielfältig wirksam. Im Zentralnervensystem wirkt es dämpfend gegen Gefühlszustände wie Angst, Aggressivität oder Kummer. Ein Mangel an Serotonin bildet daher häufig die Ursache depressiver Verstimmungen. An dieser Stelle setzt Prozac an. Indem die Wiederaufnahme von Serotonin gehemmt wird, kommt es zu einer höheren Konzentration in den entsprechenden Gehirnregionen, was als eine Stimulation des Glücksgefühls empfunden wird. Dies führt zu als typisch empfundenen Gefühlszuständen, die als genuin authentisch beschrieben werden (z. B. „ich bin wieder ich selbst“, „ich finde wieder mein wahres Selbst“). Die von Habermas zuvor ins Spiel gebrachte Beschreibung einer dissonanten Spannung von Enhancement und Authentizität (die der Seitenblick auf „Prozac“ nochmals zu exemplifizieren versuchte) ist folglich eine scheinbare. Auf diese Weise lässt sich im Paradigma des „ethischen Selbst“ der Einsatz von „Enhancement“ – so wie es Habermas versucht – nicht konsistent problematisieren. Denn selbst noch dem Verweis auf die Problematik einer intergenerationellen Asymmetrie lässt sich nochmals utilitaristisch kontern. So erscheint es vergleichsweise als untypisch, dass sich Kinder bei ihren Eltern über bestimmte verbesserte Fähigkeiten beklagen. Ein Kind, das sich körperlich als besonders athletisch erfährt und gleichzeitig durchschnittlich musikalisch begabt ist, wird sich nicht über seinen muskulösen Körperbau beschweren, sondern die elterliche Unterlassung einer genetischen Modellierung seiner musikalischen Veranlagung kritisieren. Damit formt der Utilitarist das Kierkegaard’sche Contra- in ein Pro-Argument für Enhancement um. Wird nämlich Authentizität mit dem „ethischen Selbst“ als etwas bestimmt, das durch Handlungen zu erreichen

25 26

JANSSEN, Der Authentizitätsbegriff in der Enhancementdebatte, 10. Vgl. KRAMER, Listenting to Prozac.

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ist, so stellen Enhancementprodukte ein willkommenes Instrument zur Erreichung dieser Ziele dar. Sie sind fragwürdige Mittel für einen zustimmungswürdigen Zweck.27 Der Utilitarismus setzt dabei bei dem Gedanken des Nutzens an. So soll eine Handlung stets so ausgerichtet sein, dass eine größtmögliche Anzahl einen größtmöglichen Nutzen daraus zieht. Dies eröffnet einen argumentativen Spielraum, der sich elastisch an neue Kontexte anpassen lässt.28 Indem der Utilitarismus nämlich unmittelbar vom Individuum ausgeht und damit vom konkreten Einzelfall her denkt, erscheint er im direkten Vergleich gegenüber deontologischen und tugendethischen Konzeptionen gerade für bioethische Debatten als eine attraktive Alternative.

2.2.1 Die Aporie des „ethischen Selbst“ Wie wir gesehen haben bezieht sich Habermas auf Kierkegaards „ethisches Selbst“, um den ursprünglich ontologischen Gedanken der „menschlichen Natur“ in eine nachmetaphysische Terminologie zu übersetzen. Im Hintergrund steht die Bestimmung des Menschen in Form von Verhältnissen. Die Schwierigkeit liegt im Umstand, dass Kierkegaard – zusammengefasst in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode ablesbar – drei unterschiedliche Typen von Verhältnis voneinander unterscheidet: 1. Verhältnis im Sinn einer Relation zwischen zwei Polen, 2. Verhältnis im Sinn eines Zwischenseins, also als Ambiguität zwischen den beiden Polen 3. Verhältnis im Sinn eines Verhaltens zu seinem eigenen Grund Kierkegaards Pointe besteht darin, dass die beiden ersten Verhältnisformen einem anderen Selbstbegriff korrespondieren als die dritte. So geht es bei den beiden ersten Verhältnissen um ein Selbstverhältnis und dessen Binnenstruktur. Ein Verhältnis konstituiert sich in der Regel aus zwei Polen, die, indem sie zueinander in Beziehung gesetzt werden, ein solches aufspannen. Die erste Verhältnisform nimmt das Verhältnis von den beiden Polen her in den Blick, die zweite setzt beim Zwischensein der besagten

27

28

Die Fragwürdigkeit bezieht sich auf Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit, den Nebenwirkungen oder dem dadurch erzeugten sozialen Druck auf jene Personen, die sich gegen eine Modellierung entscheiden. Vgl. JUENGST, Was bedeutet Enhancement? Vgl. BIRNBACHER, Natürlichkeit, 169–190.

Authentizität und Selbst-Bestimmung

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Pole an und die dritte Verhältnisform konfrontiert das Verhältnis mit dessen eigenem Grund. Damit transzendiert die dritte Verhältnisbestimmung die Elemente des Verhältnisses. Denn der Grund einer Sache lässt sich nicht mehr aus dessen Elementen ableiten. Immer dort, wo derartiges behauptet wird, stößt man auf aporetische Begründungsformen gemäß dem „Münchhausen-Trilemma“: Dabei strebt die Begründung entweder nach außen und steuert auf einen infiniten Regress zu, oder wendet sich nach innen und bildet somit einen logischen Zirkel aus, oder bricht drittens den Argumentationsgang in Form einer Dezision gänzlich ab.29 Dies trifft nun auch auf ein Selbst zu, das in Anspruch nimmt, sich selbst zu begründen. Exemplarisch sei dies am Beispiel des infiniten Regresses verdeutlicht. Erfolgt eine solche Begründung nämlich in Form eines Selbstverhältnisses, so bestimmt sich ein Selbst als das, „was sich zu sich selbst verhält“ und grenzt dies zugleich von diesem qua Verhältnis ab. Mit anderen Worten: „Das Selbst ist nicht das Verhältnis […, qua das, ‚was sich zu sich selbst verhält‘], sondern, dass sich das Verhältnis [… qua das, ‚was sich zu sich selbst verhält‘] zu sich selbst verhält“.30

Es geht ganz offensichtlich um ein Verhältnis zu einem Verhältnis. Von daher ist es leicht ersichtlich, dass der Akt der Selbstbegründung ad infinitum zu iterieren droht. Denn es kann nur schwer einsichtig gemacht werden, dass man den argumentativen Endpunkt bereits erreicht hat. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob man sich zu diesem neuen Verhältnis nicht gleichfalls ins Verhältnis zu setzen hat. Der zu bestimmende Begriff eines Selbst wird somit in eine Verhältnisstruktur übersetzt, die man ihrerseits wieder durch Folgeverhältnisse zu fassen versucht. Eben diese Aporie haben D. Henrich und M. Frank für den Bereich des Selbstbewusstseins in Form einer Kritik am Repräsentationsmodell herausgearbeitet. Der eigentliche Kritikpunkt liegt bereits in der Herangehensweise an das Bewusstseinsphänomen: „Die Vertrautheit mit Bewusstsein kann überhaupt nicht als das Resultat eines Unternehmens verstanden werden. Sie liegt ja schon vor, wenn Bewusstsein eintritt. Und niemand wird sagen, er habe in der Weise versucht, zu Bewusstsein zu kommen, in der er sich um Introspektion, Reflexion und Beobachtung bemühen kann“.31

29 30 31

Vgl. ALBERT, Traktat über kritische Vernunft, 8–28, v. a. 13. KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode, 8. HENRICH, Selbstbewusstsein, 271.

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Das Subjekt versucht sich im „Repräsentationalismus“ in Form einer Verhältnisreflexion selbst zu repräsentieren: „Dieses Modell nimmt an, Bewusstsein sei … stets Vorstellung von einem Gegenstand, der gleichsam – um im Bild zu bleiben – vor die Augen des Bewusstseinssubjekts gestellt wird [… und somit] ihm gegenüber“.32

In dieser Konstellation übt das Selbst allerdings gleichzeitig zwei unterschiedliche Funktionen aus: Zum einen ist es das Objekt und somit der Gegenstand, der gerade repräsentiert wird und zum anderen Subjekt, also die tätige Kraft, die gerade den Repräsentationsakt vorantreibt. Die Aporie besteht demnach in Form der reflexiven Fixierung des Subjekts: So will ich „das Subjekt, das ich bin, in seiner absoluten Subjektivität. Aber indem ich es fixiere (durch Reflexion), wird es mir zum Gegenstand und hört auf, lauteres Subjekt zu sein“.33

Diese Dichotomie liegt nun den beiden ersten Verhältnisformen zugrunde. Demgegenüber ordnet Kierkegaard, die dritte Verhältnisform einem anderen Selbstbegriff zu als die beiden ersten. Die entscheidende Textpassage aus Die Krankheit zum Tode lautet: „Ein solches Verhältnis …, muss entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein“.34

Das „ethische Selbst“ ist, wie im Übrigen auch das „ästhetische Selbst“, der ersten Variante zuzuordnen. Es geht um ein Selbstverhältnis, das sich durch Selbstsetzung konstituiert. Habermas selbst hat dies mehrfach Fichtes Modell einer „Thathandlung“ zugeordnet.35 Es steht prototypisch für ein Selbstmodell, das unter massivem Leistungsdruck steht und glaubt, sich in seiner Identität selbst schaffen zu müssen. Dabei identifiziert es sich mit dem, was es geschaffen hat und mit dem es sich von seiner Umwelt abzuheben versucht.36 Bei Kierkegaard läuft es auf dasselbe hinaus, ob sich dieser Leistungsdruck in Form einer ästhetischen Existenz oder einer moralischen entlädt. Mit anderen Worten: Der Don Juan-Typus laboriert an derselben Erschöpfungssymptomatik wie der Spießbürger.37 Beide,

32 33 34 35 36 37

FRANK, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorien, 434. FRANK, Auswege aus dem Deutschen Idealismus, 415. KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode, 9 (Hervorhebung KV). HABERMAS, Metaphysik nach Kant, 33. Vgl. BRÖCKLING, Das unternehmerische Selbst. Kierkegaards Stadienlehre, die er in seinem Œuvre stetig weiterentwickelt und korrigiert, ist retrospektiv gesehen so angelegt, dass auf der einen Seite die Existenzformen von Ästhetiker, Ethiker und Religiosität A stehen und sich auf der anderen

Authentizität und Selbst-Bestimmung

173

so Kierkegaard, verzweifeln an der unersättlichen Verfolgung ihrer selbstgesetzten Ideale: Frauen zu erobern oder verbissen die Welt zu verbessern sind nur zwei Seiten einer Medaille. Mit anderen Worten: Es handelt sich um nichts anderes als bloße Variablen, die in ein und derselben Gleichung ausgetauscht werden. Wo der Ästhetiker als Ziel die Eroberung von Frauen einsetzt, findet sich beim Ethiker die Realisierung moralischer Tugenden. Der Gedanke bleibt dabei der gleiche.

2.2.2 Seitenblick: C. Taylor und die Entwicklung von Authentizität Der Bezug auf ein „ethisches Selbst“, so wie es uns bei Habermas begegnet, ist laut C. Taylor selbst Produkt einer historischen Entwicklung. Ein Selbst bildet sich in Interaktion mit seiner Umwelt heraus. Entscheidend für die Entwicklung von Authentizität ist für ein Selbst der bewusste Bezug auf das historische Fundament, der den Werten, die man sich aneignet, zugrunde liegt. Dies bestimmt Taylor in seinen materialreichen Studien an einer Stelle als „Versuch der erinnernden Wiedergewinnung“.38 So geht es ihm um die Weckung eines Bewusstseins für die historische Gewachsenheit von Authentizität, die auf dem Prozess einer Selbstdeutung basiert: „Mein Handeln bestimmt sich aus dem Bild, das ich von mir selbst habe, und dieses Selbstbild stellt das Resultat einer Selbstdeutung dar, die … aus dem Fundus einer bereits gedeuteten Umwelt schöpft“.39

Eine solche Selbstdeutung fußt auf einem Handlungsbegriff, den Taylor von H. Frankfurt bezieht. Frankfurt unterscheidet Wünsche erster und zweiter Ordnung:

38 39

Seite die Existenzform von Religiosität B befindet. Religiosität B beschreibt dabei den Zustand vor dem Sündenfall, in dem der Mensch in Unmittelbarkeit mit Gott lebt. Nach dem Sündenfall orientieren sich die Menschen nämlich mit Hilfe des Geistes in der Welt und aufgrund dieser Mittelbarkeit des Geistes werden sie zu Sündern. Die Lebensform von Ästhetiker, Ethiker und Religiosität A beschreiben dabei unter welcher Leitideen bzw. Idealen der Geist zur Strukturierung des eigenen Lebens eingesetzt wird. Als Beispiel dient Kierkegaard u. a. Mozarts Don JuanFigur, der in der Steigerung der Anzahl seiner Liebschaften sein Lebensideal erblickt oder der Prototyp des Spießbürgers, der um jeden Preis seine Grundsätze zu verteidigen versucht. Vgl. etwa die Darstellungen bei VETTER, Stadien der Existenz, 39–168; EVANS, Kierkegaard, 68–138 oder LIESMANN, Ästhetik der Verführung. TAYLOR, Quellen des Selbst, 27. BREUER, Charles Taylor zur Einführung, 32.

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„Menschen sind nicht die einzigen Wesen, die Wünsche und Motive haben oder die Wahlentscheidung treffen. Sie unterscheiden sich darin nicht von den Mitgliedern anderer Arten, von denen einige anscheinend sogar Erwägungen anstellen und Entscheidungen nach vorhergehender Überlegung treffen. Es scheint aber eine besondere Eigentümlichkeit von Menschen zu sein, daß sie … ‚Wünsche zweiter Stufe‘ zu bilden fähig sind. … Kein Tier außer dem Menschen scheint … die Fähigkeit zur reflektierten Selbstbewertung zu haben, die sich in der Bildung von Wünschen zweiter Stufe ausdrückt“.40

Taylor greift die „Wünsche zweiter Stufe“ auf und differenziert diese aus, indem er in „schwache“ und „starke Wertungen“ unterscheidet. Während den „schwachen“ keine moralische Motivation innewohnt, handelt es sich bei den „starken“ um moralisch motivierte: „Indem das Subjekt seine Handlungsabsichten in Form einer starken Wertung prüft, fragt es stets auch danach, welche Art von Leben es führen möchte“.41

Von hier aus schlägt Taylor eine Brücke zwischen „Identität“ und „Wertung“: „Unsere Identität ist … durch bestimmte Wertungen definiert, die untrennbar mit uns als Handelnden verknüpft sind. … Unsere Existenz als Personen und damit unserer Fähigkeit, als Personen an bestimmten Wertungen festzuhalten, würde außerhalb des Horizonts dieser wesentlichen Wertungen unmöglich“.42

Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass dieser vorgängige Horizont unsere Identität ausmacht. Der Authentizitätsgehalt liegt demnach in der Aneignung der jeweils prägenden Werteordnung. Eine solche Argumentation verfährt aber aporetisch, da sie die Argumentationskette in Form einer Dezision abbricht: „Ich [habe]einen Wunsch zweiter Ordnung, wenn ich einen Wunsch habe, dessen Gegenstand darin besteht, daß ich einen bestimmten Wunsch (erster Ordnung) habe“.43

Die Verhältnisse, in die das Selbst mit seiner Umwelt tritt, werden dabei als Identität des Selbst gegengelesen und damit diese Verhältnisse als authentisch gelten, bedarf es eines Bewusstseins von deren Herkunft. Damit nimmt Taylor aber – analog zu Habermas – ein Selbst auch lediglich in Form eines „handelnden“ und nicht in elementarer Weise als ein „existierendes“ Wesen wahr.

40 41 42 43

FRANKFURT, Willensfreiheit und der Begriff der Person, 288. BREUER, Charles Taylor zur Einführung, 33. TAYLOR, Negative Freiheit ?, 37. Ebd. 9.

Authentizität und Selbst-Bestimmung

3.

175

Fazit

Mit dem Kierkegaardʼschen Argument eines „ethischen Selbst“ lässt sich die posthumanistische These nur bedingt kontern. Habermas markiert damit zwar die diskursive Aporie eines intergenerationellen Konfliktes, allerdings lässt sich diese utilitaristisch leicht überwinden. Der Grund liegt m.E. allerdings nicht an Habermas’ moralischem Kompass, als vielmehr an dessen methodischer Fundierung. Bereits bei Kierkegaard ist nämlich das „ethische Selbst“ als ein aporetisches Konzept angelegt und eben diese Aporie kommt in der Habermas’schen Rezeption erneut an die Oberfläche. Die Frage nach der Authentizität eines Selbst erweist sich in diesem Zusammenhang als Indikator.

176

Klaus Viertbauer

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Authentizität und Selbst-Bestimmung

177

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4. Theologische Aufnahmen

Gerd Theißen

Authentische Jesusüberlieferung Über verdeckte, milieubezogene und anekdotische Authentizität

„Authentizität" ist ein amorphes Wort, das sich einer klaren Analyse entzieht.1 Wir beschränken uns in diesem Aufsatz auf zwei Varianten des Begriffs: Unter personaler Authentizität verstehen wir die Übereinstimmung eines Menschen mit sich selbst, unter auktorialer Authentizität die Übereinstimmung des angenommenen mit dem realen Autor eines Textes. In beiden Formen liegen Zuschreibungsakte vor: Jemand beurteilt, ob der Urheber einer Lebensäußerung oder einer Schrift mit dem realen Urheber übereinstimmt. In der Jesusforschung spielen Authentizitätsfragen eine große Rolle. Dabei denkt man zunächst an auktoriale Authentizität. In diesem Aufsatz fragen wir nun: Setzen wir bei Authentizitätsurteilen über Jesusüberlieferung auch seine personale Authentizität voraus? Oder projizieren wir dabei moderne Konzepte der Person in die Antike? Muss man für die Antike vielleicht den personalen und auktorialen Begriff der Authentizität modifizieren und erweitern? Wir werden in der Tat auf drei besondere Formen auktorialer Authentizität stoßen: verdeckte, milieubezogene und anekdotische Authentizität.

1.

Personale Authentizität

Unser Konzept von personaler Authentizität entstand der Sache nach erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts – unabhängig vom Wort „Authentizität“.2 J. G. Herder schrieb jedem Menschen eine unverwechselbare Individualität zu: „Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung

1 2

Vgl. SAUPE, Authentizität. Vgl. TAYLOR, Quellen des Selbst.

182

Gerd Theißen

aller sinnlichen Gefühle zueinander“.3 Individualität wurde als Gabe und Aufgabe verstanden. Sie zeigte sich vor allem im „Genie“, das vorgegebene Regeln bricht und neue Regeln setzt.4 Die „Geniekultur“ einer kleinen künstlerischen Elite im 18. Jahrhundert wurde im Laufe von zwei Jahrhunderten „demokratisiert“. Heute wollen viele ihr Leben als Kunstwerk gestalten. „Authentizität“ wurde Teil einer moralischen Erwartung. Daher gibt es heute die Versuchung, Authentizität vorzutäuschen. Ergebnis ist eine postmoderne „Authentizitätsskepsis“: Wir müssen Authentizität als moralische Pflicht „inszenieren“, inszenierte Echtheit wirkt aber unecht. Diese Probleme hatte die Antike nicht. Sie kannte noch nicht die Forderung, individuell sein zu müssen und darin die entscheidende Lebensaufgabe zu sehen. Was berechtigt aber, dennoch in der Antike von Authentizität zu sprechen? Auch für die Antike gilt, dass Menschen in Übereinstimmung mit sich leben oder nicht leben. Die Annahme solch einer personalen Authentizität setzt ein inneres Programm und dessen Erkennbarkeit voraus. Man kann es Skript oder Lebenslinie nennen, d. h. einen auch von außen lesbaren Zusammenhang des Lebens, oder ein Selbstverständnis, d. h. ein von innen entworfenes Bild von sich selbst. Spricht man von einem Lebensentwurf, so impliziert das, dass der Mensch durch Entscheidungen sein Leben „entwirft“. Spricht man von seinem Charakter, so umfasst das stärker Elemente, die sich der Entscheidung entziehen. Der Begriff Identität umfasst alles: Außen- und Binnensicht, selbstbestimmte und vorgegebene Aspekte des Lebensprogramms. Das alles gab es auch in der Antike. Dabei machen wir auch hier drei Voraussetzungen. Erstens rechnen wir mit einem Minimum an Selbstbestimmung: Das innere Programm eines Menschen darf kein biologisches Wachstumsprogramm sein. Der Mensch muss Mitverfasser seines Lebens sein. Streiten kann man darüber, ob nicht auch ein deterministisches Menschenbild „Authentizität“ kennt. Die Abweichung vom inneren Programm wäre dann von außen bedingt – wie das Wachstum einer Pflanze durch Steinschlag verhindert werden kann. „Authentizität“ als ethischer Wert setzt aber immer ein Stück Selbstbestimmung voraus.5

3 4 5

HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 291. Vgl. SCHMIDT, Geschichte des Genie-Gedankens. Vgl. TAYLOR, Ethics of Authenticity.

Authentische Jesusüberlieferung

183

Zweitens setzen wir die Erkennbarkeit des inneren Programms voraus – für eine Instanz, welche die Abweichung von diesem „Programm“ erkennen oder darüber getäuscht werden kann. Die drei möglichen Instanzen sind: das private Ich, andere Menschen in der Kleingruppe oder in der Öffentlichkeit. Die moderne Authentizitätsforderung verlangt, dass alle in Übereinstimmung stehen. Die Antike hatte hier bescheidenere Ansprüche. Es kannte viel weniger ein privates Ich. Drittens setzen wir Individualität voraus – auch in der Antike, wo Individualität noch nicht zur Aufgabe und zum Ziel geworden ist. Menschen sind nur durch individuelle Züge identifizierbar. Ein Minimum von Individualität ist dabei mit Ort und Zeit gegeben. Streiten kann man darüber, ob authentische Äußerungen individuell sein müssen. Liebesbekenntnisse und Beileidsbezeugungen sind selten originell und können trotzdem tief empfunden sein. In der Antike lebt, spricht und denkt man freilich insgesamt mehr nach „Schablone“, als wir es heute tun. Es gibt Grenzfälle von Authentizität: So kann es das Programm eines Menschen sein, in Widerspruch mit sich zu leben. Er verkörpert dann eine Authentizität des Inauthentischen. Wir finden sie als literarische Typen: als den Schmeichler, den sich anpassenden Opportunisten; den Heuchler, den Histrioniker, der die Rolle ist, die er gerade darstellt. Ferner findet keiner ein fertiges „Lebensprogramm“ vor. Wir alle spielen am Anfang die Rollen, in die wir später hineinwachsen.6 Was synchronisch Authentizität des Nicht-Authentischen ist, ist diachronisch „werdende Authentizität“, d. h. eine Authentizität in Entwicklung. Gerade darin sind Aufwachsende authentisch, dass sie noch nicht den zu ihnen passenden Ausdruck ihres Lebens gefunden haben. Wann aber sind wir je fertig? Noch einmal sei gefragt: Ist eine Anwendung des soeben skizzierten Authentizitätsbegriffs auf antike Menschen überhaupt möglich? In der Antike war das Verhältnis zwischen privatem Ich, öffentlichem Selbst und einem Gruppen-Ich sicher anders. Der Mensch war vor allem das, was er in den Augen anderer war. Das ist typisch für eine außengelenkte shame-andhonor-Kultur im Unterschied zu unserer Schuldkultur, in der sich der Mensch durch sein Gewissen beurteilt und an sich selbst misst. Diese Außenabhängigkeit ist freilich nicht passives Bestimmtsein: Der Mensch ist nicht nur das, was er im Urteil anderer ist. Er ist auch das, was

6

NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches, I,2, 51 stellt treffend dar: „Wie der Schein zum Sein wird“ (KSA 2, 71f ).

184

Gerd Theißen

er in anderen bewirkt. Als Patron bestimmt er in der Antike das Leben seiner Klienten, als Charismatiker bindet er Menschen an sich. Die Antike ist eine patron-client-Kultur genauso, wie sie eine shame-and-honor-Kultur war. Die Verteilung von Ansehen und Ehre wurde durch Mächtige aktiv beeinflusst. Sie existieren in dem, was sie bewirken. Wir sind in modernen Zeiten in erster Linie das, was wir in Übereinstimmung mit uns selbst sind – unabhängig von Gruppenzugehörigkeiten und öffentlichen Rollen. Jedoch wird eine Kontrastierung von Antike und Moderne in diesem Punkt schnell anachronistisch: Wenn man die Antike als Gegensatz zur Gegenwart definiert, macht man das Urteil über sie gegenabhängig vom Urteil über unsere Zeit. Die Antike ist zweifellos anders, aber sie ist nicht immer das genaue Gegenteil. Sie ist oft nur begrenzt anders. Entscheidend ist die Erkenntnis kleiner Unterschiede. Daher sei betont: Auch die Antike kennt den Unterschied zwischen einem Ich und seinen Rollen. Sonst könnte sich Paulus in 1 Kor 9,20–22 nicht dessen rühmen, dass er allen alles geworden ist: Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; Denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. … Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten.

Ist Paulus deswegen ein Schmeichler? Ein Schauspieler? Ein Heuchler? Oder beherbergt Paulus in sich viele Möglichkeiten des Menschenseins – so dass er gerade durch deren Aktivierung seinem eigenen Programm folgt, wie er selbst behauptet.7 Gab es nicht auch hier schon eine Authentizität des Nicht-Authentischen? Ebenso erfuhren auch in der Antike Menschen Entwicklungen und Umbrüche in ihrem Leben – eine Authentizität in Entwicklung: Das Leben des Paulus ist durch einen Bruch bestimmt. Er wurde aus einem Verfolger der Christen zu deren Missionar. Als Christ veränderte er sich. Sein ältester Brief verurteilt in 1 Thess 2,14–16 scharf die Juden: Endgültig sei über sie der Zorn Gottes gekommen, weil sie seine Heidenmission behindern. In seinem letzten (oder einem seiner letzten) Briefe urteilt er positiv: Ganz Israel wird gerettet werden (Röm 11,26).

7

MARSHALL, Enmity in Corinth, 70–90, zeigt wie nah die paulinische Selbstbeschreibung der Charakterisierung von Schmeichlern und Opportunisten in der Antike steht.

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185

Gewiss ist Paulus eine Ausnahmegestalt. Eben dadurch hat er moderne Züge. Sein Ich behauptet sich gegen Erwartungen seiner Umwelt. Er hatte einen Bruch in seinem Leben erfahren. Aber auch solch ein „Ausnahmemensch“ wie Paulus kann die einfache Kontrastierung antiker und moderner Persönlichkeitsstrukturen in Frage stellen. Zu einfach sind manche Dichotomien in der „kulturanthropologischen Exegese“: B. Malina bezeichnet die Außenabhängigkeit des antiken (mediterranen) Menschen mit dem Begriff „dyadische Persönlichkeit“.8 R. Rohrbaugh unterscheidet ein privates Ich, Gruppen-Ich und öffentliches Ich. Der moderne Mensch werde daran gemessen, wie er sein privates Ich mit seinem öffentlichen Ich in Übereinstimmung bringt, der antike Mensch daran, wie er sein Gruppen-Ich mit seinem öffentlichen Ich in Übereinstimmung bringt.9 Die gründlichste Untersuchung zur sozialen Dimension antiker „Identität“ liefert Pierre-Yves Brandt.10 Zur dyadischen Persönlichkeit finden sich dort wichtige Richtigstellungen. Ursprünglich war damit die Beziehung zwischen zwei Personen gemeint, nicht zwischen einer Person und ihrer Gruppe.11

Das moderne Ich hat auf jeden Fall auch Ursprünge in der Antike. Schon in der Antike waren die Menschen auf dem Weg zu Ichzentrierung und Ichbewusstsein.12 In der griechischen Philosophie entstand das Ichzentrum durch Unterordnung aller Kräfte unter die Vernunft, in der Bibel durch Ausrichtung des ganzen Herzens, der ganzen Seele und aller Vermögen auf den einen und einzigen Gott. In beiden Traditionen wird dem Menschen unabhängig von seiner Gruppenzugehörigkeit ein Wert zugeschrieben. Wir erleben ferner, wie diese Ich-Identität gefährdet war – in der antiken Moralphilosophie durch Leidenschaften im Inneren, in frühjüdischen Schriften durch dämonische Impulse von außen. Das Neue Testament ringt um die Wiederherstellung der Ich-Einheit und eine innere Unabhängigkeit von den Erwartungen der Gesellschaft. Das Ich wird darin gestützt durch eine Gemeinde, die sich als „Leib Christi“ versteht. In sie ist es eingebettet. Wir müssen zwar damit rechnen, dass die Außenabhängigkeit in der Antike größer war als in unseren Zeiten, aber es ist ein gradueller, kein grundsätzlicher Unterschied. Auf keinen Fall darf man über den Außenbeziehungen vernachlässigen, dass die Menschen auch damals ein Verhältnis zu sich selbst hatten. Sonst würde das Thema der Affektkontrolle und

8 9 10 11 12

MALINA, Christian Origins and Cultural Anthropology, 19. ROHRBAUGH, Ethnocentrism and Historical Questions about Jesus, 33–35. BRANDT, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple, 71–171. Ebd. 137-139. Vgl. THEISSEN, Erleben und Verhalten, 52–68.

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Selbstbeherrschung keine so große Rolle spielen.13 So viel also zur personalen Authentizität in der Antike.

2.

Auktoriale Authentizität

Auktoriale Authentizität meint die zutreffende Zurechnung einer Quelle oder einer Überlieferung an eine Person, die als ihr Autor gilt. Beim historischen Jesus orientierte sich die Exegese an drei Kriterien. Das Differenzkriterium sagt: Echtes Jesusgut ist, was aus dem Judentum und dem Urchristentum nicht abgeleitet werden kann bzw. was sich weder „in das jüdische Denken noch in die Auffassung der späteren Gemeinde einfügen läßt“.14 Auf diese Weise glaubte man, ein kritisch gesichertes Minimum zu erhalten. Hinzu kam das Kohärenzkriterium: Echtes Jesusgut ist, was mit den aufgrund des Differenzkriteriums als echt erkannten Traditionen inhaltlich übereinstimmt. Dieses Kriterium wurde als abhängiges Kriterium formuliert. Als Ergänzung diente die Mehrfachbezeugung: Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass echtes Jesusgut vorliegt. Dieses Kriterium ist unabhängig von den zwei ersten, gilt aber als nachgeordnet, weil es ein Zufall ist, ob ein Wort mehrfach überliefert ist. Heute wird das Differenzkriterium als verkappte Dogmatik kritisiert: Jesu Einzigartigkeit und Unableitbarkeit stehen a priori fest. Was Jesus mit dem Judentum und dem Urchristentum verbindet, wird zu gering bewertet. Historisch gesehen gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Differenzkriterium und der Entstehung des modernen Selbst: Jesus wurde in der Blütezeit der Jesusforschung im 19. Jahrhundert als geniale Persönlichkeit gedeutet, die alte Gesetze sprengt und neue schafft.15 Das Differenzkriterium gilt ferner als kaum praktikabel: Negative historische Allgemeinaussagen sind nicht verifizierbar, da wir nicht alle Quellen kennen können, sondern nur eine zufällige Auswahl. Wohl kann man in der Geschichte etwas „ableiten“, vor allem, wenn man sich dabei auf ein begrenzbares Corpus

13

14 15

NITSCHKE, Historische Verhaltensforschung, unterscheidet autodynamische, heterodynamische und transformationsdynamische Modelle der Affektkontrolle in der Antike. In der neutestamentlichen Wissenschaft wurden diese Kategorien eingeführt durch von Gemünden, Affekt und Glaube, 34–51. CONZELMANN, Art. Jesus, 623. THEISSEN / WINTER, Kriterienfrage, 1997, 45–65.

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187

von Schriften bezieht, „Unableitbarkeit“ festzustellen, ist dagegen unmöglich. Das Kohärenzkriterium schließlich war im traditionellen Kriterienkatalog vom Differenzkriterium abhängig und setzt dessen Fehlannahmen fort. Es unterschätzt Widersprüche und Entwicklungen bei Jesus. Das Kriterium der Mehrfachbezeugung ist nicht zu kritisieren, kann aber nur im Verbund mit anderen Indizien wirksam werden. Dagmar Winter und ich haben wegen dieser Kritik vorgeschlagen, die traditionellen Authentizitätskriterien als historisches Plausibilitätskriterium neu zu formulieren:16 Historisch ist in den Quellen das, was sich als Auswirkung Jesu begreifen lässt und nur in einem jüdischen Kontext entstanden sein kann. Wir unterscheiden also historische Wirkungs- und Kontextplausibilität. (1) Wirkungsplausibilität haben Jesusüberlieferungen, wenn sie als Auswirkungen des Lebens Jesu verständlich sind, teils durch Übereinstimmung unabhängiger Quellen, teils durch tendenzwidrige Elemente in diesen Quellen. Kohärenz verschiedener Überlieferungen und Tendenzwidrigkeit einzelner Traditionen sind daher komplementäre Kriterien für historische Wirkungsplausibilität. Dabei ist wichtig, dass die Kohärenz in verschiedenen Überlieferungen ein selbstständiges Kriterium ist, das nicht von einem anderen abhängig ist. (2) Kontextplausibilität haben Jesusüberlieferungen, wenn sie in den jüdischen Kontext des Wirkens Jesu passen und innerhalb dieses Kontextes als individuelle Erscheinungen erkennbar sind. Kontextuelle Korrespondenz und kontextuelle Individualität sind komplementäre Kriterien für historische Kontextplausibilität. Wir erhalten somit insgesamt vier Teilkriterien:

16

Kohärenz und Übereinstimmung

Inkohärenz und Nicht-Übereinstimmung

Wirkungsplausibilität

wirkungsplausible Übereinstimmung = Mehrfachbezeugung

wirkungsplausible Nicht-Übereinstimmung = Tendenzwidrigkeit

Kontextplausibilität

kontextuelle Übereinstimmung = Ableitbar aus Kontext

kontextuelle Nicht-Übereinstimmung = Individualität

THEISSEN / WINTER, Kriterienfrage, 215-217. THEISSEN / MERZ, Der historische Jesus, 116-120; THEISSEN, Historical Scepticism and Jesus Research.

188

3.

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Zusammenhänge zwischen personaler und auktorialer Authentizität?

Auktoriale Authentizität ist formal. Entweder hat ein Autor den diskutierten Text geschaffen oder nicht – unabhängig vom Inhalt des Textes. Personale Authentizität ist dagegen immer inhaltlich. Eine Lebensäußerung muss mit dem „Programm“ einer Person verglichen werden. Diese Unterscheidung relativiert sich, wenn wir die Erkennbarkeit auktorialer Authentizität berücksichtigen: Sie kann nur dann erkannt werden, wenn wir einzelne Äußerungen mit dem ganzen Profil und Programm einer Person vergleichen können. Manchmal verfügen wir neben intrinsischen Zeugnissen auch über extrinsische Zeugnisse. Extrinsisch sind alle Aussagen über den Autor außerhalb der zu untersuchenden Schrift, seine Lebensdaten oder Aussagen über die Entstehung des Textes. Extrinsische Indizien können manchmal die Nicht-Authentizität eines Textes beweisen – wenn z. B. ein Text erst nach dem Todesdatum des Autors entstanden sein kann. Meint man etwa, aus dem Hebräerbrief Hinweise auf eine Entstehung nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) zu gewinnen, so kann er nicht von Paulus stammen, da Paulus spätestens bei der neronischen Verfolgung (63 n.Chr.) ums Leben gekommen ist.

Wenn personale Authentizität die Übereinstimmung mit einem inneren Programm ist, so sind wir also darauf angewiesen, genügend Lebensäußerungen zu haben, um solch ein Programm zu erkennen. Nur dann können wir sagen: Das passt zu ihm, das passt nicht dazu. Dasselbe gilt für das Erkennen auktorialer Authentizität: Sobald man ausreichend viele Überlieferungen von Jesus hat und sein Profil deutlich erkennen kann, kann man ihm weitere Überlieferungen zuordnen oder absprechen. Dann wächst sehr schnell die historische Zuversicht. Fehlt dieses Minimum, versinkt sie ebenso schnell in Skepsis. Daher rührt die Labilität der Jesusforschung, d. h. der häufige Umschlag von Zuversicht in Skepsis und Skepsis in Zuversicht. Wir können in diesem Punkt eine klare Abhängigkeit von Urteilen zur auktorialen Authentizität von unseren Annahmen zur personalen Authentizität Jesu feststellen. Unbestreitbar ist aber, dass historische Zuversicht vor allem davon abhängig ist, wie gut Jesusüberlieferungen in all das passen, was wir über Galiläa und Judäa im 1. Jahrhundert v.Chr. wissen. Diese Informationen vermehren sich jedes Jahr – durch archäologische Funde und aufmerksame Lektüre literarischer Quellen. Das zeigt: Nicht nur die Übereinstimmung einer Person und ihrer Äußerungen mit sich selbst und ihrem inneren

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„Programm“, sondern noch mehr die Übereinstimmung mit einem konkreten Milieu in der Alten Geschichte ist für die historische Bewertung von Quellen wichtig. Wir können das am Problem einer verdeckten Authentizität von Jesusüberlieferungen verdeutlichen – d. h. bei anonym überlieferten Jesusworten, die auf Jesus selbst zurückgehen.

3.1

Verdeckte Authentizität?

Grundsätzlich gilt: Auch pseudepigraphe oder anonyme Schriften können authentische Lebensäußerungen einer Person enthalten. Zwar könnte man denken: Wenn wir eine Lebensäußerung oder einen Text nicht dem wirklichen Autor zuordnen können – dann können wir diesen Autor überhaupt nicht als personal authentisch erkennen. Aber es gibt Ausnahmen. In den Epistolae Obscurorum Virorum (Dunkelmännerbriefe) von 1515 werden die Gegner Johannes Reuchlins im Streit um den Erhalt jüdischer Schriften parodiert. Die Briefe sind anonym, ihre Autoren sind Humanisten, wahrscheinlich Crotus Rubeanus aus Erfurt, Ulrich von Hutten sowie Hermann von dem Busche aus Leipzig. Es handelt sich um Satiren auf die Spätscholastik. Die Anonymität ist auch Schutzanonymität. Als Friedrich Spee 1631 seine Cautio Criminalis seu de processibus contra Sagas Liber (Rechtlicher Vorbehalt oder Buch über die Prozesse gegen Hexen) anonym gegen den Hexenwahn veröffentlichte, war das gewiss eine existenziell-authentische Schrift; aber er konnte sich nicht offen zu dieser Streitschrift gegen die Hexenprozesse bekennen. Hier liegt eindeutig Schutzanonymität vor. Die Schrift soll keiner konkreten Person zugeschrieben werden, weil sie sich dadurch gefährdet hätte. J. Wolfgang Goethe nahm Liebesgedichte der in Linz geborenen Marianne von Willemer (1784–1860) in seinen West-Östlichen Diwan auf. Eines dieser Gedichte übergab Marianne Willemer ihm im Sepember 1815 bei einem Besuch in Heidelberg: Was bedeutet die Bewegung? Bringt der Ost mir frohe Kunde? Seiner Schwingen frische Regung Kühlt des Herzens tiefe Wunde.

Goethe veröffentlichte dieses Gedicht unter seinem Namen, also pseudonym, dennoch ist es ein authentisches Zeugnis seiner Liebesbeziehung. Er war mit seiner ganzen Person in diesem Liebesgedicht anwesend. Auch

190

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nicht-authentische Texte können also in Grenzfällen „authentische“ Zeugnisse einer Person sein. Es gibt nun ein vergleichbares Phänomen in der Jesusüberlieferung. Wir finden anonym überlieferte Jesusworte. Als Beispiel sei die sectio evangelica in Didache 1,3b–4 genannt. Hier werden als „Lehre der Apostel“ Herrenworte zitiert, aber nicht Jesus zugerechnet. Entweder handelt es sich um eine redaktionelle Einfügung in eine traditionelle jüdische ZweiWege Lehre oder um eine nachträgliche Interpolation in die Didache:17 Segnet, die euch fluchen und betet für eure Feinde. Fastet für die, die euch verfolgen. Denn welche Gnade erwartet ihr, wenn ihr (nur) die liebt, die euch lieben? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr aber: liebt die, die euch hassen, und ihre werdet keinen Feind haben! Enthalte dich der fleischlichen und leiblichen Begierden. Wenn dir jemand einen Schlag auf die rechte Wange gibt, halte ihm auch die andere hin, und du wirst vollkommen sein. Wenn dich jemand zu einer Meile zwingt, geh mit ihm zwei. Wenn dir jemand deinen Mantel nimmt, gib ihm auch den Rock. Wenn dir jemand das Deine nimmt, fordere es nicht zurück. Du kannst es ja auch nicht. Jedem, der dich (um etwas) bittet, gib und fordere es nicht zurück.

Wir können offen lassen, ob die sectio evangelica auf die synoptischen Evangelien, die Logienquelle, eine unbekannte schriftliche Sammlung von Jesussprüchen oder auf mündliche Tradition zurückgriff. Für uns ist entscheidend: Wir finden in ihr im Gebot der Feindesliebe und des Gewaltverzichts Jesusüberlieferungen, die authentisch sind, aber sie werden hier nicht Jesus zugeschrieben. Er ist verdeckt präsent. Fragen wir nach weiteren Belegen für solch eine verdeckte Authentizität von Jesusworten! In der Römerbriefparänese begegnen die beiden Grundforderungen der Feld- bzw. Bergpredigt: das Liebesgebot und das Verbot, einander zu richten. Diese Gebote geben die Struktur der Paränese in Röm 12–15,13 vor: Im ersten Teil dominiert das Liebesgebot (Röm 12–14), im zweiten das Verbot gegenseitiger Verurteilung (Röm 14–15,13). Die nach dem Liebesgebot (12,9f) folgenden Mahnungen erinnern an die Bergpredigt: „Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht“ (12,14). „Vergeltet niemand Böses mit Bösem“ (12,17). „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (12,21). Die Liebe wird wie in der Bergpredigt zur Feindesliebe gesteigert (12,20). Einen Anklang an das Steuergespräch in Mk 12,14–17 hören wir in Röm 13,7: „So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt, Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre ge-

17

Vgl. die Analyse der Stelle bei NIEDERWIMMER, Didache, 93-108.

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bührt.“ Nach der Staatsparänese wird das Liebesgebot dann noch einmal als Erfüllung des Gesetzes zitiert. Auffallend ist, dass Paulus nie das doppelte Liebesgebot der synoptischen Evangelien anklingen lässt, sondern nur das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18). Er zitiert es in Röm 13,8–10 zusammen mit anderen Dekaloggeboten in einer Form, die an Mt 19,18f erinnert, sich also an eine Jesustradition anlehnen könnte. Das zweite Hauptgebot der Feldrede begegnet in Röm 14,10: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder was verachtest du deinen Bruder?“ Konkretisiert wird diese Mahnung dadurch, dass in Speisefragen keiner den anderen verurteilen soll. Auch die Warnung davor, dem anderen ein Ärgernis zu bereiten (Mk 9,42), klingt in Röm 14,13–14 an: „Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite“. Diese Jesusüberlieferungen vom Nicht-Richten und vom Ärgernis sind Ende des 1. Jahrhundert n.Chr. in Rom bekannt (1 Klem 13,1f; 46,7f). Paulus setzt sie als selbstverständliche Maximen voraus. In Röm 14 klingen noch weitere Jesusüberlieferungen an, insbesondere Jesu Wort über die Reinheit (14,14), das Paulus zwar nicht explizit Jesus zuschreibt, bei dem er sich aber darauf beruft, dass der „Herr Jesus“ der Grund für seine Gewissheit ist, dass er diese Einsicht richtig verstanden hat. Warum finden wir solche anonymen Jesustraditionen? Warum häufen sie sich in der Paränese? Vertraut Paulus darauf, dass vom Geist verwandelte Christen spontan das Gute tun und auf keine autoritativen Gebote des Herrn angewiesen sind? Vertraut er auf die Evidenz des Ethischen? Kann er sich hier auf einen moralischen Konsens der Christen stützen? Im Römerbrief muss er sich einer fremden Gemeinde vorstellen. Wenn er in ihm aus der allgemeinen paränetischen Tradition schöpft, signalisiert er Vertrauenswürdigkeit und Übereinstimmung mit ihnen. Jesusworte über Liebe und zwischenmenschliche Güte gehörten zum common sense des Urchristentums, also zu den Überzeugungen, die plausibel waren, ohne dass man sie begründen musste. Es war nicht notwendig, für sie explizit die Autorität des „Herrn Jesus“ zu aktivieren. Ein Beleg dafür ist die Paränese im ältesten Brief des Paulus. Paulus leitet sie mit einer Erinnerung an die „Gebote“ ein, die er „durch den Herrn Jesus“ der Gemeinde gegeben hat (1 Thess 4,2), führt aber keine Mahnung direkt auf Jesus zurück. Das wäre beim Gebot, sich gegenseitig zu lieben, leicht (1 Thess 4,9). Aber all das ist nicht umstritten. Paulus bestätigt, dass die Thessalonicher in diesen Dingen „von Gott selbst“ unterrichtet sind (1 Thess 4,9). Paulus zitiert dagegen in 4,15 eine Überlieferung von der

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Parusie Jesu ausdrücklich als „Wort des Herrn“. Hier spricht er zu Fragen, die in Thessaloniki umstritten waren. Hier braucht er die Autorität des Herrn. Aber schon bei der Plötzlichkeit der Parusie kann er sich auf vertraute Bilder stützen. Sein Bildwort vom Dieb in der Nacht (1 Thess 5,2) hat eine Parallele in einem Jesuswort (Mt 24,43), wird aber auch sonst oft im Urchristentum bezeugt (vgl. 2 Petr 3,10; Apk 3,3; 16,15). Wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass in der urchristlichen Paränese verdeckt echte Jesusworte verborgen sind oder nachwirken – besonders dort, wo diese Paränese einen Konsens zum Ausdruck bringt. Paulus beruft sich nur bei umstrittenen Fragen expressis verbis auf den Kyrios: bei der Frage der Ehescheidung (1 Kor 7,10f) und der Unterhaltsverpflichtung der Gemeinden für Missionare (1 Kor 9,14). Das Phänomen der verdeckten Authentizität hat aber noch einen weiteren Grund. In einer von mündlicher Überlieferung bestimmten Kultur ist jede neue Rezitation eines Textes ein Original. Viele Überlieferungen kursieren ihn ihr anonym. Jesus lebte zwar in einer durch Schrift geprägten Kultur, bewegte sich aber in einem Milieu mündlicher Überlieferung. Erst in einer Kultur mit schriftlicher Überlieferung wird unterschieden zwischen anonymen Schriften wie den Geschichtsbüchern im AT, zwischen orthonymen Schriften wie den echten Paulusbriefen, zwischen pseudonymen Schriften wie den Pastoralbriefen und 2 Thess und heteronymen bzw. deuteronymen Schriften, d. h. Schriften, die jemand anderem als dem realen Autor zugeschrieben werden – aus Verehrung, weil man sie als Interpretation seiner Intentionen versteht. Frühjudentum und Urchristentum gehörten zu beiden Kulturen. Schriftlichkeit und Mündlichkeit standen in Wechselwirkung. Wir müssen daher einerseits mit einer sekundären Schriftlichkeit rechnen: Die Evangelien sind voll von sekundär verschrifteten mündlichen Überlieferungen. Dazu kommt andererseits sekundäre Mündlichkeit: Da Bücher nicht gelesen, sondern vorgelesen wurden, wirkten Texte in ihnen auch mündlich weiter. Noch heute sind wir bei mündlichen Gattungen wie der Predigt hinsichtlich der „Authentizität“ und des geistigen Eigentums großzügig. In Gesellschaften mit einer mündlichen Traditionskultur schlägt der freizügige Umgang mit authentischer und nicht authentischer Überlieferung leicht auf schriftliche Gattungen durch. Wir finden in ihnen daher so viele anonyme, pseudonyme und heteronyme Schriften. Zu dieser Verwischung der Autorenschaft gehört auch die verdeckte Authentizität von Jesusworten in urchristlichen Schriften. Oft sind wir natürlich unsicher, ob ein anonym überliefertes Wort wirklich von Jesus stammt. Wir können dann nur sagen:

Authentische Jesusüberlieferung

193

Es passt gut zu ihm und seinem Kreis. Das zeigt: Verdeckte Authentizität ist ein Sonderfall von Milieuauthentizität.

3.2

Milieubezogene Authentizität

Wir müssen fragen, ob man den Authentizitätsbegriff nicht auf ganze Milieus ausweiten kann. Die Sprüche der montanistischen Propheten und Prophetinnen aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. können wir ziemlich sicher einer bestimmten Gruppe zuordnen.18 Hier ist ein Gruppenprogramm erkennbar – mit Akzenten, die auf Individuen weisen: Montanus will Sprachrohr Gottes sein, Maximilla hebt dagegen ihr Ich von der göttlichen Stimme ab. Authentisch ist bei beiden das Bewusstsein, vom Geist erfasst zu sein. Das prägt die montanistische Bewegung. Wir kommen hier zu einem Echtheitsurteil, weil die überlieferten montanistischen Sprüche zu allem passen, was wir über die montanistische Bewegung und ihren historischen Kontext wissen. Kontextplausibilität begründet hier Milieuauthentizität. Daher kann man sagen: Je mehr die Jesusüberlieferungen in das Milieu und die Welt Galiläas und Judäas in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. passen, desto weniger können wir sie als urchristliche Phantasie bewerten. In der Jesusforschung wurde das in den 70er-Jahren bewusst. Die rebellische 68er-Generation entwickelte damals in der Jesusforschung einen moderaten „Konservativismus“. So wie sie in der Gegenwart nach Zusammenhängen zwischen Kultur und Gesellschaft fragte, so fragte sie auch sozialgeschichtlich.19 Sie stellte zwei Fragen: (l) In welchen Gruppen wurden die Jesusworte überliefert? (2) Wie sind diese Gruppen in die Gesamtgesellschaft einzuordnen? Die Frage nach dem Sitz im Leben wurde so erweitert, dass man sie auf die ganze Gesellschaft bezog. Zwei Ergebnisse wurden für die Jesusforschung wichtig: Das war erstens das Konzept des „Wandercharismatikertums“. Wer konnte die radikalen Forderungen Jesu ernst nehmen? Die Antwort war: Das können nur wandernde Vagabunden! Nur Menschen am Rande der Gesellschaft, die sich den Verpflichtungen des Alltags entzogen hatten. Daraus entstand die These: Die Jesusworte wurden primär von wandern-

18 19

MADER, Montanistische Orakel und kirchliche Opposition, 145-216. HOCHSCHILD, Sozialgeschichtliche Exegese.

194

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den Aposteln und Missionaren überliefert. Nur sie konnten die radikalen Forderungen Jesu ernst nehmen, ohne Arbeit zu leben und darauf zu vertrauen, dass sie wie die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf den Feldern Nahrung und Kleidung finden würden. Solche „Wandercharismatiker“ lassen sich noch lange im Urchristentum nachweisen. Sie brauchten die Worte Jesu zur Rechtfertigung ihrer Existenz. Ihnen verdanken wir die Überlieferung des ethischen Radikalismus der Jesusüberlieferung. Sie hatten kein Motiv, ihn abzuschwächen oder umzubiegen. Sie haben die Worte Jesu in seinem Geist überliefert. Durch sie wurde eine soziale Kontinuität zwischen Jesus und Urchristentum nachgewiesen: ein gemeinsames Milieu. Echt war nicht nur das, was sich vom Urchristentum abhob; echte Jesusüberlieferung und urchristliche Praxis deckten sich zumindest bei den Wandercharismatikern, den ersten Nachfolgern Jesu.20 Zweitens wurde diese Gruppe in die Gesamtgesellschaft eingeordnet: Wie kam es dazu, dass Menschen Haus und Hof verließen? Die Quellen sagen: Viele haben damals Haus und Hof verlassen, um Jesus nachzufolgen, um in die Essenergemeinde am Toten Meer einzutreten, um sich den Widerstandskämpfern in den Bergen anzuschließen oder um zu emigrieren. Ursache dieser Varianten sozialer Entwurzelung war eine Krise der Gesellschaft aufgrund ökonomischen Drucks, politischer Konflikte, Spannungen zwischen Stadt- und Landkultur. Damit war für die Jesusforschung die Erkenntnis gewonnen: Jesus und seine Nachfolger gehörten in die jüdisch-palästinische Gesellschaft. Sie waren nur zu verstehen, wenn man sie in die Konflikte und Spannungen dieser Gesellschaft einordnet. Das Differenzkriterium wurde dadurch problematisiert. Es sagt, echt sei vor allem das, was nicht aus dem Judentum ableitbar ist, was also über die jüdisch-palästinische Gesellschaft hinausweist. Nach den skizzierten sozialgeschichtlichen Erkenntnissen gehören aber Jesus und seine Nachfolger ganz und gar in die jüdische Gesellschaft. Was sich nicht im Rahmen der jüdisch-palästinischen Gesellschaft und ihrer religiösen Traditionen verständlich machen lässt, kann kaum als Jesusüberlieferung angesehen werden. Die neu entdeckte Authentizität von Jesusüberlieferungen ist Milieuauthentizität. Wir können Worte Jesu einem sozialen Milieu zuschreiben,

20

Zu den Wandercharismatikern vgl. THEISSEN, Wanderradikalismus; ders., Soziologie der Jesusbewegung, 14–32 und zuletzt ders., Itinerant Radicalism and the Sayings Source.

Authentische Jesusüberlieferung

195

das mit ihm verbunden war und auch nach seinem Tod weiter existierte. Aber auch bei Milieuauthentizität wird an der persönlichen Zuordnung von Überlieferungen an Jesus festgehalten: Ohne seinen Lebensstil wären sie nicht entstanden. Aber hier sollten wir unseren Authentizitätsbegriff erweitern – nämlich um das Konzept „anekdotischer Authentizität“.

3.3

Anekdotische Authentizität

Wenn zur personalen Authentizität ein Minimum an Individualität gehört, dann ist das auch eine Voraussetzung, um auktoriale Authentizität zu erkennen: Wir können eine Überlieferung nur dann einer Person zuschreiben, wenn diese individuell erkennbar ist. Wieder sind wir dafür auf ein Minimum angewiesen, um ihr Profil zu erkennen. Dabei stoßen wir auf das Phänomen, dass auch umstrittene Einzelüberlieferungen dieses Profil oft gut erkennen lassen – manchmal besser als unbestritten echte Überlieferungen. Manche erfundenen Anekdoten charakterisieren eine Person so treffend, dass sie in einem tieferen Sinne authentisch sind. So wird aus dem 19. Jahrhundert folgende Anekdote von dem Erweckungsprediger Spurgeon überliefert: „‚Niemals könnte ich mich entschließen, einer der bekannten Kirchen beizutreten. Keine von ihnen ist vollkommen‘, sagte ein Zuhörer nach einem Vortrag des Londoner Predigers Ch.H. Spurgeon. ‚Tja, mein lieber Freund‘, antwortete dieser, ‚sollten Sie jemals eine vollkommene Kirche finden, so wird sie sich weigern, Sie aufzunehmen, denn sobald Sie aufgenommen wären, hörte sie auf, vollkommen zu sein‘“.21 Es ist zwar nicht unmöglich, dass solch ein Gespräch stattgefunden hat. Wahrscheinlich aber ist es konstruiert. Der englische Baptistenprediger Ch.H. Spurgeon (1834–1892) trat 1887 aus Protest aus seiner baptistischen Kirche aus, weil sie nicht gegen liberale Ansichten über Sühne und Inspiration vorging.22 Die Anekdote kritisiert seinen rigiden Perfektionismus, und das mit seinen eigenen Worten. Anekdotische Authentizität hat diese Überlieferung in jedem Fall. Die Antike hatte ein feines Gespür für anekdotische Authentizität. Sie schuf dafür eine eigene Gattung: Apophthegmen und Chrien, die man

21 22

GRAF / KABISCH, Die Blumen des Blinden, 159. Als Quelle wird dort angegeben: H.L. GEE (ed.), Five-hundred Tales to tell again, London 1955-1957. Vgl. STANLEY, Art. Spurgeon.

196

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nicht klar unterscheiden kann. Apophthegmen sind Aussprüche berühmter Menschen, die auch ohne Situationsangabe überliefert wurden, Chrien Aussprüche, die sich auf eine Situation beziehen. Diese Gattung war in der außerjüdischen Antike weit verbreitet, nicht aber im Judentum vor Jesus. Hier wird sie zum ersten Mal in der Jesusüberlieferung sichtbar, bevor sie später in der rabbinischen Literatur zur Entfaltung kommt. Die Authentizität vieler Aussprüche ist umstritten. Goldene Worte werden oft bekannten Lehrern in den Mund gelegt, weil ein berühmter Lehrer alles gesagt haben muss, was man mit seiner Autorität versehen will. Das gilt z. B. für die Goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, das die Menschen euch tun – so tut auch ihnen. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Mt 7,12). Hier wird mit einer interkulturell verbreiteten fundamentalethischen Maxime die Bergpredigt zusammengefasst. Geschieht das, weil man Jesus solche Goldenen Worte in den Mund gelegt hat oder hat Jesus solch eine Maxime tatsächlich selbst benutzt? Eine Eigentümlichkeit der Goldenen Regel ist hier hilfreich. Die Goldene Regel23 kursierte in Antike und Judentum in zwei Formen. In der negativen Form: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ zielt sie auf ein Vermeiden böser Handlungen, in ihrer positiven Form auf eine Aktivierung zu guten Handlungen. Die negative Form wird auf alle Menschen angewandt. Man kann allen Menschen gegenüber vermeiden, ihnen anzutun, was man selbst nicht erleiden will. Die positive Goldene Regel gilt immer nur für besondere Beziehungen zwischen Freunden, Familiengliedern, Herrschern und ihren Gefolgsleuten. Nur gegenüber einem engeren Kreis können wir uns verpflichten, ihnen das Gute zu tun, was wir auch von ihnen erfahren möchten. Nur bei Jesus wird die Goldene Regel in ihrer positiven Form ein Gebot für alle Menschen und für deren Verhalten gegenüber allen Menschen. Was sonst vor allem Herrschern abverlangt wird, wird hier zur Forderung an alle, auch an kleine Leute. Was sonst nur gegenüber nahe stehenden Menschen gilt, wird hier gegenüber allen Menschen gefordert. Die Goldene Regel der Bergpredigt ist in dieser Verbindung von positiver und universaler Form singulär in der Antike. Sie entspricht darin dem strengen Ethos der Bergpredigt. Daher spricht alles dafür, dass Jesus die Goldene Regel in diesem Sinne radikalisiert hat. Sie besitzt anekdotische Authentizität: Sie charakterisiert in dieser radikalen Form Jesu Predigt auch dann

23

Vgl. meinen Nachweis in: THEISSEN, Die Goldene Regel.

Authentische Jesusüberlieferung

197

noch in zutreffender Weise, wenn Jesus sie nie gesagt haben sollte. Solch eine anekdotische Authentizität findet sich natürlich auch in Überlieferungen über seine Jünger, etwa in der Verleugnung Jesu durch Petrus. Aber im Mittelpunkt steht immer Jesus. *** Unser Aufsatz ging von der Frage aus: Ist das Urteil über auktoriale Authentizität abhängig von unseren Auffassungen von personaler Authentizität? Wir können diese Frage bejahen. In der Bibel ist die Person sehr viel mehr in Außenbeziehungen eingebettet als in der modernen Welt. Es ist zwar richtig, dass im Neuen Testament das private Ich deutlicher hervortritt als zuvor, etwa wenn es sich beim Beten im stillen Kämmerlein jeder Sozialkontrolle entzieht (Mt 6,1–18) oder wenn Paulus jedem menschlichen Urteil entzogen bleibt (1 Kor 4,1–5) oder wenn die Identität Jesu im MkEv ein Geheimnis bleibt (Mk 9,9f). Aber auch hier ist dieses private Ich durch eine Außenbeziehung charakterisiert: Weil Gott ins verborgene Kämmerlein schaut, darum konstituiert sich seine Person als ganz persönliches Ich. Weil Gott allein das Verborgene des Herzens kennt, ist Paulus jedem Urteil entzogen. Weil Gott allein Jesus seinen Status verleiht, ist seine Identität geheim. Das private Ich bildet sich durch Statuskontingenz, d. h. dadurch, dass ein anderer dem Menschen seine Rolle zuteilt.24 Eine zweite Voraussetzung ist die Eigenart mündlicher Überlieferungen. In ihr wird das Überlieferungsgut einzelner Personen von der Gruppe der Überlieferungsträger „enteignet“ und sozialisiert. Wenn eine Person das ist, was sie in ihren Außenbeziehungen ist, dann ist „authentisch“, was nur in diesen Beziehungen entstehen konnte. Können wir daher eine Überlieferung im sozialen Milieu einer Person lokalisieren, so kann man sagen: Diese Überlieferung ist ein echter Ausdruck seines Milieus und in seinem Geist formuliert. Spüren wir individuelle Züge, so können wir sicher sein: Hier stoßen wir auf eine Auswirkung seines Charismas. Jesus hat sein Milieu geprägt. Zu ihm gehört seine Bezugs-

24

Zum Konzept der Statuskontingenz vgl. THEISSEN, Vom Historischen Jesus zum kerygmatischen Gottessohn, 290–292. Das Konzept wurde durch BRANDT, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple, 39–69, angeregt, den Begriff „Statuskontingenz“ habe ich geprägt.

198

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gruppe. Von ihr ist er abhängig, sie ist aber noch mehr von ihm abhängig. Milieuauthentizität hat alles, was ihr gemeinsames Gut ist. Überlieferungen über einzelne Gestalten haben anekdotische Authentizität. Anonyme Worte können verdeckt authentisch sein. Erst im Lichte eines für die Antike passenden Konzepts personaler Authentizität lässt sich der auktoriale Authentizitätsbegriff für die Jesusüberlieferung so erweitern, dass er verdeckte, milieubezogene und anekdotische Authentizität umfasst.25

25

Von einem erweiterten Authentizitätsbegriff ließe sich leichter eine Brücke zur institutionellen Authentizität des Kanons (einschließlich pseudepigrapher Schriften) schlagen als von einem modernen individualistischen Authentizitätsverständnis.

Authentische Jesusüberlieferung

199

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200

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Christoph Niemand

Was an der Bibel authentisch sein kann: Texte, Interpretationen, Menschen

1.

Hinführung

Für die folgenden Überlegungen gehe ich von folgender Begriffsbestimmung aus:1 Das Wort Authentizität drückt ein Entsprechungs-Verhältnis aus, das in unterschiedlichen Feldern antreffbar ist: Historische Authentizitätsdiskurse bewerten die Ursprungsnähe einer Erzählung oder Darstellung: Ein Text entspricht mehr oder weniger dem referierten Ereignis. (Dazu gehört als Diskursvariante auch die Frage nach der Authentizität bzw. Nichtauthentizität der Autorschaftszuschreibung eines Textes.) – Hermeneutische Authentizitätsdiskurse bewerten die sachliche Angemessenheit einer Interpretation: Eine Interpretation entspricht mehr oder weniger dem gelesenen Text, insofern sie die dem Text eingeschriebenen Sinnpotenziale mehr oder weniger angemessen erkennt und bespricht. – Personale Authentizitätsdiskurse bewerten das Passungsverhältnis von Entwurf und Vollzug von Leben: Der Lebensvollzug eines Menschen entspricht mehr oder weniger dem Lebensentwurf, den sich dieser Mensch gibt. Authentizitätsdiskurse weisen normalerweise die duale Struktur von Beanspruchung und Zuerkennung auf, d. h. Authentizität ist nicht einfachhin vorhanden oder nicht vorhanden, sondern ist Verhandlungsgegenstand zwischen einer beanspruchenden und einer zuerkennenden Seite.

1

Die Anregung dafür stammt aus dem Beitrag von Michael HOFER in diesem Band. In meinem eigenen Beitrag unter der Rubrik „Nach-Gedanken“ vertiefe ich diese definitorische Bemühung.

202

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Authentizitätsdiskurse des dritten, personalen, Typs können eine explizit ethische Dimension haben. (Sowohl die Bewertung der Qualität eines Lebensentwurfs als auch die Frage nach seiner faktischen Einlösung im Lebensvollzug sind Themenstellungen der Ethik.) Sie können aber auch eine andere Dimension aufweisen, die sich mit der ethischen Dimension überschneiden kann, aber nicht notwendigerweise muss. Ich nenne sie die sozial-kommunikative Dimension personaler Authentizitätsdiskurse und meine damit Folgendes: Wenn ein Mensch seinen Lebensentwurf in (s)ein soziales Umfeld hinein kommuniziert und somit Anspruch auf die Wahrnehmung und Anerkennung einer spezifischen personalen Identität erhebt, dann wird die Überzeugungskraft des präsentierten Identitätsanspruches in einem Authentizitätsdiskurs dieses Typs verhandelt: Ein Mensch wird als (mehr oder weniger) authentisch bezeichnet, weil er oder sie (mehr oder weniger) glaubwürdig ein stimmiges Bild jener Identität vermittelt, das er oder sie sich gibt und nach außen hin zeigt: Die diesem Identitätsentwurf zugeschriebenen Wertekodizes, Handlungsmaximen, ästhetischen Merkmale und habituellen Erscheinungsformen werden an ihm oder ihr (mehr oder weniger) wiedererkannt. Im positiven Fall sagt man anerkennend: Dieser Mensch sei authentisch. Dies ist aber verkürzte Rede, eigentlich meint man: Er sei ein authentischer Tierschützer, Fantasy-Freak, Vegetarier, Arbeitnehmervertreter; bzw. sie sei eine authentische Konservative, Ärzteohne-Grenzen-Aktivistin, Punk oder Ordensfrau; somit: die mit einem bestimmten wahrnehmbaren Identitätsanspruch verbundenen Identitätsmarker seien in diesem konkreten Menschen in überzeugender Weise realisiert. Dieser Typ von Authentizitätsdiskurs ist nicht in dem Sinn explizit ethisch kodiert, als mit einem positiven Authentizitätsurteil normalerweise noch keine Wertung über die ethische Qualität des betreffenden Identitätsentwurfs an sich verbunden sein muss. Auch eine Aussage über die Attraktivität des Lebensentwurfs für die beurteilende Person selbst ist nicht notwendigerweise getroffen. Dennoch ist mit einem positiven Authentizitätsurteil eine erste, vorsichtige Positivwertung der Person als solcher auch dann verbunden, wenn man dem betreffenden Lebensentwurf z. B. skeptisch-distanziert oder gar ablehnend gegenübersteht. Insofern kann (z. B.) ein bekennender Atheist in gewissem Maß anerkennend sagen, (z. B.) Papst Franziskus sei ein authentischer Christ. – Allerdings wird kein Mensch, wenn er nicht selbst ein gewaltbereiter Extremist ist, sagen: „Dieser ISKämpfer ist ein authentischer Dschihadist“. (Dem Wort Authentizität eignet eine so

Was an der Bibel authentisch sein kann …

203

positive Grundkonnotierung, dass die Bildung eines solchen Syntagmas in Mainstream-Sprachgemeinschaften derzeit wohl kaum vorkommt.)

Ein negatives Authentizitätsurteil ist aber in jedem Fall abwertend gemeint, gelte es nun jemandem, der oder die sich als Vertreter/in jener Identität darstellt, der sich die beurteilende Person auch selbst zugehörig fühlt oder gelte es jemandem, der oder die einer Identität huldigt, die die beurteilende Person selbst für völlig abwegig hält. (Letzteres, weil doppelt negativ, ist in einer pluralistisch-toleranten Zivilisation wohl das „vernichtendste“ Urteil, das Menschen übereinander fällen können!) Dieser letzte Typ von Authentizitätsdiskurs – der personale und näherhin sozial-kommunikative – ist es, der in unseren gegenwärtigen Gesellschaften Leitfunktion gewonnen hat und der die Fragestellungen, die in diesem Buch verhandelt werden, prägt.

2.

Bibel und historische Authentizität

2.1

Ausgangslage

In ihrer im 20. Jahrhundert nachgerade als „klassisch“ bezeichneten Gestalt stand die Bibelwissenschaft fast ausschließlich im Bann von Authentizitätsdiskursen des ersten, historischen Typs: Ihr Ziel war die Rekonstruktion der „tatsächlichen“ Autorschafts- und Entstehungsverhältnisse (im Gegenüber zu den „kanonischen“, die dann häufig als pseudepigraphisch erkannt wurden). So übermächtig war dieses historisch-kritische Projekt, dass die Ermittlung der Autorschafts- und Entstehungsverhältnisse – in Gestalt der Veri- oder Falsifizierung von kanonischen Autorschaftszuschreibungen und/oder in Gestalt von Quellen- oder Schichtenwachstumsmodellen zur Erklärung des Produktionsvorgangs – unter der Hand auch den zweiten Typ von Authentizitätsdiskurs unter sich subsumieren konnte: Die Frage nach der authentischen Interpretation erschien dann mit einer zutreffenden Vorstellung von den historischen Entstehungsumständen eigentlich schon als beantwortet und keiner eigenständigen weiteren Bemühung mehr wert. Wo es sie im exegetisch-wissenschaftlichen Betrieb dennoch gab, hatte sie gegenüber den analytischen und rekonstruktiven Bemühungen – man kann es kaum anders sagen – oftmals die Gestalt eines bloßen („spirituellen“) Appendix. Fragen nach der personalen, sozial-

204

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kommunikativen Authentizität waren sowieso nicht im Fokus der Theorieund Methodendebatten der historisch-kritischen Exegese. Natürlich müsste man diese holzschnitthafte Skizze differenzieren. Und wenigstens Rudolf Bultmann muss man mit seinem Projekt der „Existentialen Interpretation“ von vornherein einen eigenständigen hermeneutischen Authentizitätsdiskurs attestieren.2 – Allerdings wird man aus dem Überblick der zeitlichen Distanz kritisch fragen, ob dieser hermeneutische Ansatz angemessen mit seinem historischem Authentizitätsdiskurs austariert war, der unter das Stichwort „Entmythologisierung“ (man könnte auch sagen: De-Historisierung) fällt. Mir scheint, dass bei Bultmann der historische Diskurs letztlich (bloß) eine abhängige Funktion seines hermeneutischen Diskurses ist und kein eigenes methodisches Recht hat. Die – von ihm (über)reichlich getroffenen – negativen historischen Authentizitätsurteile geben ihm ja gleichsam die Legitimierung zu seiner existentialen Interpretation. Aus heutiger Sicht wirken viele seiner auf „unhistorisch“ lautenden Verdikte deshalb so mutwillig, weil sie ganz offensichtlich die Tür für die („um jeden Preis“) gewollte existentiale Deutung öffnen sollen.

2.2

Entwicklungen I: Authentizität und Faktenreferenz

Die im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts sich anbahnende, knapp vor der Jahrtausendwende die Szene dann in ganzer Breite erfassende hermeneutische Neuausrichtung der Bibelwissenschaft brachte im Zuge der massiven Verbreiterung des Kanons texttheoretisch und methodologisch „zugelassener“ Positionen auch eine Redimensionierung und Restrukturierung des historisch-kritischen (und rekonstruktiven) Projekts mit sich. Kurzzeitig äußerten manche seiner Vertreter – die einen in feiner Selbstironie, andere in schierer Verzweiflung – gar die Befürchtung, die historische Fragestellung würde mit ihnen überhaupt „aussterben“. So weit scheint es aber, das kann man jetzt schon sagen, doch nicht zu kommen!

Es macht keinen Sinn, in diesem Beitrag in wenigen Sätzen einen annähernd resümierenden Bericht dieses Prozesses abgeben zu wollen.3 Es ge-

2 3

Vgl. seinen programmatischen Aufsatz BULTMANN, Neues Testament und Mythologie (1941). Für die, wenn es um historische Authentizitätsdiskurse geht, unter NeutestamentlerInnen immer noch führende Jesus-Forschung vgl. als kaleidoskopartige Zusam-

Was an der Bibel authentisch sein kann …

205

nügt, auf den im vorliegenden Band unmittelbar voranstehenden Beitrag von Gerd Theißen zu verweisen. Dieser ist durchaus geeignet, den Prozess der Neuaushandlung des historischen Authentizitätsdiskurses in der Exegese des Neuen Testaments – aus der Perspektive eines ihrer prominentesten Akteure (sagen wir also: authentisch) – zu repräsentieren. Theißen resümiert in seinem Beitrag seine methodische Neuausrichtung, die das „(doppelte) Differenzkriterium“ hinter sich ließ bzw. weiterentwickelte zum „(doppelten) Plausibilitätskriterium“, gibt nun aber auch neue, weitergehende Diskussionsanstöße: Zum einen ventiliert er Möglichkeiten, wie man den Begriff der historischen – er sagt präziser: auktorialen – Authentizität mit der personalen Authentizität in Beziehung setzen kann. Zum anderen deutet er Richtungen an, wie die Rede von historischer Authentizität im Kontext der NT-Exegese zu erweitern bzw. durch Differenzierung zu präzisieren sei und stellt dazu neben die auktoriale Authentizität die neuen Konzepte der „verdeckten“, der „milieubezogenen“ und der „anekdotischen Authentizität“. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass der historische Authentizitätsdiskurs in theoretisch-methodischer und in materialer Hinsicht lebhaft geführt wird. Besonders erwähnenswert erscheinen mir dabei die auch gegenüber Gerd Theißens Ansatz neuen und eigenständigen Diskussionsanstöße, wie sie u. a. der jüngst erschienene, von Susanne Luther, Jörg Röder und Eckart D. Schmidt herausgegebene Tagungsband „Wie Geschichten Geschichte schreiben“ dokumentiert: Mit dem Anspruch sprachphilosophischer Informiertheit und im Einzugsbereich von rezeptionsästhetisch und narratologisch gestimmter Literaturtheorie wird versucht, den Ort der „Frühchristliche[n] Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität“ 4 neu zu vermessen: Manche der Beiträge sind unmittelbar einschlägig für die hier unter 2.2. (bloß angerissene) Frage nach Grad und Art der Faktenreferenz neutestamentlicher Erzähltexte, andere Beiträge gehen auf die im Folgenden unter 2.3. (etwas näher) besprochene Diskussion zur Authentizität bzw. Nichtauthentizität der Autorschaftszuschreibung neutestamentlicher Texte ein. Für beide Bereiche zeigen sich echte Neuansätze, die über das bloße Wieder-Abwägen bisheriger Fragen, Argumente und Antworten hinausgehen.

4

menstellung derzeit gängiger Positionen und Hermeneutiken etwa die vier Bände von HOLMÉN / PORTER (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus. So der Untertitel von LUTHER / RÖDER / SCHMIDT (Hg.), Wie Geschichten Geschichte schreiben (Hervorh. C.N.)

206

2.3

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Entwicklungen II: Authentizität und Verfasserschaftsangabe

Nicht unter der Rubrik „Entwicklungen“ verbuche ich – das sei vorausgeschickt – die in jüngerer Zeit vermehrt vorgelegten Versuche, Schriften, deren pseudepigraphischer Charakter über Jahrzehnte hin state of the art war, doch wieder zu „authenti-fizieren“, also z. B. den 2. Thessalonicherbrief doch dem Apostel selbst zuzuschreiben.5 Aber auch abgesehen von diesem neokonservativen Trend gilt: Wenn man in der Unterscheidung „authentischer“ und „pseudepigraphischer“ Apostelbriefe über die bloße (versuchte!) Tatsachenfeststellung – und anschließende, meist eher defensiv-apologetisch angelegte Überlegungen, wie man im Fall von erhärteter Pseudepigraphie-Annahme dann trotzdem theologische Wahrheitsfähigkeit attestieren könne6 – hinauskommen will, braucht es einen engagierten theoretischen und methodischen Neuansatz. Und meiner Wahrnehmung nach gibt es dazu eine vielversprechende Möglichkeit, wenn man darauf abhebt, die spezifische Kommunikationsstruktur von Literatur mit fiktiver Verfasserschaft zu analysieren.7

5

6

7

Jüngst z. B. WEIMA, 1–2 Thessalonians, 46–54. – Das oben im Text verwendete Stichwort „authenti-fizieren“ verwende ich also mit problematisierenden Nebentönen und denke dabei auch an die programmatischen Buchtitel der beiden Bände CHILTON / EVANS (Hg.), Authenticating the Words of Jesus und dies. (Hg.), Authenticating the Activities of Jesus (auch wenn diese beiden inhaltlich eher zu Punkt 2.2 passen). Vgl. den „klassischen“ Versuch BROX, Falsche Verfasserangaben; knapp KLAUCK, Briefliteratur, 303–305; eine instruktive „Forschungsbilanz“ bietet JANSSEN, Unter falschem Namen. Einige Ansätze zu dem, was ich hier skizziere, finde ich bei MERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. – Unmittelbar einschlägig sind mehrere Beiträge im Tagungsband FREY / HERZER (u. a. Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion, besonders: Martina JANSSEN, Antike (Selbst-)Aussagen über Beweggründe zur Pseudepigraphie; Marco FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie? Ein Essay über Fiktionalität, Antike und Christentum; Jens HERZER, Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe. – Die ergiebigsten Anregungen, das Phänomen der Verfasserschaftsfiktion im Blick auf seine Funktionen neu zu bedenken, sehe ich in Sandra HÜBENTHAL, Pseudepigraphie als Strategie in frühchristlichen Identitätsdiskursen? sowie dies., Erfahrung, die sich lesbar macht. Kol und 2 Thess als fiktionale Texte. Vgl. schließlich auch Peter-Ben SMIT, Back to the Future. Aspekte der Pseudepigraphie des Titusbriefes und ihre Bedeutung.

Was an der Bibel authentisch sein kann …

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In einem solchen Projekt sehe ich echte Chancen, die Diskussion zur Ermittlung und Interpretation von Verfasserschaftsfiktionen innerhalb der urchristlichen Literatur anspruchsvoll und ergiebig weiterzuentwickeln. Dabei zeigt schon der zuletzt mehrfach beobachtbare terminologische Schwenk vom Ausdruck Pseud-epigraphie hin zum literatur- und kunstwissenschaftlich kontextualisierten Begriff Fiktion die Richtung an, in die es geht: Gefragt werden soll vor allem nach der kommunikativen Funktion von Verfasserfiktionen. Zu ventilieren ist ja durchaus, dass zur impliziten oder expliziten Kommunikationsvereinbarung der tatsächlichen Textproduzenten und ihrer historischen Erstrezipientenschaft – zumindest in einigen Fällen und am Beginn dieses frühchristlichen Phänomens – das beiderseitige Bewusstsein um den fiktionalen Charakter der Verfasserschaftsbehauptung gehörte. In seinem Lehrbuch „Die antike Briefliteratur und das Neue Testament“ rät H.-J. Klauck schon im Jahr 1998 nicht nur zur Differenzierung hinsichtlich des „Grad[es] an Pseudepigraphie und ihre[r] Realisierungsweise“, sondern stellt auch die Frage, „inwieweit … die Fiktion für die Adressaten durchschaubar war und inwieweit sie für bare Münze genommen wurde“. So hält er beispielsweise „eine vom Autor eingeplante Transparenz der Pseudepigraphie für die Adressaten […] bei den Pastoralbriefen [für] eher denkbar“ als bei anderen Briefen des NT.8

Diese Frage nach einem möglichen Fiktivitätsbewusstsein der ErstrezipientInnen ist in der Folgezeit nicht als breit angelegtes Forschungsprogramm aufgenommen worden. Allerdings können die (eher „klassisch“ historisch-kritisch angelegten) Vorschläge zur Verfasserfiktion der Pastoralbriefe von Marco Frenschkowski (2001 und 2009) – „Timotheus und Titus gemeinsam oder einer von beiden als Überlebender des ‚Paulusteams‘ als Verfasser“ 9 – die Richtung zu etwas weisen, das ich „Neuer Authentizitätsdiskurs bei neutestamentlichen Texten mit fiktiver Verfasserangabe“ nennen möchte und der in den in Anm. 7 genannten Beiträgen von Sandra Hübenthal bereits geführt ist. Darin ist m. E. die zu unterlegende fiktionstheoretische Funktionsbeschreibung weiter zu vertiefen, und dazu könnte – so mein Vorschlag – die zuvor ventilierte Annahme eines „bei-

8 9

KLAUCK, Briefliteratur, 304. Zum Phänomen insgesamt ebd. 301–306. Vgl. FRENSCHKOWSKI, Pseudepigraphie und Paulusschule (2001); ders., Erkannte Pseudepigraphie? (Zitat: 213).

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derseitigen Bewusstseins“ um die Fiktion etwa in folgende Richtung weitergeführt werden: Die tatsächlichen VerfasserInnen wissen darum, dass ihre intendierten (Erst-)LeserInnen um die Verfasserfiktion wissen und damit vereinbarungsgemäß umgehen können. Und die (Erst-)LeserInnen wissen nicht nur um die Verfasserfiktion selbst, sondern auch darum, dass die tatsächlichen VerfasserInnen mit ihrem Wissen und ihrer Kompetenz zur Lektüre dieser Fiktion rechnen. Somit: Verfasserfiktion wäre ein „Spiel“ in beiderseitigem Einverständnis und Einvernehmen. Es ginge dabei dann nicht um das Vorspiegeln falscher Tatsachen zur Steigerung vom Autorität – so die „ungeschönte“ Diktion herkömmlicher Funktionsbeschreibung von Pseudepigraphie –, sondern um ein „Vor-Spiel“ des eigentlichen Lektüreakts, in dem sich die Einweisung in eine bestimmte Lektürehaltung und das Einnehmen einer bestimmten Rezeptionsdisposition just im Doppelakt von Behauptung und Akzeptanz der fiktiven apostolischen Verfasserschaft äußern. Diese Überlegungen suchen, das ist unverkennbar, Anschluss an ein in den Literatur- und Filmwissenschaften unter dem Begriff „Fiktionsvertrag“ (oder: „Fiktionalitätsvertrag“) seit längerem übliches Theorem: „Eine fundamentale Grundannahme einer rezeptionsästhetischen Theorie des Fiktionalen ist der Fiktionsvertrag zwischen Text (resp. der texthervorbringenden Instanz) und Rezipient, der besagt, dass letzterer bereit ist, die ‚willentliche Aussetzung des Nichtglaubens‘ (willing suspension of disbelief) als Modalität der Rezeption zu akzeptieren, so dass er um die Fiktionalität des Erzählten weiß, ohne anzunehmen, dass der Text ihn belüge, und gleichzeitig während des Rezeptionsvorgangs der Darstellung des Textes uneingeschränkt Glauben zu schenken; die Wahrheitswerte werden fiktionsintern definiert, nicht durch Referenz“.10

Die von der VerfasserInnenseite einer pseudepigraphischen Schrift beabsichtigte und literarisch hergestellte Kommunikationsform zwischen ihr und der angezielten LeserInnenschaft ist somit nicht die von Täuschung

10

Zitat aus dem online zugänglichen „Lexikon der Filmbegriffe“ s. v. „Fiktionsvertrag“. (Die Adresse ist im Literaturverzeichnis als ONLINE-QUELLE NR. 1 angeführt.) – Zum Fiktionsvertrag vgl. auch den berühmten Satz aus Umberto Ecos Roman L‘ isola del giorno prima, den ich als Motto meinem Jesus-Buch voranstellte: NIEMAND, Jesus und sein Weg, 5: „ … ad ascoltar storie – è dogma tra i più liberali – bisogna sospendere l’incredulità“; deutsch: „… und wer Geschichten hören will – ein Dogma unter den Liberalsten – der muss seine Ungläubigkeit suspendieren“: ECO, Insel, 262.

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oder bloß äußerlich angemaßter Kompetenz, sondern ist von Fall zu Fall differenziert zu bestimmen: Im Fall der Pastoralbriefe, beispielsweise, könnte man in dieser Analyse von der Annahme Frenschkowskis ausgehen, dass die fiktive Adressatenwahl mit der realen Verfasserschaft koinzidiert: Dass ein realiter von Timotheus und/oder Titus für ein allgemeines Kirchenpublikum geschriebener Text in der fiktiven Gestalt eines von Paulus an Timotheus bzw. Titus geschickten Briefs daherkommt, wäre so betrachtet alles andere als zufällig oder gar plumpe Fälschung. Die intendierte eigentliche LeserInnenschaft soll in ihrem (wiederholbaren) Leseakt dem Timotheus und dem Titus, den treuen Mitarbeitern des berühmt-umstrittenen Apostels, in deren fiktivem (Erst-)Leseakt „über die Schulter schauen“. Dadurch werden sie in das Verhältnis des Paulus mit seinen Mitarbeitern hineingenommen. Der wertschätzend-warme, väterlich-freundschaftliche Ton, die vielen persönlich-biographischen Notizen und der durchgehende Appell zur Übernahme von Verantwortung (an Timotheus und Titus) generieren die Empfindung eines analogen Verhältnisses zwischen Paulus und der realen LeserInnenschaft. Durch diese faktisch geschehende Überblendung der Adressatenschaften – vordergründig an Timotheus bzw. Titus, hintergründig an christliche Gemeinschaften, die sich deshalb aber als deren MitLeserInnen verstehen dürfen – werden letztere nicht nur in die Pflicht genommen, sich ebenso zuverlässig und anhänglich zu verhalten wie die Apostelschüler Timotheus und Titus, es wird ihnen auch emotional angeboten, im Akt der Lektüre sozusagen ein Stück weit in die berühmten Schüler des Apostels „hineinzuschlüpfen“. So werden sie selbst in ihrer Phantasie zu Mitarbeitern (und Freunden!) des Paulus und sollen es – das will das fiktionale Spiel natürlich erreichen – dann auch nach dem Lektüreakt bleiben. Der Fall des Kolosserbriefs11 – möglicherweise die älteste Verfasserfiktion überhaupt, die wir im Neuen Testament vor uns haben – wäre besonders interessant: Wenn man annimmt, dass der Text recht bald nach Pauli Tod und in Kleinasien entsteht, wo die christlichen Gemeinden wissen, dass die Stadt Kolossä durch das Erdbeben von 60/61 n.Chr. zerstört wurde und derzeit aufgegeben war, dann wird in diesem Kontext allein schon die bloße Fiktion „Paulus an die Kolosser“ vielschichtige Assoziationen auslösen, die

11

Dazu bes. HÜBENTHAL, Pseudepigraphie als Strategie; dies., Erfahrung, die sich lesbar macht.

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eine besondere, emotional aufgeladene Rezeptionsdisposition generieren können: … ein inhaftierter Paulus, der ins Martyrium gehen wird, … spricht eine Gemeinde an, die er nur vermittelt über seinen Mitarbeiter Epaphras kannte (so wie auch „wir“ Paulus nur über Vermittlung kennen) … und die es „heute“ gar nicht mehr gibt … aber „wir“ sind dabei … Damit eine solche fiktiv-vermittelte Kommunikation der tatsächlichen LeserInnen mit dem schon verstorbenen Paulus funktionieren kann, müssen aber sowohl die theologischen Inhalte als auch die biographische Rahmensituation des fiktiven Paulus-Briefes doch in einem angemessen engen Zusammenhang mit jenen Inhalten stehen, die Paulus selbst vertreten, und mit Situationen, die Paulus selbst erlebt hat. Dies nicht etwa, damit die „Fälschung“ nicht „entdeckt“ würde, sondern damit die fiktive Kommunikation „Stil und Grandezza“ habe und die Empfindungen von Bedeutsamkeit und Freude auslösen kann. Denn es ist ja unbedingt damit zu rechnen, dass die ErstrezipientInnen von fiktiven Paulusbriefen auch die „authentischen“ Paulusbriefe und die erzählende Paulustradition kennen und somit ihr fiktives Spiel auf dem hohem Niveau von „PaulusKennern“ spielen wollen! Da kann man ihnen natürlich nicht mit schlicht „unmöglichen“ Elaboraten kommen! (An solchen Parametern ist die Qualität eines pseudepigraphischen Paulus-Textes zu messen, nicht an bloßen Äußerlichkeiten.12) Damit sich das hier Skizzierte als belastbare These erweisen kann, muss sie aber folgenden „Plausibilitätstest“ bestehen: Wie kann die hier ventilierte Annahme, dass das Phänomen der urchristlichen Pseudepigraphie als zunächst „offenes“ Spiel fiktionaler Kommunikation beginnt, mit jener historischen Tatsache abgeglichen werden, dass ab einem gewissen – sicher nicht zu spät ansetzbaren – Zeitpunkt in der Geschichte des Urchristentums Apostelbriefe als kanonisch und autoritativ im engeren Sinne gelten und dass es ab diesem Zeitpunkt auch einen eigentlichen Fälschungsdiskurs gibt. Dann ist das dargestellte „Spiel“ mit Fiktionalität nicht mehr möglich, zumindest nicht so, dass neu hinzukommende „offene“ Fiktionen Chance auf Rezeption hätten. Zur Absicherung der Hypothese müssen darum in der frühchristlichen Literatur des 2. Jahrhunderts jene „Orte“ – d. h.

12

Vgl. dazu den sensiblen Beitrag von Stefan KRAUTNER, Was ist „schlechte“ Pseudepigraphie? Mittel, Wirkung und Intention von Pseudepigraphie in den Epistolae Senecae ad Paulum et Pauli ad Senecam, in: Frey / Herzer (u. a. Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion, 765–785.

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Texte und ihre situativen Kontexte! – ausgemacht werden, an denen im Umgang mit apostolischer Verfasserfiktion der Schwenk hin zu einem eigentlichen Fälschungsdiskurs noch ansichtig werden kann.13 Übrigens: 2 Thess 2,2 taugt nicht als (Totschlag-)Argument gegen die hier ventilierte Annahme, dass die frühesten Verfasserfiktionen des NT noch vor diesem Zeitpunkt und im beiderseitigen Wissen um produktionsseitige Fiktionalität und rezeptionsseitige Akzeptanz entstanden seien. Dass nämlich diese Stelle ein (relativ frühes) Indiz für einen eigentlichen Fälschungsdiskurs bei Apostelbriefen sei, suggerieren mehr die deutschen Übersetzungen mit „angeblich“ (so Einheitsübersetzung und Neue Lutherbibel), als dass es der griechische Ausdruck ὡς δι᾽ ἡμῶν selbst hergäbe. (Zudem bezieht sich ὡς δι᾽ ἡμῶν wohl auf die ganze Trias „Geist, Wort und Brief“, nicht nur auf Letzteres allein!)

Deutlich dürfte geworden sein, dass die Rede von Authentizität im Kontext solcher Überlegungen terminologisch prekär wird und Verwirrung stiften kann: Soll man das Wort in seiner wissenschaftshistorischen Konstellation als Gegenbegriff zu Pseudepigraphie bzw. Fiktion belassen und überhaupt darauf verzichten, es in den hier angedeuteten Analysen der Kommunikationsstruktur fiktiver Texte in Anschlag zu bringen? Oder soll man es bewusst und neu kodiert verwenden, nicht im Sinn der bisherigen wissenschaftlichen Begriffsverwendung, sondern in einem neuen Sinn, der dann etwa so lauten würde: Texte mit fiktiver Verfasserschaftsbehauptung können eine authentische Kommunikation auslösen und tragen, wenn das Lektüreverhalten der TeilnehmerInnen (implizit oder explizit) den Regeln und Codes für solche Texte entspricht, wenn sie also (implizit oder explizit) mit dem Phänomen Verfasserschaftsfiktion sachgerecht umgehen können. Und umgekehrt müsste man sagen: Unauthentisch wäre eine fiktive Verfasserschaftsangabe v. a. dann, wenn sie eine andere Agenda betreibt, als den vorgestellten LeserInnen einen besonderen, fiktiv herzustellenden Kommunikationsakt anzubieten, den zu vermitteln die tatsächliche Autorschaft (etwa aufgrund ihres tatsächlichen historischen Bezugs zur fiktiven Autorschaft) sich als befähigt und berechtigt ansieht. Eine solche andere Agenda wäre etwa der Versuch einer bloß äußeren Steigerung der eigenen Durchsetzungschance bei innergemeindlichen Auseinandersetzungen. *** 13

Auf der Suche nach Spuren eines solchen Schwenks (oder Kippens) wird man sich von einer materialintensiven, thematisch einschlägigen Studien beraten lassen können: BAUM, Pseudepigraphie und literarische Fälschung.

212

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Dass ich angesichts der eingangs getroffenen begrifflichen Differenzierung in historische, hermeneutische und personale Authentizität just dem hermeneutischen Authentizitätsdiskurs kein eigenes Kapitel widme, mag man problematisch finden. Jeder Leseakt folgt ja unvermeidlich einer bestimmten Hermeneutik. Insofern sollte die Rechenschaft über die zum Tragen kommende Hermeneutik nicht als Luxus angesehen werden, sondern ist Bedürfnis der intellektuellen Redlichkeit jedes lesenden Menschen. Und deshalb gilt: An einer Vorstellung davon zu arbeiten, was eigentlich im Hinter- und Untergrund unserer Lektüren alles abläuft (und mitläuft), was unsere jeweiligen Lektüren faktisch steuert und im Ergebnis bestimmt (im Gegenüber zu dem, was alles beim Lesen überhaupt herauskommen könnte!), hilft zweifellos zu authentischerem – will sagen: dem gelesenen Text angemessenerem – Lesen und Interpretieren. Trotzdem gehe ich im Anschluss direkt über zum Bereichsfeld von personalen Authentizitätsdiskursen, näherhin zur Rede über sozialkommunikative Authentizität. Ich begründe das zweifach: zum einen (und eher defensiv) damit, dass ein Kapitel „Bibel und hermeneutische Authentizität“ womöglich an den Ansprüchen gemessen würde, die an das Projekt einer (zureichenden) hermeneutischen Gesamttheorie zu stellen sind. Solche Ansprüche sind aber zu umfassend, als dass sie in diesem Beitrag handhabbar wären. Deshalb – und zum anderen – begnüge ich mich mit dem (eher offensiven) Hinweis, dass die soeben in Kapitel 2 referierten und weitergedachten Entwicklungen ebenso wie das im anschließenden Kapitel 3 von mir Entworfene wenigstens dokumentieren kann, wie intensiv die aktuelle Neuaushandlung einer dem jeweiligen Text angemessenen Lektüre und Interpretation im Bereich der Bibelhermeneutik verläuft. Mehr kann dieser Beitrag nicht leisten. Der Ansatz zu einem „neuen“ integrativen hermeneutischen Konsensmodell – in Analogie dazu, was einmal der Kanon der historisch-kritischen Methodenschritte war, die einen lehrbuchfähigen Größten Gemeinsamen Nenner bildeten14 – ist derzeit (und wohl auf einige Zeit hin) schlichtweg nicht absehbar.

14

So etwa die Abfolge von (1) Textkritik; (2) Literar- und Quellenkritik; (3) Form-, Traditions- und Redaktionskritik.

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3.

213

Bibel und sozial-kommunikative Authentizität (Konturen eines Forschungsprojekts)

Als besonderes Bereichsfeld der Rede von personaler Authentizität wurde die sozial-kommunikative Authentizität eingangs so bestimmt: Ein Mensch wird als (mehr oder weniger) authentisch bezeichnet, wenn er oder sie (mehr oder weniger) glaubwürdig ein stimmiges Bild jener besonderen Identität vermittelt, das er oder sie sich gibt und nach außen hin kommuniziert. Dabei geht es nicht primär um die Frage personaler Integrität im ethischen Sinn, sondern um die Außenseite von Identitätskommunikation: Was äußert ein Kommunikator an Inhalten über sich und seine Agenda? Und wie wird diese so präsentierte intentionale Identität, die über unterschiedliche Medien und Kanäle verschiedene Kommunikanten erreicht, im öffentlichen Diskurs wahrgenommenen, angenommen und bewertet? Wenn – wie eingangs ebenfalls angedeutet – gilt, dass so verstandene Authentizität die derzeit global gängige „Leit-Währung“ für soziales Prestige in Fragen von Identität und Identitätskommunikation ist, dann gilt auch: Nur authentisches Kommunizieren ist erfolgreiches Kommunizieren, und wer erfolgreich kommunizieren möchte, muss lernen, authentisch zu kommunizieren. Hier allerdings zeigt sich das ethische Problem eines sozial-kommunikativ verstandenen Authentizitätsbegriffs, weil Authentizität in eine enge Partnerschaft mit gesellschaftlichem und monetärem Erfolg gerät: Erfolg ist aber nicht nur keiner der Namen Gottes, erfolgreich ist auch keines der Äquivalente für gut! Und zugleich zeigt sich die Dialektik von Authentizität: Wenn authentisches Kommunizieren zur allenthalben gelehrten und gelernten Persönlichkeits- und Produktentwicklungstechnik geworden ist und Authentizität zur wohlfeilen und anspruchslosen „Allerwelts-Mache“, dann mag der Moment nicht fern sein, da entsprechendes Auftreten als bloße „Masche“ verdächtigt und (wieder)erkannt wird: Denkbar ist es schon, dass eines (nicht allzu fernen?) Tages der ganze Authentizitätsdiskurs implodiert! – Ich stelle allerdings solch kritische Neben-Gedanken hintan und frage frontal:

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214

3.1

Die Fragestellung

Wenn feststeht, dass die historische und die hermeneutische Authentizität wichtige Themenstellungen innerhalb der Bibelwissenschaft darstellen – wie steht es dann mit der personalen, näherhin der sozial-kommunikativen Authentizität? Stellen sich ausgehend von einem solchen Authentizitätsbegriff und in Wahrnehmung seiner derzeitigen Valenz spezifische Fragen an die Bibel, näherhin an das Neue Testament: an seine Texte, Sprachbilder, Erzählfiguren und Angebote an Lebensentwürfen? Eröffnet die gesellschaftliche Sensibilität für Fragen kommunikativer Authentizität neue Perspektiven, aus denen heraus neutestamentliche Texte spezifisch gelesen und mit hermeneutischem Mehrwert interpretiert werden können und sollen? Wer darauf eine positive Antwort geben möchte, muss eine präzise Fragestellung entwickeln, entlang derer eine ergebnisorientierte und methodisch plausible Bearbeitung leistbar ist. Unter den zahlreichen Forschungsansätzen, die sich ausgehend vom Binom „Kommunikative Authentizität und Neues Testament“ denken lassen, möchte ich folgende Fragestellung aufwerfen und Möglichkeiten zu ihrer Bearbeitung diskutieren: Wenn „Authentizität“ eine Qualifikation ist, die eine in Identitätskommunikation engagierte Person beansprucht und die ihr in öffentlichem Diskurs zu- oder aberkannt wird, dann drängt es sich auf, exemplarische Menschen oder – wie es literaturwissenschaftlich und historisch korrekter heißen muss – Figuren (oder Gestalten) des Neuen Testaments in ihrem Kommunikationsverhalten auf ihre Authentizität hin zu analysieren. Ich greife jene beiden heraus, die sich aufgrund ausreichenden Materialbestandes am ehesten dafür anbieten, Jesus und Paulus. Die Frage stellt sich in beiden Fällen ähnlich, muss aber doch jeweils eigens ausbuchstabiert werden: Auf Jesus angewandt lautet die Fragestellung so: Welche Strukturmerkmale des Kommunizierens lassen sich in der erhaltenen Jesus-Überlieferung ausmachen, die ihn als so besonders authentisch erscheinen ließen, dass

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215

1. anhängerseitig noch zu Lebzeiten Prozesse der Christologisierung begannen,15 2. gegnerseitig seine ideologische Ächtung16 und physische Beseitigung17 betrieben wurden und 3. in positionell indifferent(er)en Stellungnahmen immerhin seine charismatische Wirkung auf Menschen konstatiert wurde?18 Die Ausformulierung der Wirkung des Kommunizierens Jesu geschieht bewusst in dieser dreifachen Weise: Viele öffentliche Authentizitätsdiskurse kennen die oppositionellen Urteile von „Anhängern“ und „Gegnern“, zwischen diesen Extremen liegt aber normalerweise noch das breite Feld von ambivalenten Positionen: vorsichtig oder partiell sympathisierend, vorsichtig oder partiell skeptisch, noch unentschlossen oder auch bloß peripher interessiert. Insgesamt gilt aber: Das, was als authentisches Kommunizieren zu bezeichnen ist, wirkt häufig polarisierend, so dass vor allem die Extrempositionen „Anhänger“ und „Gegner“ den Diskurs bestimmen und auch besonders nachhaltig wahrnehmbar sind. Und nach allem, was wir über ihn wissen können, polarisierte Jesus. Auf Paulus angewandt lautet die Fragestellung so: Welche Strukturmerkmale des Kommunizierens lassen sich in seinen Briefen ausmachen, die ihn als so besonders authentisch erscheinen ließen, dass er 1. seit seiner von ihm selbst zum öffentlichen Thema gemachten Identitätswende vom Christenverfolger zum christlichen Missionar inmitten heftigster innerjüdischer Kontroversen stand,19 dass er weiters 2. als einer der Hauptakteure des innerkirchlichen Richtungsstreits „Pflege der jüdischen Identität versus Beanspruchung einer internationalen

15

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18 19

Vgl. z. B. die Frage „Wer ist nun dieser?“ (τίς ἄρα οὗτός ἐστιν: Mk 4,41; Lk 8,25) bzw. „Was für einer / woher stammend / woher geprägt ist dieser? (ποταπός ἐστιν οὗτος: Mt 8:27). Vgl. z. B. die Vorwurfsformulierung von Mk 3,22: „Er ist von Beelzebul besessen; mit Hilfe des Anführers der Dämonen treibt er die Dämonen aus“ (ἔλεγον ὅτι Βεελζεβοὺλ ἔχει καὶ ὅτι ἐν τῷ ἄρχοντι τῶν δαιμονίων ἐκβάλλει τὰ δαιμόνια). Vgl. z. B. das Kalkül der Synhedristen nach Joh 11,45–53, bes. 48: „Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben …“ (ἐὰν ἀφῶμεν αὐτὸν οὕτως, πάντες πιστεύσουσιν εἰς αὐτόν). Vgl. z. B. Mk 1,22.27; Mt 7,29; Lk 4,32.36, wo solches unter dem Stichwort ἐξουσία („Vollmacht“) ausgedrückt wird. Vgl. z. B. Apg 9,19–22.29; 21,27ff; 22,30ff; 28,17ff; 2 Kor 11,24–26.

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Universalität“ in der ganzen, damals schon bis Rom (und vielleicht auch darüber hinaus) reichenden christlichen Ökumene ein bekannter und kontroversieller Gesprächsgegenstand war,20 und schließlich dass 3. er nach seinem Tod – ungeachtet der Tatsache, dass einige seiner theologischen Positionen in nur recht abgeschwächter Gestalt weitertradiert wurden – als „Apostel und Lehrer der Völker“ nicht bloß unter die „top Drei“ (Petrus, Jakobus, Paulus), sondern zweifellos unter die „top Zwei“ (Petrus und Paulus) der in altkirchlicher Darstellung als identitätsstiftend bezeichneten Gründungsgestalten des Christentums aufsteigen konnte?21 Das Spezifische an den Paulus betreffenden Authentizitätsdebatten ist, dass sie sich nicht (oder nur unzureichend) in die drei positionellen SubDiskurse „Anhänger - Gegner - Indifferente“ einteilen lassen, in denen über Jesus verhandelt wurde. Ihre Strukturierung ergibt sich eher im Blick auf die zwei unterschiedlichen Öffentlichkeit, in denen Paulus selbst debattierte: Vor dem Forum seiner mit-jüdischen Öffentlichkeit (1.) beansprucht er angesichts seiner konfliktträchtigen Lebenswende vom antichristlichen Pharisäer zum Apostel Christi Jesu für seinen Lebensentwurf gleichermaßen theologische Wahrheit wie personale Authentizität. – Vor dem Forum seiner mit-christlichen Öffentlichkeit (2.) betont er den heilsgeschichtlichen Universalismus des in Jesus Christus angebotenen eschatologischen Heils, weshalb sich christliche Verkündigung und Gemeindebildung nicht auf den partikulären und für Paulus damit vorläufigen Heilsraum der vorfindlichen innerjüdischer Identität beschränken dürfe. Deshalb sei die Möglichkeit einer eigenständigen heidenchristlichen Identität – neben der für Paulus auch weiterhin gegebenen Möglichkeit judenchristlicher Identität – auch unverhandelbarer status confessionis: Denn wer von Heiden, die Chris-

20 21

Vgl. Gal 2,1–21; Phil 3,2–21. Vgl. dazu den Personalaufriss der Apg: Von Beginn bis 12,17 ist Petrus die Hauptperson. (In 15,7–11 hat er noch einmal einen kurzen Auftritt beim Apostelkonvent.) – Paulus wird sozusagen in kleinen Schritten eingeführt (als Gegner: 7,58; 8,1a; seine Lebenswende: 9,1–3; von Barnabas nach Antiochia geholt: 11,25–30) und ist nach dem „Abtritt“ des Petrus (12,17) bis zum Schluss die unangefochtene Hauptperson, unterbrochen nur kurz durch Kap 15, in dem andere, Petrus und v. a. Jakobus, über sein Projekt befinden. – Jakobus der Herrenbruder (vgl. auch Gal 1,19; 2,9.12) taucht in 12,17 wie aus heiterem Himmel und ohne jede Vorbereitung auf, spricht beim „Apostelkonvent“ 15,13–21 das entscheidende Wort und erscheint nochmals in 21,18–26 als Leiter der Jerusalemer Gemeinde und der judenchristlichen „Fraktion“ der Kirche insgesamt.

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ten sind oder es werden möchten, die (nachzuholende oder vorgängige) Beschneidung verlangt, stelle die Heilsbedeutung Christi Jesu unter die der Tora, wohingegen er doch vielmehr deren heilsgeschichtlicher Ziel- und Fluchtpunkt sei, von dem her sie überhaupt erst ihren Heilssinn beziehe.22

Auch für diese Position beansprucht Paulus nicht nur argumentativ aufzuweisende theologische Wahrheit, sondern bringt als Ausweis seiner personalen Authentizität, die ihn zu heftiger Agitation in dieser Sache nicht nur berechtige, sondern auch verpflichte, seine Lebenswende (und die ihm dadurch erwachsenen persönlichen Nachteile und Leiden) in die Diskussion ein. – Der post-mortem-Diskurs (3.) über Paulus und seine Authentizität wird dann erstens (soweit wir wissen) fast nur noch innerkirchlich und zweitens kaum mehr kontroversiell geführt. Als Grund dafür, dass die zu Lebzeiten des Paulus so heftig geführte innerkirchliche theologische Kontroverse bald nach seinem Tod „austrocknete“, darf man annehmen: Die („Jerusalemer“) Option einer strikt innerhalb der Synagoge angesiedelten Jesus-Christus-Gemeinde erledigte sich wohl weniger durch theologischen Entscheid der Urkirche, denn durch den äußeren Lauf der Dinge gleichsam „von selbst“: Jakobus der Herrenbruder als judenchristliche Galionsfigur ging um das Jahr 62 n.Chr. auf Veranlassung des jüdischen Hohepriesters in Jerusalem ins Martyrium23 und im Zug des herannahenden jüdisch-römischen Kriegs verließen die letzten Mitglieder seiner Gemeinde wohl noch vor 66 die Stadt.24 Die pharisäischrabbinische Restrukturierung des Judentums nach der Katastrophe von 70 n.Chr. bot für sektiererische minim, als die die jüdischen „Nazoräer“ jetzt definitiv punziert waren, schlicht keinen Platz mehr. Und die faktische Zusammensetzung der christlichen Gemeinden war ab ca. 120 in den meisten Regionen mit so „erdrückender“ Mehrheit heidnisch, dass jüdische ChristInnen, die in kirchlichen Gemeinden verbleiben wollten, sich zunehmend „paganisieren“ mussten.

Deshalb sind sowohl die erzählende Paulus-Überlieferung, die in die Apostelgeschichte (und spätere Apokryphen) eingeht, als auch die Redaktion und Herausgabe (inkl. fiktionaler Vermehrung) der Briefsammlung Ausdruck und Mittel der Kanonisierung eines großkirchlich stabilisierten Paulusbildes.

22 23

24

Vgl. z. B. Gal 2,16.21; 3,19–25; Röm 7,7–25; 10,3–4. Vgl. Josephus Flavius, Antiquitates 20, §§ 197–203. – Dass Paulus (wahrscheinlich ziemlich) gleichzeitig durch ein kaiserliches (also heidnisches) Urteil in Rom starb, mag man als dreifache Ironie der (Heils-)Geschichte verbuchen. Vgl. Eusebius, Kirchengeschichte 3,5,2–3.

218

3.2

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Überlegungen zur Methode

Grundsätzlich sind zwei methodologische Zugänge denkbar: In einem induktiven (oder phänomenologischen) Ansatz kann man versuchen, Strukturmerkmale jesuanischen bzw. paulinischen Kommunizierens gemäß einer je eigenen materialen Beobachtungsheuristik zu erheben, die sich in Wahrnehmung der jeweils untersuchten Quellen aus diesen selbst ergeben muss. Der so erhobene Befund ist dann in abstrakt-metasprachliche Beschreibung zu transponieren und schließlich mit Befunden, die in anderen (historischen oder aktuellen) sozial-kommunikativen Authentizitätsuntersuchungen erhobenen wurden, zu vergleichen – z. B. in Hinsicht auf die beteiligten sozio-religiösen Rollen oder Muster, in Hinsicht auf die religionsgeschichtliche Motivkonstellation oder in Hinsicht auf jene anderen Parameter, die sich aufgrund der Befunde eben nahelegen. Alle Erkenntnisse, die sich aus Befunderhebung, Abstraktion und Vergleich extrapolieren lassen, können schließlich in den allgemeinen Theoriebildungsprozess „Was sei authentisches Kommunizieren?“ eingespeist werden. Gegenläufig dazu kann man ein deduktives methodisches Prozedere entwerfen, das so zu denken wäre: Zuerst ist der bestehende (in den Beiträgen dieses Bandes sich vielfach spiegelnde) allgemeine Theoriebildungsprozess „Was sei authentisches Kommunizieren?“ nachzuvollziehen – so wie er sich in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften, in denen er autochthon ist, eben zeigt. Die darin thematisierten Elemente, Formen, Spielarten und Funktionen von authentischem Kommunizieren sowie die Kriterien für authentisches Kommunizieren werden dann als formale Beobachtungsheuristik verwendet, um im Material der Jesus-Tradition bzw. in den Paulusbriefen nach entsprechenden, einschlägigen Fällen und Beispielen zu suchen. Dieses biblische Material wird dann gemäß einer sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Systematik interpretiert, wobei der sozusagen „fach-fremde“ Zugriff geeignet sein mag, (nach einer ersten Irritation) das „sach-gerechte“ Verständnis durchaus zu befördern und zu bereichern. In der jüngeren Exegesegeschichte lassen sich ja zur Genüge Beispiele dafür aufzeigen, dass das Herantragen externer Theorie und Methodik an biblische Texte positive hermeneutische Effekte zeitigen kann. (Umgekehrt sollte man aber auch nicht so naiv sein, eine entsprechende Erfolgsgarantie zu unterstellen, … vor allem dann nicht, wenn ein solcher deduktiver Versuch von ExegetInnen durchgeführt wird, die in der betreffenden Bezugswissenschaft Amateure sind!)

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219

Vor der methodologischen Grundentscheidung für das projektierte Vorhaben ist darauf hinzuweisen, dass induktive und deduktive Ansätze – zumindest im Bereich der literarischen Interpretationswissenschaften – nie so streng trennbar sind, wie es in der obigen idealtypischen Beschreibung den Anschein haben mag: Bereits die erste Versprachlichung der Wahrnehmung von „Beispielen“ geschieht ja immer schon in Anwendung von vorgängigen Erklärungsmustern, Narrativen und Theoremen. Aber umgekehrt gilt auch, dass ein Theoriegebäude, von dem aus deduziert werden könnte, wohl kaum einmal im luftleeren Raum bloßer abstrakter Spekulation entsteht, sondern im Blick auf einen je vorgängigen Erfahrungsschatz beobachteter und erlittener Sachverhalte entwickelt wird. (Übers Knie brechen lässt sich das Henne-oder-Ei-Dilemma nicht nur in erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht, auch methodologisch nicht!) Aus dem Gesagten ergibt sich für mich, dass die Etablierung einer „reinen“ – induktiven oder deduktiven – Methode zur Bearbeitung eines Frageinteresses, das sich von vornherein in den Interferenzbereich sozialund kommunikationswissenschaftlicher, sprachwissenschaftlicher, historischer und theologischer Kompetenzfelder stellt, weder machbar, sinnvoll noch wünschenswert erscheint. Weil die Fragestellung aber ausgehend von bibelwissenschaftlichen Interessenslagen und Kompetenzen formuliert ist, legt es sich nahe, im Ansatz eher dem geschilderten induktiven Prozedere zu folgen: Am Beginn wird deshalb ein sozusagen „scannender“ Blick über das Gesamtfeld des Materials stehen, aus dem sich – zugegebenermaßen vorentscheidend – bereits einige Themenkomplexe herauskristallisieren werden, die vielversprechend für eine weitere Bearbeitung erscheinen. Bevor ich weiter unten erste Skizzen für die beiden einschlägigen Themenlandschaften des authentischen Kommunizierens Jesu und Pauli versuchen werde, sei in Verlängerung der methodologischen Reflexion noch auf Folgendes hingewiesen:

3.3

Zwei Perspektiven

Ein besonderer Reiz des präsentierten Ansatzes liegt darin, dass die zu untersuchenden Materialkomplexe aus je unterschiedlicher Perspektive auf das Kommunizieren Jesu und auf das Kommunizieren Pauli blicken lassen: Im Fall der Jesus-Überlieferung haben wir Material über Jesus vor uns. Dieses Material geht – strukturell, also ungeachtet der näheren Bestim-

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mung der historischen Authentizität einzelner Überlieferungsstücke – zurück auf die Wahrnehmung des Kommunikators Jesus durch seine Kommunikanten. Wenn diese dann erzählen und überliefern, sind sie zwar in diesem Akt auch ihrerseits Kommunikatoren, trotzdem behält auch die von ihnen kommunizierte Jesus-Überlieferung ihre Perspektivik auf Jesus. Man muss sich bewusst halten, dass das Material, das andere Menschen über Jesus tradieren, sein Kommunizieren strukturnotwendig aus Fremdperspektive betrachtet. Für Erzählmaterial gilt dies fraglos. Gilt es aber auch für Wort-Überlieferung? Insofern sich bestimmte Logien als historisch authentisch erweisen lassen, ist dies natürlich ein Sonderfall, da ein allfälliger „Originalton Jesu“ den Kommunikationsakt doch eigentlich aus seiner eigenen Perspektive ansichtig machen sollte. Da wir aber an dieser Stelle der Untersuchung nicht auf die Ermittlung historischer Authentizität abzielen, darf die Sache suspendiert bleiben: Denn auch wenn die Wort-Überlieferung in sich Materialien mit unterschiedlichen Graden an historischer Authentizität enthält (sozusagen entlang einer Skala „von null bis hundert Prozent“), so gilt für sie als ganze: Insofern sie Traditionsmaterial oder – in Gestalt der literarischen Evangelien – Erzähltext über Jesus ist, ist die Außenperspektive auf Jesus grundlegend.

Im Fall der Paulus-Briefe hingegen haben wir Material des Paulus vor uns. Dieses Material war – strukturell, also ungeachtet der näheren Bestimmung des historischen Authentizitätsgrades einzelner Textstücke der Briefsammlung, deren Gesamttext ja als kompiliert, redigiert und fiktional erweitert zu denken ist – ursprünglich einmal primärer, schriftlich-sprachlicher Kommunikationsakt des Kommunikators Paulus an seine Kommunikanten: Paulus interveniert mit seinen Briefen in der Perspektive seiner Wahrnehmung ihrer Situation, ihre Vorzüge, Probleme und Defizite. Wir haben also im Grunde eine inverse Situation vor uns: die JesusÜberlieferung ist geprägt von der Perspektive der Kommunikanten Jesu auf den Kommunikator Jesus, die Paulusbriefe von der Perspektive des Kommunikators Paulus auf seine Kommunikanten, an die die Briefe adressiert sind. – Diese Konstellation kann sich für das Gesamtprojekt als günstig erweisen: Ihre inverse Parallelität kann die jeweils zum Tragen kommende Beobachtungsheuristik schärfen und in den Theoriebildungsprozessen anregend wirken.

3.4

Grundzüge der Authentizität Jesu – eine Skizze

Eine Skizze der strukturellen Merkmale, die das Kommunizieren Jesu – unabhängig davon, für wie überzeugend jemand die kommunizierten In-

Was an der Bibel authentisch sein kann …

221

halte hält– als besonders authentisch erscheinen lassen, so dass es die historisch zweifellos gegebenen (Nah- und Fern-)Wirkungen zeitigen konnte, entwerfe ich entlang folgender Aspekte. Sie fußen auf einer grundsätzlich materialen Beobachtungsheuristik, sind aber in abstrakte Metasprache transformiert.

3.4.1

Botschaft und Praxis

Das Verhältnis der von Jesus kommunizierten Botschaft (oder Theorie oder Ideologie) zu seiner Praxis, mit der er bei seinen Kommunikanten spezifische Erfahrungen auslöst, ist das eines inversen Erschließungszusammenhangs. Damit ist gemeint: Jesus versteht und betreibt seine Gottes(reich)verkündigung als Angebot der Eröffnung einer neuen Erfahrung von Welt und in der Welt. Die durch Jesu Praxis angebotenen und zugemuteten Erfahrungen der AdressatInnen haben für die Glaublichmachung und Plausibilisierung der Verkündigungsinhalte eine zentrale Bedeutung. Es besteht ein vielschichtiges inverses Deutungs- oder Erschließungsverhältnis zwischen Jesu Wort und den durch Jesu Praxis ausgelösten Erfahrungen der von ihm angesprochenen Menschen: Die Heilungen, Aufrichtungen und Entmarginalisierungen, die im Bannkreis der Kommunikation Jesu geschehen, sind Erfahrungsevidenz der von ihm behaupteten Botschaft vom Hereinbrechen der basileia Gottes. Dabei entsteht ein weiterführender Regelkreis: Erste Erfahrungen (als Widerfahrnis) ermöglichen und stützen den beginnenden Glauben an Jesu Gottes(reich)verkündigung. Und der (eben erst entstehende) Glaube an Jesu Gottes(reich)verkündigung fordert und fördert weiteres Experimentieren als neue Praxis in der Nachfolge Jesu, wodurch zusätzliche Erfahrungsevidenz für Jesu Botschaft generiert wird. Also: Jesu Praxis eröffnet neue Erfahrungen und stiftet neue Praxis; beides wirkt plausibilisierend für die Botschaft. Dieser für die Kommunikation Jesu typische Zusammenhang von Botschaft, die Erfahrung braucht, und Praxis, die Erfahrung stiftet, wirkt eminent authentifizierend.

3.4.2

Botschaft und Bote

Das Verhältnis von Botschaft und Bote (oder: von Ideologie und Ideologe) ist gekennzeichnet durch personale Repräsentanz, Exemplarität und Proexistenz des Boten hinsichtlich der Botschaftsinhalte.

222

Christoph Niemand

Damit ist gemeint: Nicht nur Jesu von Fall zu Fall geschehende Praxis soll Evidenz für seine Botschaftsinhalte schaffen. Der Authentizitätsanspruch, dem sich Jesus gegenüber sieht und dem er sich offensichtlich auch stellte, ging darüber hinaus und bezog sich nicht nur auf (möglichst viele) einzelne plausibilisierende Aktionen. Vielmehr: Seine eigene und ganze Existenz steht (und fällt) mit der behaupteten Sache, die er mit Leib und Leben, mit Haut und Haar repräsentiert. Deshalb meint Exemplarität (Vorbildlichkeit) auch nicht nur, dass Jesus im Sinn des Axioms „Wer Wasser predigt, darf nicht selbst Wein trinken“ seinen ZuhörerInnen nichts zumuten dürfe, was er nicht auch selbst zu leisten bereit ist. Er muss darüber hinaus mit seiner ganzen Existenz – in Tun und Ergehen! – seinen Kommunikanten gegenüber dafür einstehen, bürgen und ausweisen, dass seine Botschaft lebbar sei. Angesichts des „steilen“ Anspruchs seiner basileia-Verkündigung kommt ihm die Rolle des „exemplarischen Ersten“ zu, an dem sich unter öffentlicher Beobachtung zu zeigen hat, wohin Menschen in seiner Nachfolge geraten würden. Repräsentanz und Exemplarität Jesu bedeuten, dass er sich selbst – pro-existent – als „Proband im Selbstversuch“ für eine Existenz unter den Gesetzmäßigkeiten der basileia Gottes anbieten muss. Jesus ist der Pionier jener Existenz, von der seine Botschaft spricht. Wenn Jesus Authentizität zuerkannt wurde, dann hat das sicher damit zu tun, dass die hier beschriebenen Aspekte von personaler Repräsentanz, Exemplarität und Proexistenz hinsichtlich der von ihm kommunizierten Inhalte in hohem Maße gegeben waren und wahrgenommen wurden. Allerdings stellt diese Authentizität Jesu – sozusagen auf ihrer Rückseite – einen fast ebenso „steilen“ (und in vielen Fällen kommunikationsabbrechend wirkenden) Anspruch an seine ZuhörerInnen dar: Man konnte sich zum Inhalt der Botschaft Jesu nicht unter Absehung des Boten verhalten. Die Entscheidung für oder gegen die Ansage der hereinbrechenden Gottesherrschaft war – aufgrund der Repräsentanz, Exemplarität und Proexistenz Jesu unvermeidlich – eine Entscheidung für oder gegen Jesus als Person, der man nur hier und jetzt begegnet. (Dass die Erfolgswahrscheinlichkeit einer in diesem Sinn hochgradig anspruchsvollen Kommunikation diskutabel erscheint, halte ich nebenbei fest: Nicht jede authentische Kommunikation wird erfolgreich sein und nicht jede erfolgreiche Kommunikation ist authentisch.)

Der Kommunikation Jesu ist ein Aspekt personaler Exklusivität eigen. Das wirkt eminent authentifizierend (, kann aber auch erfolgseinschränkend sein).

Was an der Bibel authentisch sein kann …

3.4.3

223

Bote und Botschaftsempfänger

Das Verhältnis von Bote und Botschaftsempfänger – und damit wird der soeben vermerkte Exklusivitätsaspekt des Kommunizierens Jesu abgefedert – ist hinsichtlich seiner Intentionalität ein partizipatives: Es ist auf Teilgabe und Teilnahme angelegt. Jesus ermächtigt seine Kommunikanten zur Teilnahme an seiner eigenen Funktion als Verkündiger der Gottesherrschaft, und sendet sie ihrerseits als Therapeuten und Exorzisten zu den Menschen.25 Und noch mehr: Er lädt seine Kommunikanten ein zur Teilnahme an seinem eigenen Status und seiner eigenen Identität als jener, der den Gott der basileia seinen Vater nennt: Er lehrt sie das Vater-unser-Gebet.26 Aber nicht nur auf dieses prominente Stück aus der Jesus-Überlieferung wird man blicken: Auch die urchristliche εἰκὼν τοῦ θεοῦ-Christologie – Christus als (präexistentes!) „Gottes-Bild“–, die bei Paulus an mehreren Stellen sichtbar wird, scheint eine im frühesten hellenistischen Judenchristentum verortbare Versprachlichung jener Erfahrung von Teilgabe und Teilnahme an seiner gottintimen Identität zu sein, die sich bei Jesus machen ließ: Die LeserInnen von Röm 8,29 (vgl. auch 2 Kor 3,18) dürfen sich als Menschen verstehen, die dem Gottes-Bild Christus gleichgestaltet werden (συμμόρφους τῆς εἰκόνος τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ), damit dieser der Erstgeborene unter vielen Geschwistern sei (εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν πρωτότοκον ἐν πολλοῖς ἀδελφοῖς). Dass die Kommunikation Jesu daraufhin angelegt ist, den Kommunikanten an Funktion und Identitätsstatus des Kommunikators Anteil zu geben, wirkt eminent authentifizierend.

3.4.4

Jesus als „kompetenter Charismatiker“

In einem von religionssoziologischer Theoriebildung (also eher deduktiv) ausgehenden Überlegungsgang wird man, um Jesu Kommunizieren zu erfassen, wohl vor allem auf die formale Rollenbeschreibung eines religiösen Charismatikers (im Unterschied zu einem religiösen Amtsträger) abheben. Diese auf Jesus sicherlich zutreffende Typisierung, die sein Auftreten z. B. an den Faktoren Ausbildung, institutionelle Legitimation und sozialer Ort bestimmbar macht, kann auch hinsichtlich der speziellen Kommunikationswirkung Jesu wichtige Einsichten zu Tage fördern und weitere

25 26

Vgl. Mk 6,7–13; Mt 10,5–15; Lk 9,1–6; 10,1–9. Vgl. Mt 6,9–13; Lk 11,2–4.

224

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Fragestellungen anregen, etwa jene: Wenn anzunehmen ist, dass die Kommunikationswirkung von institutionell Handelnden und von charismatisch Handelnden unterschiedlichen Authentizitätskriterien unterliegen, dann wäre es reizvoll, dafür jeweils eine kleine Typologie zu entwerfen und auf der Basis des Überlieferungsmaterials Jesus, der als Charismatiker, aber sicher nicht als Dilettant zu bezeichnen ist, darin einzuordnen. Wenn sich Jesus als einer präsentiert, der zwar kein professioneller Schriftgelehrter ist, der aber mit diesen auf deren Augenhöhe und nach deren Standards seine charismatischen Ansprüche zu diskutieren in der Lage ist,27 dann erhöht das in der öffentlichen Wahrnehmung zweifellos seine „Authentizitätswerte“. Ich breche die Skizze zu Jesus hier ab, nicht ohne hinzuzufügen, dass sich in der Verlängerung des Gesagten sicherlich noch weitere, authentifizierende „Features“ ermitteln lassen, die das Bild vertiefen und verbreitern können.

3.5

Grundzüge der Authentizität des Paulus – erste Ideen für eine (noch zu erstellende) Skizze

Der Versuch, authentifizierende Strukturmerkmale paulinischen Kommunizierens aus dem Material der Briefsammlung zu ermitteln, verspricht ebenso interessante und verstehensfördernde Einsichten, die (gemäß der unter 3.3 angedeuteten, gegenüber Jesus inversen Perspektivik) neben das zu erarbeitende Bild vom „authentischen Jesus“ gestellt werden können. Die Vorüberlegungen, die ich hier anbiete, sind gegenüber dem, was zuvor zur Figur Jesus skizziert wurde, weitaus vorläufiger. Sie beanspruchen wenig mehr zu sein, als ein erstes Brainstorming zur Etablierung jener Beobachtungsheuristik, entlang der ein Analysegang ertragreich erscheinen kann. Paulus präsentiert sich als Konvertit, dessen Lebenswende ein bleibender Bezugspunkt seiner Kommunikation darstellt: Dass er im Verlauf seiner Biographie in zwei konträren Perspektiven auf Jesus geblickt hat – in der ersten sah er im Gekreuzigten, für den Messianität behauptet wird, eine blasphemische Gottes-Fratze, in der zweiten leuchtete ihm die Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Christi Jesu auf (vgl. 2 Kor 4,6) –, beansprucht er

27

Vgl. z. B. Lk 13,10–17; 14,1–6 oder Mk 12,35–37a.

Was an der Bibel authentisch sein kann …

225

als ureigenes, persönlich authentifizierendes Merkmal für seine inhaltliche Positionierung in den innergemeindlichen Auseinandersetzungen. In gewissem Sinn dazu gegenläufig argumentiert er für seine Positionen immer als Tradent einer ihm durch die, „die vor mir Apostel waren“ (Gal 1,17: οἱ πρὸ ἐμοῦ ἀπόστολοι), zugekommenen Botschaft und Lehre. Durchgehend startet er seine Argumentationen durch Zitation von oder Bezugnahme auf urchristliche Traditionsformeln und katechetische Sätze, von denen er annehmen kann, dass sie in den Gemeinden als Gemeingut bekannt sind und außer Streit stehen. Auf der Basis dieser Traditionalität baut er dann aber seine Position als Lehrer und kreativer Theologe auf, indem er seine inhaltlichen Interventionen breit und selbstbewusst argumentiert. Dabei setzt er gezielt auf die kommunikative Wirkung schriftgelehrter Expertise und Brillanz, auch wenn – oder: gerade weil – er vermuten kann, dass viele seiner AdressatInnen (und LeserInnen bis heute!) die Subtilität seiner Bezugnahmen auf die Schriften des AT nicht im Detail nachvollziehen können. Als „Kirchenpolitiker“ mischt Paulus im Versuch zu überzeugen seinen Rekurs auf lehrhafte Argumentation mit dem Hinweis auf synodale Beschlusslagen: Er präsentiert sich als einer, der auf dem Boden jener getroffenen Entscheidungen und Kompromisse steht, die seine Kontrahenten nicht (mehr) respektieren. Paulus präsentiert sich als Mystiker (oder Ekstatiker), der seine Offenbarungserfahrung allerdings nur ganz verschämt preisgibt und nicht als politisches Mittel einsetzt. Er zeigt sich als Leidender, für den seine Misserfolge und Niederlagen, durch die er dem Gekreuzigten nachfolgt, die überzeugendsten Legitimationsaufweise darstellen, und als persönlich Engagierter, der sich im Konkurrenzkampf um die Zuneigung seiner Gemeinden als eifersüchtiger Liebhaber und als „Narr“ inszeniert. Das Gesagte versteht sich, wie gesagt, eher als erster Zugriffsversuch und als Anregung zum Weiterarbeiten, denn als Ansatz zu einem bereits abgewogenen und austarierten Gesamtbild. Auch so mag es aber zeigen, dass die Frage, welche charakteristischen Merkmale das paulinische Kommunizieren authentifizieren sollen und auch tatsächlich authentifizieren können, eine ergiebige ist.

226

3.6

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Kommunikative Authentizität und historische Authentizität

Eine Schlussbemerkung drängt sich auf: Wer die kommunikative Authentizität Jesu und Pauli auf der Materialbasis der Jesus-Überlieferung und der Paulus-Briefsammlung erheben will, muss sich die Gretchenfrage stellen lassen: Nun sag, wie hältst du’s mit der … historischen Authentizität? Ich nehme für mich (nicht in Anspruch „ein herzlich guter Mann“ zu sein, sehr wohl aber) in Anspruch, mehr von der Möglichkeit zu halten, in historischen Authentizitätsfragen zu belastbaren Urteilen zu kommen, als Gretchen es dem Faust zutraut, dass er viel von der Religion halte. Dennoch erscheint es mir sinnvoll und legitim, für das dargestellte Projekt die Frage nach der historischen Authentizität des jeweils zu behandelnden Materialstücks zunächst zu sistieren: Das Material braucht nicht vor-selektiert zu werden in (vermeintlich) historisch authentisches, das dazu tauge, die kommunikative Authentizität Jesu bzw. Pauli zu ermitteln, und (vermeintlich) historisch unauthentisches, das dazu ungeeignet sei. Ich gehe insgesamt davon aus, dass es in beiden Fällen so etwas wie eine „Skala der historischen Authentizität“ gibt, die von null bis hundert Prozent reicht. Und ich gehe auch davon aus, dass es nicht sehr viele Textstücke sind, die den einen oder anderen dieser beiden Extremwerte tatsächlich erreichen. (Diese Aussage mag für die mutmaßlich authentischen Paulusbriefe reichlich skeptisch klingen. Aber auch sie sind – man darf sich vorstellen: auf der Basis von Originalexemplaren aus den Empfängergemeinden und/oder auf der Basis von Kopien, die womöglich von Anfang an im Umkreis des „Paulusteams“28 aufbewahrt wurden – in einigen Fällen, z. B. 2 Kor, vielleicht aus ursprünglich mehreren Einzelbriefen kompiliert, aber ziemlich sicher für die Edition leicht [!] redigiert.)

Es scheint mir tatsächlich reizvoll, das ganze Material der Jesus-Überlieferung und der Paulusbriefe als Fundgrube für die dargestellte Untersuchung anzusehen. Darin suche ich nach Merkmalen authentischen Kommunizierens, will sagen: nach jenen Merkmalen, die die historischen KommunikantInnen Jesu bzw. Pauli diese als authentisch wahrnehmen ließen. Das ist hermeneutisch deswegen legitim, weil zu unterstellen ist, dass ausreichend viele historische KommunikantInnen Jesu bzw. Pauli deren Kommunizieren tatsächlich als so authentisch empfanden, dass sich jene Jesus-Tradition bilden bzw. jene Sammlung der PaulusKorrespondenz entstehen konnte, die wir heute vor uns haben. Die JesusTradition und das Textkorpus der Paulusbriefe sind zwar beide hinsichtlich

28

FRENSCHKOWSKI, Erkannte Pseudepigraphie?, 213.

Was an der Bibel authentisch sein kann …

227

der historischen Authentizität ihrer Einzelstücke als corpora permixta anzusehen – zwangsläufig, weil tradierte Erinnerung und edierte Korrespondenz nichts anderes sein können –, doch mag es sein, dass die aus dem unselektierten Material erhebbaren Merkmale ihres Kommunizierens dabei helfen können, in einem anschließenden Schritt in der Ermittlung des jeweiligen Grades an historischer Authentizität einzelner Überlieferungsbzw. Textstücke einen höheren Plausibilitätsgrad zu erreichen. Vielleicht erweist es sich tatsächlich als ergiebig, das Material über Jesus und das Material des Paulus im Blick auf ihre kommunikative Authentizität nicht historisch vorzuselektionieren, sondern es auf der Basis der Wahrnehmung ihrer angesichts des gesamten Materials erhobenen kommunikativen Authentizität historisch nachzuselektionieren. Aber auch dabei gilt noch: Jene Materialien, denen dabei womöglich ein niedrigerer historischer Authentizitätsgrad zuzuerkennen sein wird, konnten nur entstehen, weil am Beginn der Traditionskette bzw. der Textüberlieferung mit Jesus und Paulus Menschen standen, die authentisch kommunizierten. Und diese Aussage beansprucht dann, historisch authentisch zu sein.

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Christoph Niemand

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ONLINE-QUELLE NR. 1: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id= 8320 (Aufruf 03.11.2015)

Hanjo Sauer

Authentizitätsideale in Literatur und Theologie der Romantik

Der katholischen Theologie ist in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils die Aufgabe gegeben, sorgfältig auf die „Zeichen der Zeit“ (GS 4) zu achten. Zu diesen Zeichen der Zeit gehört eine erhöhte Sensibilität für die Semantik. Hier soll es insbesondere um den Begriff der „Authentizität“ gehen. Von der Forderung „authentisch“ zu sein, geht im zeitgenössischen Kontext starke Faszination aus. Insbesondere in sehr persönlich gestimmten, biographischen Kontexten taucht diese Semantik so häufig auf, dass sie zum Schlagwort für eine sehr diffus verstandene Identität wird. Es steht zu vermuten, dass die Strategie dieser Begriffsverwendung mit Wunsch und Notwendigkeit zusammenhängt, angesichts der Beliebigkeit einer chaotisch wirkenden Informationsgesellschaft ein Alleinstellungsmerkmal zu suchen, das etwas unverwechselbar Eigenes ausmacht. Um zu verstehen, was sich in dieser sprachlichen Konstruktion unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit abspielt, kann es nützlich sein, den Blick auf eine ganze andere geschichtliche Epoche zu richten, um dort, wie in einem „fernen Spiegel“ (Barbara W. Tuchman) in Gemeinsamkeit und Differenz nach Ähnlichem zu suchen. In diesem Beitrag soll mit einem theologisch inspirierten Erkenntnisinteresse auf einige Autoren der Romantik eingegangen werden. Die Auswahl dieser Epoche beruht keineswegs auf Zufälligkeit. Vielmehr wird hier die These vertreten, dass die Romantik unter ganz spezifischen geistesgeschichtlichen Bedingungen auf der Suche nach Idealen der Authentizität etwas unserem Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts sehr Ähnliches entdeckt. Wir werden uns jedoch darauf einzustellen haben, dass diese Entdeckungen nicht unter dem Begriff der „Authentizität“, der in der Literatur der Romantik so gut wie überhaupt keine Verwendung findet, verhandelt, sondern mit ähnlichen Begriffen beschrieben wird, die gleichsam eine funktionales Äquivalent darstellen. Solche Begriffe sind die „Indivi-

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Hanjo Sauer

dualität“, das „Eigene“, die „Subjektivität“ oder auch die „Personalität“. Auf Grund einer durchgängig anzutreffenden Selbstreferenz der Autoren und Autorinnen der Romantik kann davon ausgegangen werden, dass die Fragen nach Identität (Wer bin ich?), Individualität (Was ist mein ganz persönlich Eigenes?) und Authentizität (Wie finde ich mein wahres Leben?) einen hohen Rang einnehmen und omnipräsent sind. Anhand von drei Autoren, Johann Ludwig Tieck, Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schleiermacher, soll der Frage nach den Idealen der Authentizität nachgegangen werden. Dabei wird deutlich werden, dass insbesondere Schleiermacher eine explizite Theologie bietet, jedoch auch bei den anderen Autoren die Frage nach der Beziehung von Subjekt und Religion immer präsent bleibt.

1.

Traumlandschaften bei Tieck 1

Johann Ludwig Tieck (1773–1853) gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der Romantik. Seine Werke publizierte er zum Teil unter eigenem Namen, zum Teil unter den Pseudonymen Peter Lebrecht und Gottlieb Färber. Der junge Tieck begeisterte sich in einem Maße für Shakespeare, dass die Auseinandersetzung mit ihm und seinem Werk ein Leben lang anhält. Angekränkelt von Shakespeares Weltschmerz kann Tieck in seiner Erzählung Abdallah ausrufen: „Nein, es ist kein Traum, wenn unser ganzes Leben nicht ein einziger schwarzer Traum ist und wir selbst ein bestandloses Traumbild, ein Dunst, der durch die Leere segelt und den ein nichtiger Schein anfliegt, bis ihn ein Wind verweht“.2

Authentisches Menschsein heißt bei Tieck, sich der prekären Bestimmung des Ortes bewusst zu sein, der den Menschen bestimmt: die Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Wie aber kommt diese Ortsbestimmung zur Anschauung? Nirgends anders als in der Natur. Die Natur als Landschaft zu sehen, charakterisiert die Sehweise der Frühromantik. Die Landschaft als Ort des Menschen entwickelt eine eigenartige Faszination. Goethe misst dem Thema der Landschaftsgestaltung in seinen „Wahlverwandtschaften“ besondere Bedeutung bei. Sehr unterschiedlich zu Goethes bewusster Gestaltung treten bei Tieck Traumland1 2

Vgl. GARMANN, Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks. TIECK, Abdallah. Eine Erzählung (Zitatausweis im Literaturverzeichnis).

Authentizitätsideale in der Romantik

233

schaften in den Blick. Sie sind gleichsam das Apriori menschlicher Existenz. Authentisches Menschsein wird dort erlebt, wo sich der Mensch bruchlos in die Landschaft einfügen kann, gleichsam zu ihrem Teil wird und in ihr seinen Ort findet. So ist es bei Tieck bezeichnend, dass diese Landschaft nicht im wachen Bewusstsein, sondern im Traum erlebt wird. Landschaften sind bei Tieck kein Produkt der menschlichen Gestaltungskraft. Sie werden in seinem Werk zum bevorzugten Traumsymbol. Die Bilder entwickeln sich nach und nach und nehmen den Träumer gefangen. Es geht nicht nur um ein interesseloses Erleben der Natur. Vielmehr wird eine mystisch aufgeladene Symbolik beschworen. Diese Symbolik wird nicht im klassischen Sinn der Symboltheorie, die sich der ästhetischen Mimesis verpflichtet weiß, verstanden, sondern mit dem Traumerleben in eins gesetzt. Dem wachen Bewusstsein steht der Traum als autonome Quelle zur Erschließung von Bedeutung gegenüber. In einem Brief an Zelter vom 20. Oktober 1808 beklagt sich Goethe über diese Sichtweise: „[Sie H.S.] arbeiten und treibens immerfort; aber alles geht durchaus ins form- und charakterlose. Kein Mensch will begreifen, daß die höchste und einzige Operation der Natur und Kunst die Gestaltung sey, und in der Gestalt die Specification“.3

Natur versteht Goethe als Inbegriff der Gestaltung und der Formgebung. Ganz anders erhält bei Tieck die Wirklichkeit selbst einen traumhaften Charakter. Ebenso gehören eine alchemistisch verstandene Naturwelt und die Sprache des Traums untrennbar zusammen. Es geht den Romantikern nicht um die Anschauung und Vermittlung bestimmter Natursymbole, sondern um deren schöpferisches Wechselspiel mit Hilfe einer fantasievollen, freien Sprache. So durchdringen sich in den Traumlandschaften Geist und Natur. Gleichsam spielerisch bringt sich der Weltgeist zu Anschauung und Gehör. Die Poesie ist nicht nur ein schöpferisches Hervorbringen an und für sich, sondern eine Existenzform, insofern sie authentisches Menschsein darstellt, in dem sich Natur und Geist durchdringen. Wenn häufig von der „Sprache der Natur“ oder auch der „Schrift der Natur“ die Rede ist, so weist dies darauf hin, dass der Natur selbst eine immanente Symbolkraft innewohnt, die der menschliche Geist nicht in sie hineinprojiziert, sondern aus der er vielmehr selbst schöpft. In einem Brief schreibt Wilhelm Heinrich Wackenroder, der in Leben und Werk Tieck eng verbunden war, über eine Mitternachtswanderung:

3

GOETHE, Brief an Zelter (Zitatausweis im Literaturverzeichnis).

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„O wie oft dacht’ ich an Dich, wie oft wünscht’ ich Dich an meine Seite. Endlich stieg ich auf die Felsen, die schönste Gegend bei Giebichenstein, wie alles romantisch vor mir lag, mir war, als lebt’ ich in der fernsten Vergangenheit, die Ruinen des Ritterschlosses blickten so ernsthaft nach mir hin, die Felsen gegenüber, die Felsen über mir, die wankenden Bäume, das Hundebellen, alles war so schauerlich, alles stimmte die Phantasie so rein, so hoch. Oft saß ich halb im Traum, halb wachend, mit einem Auge süße Träume sehend, mit dem andern in die schöne Gegend blickend. – Rührend ist mir immer der Untergang des Mondes, er senkt sich so still, so bescheiden, einem Größeren Platz zu machen, voll so ruhiger Scham, und doch ist es, als könnte man ihm die tiefe Kränkung ansehn, daß er weichen muß, daß er nicht mehr nicht heller glänzen kann - ach, verzeih! Du siehst, wie ich heut zum Schwärmen aufgelegt bin. – Das Heraufkommen des Tages ist mir immer so bang, so erwartungsvoll, die ganze Natur scheint aufmerksam. Jetzt steig’ ich auf den höchsten Felsen. – Das Morgenrot glänzte um den ganzen Horizont, – kurz, diese Nacht gehört zu den schönsten Stunden meines Lebens, sie wird mir unvergeßlich sein, ich habe hier manches gelernt, manches empfunden, was ich vorher nicht wußte, nicht empfand“.4

Die Natur ist nicht das Material menschlicher Gestaltungskraft. Sie ist durch und durch von Sinn und Bedeutung erfüllt. Friedrich von Hardenberg sagt: „Die Natur hat Kunstinstinkt – daher ist es Geschwätz, wenn man Natur und Kunst unterscheiden will“.5 Unter allen Bildern der Traumlandschaft kommt dem Wald eine ganz besondere Bedeutung zu. Bereits in den Volksmärchen ist er ambivalent besetzt: einerseits Ort einer unheimlichen Bedrohung; er ist düster, man kann sich in ihm verlaufen. Andererseits wird er zum Ort, der bergen kann und Leben und Überleben ermöglicht. Diese beglückende Erfahrung kommt zum Ausdruck in den Versen: „Waldeinsamkeit Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid, Von neuem mich freut Waldeinsamkeit“.6

Tieck lässt in seinem Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“ einen angehenden Künstler, der von Deutschland nach Italien reist, die folgende Erfahrung machen: „Nun war es Mondschein. Wie vom Schimmer erregt, klang von allen silbernen Wipfeln ein süßes Getöne hernieder; da war alle Furcht verschwunden, der Wald brannte sanft im schönsten Glanze und Nachtigallen wurden wach und flogen dicht an ihm vorüber, dann sangen sie mit süßer Kehle und blieben immer im Takte mit

4 5 6

WACKENRODER, Werke und Briefe, 321–322. NOVALIS, Fragmente, Kapitel 23 (Zitatausweis im Literaturverzeichnis). Ebd. 168.

Authentizitätsideale in der Romantik

235

der Musik des Mondscheins. Franz fühlte sein Herz geöffnet, als er in einer Klause im Felsen einen Waldbruder wahrnahm, der andächtig die Augen zum Himmel aufhob und die Hände faltete. Franz trat näher: ‚Hörst du nicht die liebliche Orgel der Natur spielen?‘ sagte der Einsiedel, ‚bete, wie ich tue.‘ Franz war von dem Anblicke hingerissen, aber er sah nun Tafel und Palette vor sich und malte unbemerkt den Eremiten, seine Andacht, den Wald mit seinem Mondschimmer, ja es gelang ihm sogar, und er konnte nicht begreifen wie es kam, die Töne der Nachtigall in sein Gemälde hineinzubringen […] Aber in einem Augenblicke verließ ihn die Lust weiterzumalen, die Farben erloschen unter seinen Fingern, ein Frost überfiel ihn, und er wünschte den Wald zu verlassen“.7

Keineswegs zufällig wird die Waldlandschaft zu jenem Ort, an dem der Künstler seine eigene Schaffenskraft entdeckt, gleichzeitig aber auch erfährt, dass er diese Schaffenskraft nicht rational zu kontrollieren im Stande ist. Sie überkommt ihn spontan wie ein Gefühl und verlässt ihn ebenso wieder. In einem Brief an Friedrich von Raumer spricht Tieck von dem natürlichen Rhythmus zwischen dem „wahrhaft göttlichen Zustand edler Passivität und Unbewußtheit“ und „Stunden des Entzückens, wahrhafte Visionen“.8 Wachtraum und Schlaftraum wechseln einander ab. Die Traumbilder des einen verdichten sich im anderen. Gelegentlich stellen sich Bilder von solcher Faszinationskraft ein, dass in ihnen das Ziel aller Wünsche abgebildet erscheint. So in einer Szene, in der Sternbald an sein Kammerfenster tritt und in die nächtliche Welt hinausblickt: „Die Scheibe des Mondes stand seinem Kammerfenster gerade gegenüber, er betrachtete ihn mit sehnsüchtigen Augen, er suchte auf dem glänzenden Runde und in seinen Flecken Berge und Wälder; bald schien er erhabene Türme zu entdecken, bald die See mit ihren segelnden Schiffen; ach dort! dort! rief eine innerliche Stimme seiner Brust, ist die Heimat aller unsrer Wünsche, dort ist die Liebe zu Hause, dort wohnt das Glück, von da herab scheint es auf uns nieder und sieht uns wehmütig an, daß wir noch hier sind“.9

Das Motiv der Ausfahrt in die Ferne verbindet sich mit der beglückenden Erfahrung vollkommenen Angenommen-seins in der Liebe. Klug überlegt lässt der Schriftsteller und Philosoph Rüdiger Safranski seine glänzende Darstellung des Zeitalters der Romantik10 mit der Seefahrt Herders 1769 von Riga nach Frankreich beginnen. Diese Reise wird zum romantischen Symbol, die bisherige Sicht der Welt zu verlassen und sich dem Abenteuer der Reise ins Ferne und Unbekannte anzuvertrauen. Tieck lässt Sternbald,

7 8 9 10

TIECK, Franz Sternbalds Wanderungen (Zitatausweis im Literaturverzeichnis). VON RAUMER, Litterarischer Nachlaß, 84. TIECK, Franz Sternbalds Wanderungen (Zitatausweis im Literaturverzeichnis). SAFRANSKI, Die Romantik.

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den Protagonisten seines Romans, die beglückende Erfahrung machen, in der weiten Ferne seine Liebe zu finden: „Er verschloß sein Auge, da erschien ihm die Fremde mit allen ihren Reizen, sie winkte ihm, und vor ihm lag ein schöner, dunkler Lindengang, welcher blühte und den süßesten Duft verbreitete. Sie ging hinein, er folgte ihr schüchtern nach, er gab ihr die Blumen zurück und erzählte ihr, wer er sei. Da umfing sie ihn mit ihren zarten Armen, da kam der Mond mit seinem Glanze und schien ihnen beiden hell ins Angesicht, sie gestanden sich ihre Liebe, sie waren unaussprechlich glücklich“.11

Diese Ferne kann bei Tieck nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich verortet werden: so in der Neubearbeitung eines alten Sagenstoffes als Traumbild einer „irreversiblen Vergangenheit der mittelalterlichen Welt“. Die zeitliche Distanz wird deutlich an den „bemoosten Leichensteinen“. Die Menschen, für die sie stehen, gehören einer längst vergangenen Epoche an. Und doch kann das Vergangene wieder lebendig werden, wenn der Poet von der „Liebe holdem Frühlingsschimmer“12 spricht als der Kraft der Liebe, die auch ferne Zeiten und Orte miteinander verbindet. Was sich am Einzelnen vollzieht, hat allgemeine Bedeutung. Tieck spricht von der „stets vorausgesetzte[n] Repräsentanz des benannten Einzelnen für die Totalität der Wirklichkeit“.13 Er gestaltet im Märchen vom Grafen Peter und der Magelone, das am Hof von Neapel spielt, die mittelalterliche Ritterwelt als eine träumerisch erinnerte Wirklichkeit und schildert die Begegnung der beiden: „Peter ging wie berauscht durch die Straßen; eilte in einen schönen Garten, und wandelte … auf und nieder, bald langsam, bald schnell, und die Zeit verfloss, ohne daß er begreifen konnte, wie die Stunden vorüber waren. Er hörte nichts um sich her, denn eine innerliche Musik übertönte das Flüstern der Bäume und das rieselnde Plätschern der Wasserkünste. Tausendmal sagte er sich in Gedanken den Namen Magelone vor, und er erschrak dann plötzlich, weil er glaubte, er habe ihn laut durch den Garten ausgerufen. Gegen Abend erscholl in der Gegend eine süße Musik, und nun setzte er sich in das frische Gras hinter einem Busche und weinte und schluchzte, es war ihm, als wenn sich der Himmel umgewendet und nun seine Schönheit und paradiesische Seite zum erstenmal herausgekehrt hätte […]“.14

Die Erschließung der Wirklichkeit, insbesondere der eigenen personalen Wirklichkeit, ist ohne literarische Form undenkbar. Diese Form kann sich auch in traditioneller oder nahezu naiv erscheinender volkstümlicher Weise anbieten, wie sie etwa das Märchen verkörpert. So erfahren alte Sagen

11 12 13 14

TIECK, Franz Sternbalds Wanderungen (Zitatausweis im Literaturverzeichnis). Zitate nach GARMANN, Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks, 170. Ebd. TIECK, Phantasus, 129f.

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und Märchen eine neue Wertschätzung. Sie werden gesammelt, neu gestaltet und interpretiert. In den Rahmengesprächen seines „Phantasus“ schreibt Tieck: „In diesen Natur-Mährchen mischt sich das Liebliche mit dem Schrecklichen, das Seltsame mit dem Kindischen, und verwirrt unsre Phantasie bis zum poetischen Wahnsinn, um diesen selbst nur in unserm Innern zu lösen und frei zu machen“.15

Geschätzt wird jenes inspirierende und die Fantasie anregende Moment, selbst wenn es so extrem ausgeprägt ist, dass es bis zum „poetischen Wahnsinn“ treiben kann. Die Poesie feiert im Zeichen des Glaubens die Liebe zur Synthese, zu Mischung und Vereinigung. Der poetische Geist kommt bei Tieck in besonderer Klarheit in einer „Romanze“ zum Ausdruck: „Mondbeglänzte Zaubernacht, Die den Sinn gefangen hält, Wundervolle Märchenwelt, Steig’ auf in der alten Pracht“.16

Die Autorin Gerburg Garmann hat in ihrer Studie über Tieck als Konstruktionsprinzipien seiner Traumlandschaften zwei Momente herauszuarbeiten versucht, die – allgemein gesprochen – auf eine Entdeckung des eigenen Ich im Medium des Fremden und Unbekannten hinauslaufen: Einerseits ermöglicht die Begegnung mit dem Fremden, oft auch wunderbar Surrealen, eine Distanzierung von der eigenen Vergangenheit. So erscheint das bisherige Leben angesichts der neuen Erfahrungen als unbedeutend. Andererseits wird das Alltägliche mit dem Außergewöhnlichen und Wunderbaren vermischt, dass im Traumbewusstsein eine neue Sicht der Realität entsteht.17 Bei Tieck heißt es: „Es giebt Momente im Leben […] in welchen unser ganzes Dasein sich wie in einen Traum auflösen will, wo Ahndungen, die lange schliefen, aus jener rätselhaften Ferne unsers Gemüts näher schreiten, […] wo wir uns wie aus uns selbst verlieren, in die umgebende Natur wie in unsre innigste Sehnsucht hineinstreben, und doch recht unsres eigensten Herzens im süßen Vergessen inne werden“.18

Romantisieren heißt, Alltäglichkeit mit Bedeutung versehen. Diese Bedeutung wird nicht zuletzt in Tiecks Traumlandschafen lebendig und anschaulich.

15 16 17 18

TIECK, Phantasus, 129. TIECK, Kaiser Octavianus (Zitatausweis im Literaturverzeichnis). GARMANN, Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks, 105. Zitiert nach GARMANN, Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks, 105.

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2.

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Authentizität in Sinnlichkeit und Geistigkeit bei Novalis

Kaum jemals wieder gab es in der Geschichte der deutschen Literatur eine solche Konzentration von bedeutenden Schriftstellern, Philosophen und Künstlern als im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts an einem Ort, nämlich in Jena. Zu dem Kreis der Jenaer Romantik gehörten die Brüder Schlegel, Tieck, Schelling, Fichte und im weiteren Sinn auch Goethe, Schiller und Hölderlin.19 Ihnen allen gut bekannt und mit ihnen verbunden war Friedrich von Hardenberg (1772–1801), dessen Name unwiderruflich mit der Romantik verbunden ist.20 Im „Athenaeum“, einer von August Wilhelm und Friedrich Schlegel herausgegebenen literarischen ProgrammZeitschrift, erschienen 1798 die ersten „Fragmente“ Friedrich von Hardenbergs, die unter dem Verfassernamen „Novalis“ und mit dem Titel „Blüthenstaub“ der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Zwei Jahre später folgten die „Hymnen an die Nacht“, die Friedrich von Hardenberg unwiderruflich in den Kanon deutscher Literatur einschrieben. Nun ist die Wahl eines Künstlernamens wie „Novalis“ nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlicher ist es schon, wenn ein Autor darüber hinaus mit einem anderen als seinem eigenen Namen signiert. Im Alter von neunzehn bzw. zwanzig Jahren unterzeichnete Hardenberg tatsächlich eine Reihe von Briefen mit den Namen „Friedrich Kurt von Hardenberg“, „Fritz Albert“, „Friedrich Ludwig“. In der Korrespondenz mit dem Philosophen Karl Leonhard Reinhold und mit Friedrich Schiller gebrauchte er den Namen „Friedrich Leopold von Hardenberg“. Wie ist dieses Phänomen zu deuten? War es jugendlicher Übermut? Zeigten sich bestimmte, nicht mehr genau zu rekonstruierende Sympathien mit bestimmten Namen und ihren Trägern? Jedenfalls weist dieses Schwanken in der Signatur der frühen Jahre darauf hin, dass für Hardenberg die Frage, wer er tatsächlich war und wie er sich verstehen wollte, ein bestimmendes Thema war. Seine gesellschaftliche Stellung im Hinblick auf Bildung und sozialen Status ließ ihn zur Elite gehören. Als adeliger, studierter Jurist schien für ihn eine steile Karriere als thüringisch19

20

Selbstverständlich darf das Jena der Jahrhundertwende (vom 18. zum 19. Jahrhundert) nicht mystifiziert werden. Tieck bezeichnet Jena angesichts der Häufung vieler menschlicher Schwächen in einem Brief an seine Schwester Sophie als „eine Einzige Schweinewirthschaft“, vgl. PAULIN, Ludwig Tieck, 102. Vgl. SCHULZ, Novalis.

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sächsischer Verwaltungsbeamter gesichert zu sein. Gleichzeitig verfügte er als Bergbauingenieur und Geologe über das naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit. Wie kaum ein anderer Autor machte sich Hardenberg Gedanken über ein „Bild unseres Selbst“.21 Dies geschieht in seinem „Allgemeinen Brouillon“, dem mit dem französischen Begriff für „Konzept“ bzw. „Entwurf“ versehenen großen fragmentarischen Werk. Ähnlich führte er in seinem „Journal“ ein dauerndes Gespräch mit sich selbst. Die Selbstreferenz – und damit verbunden die Frage nach der Authentizität – spielen bei Hardenberg eine zentrale Rolle. Die familiären Beziehungen sind hochkomplex. Von frühester Jugend an besteht eine starke Beziehung zur Mutter, die in der Phantasiewelt zu inzestuösen Vorstellungen führt. Ob diese Mutterbindung als Grund für die Wahl einer kindlichen Braut im Alter von zwölf Jahren ausschlaggebend war, mag dahingestellt bleiben. Entsprechend prekär ist die Stellung des Vaters, der gegenüber der Mutter als nicht ebenbürtig angesehen wird, wie zumindest die literarische Darstellung der Vaterfiguren im „Heinrich von Ofterdingen“ und im dort eingefügten Klingsohr-Märchen nahezulegen scheint. 1791 schreibt Hardenberg als Neunzehnjähriger an seine Mutter: „Endlich folge ich einmal dem Drange meines Gefühls und überwinde meine Trägheit zum Briefschreiben. Ich weiß, daß Du es so gern siehst, wenn ich an Dich schreibe, ob ich Dich gleich versichre, daß auch gewiß sonst die Erinnerung an Dich mir die glücklichsten meiner Stunden macht, wenn meine Fantasie schwelgt und Dein Bild lebendig mir vorschwebt. Wenn alle die schönen Szenen der Vorzeit und Zukunft, die ich mit Dir erlebte und erleben werde vor mir stehn und jeder Zug in ihnen beseelt ist: Wenn gar der blaue Schleyer der Zukunft sich hebt und ich Dich als Schöpferinn aller jener kühnen Entwürfe sehe, die eine allzukühne Zuversicht in meine Kräfte wagte. Denn wem dankten alle Männer beynah, die etwas großes für die Menschheit wagten, Ihre Kräfte; Keinem als ihren Müttern. Du trugst beynah alles zur Entwicklung meiner Kräfte bey, und alles was ich einst gutes wage und thue, ist Dein Werk und der schönste Dank, den ich Dir bringen kann“.22

Werk und Biographie sind bei Hardenberg innigst verknüpft. Die Literatur ist ihm Entwurf des Lebens und das Leben erhält seine Authentizität durch eine adäquate literarische Gestaltung. Augenfällig wird bereits in frühen Jahren die enge Verbindung von Tod, Eros und Liebe. Er findet sie vorgeprägt im Epos über Orpheus, den Sänger der Liebe und des Todes. Im Tod

21 22

Vgl. SCHULZ, Novalis, 23. NOVALIS Schriften IV, 86f.

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begegnet das Absolute, dessen Herausforderung die Poesie aufgreift und bewahrt. So schreibt Hardenberg gleichsam im Vorgriff auf seine eigenen Erfahrungen sein Gedicht über Eurydice: „Sie lebte in sicherer Ruhe Eurydice die schönste der sterblichen Mädchen Ihr Geist war sanft wie der Zephir Der über Blumengefilde haucht. Wir lebten in Friede Da kam der verderbende Tod Ihren Busen stach die giftige Natter Sie starb im ruhigen Schlummer. Nun sieht sie den Orkus und lebt in Elysium In seliger Ruhe, in ewigen Frieden Ewiger May lächelt auf ihren Wangen; Die Unterwelt nahm sie mit Neide mir weg. Ich verzweifelte da kam im Träume Venus mit tröstender Stimme Hoffnung blühte mir auf Hoffnung sie wiederzusehn. Vögel klaget mit mir, Luna, gütige Göttin Und du alternder Hayn Euridicen entriß mir der Tod. Aber ich soll sie wiedersehn O freut euch o hüpfet ihr Wellen Die sie so oft trank Den gütigen Göttern opferte. Ich soll sie im Orkus holen Die Gattin, Euridicen, die Todte, Ich Sterblicher soll sie aus dem Orkus holen Mit Gesang aus dem unzugänglichen Orkus. O freut euch ihr Hayne! Ihr Felsen! Ich sehe sie wieder Mit Wonne im Arme sie wieder“.23

Das sind Verse eines Siebzehn- oder Achtzehnjährigen, der seine Existenz auf die Themen von Tod und Liebe einstimmt! Authentisch leben bedeutet für Hardenberg, in der Kraft der Liebe sein Leben auf den Tod hin anlegen. Dass sich diese ernste Thematik bei Hardenberg auch mit ausgelassen

23

NOVALIS Schriften VI/1, 380f.

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Frivolem zu verbinden vermag, wird in den Badeliedern deutlich, wo dem Wasser eine unverkennbar erotische Qualität zugeschrieben wird.24 Ein wichtiges Thema ist für Hardenberg der Umgang mit Nähe und Ferne. Dem „Zuhause-Sein“ korrespondiert in einem metaphysischen Sinn das Ziehen in die Ferne. So ist er fasziniert von den Reiseberichten des Engländers Captain Cook über die Südsee und speziell über Tahiti. Diese Berichte inspirieren ihn zu den Zeilen: „Nein, Freunde kommt, laßt uns entfliehen Den Fesseln, die Europa beut, Zu Unverdorbnen nach Taiti ziehen Zu ihrer Redlichkeit. Und laßt uns da das Volk belehren Wie Orfeus einstens that; Das Saytenspiel soll ihrer Wildheit wehren, Errichten einen Staat, Wo nur Natur den Scepter führet, Durch weise Künste unterstützt, Und jeder in dem Stand, der ihm gebühret, Dem Vaterlande nüzt“.25

Im Alter von 22 Jahren schwärmte der Student von den Reizen der Bürgermädchen, die „hundertmal mehr Verstand“ entwickeln könnten „als die Vornehmsten“.26 Es war dann aber doch eine Adelige in kindlichem Alter, die zu seinem Schicksal wurde. Bei einem Ausritt begegnete der 22jährige Justizpraktikant der 12-jährigen Sophie von Kühn. Die Begegnung traf ihn wie ein Blitz. Seinem Bruder Erasmus schrieb er im November 1794: „Kotz heiliges Donnerwetter, das ist ein Wettermädchen!“27 Zur gleichen Zeit vertraut er sich in einem Brief der älteren Caroline Just, der Nichte seines Dienstvorgesetzten, an: „Glauben Sie nicht, daß meine Unpäßlichkeit blos körperlich ist. Die Indisposition des Körpers traf nur mit der Indisposition der Seele zusammen – keine von beyden allein würde jene hervorgebracht haben. Meine Fantasie war lange nicht so in lebhafter Bewegung als nach unsrer Reise. So viel Entzückendes auf Einmal, Sophie, Ihre [also Caroline Justs, der Adressatin des Briefes, H.S.] in der That einzige Freundschaft, und die unendliche Aussicht, die mir sich hier auf einmal so bestimmt für mein Leben und meine Bestimmung öffnete – dis alles bestürmte meine ohnedieß reizbare Fantasie, die eine zeitlang müßig gelegen hatte, auf einmal so,

24 25 26 27

Vgl. ebd. 184. Ebd. 75. Vgl. SCHULZ, Novalis, 83. NOVALIS Schriften IV, 144.

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daß ich am Ende dabey leiden mußte. Ich fühle zu deutlich, daß zwar der Körper theil nimmt, aber daß der Hauptsiz des Uebels in meiner Fantasie liegt – ich darf nur eine Zeitlang an jene Gegenstände denken, so ist plözlich die traurige nicht zu tilgende Sehnsucht und der ängstliche Ueberdruß an der Gegenwart da“.28

Hardenberg hatte sich unrettbar verliebt. „Ein Augenblick entschied über mein Schicksal“ sagte er über den Moment der ersten Begegnung mit Sophie von Kühn.29 In einem Gedicht mit dem Titel „Anfang“ aus dem Jahr 1794 heißt es: „Es kann kein Rausch seyn – oder ich wäre nicht Für diesen Stern geboren – nur so von Ohngefähr In dieser tollen Welt zu nahe an Seinen magnetischen Kreys gekommen. Ein Rausch wär wirklich sittliche Grazie Vollendetes Bewußtseyn? – Glauben an die Menschheit wär Nur Spielwerck einer frohen Stunde – ? Wäre dis Rausch, was ist dann das Leben?“30

In einem Brief vom 7. Oktober 1791 an Schiller setzt Hardenberg seine „Liebe zur sittlichen Grazie“ mit Schillers Begriff der „moralischen Schönheit“ in Beziehung. Er preist diese als ein Gefühl, das „die Seele in ihren mächtigsten Tiefen“ ergreife. „Sie sezt alle Kräfte in Bewegung und läßt uns höher denken und empfinden. Sie bleibt das unzerstörbare Monument der ewigen Schönheit der Seele, in der sie entstand. […] Sie giebt unsern Empfindungen, unsern Gefühlen einen Schwung, dessen Schnellkraft auch gegen verdoppelte Hindernisse und die dicke Atmosphäre der Sinnlichkeit aushält. Der Entschluß tritt dem Entwurfe in die Fußtapfe“.31

Doch die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Ein Jahr nach der ersten Begegnung erkrankt Sophie von Kühn schwer. Ihr Krankenbett wird zum Stelldichein der gebildeten Welt. Friedrich Schlegel besuchte sie. 1796 kam auch Goethe zu einer kurzen Visite. Nach einer zermürbenden Folge von Besserung und Rückfall starb Sophie von Kühn am 19. März 1797. Kurze Zeit später verstarb auch Hardenbergs geliebter Bruder Erasmus. Als er zum ersten Mal Sophie von Kühns Grab besucht hat, vertraute er seinem Tagebuch an: „Die Wunde stets offen erhalten“.32 In Hardenbergs Werk geschieht eine systematisch vollzogene Mythisierung der Braut. In seinem „Journal“ wird die Verstorbene in ein messianisches Konzept einbezogen.

28 29 30 31 32

NOVALIS Schriften IV, 148. Vgl. SCHULZ, Novalis, 86. NOVALIS Schriften I, 386. NOVALIS Schriften IV, 101f. SCHULZ, Novalis, 93.

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Hardenberg spricht von seinem Entschluss, die Liebe zur Toten in der Weise zu vollziehen, dass er ihr in messianischer Absicht nachstirbt: „Beym Grabe fiel mir ein – daß ich durch meinen Tod der Menschheit eine solche Treue bis in den Tod vorführe – Ich mache ihr gleichsam eine solche Liebe möglich“.33

In den Eintragungen seines Journals mischen sich die Motive von Trauer, Liebe und Sinnlichkeit. Ins Auge fällt eine Art des Experimentierens mit sich selbst, was in der Sache gleichbedeutend ist mit der Suche nach Authentizität. Zwei Jahre später verlobte sich Hardenberg erneut, nämlich mit Julie von Charpentier, Tochter eines Bergrats und Professors für Mathematik an der Bergakademie in Freiberg. An Friedrich Schlegel schrieb er im Januar 1799: „Das Verhältniß, von dem ich Dir sagte, ist inniger und fesselnder geworden. Ich sehe mich auf eine Art geliebt, wie ich noch nicht geliebt worden bin. Das Schicksal eines sehr liebenswerthen Mädchens hängt an meinem Entschlusse – und meine Freunde, meine Eltern, meine Geschwister bedürfen meiner mehr, als je“.34

Sein Brief endet mit einer verstörenden Bemerkung: „Ein sehr interressantes Leben scheint auf mich zu warten – indeß aufrichtig wär ich doch lieber todt“.35 Ähnliche Bemerkungen finden sich anderwärts. So schreibt Hardenberg: „Der frühe Tod ist jezt mein großes Los“.36 Zweifellos besteht ein Zusammenhang von der Verklärung des Todes in der pietistischen Literatur, die Hardenberg vertraut war, und seinem „Entschluss“, wie er ihn seinem „Journal“ anvertraut, der geliebten Sophie nachzusterben. Dieses Todesbewusstsein wird bei Hardenberg mit einer regelrechten Philosophie der Erotik in Verbindung gebracht, wie sie insbesondere in den Teplitzer Fragmenten, die von einem Sommeraufenthalt 1798 in dem böhmischen Badeort stammen, entworfen wird. Hier finden sich Aussagen wie die folgende: „[Eine, H.S.] Verbindung, die auch für den Tod geschlossen ist – ist eine Hochzeit – die uns eine Genossin für die Nacht giebt. Im Tode ist die Liebe, am süßesten; für den Liebenden ist der Tod eine Brautnacht – ein Geheimniß süßer Mysterien“.37

Die vorherrschende Perspektive ist immer jene der Selbstbeobachtung, in der sich die Sehnsucht, in Liebe und Tod die Grenzen der eigenen Imma-

33 34 35 36 37

NOVALIS Schriften IV, 38. NOVALIS Schriften IV, 273. Ebd. Ebd. 268. Ebd. 50.

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nenz zu übersteigen, in einer erotischen Bildersprache ausdrückt. Auch der Schritt zu einer religiösen Erotik wird insbesondere im Zusammenhang mit der Symbolik des Abendmahls vollzogen. Hardenberg bezieht sich auf das Johannesevangelium (6,56) und schreibt: „Wer hat des irdischen Leibes Hohen Sinn errathen? Wer kann sagen, Daß er das Blut versteht? Einst ist alles Leib, Ein Leib, In himmlischem Blute Schwimmt das selige Paar. – O! daß das Weltmeer Schon erröthete, Und in duftiges Fleisch Aufquölle der Fels! Nie endet das süße Mahl, Nie sättigt die Liebe sich“.38

Zwischen der Aufnahme des Essens beim Mahl und der geistlichen Empfängnis herrscht eine Analogie. Höchste Spiritualität verbindet sich mit sehr körperlich gedachter Wollust („Heißere Wollust / Durchbebt die Seele“39). Für die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen durchaus provokativ muss der Gedanke gewesen sein, die erotische Bildsprache selbst auf politische Verhältnisse zu übertragen. In den Jahrbüchern der Preußischen Monarchie findet sich der Schlüsselsatz: „Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten. Je größer die Liebe, desto weiter und mannichfaltiger diese ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten“.40

Bei Hardenberg findet sich keine hierarchische Beziehung von Körperlichem und Geistigem, sondern eine innige Wechselbeziehung beider. In seinem „Brouillon“ schreibt er: „Seele und K[örper, H.S.] berühren sich im Act“. Wobei diese Aussage durch eine „Leiter“ versinnbildlicht wird: „Blick“, „Händeberührung“, „Kuß“, „Busenberührung“, „Grif an die Geschlechtstheile“, „Act der Umarmung“.41 So steigt die Seele zum Körper hinab und der Körper trifft sich mit der Seele. Diese Tradition einer eroti-

38 39 40 41

Ebd. 212. Zit. nach SCHULZ, Novalis, 112. NOVALIS Schriften II, 485. NOVALIS Schriften III, 264.

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schen Stufenlehre reicht unter dem Begriff „quinque linea amoris“ in die Antike zurück.42 Hardenbergs Liebeswerben hat etwas Absolutes an sich. Wie er sich selbst restlos an die Geliebte übereignet, so erwartet er auch deren bedingungslose Hingabe. Es geht hier nicht um moralische Vorstellungen, sondern um Metaphysik. In der Liebe öffnet sich der Mensch dem Universum. Solche Liebe aber kann nur absolut und bedingungslos sein. Im August 1800, als er bereits schwer krank war, schrieb er an seine Braut Julie von Charpentier: „Daß ich mit namenloser Freude Gefährte deines Lebens bin Und mich mit tiefgerührten [sic] Sinn Am Wunder deiner Bildung weide – Daß wir aufs innigste vermählt, Und ich der Deine, du die Meine, Daß ich vor Allen nur die Eine, Und diese Eine mich gewählt, Dies danken wir dem süßen Wesen Das sich uns liebevoll erlesen“.43

Hardenberg hatte seine Arbeit an dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ Anfang Dezember 1799 anlässlich einer Reise zur Untersuchung geologischer Verhältnisse (des Auffindens von Braunkohle) in der Nähe des Kyffhäusers begonnen. Mit botanischem Interesse nimmt er eine himmelblau blühende Korbblütlerpflanze in den Blick. So entsteht das bekannteste poetische Bild des Romans: die Suche nach der blauen Blume. Dem Protagonisten Heinrich erscheint sie zum ersten Mal im Traum. Der Träumende steigt in eine unterirdische Höhle – unschwer als Mutterschoß zu deuten –, entkleidet sich und badet. Hardenberg schreibt: „Eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres […]“ und „jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten“.44

Heinrich überfällt ein Schlummer und dann erscheint ihm jene blaue Blume, die zum Inbegriff seiner Sehnsucht wird. Im Klingsohr-Märchen, das

42 43 44

Diese fünf Schritte sind, wie zahlreiche „Carmina“ des Hochmittelalters belegen: 1. Ansehen, 2. Ansprechen, 3. Die Berührung, 4. Der Kuss, 5. Der Liebesakt. NOVALIS Schriften I, 418f. Vgl. SCHULZ, Novalis, 180. Zur Symbolik der blauen Blume vgl. KANDELER, Die blauen Blumen des Novalis.

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am Ende des ersten Teils von „Ofterdingen“ erzählt wird, schließt eine Blüte Eros und seine Geliebte zusammen. Es geht nicht nur um eine geschlechtliche Vereinigung, sondern auch um androgyne Vorstellungen mystisch-alchemistischen Ursprungs. Sexualphantasien werden mit Elementen einer literarischen und philosophischen Topik in Verbindung gebracht. Authentisches Menschsein meint die Rückkehr zum Ursprung und die mystische Vereinigung mit dem ganzen Universum. So heißt es am Ende des Romans: „Himmel und Erde flossen in süße Musik zusammen“.45 Das Symbol der blauen Blume steht für das Einswerden im Liebesakt, im „Erkennen“ des ersten Menschenpaars, das seine Liebe entdeckt. Alles Fremdsein und jede verfremdende Vereinzelung ist aufgehoben. Der Mensch ist in seinem „Zuhause“ angelangt. Dieser Zustand aber kann nicht als dauerhaft angesehen werden. Erst im „Lied der Toten“46 ist Dauerhaftigkeit erreicht. Wie der Liebesakt und der Tod aufeinander verweisen, so werden bei Hardenberg Zeugen und Auslöschen in engster Verbindung gesehen. Ganz ungewöhnlich erscheint, dass gerade auch im „Lied der Toten“ eine überbordende Erotik ins Spiel kommt. Eine klare Unterscheidung zwischen Liebe und Sexualität lässt sich im Werk von Hardenberg sowieso nicht ziehen. „Lieb“ und „Wollust“ gehen Hand in Hand miteinander einher. Sie signieren den Sinn und das Ziel einer authentischen menschlichen Existenz, die ihrer selbst inne wird und gerade deshalb sich in der Hingabe an die geliebte Person vollkommen übersteigen kann. In dieser Selbsttranszendenz geschieht zugleich ein sich Öffnen auf das große Eine des Universums hin. Ihre Legitimation erfährt diese Wendung zum Unendlichen hin durch den Glauben an Gott, in den hinein sich die menschliche Existenz aufhebt. Diese Aufhebung geht mit höchster erotischer Lust einher, so dass Hardenberg unbekümmert die Erfahrung der Ejakulation zu ihrer Metapher machen kann: „Und in dieser Flut ergießen Wir uns auf geheime Weise In den Ozean des Lebens Tief in Gott hinein“.47

45 46

47

NOVALIS Schriften I, 300. NOVALIS Schriften I, 261f. Jacob Minor hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dem Novalis-Gedicht den Titel „Das Lied der Todten“ gegeben und sich damit auf eine Notiz bezogen, die sich bei Hardenberg findet. NOVALIS Schriften I, 352–363.

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In der Sprache des Pietismus ist vom Zerfließen und Zerrinnen in Gott die Rede. Hardenberg notierte sich zu der Zeit als er am „Ofterdingen“ arbeitete: „Die Blüthen sind Allegorieen des Bewußtseyns, oder des Kopfs. Eine höhere Fortpflanzung ist der Zweck dieser höheren Blüthe – eine höhere Erhaltung - Bey den Menschen ist es das Organ der Unsterblichkeit – einer progressiven Fortpflanzung – der Personalitaet“.48

3.

Religiöses Bewusstsein als authentisches Bewusstsein bei Schleiermacher

In der modernen Religionskritik erscheint die Religion als Inbegriff einer den Menschen entfremdenden Instanz. Diese Entfremdung betrifft seine Beziehung zur Natur und ganz allgemein seine Beziehung zur Welt, insbesondere aber auch die Beziehung zu sich selbst. Mit einem wachen Gespür für die Problematik, die sich bei der Konstruktion philosophischer und theologischer Religionskonzepte der Aufklärung auftut, tritt der wohl bedeutendste protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) engagiert und auf höchstem theoretischen Niveau für die fundamentale Bedeutung der Religion ein. Es geht ihm nicht um eine Definition des Begriffs der Religion, sondern um die erlebnishafte Heranführung an eine gesellschaftlich verschüttete Dimension, der nach seiner Überzeugung höchste Relevanz zukommt und von der das Gelingen des Menschseins abhängt. In der folgenden Skizze soll seine Konzeption des religiösen Bewusstseins verdeutlicht werden. Für Schleiermacher ist authentisches Menschsein ohne Religion undenkbar.49 „Anschauung und Gefühl“ (50) nennt er die Religion, „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (53).50 Anschauen soll sie das Universum. Weil es sich um ein Phänomen sui generis handelt, kann dieses von nichts anderem abgeleitet, unter keinen erkenntnisleiten-

48 49 50

NOVALIS Schriften III, 663. Vgl. CRAMER, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins. SCHLEIERMACHER, Über die Religion (1799). – Die Zitate aus dieser Schrift sind im Text oben nach der Seitenzählung der Originalausgabe ausgewiesen, die in der verwendeten Ausgabe (vgl. Literaturverzeichnis) angeführt ist.

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den und umfassenden Oberbegriff gestellt werden. Religion hat ihre eigene Autonomie. Sie hat ein Beziehungsgefüge zu allen anderen geistigen Kräften des Menschen, aber sie bleibt in diese nicht eingegrenzt; sie übersteigt diese. Sie war vor allem anderen da als der „mütterliche Leib“ (14). Sie umfasst auf ihre Weise den Geist in einem Stadium, da sich dieser noch nicht in der Welt eingerichtet und mit deren Gegenständen vertraut gemacht hat. Sehr gezielt siedelt Schleiermacher die Religion nicht im Bereich aktiver menschlicher Tätigkeit an (sie ist nicht „Denken“, nicht „Handeln“; vgl. 50), sondern benennt mit „Anschauung“ und „Gefühl“ die rezeptive Seite menschlicher Grundvollzüge. In der damit implizit angesetzten Gesellschaftskritik beweist Schleiermacher einen prophetischen Sinn. Er spürte zu seiner Zeit, wie in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit sich die Balance zugunsten der Produktion und der aktiven Tätigkeit des homo faber verschob und die andere Seite zum Schaden des Menschen und seiner Kultur zunehmend verkümmerte. Weil Religion in jenen Bereich vorstößt, der jenseits des Empirischen und des systematisch zu Be- und Ergreifenden liegt, muss die Rede davon wie wahres Gestammel klingen. Nicht davon zu reden, würde aber bedeuten, den Menschen um diese Dimension der Transzendenz zurückzuweisen auf eine geschlossene Welt, die kein Raum der Freiheit mehr wäre. Von diesem Begriff der Religion her lässt sich deutlich machen, worin deren wahre Verachtung besteht. Es sind nach Schleiermachers Überzeugung gerade jene, die sich feierlich auf sie berufen und im Grunde doch keinen Sinn für sie haben, weil sie im Rahmen eines geschlossenen Systems denken, mit dem sie sich die Welt erschließen zu können meinen. In diesem gewaltsamen Zugriff auf die Welt aber besteht die wahre Verachtung der Religion. Denn die Religion leistet keine Welterklärung. Sie verwandelt die Welt in eine höhere Potenz. Sie verändert Sicht und Einstellung. Sie bringt den Menschen mit dem Absoluten in Beziehung. Damit geschieht etwas Neues, das sich im Rahmen eines geschlossenen Systems nicht erfassen lässt. Wie konzipiert Schleiermacher das religiöse Bewusstsein? In seiner Darstellung des christlichen Glaubens51 finden sich zwei Grundaussagen:

51

Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (2. Auflage). – Die Zitate aus dieser Schrift sind im Text oben nach der Paragraphennummerierung der Originalausgabe ausgewiesen, die in der verwendeten Ausgabe (vgl. Literaturverzeichnis) angeführt ist.

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„Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins (§ 3)“.

Schleiermacher bestimmt die Frömmigkeit also weder als „ein Wissen“, noch als „ein Tun“, sondern als „eine Bestimmtheit des Gefühls“ oder „Bestimmtheit […] des unmittelbaren Selbstbewusstseins“. – Nun die zweite Aussage: „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind (§ 4).“

Das Wesen der Frömmigkeit liegt in dem Bewusstsein der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ von Gott. Was bewegt Schleiermacher dazu, das religiöse Bewusstsein als ein Gefühl zu bestimmen? Eine Position des Erkennens könne unser Gemüt nie und nimmer zufrieden stellen. Das Gemüt – und jetzt folgt ein typisch romantisches Wort – „ahndet“ seine Abhängigkeit von etwas, das höher ist als es selbst und die Vernunft unendlich übersteigt. Wo aber kann eben diese „Ahnung“ verortet werden? Das mit dem Wort „Gott“ bezeichnete Relatum der Relation, deren sich das Subjekt bewusst ist, lässt sich nicht als mögliches Objekt eines Erkenntnisaktes deuten. Was „Gott“ bedeutet, kann nicht von anderswoher gewusst werden, sondern muss aus dem Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit rekonstruiert werden. – Im Anschluss an diese Grundaussage über das religiöse Bewusstsein expliziert Schleiermacher seine Theorie des Bewusstseins: „In keinem wirklichen Bewusstsein, gleichviel ob es nun ein Denken oder Tun begleitet, oder ob es einen Moment für sich erfüllt, sind wir uns unsres Selbst an und für sich, wie es immer dasselbe ist, allein bewusst, sondern immer zugleich einer wechselnden Bestimmtheit desselben. Das Ich an sich kann gegenständlich vorgestellt werden; aber jedes Selbstbewusstsein ist zugleich das eines veränderlichen Soseins. In diesem Unterscheiden des letzteren von dem ersten liegt aber schon, dass das Veränderliche nicht aus dem sich selbst Gleichen allein hervorgeht, in welchem Falle es nicht von ihm zu unterscheiden wäre. In jedem Selbstbewusstsein also sind zwei Elemente, ein – um so zu sagen – Sichselbstsetzen und ein Sichselbstnichtsogesetzthaben, oder ein Sein, und ein Irgendwiegewordensein; das letzte also setzt für jedes Selbstbewußtsein außer dem Ich noch etwas anderes voraus, woher die Bestimmtheit desselben ist, und ohne welches das Selbstbewußtsein nicht grade dieses sein würde […] Diesen zwei Elementen, wie sie im zeitlichen Selbstbewusstsein zusammen sind, entsprechen nun in dem Subjekt dessen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit (§ 4,1)“.

250

Hanjo Sauer

Schleiermachers Theorie der Subjektivität enthält also folgende Elemente: (1) Wirkliches Bewusstsein impliziert in jedem Fall auch das Bewusstseins unserer selbst.52 (2) Dieses Bewusstsein unserer selbst stellt das Selbst bei wechselnden Bestimmtheiten als „immer dasselbe“ vor. (3) Wir sind uns unseres Selbst nicht allein bewusst, sondern „immer zugleich einer wechselnden Bestimmtheit desselben“. Wie kommt es zu den wechselnden Bewusstseinszuständen? Sie sind in der „Empfänglichkeit“ des Subjekts begründet. Das Bewusstsein der eigenen Identität beruht auf einem Akt der Spontaneität des Subjekts. Im Anschluss an Fichte spricht Schleiermacher vom „Sichselbstsetzen“ des Subjekts. Im Bewusstsein unserer selbst als dem mit sich selbst Identischen liegt in aller Veränderung der Zustände ein Bewusstsein von Freiheit. Diese Freiheit ist identisch mit der Selbsttätigkeit des Subjekts in der Erzeugung des Bewusstseins von seiner Einheit. Die entscheidende Pointe bei Schleiermacher liegt in dem, was er die „Duplizität des Selbstbewusstseins“ (§ 4,1) nennt. Dem „Sichselbstsetzen“ korrespondiert ein „Sichselbstnichtsogesetzthaben“ (ebd.). Das Bewusstsein des Subjekts ist bestimmt durch das Bewusstsein einer Abhängigkeit von etwas, das zu haben oder nicht zu haben nicht in seiner Freiheit liegt. Dieses Aufeinanderbezogensein von Freiheit und Abhängigkeit charakterisiert Schleiermachers Subjekttheorie. Die „Duplizität des Selbstbewusstseins“ liegt all unserem Wissen und Tun, allem Erkennen und Handeln zugrunde. Aus seiner Analyse der Strukturmomente von Subjektivität zieht Schleiermacher nun die Konsequenz: Innerhalb der Bewusstseinsverläufe, die durch die Interdependenz von „Sichselbstsetzen“ und „Sichselbstnichtsogesetzthaben“, die Interdependenz von Freiheit und Abhängigkeit definiert sind, kann es ebenso wenig ein schlechthinniges Abhängigkeitsbewusstsein geben wie ein schlechthinniges Freiheitsbewusstsein. Weder unser verstehendes Verhältnis zu der Welt, noch unser verstehendes Verhältnis zu uns selbst kann ohne die unserer Freiheit entgegenstehende Empfänglichkeit für Gegebenes begriffen werden. Wie aber kann es ein in unser Selbstbewusstsein fallendes Bewusstsein unserer schlechthinnigen Abhängigkeit geben? Schleiermachers Argument 52

Hier folgt Schleiermacher Kant, denn schon dieser hatte seiner Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Objektivität von Erkenntnis in der von ihm so genannten „Transzendentalen Deduktion der Kategorien“ die Bestimmung angeschlossen, dass das bewusste Leben eines Subjekts an die Fähigkeit gebunden ist, sich Bewusstseinszustände als seine eigenen zuschreiben zu können.

Authentizitätsideale in der Romantik

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für die Nichtrepräsentierbarkeit unseres Freiheitsbewusstseins durch ein schlechthinniges Freiheitsbewusstsein lautet: „[…] weil unser ganzes Dasein uns nicht als aus unserer Selbsttätigkeit hervorgegangen zum Bewusstsein kommt“ (§ 4,3).

Es ist die Duplizität unseres Selbstbewusstseins, die das Ganze unseres Daseins charakterisiert. Doch diese Duplizität zu sein, hat sich ein Subjekt nicht in Freiheit erzeugt. In Konsequenz der Unverfügbarkeit unseres ganzen Daseins in der Struktureinheit von Freiheitsbewusstsein und Abhängigkeitsbewusstsein folgert Schleiermacher: „Ein schlechthinniges Freiheitsgefühl kann es demnach für uns gar nicht geben: sondern, wer ein solches zu haben behauptet, der täuscht entweder sich selbst, oder er trennt, was notwendig zusammengehört“ (ebd.).

Entscheidend ist das Bewusstsein, dass sich das, woher unsere Freiheit ist, insofern sie nicht aus sich selber ist, mit Notwendigkeit jeder objektivierenden Auffassung entzieht. In diesem Sinne ist es „weder ein Wissen noch ein Tun“, sondern das Bewusstsein von der durchgängigen Bestimmtheit all unseres Wissens und Tuns unter der Bedingung unserer Freiheit. Die interne Struktur der Subjektivität schließt es aus, das Subjekt selber als ein Objekt aufzufassen. Das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit geht aus der Reflexion darauf hervor, dass unsere ganze Selbsttätigkeit „von anderwärts her ist“. Von „anderwärts her“ ist somit auch unser ganzes Dasein zu verstehen. Schleiermachers Theorie des religiösen Bewusstseins schließt an seine „Rede über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ an. Die Verachtung gegenüber der Religion, die Schleiermachers fiktive Rezipienten bezeugen, hat eine paradoxe Struktur. Die Verächter der Religion würden in Schleiermachers Augen nicht nur diese (die Religion), sondern vor allem auch sich selbst verachten. In dieser Verachtung aber entzweien sie sich mit sich selbst. In das systematische Bemühen, die Welt im religiösen Bewusstsein als ganze in den Blick zu nehmen, bezieht Schleiermacher die Kunst mit ein. In seiner Ästhetik schreibt er: „Endlich, über alles kann man auch noch sagen, die ganze Welt sei ein Kunstwerk, und wo sie uns nicht so erscheine, sei die Unvollkommenheit unserer Einsicht und die Befangenheit unserer Betrachtung Schuld daran“.53

53

SCHLEIERMACHER, Ästhetik, 7.

252

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Warum kann die Welt ein Kunstwerk genannt werden? Weil sie als Ganze eine Ahnung über seinen Schöpfer und dessen Intentionen vermittelt. Das Ganze der Welt, also auch ihr Ursprung und ihr Ziel, bilden sich fragmentarisch in jedem Kunstwerk ab. Das Vermögen des rezeptiven Erkennens und die Spontaneität des handelnden Eingreifens in die Welt gründen im unmittelbaren Selbstbewusstsein, bzw. – was in Schleiermachers Denken synonym ist – im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Was der Mensch weiß von Ursprung, Ziel und der Verfasstheit der Welt, weiß er aus seinem unmittelbaren Selbstbewusstsein, denn in diesem bildet sich die Welt als ganze ab. Sie zu erfassen bedeutet, ein Kunstwerk zu entschlüsseln. Das Gefühl ist „die Einheit des denkend wollenden und des wollend denkenden Seins“ in „Analogie mit dem transzendenten Grunde“.54 Das Kunstwerk stellt diese Analogie dar und repräsentiert sie. So ist der transzendente Grund im Selbstbewusstsein des Menschen, das die Welt als Kunstwerk versteht und staunend wahrnimmt, selbst anwesend. Der transzendente Grund selbst ist jedem Gegensatz enthoben, dem Menschen aber nur in seinem Selbstbewusstsein in Verbindung mit dem Erfassen der Welt als Kunstwerk Gottes gegeben. Bei Schleiermacher sind Gottes- und Selbstbewusstsein streng aufeinander bezogen. Wer sich Gottes als des transzendenten Grundes bewusst sei, stellt alles in die schlechthinnige Abhängigkeit von Gott.55 Die Erkenntnis der göttlichen Liebe bewirkt in uns, „daß wir das gesamte endliche Sein unmöglich in seiner Beziehung auf unser Gottesbewußtsein betrachten können, außer – welches wir in dem Ausdruck Welt auch immer mitdenken – als das schlechthin zusammenstimmende göttliche Kunstwerk“.56

So kann Schleiermacher die Welt als „Selbstdarstellung und Mitteilung Gottes“57 bezeichnen, oder, was gleichbedeutend ist, als sein Kunstwerk. Gottes Selbstdarstellung ist seine Offenbarung. Das Erkennen der Welt als Kunstwerk Gottes ist nach Schleiermacher auch der transzendentale Grund aller eigenen schöpferischen Tätigkeit des Menschen, nicht nur die Natur nachzuahmen, sondern Gottes Schöpfungstätigkeit selbst. So wohnt der Kunst – ob sie sich dessen bewusst ist oder nicht – immer ein Bezug zu ih-

54 55 56 57

SCHLEIERMACHER, Vorlesungen über die Dialektik, 266. Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 4. Ebd. § 168,1. Ebd.

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rem transzendenten Grund inne: „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“.58

4.

Fazit

Welches Ergebnis kann für unsere Frage nach den Authentizitätsidealen der Romantik festgehalten werden? – Ich nenne drei Charakteristika: 1. Der Begriff der „Authentizität“ ist kein Schlüsselbegriff der Literatur in der Romantik. Es muss nach Äquivalenten gesucht werden, die die Beziehung des Subjekts zu sich selbst und zu Gott beschreiben. 2. Äquivalente wie „Subjektivität“, „Innerlichkeit“, das „Eigene“ oder „wahres Leben“ sind durchgängig in einen religiösen Kontext eingebettet. 3. „Wahres Leben“ impliziert für die Romantik sowohl einen schöpfungstheologischen („Natur“, „Liebe“), wie einen eschatologischen Horizont (der Weg „nachhause“).

58

SCHLEIERMACHER, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 34.

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Literaturverzeichnis Quellen: GOETHE, J.W., Brief an Zelter vom 20. Oktober 1808, zitiert nach: http:// www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Briefe/1808 (29.12.2015) NOVALIS Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe (HKA): vier Bände (I–IV), ein Materialienband (V) und ein Ergänzungsband in vier Teilbänden (VI/1–VI/4), begr. v. P. Kluckhohn / R. Samuel; hg. v. R. Samuel / H.-J. Mähl / G. Schulz, Stuttgart u. a. 1960ff NOVALIS Fragmente, Kapitel 23 zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/ buch/fragmente-6618/23 (17.12.2015) RAUMER, F. von, Litterarischer Nachlaß, Berlin 1869 SCHLEIERMACHER, F.E.D., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. G. Meckenstock, Berlin u.a. 2001 SCHLEIERMACHER, F.E.D., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Erster und zweiter Band. Auf Grund der 2. Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu hg. v. M. Redeker, Berlin u. a. 71960 SCHLEIERMACHER, F.E.D., Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. u. eingel. v. O. Braun (Werke: Auswahl in vier Bänden, 2), Aalen 1967 (= Leipzig 21927) SCHLEIERMACHER, F.E.D., Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. v. Th. Lehnerer (Philosophische Bibliothek, 365), Hamburg 1984 SCHLEIERMACHER, F.E.D., Vorlesungen über die Dialektik, Teilband 1, hg. v. A. Arndt (Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Vorlesungen, Band 10), Berlin u. a. 2002 TIECK, J.L., Phantasus (Schriften, Bd. 6, hg. v. M. Frank: Bibliothek deutscher Klassiker, 2), Frankfurt a. M. 1985 TIECK, J.L., Franz Sternbalds Wanderungen, zitiert nach: http://gutenberg. spiegel.de/buch/franz-sternbalds-wanderungen-5469/10 (29.12.2015) TIECK, J.L., Abdallah. Eine Erzählung, zitiert nach: http://gutenberg.spiegel. de/buch/abdallah-7170/17 (29.12.2015) TIECK, J.L., Kaiser Octavianus. Ein Lustspiel in zwei Theilen, zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kaiser-octavianus-7115/5 (29.12.2015)

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WACKENRODER, W.H., Werke und Briefe, hg. v. G. Heinrich, München 1984 Sekundärliteratur: CRAMER, K.N., Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: D. Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768–1934: Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 129–162 GARMANN, G., Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks. Traumreise und Individuationsprozess aus romantischer Perspektive, Opladen 1989 KANDELER, R., Die blauen Blumen des Novalis. Natur- und Kulturgeschichte, Jena 1996 PAULIN, R., Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, München 1988 SAFRANSKI, R., Die Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2009 SCHULZ, G., Novalis. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, München 2011 TUCHMAN, B.W., Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, Düsseldorf 1980

Walter Raberger

Ist nur „Gott“ authentisch?

Gnadentheologische Erwägungen und philosophische Erregungen

I. Sich selbst des wahren Lebens nicht restlos vergewissern zu können: Selbstsein als Gegebensein und Selbstgegebenheit Mit der Konzentrierung dieser Projektarbeit auf die Thematik „Authentizität“ eröffnet sich eine vielschichtige Auseinandersetzung mit einem Phänomenbereich, dessen „unterschiedliche Zusammenhänge und Kontexte“ es zu reflektieren gilt, seien es solche der „Wissenschaften … Künste … Medien … Politik“; dem sei noch in aller Knappheit angefügt, dass „sich mit der Rede vom Authentischen Vorstellungen des Echten und Einzigartigen, des Ursprünglichen und Identischen“1 präsentieren, also ein nicht weniger differenzierendes Ensemble von Geltungsqualitäten und Geltungsansprüchen, die auf verschiedenen Beurteilungsebenen abgeholt werden müssten. Allein die Zuordnung der Begriffe Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Rede von Authentizität, wie sie etwa in B. Williams Abhandlung2 ausgefaltet wird, führt wohlgemerkt in eine kulturgeschichtliche und anthropologische Spannung von schillernder Perspektivität hinein. Mit den Bedeutungen Eigentlichkeit, Identifizierbarkeit und Autonomie blitzen etwa Wahrheitsmomente auf, mit Glaubwürdigkeit, Originalität der Selbstdarstellung betreten wir hingegen das semantische Terrain der Wahrhaftigkeitsurteile. J. Habermas benennt in seinem 1972 ausgearbeitetem Bei-

1 2

AMREIN, Das Authentische, 9. WILLIAMS, Wahrheit.

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trag zum Thema „Wahrheitstheorien“3 vier Formen von Sprechakten, differenziert als „vier Klassen von gleichursprünglichen Geltungsansprüchen … , nämlich Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit“,4 wobei nicht versäumt wird, auf die Unterschiede in der Einlösung der Geltungsansprüche hinzuweisen, denn „Wahrhaftigkeitsansprüche können nur in Handlungszusammenhängen eingelöst werden“.5 Die Vokabel der Kommunikation, mit denen die einzelnen Geltungsansprüche geäußert oder womit auf sie Bezug genommen wird, eröffnen uns ein komplexes Spektrum von Bedeutungen. Nochmals Habermas: „Ein Subjekt folgt, indem es einen Geltungsanspruch anerkennt, einer bestimmten Intention. Es ‚versteht‘ trivialerweise ein nach Regeln erzeugtes symbolisches Gebilde, sobald Verständlichkeit als eine Bedingung von Kommunikation überhaupt erfüllt ist. Jemand ‚weiß‘ etwas über einen Erfahrungsgegenstand (bzw. er weiß eine Tatsache), wenn er den Wahrheitsanspruch einer Behauptung akzeptiert. Er ist von der Richtigkeit bzw. Angemessenheit einer Norm ‚überzeugt‘, wenn er den Geltungsanspruch entsprechender Empfehlungen für die Wahl der Norm anerkennt. Schließlich ‚glaubt‘ eine Person jemandem, wenn sie ihn in seinen Äußerungen für wahrhaftig hält“.6

Nun darf man nicht davon ausgehen, dass diese wahrheitstheoretischen und sprachhermeneutischen Reflexionen im Zentrum der Authentizitätsforschung stünden. Deren primäre Beschäftigung mit der Thematik ist eher unter „dem Gesichtspunkt der Wendung von ‚authentisch‘/‚Authentizität‘ im Rahmen der subjektiven Selbstbeziehung“ zu verorten, wie beispielsweise durch die Vorlage von „Gebrauchsformen“ und „Bedeutungsfeldern“ unterstrichen wird: „(a) Authentisch gebraucht im Sinne von verlässlich … er/sie täuscht weder sich noch die anderen“, … (b) … dass jemand in seinem Handeln und Lebensstil die unverwechselbar eigenen Ansprüche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringt … keinem vorgegebenen, durch Erziehung, Tradition oder Sozialkonvention auferlegten Muster der Wunsch- und Denkkontrolle entspricht…, (c) … ein Verhalten bezeichnet, wenn damit auf seine sichtbare bzw. unübersehbare Originalität … hingewiesen werden soll …“.7

Dem interpretierenden Zugriff auf die Bedeutungsfelder der Rede von Authentizität liegt zweifellos schon ein Vorverständnis zugrunde. Hiermit sei

3 4 5 6 7

HABERMAS, Wahrheitstheorien; zitiert nach der fünfbändigen Studienausgabe: HATexte, Bd. 2, 208–269. Ebd. 219. Ebd. 221. Ebd. 222f. KOHLER, Rolle, 198f.

BERMAS, Philosophische

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auch schon die Frage eröffnet: Welches Interesse treibt die Theologie um, sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Man geht sicherlich nicht fehl, in der Bibelwissenschaft, zumal in der sogenannten historisch-kritischen Exegese, ein originäres Interesse am Thema Authentizität als jene methodische Vergewisserung dessen verorten zu können, worin der geschichtlich überlieferte Text- und Traditionsbestand der Schrift eine Identifizierung als Ursprungsgestalt zulässt. Zum anderen gilt das Interesse den hermeneutischen Regeln, um die Autorschaft der Texte wahrzunehmen, um den Verfasser der Texte und diese selbst in deren Originalität und Echtheit feststellen zu können und zudem die Kongruenz der Interpretationsprozesse mit dem vom Autor Gemeinten überprüfbar zu machen. In diesem Zusammenhang sind ferner jene Aussagen nicht zu ignorieren, wie sie im „Dekret über den Ökumenismus“ formuliert wurden, wenn u. a. von dem konfessionell spezifizierten Verständnis „über das Verhältnis zwischen den Schriften und der Kirche“ die Rede ist, „in der nach dem katholischen Glauben das authentische Lehramt (magisterium authenticum) einen besondern Platz bei der Auslegung und Predigt des geschriebenen Wortes Gottes innehat“ (UR 21,3).8 Mit dieser Spezifizierung der Verwendung von „authentisch“ macht sich jedenfalls eine Diskrepanz im Verständnis eines Geltungsanspruches bemerkbar, wenn etwa K. Kienzler und M. Seckler bei einer Begriffsbestimmung auseinanderhalten: der „Begriff Authentizität (A) ist ein wichtiger Begriff der Theologischen Prinzipien- und Erkenntnislehre. Er dient zur Kennzeichnung der Echtheit, Wahrheit und Verlässlichkeit verbürgter Glaubenszeugnisse und Glaubenslehren gemäß inneren und/oder äußeren Echtheitskriterien … Im kirchenamtlichen Sprachgebrauch beinhalten die Begriffe authentisch und Authentizität in der Regel eine autoritative und häufig auch eine juridische Komponente“.9 Damit wird einerseits das diskursive, erkenntnisleitende und begründende Verfahren in der Vergewisserung von Glaubenslehren angezielt, mit der anschließenden Anmerkung zum kirchenamtlichen Sprachgebrauch wird hingegen das doktrinär und autoritativ bestimmende sowie Anerkennung einfordernde Vorgehen als Akt der Einlösung von Geltungsansprüchen bei Glaubensäußerungen deklariert. Die Rückfrage an die Semantik des Be-

8 9

Zitiert nach HÜNERMANN / HILBERATH, Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1, 238. KIENZLER / SECKLER, Authentizität, 1287.

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griffs „authentisch“ lässt uns vorerst einmal an ein autoritäres WillkürGehabe denken: Das „Wort wurde abgeleitet von griechisch auvqe,nthj [1], der Herr, Gewalthaber, jemand, der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt, so auch Urheber. Bei den griechischen Kirchenvätern wird auvqenti,a zur Übersetzung von lateinisch ‚auctoritas‘ [2] … Daneben bezeichnet ‚authenticum‘ im Lateinischen das Original einer Handschrift, im Gegensatz zum ‚exemplarium‘ [3] …“.10

Die Bedeutungsgeschichte von Authentizität konkretisiert sich also primär in dem, was mit der Bezeichnung Urheber oder Urheberschaft zu benennen wäre, fassbar etwa als Erweis von Handlungskompetenz in einem sozialen Beziehungs- und Kommunikationssystems, wobei noch nichts über den Modus der Anerkennung von Handlungskompetenz gesagt ist. Damit nähern wir uns der Frage nach der Ermöglichung von Authentizität sowie nach dem Wesen autonomen Selbstseins und Personseins, stellt sich ebenso aber auch die Frage nach der Angewiesenheit des Subjekts auf die gesellschaftlichen Bezüge, die dem Selbst vielleicht nicht zur Disposition stehen. In dieser Spannung gilt es zu reflektieren, was wir unter Authentizität verstehen, etwa einmal von Immanuel Kant her gedacht, wenn es heißt: „Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muss er s i c h s e l b s t machen, oder gemacht haben. Beides muss eine Wirkung seiner freien Willkür sein, denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder m o r a l i s c h gut noch böse sein“.11

Die Absage an jede Form heteronomer Fixierung des authentischen Freiheitsaktes wird gleichfalls im „Fakultätenstreit“ festgeschrieben: „Das Tun muss als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte entspringend, und nicht als Wirkung vom Einfluss einer äußeren höheren wirkenden Ursache, in Ansehung deren der Mensch sich leidend verhielte, vorgestellt werden …“.12

Demnach stünde Authentisch-Sein für die Konfiguration der unbedingten – fast möchte man sagen: bedingungslosen – Selbstgegebenheit. Man würde freilich I. Kant nicht gerecht werden, wollte man darüber hinwegsehen, dass sehr wohl des Menschen Selbstgegebenheit und radikale Selbstverpflichtetheit unter den Bedingungen einer Grenze in den Blick kommt: „Wo das eigene Tun zur Rechtfertigung des Menschen vor seinem eigenen (strenge richtenden) Gewissen nicht zulangt, da ist die Vernunft befugt, allenfalls eine über-

10 11 12

RÖTTGERS / FABIAN, Authentisch, 691. KANT, Religion, 694 (A 45). KANT, Streit, 308 (A 58.59).

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natürliche Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit (auch ohne dass sie bestimmen darf, worin sie bestehe) gläubig anzunehmen …“.13

Diese Bedingungen der Grenze des Selbstseinkönnens – und zugleich auch der Realisierung des Selbst – buchstabiert nun J. Habermas durch am Beispiel einer Auseinandersetzung mit „George Herbert Meads Theorie der Subjektivität“ in einem Beitrag zum Thema „Individuierung durch Vergesellschaftung“.14 An einigen wenigen Markierungen soll dieser Prozess der Freisetzung des Selbstseinkönnens verdeutlicht werden. Als konstitutives Element hinsichtlich der Profilierung dessen, was als Personsein, als Erweis der Zurechnungsfähigkeit und Selbstbestimmung eines Subjekts bezeichnet werden mag, wird zumeist die identifizierbare Kompetenz autonomen Handelns als Kriterium des Authentischen wahrgenommen, als Akt der Identitätsstiftung durch dieses Selbst, gleichsam: das bin ich wahrhaftig und unverwechselbar selbst, eben „als Eigenleistung gedacht – … als eine Selbstrealisierung“. In der Erwiderung dessen konstatiert nun Habermas ein „Verdienst von Mead […], dass […] die Individuierung nicht als die in Einsamkeit und Freiheit vollzogene Selbstrealisierung eines selbsttätigen Subjekts vorgestellt wird, sondern als sprachlich vermittelter Prozess der Vergesellschaftung und der gleichzeitigen Konstituierung einer ihrer selbst bewussten Lebensgeschichte […]. Individualität bildet sich in Verhältnissen intersubjektiver Anerkennung und intersubjektiver Selbstverständigung“.15

Dieses Selbst, welches sich in seinem Selbstverständnis und Selbstbewusstsein als frei und autonom agierendes Ich positioniert, reflektiert sich zugleich selbst als das, was es eigentlich nicht selbst ist, erfährt sozusagen sein Eigenes auch als Enteignetes, denn: „Nur in dem Maße, wie wir in diese soziale Umgebung hineinwachsen, konstituieren wir uns als zurechnungsfähig handelnde Individuen und bilden auf dem Weg der Verinnerlichung der sozialen Kontrollen die Fähigkeit aus, selber – aus freien Stücken – den für legitim gehaltenen Erwartungen entweder zu folgen oder gegen sie zu verstoßen“.16

Wir können also nicht „aus Gesellschaft überhaupt heraustreten“,17 aber gerade darin, dass wir uns nicht nur den Zumutungen gesellschaftlicher Systeme aussetzen oder auch widersetzen, sondern gleichfalls der syste-

13 14 15 16 17

Ebd. 309. HABERMAS, Individuierung. Ebd. 247; im Original beginnt das Zitat „dass sich …“ (WR). Ebd. 280. Ebd. 283.

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misch agierenden sozialen Umwelt die Einsprüche kraft des Selbstseinkönnens des Subjekts zumuten, könnte sich das Signum der Authentizität herausstellen. Hiermit gilt es, die zuvor schon gestellte Frage zu wiederholen: Welches Interesse treibt die Theologie um, sich mit diesem Thema „Authentizität“ zu beschäftigen? In aller Kürze angedeutet: Es ist die von der systematischen Theologie zu reflektierende gnadentheologische Problemkonfiguration von „Selbstsein als Gegebensein und Selbstgegebenheit“.

II. „Das Gottesverhältnis wird nicht zum Ausdruck sklavischer Unterwerfung und schwächlicher Ergebenheit; es demütigt nicht das Subjektsein der Menschen, sondern zwingt ihr Dasein immer neu in dieses Subjektsein angesichts seiner höchsten Gefährdungen: … Dieser Gottesgedanke missachtet oder unterdrückt das geschichtlich-gesellschaftliche Subjektsein des Menschen so wenig, dass er es gerade fordert und hervortreibt in Situationen und Augenblicken seiner größten Bedrohung. So wie dieser Gottesgedanke z. B. verlangt, sich der Schuld verantwortlich zu stellen, um Subjekt zu bleiben, so auch, sich der Unterdrückung und Menschenverachtung zu widersetzen, um Subjekt zu werden“.18 Die in der Titelüberschrift zu diesem Beitrag einleitend gestellte Frage: „Ist nur ‚Gott‘ authentisch?“, darf zweifellos nur als provozierende Absicht verstanden werden, den hermeneutischen Zeigefinger sofort zu zeigen, dass es nämlich gilt, eine sprachphilosophisch längst ausgewiesene Ebenenverwechslung wahrzunehmen und dementsprechend auch im Fall einer Beschäftigung mit der Gnadentheologie eine solche Verwechslung von objektsprachlicher und metasprachlicher Beschreibungssprache im Auge zu behalten. Die theologisch allenthalben praktizierten Versuche, eine pastoral und doktrinal vernünftige Vermittlung im Modus der Objektsprachlichkeit zu leisten, provozieren doch leider auch Missverständnisse in der Erfassung des Bedeutungssinnes religiöser Sprache. So dürfte es nicht schwer sein einzusehen, dass das Verständigungsmedium für das sich selbst realisierende menschliche Subjekt und für die gesellschaftlich-

18

METZ, Glaube, 58f.

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kulturellen Individuierungsbedingungen nicht mit der theologisch artikulierten Vorstellung von einer Beziehung Mensch – Gott gleichgeschaltet werden kann. Aufgrund dieser linguistischen Fehlleistungen war es dem sogenannten Wiener Kreis19 (1929) willkommen, den Geltungsansprüchen religiöser Behauptungssätze und auch den theologisch applizierten Begründungslogiken einen ernst zu nehmenden Wahrheitswert abzusprechen. Allein L. Wittgensteins „Tractatus“ böte sich als ein Exerzierfeld der Linguistik an: „Die im Satz angewandten einfachen Zeichen heißen Namen.“ – „Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung“.20 Was bedeutet nun der Name Gnade, für welchen Gegenstand steht der Name Gnade, sodass ihm Bedeutung zugesprochen werden könnte? In syntaktischer Analyse ist zwar nicht festzustellen, dass die Logik abhanden gekommen sei, insofern die theologische Bezeichnung auf einen Gegenstand verweist. Doch kann die semantische Klärung dessen, was die Gegenstandsbeschreibung betrifft, im gegebenen Kontext des Tractatus gerade nicht geleistet werden, sodass folglich die „Unsinnigkeit“21 solcher Sätze festgestellt wird. Allerdings ist hier auch die Erwähnung am Platz, dass L. Wittgenstein selbst bereits im Tractatus eine subtile Zurücknahme seines szientistischen Entwurfs vorgenommen hat. Er war sich dessen bewusst, dass die philosophischen Dinge keine „Dinge“ sind: Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ sind so über den Tractatus hinausgestiegen: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benutzung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benutzung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“.22

Das heißt, dass die Bedeutung eines Wortes, eines Begriffs, nicht unabhängig von der Kenntnis des Gebrauchs eines Ausdrucks innerhalb eines Kommunikationsgeschehens erfasst und verstehbar wird. So ordnet beispielsweise Thomas von Aquin – um ein klassisches Beispiel zu bringen – dem Begriff Gnade die Bedeutung einer Funktion zu, nämlich die Bedeutung einer Beziehungsdisposition und nicht die einer Gegenstandsbeziehung. So wird erklärt, dass Gnade nicht für eine übereignete oder geschenkte Sache steht, sondern sich auf ein Beziehungsgeschehen bezieht, 19 20 21 22

Vgl. dazu etwa HALLER, Studien zur Österreichischen Philosophie, 82–84. WITTGENSTEIN, Tractatus, 3.202 und 3.203. Ebd. 4.003. WITTGENSTEIN, Untersuchungen, 35 (§ 43).

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nämlich glaubenssprachlich die göttliche Bejahung des Menschen, also die von Gott dem Menschen zugedachte Anerkennung zum Ausdruck bringen möchte. Problematisch wird die Ebene der Versprachlichung, wenn die Beziehungskonfiguration auf der Ebene einer Gegenstandsbeschreibung abgehandelt wird, wenn die metaphorisch angelegte Rede über Gotteserfahrung wie eine überprüfbare Bezugnahme auf ein intersubjektiv-menschliches Begegnungsgeschehen verstanden wird und differenzlos in einer Beschreibungssprache aufgeht. Eigentlich wäre der Verständnisrahmen für die Reflexion einer Ebenenverwechslung bereits im Lateranense IV vorbereitet worden, wenn es heißt: „Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre. – quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda“.23

Dass selbst für den differenzierenden Theologen Thomas von Aquin die sprachphilosophische Befolgung dieses Prinzips nicht so einfach, doch im Horizont seiner Reflexion präsent war, zeigt seine kommentierende Bemerkung: „So wird denn durch den Ausdruck, ‚der Mensch besitzt die Gnade Gottes‘ ein übernatürlicher Sachverhalt im Menschen bedeutet, der von Gott stammt. (Sic igitur per hoc quod dicitur homo gratiam habere, significatur quiddam supernaturale in homine a Deo proveniens)“.24

Mit dem „dicitur“ („Ausdruck“) und erst recht mit dem „significatur“ („bedeutet“) wird Metasprachlichkeit angezielt. Aufmerksamkeit verdient ferner „quiddam supernaturale“ in der Übersetzung mit „übernatürlicher Sachverhalt“, obwohl doch mit dem „quiddam“ etwas bezeichnet wird, was „der Redende nicht näher bezeichnen will oder kann“.25 Ein Blick auf die geschichtliche Herkünftigkeit und Bedeutungsveränderungen des gnadentheologischen Vokabulars zeigt uns, wie Übertragungen in einen anderen Kulturkreis semantische Umcodierungen veranlasst haben, wie beispielsweise die Transfers der Lebens- und Kulturäußerungen aus der jüdisch-hebräischen Lebenswelt in die griechisch-lateinische Sprach- und Wissenschaftsgemeinschaft und aus dieser wiederum in die germanische Welt bestätigen können. Bei diesen Erkundungen kann die

23 24 25

DH 806. THOMAS, Summa Theologica I-II, q. 110, a 1, resp. (S. 114 der zitierten Ausgabe). Vgl. dazu „quiddam“ in: LANGENSCHEIDTS Großes Schulwörterbuch LateinischDeutsch, 951.

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theologische Beschäftigung auch auf die Forschungsergebnisse im Bereich der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Linguistik zugreifen. Vor allem mit Hilfe der Etymologie – e;tumoj lo,goj: die wahre, eigentliche Wortbedeutung – wurde der geschichtlichen Herkunft des Wortes wie auch den Gründen von dessen verändertem Bedeutungsgehalt nachgegangen, wodurch die kontextuelle Sinngestalt eines Textes umfassender erschlossen werden sollte. Mit Bezug auf den germanischen Kulturkreis beginnen wir mit dem gotischen niÞan, welches etwa unterstützen oder helfen bedeutet haben könnte, ein Begriff, welcher im althochdeutschen ginâda als Wohlwollen, Gunst begegnet, sodann mehr oder minder eine Weiterbildung im mittelhochdeutschen ge-nâde darstellt, allerdings eine Ausweitung in den Bedeutungen Ruhe, Behagen, Glück, helfende Geneigtheit, unterstützende Gunst, Huld gegenüber einem Untergebenen, Gewährung von Schonung, Milde, Mitleid gegenüber einem Besiegten26 erfahren hat. Die hier aufgeführten Wortdeutungen informieren auf allen drei sprachgeschichtlichen Ebenen eigentlich mehr über eine sozialgeschichtliche Semantik hinsichtlich der Ermöglichung des Selbstseinkönnens des Menschen im Kontext seiner sozialen Beziehungen als über eine gnadentheologische Reflexion der menschlichen Selbst-Bestimmung, welches Selbst sich unter den Bedingungen christlichen Glaubens als Gegebensein begreifen möchte, demnach sich des wahren Lebens authentisch zu vergewissern nicht imstande sieht. Die zuvor aufgeführten Bedeutungen – und das ist ein springender Punkt – sind hinsichtlich der erwähnten sozialgeschichtlichen Semantik unübersehbar gekennzeichnet als Ausdrücke, die auf Abhängigkeit und nicht auf Anerkennung zielen: Dem gnadentheologischen Vokabular ist das geschichtlich kontextuelle und gesellschaftlich positionierte Verständnis einer feudalsystemischen Wirkungsgeschichte anzusehen. Begreiflich, dass mit einem gesellschaftlich-kulturgeschichtlichen Paradigmenwechsel eine Neuverortung der Glaubenstradition und auch einer lebensweltlichen Orientierung herausgefordert wurde. Der als Neuzeit markierte Wandel von einer obrigkeitlich organisierten Gesellschaft zu einem ausdifferenzierten sowie zu einem auf Rechtsstaatlichkeit und Egalität basierenden Verfassungsstaat setzt nämlich – wie nicht anders zu erwarten – auf ein anderes Selbstverständnis, sodass Begriffe wie Wohlwollen, Humanität, Freiheit der Person, Authentizität nicht mehr in den

26

Vgl. dazu LEXER, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 61 und DER GROßE DUDEN, Bd. 3, 227.

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Kategorien von „helfendem Geneigtsein“ oder Wohlwollen seitens eines Höhergestellten zu verstehen sind, sondern im Sinn eines einforderbaren Anspruchs aller vor dem Gesetz gleichen Subjekte interpretiert werden. Die Normativität der Glaubenssprache ist aus der Perspektive eines säkularen, pluralistisch verflüssigten Ensembles von Denkmustern, Vorstellungen und kulturspezifischen Weltbildern hinterfragbar geworden. Die Kritisierbarkeit der Glaubenssprache setzt bei der Feststellung an, dass die religiöse Rede von Gnade und mit ihr ebenso die sie interpretierende exegetische Reflexion die Beziehungsdisposition Gott – Mensch als Konfiguration eines Menschenbildes präsentiert, welches die Sprache des Selbstseinkönnens, der freien und autonomen Selbstbehauptung des Subjekts nicht kennt und deshalb zu dem Selbstverständnis eines aufgeklärten und säkularen Menschenbildes in Spannung steht. Die Bezugnahme auf die gegebene Alltagserfahrung einer sozial-codierten Lebenswelt der MenschMensch-Beziehung dient sozusagen auch als Beschreibungsschema für die Zeichnung der Bindungs- und Beziehungsformen auf der Ebene des GottMensch-Verhältnisses. Zur Verdeutlichung dessen könnte man vielleicht eine Bemerkung R. Bultmanns beibringen, die lautet: „So bleibt das richtig: wenn gefragt wird, wie ein Reden von Gott möglich sein kann, so muss geantwortet werden: nur als ein Reden von uns“.27

In hermeneutischer Reflexion bedacht darf zugestimmt werden. Ein kritisches „Aber“ folgt jedoch sofort nach: Die Eintragung des menschlichen Selbstverständnisses in die Rede von Gott kehrt nämlich verändert zurück, indem das geschichtlich verortbare Selbst des Menschen sich empfängt als „von-Gott-her“ legitimiert. Der von J.B. Metz weiter oben zitierte und markierte Text ist der emotionale Protest gegen die Unterstellung, das Gottesverhältnis produziere und legitimiere die sklavische Unterwerfung und Demütigung menschlichen Subjektseins. Die religionsgeschichtlich dokumentierten Streitgeschichten zeigen, dass man die Frage eigentlich nie losgeworden ist: Wie viel Selbstbehauptung, wie viel Urheberschaft einer Authentizität darf der Mensch sich überhaupt zumuten?

27

BULTMANN, Welchen Sinn hat es, 33.

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III. „Der Mensch ist niemals und auf keine Weise aus sich, also aus seinem Wesen und erst recht nicht aus irgendeinem Tun, das er aus diesem seinem Wesen leistet, heil und ganz, sondern einzig und allein aus Gottes Hinwendung zu ihm, daraus, dass Gott um ihn weiß und sein Sein besorgt“.28 Dieses Zitat lässt nichts an Schärfe in der Positionierung vermissen, ebenso wenig wie der bereits oben unter „Zweitens“ zitierte Text von J.B. Metz. Dessen gleichfalls zugespitzte Perspektive weiß sich allerdings einem ganz anderen Menschenbild verpflichtet. Hinter der Absicht, durch solches Zitieren gleichsam in Kurzformeln exemplarische Dissense zu präsentieren, stehen natürlich Interessen: nämlich die Perspektivität des Urteilens aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Interpretationsposition heraus im Auge zu behalten. Herkünftig von M. Luthers Theologie und Rechtfertigungslehre bestimmt sowie konfrontiert mit dem wahrgenommenen Phänomen der Säkularität und des Säkularismus wurde für F. Gogarten die Frage nach Sinn und Grund des authentischen Selbstseins zu einem vorrangig zu bedenkenden Problem. Deshalb ist es angebracht, das in dieser Überschrift gesetzte Zitat nicht ohne Gogartens Differenzieren stehen zu lassen, wenn wir im benannten Werk nämlich auch lesen: „Man muss sich […] darüber klar sein, dass […] eine bestimmte Selbstständigkeit des Menschen ausgesagt wird, die er also Gott gegenüber hat. Denn geschichtlich sein, an Geschichte teilhaben kann ich nur als ein Selbstständiger; das will sagen, als einer, der in sich selbst seinen Stand, seinen Bestand hat. Und dieser Bestand, den ich in mir selbst habe, das ist meine Person, die ich bin. Dieses Personsein oder diese Selbstständigkeit ist aber nicht möglich ohne Welt, die meine ist …, dass ich in ihr und für sie verantwortlich bin …“.

Schon könnte man meinen, nicht mehr bei Gogarten zu sein, wenn nicht das Zitat weiterginge: „ … dass Gott den Menschen als diesen Selbstständigen geschaffen hat, auf dass er ihm als dieser Selbstständige gehöre“.29 Und kurz danach: … dass „dieser in sich selbst bestehende sich der schöpferischen Entscheidung Gottes über ihn ohne jeden Vorbehalt anheimgibt“.30

28 29 30

GOGARTEN, Verhängnis, 29. Ebd. 202. Ebd. 204.

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Damit wäre nun die Schärfe der Feststellung: „Der Mensch ist niemals und auf keine Weise aus sich“ dahingehend umgeschrieben, dass die menschliche Existenz als radikales Gegebensein nicht Aufhebung des Subjektseins bedeutet, wenn im schöpferischen Akt sich Gott als der erweist, der „um ihn“ – nämlich den Menschen – „weiß und sein Sein besorgt“. Das Beziehungsverhältnis zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf definiert die radikale Differenz von Selbstgegebenheit und Gegebensein, welche durch keine noch so große Kunst der menschlichen Selbstdarstellung überspielt werden kann. Man ist nur das, was man ist, und es zählt nicht das, was man vorgibt zu sein. Die Anerkennung dessen, dass Authentizität als Akt der Urheberschaft von Selbstbestimmung sich unter Bedingungen eines Beziehungsverhältnisses konstituiert, führt schließlich über die Reflexion der zwischenmenschlichen Kommunikation hinaus und setzt im Kontext eines religiösen Bewusstseins die Frage nach der Bedeutung des Beziehungsverhältnisses des Menschen gegenüber einer Letztwirklichkeit – nämlich Gott – frei. Gerade aber aus diesbezüglichen Klärungsversuchen gehen Streitgeschichten und Streitbeilegungsdiskurse hervor. Um es beim Exemplarischen in der Erwähnung einer solchen Streitgeschichte zu belassen, soll unter Berücksichtigung eines dogmengeschichtlichen Stellenwertes in aller Kürze auf jenen Gnaden-Streit Bezug genommen werden, welcher durch Pelagius ausgelöst wurde. Dieser, um 350/54 als Kind christlicher Eltern in Irland oder England geboren, begann etwa im Jahr 380 in Rom mit dem Jura-Studium. Mit der Taufe setzte er entscheidende Akzente, gab seine Karriere auf und entschied sich für ein „Leben der Askese und steten Selbstprüfung“31, zeichenhaft kontrastierend gegen die als lax erlebten Tendenzen seiner Umgebung.32 Zur Verschärfung der späteren Konfrontation mit Augustinus hat wohl die Bekanntschaft mit dem Anwalt Caelestius beigetragen. Mit dem Häresieverdacht sah sich Pelagius übrigens erst nach der Vertreibung aus Rom (Einfall Alarichs um 410) konfrontiert, welchen Anschuldigungen er sich zunächst auch mit Befremden ausgesetzt sah, akzeptierte er doch die „dogmatischen Entscheidungen der großen Konzile … rückhaltlos. Er wollte ehrlichen Herzens orthodox sein. Das konnte er mit um so mehr Recht geltend machen, als sein Interesse sich, wie er meinte, nicht auf eigentlich dogmati-

31 32

LOHSE, Epochen, 111. GANOCZY, Aus seiner Fülle, 111 spricht von einem „Mönch Pelagius“; LOHSE, Epochen, 111 stellt dies aber in Abrede.

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sche Fragen, sondern auf das praktische Leben der Christen erstreckte“.33 Wie G. Greshake in seiner „Untersuchung zur Gnadenlehre des Pelagius“34 zu dokumentieren vermochte, ist die tradierte Verzeichnung des theologischen Anliegens des Pelagius darauf zurückzuführen, dass durch die Autorität des zum Kirchenlehrer avancierten Augustinus später der Kontrahent Pelagius nur mehr als Ketzer-Existenz wahrgenommen wurde. Ferner wurde „das pelagianische Denken fast nur aus dem Reflex seiner Gegner“35 überliefert, zurechtgerückt durch Interpolationen und verkürzende Zitationen. Traditionsgeschichtlich hat er als „Feind der Gnade Christi“36 überlebt. G. Greshake konnte jedenfalls auf eine veränderte und kritisch aufgearbeitete Quellenkenntnis37 und in der Folge auf einige Äußerungen zugreifen, welche klarstellen, dass Pelagius von einer vertrauten Interpretation der menschlichen Sinn- und Heilsvergewisserung ausgegangen ist. „Denn nicht durch Leistung und Verdienst, nicht auf Grund eigener Werke und seiner Gerechtigkeit wird der Mensch heil, sondern gerade im Verzicht auf alle Möglichkeit des Selbstruhms, allein durch Glauben an Christus“.38

Es soll hier nicht auf die Verlaufsgeschichte des eskalierenden Streits zwischen Pelagius und Augustinus näher eingegangen werden. Die Auseinandersetzung in der Zeit zwischen 411 und 429 war sowohl von theologischen Argumentationen wie auch von unnachgiebigen Verurteilungsmaßnahmen (Verbannung), parteiischen Feindseligkeiten und Attacken39, von hoheitlichem Einschreiten seitens des Papstes (Zosimus) und des Kaisers (Honorius) wie auch von synodalen Bemühungen (Karthago 418) be-

33 34 35 36

37 38

39

LOHSE, Epochen, 112. GRESHAKE, Gnade als konkrete Freiheit. Ebd. 41. MÜHLENBERG, Dogma und Lehre, 447: „Wie kommt Augustinus zu der Behauptung, dass Pelagius gegen die Gnade schreibe (vgl. Retract. II 42, 68) und ein Feind der Gnade Christi sei (vgl. ebd. II 47, 73)?“ Vgl. SOUTER, Pelagius’s expositions; DE PLINVAL, Pélage; weiters die Angaben zur Pelagius-Forschung in GRESHAKE, Gnade als konkrete Freiheit, 37–46. GRESHAKE, Gnade als konkrete Freiheit, 102. – Vgl. dazu die von Greshake aus den Expositiones (E) angeführten Belegstellen. Er vermerkt außerdem, dass A. Souter darüber hinaus noch weitere 36 Belegstellen anführt, welche mit der „sola fide“-Vorstellung in Bezug gebracht werden könnten. BAUS / EWIG, Reichskirche, 178f.: „der junge Bischof Julian von Aeclanum in Apulien, der nun rasch zum geistigen Haupt der Pelagianer wurde“, verbal Augustinus attackierte, ihn als „patronus asinorum“ betitelte und dazu die an der Konzilsentscheidung beteiligten afrikanischen Bischöfe als „Banditen“ beschimpfte.

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stimmt. Für die Authentizitätsfrage ist nun vor allem die Beachtung eines anderen Punktes wichtig: dass nämlich vorerst einmal Augustinus und Pelagius von einer gemeinsamen Ablehnung des gnostischen Weltbildes und des dualistischen Manichäismus ausgingen, dass – um bei Pelagius zu bleiben – für ihn die Zurückweisung der Gnosis und des Manichäismus mit zwei Prämissen begründet wurde, wie übrigens aus der „epistula ad Demetriadem“ (412/13) zu entnehmen ist: „Zuerst musst du deswegen das Gute der menschlichen Natur von ihrem Schöpfer, d. h. Gott, ermessen, der die Welt und alles, was in der Welt ist, als gute, ja sehr gute Werke gemacht zu haben beglaubigt ist; um wie viel vorzüglicher hat er den Menschen selber gemacht, um dessentwillen er alles hervorgebracht hat“ (Ad Dem. 2).40

Dass die Natur als Schöpfung selbst unter den Bedingungen ihrer Endlichkeit und Vergänglichkeit eine gute Wirklichkeit darstellt und dass ferner in der Natur des Menschen die Qualität der Vernünftigkeit und Freiheit eingeschrieben ist,41 sodass die Weltwirklichkeit als solche sich nicht als das Verkehrte erweist, sondern dass – und dies ist der Schlüssel für das pelagianische Naturverständnis – auf Grund des Freiheitsvermögens des menschlichen Willensaktes das geschöpfliche Dasein schuldfähig und destruktiv werden kann. Gegen einen gnostischen Dualismus deklariert Pelagius die Natur des Geschöpfes nicht als Entfremdungsverhältnis zum Schöpfer, sie gilt ihm nicht als Wider-Natur zu einer göttlichen ÜberNatur. Das vom Schöpfer der menschlichen Natur zugeeignete Freiheitsvermögen gilt dem Menschen als eine Möglichkeit der Selbstorientierung. Diesbezüglich sagt Greshake, „dass für Pelagius die menschliche Freiheitsnatur Gnade ist. Sie ist das besondere Geschenk, das Gott unter allen anderen Geschöpfen dem Menschen gegeben hat, auf dass dieser einen Raum der Eigenständigkeit erhalte, um darin auf das von Gott eröffnete Ziel: Gottähnlichkeit hinzugehen. … Indem Pelagius zum Verständnis der Wirklichkeit ‚Gnade‘ primär und fundamental auf die Natur des Menschen abhebt, indem er Gnade an dieser verifiziert und Gnade in ihr konkret findet, wehrt er einer elitären, partikulären, nur den von Ewigkeit her (Her-)Ausgewählten zukommenden Gnadenwirklichkeit, wie er sie bei Augustinus findet, und stellt den absolut universalen Charakter der Gnade heraus“.42

40 41 42

Zitiert nach MÜHLENBERG, Dogma und Lehre, 448. „Volens namque Deus rationabilem creaturam voluntarii boni munere et liberi arbitrii potestate donare …“ (Ad Dem. 3, zitiert nach EnchP 1411). GRESHAKE, Gnade als konkrete Freiheit, 77.

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In einer reflektierenden Erklärungssprache könnte das heißen: Bei Pelagius ist die Natur niemals nur Natur in einem naturalistischen Sinn, etwa begriffen als eine bloße Vorhandenheit faktischer Welt, sondern als Möglichkeitsgrund einer selbstbestimmten Subjekthaftigkeit sowie einer Heilsund Sinnerfahrung. Die eskalierende Konfrontation mit dem Pelagianismus löste bei Augustinus allerdings einen Umbau seines Gnadenverständnisses aus und führte schließlich dazu, dass er sich von der gemeinsam mit Pelagius geteilten Schnittstelle der Zurückweisung des gnostisch/manichäischen Weltbildes verabschiedete und systematisch die Profilierung seiner Gnadentheologie artikulierte. Die Weichen zum endgültigen Schema sind bereits 396/97 mit der Schrift „De diversis quaestionibus, ad Simplicianum“ gestellt worden. Die Schrift „De gratia et libero arbitrio“ aus dem Jahr 426/27 lässt keinen Zweifel mehr aufkommen, dass an die menschliche Kompetenz einer Selbstvergewisserung eines wahren Lebens nicht mehr zu denken ist: „Denn er selbst [sc. Gott] bewirkt zuvor, dass wir wollen, er wirkt bei denen mit, die wollen, und er bewirkt auch das Gelingen. … Dass wir also wollen, geschieht ohne unser Zutun … – Quoniam ipse ut velimus operatur incipiens, qui volentibus cooperatur perficiens … Ut ergo velimus, sine nobis operatur …“.43

IV. „Die Natur wird in dem Maße, wie sie der objektivierenden Beobachtung und kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird, entpersonalisiert. Die wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen, die sich gegenseitig Absichten und Motive zuschreiben, heraus“.44 Aufklärung und Moderne stehen auf dem Prüfstand im Kontext einer Wahrnehmung, dass menschliche Selbstermächtigung im Vollzug des neuzeitlichen Befreiungs- und Humanisierungsprozesses umschlagen konnte in eine Entfremdungsideologie durch instrumentalisierenden Zugriff auf das vergesellschaftete Subjekt. Dass sich Theologie aus dieser Thematik nicht heraushalten kann, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sie durch ih-

43 44

Augustinus, De gratia et libero arbitrio, 17,33 zitiert nach: EnchP 1942 (eigene Übersetzung). HABERMAS, Glauben und Wissen, 16.

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re gnadentheologischen Reflexionen in die Problemgeschichte der Subjektwerdung und des Subjektseins hineingenommen ist, wie H. Blumenberg es in seiner umfassenden Beschäftigung mit dem Thema über die „Legitimität der Neuzeit“ darzustellen versucht hat, zugespitzt in einer dem Nominalismus des Mittelalters zugeordneten Spannung: „Heilsvertrauen soll nicht in Weltvertrauen übersetzbar und eintauschbar sein“.45 In prägnanter Ausführung der Konsequenz für eine menschliche Selbstverortung und Selbstbestimmung wird festgehalten, „dass die Heilssorge der menschlichen Selbstverfügung, der freien Entscheidbarkeit und Erdienbarkeit weitgehend entzogen bleibt. Diese Entfremdung der Heilsgewissheit von Selbstbewusstsein und Selbstrealisierung vollzog eine Theologie, die Rechtfertigung und Gnade ausschließlich auf den unergründlichen und nicht mehr an die ‚Werke‘ des Menschen gebundenen Erwählungsratschluss der Gottheit zurückführte“.46

Der Einspruch einer Theologie, die lebenssinnstiftende Orientierungsleistung des Glaubens nicht in eine hantierende Verwaltungskapazität der menschlichen Vernunft überführen zu können, konfrontierte den Menschen natürlich mit einer Dissoziierung von Orientierungs- und Instrumentalisierungswissen, mit einer Spannung, welcher vorneuzeitlich weitgehend damit entsprochen wurde, dass man aus dem geoffenbarten Heilswissen jenes Weltvertrauen zu schöpfen wusste, dessen man sich niemals durch Vernunftgründe oder Erfahrungswissen zu vergewissern imstande sah. Aus dieser Perspektive lässt sich nun auch jener sogenannte neuzeitliche Grundverdacht orten, dass mit der Glaubensrede von göttlicher Gnade und Gnadenwahl dem Menschen das Wissen um seinen Anspruch auf authentisches Subjektsein und seine Selbstermächtigung im verfügenden Umgang mit Weltwissen abgesprochen wurde. Um diese Thematik kreist mehr oder minder H. Blumenbergs Analyse des Epochenbruchs im Akt von Säkularisierung und Selbstbehauptung. Durch diesen Akt wechselt sozusagen ein Paradigma, welches Theologie auf Anthropologie umstellt. Diese Umstellung zielt aber nicht nur auf eine befreiende Emanzipation. „Die Suche nach einem Instrumentarium des Menschen, das für jede mögliche Welt brauchbar war, gibt den elementaren Anstrengungen der frühen Neuzeit ihr Kriterium: der Mathematisierung und der Materialisierung der Natur“.47

45 46 47

BLUMENBERG, Legitimität 1/2: Säkularisierung, 178. BLUMENBERG, Legitimität 3: Prozess, 147. BLUMENBERG, Legitimität 1/2: Säkularisierung, 191.

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Im Gefolge dieser Kriteriologie stellen sich die Folgen für die Identitätskriterien des Subjektseins ein, wie M. Horkheimers und Th.W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ konstatiert: „mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes Einzelnen zu sich selbst. […] Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachtlicht die Seelen“.48

Den versachlichten Seelen wird freilich kaum ein Verständnis dessen zu vermitteln sein, was Gnade als freie, nicht verzweckte Beziehung bedeuten kann, wenn die Lebenswelt als System verrechenbarer Funktionen im Koordinatensystem von Marktmechanismen codiert ist. Instrumentalisierung und Verzweckung des Selbstseins arbeiten der Entpersonalisierung der sozialen Kommunikation zu. Die Umcodierung der Lebenswelt durch die Prämisse der Mathematisierung und der Materialisierung der Natur – vgl. das Habermas-Zitat unter „Viertens“! – formatiert gleichsam ein anderes Selbstbewusstsein des Menschen, dessen Erwartung von einem Ich „als das schlechthin Eigene“ zur Erfahrung umschlägt: „es ‚gehört‘ mir nicht“.49 Wie als konsequentes Nachspiel zu M. Horkheimers und Th.W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ erweisen sich Ökonomisierung und Naturalisierung des Geistes50 als Akt der Demontage eines Programms von Aufklärung und Moderne, sozusagen als „Weg in eine andere Moderne“: „Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und deshalb bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung. Dies alles verweist auf institutionsabhängige Kontrollstruktur von Individuallagen“.51

Feinsinniger und infamer als Instrumentalisierung präsentiert sich übrigens Selbstinstrumentalisierung, wie sie beispielsweise E. Goffman in seiner Analyse der Selbstdarstellungspraktiken vorlegt.52 Menschen spielen Authentizität und identifizieren sich auch noch mit ihrer eigenen Nichtidentität, um den Erwartungen und Urteilen derer zu entsprechen, denen sie sich

48 49 50 51 52

HORKHEIMER / ADORNO, Dialektik, 34. HABERMAS, Individuierung, 267f. Vgl. HABERMAS, Glauben und Wissen, 17. BECK, Risikogesellschaft, 210. GOFFMAN, Selbstdarstellung.

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präsentieren wollen oder zu präsentieren haben, sich selbst verwendend als Mittel – gleichsam selbstinstrumentalisierend – um eines Zweckes willen. Es gilt, nach dieser aus der „Dialektik der Aufklärung“ abgeleiteten Kriteriologie noch kurz die theologische Reflexion des Authentizitätsthemas zu Wort kommen zu lassen, ausgehend von Axel Honneths Bemerkung zu „Hegels Begründung von Selbstbewusstsein“: „dass das Bewusstsein des eigenen Selbst der Anerkennung durch ein anderes Selbst bedarf“.53 Unübersehbar ist gewiss die sprachphilosophisch markierte Asymmetrie im Verhältnisses des eigenen (menschlichen) und des anderen (göttlichen) Selbst, wodurch Selbstsein und zugleich Gegebensein des Menschen metasprachlich zur Reflexion ansteht. Die objektsprachliche Ausleuchtung versucht G. Greshake, wenn er formuliert: „der Mensch hat eine echte, sich selbstbestimmende Ursächlichkeit auch gegenüber Gott. Zwar ist diese wesenhaft Antwort, und als Antwort ermöglicht und getragen vom vorausgehenden unverfügbaren und wirkmächtigen Gnadenwort Gottes“.54

Dem Menschen eröffnet sich die Erfahrung seines Selbstseins durch die Erfahrung der Bezogenheit auf einen Anderen, welche Bezogenheit sich als geschenkhaft begegnendes Angesprochensein anbietet. Die religiöse Sondersprache artikuliert im Horizont der christlichen Glaubenserfahrung die Denkbarkeit eines nicht verhandelbaren, nicht instrumentalisierbaren, nicht kalkulierbaren, nicht verwaltbaren Sinnhorizontes: So wahrt das Sprechen von Gnade inmitten eines szientistischen, gnadenlosen Weltbildes die Chance, „ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten“.55

53 54 55

HONNETH, Das Ich im Wir, 16. GRESHAKE, Freiheit oder Gnade?, 126. HABERMAS, Ein Bewusstsein, 31.

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Ansgar Kreutzer

Authentisches Zeugnis – zwischen theologischer Affinität und soziologischer Skepsis Einleitung Autobiographien Prominenter schaffen es regelmäßig auf die Bestsellerlisten.1 Offenbar finden Selbstbeschreibungen, Selbstbespiegelungen, Selbstreflexionen von Menschen, die einem breiten Publikum bekannt sind, ihm als Identifikationsfiguren und Projektionsflächen dienen, großes Interesse. Auffällig ist, dass im Kontext dieser öffentlichen Selbstinszenierungen das Modewort der „Authentizität“ häufig Verwendung findet – nicht zuletzt als eine Art Reflexionsbegriff für das eigene Tun. Der wohl bekannteste und erfolgreichste deutsche Entertainer, Thomas Gottschalk, greift in seiner jüngst erschienenen Autobiographie die populäre Verwendung von Authentizität auf: „Echtsein ist heute in. Kein Wort wird in Castingshows so inflationär verwendet wie ‚Authentizität‘“.2 Auch Gottschalk bietet un1

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Mein Einstieg mit der Populärkultur hat durchaus programmatischen Charakter. Mit dem soziologischen Klassiker Georg Simmel bin ich der Meinung, „dass sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken lässt, dass alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über den Sinn und Stil des Lebens verbunden sind“ (SIMMEL, Gesamtausgabe 7, 120). Daher sind Alltags- und Populärkultur wichtige theologische (Erkenntnis-)Orte. Vgl. KREUTZER, Arbeit und Muße; BOELDERL / EDER / KREUTZER (Hg.), Beautyfarm; KREUTZER, Politische Theologie. GOTTSCHALK, Herbstblond, 11. Prominent findet sich die Kategorie der „Authentizität“ auch in dem autobiographischen Buch mit dem sprechenden Titel „Ich“ des ehemaligen Welttorhüters Oliver Kahn. In seiner Mischung aus Erfolgsratgeber und Autobiographie widmet Kahn der „Authentizität“ gar einen eigenen Abschnitt und beschreibt sie als zentrales Erfolgsrezept in Berufs- und Privatleben (KAHN,

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ter diesem Leitmotto die Darstellung seiner Lebensgeschichte an: „Ich beschäftige mich sozusagen mit dem Phänomen, das ich für andere, aber auch für mich selbst bin“.3 Oder metaphorisch formuliert: „Ich werde an meinem eigenen offen Herzen operieren und lasse Sie dabei über die Schulter schauen“.4 In der gewählten Bildsprache wird freilich neben der weiten Verbreitung und der positiven Konnotierung von Authentizität ein Unbehagen deutlich, das sich in eine allzu „offenherzige“ Selbstinszenierung mischt. Denn eine „Operation am offenen Herzen“, wie Gottschalk die „authentische“ Beschreibung seines Lebens nennt, ist, nimmt man die Semantik des Bildes ernst, zugleich eine schwierige, unangenehme, bedrohliche Situation – sowohl für den „Patienten“ als auch für den „Operateur“, die in diesem Fall identisch sind. Diese Ambivalenz, die sich wie hier im populären Authentizitätsdiskurs findet, kann instruktiv für eine systematisch-theologische Beschäftigung mit der schillernden Kategorie der Authentizität sein. Denn ohne Zweifel besitzt Authentizität auf der einen Seite auch in religiösspirituellen und theologischen Sprachspielen große Strahlkraft: In der psychologischen Beratungs- und Spiritualitätsliteratur etwa boomt die Suche nach dem „wirklichen“, dem „autenthischen“ Selbst.5 Der evangelische Theologe Hans-Martin Barth hat eine Sammlung wichtiger Aufsätze unter die inhaltliche Klammer „Authentisch glauben“ gestellt.6 Beim populären Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, wird immer wieder auf dessen „Authentizität“ verwiesen.7 In all diesen Beispielen ist Authen-

3 4 5 6 7

Ich, bes. 22-25). Zu den diese Ratgeber-Autobiographie tragenden Werthaltungen und deren Repräsentativität für unsere Gesellschaft vgl. KREUTZER, Gefühl, 1–8. GOTTSCHALK, Herbstblond, 11. Ebd. 12. Vgl. den bezeichnenden Titel und Untertitel des gerade erschienenen Buches von Verena KAST, Auf dem Weg zu sich selbst. Werden, wer ich wirklich sein kann. So nennt Barth als Leitfrage seiner Theologie, wie christlicher Glaube „authentisch vertreten und gelebt werden kann“ (BARTH, Authentisch glauben, 5). Vgl. etwa den bezeichnenden Aufsatz: NOTHELLE-WILDFEUER, Frage der Authentizität. In der Tat macht Franziskus die Glaubwürdigkeit der Kirche am Zusammenhang ihrer eigenen Armut und ihres Einsatzes für die Armen fest, an ihrer authentischen Verbindung von eigener Identität, Botschaft und Auftreten nach außen: „Wenn Christen, Priester und Laien, versuchen, ihr Christsein im Sinne von Papst Franziskus, im Sinne des ‚Selig eine arme Kirche‘ authentisch zu leben, leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag dazu, dass die Kirche in der Gesellschaft wieder mehr Glaub- und Vertrauenswürdigkeit gewinnt“ (ebd. 589).

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tizität normativ aufgeladen: Leben, Glauben, Kirche und Theologie sollen authentisch sein, sollen nach außen vertreten, was sie im Innern kennzeichnet. Aus dieser Affinität von Glaube und Theologie zur Authentizität lässt sich auch die Bedeutung des Zeugniskonzeptes in der theologischen Gegenwartsliteratur erklären.8 Dafür gibt es sachlich gute Gründe: Die Authentizität des Zeugnisses verbürgt die dem Ursprung des Christusereignisses angemessene Form der Tradierung des Glaubens durch die Geschichte hindurch bis in die Gegenwart hinein und für die Zukunft: „Für die Weitergabe des Glaubens ist die Rolle des verlässlichen Zeugen von größter Bedeutung. Das Zeugen-Kontinuum der Gläubigen bis auf den heutigen Tag legitimiert die Wahrheit des Evangeliums und verbürgt die volle Katholizität und Apostolizität der Kirche in der authentischen Auslegung des Depositum fidei“.9 Allerdings scheint für die aktuelle und durchaus begründete „Authentizitätsaffinität“ der Theologie auf der anderen Seite auch die Skepsis angebracht, die sich ebenfalls in die Authentizitätsemphase der Populärkultur mischt. Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses ist eine kritische Haltung gegenüber Authentizität nicht zuletzt in der Soziologie beheimatet. In einem instruktiven Artikel zu einem Klassiker soziologischer Rollentheorie, Erving Goffman, schreibt der Dortmunder Soziologe Ronald Hitzler unverblümt: „Als Stoßgebet formuliert: Man bewahre uns vor Mitmenschen, die ‚authentisch‘ sein wollen! Denn polemisch zugespitzt: ‚Authentiker‘ bekennen, was keiner (mehr) wissen, sie beichten, was keiner (mehr) hören will“.10 Ebenso wie die Theologie eine sachlich begründete Affinität zum Konzept des authentischen Zeugnisses aufweist, lässt sich nachvollziehen, dass die für die Soziologie typische rollentheoretische Sicht gegenüber unmittelbar authentisch scheinenden Ausdrucksformen distanziert reagiert.11 Völlig zu Recht weist Hans-Georg Soeffner mit Bezug zur Anthropologie Helmuth Plessners darauf hin, „dass unser Bewusstsein sich jedem direkten Einblick anderer entzieht und dass es daher weder eine darstellungsfreie noch eine unmissverständlich eindeutige Deu-

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9 10 11

Vgl. etwa den aktuellen Band: KIRSCHNER / SCHMIEDL (Hg.), Martyria. Auf Zeugniskonzeptionen in der gegenwärtigen Fundamentaltheologie, bei Hansjürgen Verweyen und Edmund Arens, gehe ich im folgenden Kapitel ein. FONK, Zeuge, 1443. HITZLER, Spuren, 55. Vgl. den Überblick PEUKERT, Rolle oder den rollensoziologischen Klassiker; DAHRENDORF, Homo Sociologicus.

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tung der Bewusstseinsinhalte anderer [oder auch unserer selbst, A.K.] gibt“.12 „Dem Beobachter, auch dem, der wir selbst sind, scheinen wir immer schon in einer Rolle entgegenzutreten. Jenseits der Rolle gibt es kein sichtbares, anderes, Nicht-Rollenhaftes, sondern nur andere, im Augenblick nicht aktualisierte Rollen“.13 Die vorliegenden Überlegungen möchten den schmalen Grat zwischen (berechtigter) Authentizitätsaffinität in der Theologie und (berechtigter) Affinitätsskepsis in der Soziologie abschreiten. Dazu soll zunächst das theologische Zeugniskonzept, das Nähen zur Kategorie der Authentizität aufweist („authentisches Zeugnis“) im Spiegel zweier wichtiger Vertreter gegenwärtiger Fundamentaltheologie (Hansjürgen Verweyen und Edmund Arens) erläutert werden. In einen gewissen Kontrast hierzu wird anhand des schon erwähnten soziologischen Klassikers Erving Goffman die soziologisch zentrale Kategorie der sozialen Rolle gebracht, die sich von einer allzu emphatischen Vorstellung unmittelbarer Authentizität klar distanziert. In einem vermittelnden Versuch von (theologisch) angemessener Affinität und (soziologisch) angemessener Skepsis sollen – mithilfe von Überlegungen des Sozialethikers Matthias Möhring-Hesse zu Orten des religiösen Bekennens – adäquate Bedingungen authentischer Glaubenszeugnisse unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen skizziert werden.

1.

Theologische Authentizitätsaffinität: Zeugniskonzepte bei H. Verweyen und E. Arens

Sowohl bei Hansjürgen Verweyen (geb. 1936) als auch bei Edmund Arens (geb. 1953) ist das Konzept des (authentischen) Zeugnisses aus fundamentaltheologischer Sicht zentral. Zugleich nähern sich beide vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ansätze dieser Kategorie an.14 Ihre Ausführungen

12 13 14

SOEFFNER, Authentizitätsfallen, 663. Ebd. 660. Mit Schlagworten lässt sich Verweyens Fundamentaltheologie als „erstphilosophisch“ angelegte, die Arens’sche als „handlungstheoretische“ bezeichnen. Vgl. zu Verweyens breit diskutiertem fundamentaltheologischen Ansatz etwa die Dissertation: EBENBAUER, Fundamentaltheologie; zu Arens’ handlungstheoretischer Fun-

Authentisches Zeugnis

283

lassen sich damit komplementär lesen: Bei Verweyen wird eher eine Kriteriologie des (authentischen) Zeugnisses, bei Arens eine Phänomenologie des Zeugnisaktes vorgelegt.

1.1

Kriteriologie authentischen Zeugnisses bei H. Verweyen

Bei Verweyen steht die Thematisierung des authentischen Zeugnisses in engem Zusammenhang mit einer zentralen Kategorie seines fundamentaltheologischen Ansatzes: dem von ihm spezifisch ausgedeuteten Begriff der „Traditio“. Mit Traditio konzeptualisiert Verweyen die inhaltliche Mitte des Christentums, das Christusereignis: „Vom Inhaltlichen her scheint mir bei der Reflexion auf die Sinnmitte unseres Glaubens der ‚kürzeste Weg‘ über das neutestamentliche Verständnis des Begriffs traditio zu führen. ‚Traditio‘ zum einen als ‚Auslieferung‘ Jesu Christi für uns verstanden, zum anderen als ‚Überlieferung‘ im Sinne von vermittelnder Weitergabe dieses Grundgeschehens“.15 Im Aufrufen der doppelten semantischen Explikation von Traditio als Auslieferungs- und als Überlieferungsgeschehen ist angedeutet, dass Verweyen unter diesem Begriff die inhaltliche Mitte des christlichen Glaubens, das theologisch interpretierte Schicksal Jesu Christi einerseits mit der sich darauf beziehenden christlichen Lebensform andererseits in eine enge Verbindung bringt. Insgesamt differenziert Verweyen vier zusammenhängende Bedeutungen von Traditio, wobei Traditio I–III als christologische Deutungen eng zusammenhängen, der entscheidende Übergang jedoch im auf die Glaubenspraxis bezogenen Traditio IVKonzept liegt.

15

damentaltheologie, besonders zu deren Anwendung für die Christologie als „Christopraxis“ vgl. KREUTZER, Kenopraxis, 119-147; ders., Solidarität; zu Verweyens Zeugniskonzept (im Rahmen von kenosischristologischen Fragestellungen) vgl. ders., Kenopraxis, 415–445; zum Verweyen’schen Zeugniskonzept in Auseinandersetzung mit der Hoffnungsphilosophie Gabriel Marcels: MITTL, Hoffnung; zu Arens’ Theologie des Bezeugens vgl. etwa: WOLFF, Zeuge, 104-116. Obwohl Verweyens und Arens’ Zeugniskonzeptionen in unterschiedlichen Paradigmen zu verorten sind, gibt es in der Einschätzung von Arens deutliche inhaltliche Überschneidungen. So spricht er im Hinblick auf Verweyen von „wichtigen Ausführungen zum Zeugnis, die sich in vielem mit meinen handlungstheoretischen Explikationen treffen“ (ARENS, Glaube, 122). Diese inhaltlichen Parallelen der Zeugniskonzepte bei gleichzeitigen wissenschaftstheoretischen Unterschieden macht ihre hier herausgestellte Komplementarität aus. VERWEYEN, Gottes letztes Wort, 26.

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Unter Traditio I versteht Verweyen im engen Bezug zur Passion Jesu die „Auslieferung eines Menschen an Gewalt durch einen Menschen“,16 also den biblisch erzählten Verrat des Judas. In zunehmender Abstraktion und theologischer Deutung meint Traditio II die „Auslieferung des eigenen Sohnes für uns alle durch Gott“.17 Traditio II repräsentiert somit die christologisch-soteriologische Deutungsebene. Die Jesusgeschichte, in der es in ihrer dramatischen Zuspitzung um die Auslieferung eines Menschen durch einen anderen/andere Menschen geht, wird als Heilsgeschehen (für uns alle) interpretiert, somit auf der theologischen Deutungsebene in „Gottes Heilsplan“ einordnenbar. Schließlich interpretiert Verweyen das Auslieferungsgeschehen als Traditio III aus innerchristologischer Perspektive als „Selbsthinhabe Christi ‚für uns‘“18 und schreibt damit den Kreuzestod Jesu in eine Deutung der Existenzform Jesu als radikale Proexistenz, als vollkommenes „Für-andere-Dasein“ ein. Von diesen christologischen Deutungen, die er im mehrsinnigen Auslieferungsgeschehen der Traditio zusammenspannt, geht Verweyen unter Beibehaltung der gleichen Terminologie (Traditio, griech. paradidónai) auf die Ebene des christlichen Lebensvollzuges über. Diese lässt sich nämlich ganz und gar vom TraditioGeschehen und seinen soteriologisch-christologischen Deutungen bestimmen. Traditio IV bezeichnet so die „Überlieferung im Sinne von Weitergabe, Tradition“.19 Denkt man, was Verweyen mit seiner semantischen und theologischen Überblendung von Traditio I–III mit Traditio IV beabsichtigt, Auslieferung und Überlieferung, also christologische Deutung und christliche Existenzform zusammen, dann erscheint „Überlieferung“ als „reine Durchlässigkeit für das sie ermächtigende Geschehen gottmenschlicher Auslieferung“.20 Genau an dieser Stelle der Überblendung von Christusbezug und Handeln kommt der Zeugnisbegriff ins Spiel. Das (authentische) Zeugnis übernimmt (vor allem in späteren Texten Verweyens21) die Explikation von Traditio IV, das heißt: die Übersetzung des

16 17 18 19 20

21

Ebd. 52. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 27. Vgl. auch die komprimierte Zusammenfassung seines Traditio/ZeugnisKonzeptes in VERWEYEN, Einführung in die Fundamentaltheologie, 138: „Weitergabe der Hingabe Jesu in Selbsthingabe“. Diese werkgeschichtliche Einschätzung wurde von H. Verweyen in einer Mail an den Verfasser vom 18.9.2011 bestätigt. Ein pronocierter Bezug auf das Zeugnis-

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285

christologischen Urgrundes des Glaubens, die Auslieferung Christi (gedeutet als Verrat durch [einen] Menschen [Traditio I], als von Gott getragenes Heilsgeschehen zur Erlösung aller [Traditio II] und als Realsymbol der radikalen Proexistenz Jesu [Traditio III]) in die jeweilige Lebensform [Traditio IV]). Genau durch diese „Durchlässigkeit“ der Lebensform für das sie tragende heilshafte Christusereignis gewinnt das christliche Zeugnis und seine institutionelle Verankerung in der Kirche Autorität, Glaubwürdigkeit, Authentizität: „Authentizität und Autorität hat Kirche nur in dem Maße, wie sie Folge oder aber notwendige Möglichkeitsbedingung jener Transparenz ist, in der sich Überlieferung als Gegenwärtigsetzung des sie gründenden Auslieferungsgeschehens erweist, und nicht etwa solcher Durchsichtigkeit auf den tragenden Grund entgegensteht“.22 Auf dieser Grundlage entwickelt Verweyen Kriterien für ein authentisches Zeugnis. „Die bezeugte Wirklichkeit kommt nur in dem Maße zur Präsenz, (a) wie der Zeuge selbst sich von ihr durchdringen lässt, d. h. aber: seine ureigene Persönlichkeit mit den für sie charakteristischen Perspektiven ins Spiel bringt, und (b) wie es dem Zeugen gelingt, seine Adressaten tatsächlich zu erreichen, nämlich in dem gerade für sie – und möglicherweise nicht für den Zeugen selbst – vertrauten Verstehenshorizont“.23 Damit ist eine doppelte Selbstlosigkeit des Zeugnisses verbunden. Der Zeuge oder die Zeugin muss sich einerseits „von sich selbst losreißen“ können, um ganz für das von ihm oder ihr Bezeugte transparent zu sein; und er oder sie muss bereit sein, sich seine oder ihre Bilder, vorgefassten Meinungen und Vorurteile im Hinblick auf die jeweiligen AdressatInnen „zerbrechen zu lassen“, um sie in ihrem eigenen und jeweiligen Selbstund Anderssein erreichen zu können. Das Besondere an Verweyens Konzept des Zeugnisses besteht darin, diese beiden Ausrichtungen zusammenzudenken und so eine Dynamik in den Zeugnisakt hineinzutragen. Durch die starke „Adressatenorientierung“ auf der einen Seite erscheint auch der Gegenstand des Zeugnisses in einem anderen Licht. Und umgekehrt kann der Bezug auf das Ganz-für-andere-Dasein Jesu (seine Selbstauslieferung

22 23

konzept findet sich in: VERWEYEN, Botschaft eines Toten?, 119-146 (u. a. Kap. 5.2: Das Zeugnis als Ort fundamentaltheologisch relevanten geschichtlichen Erkennens); ders., Theologische Hermeneutik heute (u. a. Kap. 2: Das Zeugnis als Ort authentischer Tradition); ders., Einführung in die Fundamentaltheologie, 133ff (u. a. Zeugnis als Zugang zu geschichtlichen Ereignissen; Zeugnis als wahres Bild Gottes); ders., Gottes Wort im Zeugnis von Menschen. VERWEYEN, Gottes letztes Wort, 55. VERWEYEN, Botschaft eines Toten?, 128.

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für andere im Sinne von Traditio III) dazu angetan sein, die anderen in ihrer radikalen Andersheit wahrzunehmen, zu akzeptieren und wertzuschätzen. Verweyen spricht von einem doppelten Ikonoklasmus: „Mit der notwendigen Bereitschaft, mir meine Bilder des Adressaten von dessen wahrer Wirklichkeit zerbrechen zu lassen, ist unmittelbar die mögliche Forderung verbunden, auch die Bilder zu zerbrechen, die ich mir von meinem Gott mache“.24 Damit legt Verweyen ein inspirierendes, sozusagen doppelt ikonoklastisches, im Hinblick auf Ursprung und AdressatIn des Zeugnisses wechselseitig dynamisches, dadurch inkulturationsoffenes und -fähiges Zeugniskonzept vor.

1.2

Phänomenologie der Zeugnistat bei E. Arens

An Verweyens Konzept und Kriteriologie des Zeugnisses lässt sich die Phänomenologie der Zeugnistat anschließen, die Edmund Arens entwickelt hat. Arens entwirft das auch bei ihm zentrale Zeugniskonzept aus seinem Ansatz einer handlungstheoretischen Fundamentaltheologie heraus.25 Innerhalb dieses Paradigmas geht Arens mit Johann Baptist Metz u. a. davon aus, dass Glauben Handeln ist. „Theologische Handlungstheorie begreift den Glauben als eine Praxis […]“.26 Zu den elementaren Handlungen des Glaubens zählt Arens, häufig an erster Stelle, das Bezeugen.27 Das Entscheidende am Bezeugen als elementarer Handlung des Glaubens ist – der Gedankengang ist analog zu Verweyens Zeugnis-/TraditioKonzept –, dass das Medium des Zeugnisses eine Person ist: „Ein Zeuge ist ‚Überlieferungsträger personaler Offenbarung‘“.28 „[Was] bezeugt werden kann und muss, [ist] nicht anders als über die Person des Zeugen zugänglich. Seine Wahrheit kann also nicht unabhängig von seiner Person eruiert werden. Sie ist an die Glaubwürdigkeit des Zeugen, an seine Wahr-

24 25 26 27

28

Ebd. 133. Zur Rekonstruktion dieses Stranges der Fundamentaltheologie vgl. KREUTZER, Kenopraxis, 81-173. ARENS, Feuerprobe, 65. Zu (kleineren) Variationen der grundlegenden Handlungen des Glaubens bei Arens vgl. KREUTZER, Kenopraxis, 131 (Anm. 156). Eine sehr elaborierte Darstellung der elementaren Handlung des Bezeugens findet sich in der Habilitationsschrift: ARENS, Bezeugen und Bekennen. ARENS, Gottesverständigung, 230 mit Verweis auf WOLFF, Zeuge.

Authentisches Zeugnis

287

haftigkeit gebunden. Bezeugen geschieht, indem sich einer mit seiner eigenen Existenz für die Wahrheit des Zeugnisses verbürgt und dadurch das Bezeugte in seiner eigenen Person sichtbar macht“.29 Damit verbürgt eine Person die Authentizität des Zeugnisses, sie steht mit ihrer Existenzform und Lebensweise für das gerade, was sie bezeugt (wie bei Verweyen Traditio IV – als Zeugnis verstanden – Traditio I–III verbürgt). „Das christliche Bezeugen (martyría) hat zentral Jesus Christus zum Inhalt. Die urchristlichen Zeuginnen und Zeugen geben authentisch Auskunft darüber, wer Jesus war, wer er ist und sein wird“.30 Folgt man der Phänomenologie des Zeugnisses weiter, dann zeigt sich, dass diese elementare Glaubenshandlung nach außen orientiert ist. „Bezeugt wird in der Absicht, also mit dem intendierten perlokutiven Effekt, zu überzeugen. Bezeugen richtet sich auf Verständigung, es ‚sucht ein Einverständnis in einer gemeinsamen Erfahrung herzustellen‘“.31 Zeugnisse umgreifen Sprechen und Handeln, Propositionalität und Pragmatik. Ein Zeugnis begegnet als „Wort-, Tat, Glaubens- und Lebenszeugnis“.32 Arens unterscheidet vor allem vier situationsabhängige Formen des Zeugnisgebens: Das kerygmatisch-missionarische Bezeugen „teilt das Evangelium Jesu Christi mit in der Absicht, dass es geteilt werde“.33 Das diakonische Zeugnis (das auch implizit erfolgen und „ohne dies bewusst zu intendieren, überzeugend wirken“34 kann) „findet statt, wo Menschen sich anderen zuwenden, für sie einstehen, ihnen in ihrer Not beistehen und Hilfe leisten“.35 Prophetisch ist ein Zeugnis dann zu nennen, wenn „Unrecht kritisiert, unterdrückerische Herrschaftsverhältnisse denunziert, und sie mit Gottes verheißener Befreiung und mit seiner befreienden Herrschaft konfrontiert“36 werden. Ein pathisches Zeugnis meint eine „Christopraxis, in der sich das Mit-Leiden und Mitgekreuzigtwerden mit Christus am markantesten spiegelt“,37 die in Ex-

29 30 31 32 33 34 35 36 37

ARENS, Elementare Handlungen, 94. ARENS, Gottesverständigung, 231. ARENS, Elementare Handlungen, 94. ARENS, Gottesverständigung 232. ARENS, Partizipation, 106. Ebd. Ebd. Ebd. 107. Ebd.

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tremform aber auch in logischer Konsequenz bis zum Martyrium führen kann.38 Das Besondere und Weiterführende an Arens’ Zeugniskonzeption ist die seinem handlungstheoretischen Ansatz geschuldete Kontextsensibilität. Ausdrücklich bringt Arens angemessene Formen des Zeugnisgebens in Abhängigkeit von bestimmten „Handlungssituationen“,39 in denen sich etwa ein kerygmatisches, ein diakonisches, ein prophetisches oder ein pathisches Zeugnis nahelegt: „Bezeugen [findet] immer in bestimmten Kontexten statt und muss von daher dem Kontext entsprechen. Es muss auf die Situation und Umgebung bezogen sein, in welchen es geschieht, um so diese Situation überhaupt erreichen und angehen zu können. Bezeugen impliziert damit notwendig Kontextualität“.40 An dieser Stelle kommt innerhalb einer hier prinzipiell affirmierten Theologie des Zeugnisses eine notwendige genauere Analyse der Zeugniskontexte ins Spiel, die durch eine soziologische Expertise ermöglicht wird.

2.

Soziologische Authentizitätsskepsis: E. Goffmans Rollentheorie 41

2.1

Die soziale Welt als Bühne des Selbst

Der soziologische „Klassiker der zweiten Generation“,42 Erving Goffman (1922–1982), hat in seinem Frühwerk grundlegende soziale Mechanismen in Kleingruppensituationen mit der Metapher des Theaters umschrieben.

38

39 40 41

42

Vgl. die neueren, die Aktualität der Thematik belegenden Studien zum Martyrium: SIEBENROCK, Christliches Martyrium; ders., Theologie des Martyriums; SCHOCKENHOFF, Entschiedenheit; TÜCK (Hg.), Sterben. ARENS, Zwischen biblischem Tun und postmodernem Text, 86. Ebd. 90. Während in den theologischen Zeugniskonzepten die Rede von Authentizität explizit und positiv konnotiert vorkommt, ist Goffmans Rollentheorie implizit, also ohne ausdrückliche Erwähnung der Wortfamilie um Authentizität, vielmehr in ihrer Grundlogik als authentizitätsskeptisch anzusehen. Allerdings findet sich, wie gesehen, der Begriff Authentizität ausdrücklich bei den hier herangezogenen Interpreten Goffmans, Ronald Hitzler und Hans-Georg Soeffner. Vgl. HETTLAGE / LENZ (Hg.), Goffman.

Authentisches Zeugnis

289

Sein diesbezügliches Standardwerk trägt im Deutschen den bezeichnenden Titel „Wir alle spielen Theater“ (1969); der Titel der englischsprachigen Originalausgabe legt einen stärkeren Akzent auf die Inszenierung des individuellen Auftretens: „The Presentation of Self in Every Day Life“ (1959). Treffend sieht Ralph Dahrendorf im Vorwort zur deutschen Ausgabe, dass Goffman mit der für die soziologische Rollentheorie eingeführten Metaphorik das Sozialleben unter einen „totalen Rollenverdacht“43 stellt. „Die soziale Welt ist eine Bühne, eine komplizierte Bühne sogar, mit Publikum, Darstellern und Außenseitern, mit Zuschauerraum und Kulissen, und mit manchen Eigentümlichkeiten, die das Schauspiel dann doch nicht kennt“.44 Die wichtigsten Interaktionstechniken des Theaters, die Selbstdarstellung, die Interaktion mit einem oder mehreren Gegenüber(n), vor einem Publikum, im Rahmen einer situativ gegebenen Präsentationsfläche (aus „Vorder“- und „Hinterbühne“) usw. dienen der adäquaten Beschreibung von Interaktionsformen im Alltag. „Unser Bericht hat es nicht mit Aspekten des Theaters zu tun, die ins Alltagsleben eindringen. Er hat mit der Struktur sozialer Begegnungen zu tun – mit der Struktur der Einheiten im sozialen Leben, die entstehen, wann immer Personen anderen Personen unmittelbar physisch gegenwärtig werden“.45 Zugleich relativiert Goffman sein analytisches Mittel, Interaktionsprozesse wie ein kompliziertes Schauspiel zu verstehen und zu beschreiben am Ende seines Buches auch als „rhetorisches Manöver“.46 „Die Behauptung, die ganze Welt sei eine Bühne, ist so abgegriffen, dass die Leser ihre Gültigkeit richtig einschätzen und ihrer Darstellung gegenüber tolerant sein werden, weil sie wissen, dass sie nicht zu ernst genommen werden darf“.47

43 44 45 46 47

DAHRENDORF, Vorwort, VIII. Ebd. VII. GOFFMAN, Theater, 232f. Ebd. 232. Ebd. Diese Selbstrelativierung passt zu Goffmans eigenem und in seinen Augen gewissermaßen unhintergehbarem „Spiel“ mit Inszenierung: Auch die Offenlegung von Inszenierungsmechanismen ist selbst nur ein „Bild“, also gewissermaßen selbst eine Inszenierung. Vgl. die in diesem Sinne typischen ernst-ironischen Selbstreflexionen, die Goffman zu Beginn seiner Rede als Präsident der American Sociological Association anstellt und in denen er – in einem – seine Rolle (als Präsident) spielt, reflektiert und sich zugleich (nicht zuletzt auf humorvolle) Weise davon distanziert: GOFFMAN, Interaktionsordnung, 50–55. Vgl. auch den Hinweis von Hubert Knoblauch, dass Goffman das Analyseinstrument der Dramaturgie später zurückgenommen habe: „Und Goffman selbst legt diese dramaturgische Metapher

290

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Im letzten von Goffman verfassten Text, der Antrittsrede zu seiner Präsidentschaft der „American Sociological Association“, die programmatische Züge trägt, wird der dominierende Forschungsbereich Goffmans auf einen analytischen Begriff gebracht: Interaktionsordnung.48 Mit seiner Theatermetaphorik in „Wir alle spielen Theater“ ging es Goffman – ebenso wie in seinen späteren Büchern, die sich anderer Bilder, Begrifflichkeiten und Konzepte bedienen – immer wieder darum, „das Regelwerk sozialer Interaktionen aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Brennweiten zu erforschen“.49 Damit gelang es ihm in mikrosoziologischer, auf einzelne Interaktionsprozesse im Rahmen von Gruppensituationen fokussierter Hinsicht, verschiedene Bereiche der Sozialwelt aus dieser Perspektive zu beschreiben, etwa die „Organisation menschlicher Alltagserfahrung“, die „Beobachtung der Bauformen interpersonaler Alltagsrituale“ oder die „Analyse der Strukturprinzipien institutioneller Ordnung“.50 Das Besondere an Goffmans Perspektive, die auch seiner hier relevanten Rollen- und Theatermetaphorik zugrundeliegt, ist der Ausgangspunkt von der sozialen Situation.

2.2

Ein situationsbezogenes Interaktionsmodell

Zum Beginn von Goffmans Analyse zu Interaktionsritualen findet sich in Form eines Bonmots die präzise Beschreibung seines Fokus: Es ginge ihm nicht so sehr „um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen“.51 Gerade von diesem typischen soziologischen Ausgangspunkt, von der spezifischen (sozialen) Situation und der hier gegebenen bzw. von den InteraktionspartnerInnen erst in ihren Interaktionen herzustellenden Interaktionsordnung aus scheint eine entscheidende Bereicherung des theologischen Zeugnisdiskurses möglich. „Soziale Interaktion im engeren Sinne [auch die elementare Glaubenshandlung des Bezeugens, A.K.] geschieht einzig in sozialen Situationen, d. h. in Umwelten, in denen

48 49 50 51

nach Wir alle spielen Theater bald ab; in den Forms of Talk widerruft er den Vergleich des Soziallebens mit einer Bühne (und hält nur an der grundlegenden ‚theatricality‘ des sozialen Handelns fest)“ (KNOBLAUCH, Erving Goffmans Reich, 11). Vgl. seine Formulierung von der „Interaktionsordnung als eine[m] Gegenstand in eigenem Recht“: GOFFMAN, Interaktionsordnung, 55. RAAB, Goffman, 10. Ebd. 11. GOFFMAN, Interaktionsrituale, 9.

Authentisches Zeugnis

291

zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, dass sie aufeinander reagieren können“.52 Eine Interaktion setzt eine Interaktionsordnung, eine (gemeinsame) Definition der Situation voraus, in der gehandelt wird. Daher bedarf es der Koordinierung von Erwartungen und Erwartungserwartungen in einem wechselseitigen Informationsprozess: „Informationen über den Einzelnen tragen dazu bei, die Situation zu definieren, so dass die anderen im voraus ermitteln, was er von ihnen erwarten wird und was sie von ihm erwarten können. Durch diese Informationen wissen die anderen, wie sie sich verhalten müssen, um beim Einzelnen die gewünschte Reaktion hervorzurufen“.53 Dabei versuchen die Einzelnen Einfluss auf die Deutung der eigenen Person oder Rolle zu nehmen. Die InteraktionsteilnehmerInnen betreiben – wie SchauspielerInnen – ein „Eindrucksmanagement“. Goffman beschreibt das zu Beginn seines Werkes „Wir alle spielen Theater“ anhand eines Romanbeispiels, das einen englischen Urlauber namens Preedy an einem spanischen Strand zeigt, der auf verschiedene Weisen versucht, Eindrucksmanagement zu betreiben und damit an der Installierung einer für ihn günstigen Interaktionsordnung zu arbeiten: „Aber jetzt war es an der Zeit, eine kleine Schaustellung zu inszenieren, die Schaustellung Preedys des Geistmenschen. Durch geschickte Manöver gab er jedem, der hinschauen wollte, Gelegenheit den Titel seines Buches zu bemerken – einer spanischen Homer-Übersetzung, also klassisch, aber nicht gewagt und zudem kosmopolitisch –, baute dann aus seinem Bademantel und seiner Tasche einen sauberen, sandsicheren Schutzwall (Preedy, der Methodische und Vernünftige), erhob sich langsam und räkelte sich (Preedy, die Raubkatze!) und schleuderte die Sandalen von sich (trotz allem: Preedy, der Sorglose!)“.54

Es geht darum, eine Art „Arbeitsübereinstimmung“ in der Definition der sozialen Situation zu finden, bei der freilich das eigene Interesse, ein vorteilhaftes Selbstbild abzugeben, verfolgt wird: „Alle Gruppenmitglieder tragen gemeinsam zu einer umfassenden Bestimmung der Situation bei, die weniger auf echter Übereinstimmung über die Realität beruht als auf echter Übereinstimmung darüber, wessen Ansprüche in welchen Fragen vorläufig anerkannt werden sollen“.55 Die Rahmung, an der in interaktiven

52 53 54 55

GOFFMAN, Interaktionsordnung, 55. GOFFMAN, Theater, 5. Ebd. 8f. Ebd. 13.

292

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Austauschprozessen gemeinsam „gearbeitet“ wird,56 ist entscheidend zum Zustandekommen der Interaktion und zu ihrer Aufrechterhaltung, normativ formuliert zu ihrem Gelingen: „Der Schlüsselfaktor in dieser Struktur [sozialer Begegnungen] ist die Erhaltung einer einzigen Bestimmung der Situation, und diese Definition muss ausgedrückt, und dieser Ausdruck muss auch im Angesicht zahlreicher potentieller Störungen durchgehalten werden“.57 Dabei arbeitet Goffman in „Wir alle spielen Theater“ entscheidende Mechanismen zur Aufrechterhaltung der situativen Rahmung heraus, die sich durchaus authentizitätsskeptisch lesen lassen. So ist etwa die Zurückhaltung völlig authentischer Expressivität (sozusagen das „Herz auf der Zunge zu tragen“) in vielen heiklen, fragilen, noch unsicheren Interaktionssituationen geradezu geboten, um die Interaktion weiter zu betreiben und die Persönlichkeitssphäre der darin Involvierten zu schützen.58 „Man erwartet im Gegenteil von jedem Teilnehmer, dass er seine unmittelbaren tieferen Gefühle unterdrückt und einen Aspekt der Situation ausdrückt, den seiner Ansicht nach die anderen wenigstens vorübergehend akzeptieren können“.59 Es kann gerade ein etwas „geschöntes“, in diesem Sinne nicht völlig „authentisches“ Eindrucksmanagement erforderlich sein, um die Interaktion, aber auch die InteraktionspartnerInnen nicht zu überlasten. So ist für Goffman, das Phänomen des „Taktes“ von herausragender Bedeutung zur Stabilisierung von Interaktionen. Takt heißt in diesem Sinne das von einer Haltung des Respekts geprägte gezielte Nicht-Berücksichtigen, das „Übersehen“, bestimmter „authentischer“ (aber im situativen Kontext als peinlich empfundener) Darstellungen von Persönlichkeitsmerkmalen.60 In seiner Theatermetaphorik spricht Goffman von der „taktvolle[n] Neigung des Publikums […], die fremden Darstellungen zu schüt-

56

57 58 59 60

Vgl. zur Bedeutung der sozialen Rahmung bei Goffman: GOFFMAN, RahmenAnalyse. Richard Münch lässt wegen deren programmatischen Charakters seine Goffman-Darstellung mit der Rahmenanalyse beginnen: MÜNCH, Dramaturgie. GOFFMAN, Theater, 233. So erklärt sich die Authentizitätsskepsis der zitierten Soziologen, Hitzler und Soeffner (s. o.), die auf Goffman Bezug nehmen. GOFFMAN, Theater, 13. Goffman spricht von „oberflächliche[r] Übereinstimmung“ (ebd.). Vgl. auch GOFFMAN, Interaktionsordnung, 76: „Solche rücksichtvollen Techniken gehören zu den Ressourcen der Interaktionsordnung“.

Authentisches Zeugnis

293

zen“.61 Selbst eine „nicht authentische“ Inszenierung kann aus Gründen des respektvollen Taktes gerade in ihrer fehlenden Authentizität beibehalten werden: „So wird kahlen Männern, wenn sie im Haus wie draußen einen Hut tragen, mehr oder weniger verziehen, weil sie erkältet sein, sie nur vergessen haben könnten, den Hut abzunehmen, oder weil es an den unwahrscheinlichsten Orten regnen kann“.62 Von Goffman lässt sich die funktionale Notwendigkeit lernen, auch nicht authentische Interaktionen in ihrer „Inauthentizität“ fortzuführen. In diesem Sinne plädiert er für eine Art flexibler Authentizität: „Manche Darstellungen werden durch grundsätzliche Unehrlichkeit, manche durch vollkommene Aufrichtigkeit zum Erfolg; aber im allgemeinen trifft für den Darsteller keines dieser beiden Extreme zu, und vielleicht ist auch keines von ihnen dramaturgisch empfehlenswert“.63

2.3

Anthropologisch-ethische Implikationen: Schutzmaßnahmen angesichts menschlicher Verwundbarkeit

Unter dieser Perspektive erscheint Goffmans Interaktions-, Rollen- und Theater-Soziologie keineswegs als Beschreibung oder gar Affirmation eines zynischen Maskenspiels zur Manipulation von InteraktionspartnerInnen mittels strategischen Eindrucksmanagements. Goffmans Interaktionssoziologie trägt vielmehr interaktive Schutzmechanismen fragiler Interaktionssituationen zusammen.64 „Wenn soziale Ordnung nämlich als alltägli-

61 62 63 64

GOFFMAN, Theater, 208. Ebd. 213. Ebd. 66. In diesem Sinne konzipiert Robert Hettlage Goffmans Interaktionstheorie nachvollziehbar als eine Beschreibung und Analyse der Begegnung von sich konstitutiv Fremden: „Der Umgang mit notwendigerweise fremden Interaktionspartnern – und seien sie physisch, intellektuell und emotional noch so nah – ist Goffmans zentrales Thema“ (HETTLAGE, Goffman, 191f). Das Mittel dieser Interaktion zwischen Fremden ist die wechselseitige Selbst-Inszenierung, die der vorsichtigen gemeinsamen Definitionsarbeit an der geteilten Situation dient. Selbstinszenierungen erscheinen hier als Formen der Selbstpreisgabe und Selbstzurücknahme in einem „unbekannten Territorium“, in dem auch die anderen unter diesen Bedingungen und in dieser Dialektik von Selbstpreisgabe und Selbstzurücknahme agieren: „Je-

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che, gesellschaftliche Wirklichkeit von den Handelnden immer wieder aktiv mitkonstruiert werden muss, dann steckt die Wirklichkeit voll Untiefen: Sie ist je nach Situation in wechselnden Graden unsicher, immer aber vorläufig und – da für Mehrdeutigkeiten und Modulationen, Täuschungen und Manipulationen offen – stets gefährdet, störungsanfällig und reparaturbedürftig. Vor allem geht mit der Verletzlichkeit von sozialer Ordnung die Verletzlichkeit der Individuen einher, ihrer Körper, der von ihnen beanspruchten Räume, Zeiten und Objekte, damit letztlich ihrer Selbst- und Fremdbilder“.65 Systematisiert steht für Goffman der Schutz dreier entscheidenden Interaktionsinstanzen im Vordergrund: erstens der sie ermöglichende Rahmen, die Interaktionsordnung, zweitens das fragile Selbst, das sich in Gestalt einer Rolle in eine Interaktion „wagt“, und drittens die anderen, denen das Selbst begegnet und die in ihren Rollenspielen die gleiche Fragilität und Schutzbedürftigkeit aufweisen. Hinter den Rollen, in der Theatersprache den Masken, steht der Schutz des verwundbaren Selbst: „Masken sind bewahrter Ausdruck und bewundernswerte Echos des Fühlens, zugleich wahrheitsgetreu, zurückhaltend und übersteigert. Lebende Wesen, die der Luft ausgesetzt sind, brauchen eine Schutzhaut, und niemand wirft es der Haut vor, dass sie nicht das Herz ist“.66 Dieser „masken-

65 66

des Wort, jeder Laut, jede Geste, alle Bewegungen, Raumaufteilungen etc. sind ‚Brückenköpfe im fremden Territorium‘“ (ebd. 192). Da Goffman hierin offenbar der Anthropologie Jean-Paul Sartres nahe kommt, dass nämlich der Mensch zwar ein freies – oder vorsichtiger formuliert – ein mit grundsätzlich vielen Handlungsmöglichkeiten ausgestattetes, aber in der interpersonalen Begegnung gerade in seiner freien Entfaltung bedrohtes Wesen ist, hat Hitzler Parallelen zwischen Goffmans Soziologie und dem philosophischen Existenzialismus gezogen und die Goffman’sche Sicht als „Adaption der existenzialistischen Auffassung, dass das ‚Selbst‘ (in der Moderne) eine prekäre Angelegenheit sei“ (HITZLER, Goffmans Perspektive, 278) bezeichnet. Zu den ethischen und theologischen Anschlussmöglichkeiten, die in Goffmans „impliziter Anthropologie“ liegen, vgl. KREUTZER, Arbeit und Muße, 111-124. RAAB, Goffman, 34. Dieses Zitat des US-amerikanischen Philosophen George Santayana stellt GOFFMAN, Theater, 1 – bezeichnender Weise – seinem Buch voran. An anderer Stelle weist er mit Robert Ezra Park darauf hin, dass das Wort „Person“ aus der Theaterwelt und -sprache stammt und ursprünglich „Maske“ bedeutet (vgl. ebd. 21). In dieser anthropologischen Sicht stellen Individualität/Personalität und die Notwendigkeit des Rollenspieles keine Gegensätze dar, sondern bedingen sich gegenseitig: „In einem gewissen Sinne und insoweit diese Maske das Bild darstellt, das wir von uns selbst geschaffen haben – die Rolle, die wir zu erfüllen trachten –, ist die Mas-

Authentisches Zeugnis

295

hafte Schutz“ des Selbst wird auch den anderen InteraktionspartnerInnen, schon zur Aufrechterhaltung der Interaktionssituation, zugestanden. Im herangezogenen Beispiel des Taktes zeigt sich diese Achtung der anderen: „Wer nämlich seine Interaktionsaufgaben regelhaft erfüllt, respektiert damit auch seine moralische Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung“.67 Lässt man sich theologischerseits von Goffmans – prima facie authentizitätsskeptischer – Theater- und Interaktionssoziologie inspirieren, erscheint der für den Glauben aus guten theologischen Gründen in der Tat zentrale Akt des authentischen Zeugnisses in einem etwas anderen Licht. Der theologisch zurecht hochgehängte Anspruch personaler Authentizität, wonach der authentische Zeuge/das authentische Zeugnis für die Glaubwürdigkeit des Bezeugten/des Glaubens mit seiner ganzen Person einzustehen hat, kann in der Komplexität und Fragilität realer Interaktions- und Kommunikationsprozesse leicht zu Überforderungen führen, zu Überforderungen genau der drei Instanzen, die Goffman in den Interaktionsordnungen und -prozessen geschützt sehen will: zur Überforderung der Situation, die durch ein Zuviel an „personaler Selbstoffenbarung“ (als Medium des religiösen Zeugnisses) leicht überlastet wird; zur Überforderung des Selbst, das sich aus seiner Verwundbarkeit heraus in bestimmte Rollen begibt und darin verbleiben will; und zur Überforderung der AdressatInnen des Zeugnisses, die sich in ihren Schutzbedürfnissen nicht zu existenziellen Selbstkundgaben herausgefordert sehen wollen.68 Goffmans Interakti-

67

68

ke unser wahres Selbst. […] Wir kommen als Individuen zur Welt, bauen einen Charakter auf und werden Personen“ (ebd. als Zitat von Robert E. Park). HETTLAGE, Goffman, 199. Goffman überträgt in einer Art religionssoziologischer und säkularisierungstheoretischer Perspektive die die Götter vor ungebührlichem menschlichen Zugriff schützende Sphäre der Sakralität unter säkularen, modernen Bedingungen auf das „sakrale Selbst“, das sich durch Selbst-Inszenierung selbst in die Sozialwelt hinein vermittelt: „Viele Götter sind abgeschafft worden, aber der Mensch bleibt hartnäckig als eine wichtige Gottheit bestehen. […] Vielleicht ist das Individuum deshalb ein so zugänglicher Gott, weil es die zeremonielle Bedeutung seiner Behandlung verstehen kann und weil es mit Handlungen auf das, was ihm angeboten wird, reagieren kann. In Kontakten zwischen solchen Gottheiten bedarf es keiner Vermittler. Jeder dieser Götter ist in der Lage, als sein eigener Priester zu fungieren“ (GOFFMAN, Interaktionrituale, 104f). Den Gedanken des Übergangs von der Sakralität Gottes zur Sakralität des Individuums in der Moderne übernimmt Goffman von E. Durkheim. Vgl. zu diesen Bezügen RAAB, Goffman, 26-29. Diese Durkheim’sche Einsicht verfolgt auch, auf die Menschenrechtsidee angewandt JOAS, Sakralität. Die theologischen Zeugniskonzeptionen begleiten Selbstproblematisierungen. So warnt etwa Verweyen davor, dass der Zeuge selbst zu einem „Guru“ (gemacht)

296

Ansgar Kreutzer

onssoziologie hält dazu an, nicht nur theologische, sondern auch sozial sensible Kriterien für ein realistisches Zeugnis zu entwickeln, das dem situativen Rahmen und den InteraktionspartnerInnen in ihren persönlichen Schutzbedürfnissen Rechnung trägt.

3.

Möglichkeiten und Grenzen authentischen Zeugnisses in der modernen Gesellschaft69

3.1

Bedingungen des Bekennens und Bezeugens in modernen Gesellschaften

Der Tübinger Sozialethiker Matthias Möhring-Hesse hat im Rahmen seines soziologisch informierten und ebenfalls handlungstheoretisch angelegten Ansatzes70 Reflexionen zu solchen Situationen des religiösen Bekennens angestellt, die für moderne Gesellschaften angemessen scheinen. Trotz der (idealtypischen) Unterschiede zwischen den Glaubensakten des Bekennens und des Bezeugens können die Überlegungen auch eine soziologisch „geerdete“ Theologie des Zeugnisses unter den Interaktionsbedingungen der modernen Gesellschaft inspirieren:71

69 70

71

werden kann, wenn er nur auf sich, nicht aber auf das von ihm Bezeugte verweist: „denn sonst würde er, zu dem ich etwa als Guru aufblicke, zum falschen Zeugen, der die nicht ihm selbst gebührende Ehre annimmt“ (VERWEYEN, Botschaft eines Toten?, 132). In Anlehnung an die Analyse von „Situationen des Bekennens“ bei M. MöhringHesse. Vgl. seine programmatische Dissertationsschrift: MÖHRING-HESSE, Theozentrik, sowie ferner: ders., „Überall“ glauben; vgl. kurz zusammenfassend: KREUTZER, Kenopraxis, 150-152. Es lassen sich zwei wichtige Unterschiede zwischen den Glaubenshandlungen des Bezeugens und Bekennens angeben: Bekennen ist im Vergleich zum Bezeugen eher verbal als nonverbal angelegt; zudem ist das Bekennen eher im Innenraum von Christentum und Kirche angesiedelt (vgl. z. B. die Differenzierung bei ARENS, Gottesverständigung, 232: „Im Glaubensbekenntnis kommt eine gemeinsame Überzeugung zur Sprache, die im Akt des Bekennens verbalisiert und verbindlich zum Ausdruck gebracht wird. Im gemeinsamen Bekenntnis konstituiert sich eine Glaubensgemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft.“) Insofern Bezeugen aber auch auf Überzeugen, auf Verstehen und Einverständnis abzielt, müssen – zumindest

Authentisches Zeugnis

297

Möhring-Hesse legt mit dem Mainstream gegenwärtiger Sozialwissenschaft zunächst die makrosoziologische Logik moderner Gesellschaften offen. Diese sind durch funktionale Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Das heißt, die moderne Gesellschaft zerfällt in eigenlogische Handlungsbereiche (z. B. Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst), in der jeweils eigene Interaktionslogiken und Kommunikationsmedien (z. B. Wahrheit, Geld, Macht, Ästhetik) gelten.72 „So entstanden unterschiedliche Handlungszusammenhänge, die – spezialisiert auf die Bedienung einer gesellschaftlichen Funktion und entlastet von der Erfüllung anderer Funktionen – die gesellschaftlich notwendigen Handlungen optimieren können. Wirtschaft, staatliche Verwaltung, Wissensschaft, Recht, Kunst, Familie usw. bilden sich auf diesem Wege als eigenständige Handlungsbereiche (‚soziale Systeme‘) heraus“.73 Eine Folge dieser funktionalen Ausdifferenzierung ist Säkularisierung in dem Sinne, dass Religion eben auch zu einem sozialen Teilbereich, einem sozialen System, mit eigener Logik und Kommunikation neben anderen geworden ist. Daher können religiöse Sinnbestandteile nicht mehr ohne weiteres in andere soziale Subsysteme und Handlungsbereiche implementiert werden. Daraus ergeben sich Herausforderungen für das religiöse Bekennen und mutatis mutandis auch für das religiöse Bezeugen: „Diese situativen Bedingungen des Bekennens [und Bezeugens, A.K.] sind in modernen Gesellschaften […] nicht überall und nicht immer gegeben. Deshalb ist es Christen nicht in allen Situationen möglich, zumindest jedoch nicht sinnvoll, ihren Glauben an Gott zu bekennen [bzw. zu bezeugen, A.K.]“.74 Damit haben die Glaubensgemeinschaft Kirche, die einzelnen Gläubigen und die Reflexionsgestalt des Glaubens, die Theologie, soziale Grenzen der religiösen Kommunikation und Interaktion, des religiösen Bekennens und Bezeugens, zu gewärtigen. Möhring-Hesse führt dies an zwei in der Moderne dominierenden Subsys-

72

73 74

wenn das Zeugnis als religiöser Akt erkennbar sein soll – auch hier, wie beim Bekennen, bestimmte Verstehens-, Kommunikations- und Interaktionsbedingungen berücksichtigt werden. In einer differenzierteren Auseinandersetzung mit dem religiösen Zeugnis wäre stärker zwischen implizitem und explizitem religiösen Bezeugen zu unterscheiden. Die hier herausgestellten Parallelen von Bekennen und Bezeugen beziehen sich vor allem auf Formen expliziten religiösen Bezeugens, das als solches kenntlich gemacht oder erkennbar ist. Vgl. zu soziologischen Differenzierungstheorien im Überblick: SCHIMANK, Theorie; zur theologischen Rezeption funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft: KREUTZER, Zeitgenossenschaft. MÖHRING-HESSE, Theozentrik, 169; vgl. auch ders., Von Gott reden. MÖHRING-HESSE, Theozentrik, 187.

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temen, dem wirtschaftlichen und dem politischen Bereich, vor: „[Im] Bereich der marktförmig koordinierten Tauschbeziehung wie auch der staatlichen Herrschaft [wird] die Subjektivität der einzelnen ignoriert. Deshalb bleiben Expressionen von der Art christlichen Bekennens [und Bezeugens, A.K.] in Wirtschaft und im Staat illokutionär erfolglos“.75 Im Gegenzug nennt Möhring-Hesse sinnvolle Orte des Bekennens, die in ähnlicher Weise auch für das (explizite) authentische Glaubenszeugnis gelten, das ebenso – als Akt der überzeugen und auf Verstehen treffen will – nur unter bestimmten Situationsbedingungen als religiöser Akt „dechiffriert“ werden kann:

3.2

Sinnvolle Orte christlichen Bekennens und Bezeugens

3.2.1 Der (über sich hinausweisende) christliche Binnenraum Entsprechend der funktionalen Ausdifferenzierung gelten – wie dargelegt – in modernen Gesellschaften spezifische religiöse Kommunikationsbedingungen. Es müssen „kognitive Verstehensvoraussetzungen“ des christlichen Bekennens vorhanden sein.76 Dies gilt auch für das Bezeugen, zumindest wenn es als (überzeugender) religiöser Akt wahrnehmbar sein soll. Daher ist ein erster sinnvoller, auf Verständnis der Umgebung treffender Ort religiösen Bekenntnisses der christliche Binnenraum. Wenn unter „günstigen Bedingungen“ das Zeugnis, das auch „andere“ überzeugen möchte, über den christlichen Binnenraum hinaus ausstrahlen soll, muss dieser „Außenraum“ – in Abstufung – ebenfalls bestimmte im christlichen Binnenraum geteilte Plausibilitäten aufweisen, etwa eine religionsfreundliche, zumindest religionssensible Atmosphäre. Wenn der „Außenraum“ gar nicht auf religiöse, zumindest religionsfreundlich existenzielle Kommunikationen und Interaktionen eingestellt ist, wird ein Bezeugungs- als Überzeugungsakt lediglich auf Irritation, Un- und Missverständnis stoßen und perlokutionär scheitern. Einen gewissen Übergang vom binnenreligiösen zum außerreligiösen Raum, wobei die Grenzen selbstverständlich fließend sind, stellt der zweite Ort sinnvollen Bekennens (auch Bezeugens) dar, den Möhring-Hesse nennt:

75 76

Ebd. 189. Vgl. ebd. 191.

Authentisches Zeugnis

299

3.2.2 „‚Intimisierte‘ Situationen“77 Gerade in der modernen, ausdifferenzierten und individualisierten Gesellschaft spielen Subjektivität und Identität, deren Herstellung den Einzelnen viel stärker als in der von Traditionen und Institutionen geprägten traditionalen Gesellschaft selbst aufgetragen ist, eine große Rolle. In der modernen Gesellschaft suchen Individuen daher nach Möglichkeiten, ihre Subjektivität als ganze (das heißt inklusive ihrer intimen Glaubensüberzeugungen) einzubringen. Möhring-Hesse spricht für unser Thema einschlägig von der Möglichkeit, „authentisch und ganz die Person zu sein, die man ist bzw. sein will“.78 Um sich die Möglichkeit authentischen „GanzSelbst-Seins“ zu eröffnen, streben moderne Akteure intimisierte Situationen an, in denen sie sich in einem geschützten Rahmen als ganze, das heißt auch in ihren religiösen Überzeugungen wechselseitig „offenbaren“ können. „Intimität wird von Akteuren erzeugt, um sich als Person gegenüber anderen in authentischer Weise ausdrücklich zu machen bzw. um andere als Personen kennen zu lernen, wer sie ‚eigentlich‘ sind bzw. sein wollen“.79 Solche intimisierten Situationen verfügen im Goffman’schen Sinne über eine abgesicherte situative Rahmung. Hier ist es möglich, sich gegenseitig den für die eigene Personalität zentralen Glauben sprachlich zu bekennen oder ihn in Handlungen wechselseitig erkennbar zu bezeugen. „Intime Kommunikation [und Interaktion, A.K.] sind thematisch und symbolisch unbeschränkt: Alles, was sich umgangssprachlich aussagen lässt, kann im Prinzip zum Gegenstand intimer Kommunikationen [und Interaktionen, A.K.] gemacht werden. Auch hinsichtlich der Inhalte intimer Kommunikation [und Interaktionen, A.K.] bestehen nur die Grenzen, die die beteiligten Akteure in gegenseitiger Rücksichtnahme vereinbaren. Deshalb können Christen dort prinzipiell die kognitiven Verstehensvoraussetzungen ihres Bekenntnisses [und Zeugnisses, A.K.] sichern“.80 Schließlich ruft Möhring-Hesse eine dritte Situation auf, in der aus christlicher Sicht Bekennen und auch Bezeugen angezeigt ist:

77 78 79 80

Ebd. 199. Ebd. 197. MÖHRING-HESSE, Von Gott reden, 64. MÖHRING-HESSE, Theozentrik, 199.

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300

3.2.3. Dramatische Situationen Das sind historische und soziale Konstellationen, in denen aus Sicht christlichen Glaubens zum Bekenntnis und Zeugnis herausgefordert wird (z. B. der Nationalsozialismus, das Apartheitregime oder ungezügelte Modernisierungsprozesse mit leidverursachenden extremen sozialen Schieflagen). In solchen Situationen lässt sich ein Selbstverständnis als Christ oder Christin nur in der „expliziten Verweigerung gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen“81 aufrecht erhalten. Unter diesen Umständen setzen ChristInnen Zeichen, Worte und Taten des Protests und des Widerstands gegen solche ihrer Glaubenssicht widersprechenden Strukturen. Diese Form des Bezeugens und Bekennens rechnet nicht mit Zustimmung im sozialen Kontext, sondern will im Gegenteil diesen gerade in Frage stellen, zu seiner Delegitimierung und Beseitigung beitragen. In Goffman’scher Denkweise wäre ein solches, mit Arens gesprochen, „prophetisches“ Bezeugen in dramatischen Situationen eine Handlung, die den situativen Rahmen der Interaktion gerade nicht stützen, sondern stürzen möchte. Solche Situationen sind, wie die genannten Beispiele zeigen, Ausnahmesituationen des Bezeugens, gleichwohl sind sie als „Martyriumssituation“ paradigmatisch für eine Extremform authentischer, mit Arens „pathischer“ Glaubensbezeugung. Aus den soziologisch informierten Verweisen auf die unbedingt zu berücksichtigende Situativität von sozialen Handlungen, auch des Zeugnisaktes, lassen sich resümierend angemessene Rahmenbedingungen für authentisches Bezeugen in moderner Gesellschaft skizzieren:

4.

Resümee: Rahmenbedingungen und Herausforderungen für ein authentisches Zeugnis unter den Bedingungen moderner Gesellschaft

1. Aufgrund der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften kann situationsbedingt eine Begrenzung der Bekenntnis- und Zeugnispraxis auf einen kommunikativen und interaktiven Rahmen sinnvoll sein, in dem Bekenntnis und Zeugnis als religiöse Ausdrucksformen identifiziert 81

Ebd. 203.

Authentisches Zeugnis

301

werden können. Wenn ein Zeugnis überzeugen möchte, also auf Verstehen, ja möglicherweise Einverständnis abzielt, müssen auch beim Zeugnisakt bestimmte Verstehensvoraussetzungen gelten, innerhalb derer – mit Verweyen gesprochen – die Transparenz des Zeugnisses auf den es tragenden Grund überhaupt erst ersichtlich ist. Insofern ist zu einer „dosierten“ und wohlüberlegten, in jedem Fall situationsangemessenen Zeugnispraxis zu raten.82 2. Zur Überschreitung eines christlichen Binnenraumes, die im missionarischen christlichen Selbstverständnis grundgelegt ist – Bezeugen ist, wie betont, als Überzeugen auch nach außen gerichtet –, bedarf es der Herstellung einer passenden „intimen“ Rahmung für Kommunikation und Pragmatik des Glaubens. Denn erst in „intimisierten Situationen“ (Möhring-Hesse) oder – mit Goffman gedacht – in einer die Personalität schützenden Interaktionsordnung sind authentische Zeugnisse möglich, ohne den situativen Rahmen solch intensivierter Interaktionen zu überlasten oder die einander Zeugnisgebenden bloß zu stellen. Es ist Aufgabe kirchlicher Institutionen – sei es im pastoralen oder im pädagogischen Bereich –, unter modernen Kommunikations- und Interaktionsbedingungen existierende Rahmenbedingungen geschützter und intimisierter Situationen zu unterstützen oder selbst neue zu schaffen, in denen Bekenntnis- und Zeugnisakte Platz finden.

82

Die Religionspädagogin Monika Scheidler hat eindrücklich auf die Situativität des Bezeugens im Kontext des Religionsunterrichts aufmerksam gemacht. Zum einen verweist sie auf den „spezifisch schulische[n] Kontext des Glaubenszeugnisses“ (SCHEIDLER, Glaubenszeugnis, 131); zum andern sieht sie die situativ gegebene Möglichkeit eines Zeugnisaktes in diesem Rahmen. „Bezeugen“ ist ihrer Einschätzung nach eine „situative Handlungsmöglichkeit im Unterricht“ (ebd. 133). In erhellender Weise spricht sie daher von „selektiver Authentizität“ (ebd. 136). So kann sich der Zeugnisakt nicht nur in der Selbstoffenbarung der das Zeugnis tragenden Persönlichkeit, sondern durchaus auch in Leitung, Stil und Gestaltung des Unterrichts, sozusagen indirekt, zeigen: „Auch wenn der Religionslehrer z. B. zur Gestaltung von Lernstationen ausschließlich sächliche Medien einsetzt und sich persönlich stark zurücknimmt, lassen sich grundsätzlich auch seine didaktischmethodischen Entscheidungen als Entfaltungen der Grundfunktion des Bezeugens verstehen. Der Religionslehrer als personales Medium kann so gesehen für die Schüler auch indirekt durch seine didaktisch-methodischen Entscheidungen die Beziehungswilligkeit Gottes transparent werden lassen und ein Glaubenszeuge sein, wenn in seinen menschlichen Gedanken, Wünschen und Haltungen, die seinen methodisch-medialen Entscheidungen zu Grunde liegen, etwas vom Wirken des Heiligen Geistes wahrnehmbar wird“ (ebd. 141).

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3. Schließlich bringt eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft die Notwendigkeit mit sich, Glaubensbestände in Kommunikations- und Handlungsformen anderer sozialer Systemsphären zu übersetzen, um dort Wirkung zu erzielen und Resonanz zu finden. Darunter wäre etwa die von Jürgen Habermas angeregte Übersetzung religiöser Gehalte, aber auch Praxen in ethische Inspirationen und Motivationen zu verstehen.83 Durch solche Übersetzungen, z. B. der Gottebenbildlichkeit in die ethische Prämisse unverfügbarer Menschenwürde,84 können religiöse Überzeugungen Einfluss auch in den nicht religiösen gesellschaftlichen Sphären und Subsystemen (z. B. in der Bioethik)85 gewinnen. Voraussetzungen hierfür sind die Übersetzungskompetenz und die Mehrsprachigkeit von religiös Überzeugten und Praktizierenden, welche die Eigenlogiken, die Kommunikations- und Interaktionsformen der nicht religiösen gesellschaftlichen Subsysteme verstehen und anwenden können.86 Fazit: Einer heute anstehenden Theologie und Praxis des christlichen Zeugnisses obliegt es, die Interaktionsbedingungen von Zeugnisakten realistisch einzuschätzen und konstitutiv zu berücksichtigen, um Zeugnisakte, die elementare Handlungen des Glaubens darstellen, kontextsensibel und -adäquat setzen zu können. Dem hierfür angemessenen Authentizitätsbegriff eignet eine Situationselastizität und Flexibilität.

83 84 85

86

Vgl. HABERMAS, Glauben. Vgl. ebd. Vgl. die Präsenz von TheologInnen in Ethikräten, denen in solchen Gremien freilich die Fähigkeit zur Übersetzung religiöser Gehalte in nicht religiöse Plausibilitäten abverlangt wird. In dieser Hinsicht gehört die Interdisziplinarität der Theologie geradezu zu ihrem Kerngeschäft.

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Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

Eine systematisch-theologische Analyse des status quaestionis

1.

Religionssoziologische Annäherung: Zur Transformation des Verhältnisses von Religion/Gesellschaft/Individuum

Die Transformation der Funktion von Religion in den westlichen Gesellschaften, die seit Jahrzehnten im Gange ist, verändert auch grundlegend das Verhältnis der autoritativen Vorlage römisch-katholischer Glaubensinhalte und Regelungen und deren Anerkennung und Befolgung vonseiten der Gläubigen. Wenn Glaube mit Franz Schupp definiert werden kann als das Handeln orientierende Grundüberzeugung,1 dann stellt sich zunächst die Frage, wie diese Grundüberzeugungen überhaupt Verbindlichkeit erhalten, um das Handeln orientieren zu können. In der 2000-jährigen Geschichte des Christentums lassen sich verschiedene Begründungs- und Kommunikationsformen feststellen: In der Gründungsphase sicherten charismatische Gemeindegründer, Missionare und Leitungspersönlichkeiten die Geltung des Glaubens;2 dies wurde dann von bischöflichen Amtsträgern weitergeführt, wobei die Patriarchate – und unter ihnen vor allem die Kirche von Rom – zunehmend gesamtkirchliche autoritative Funktionen übernahmen. Auf Regionalsynoden und später auf Konzilien wurden strittige Glaubensfragen und kirchenorganisatorische Probleme entschieden und dogma1 2

SCHUPP, Schöpfung, XI. Vgl. THEISSEN, Soziologie.

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tische, pastorale und kirchendisziplinäre Regelungen in Kraft gesetzt.3 Diese institutionelle Struktur blieb bis heute erhalten. Unter dem feudalhierarchischen Gesellschaftsmodell4 bezog der Glaube seine Autorität in erster Linie durch die Autorität setzende und verbürgende Institution der Kirche und der öffentlichen Ordnung, die in der Spätantike und vor allem in der Folgezeit durch das römische Papstamt repräsentiert worden ist. Ein entscheidender Bruch erfolgte mit der durch Martin Luther ausgelösten protestantischen Reformation und Kirchenspaltung, der tiefer ging als alle bisherigen Schismen: Luther setzte theologisch (!) an die Stelle der Gnade und Glaube vermittelnden Institution Kirche das unmittelbare Verhältnis des Glaubenssubjekts zum Glauben gebietenden Wort der Hl. Schrift, das als Wort Jesu Christi die letztgültige Verbindlichkeit garantiert.5 Freilich mussten auch die protestantischen Kirchen die lehrautoritative Funktion neu regeln und ersetzten das päpstliche Lehramt durch synodale Strukturen. In funktional ausdifferenzierten demokratischen Gesellschaften erfuhren beide Konfessionen einen nochmaligen Wandel, der in seinem Umfang und in seiner Radikalität erst heute vollends zum Tragen kommt: Mit der gesetzlichen Durchsetzung der Religionsfreiheit wurde die Mitgliedschaft in einer staatlich anerkannten Glaubensgemeinschaft der freien Entscheidung des Glaubenssubjektes anheimgestellt, so dass die Observanz von religiösen Doktrinen und Ritualen, Moralgeboten und Lebensformen den kirchlichen und staatlichen Autoritäten entzogen ist. Freilich war die kirchliche Glaubensgemeinschaft von Anfang an immer schon auch auf eine weit personalere Form der Glaubenskommunikation als jener der kirchen- und staatsrechtlich dekretierten angewiesen: und zwar auf die in den Familien, Gemeinden, Ortskirchen und klösterlichen Gemeinschaften tradierten Vermittlungen des Glaubens und seiner Plausibilisierung. Glaube gewann also seine Verbindlichkeit vor allem aus seiner performativen Kraft der Lebenspraxis – und diese Lebenspraxis war wiederum wesentlich garantiert und gestützt durch die Sozialstrukturen innerhalb der Gesellschaft.

3 4

5

Vgl. HORNUNG, Apostasie. Vgl. zu den Typologien von Gesellschaftsformen LUHMANN, Die Gesellschaft der Gesellschaft II, 595–865. Die strukturelle Kopplung von Religion und Gesellschaft führt auch innerhalb der Religion zu einer Evolution, ausführlicher beschrieben in LUHMANN, Religion, 250–277. Vgl. BARTH, Theologie Martin Luthers, 137–168 und 382–421.

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

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Mit der Freisetzung religiösen Lebens in die subjektive Entscheidung der Person kam eine Dynamik in Gang, die gegenwärtig tiefgreifende Transformationen ausgelöst hat. Die sozialgeschichtlichen Hauptfaktoren sind die Religionsfreiheit, die Säkularisierung und die Individualisierung. José Casanova6 u. a. haben aus religionssoziologischer Sicht deutlich gemacht, dass Säkularisierung ein komplexer Vorgang ist und in dreifacher Hinsicht differenziert werden muss: 1. als Trennung von Staat und Kirche (Säkularisierung I); 2. als Glaubensverfall einer ursprünglich sich religiös bestimmenden Gesellschaft (Säkularisierung II) und 3. als persönliche Entscheidung für einen religiösen Glauben (Säkularisierung III). Dieser Prozess wirkt sich deshalb heute in so gravierender Weise aus, weil die Kompensation der Säkularisierung I durch Verdichtung der Glaubenskommunikation über das Medium von religiös christlich-konfessionell geprägten sozialen Milieus seit geraumer Zeit nicht mehr gelingt. Die Auflösung religiöser Milieus führt dazu, dass die Glaubensweitergabe nicht mehr durchgängig über familiäre und kleinstrukturierte Kommunikationsnetze, wie dies der Volkskatholizismus und Volksprotestantismus noch zu leisten vermochten, gesichert ist. Auch wenn dies nur ein Faktor von vielen ist, so ist die Tradierungs- und Innovationskrise des Glaubens ein entscheidender Grund für den Verbindlichkeitsverlust des christlichen Glaubens. Dennoch bedeutet diese historisch einzigartige Situation nicht, dass religiöse Orientierung und die Suche nach verbindlichen Überzeugungen, die das Handeln leiten und dem Leben Sinn verleihen können, obsolet geworden sind. Auch im Kontext der „Individualisierung“7, die ein wesentlicher Faktor der Modernisierung darstellt, ist Orientierung an sinnstiftenden und wertvermittelnden Instanzen gefragt. Allerdings: die Geltung solcher Wertangebote kann nicht mehr vorrangig auf die Autorität abstrakter Institutionen oder überkommener Traditionen gestützt werden, sondern sie wird immer stärker nach persönlichen Vorlieben der „Auswählenden“ entschieden. In diesem Zusammenhang hat schon in den 1980er-Jahren der Religionssoziologe Peter L. Berger von einem „Zwang zur Häresie“8 gesprochen, das heißt, Glaubende müssen aus dem Angebot der Religionen

6 7 8

CASANOVA, Die religiöse Lage; ders., Europas Angst; ders., Kosmopolitismus, 162–188. Zu dieser Kategorie vgl. die Forschungen von Ulrich BECK, z. B. Risikogesellschaft, 205–219. Vgl. BERGER, Zwang. Der Begriff „Häresie“ wird von Berger nicht im kirchenrechtlichen Sinn verstanden.

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auswählen, um für sich ein entsprechendes Orientierungsschema zu erhalten. Nicht alles, was eine Religion an Lehren, Traditionen und Vorschriften enthält, wird ein Mensch unter den Bedingungen individualisierter, pluralistischer Gesellschaften befolgen und verinnerlichen. Dogmatisch erachtet die Kirche eine solche subjektive Auswahl und der damit einhergehende Verzicht auf die Anerkennung der ganzen fides quae als einen Akt der „Häresie“. Darum kommt Berger zur paradoxen Formel, dass Glaube hinkünftig aus der Perspektive des Glaubenssubjekts quasihäretische Züge annehmen muss, weil die Relevanz dessen, was als sinnstiftend und überzeugend wahrgenommen wird, vom Glaubenssubjekt selbst, also individuell, bestimmt wird. Die religionssoziologische Beobachtung, dass die Anerkennung der Verbindlichkeit bestimmter Glaubenstraditionen von der subjektiven Entscheidung des Glaubenssubjekts abhängt, sagt noch nichts darüber aus, nach welchen Kriterien diese Entscheidung getroffen wird. Darum sind jene Untersuchungen und Interpretationen aufschlussreich, die Auskunft geben über Wahlkriterien für oder gegen eine Glaubenstradition oder Lebensform. Zu diesen gehören die profunden und umfangreichen Publikationen des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor. In seiner Publikation „Das Unbehagen an der Moderne“9 stellt Taylor fest, dass in der Moderne ein Problem auftritt, das für die Frage der Wertorientierung von fundamentaler Bedeutung ist: Nach welchen Kriterien anerkennen wir die Verbindlichkeit von Werten? Wenn z. B. diskursive Prozeduren oder Traditionsrezeption nicht mehr greifen, können dann expressive Kriterien (z. B. die Nützlichkeit für das eigene Leben; die Stimmigkeit der Werte etc.) eine moderne Gesellschaft noch auf lange Sicht hin tragen? Taylor hat diese Thematik in seinen beiden großen Studien „Quellen des Selbst“10 und „Ein säkulares Zeitalter“11 erhellend vertieft und in einen großen kulturgeschichtlichen Horizont gebettet. Er spricht darin von einem „Zeitalter der Authentizität“: aufgrund des Verlusts der Geltung ontologischer Wertbegründungen, die noch in der antiken-mittelalterlichen Kultur gegeben waren, ist die Orientierung der Subjekte nach „innen“ verlegt worden, also in die Innensphäre des Subjekts. In der Zeit der Romantik sei dann die Individualisierung so weit fortgeschritten, dass nun das Subjekt

9 10 11

The Malaise of Modernity (1991); deutsche Erstauflage Frankfurt a. M. 1995. Sources of the Self (1989); deutsche Erstauflage Frankfurt a. M. 1994. A Secular Age (2007); deutsche Erstauflage Frankfurt a. M. 2009.

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

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selbst sein eigenes Leben an dem Kriterium des personalen „Selbst“ entwerfen und orientieren muss. Das, was für ein Subjekt als „authentisch“ erscheint, sei das Kriterium, wonach die Rezeption und Verinnerlichung von Werten erfolgen solle. In der Tat war die Romantik mit ihrem künstlerisch-expressiven Ästhetizismus die erste Phase der Moderne, in der gebildete Individuen ihren Lebensentwurf nach traditionskritischen eigenen Vorstellungen formten. In den 1960er-Jahren wurde diese Form der „Selbstverwirklichung“ zu einem in der westlichen Kultur weithin gängigen Postulat und sollte die „Revolution der 68er-Generation“ stark prägen. Der französische Philosoph Luc Ferry stützt diese Deutung und betont, dass die Leitkategorie der Autonomie den Rahmen für moderne Lebensführung bildet. Das hätte für Religionen, die ihre Geltung aber nach der Leitkategorie der Heteronomie kommunizieren, gravierende Folgen: „Seit dem 18. Jahrhundert tritt der ‚Theismus‘, die Idee eines ‚praktischen Glaubens‘, der nicht das Ergebnis einer philosophischen Beweisführung ist, immer deutlicher innerhalb des christlichen Universums selbst zutage. … Die Bewegung verläuft nunmehr vom Menschen zu Gott, und nicht mehr umgekehrt. Die Autonomie ist es, die zur Heteronomie führen muss, wobei diese, indem sie sich dem Menschen von außen aufdrängt, nicht mehr der Autonomie gegenübersteht. Die traditionalistischen Christen werden darin das deutlichste Kennzeichen des menschlichen Hochmuts erkennen. Die laizistischen Christen dagegen werden dies als den Beginn eines authentischen Glaubens ansehen, der auf dem Untergang des Theologisch-Ethischen basiert“.12 „Durch diese Vermenschlichung des Göttlichen … wird jedenfalls einer der grundlegenden Forderungen des laizistischen Universums wenn schon nicht nachgekommen, wohl aber Rechnung getragen, und zwar der Einforderung einer Spiritualität, die mit der Gewissensfreiheit und Autonomie vereinbar ist, die wir durch die Ablehnung der Autoritätsargumente vor Augen haben. Auf diese Weise tritt die Religion in den Bannkreis einer der gegenwärtig dominierenden Moralvorstellungen ein, und zwar denjenigen der Ethik der ‚Authentizität‘ und der Selbstsorge, die den Menschen so heiligspricht, dass das Göttliche nicht mehr in Gestalt der nunmehr mit dem ‚Dogmatismus‘ gleichzusetzenden ‚Heteronomie‘ erscheinen darf“.13

Autonomie, Individualisierung, Religionsfreiheit und Glaubensentscheidung sind also wesentliche soziologische Rahmenbedingungen, die dafür verantwortlich sind, dass Religiosität heute unter neuen Leitprinzipien entwickelt und gelebt wird. Als ein maßgebliches Kriterium wird aus der Perspektive des Individuums die Authentizität eines Glaubensangebotes ange-

12 13

FERRY, Göttlichkeit, 61f. Ebd. 88.

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führt. Authentizität wird verstanden als Stimmigkeit für die individuelle Lebensführung und Sinnorientierung. Ist aber ein solches Authentizitätsverständnis mit dem lehramtlichen Verständnis überhaupt kompatibel? Wie begründet die katholische Kirche ihre Lehrautorität und wie institutionalisiert und kommuniziert sie diese? Welches Selbstverständnis der Kirche kommt in ihren eigenen Lehraussagen zum Ausdruck? Reflektiert das katholische Lehramt die Authentizitätsthematik? Und schließlich: Welche Konsequenzen sind aus diesem Befund zu ziehen? Welche Rolle kann die systematische Theologie spielen, die zwischen Glaubenstradition und je gegenwärtig neu vorzunehmender Glaubensaktualisierung zu vermitteln hat?

2.

Die Lehrautorität der Kirche: Das authentische Lehramt in Selbstreflexion und Selbstdefinition

Die Heilsbotschaft Jesu Christi zu verkünden und sie missionarisch in die Welt zu tragen (vgl. Mt 28, 19f), ist von Anfang an die Grundaufgabe von Kirche. Darum geht die Lehrtätigkeit der Kirche bis an ihren Ursprung zurück. Die Verbindlichkeit des christlichen Glaubens hängt unmittelbar an ihrem Sendungsauftrag, weil der Glaube der Kirche vom Hören des Wortes kommt (Röm 10,17). Die Kirche folgte in ihrem Lehren sowohl der Verkündigung Jesu (Mt 23,10) als auch der Verkündigungstätigkeit der Apostel, die das Zeugnis des Auferstandenen in die Welt hinaustrugen (Mk 16,15). Im Zuge der Etablierung eines Netzes von Gemeinden in den verschiedenen Zentren der Antike schälte sich die Lehraufgabe als zentrale Aufgabe des kirchlichen Amtes heraus: Dies fand auch in den Pastoralbriefen seinen Niederschlag, wo der Lehrautorität immer mehr die Bewahrung der rechten Lehre und die Abwehr von Irrlehren zukommt (vgl. 1 Tim 1,3f; 2 Tim 2,2). Diese Herausforderung steigerte sich in den folgenden Jahrhunderten, je mehr das Christentum quantitativ und lehrmäßig an Profil gewann. Der Konflikt mit der Gnosis führte beispielsweise zu einer intensiven Bemühung um die Sicherung und Durchdringung der christlichen Lehre.14 Ka-

14

Irenäus von Lyon und Origenes formulierten bedeutende Werke vor dem Hintergrund der gnostischen Konfrontation.

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

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non, Regula fidei, theologische Reflexion wurden zu maßgebenden Instrumenten, um den Bekenntnisumfang des kirchlichen Glaubens auszuloten und abzusichern. Synodale und konziliare Sprachregelungen zeigten sodann die ersten dogmatischen Fundamentierungen der christlichen Lehre, die hauptsächlich von Bischöfen und Theologen vorangetrieben wurden. Thomas von Aquin unterschied schließlich ein magisterium cathedrae pastoralis (Lehramt der Kathedra eines Bischofs) und ein magisterium cathedrae magistralis (Lehramt der Kathedra eines Magisters).15 Mit der Zentralisierung der Lehrautorität an der Spitze der katholischen Kirche – im Papst als oberstem Richter und (unter genau bestimmten Bedingungen) infalliblem Lehrer –, kam eine lang andauernde Entwicklung auf dem Ersten Vatikanum zu ihrem (durchaus auch problematischen) Höhepunkt. Leo XIII. sprach in diesem Zusammenhang erstmals von einem „authentischen Lehramt“, das Christus eingeführt hat (DH 3305, vgl. dazu weiter unten). Das Zweite Vatikanum übernahm zwar diese Sichtweise, erweiterte sie aber auch: Subjekt des Lehrens ist nicht nur das hierarchische Lehramt alleine, sondern sind alle Gläubigen, denn auch die Laien üben „tatsächlich ein Apostolat aus“ (AA 2). Der CIC 1983, cc. 228–230 spricht in dieser Hinsicht von der Übertragung von Lehraufgaben an die Laien. Authentische Lehrausübung können allerdings nur die amtlich bestellten Träger der Lehre vollziehen: das sind das Bischofskollegium zusammen mit dem Papst, der Papst selbst und jeder einzelne Bischof: „Die Bischöfe sind nämlich Herolde des Glaubens, die neue Jünger zu Christus führen, und authentische, das heißt mit der Autorität Christi versehene Lehrer [Hervorhebung F.G.], die dem ihnen anvertrauten Volk den Glauben verkündigen, der geglaubt und auf die Sitten angewandt werden soll“. (LG 25) Im besonderen Maße ist religiöser Gehorsam dem „authentischen Lehramt des Römischen Bischofs zu leisten, auch wenn er nicht ex cathedra spricht“ (ebd.). Auch die Bischöfe, obgleich verstreut über die Erde aber untereinander und mit dem Papst verbunden, lehren „authentisch Sachen des Glaubens und der Sitten“ (ebd.). Eine Aufwertung der Lehrautorität des ganzen Gottesvolkes hat das II. Vatikanum zweifellos mit dem Begriff des sensus fidei, als eines konnaturalen, vorbegrifflichen Kennens des und Vertrautseins mit dem Glauben durch den Einfluss des Hl. Geistes in allen Gläubigen, eingebracht. Die

15

Vgl. DULLES, Lehramt, 162. Siehe auch: CONGAR, Geschichte, 467f.

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Subjekte des sensus fidei sind jeder einzelne Getaufte und das Volk Gottes als Ganzes; er wird entfaltet und vermittelt in unterschiedlichen Lebensformen. Der sensus fidei kann in bestimmten Grundfragen auch zum consensus führen. Biblische Grundlage sind die Paraklet-Sprüche. Desiderate sind allerdings die weitere Klärung der rechtlich nicht geregelten Beziehung von Lehramt und sensus fidei und die Vertiefung der theologisch noch zu wenig erforschten Konzeption des sensus fidei. Im Rahmen dieser Überlegungen kann die kirchengeschichtliche Breite und Varianz des katholischen Lehramtes nicht in umfassender Weise nachgezeichnet werden. Mit Blick auf den Fokus des Authentizitätsbegriffes soll deshalb hier nur das jüngere Selbstverständnis des Lehramtes dahingehend erörtert werden, wo und in welchem Sinne der explizite Verweis auf ein „authentisches Lehramt“ aufscheint. Die erste wichtige Passage finden wir, wie zuvor erwähnt, bei Papst Leo XIII.: „Der sie aber als die einzige gründete, der gründete sie ebenso als die eine: nämlich dergestalt, dass alle, die in ihr sein sollten, durch innigste Bande verknüpft seinen, und zwar so, dass sie ein Volk, ein Reich, einen Leib bilden: ‚ein Leib und ein Geist …‘ (Eph 4,4). … Die notwendige Grundlage einer so großen und so vollkommenen Eintracht unter Menschen ist aber das Übereinkommen und die Verbindung der Geister. … [Zu diesem Zweck] hat Jesus Christus in der Kirche ein lebendiges, authentisches und ebenso immerwährendes Lehramt eingesetzt, das er mit eigener Vollmacht bereicherte, mit dem Geist der Wahrheit ausstattete, durch Wunder bestätigte; und er wollte und befahl nachdrücklich, dass dessen Lehrvorschriften ebenso angenommen würden wie seine eigenen. Sooft also durch das Wort dieses Lehramtes verkündet wird, dass dies oder jenes zum Bereich der von Gott überlieferten Lehre gehöre, muss jeder gewiss glauben, dass dies wahr ist …“ (DH 3305).

Papst Leo XIII. hat in seiner Enzyklika „Satis cognitum“ aus dem Jahre 1896 die besondere Rolle des kirchlichen Lehramtes herausgestrichen und es unmittelbar mit dem ekklesialen Stiftungswillen Jesu Christi in Verbindung gebracht. Das Lehramt definiert sich als ein Instrument der Einheit von Kirche, damit sie – im Kontext der „Leib-Metapher“ – ein einheitliches Ganzes darstelle, das einmütig im Geist geeint ist (vgl. DH 3306). Leo XIII. rückt damit das Lehramt in jenes Selbstverständnis, wie es besonders auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zur Geltung gebracht worden ist: als universales Instrument der Regulierung aller für das Leben der Kirche wichtigen Belange. Es ist die autoritative Instanz der Bezeugung, Bewahrung und Vertiefung des christlichen Glaubens. Aufgrund der Weihe kommt den Bevollmächtigten des Lehramts die Aufgabe zu, unmittelbar die Inhalte der Offenbarung für Glaube und Leben (res fidei et mo-

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

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rum), indirekt auch für die Sicherungsaussagen des Glaubens zu definieren und zu aktualisieren (Stichwort: lebendig!). Die Begrifflichkeit der „Authentizität“ bezieht sich hier auf theologische und juridische Kontexte, insofern das Lehramt ex officio verbindliche Lehrentscheidungen trifft, weil sie dazu von Jesus Christus selbst eingesetzt worden ist. Der Begriff der Authentizität unterstreicht hier also die Legitimität dieser Instanz und ihrer Vollzüge. Allerdings wird auf das Verhältnis von ordentlichem und außerordentlichem Lehramt innerhalb der Enzyklika nicht genauer Bedacht genommen – ein Umstand, der sich bis in die Dokumente des II. Vatikanischen Konzils und des CIC 1983 prolongieren wird. Während die Akte des außerordentlichen Lehramts ziemlich eindeutig geregelt sind (DH 3074; CIC), ist das bei den Akten des ordentlichen Lehramtes nicht so. Can 749 §2 CIC regelt die Unfehlbarkeit des Bischofskollegiums auf einem Ökumenischen Konzil bzw. verstreut über die Welt unter Wahrung der Gemeinschaft untereinander und mit dem Papst; diese Instanzen legen die authentische Lehre über Glaube und Sitten in einem definitiven Urteil vor, das mit „theologaler Glaubenszustimmung“ (DH 4877) anzunehmen ist. Alle übrigen Lehrurteile unterliegen der Argumentationskraft, Plausibilität und Einsicht sowie dem Spruch des Gewissens. Es bleibt aber die unaufhebbare Differenz zwischen dem Wort Gottes und dem Wort des kirchlichen Lehramtes erhalten und damit die Möglichkeit des berechtigten Vorbehaltes. Vonseiten der Gläubigen wird verlangt, dass sie den lehramtlichen Handlungen mit religiösem Verständnis und Willensgehorsam folgen, auch wenn diese Lehre nicht als definitiv verpflichtend qualifiziert wird. Die Canones 750 und 752 sagen hierzu: Can 750 § 1 „Kraft göttlichen und katholischen Glaubens ist all das zu glauben, was im geschriebenen oder im überlieferten Wort Gottes als dem einen der Kirche anvertrauten Glaubensgut enthalten ist und zugleich als von Gott geoffenbart vorgelegt wird, sei es vom feierlichen Lehramt der Kirche, sei es von ihrem ordentlichen und allgemeinen Lehramt; das wird ja auch durch das gemeinsame Festhalten der Gläubigen unter der Führung des heiligen Lehramtes offenkundig gemacht; daher sind alle gehalten, diesen Glaubenswahrheiten entgegenstehende Lehren jedweder Art zu meiden.“ § 2. „Fest anzunehmen und zu bewahren ist auch alles und jedes, was bezüglich der Glaubens- und Sittenlehre vom Lehramt der Kirche endgültig vorgelegt wird, nämlich was zur unversehrten Bewahrung und zur getreuen Auslegung des Glaubensgutes erforderlich ist; deshalb widerspricht der Lehre der katholischen Kirche, wer solche endgültig zu haltende Lehren ablehnt.“ Can 752: „Nicht Glaubenszustimmung, wohl aber religiöser Verstandes- und Willensgehorsam ist einer Lehre entgegenzubringen, die der Papst oder das Bischofskollegium in Glaubens- und Sittenfragen verkündigen, wann immer sie ihr authentisches Lehramt ausüben, auch wenn sie diese Lehre nicht definitiv als verpflich-

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tend zu verkünden beabsichtigen; die Gläubigen müssen also sorgsam meiden, was ihr nicht entspricht.“

Das II. Vatikanische Konzil hat zahlreiche Aussagen zur Aufgabe und Struktur des Lehramtes formuliert. Als metanormative Bestimmung ist das Lehramt als ein Dienstamt definiert (LG 32), das der Führung der Seelen dient (LG 41 und 63). Unantastbar bewahrt und ausgelegt werden muss das „depositum fidei“ (LG 25), dem Lehramt allein ist die authentische Auslegung anvertraut (DV 10), aber: das Lehramt steht nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm (DV 10). Gegenstand der Lehrentscheidungen sind die geoffenbarte Lehre, das depositum fidei, die historischen oder logisch mit dem Offenbarungswort verbundenen Sachverhalte, oder die authentische Interpretation der sittlichen Ordnung. Papst Johannes Paul II. verstärkte nochmals in der Enzyklika Ut unum sint den Observanzaspekt des Papstamtes: Es ist Aufgabe des Papstes, wie ein Wächter die Lehre zu bewachen, damit die wahre Stimme des Hirten Christus deutlich gehört wird (94). In zwei Instruktionen ließ Johannes Paul II. schließlich das Verhältnis von Lehramt und Theologie in den 1990er-Jahren noch näher festlegen: Donum Veritatis (1990) verlangt in Nr. 26 grundlegend den Willen zum aufrichtigen Gehorsam in nicht veränderbaren Dingen. Anderslautende Meinungen sind vom Theologen nicht so vorzutragen, als gäbe es dazu keine gegenteilige lehramtliche Äußerungen. Deutlich wird deshalb auch ein „paralleles“ Lehramt der Theologie abgelehnt (32ff). Das Motu Proprio „Ad tuendam fidem“ aus dem Jahr 1998 mahnt die ausdrückliche Pflicht der Theologie ein, die definitiv vorgelegten Wahrheiten des Lehramtes zu bewahren. Bei Nichtbefolgung sind Strafbestimmungen in Anwendung zu bringen. Die Entwicklung des lehramtlichen Selbstverständnisses zeigt, dass die lange als selbstverständlich vollzogene Lehrausübung im Zeitalter der Konfessionalisierung zunehmend selbstreflexiv wird. Das Lehramt definiert sich selbst in lehramtlichen Akten als authentisches, legitimes Exekutivorgan der Kirche Jesu Christi, wobei das II. Vatikanum die Tätigkeit des Lehrens auf das ganze Volk Gottes ausdehnt. Demgegenüber aber ist die bischöfliche und päpstliche Lehrautorität juridisch abgesichert und legitimiert. Ekklesiologisch zeigt sich, dass die Tendenzen der Zentralisierung und der Dezentralisierung in keinem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

3.

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Die moderne „Authentizitätsgesinnung“ und das Lehramt

In den jüngeren hochrangigen Texten des katholischen Lehramtes (Konzilien; Enzykliken; Instruktionen; Kommissionen etc.) fehlt bis heute eine intensivere Reflexion auf das moderne Phänomen einer „Kultur der Authentizität“ (Ch. Taylor). Immerhin wird der Begriff der Authentizität in einigen Dokumenten erwähnt. Die Enzyklika „Veritatis splendor“ von Papst Johannes Paul II. widmet sich einigen Fragen der Morallehre der Kirche. Es geht um die Klärung von Prinzipien für die Unterscheidung, was der „gesunden Lehre“ widerspricht (Nr. 30). Der Papst stellt globale Infragestellungen der sittlichen Lehrüberlieferung, aber auch theologische Kritik am Lehramt fest. Er erwähnt theologische Positionen, denen gemäß das Lehramt nur ermahnen und Werte vorlegen solle, über die jede/r autonom zu entscheiden habe. Johannes Paul II. antwortet auf diese Vorbehalte weithin doktrinär. Er argumentiert, dass die Kirche gemäß 1 Petr 1,22 zum Gehorsam gegenüber der Wahrheit verpflichtet sei, wodurch sich die Menschen heiligen. Allerdings seien diese durch die Ursünde beeinträchtigt und suchten nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit (VS 1). Einzig Jesus Christus sei aber die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Antwort auf die Unterscheidung von Gut und Böse (VS 2). Zu den in der Moralreflexion umstrittensten und unterschiedlich gelösten menschlichen Problemen zählt Johannes Paul II. auch die Freiheit des Menschen. In der Nr. 32 vollzieht er eine klare Abgrenzung gegenüber Fehlformen der Freiheit und Autonomie: „So ist man in manchen modernen Denkströmungen so weit gegangen, die Freiheit derart zu verherrlichen, dass man sie zu einem Absolutum machte, das die Quelle aller Werte wäre. In diese Richtung bewegen sich Lehren, die jeden Sinn für die Transzendenz verloren haben oder aber ausdrücklich atheistisch sind. Dem Gewissen des einzelnen werden die Vorrechte einer obersten Instanz des sittlichen Urteils zugeschrieben, die kategorisch und unfehlbar über Gut und Böse entscheidet. Zu der Aussage von der Verpflichtung, dem eigenen Gewissen zu folgen, tritt unberechtigterweise jene andere, das moralische Urteil sei allein deshalb wahr, weil es dem Gewissen entspringt. Auf diese Weise ist aber der unabdingbare Wahrheitsanspruch zugunsten von Kriterien wie Aufrichtigkeit, Authentizität, ‚Übereinstimmung‘ mit sich selbst abhandengekommen, so dass man zu einer radikal subjektivistischen Konzeption des sittlichen Urteils gelangt.“

Hier wird deutlich, dass die Problematik von Wahrheit der Lehre und der subjektiven Annahme dieser Wahrheit auf dem Hintergrund aktueller reli-

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gionssoziologischer Phänomene betrachtet wird. Sie wird allerdings als Konkurrenz von Entscheidungskriterien der Geltung von Wahrheit versus individueller Orientierung entlang von Kriterien der Authentizität zugespitzt. In dieser oppositionellen Alternativstellung kann die Kategorie der Authentizität jedoch nur als ein pejorativer, defizienter Orientierungsmodus rezipiert werden. In Nr. 40 wird in Weiterführung dieser Problematik an das II. Vatikanum erinnert, das eine aktive Rolle der Vernunft bei der Auffindung und Anwendung des Sittengesetzes einmahnt. Prinzip einer richtigen Autonomie ist Gott als Quelle des Sittengesetzes, das für den Menschen das ihm allein eignende Gesetz darstellt. Autonomie besteht also in der Annahme des Sittengesetzes. Eine tiefergehende Klärung des Verhältnisses von Lehramt und Authentizität findet in der Enzyklika nicht statt. Es bleibt bei der oben zitierte Passage. Blickt man auf Texte der Deutschen Bischofskonferenz, sind für den Authentizitätsbegriff zwei Dokumente zu erwähnen. Der Text „Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen“ aus dem Jahr 2005 verwendet „Authentizität“ noch in einem negativen Sinne: „Der Religionsunterricht in der Schule darf nicht zum Ort des unverbindlichen Austauschs von Meinungen werden, die nicht nach ihrer Wahrheit, sondern nur noch nach ihrer Authentizität befragt werden. Er ist vielmehr der Ort eines ernsthaften Ringens um Wahrheitserkenntnis. Dabei ist er von einem bestimmten Wahrheitsverständnis geleitet: Wahrheit ist kein Besitz, über den jemand verfügt, sondern ein Anspruch, unter dem alle am Unterricht Beteiligten stehen und dem sie verpflichtet sind“ (S. 28).

Bemerkenswert dagegen ist ein Text der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischöfe aus dem Jahre 2011, der den Titel trägt: Virtualität und Inszenierung. Unterwegs in der digitalen Mediengesellschaft – Ein medienethisches Impulspapier. Ziel dieser Publikation ist die Reflexion und Bereitstellung ethischer Kriterien für den Umgang mit digitalen Medien, deren Phänomen als ein „Zeichen der Zeit“ (Kap. I) gedeutet wird. Darin spielt der Begriff der Authentizität eine zentrale Rolle. Im Kontext des Problems von Virtualität und Realität, das von den neuen digitalen Medien und Bildtechniken aufgeworfen wird, besteht die Gefahr, „dass Bilder und die durch sie erzeugte Information wichtiger werden als die Dinge, um die es in ihnen geht oder worauf sie sich tatsächlich oder vermeintlich beziehen. Damit würden Werte wie Authentizität, Echtheit, Wahrheit an Bedeutung verlieren.“ (Nr. 20) „Authentizität“ steht also in diesem Impulspapier für Echtheit und kontrastiert somit den Begriff der Verfälschung, der Ma-

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nipulation. Das ist besonders im Bereich der Berichterstattung von zentraler Bedeutung. Dementsprechend wird der Authentizitätsbegriff in der Folge als „Kriterium für eine zukunftsfähige Mediengesellschaft“ (Kap. IV) aufgewertet, aus dem drei ethische Leitideen entwickelt werden: „die moralische Qualität menschlicher Kommunikation, die Ethik der Bildästhetik und die Reflexion auf die Sittlichkeit von Öffentlichkeit und Demokratie“ (Nr. 43). Der Authentizitätsbegriff konnotiert eindeutig positiv als Qualifikationsbegriff für das Menschsein selbst: Authentisches Menschseins kann nur gelingen in der Verschränkung von Individualität und Sozialität, es ist Ausdruck für Autonomie und Würde des Menschseins (Nr. 47); Authentizität steht für Aufrichtigkeit und Redlichkeit in menschlichen Beziehungen (Nr. 48). Aber Authentizität hat auch eine hohe ästhetische Dimension, insofern sie Auskunft darüber gibt, was Bilder zeigen und wie sie es zeigen (Nr. 53). Eindringlich wird betont, dass in der Berichterstattung Bilder nicht so verwendet werden dürfen, dass Opfer durch die mediale Darstellung nochmals diskreditiert werden. Schließlich unterziehen die Autoren im Abschnitt B. des vierten Kapitels in Virtualität und Inszenierung den Authentizitätsbegriff einer Bewährungsprobe in dreifacher Hinsicht: Unter dem Blickwinkel der „Authentizität im Netz“ werden „Gewalt“ (Nr. 63–65), „Datenschutz“ (Nr. 66–70) und „Soziale Netzwerke“ (71–74) herausgegriffen – in diesen Bereichen soll die Authentizitätskategorie als Leitidee für eine „Netzethik“ grundlegende Handlungsmaximen abgeben. Zusammenfassend wird gesagt: „Verantwortung für Authentizität bedeutet die eigene Verpflichtung auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, im Verhältnis zu Anderen und im Verhältnis zur Welt und Umwelt. Es geht um gute und gerechte Lebensverhältnisse in der digitalen Mediengesellschaft“ (Nr. 75). Diese klare und positive Rezeption des Authentizitätsbegriff scheint somit ein erstes Signal eines differenzierten Umgangs innerhalb lehramtlicher Schreiben, wenngleich noch nicht auf höchster Ebene, zu sein. Wird diese Sichtweise auf der höchsten Ebene des Lehramts aufgegriffen werden? Diese Frage lässt sich dahin präzisieren, ob sich unter dem Pontifikat von Papst Franziskus für unsere Thematik neue Aspekte abzeichnen. Gibt es in den Äußerungen des gegenwärtigen Papstes Hinweise darauf, ob und wie er mit dem Phänomen des Individualismus, des religiösen Individualismus im Besonderen umgeht?

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In seinem ersten längeren Interview mit Antonio Spadaro ließ Franziskus in der Tat aufhorchen, insofern er hier einen sehr persönlichen Zugang zu vielen Phänomenen der gegenwärtigen Situation von Kirche und Gesellschaft erkennen ließ. Im Kapitel über seine Erfahrungen von Führung und Leitung gibt er kritisch Rechenschaft über seinen Führungsstil als junger Provinzial, den er im Rückblick als „schroff und eigenmächtig“16 beurteilt: „Dessen ungeachtet sind die Menschen des Autoritarismus überdrüssig. Meine autoritäre und schnelle Art, Entscheidungen zu treffen, hat mir ernste Probleme und die Beschuldigung eingebracht, ultrakonservativ zu sein“.17 Mit Blick auf die Kirche bewegt aber vor allem ein Gedanke, der für Papst Franziskus von enormer hermeneutischer Bedeutung ist: „Ich sehe ganz klar … dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen … Man muss ganz unten anfangen“.18 Franziskus meinte damit ganz konkret „sozial verwundete“ Menschen wie etwa homosexuelle Personen, die sich von der Kirche verurteilt fühlen.19 Über die Rolle des päpstlichen Lehramts äußerte er sich bisher am deutlichsten in seinem Schreiben Evangelii gaudium in dem Sinne, dass man von ihm nicht zu allen Fragen eine „endgültige oder vollständige Aussage“ erwarten solle und spricht von der Notwendigkeit einer „heilsamen ‚Dezentralisierung‘“.20 Er versteht das Lehramt als einen Dienst der Kirche, das nicht zu einem Zensursystem ausarten soll.21 Zugleich aber mahnt er gegen eine weitverbreitete Haltung der Vorläufigkeit, des Sichnicht-Festlegens, die christliche Tugend der Verbindlichkeit ein.22 Vor allem aber die Organisations- und Konsultationsform der ersten Bischofssynode zum Thema Familie zeigte, dass Franziskus einen neuen Kommunikationsstil einführte, der von Dialog, Beratung und offenem Austausch ge-

16 17 18 19 20 21 22

SPADARO, Interview mit Papst Franziskus, 41. Ebd. Ebd. 47f. Vgl. ebd. 49f. EG 16. Vgl. SPADARO, Interview mit Papst Franziskus, 54. Vgl. FRANZISKUS, Predigten, 82–86.

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

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prägt war. Nicht zuletzt ist es seine Art und Weise der Amtsführung selbst, die derzeit das päpstliche Lehramt am meisten verändert. Indem er nicht die Rolle des autoritativen (oder gar autoritären) Lehrers, sondern die Rolle des Güte und Freundlichkeit ausstrahlenden Hirten in authentischer Weise verkörpert, bleibt zu hoffen, dass diese gelebte Form des Papstamtes den „Authentizitätsdiskurs“ verändert – nämlich hin zu einem existenziellen, persönlichen und glaubwürdigen Vor-leben des Evangeliums. Das jüngste Dokument der Internationalen Theologischen Kommission „Sensus fidei und Sensus fidelium im Leben der Kirche“ scheint diese Erwartung zu bestätigen: Allein schon die Thematik deutet an, dass Papst Franziskus das Selbstverständnis des Lehramtes in seinem Verhältnis zur kirchlichen Glaubensgemeinschaft neu ausleuchten möchte. Erstmals ist das Lehramt bemüht, den im II. Vatikanum wichtigen, aber seither nicht weiter vertieften Begriff des sensus fidei zu untersuchen. Auch in diesem Dokument begegnet uns die Authentizitätskategorie, zum einen in der klassischen Diktion im Sinne der „authentische(n) christliche(n) Lehre und Praxis“ (Nr. 2), zum anderen aber auch in der Wertschätzung des Glaubenssinns der Gläubigen, der über alle Ausdifferenzierung hinaus im Volk Gottes wirksam ist: „Der sensus fidei fidelis entsteht zuallererst aus der wesentlichen Gleichheit, die die Tugend des Glaubens zwischen dem glaubenden Subjekt und dem authentischen Gegenstand des Glaubens herstellt, nämlich der göttlichen Wahrheit, die in Jesus Christus geoffenbart ist“ (50). Dennoch bedeutet diese Gleichheit nicht, dass es in der Beurteilung des sensus fidelium nicht eine klare Hierarchie gibt: „… das Urteil über die Authentizität des sensus fidelium [kommt] letzten Endes weder den Glaubenden selbst [zu], noch der Theologie, sondern dem Lehramt“ (77). Dennoch liegt auf erkenntnistheoretischer Ebene die besondere Fähigkeit des sensus fidelium darin, „die Authentizität der symbolischen oder mystischen Sprache“ (82) zu erkennen und zu erforschen. Subjekt dieser Erkenntnis und Erforschung ist die Theologie. So ist es schlüssig, dass im 4. Kapitel nach Kriterien für die „Feststellung authentischer Manifestationen des sensus fidei“ gesucht wird wie etwa die Partizipation am Leben der Kirche (89–91), das Hören auf das Wort Gottes (92–94), die Offenheit gegenüber der Vernunft (95–96), die Anerkennung des Lehramtes (97– 98), das Bemühen um Heiligkeit als Demut, Freiheit und Freude (99–103) sowie das Streben nach dem Aufbau der Kirche (104–105). So gewinnt auch in diesem Dokument der Authentizitätsbegriff eine positive Konnotation, verbleibt aber im Wesentlichen auf der Linie einer

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juridischen, auf die rechte Lehre und Praxis ausgerichteten Kategorie, die aber immerhin subjektive und existenzielle Aspekte tangiert. Fassen wir also diesen wichtigen Punkt kurz zusammen: Das Lehramt verwendet den Begriff „authentisch“ weithin im Sinne der wahrheitsverbürgenden autoritativen Funktion der Glaubenslehre. Maßstab dafür ist die geoffenbarte göttliche Wahrheit einerseits und die Autorität der kirchlichen Lehrinstanzen andererseits. Die mit dem Zweiten Vatikanum erweiterte Sicht eines gemeinsamen Lehrens aufgrund des gemeinsamen Priesteramtes und die pastoralen Dimensionen des Lehramtes haben in der jüngsten Geschichte der lehramtlichen Vorgaben keine Vertiefung und Konkretisierung erfahren, im Gegenteil: im Kontext der Autonomisierung und Individualisierung der Lebensformen, der Moral und der theologischen Lehre wird die Aufsichtspflicht des zentralen Lehramtes sogar wieder verschärft. Der Begriff „Authentizität“ im Verständnis aktueller Selbst-Orientierung wird unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. nur im negativen Sinne als subjektivistische Haltung in den Blick genommen. Der berechtigten Kritik eines „Authentizitätsmythos“ steht (noch) keine Anerkennung einer Wertressource der Authentizität gegenüber. Die Texte aus den letzten Jahren zeigen allerdings eine Bedeutungsveränderung an. Noch ist sie nicht so massiv, dass diese in hochrangigen lehramtlichen Texten zum Ausdruck käme, aber sowohl im Diskussionspapier zur „Netzethik“ als auch im Kontext der „Glaubensautorität“ der Glaubenden, die sich in der Erkenntnis des sensus fidei und des sensus fidelium manifestiert, nimmt die Authentizitätskategorie eindeutig eine positive Qualifikation an.

4.

Konsequenzen aus dem Spannungsverhältnis von „Authentizitätsdiskurs“ und „authentischem Lehramt“

Die Analyse der unterschiedlichen „Authentizitäts-Diskurse“ zeigt große Diskrepanzen in formaler und materialer Hinsicht. Authentische Religiosität als Maßstab einer individuell selbstbestimmten Artikulation religiöser Orientierung steht diametral einer lehramtlichen Selbstbestimmung authentischer Lehrauslegung und -regelung gegenüber. Der formale Gegensatz könnte so formuliert werden: Auf der einen Seite ist Authentizität das Kriterium der Auswahl einer Werthaltung, die sich an der Stimmigkeit für

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

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das Subjekt ausrichtet. Auf der anderen Seite ist Authentizität das juridische Kriterium legitimer Autorenschaft bzw. Interpretations- und Regelungsbefugnis über alle Glaubenssubjekte. Auch der materiale Gegensatz tritt deutlich hervor: Einerseits ist Authentizität ein Kriterium für autonome, die Individualität befördernde Gehalte, die dazu dienen, dass ein Individuum, das sich an religiösen Inhalten, Normen und Riten orientiert, seine unverwechselbare Identität findet. Andererseits ist Authentizität das Kriterium für einen autoritativ vorgegebenen und festgelegten Maßstab für christliche Lehre und Wahrheit. Es ist offenkundig, dass am Problem des Authentizitätsbegriffs völlig unterschiedliche Selektionen des Spannungspaares von Autonomie und Heteronomie vorgenommen werden. Während der postmoderne Diskurs Authentizität als Selektionskriterium für autonome Orientierung auffasst, ist für das kirchliche Lehramt „authentisch“ der Begriff für eine Geltungsbestimmung, die durch die offiziell autorisierte Instanz der Kirche den umfassenden Inhalt und Vollzug des christlichen Glaubensgutes gegenüber illegitimen und häretischen Formen abgrenzt und absichert. Darum kommt es auch wechselseitig zu großen Vorbehalten bzw. Ablehnung. Individuen auf der Suche nach authentischer Religiosität suchen nicht nach religiösen Formen, die autoritativ als solche zu glauben und anzuerkennen vorgelegt werden, sondern die sie persönlich aus der Vielfalt des religiösen Sinnangebotes als sinnvoll auswählen und sich aneignen können. Das Kriterium der Wahl ist das Subjekt und sein persönlich formatierter Werthorizont. Dagegen ist es für das Lehramt geradezu abwegig, sich selbst sein persönliches „Glaubensdesign“ gleichsam wie eine „Bricolage“, wie ein „Patchwork“ nach dem Kriterium der persönlichen Stimmigkeit zusammenstellen zu können. Vielmehr ist Glaube autoritative, nämlich von Gott selbst in seiner Selbstoffenbarung vermittelte Wahrheit des Lebens, das den Menschen in einer unbedingten Weise angeht und auf das er verpflichtet ist. In diesem Sinne versteht auch das Lehramt seine Autorität nicht eo ipso als „auto-autoritative“ Instanz, sondern als vermittelte Autorität, je neu die Wahrheit der Glaubenslehre zu bestimmen und zu regulieren. Dieser Befund lässt nun den Eindruck entstehen, dass zwischen diesen Positionen und Optionen keine Vermittlung möglich ist. In der Tat scheint einer der Gründe für die massiven Entfremdungsprozesse zwischen Amtskirche und persönlicher individueller Orientierung im religiösen Glauben in diesem Auseinanderklaffen der Geltungsbestimmungen zu liegen. Allerdings ist der Preis für jede Option unter Ausschluss der jeweils anderen ein hoher: Denn religiöser Glaube ist Sinn-Vorgabe als gnadenhaftes Ge-

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schenk, das sich der Mensch selbst nicht machen und geben kann. In dieser Hinsicht gibt es tatsächlich eine nicht überbrückbare Differenz im Authentizitätsverständnis, wenn die Stoßrichtung religiöser Orientierung die „Selbst-Verunendlichung des Subjektes“ wäre. Gerade dass Gott Gott ist und der Mensch Mensch, ist aber für den christlichen Glauben das Kriterium dafür, wie der Mensch zu einer authentischen Identität kommt. Luc Ferrys Bestimmung von Authentizität im religiösen Sinn ist darum eine Interpretation, die nicht nur auf formalen Widerspruch seitens des Lehramtes stößt, sondern der theologisch-anthropologisch nicht zugestimmt werden kann: „Das Wesentliche besteht darin, der Transzendenz der Normen ein Ende zu machen und zu guter Letzt das richtige Verständnis für die unbestreitbare Tatsache zu erlangen, dass die einzige Transzendenz, die es weiterhin gibt, diejenige des Ich im Verhältnis zu sich selbst ist, d. h. diejenige eines noch nicht authentischen Ich. Kurz gesagt, eine Transzendenz, die vollständig dem Bereich der Immanenz des individuellen Ego angehört“.23

Eben dieses Zitat aber regt an, die Frage nach Authentizität in der religiösen Orientierung noch einmal genauer zu bestimmen. Denn wenn Offenbarung als Selbstoffenbarung den Anspruch hat, den Menschen nicht autoritativ zu überfahren, sondern ihn einzuladen, sich aufzumachen, „die Wahrheit, den Weg und das Leben“ (vgl. Joh 10,10) zu finden, dann ist die personale aktive Beteiligung an diesem Entdecken des wahren und guten Lebens nicht obsolet, sondern im Gegenteil gesucht, gefragt, ja unverzichtbar. Es darf darum auch nicht das kostbare Gut der Freiheit und personalen Gewissensentscheidung in einem einseitigen Maße verdächtigt werden, so dass schon jede Suche nach Freiheit und jede letztendlich im eigenen Gewissen getroffene Entscheidung als Absolutismus zu schmähen sei. Es war eine „Schwachstelle“ der letzten Pontifikate unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI., dass es ihnen nicht gelungen ist, die diffuse, autonomieund authentizitätssuchende Bewegung vieler Menschen in den westlichen Ländern zu verstehen und zu würdigen. Demgegenüber überrascht das neue Pontifikat unter Papst Franziskus mit neuen Akzentsetzungen, die die therapeutische Dimension des Glaubens in die Mitte stellen, was nicht weniger anspruchsvoll ist, aber die subjektiven Bedürfnisse der Menschen, vor allem auch ihre Verletzungen und Entfremdungen in den Blick nimmt. Indem Papst Franziskus Gott als Barmherzigkeit verkündet und die Kirche

23

FERRY, Göttlichkeit, 115.

Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

325

auf diese Barmherzigkeit hin verpflichtet,24 versucht er offenkundig, die juridisch-amtlichen Vollzüge der Institution Kirche vor allem in ihrem Lehramt wieder in den größeren Horizont der Dialogizität des Verhältnisses von Gott und Mensch einzuordnen. Wenn diese Interpretation zutreffen sollte, dann wäre auch hier vonseiten des Lehramts ein immens wichtiger Schritt gesetzt, die Autorität der Glaubenswahrheit dynamisch, dialogisch, personal und nicht nur juridischautoritativ zu verstehen. Umgekehrt kann authentische Religiosität aber auch bedeuten, den „Zusage-Wert“ des Glaubens anzuerkennen und ihn nicht aus einer falsch verstandenen Autonomie auszugrenzen. SelbstFindung und Stimmigkeit sind dann nicht Kriterium für Authentizität in einem subjektivistischen Sinne, sondern die höchst gnadenhafte Erfahrung von „Zusammen-Stimmen“, von „Gefunden-worden-sein“. Authentizität ist dann auch als Kriterium offen für Begegnung von Immanenz und Transzendenz. Beiden Positionen wohnt die Chance inne, ihr bislang als diametral entgegengesetzt verstandenes Verhältnis durch wechselseitige Überprüfung und Kritik neu zu bestimmen und weiterzubringen. Wenn authentisch glauben impliziert, dass das Glaubenssubjekt unvertretbar in seiner Glaubensentscheidung ist; wenn gilt, dass Glaube die elementaren Wahrheiten des Glaubens inhaltlich immer wieder neu anstrebt; und wenn gilt, dass Religiosität eo ipso eine „re-ligio“, eine Zurückbindung an den transzendenten Heilsursprung des Menschen bedeutet, dann ist der falsche Gegensatz Autonomie/Heteronomie aufgebrochen. Gerade am Beispiel der Mystik kann das Plädoyer zur Aufhebung dieses falschen Gegensatzes eindrucksvoll unterstrichen werden. Wenn „Mystik“ nicht im Sinne von „Mystizismus“25 als „selektiver Selbstaufwärmung“ des Menschen gegenüber dem Phänomen der Transzendenz, sondern im Sinne von Meister Eckhart als radikales Ledig-Werden und Los-Lassen der eigenen Bilder und Vorstellungen verstanden wird, dann ist das mystische Subjekt höchst aktiv und höchst passiv zugleich. Die Bereitschaft, sich ganz auf das Geheimnis der Transzendenz einzulassen, ist nicht möglich, ohne den Willen des Hörens auf das wortlose Wort Gottes.

24

25

Dass Franziskus Kardinal Walter Kasper als theologischen Mentor dieser „Theologie der Barmherzigkeit Gottes“ in Anspruch nimmt, hat er von Anfang seines Pontifikats an bekannt gemacht. Vgl. KASPER, Barmherzigkeit. Vgl. zu dieser wichtigen Unterscheidung: SCHMID, Mystik, 35–75.

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Die mystische Erfahrung aber zeigt ebenfalls, dass darin dem Menschen eine Erfahrung und vor allem eine neue Identität zuteil werden, die gerade nicht die Zerstörung seiner Identität bedeutet, sondern im Gegenteil die Erfahrung eines neuen Selbstverständnisses ermöglicht. So gesehen könnte die Kategorie der Authentizität gerade noch einmal zusammenhalten, was in den heutigen Oppositionen auseinanderfällt: das subjektive Moment höchster Selbst-Bestimmung (also Freiheit) bei gleichzeitiger Orientierung an einem „Autoritativem“, das nicht Entfremdung, sondern Identitätsfindung bedeutet, gerade durch Orientierung am Anderen seiner selbst.

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Authentische Religiosität und authentisches Lehramt

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Hildegard Wustmans

Individuell und authentisch sein – und was internationale Freiwilligendienste damit zu haben

Echt und authentisch zu sein klingt in den Ohren vieler Menschen gut und für eine wohl nicht unerhebliche Anzahl von ihnen ist es erstrebenswert echt und authentisch zu sein. Zumindest kann man diesen Eindruck haben, wenn man einen Blick ins Internet wirft und die Worte ‚echt‘ und ‚authentisch‘ als Kategorien in Suchmaschinen eingibt. Da stößt man auf Blogs, in denen Menschen mitteilen, wie sie echt und authentisch leben oder auf Homepages von Coaches, die einem/einer dabei helfen können, echt und authentisch zu werden. Was im neunzehnten Jahrhundert als Lebensphilosophie von Künstler/-innen und Intellektuellen galt, ist inzwischen zu einem weitverbreiteten Lebensprojekt geworden. „[D]iese Art der Selbstorientierung [hat sich HW] zu einem Massenphänomen entwickelt“.1 Es ist in den westlichen Gesellschaften inzwischen zu einer generationenübergreifenden Lebensphilosophie geworden. Mehr noch, es ist wichtig, „den eigenen Stil zu finden und auszuleben“.2 In diesem Zusammenhang bekommt die Kategorie der Passung für den Einzelnen/die Einzelne eine besondere Bedeutung. Das, was er/sie tut, woran er/sie glaubt, was ihm/ihr wichtig ist, muss nicht nur von ihnen ausgesucht sein, es muss sie ansprechen, es muss zu ihnen passen.3 In den letzten Jahrzehnten konnte verfolgt werden, wie sehr diese Prämissen Institutionen unter Druck setzten und sie setzen ihnen nach wie vor zu. Für die katholische Kirche zeigen sich diese Prozesse z. B. im Rückgang des Sonntagskirchgangs, in den Austritten von Mitgliedern, den

1 2 3

TAYLOR, Ein säkulares Zeitalter, 788. Ebd. 792. Vgl. ebd. 811.

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Nachwuchsproblemen beim Klerus und inzwischen auch beim hauptamtlichen pastoralen Personal. Nach dem 2. Weltkrieg hat die katholische Kirche sich noch über das katholische Milieu stabilisieren können. Dieses „freiwillige Ghetto“4 sollte gewährleisten, „dass die Menschen ausschließlich zusammen mit Angehörigen derselben Religion zur Schule gingen, Fußball spielten, ihre Freizeit verbrachten und so fort. […] Man war darauf bedacht, tiefer in das Leben der Anhänger einzudringen, sie enger aneinander zu binden und den Kontakt zu Außenstehenden möglichst gering zu halten“.5 Mit den einschneidenden Umbrüchen in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts verlor dieses System seine Kraft und Wirksamkeit. Die Individuen verabschiedeten sich mehr und mehr aus diesem System und die Individualität, auch in moralischen und religiösen Zusammenhängen, nahm zu und zeigt sich in der Gegenwart in einem „weitverbreiteten ‚expressiven‘ Individualismus“.6 Der Bereich der Religion ist selbst zu einem Feld authentischer Optionen geworden, in dem es um Selbstfindung, Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung und Selbstübereinstimmung7 geht. Der Wahrnehmungshorizont ist auf das eigene Ich fokussiert. Es geht um die Intensivierung der eigenen Existenz, um Erlebnisverdichtung und um Zufriedenstellung bislang ungestillter Sehnsüchte. Als ein Ausdruck und möglicher Realisierungskontext ebensolcher Verdichtungen können die vielfältigen internationalen Freiwilligenangebote betrachtet werden, die u. a. auch von Ordensgemeinschaften angeboten werden. Diese Angebote lassen sich aus der Perspektive von Individuum und Authentizität begreifen.8 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass das Engagement in einem Freiwilligendienst jungen Erwachsenen eine besondere Gelegenheit für eine authentische Identitätskonstruktion in sozialer, kultureller und religiöser Hinsicht bietet.

4 5 6 7 8

Ebd. 787. Ebd. Ebd. 788. Vgl. PARTHE, Authentisch Leben?, 104. Vgl. die Web-Site http://www.fsj-aachen.de/tl_files/fsd/userdata/50jahre/fachvortrag-fsd.pdf (aufgerufen 13.4.2015).

Individuell und authentisch sein

1.

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Internationale Freiwilligendienste oder Von der „Treue zu sich selbst“9 und der Zugehörigkeit zu „einem umfassenderen Ganzen“10

Das Streben nach Authentizität kann als Ausdruck einer Suche nach Identität unter den Bedingungen einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft verstanden werden. Identität „muss entworfen, entwickelt und immer neu hergestellt werden. Sie kann in Frage gestellt, aberkannt oder zerstört werden. Und damit ist sie eine lebenslange Aufgabe heutiger Menschen“.11 Dass an der Identität zu arbeiten ist, erfahren in besonderer Weise Jugendliche und junge Erwachsene. Dabei sind für sie die Möglichkeiten für die Formatierung ihrer individuellen Lebensweisen im Vergleich zu vorausgehenden Generationen außerordentlich hoch. Diese Chancen resultieren u. a. daher, weil inzwischen die sozialen und kulturellen Bindungen sehr viel lockerer sind. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass die Perspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen von vielen Unsicherheiten geprägt sind.12 Denn „Erwachsenwerden ist ein Projekt, das in eine Welt hineinführt, die zunehmend unlesbar geworden ist, für die unsere Erfahrungen und Begriffe nicht ausreichen, um eine stimmige Interpretation oder eine verlässliche Prognose zu erreichen“.13 Dieses Faktum ist bedeutsam, denn es verweist darauf, dass es für die Identitätskonstruktion in einer ebenso pluralisierten wie individualisierten Gesellschaft inzwischen anderer und mehr Fähigkeiten der Selbstorganisation bedarf. Auf überlieferte Bausteine von Identität, wie Beruf oder die traditionellen Geschlechterrollen, kann diese immer weniger aufgebaut werden. „Fertige soziale Schnittmuster für die alltägliche Lebensführung verlieren ihren Gebrauchswert. Sowohl die individuelle Identitätsarbeit als auch die Herstellung von gemeinschaftlich tragfähigen Lebensmodellen unter Menschen, die in ihrer Lebenswelt aufeinander angewiesen sind, er-

9 10 11 12 13

TAYLOR, Unbehagen an der Moderne, 104. Ebd. 104. AMMICHT QUINN, Leben im Niemandsland, 27. Vgl. die in Anm. 8 angeführte Web-Site. Ebd.

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fordert ein eigenständiges Verknüpfen von Fragmenten. […] Die roten Fäden für die Stimmigkeit unserer inneren Welten zu spinnen, wird ebenso zur Eigenleistung des Subjektes wie die Herstellung lebbarer Alltagswelten. Menschen in der Gegenwart brauchen die dazu erforderlichen Lebenskompetenzen in einem sehr viel höheren Maße als die Generationen vor ihnen.“14 Natürlich spielt Bildung in diesen Zusammenhängen nach wie vor eine Rolle, jedoch zeigt sich immer deutlicher, dass neben der formalen Bildung auch der Sektor der informellen Bildung an Bedeutung gewinnt. Es ist für die Identitätskonstruktion von Bedeutung, aus welchen Familien man kommt, welche Freunde und Freundinnen man hat und über welche sozialen Netzwerke man verfügt. In den genannten Koordinaten von Pluralisierung und Individualisierung steht exemplarisch auch das Angebot der Jesuiten an junge Erwachsene, als Freiwillige im In- und Ausland tätig zu werden. Im Jahr 1986 wurde von P. Horst Knott SJ auf dringenden Wunsch des damaligen Generaloberen P. Peter Hans Kolvenbach SJ die europäische Variante des amerikanischen Vorbildes Jesuit Volunteer Corps in Deutschland gegründet.15 Dieses Angebot richtet sich an junge Erwachsene im Alter von 18–26 Jahren, „die einen einjährigen freiwilligen sozialen Einsatz […] leisten wollen. Dabei arbeiten die Freiwilligen Vollzeit (ca. 40 h pro Woche) in verschiedenen sozialen Einrichtungen im direkten Kontakt mit Menschen, die in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, und wohnen in kleinen Gemeinschaften (Kommunitäten) zusammen. Die Einsätze orientieren sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung an den vier – der ignatianischen Spiritualität und Lebensweise entlehnten – Grundlinien: 1) Einsatz für Gerechtigkeit 2) Leben in Gemeinschaft 3) Einfacher und bewusster Lebensstil 4) Gelebter Glaube“.16 Kennzeichnend für das Angebot der Jesuiten ist das intensive Begleitprogramm. In Seminaren (25 Tage vor, während und nach dem Einsatz) werden die Freiwilligen auf ihren Einsatz vorbereitet und während ihres Einsatzes begleitet, damit „die jungen Leute ihre Erfahrungen reflektieren,

14 15 16

Ebd. Vgl. WEINZIERL, Was bedeutet JEV?, 135. Ebd.

Individuell und authentisch sein

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Schwierigkeiten in Angriff nehmen, ihre Persönlichkeit weiterentwickeln und Orientierung für ihr eigenes Leben bekommen können“.17 Dabei sind das Zusammenleben in der Kommunität und die Einzelbegleitung vor Ort weitere wichtige Bestandteile der Unterstützung und Reflexion. Obendrein gibt es ein Team in der Missionsprokur der Jesuiten in Deutschland, das bei Problemen am Arbeitsplatz, in der Kommunität etc. kontaktiert werden kann und mit dem nach Lösungen für die Probleme gesucht wird. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, sofern gewollt, nach der ersten Hälfte des Einsatzes „an ignatianischen Einzelexerzitien teilzunehmen“.18 Mit dem Angebot des einjährigen Freiwilligendienstes bieten die Jesuiten jungen Erwachsenen die Gelegenheit, fremde Orte, andere Kulturen und Weltkirche kennenzulernen. Ihnen wird ein Erfahrungs- und Lernraum der besonderen Art angeboten. Sie machen sich in ein unbekanntes, neues, vages und prekäres Terrain auf, das auch auf ihre Person zugreift. Der Ortswechsel ist unabwägbar. Aber er reizt und fasziniert gleichermaßen, denn er verspricht eine Größe, die man noch nicht hat. Die Jesuit Volunteers machen Erfahrungen mit Orten, die von ihnen Besitz ergreifen und zugleich Verschwiegenes, Ungeahntes und Überraschendes zutage fördern. In diesen Zusammenhängen werden sie in ihrer Identitätskonstruktion angefragt und herausgefordert. Die Ordnung der Dinge wird relativiert, neue Aspekte kommen in den Blick, werden konkret und dies sowohl in Bezug auf die eigene Existenz, wie auch im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Institutionen wie die katholische Kirche oder politischen Zusammenhängen an anderen Orten. Eine Jesuit Volunteer (JEV) bringt das wie folgt zum Ausdruck: „Das JEV-Jahr bot mir viele Chancen: im Zusammenleben in unserer Wohnung, im Leben in einem anderen Land, im Zeitverbringen mit den Besuchsdiensten, vor allem auch im Alltag mit den Kindern. Nicht alle Chancen habe ich wahrgenommen, doch diese waren für mich besonders bedeutend. Die Chance mich selbst besser kennenzulernen, an meine Grenzen zu stoßen und darüber hinauszuwachsen, meine Kräfte an ganz neuen Maßstäben zu messen, leben zu lernen, mich mit meiner ganzen Person einer Sache hinzugeben, immer wieder neu anzufangen.“19 Eine andere Volunteer schreibt über ihre Erfahrungen: „Neben der Selbsterfahrung, die ich in Venezuela gemacht habe und auch oft an

17 18 19

Ebd. Ebd. 136. MÜLLER, Formen und formen lassen, 137f.

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meine Grenzen gestoßen bin, war auch die Erfahrung des ‚SichEinlassens‘ auf andere Denkmuster ein wichtiger Bestandteil. Es hat meine Toleranz gefördert und meinen Blick auf die Dinge verändert. Ich wollte helfen und etwas verändern. Doch letzten Endes war ich diejenige, der geholfen wurde und in der etwas verändert wurde.“20 Diese exemplarischen Aussagen führen vor Augen, dass die Konfrontation mit dem anderen, zunächst fremden Ort Auswirkung auf die Identitätskonstruktion der Teilnehmer/-innen hat.21 Die Zeit des Freiwilligendienstes ist eine intensive Zeit der Selbsterfahrung und Selbstvergewisserung. Bisherige Identitätskonstruktionen werden herausgefordert. Dass in dieser Hinsicht etwas mit den Volunteers „geschieht“, belegt exemplarisch die folgende Aussage: „Was bleibt, ist die Frage, mit der ich vor vier Jahren das Volontariat angefangen habe, die Frage, nach Ehrlichkeit und Kohärenz in meinem Leben, zwischen dem, was ich sage, denke, sehe, fühle, bete, für richtig halte, auf die ich nur immer wieder versuchen kann, Antwort zu geben, immer wieder fragend, hinterfragend, hörend.“22 Diese Äußerung einer Freiwilligen verweist überdies darauf, dass es bei der Konstruktion von Identität gerade auch um Passungen, um Kohärenz wie sie es nennt, angesichts von Kontrasten im Lebensalltag geht. Und diese verlangen dem Individuum die Fähigkeit ab, sich selbst (neu) zu entwerfen und in soziale Kontexte einzubetten. Aber das nicht nur irgendwie, sondern in besonderer Weise unter dem Anspruch, sich dabei selbst treu zu bleiben. Es geht darum, authentisch zu sein. Dabei wird in diesen Zusammenhängen offenkundig, dass Authentizität nicht aus sich selbst heraus zu bestimmen und zu gewinnen ist, sondern in der Auseinandersetzung mit etwas, auf das man sich hin entwirft, gewonnen werden kann. Insofern kann wohl gesagt werden, dass in besonderer Weise internationale Freiwilligendienste wie Jesuit Volunteers für die Identitätskonstruktion besondere Voraussetzungen bieten. Sie garantieren einen verlässlichen Sinnzusammenhang und verweben die/den Einzelne/n in ein Beziehungsnetz, in dem herausfordernde Orte und Personen kennengelernt werden können. Sie gewährleisten die Erfahrung, zu etwas Größerem dazuzugehören. Und zugleich bieten sie den Raum, dass man etwas Nützliches tun kann.23 Sie

20 21 22 23

MASSUN, Zwischen Studium und Ernst des Lebens, 182. Vgl. MUNDORF, Christliche Freiwilligendienste im Ausland. WEBER, Nicht alles ist planbar – Vier Jahre in Venezuela, 196. Vgl. die in Anm. 8 angeführte Web-Site.

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bieten den Teilnehmenden „neue Erfahrungen, neue Sicht- und Deutungsweisen und […] andere Ausdrucksmöglichkeiten. […] Auch alltagspraktische lebensweltliche Erfahrungen machen […] neugierig auf weitere Erfahrungen und offen […] für neue Sichtweisen, Lebensweisen und Lebensformen“.24 Auf diese und ähnliche Entwicklungen bei den Freiwilligen setzen und hoffen ebenfalls die Entsendeorganisationen: Dass Gefühle und Erfahrungen nachklingen und weiter wirken, Kreise ziehen.25 Man geht schlichtweg davon aus, dass „Erlebnisse […] erst in den ‚gewohnten‘ Lebenskontexten, in unserem Alltag nachwirken – hoffentlich noch lange Zeit!“26

2.

Angesichts von Befremdungen (neue) Selbstübereinstimmung finden

Wie wirken aber nun die gemachten Erfahrungen und Deutungen weiter? Hinweise bieten hier Studien, die nach dem Zusammenhang von abgeleisteten internationalen Freiwilligendienst und Lebensorientierung fragen.27 Den Studien ist zu entnehmen, dass vor allem die persönlichkeitsbildenden Aspekte von Teilnehmenden hervorgehoben werden. So sprechen ehemalige internationale Freiwillige davon, „dass sie primär in vielen ihrer Anschauungen und Persönlichkeitsmerkmale bestätigt und bestärkt worden sind. […] Andere wiederum begriffen die Veränderung als eine Neuentdeckung von Eigenschaften“28. Die Zeit als Volunteer prägt. Junge Erwachsene, die an einem internationalen Freiwilligendienst teilgenommen haben, kommen verändert zurück. Eine Aussage lautet: „Ich bin gereift und selbstbewusster geworden.“29 Wer das sagen kann, hat sich in der Regel nicht von Befremdungen abstoßen und abhalten lassen. So jemand hat sich mit einer fremden Kul-

24 25 26 27 28 29

PARTHE, Authentisch Leben?, 122. Vgl. AUNER, Passage to India 2004 und 2006, 86. AUNER, Salsa y Café - Exposure Venezuela, 93. Vgl. VONDRASEK, Lebensorientierung durch Freiwilligendienste. Eine qualitative Studie; MUNDORF, Christliche Freiwilligendienste im Ausland. VONDRASEK, Lebensorientierung durch Freiwilligendienste, 417. Ebd. 420.

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tur, einer unbekannten Sprach- und Zeichenwelt vertraut gemacht. So jemand hat Dinge erlebt und überstanden, woran er/sie zuvor im Traum nicht dachte. Aber auch die Einstellungen gegenüber anderen Menschen verändern sich durch die Begegnungen an neuen, fremden Orten. Und dies führt meist automatisch bei den Freiwilligen zu einem Umdenken. Die eigenen Perspektiven verschieben sich, werden relativiert. „Einmal spielte ich mit zwei Kids Domino. Irgendwie war es ganz schön durcheinander: Wer ist denn nun dran? Ich wollte immer im Uhrzeigersinn spielen, und die anderen immer anders herum. Zuerst dachte ich, sie sind noch so klein und es hat ihnen noch keiner die Regeln beigebracht. Doch bald stellte sich heraus, dass hier so gespielt wird, ‚falsch‘ rum. […] Gleich in den ersten Tagen machte ich die Beobachtung, dass der Verlobungsring und der Ehering die Plätze getauscht haben. Ich hörte Verlobung, sah aber Ehe: Du musst den Ring an die andere Hand stecken! Huch, mein Konzept, meine Wahrheit!“30 Dieser Bericht schildert nicht nur die Wahrnehmung und Auflösung eines kulturell bedingten Fehlschlusses. Die Schilderung verweist auch auf einen tieferliegenden, grundsätzlichen Aspekt. Wer sich auf eine andere Kultur einlässt, wird in den eigenen Verhaltensmustern und in den gewohnten Denk- und Interpretationsstrukturen in Frage gestellt. Mehr noch, das Beispiel deckt die Frage nach der Norm auf. Wer hat hier Recht? Welche Muster der Entschlüsselung und Erklärung gelten? Wenn es die mitgebrachten Muster sind, ist das Ergebnis schnell und eindeutig klar. Die eigenen Perspektiven sind die richtigen. Die anderen liegen falsch. Die wissen nicht, wie es richtig geht. Ihnen müssen erst einmal die richtigen Regeln nahegebracht werden. Im beschriebenen Fall sind es die anderen, die den Ring an der falschen Hand tragen. Sie sind es, die für Störung und Irritation sorgen. Wer sich aber auf die fremden Orte tatsächlich einlassen kann, merkt schnell, dass gewohnte Muster hier nicht weiter führen. Diese sind zwar da (im eigenen Kopf), aber sie sind am neuen Ort ohne soziale Relevanz. Eine neue Grammatik ist zu lernen. Gerade dieser Aspekt, die „Erfahrung von Ungleichheiten“31 ist allgemein als Chance für Teilnehmende in internationalen Freiwilligendiensten zu verstehen. Doch diese Befremdungen auszuhalten fällt nicht allen Freiwilligen leicht und wird von ihnen u. a.

30 31

ARBEITSGEMEINSCHAFT MAZ DER ORDEN, Wer lernt hier von wem?!, 36. HAAS, Ambivalenz der Gegenseitigkeit, 70.

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auch dadurch gelöst, dass sie verstärkt „Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Lebensstandards“32 suchen und das sind dann in der Regel andere Volunteers. Auf diese Reaktionsmuster gilt es von Seiten der Organisationen gerade durch die Begleitpersonen vor Ort achtsam zu reagieren. Schnell können sich hier neokoloniale Muster ausbilden, ohne dass es von den Freiwilligen intendiert war.33 Aber es gibt auch noch die andere Seite, wo der Freiwilligendienst für Auseinandersetzungen in Bezug auf Konsum, Bildungssysteme, Demokratie usw. sensibilisiert. Allerdings weisen vorliegende Studien darauf hin, dass dies „nur“ zu einer „Einstellungsänderung gegenüber der Wohlstandsgesellschaft in dem Sinne [führt HW], dass man mit der eigenen Lebenssituation zufriedener geworden ist und die Errungenschaften und Vorteile der westlichen Gesellschaft auf Grund der gemachten Erfahrungen mehr zu schätzen weiß“.34 Diese Lernerfahrungen auf der eher persönlichen Ebene führen bisweilen zu einem verstärkten Interesse an sozialpolitischen Themen nach der Rückkehr.35 Insgesamt ist auf der Basis von Erhebungen zum Thema der Lernerfahrungen im Bereich internationaler Freiwilligendienste zu sagen, „dass persönliches Wachstum die bedeutendste Wirkung von Diensten ist, kulturelle und interkulturelle Weiterbildung nur dann, wenn die Jugendlichen auch davor sozial engagiert waren“.36 Die Erfahrungen an den anderen, den fremden Orten hinterlassen Spuren, markieren die Freiwilligen. Sie lernen sich und andere kennen, besser kennen. Dabei spielt in besonderer Weise die Nichtübereinstimmung mit dem, was vorher war, mit dem was ist und sein wird eine gewichtige Rolle. Infragestellungen und damit auch die Chancen des Lernens und Impulse für die Identitätskonstruktion stehen vor allem dann im Raum, wenn Menschen sich in Kontexte des Unähnlichen, des Unbekannten bewegen. In diesen Zusammenhängen werden Ausschließungen überwunden und die Wer-Identifizierungen relativiert. Auf diesen Zusammenhang weist HansJoachim Sander in vielen seiner Beiträge hin, in denen er zwischen der

32 33 34 35 36

Ebd. Auf die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesem Aspekt macht Benjamin Haas aufmerksam: HAAS, Ambivalenz der Gegenseitigkeit. VONDRASEK, Lebensorientierung durch Freiwilligendienste, 425. Ebd. 429. HAAS, Ambivalenz der Gegenseitigkeit, 79.

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Wer- und der Wo-Identität unterscheidet.37 „Eine Größe, die ähnlich wie das Subjekt von Descartes allein und primär von sich her bestimmen will, wer sie ist, wird unweigerlich all das ausschließen, das dieser Selbstbegründung von außen entgegensteht und es als zweifelhaft, irrelevant, relativierend, historisch zufällig etc. übergehen müssen. Eine Größe, die sich mit dem Ort identifiziert, den sie in dieser Situation einnimmt, wird unweigerlich mit dem konfrontiert, was diesem Ort von außen gegenübersteht und auf seine innere Konstitution zugreift. Bei dieser Verortung verschärft sich die Frage, wer diese Größe denn eigentlich ist. Die Wer-Frage setzt die Auseinandersetzung mit der Wo-Frage dann voraus und kann darüber nicht sprachlos bleiben, selbst wenn dieses Wo in reale Sprachlosigkeiten hineinführt. Die Antwort auf die Wer-Frage wird dann wenigstens diesen Sprachlosigkeiten eine Sprache geben müssen. Das bedrängende Moment in der Bestimmung der eigenen Identität erhöht sich bei der Öffnung zum Ort, an dem diese Bestimmung stattfindet“.38 Wer sich vom bekannten Kontext in einen anderen Zusammenhang begibt, gerät in die Spannung dieser Orte. Unausweichlich ist die Neubestimmung der Identität. Und damit gehen zwei Fragen einher: 1) Was darf nicht aufgegeben werden, „weil es wesentlich zur Identität […] gehört?"39 2) Und wem/was darf am neuen Ort nicht ausgewichen werden, weil es zwingend zur „neuen Identität“ dazugehört? Diese beiden Fragen bewegen sich in zwei unterschiedliche Richtungen. Die eine fokussiert das, was gleichsam mitgebracht wurde und die zweite wechselt die Perspektive in das Präsens. Und aus beiden kann gewissermaßen etwas Neues mit Zukunft und für die Zukunft entwickelt werden. Damit das jedoch geschehen kann, ist es erforderlich, das Hauptaugenmerk darauf zu legen, was der neue Ort an Fragen provoziert und zuzulassen, dass diese Provokationen automatisch zu Anfragen an das eigene Selbstverständnis werden. Man hat das Risiko einzugehen, dass die bisherige

37

38 39

Vgl. SANDER, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution, 581–886. HansJoachim Sander entwickelt diesen Gedanken in Bezug auf die Identitätsfindungsprozesse der katholischen Kirche im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils und erläutert dies in Bezug auf die Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Ich denke, dass dieser Gedankengang nicht nur für Institutionen wie die katholische Kirche gilt, sondern auch auf das Individuum angewendet werden kann. SANDER, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution, 691f. Ebd. 692.

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Selbstübereinstimmung aufgelöst, auf jeden Fall ins Wanken gebracht wird. Es geht um die notwendige, bisweilen schmerzhafte Erkenntnis, dass das bisher Selbstverständliche nicht selbstverständlich ist. An neuen Orten ist nichts, wie es bekannt ist und war. Wer allerdings den Mut hat, sich dem auszusetzen, was die Themen des Ortes sind, wird ungeahnte Entdeckungen machen können.40 Die neue Ortsbestimmung kann so zu einer neuen Identitätsbestimmung führen. Wer sich von unbekannten Orten befremden und überraschen lässt, hat beste Voraussetzungen in der Identitätskonstruktion weiter zu kommen. Und diese ist kein utopisches Projekt in dem Sinne, irgendwann ein anderer, besserer Mensch zu werden, sondern eine Chance, die sich im Jetzt an konkreten Orten stellt. Der Ortswechsel ist dann mit einem Perspektivenwechsel verbunden. Diese Erfahrungen machen internationale Freiwillige. Ihr Kontakt mit fremden Kulturen, mit Elend und instabilen politischen Systemen fragt an und prägt. Die neuen Orte provozieren Auseinandersetzung und Veränderung. Die Ideale, Erwartungen, Strategien, die einige Freiwillige im Gepäck haben, erweisen sich meist schnell als utopische Konstrukte. Sie halten den Erfahrungen am neuen Ort nicht stand. Sie waren nur gedacht. Wer sich auf einen neuen Ort einlassen kann, sieht nicht nur eine andere Realität, sondern lässt zu, dass ein Prozess des Umdenkens und der Relativierung einsetzen kann. Damit werden die neuen Orte zu dem, was der französische Philosoph Michel Foucault Heterotopie genannt hat.41 Heterotopien lassen sich in jeder Kultur ausmachen und deswegen kann diese Kategorie auch ein hilfreiches Analyseinstrument im Kontext mit internationalen Freiwilligen sein. „Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb der Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.“42

40 41 42

Vgl. ebd. 697. Vgl. FOUCAULT, Andere Räume, 65–72. Ebd. 68.

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Ursprünglich kommt der Begriff aus der Medizin. „Dort bezeichnet er ein Gewebe, das an einem Ort erscheint, an dem es üblicherweise nicht erscheint.“43 Heterotopien durchkreuzen somit die gewohnte Ordnung der Dinge und sie „beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, dass dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ‚Syntax‘ zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ‚zusammenhalten‘ lässt“.44 Eine Heterotopie ist ein realer Ort, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich auf andere Orte beziehen und die dort herrschenden Logiken und Ordnungen ansprechen und verändern kann und genau in einem solchen Gravitationsfeld bewegen sich internationale Freiwillige. „Sie [die Heterotopien HW] erzeugen Räume, an denen die moderne Ordnung der Dinge verlassen wird und mit denen selbstverständliche Diskurse prinzipiell verändert werden können.“45 Heterotopien konfrontieren mit Dingen, denen nicht ausgewichen werden kann. Und damit legen sie zugleich die Wege für alternative, neue Erfahrungen frei. Sie bringen durcheinander, verwirren, schrecken auf, befremden, machen sprachlos. Sie zeigen auf, was bislang noch nicht offensichtlich war, aber nun eine eigene Präsenz und Wirkmächtigkeit bekommt. Dies ist ebenfalls eine Erfahrung von internationalen Freiweilligen. Die bisherige Ordnung der Dinge gerät ins Wanken und die neuen Themen und Diskurse stellen sich mit Macht ein. Wer diese ausschließen und beiseite drängen möchte, zahlt dafür den Preis, dass die Kreativität und das Potential, das in ihnen steckt, nicht genutzt werden kann. Man schließt sich selbst von der ihnen innewohnenden Kraft und Potenz aus.46 Anders geht es jenen, die sich auf den Ort einlassen können und sich von diesem in ihrer Identitätskonstruktion anregen lassen. Sie machen die Erfahrung, dass man sich an anderen Orten nicht automatisch verlieren muss, sondern finden kann. Die neuen Orte führen bisher Geglaubtes, Praktiziertes und Gewohntes in ein neues Verhältnis mit dem, was ist. Allerdings

43 44 45 46

KLASS, 17. Heterotopie, 264. Vgl. FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge, 20. SANDER, Heterotopien, 111. Für den Philosophen Georges Bataille, auf den auch Foucault sich bezieht, zeigt sich gerade in der Überschreitung die Potenz des Lebens. Vgl. WIECHENS, Bataille zur Einführung; BATAILLE, Die Erotik.

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führen in der Erkenntnis, Bearbeitung und Umsetzung dabei die bekannten Erkenntnisformen Induktion und Deduktion nicht wirklich weiter. Denn diese gehen immer vom Bekannten aus, nicht von unbekannten Größen. Doch die Fortsetzung des bisher Bekannten sowie die Rückschlüsse von bisher richtigen Vorstellungen reichen nicht aus, um dem Druck am fremden Ort kreativ zu begegnen. Denn an diesem Ort geht es um wirklich neue Erkenntnisse und Wahrheiten. Solche Situationen benötigen eine Wissensform, die sich überraschen lässt und deswegen ungeahnte Erkenntnisse zu Tage fördern kann. Es geht also nicht um Induktion und Deduktion, sondern um Abduktion.47 Abduktiv vorzugehen verspricht gerade dann Lösungen, wenn „die bisherige Darstellungsart angesichts verstörender Größen sprachlos geworden ist und weil diese Sprachlosigkeit einen Handlungsdruck erzeugt“.48 Abduktionen sind geradezu notwendig, „wenn Daten über Probleme mit bisher vertretenen Theorien nicht mehr zu erklären sind. Ihr Kontext sind überraschende Situationen, in denen man sich darüber klar wird, wie die überraschenden Daten nicht auf den Begriff oder in eine Regel gebracht werden können“.49 Abduktionen nutzen das Moment der Sprachlosigkeit „als kreative Spannung für die Entwicklung einer neuen Sprache“50 und Identität. Und genau aus diesem Grund kann diese Form des Wissenserwerbs für Volunteers hilfreich sein, denn mit den bekannten und bewährten Mustern, die sie mitgebracht haben, kommen sie bisweilen nicht weiter. Sie verstehen die Welt und auch sich selbst nicht mehr. Das ist gerade in den ersten Monaten der Fall, wenn sie tiefer in die fremden Kulturen eingetaucht sind und der Aufenthalt länger dauert als ein spannender Urlaub. Es werden z. B. die eigenen Erwartungen enttäuscht. Da will man helfen und stellt fest, dass man selber Hilfe braucht und bisweilen in den Einsatzstellen eher eine Last denn Entlastung ist. Oder aber dass jenes, was man als Hilfestellung bieten kann, gerade nicht gebraucht wird. In solchen Momenten zeigt sich die Wirklichkeit in einem ungeschönten und

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48 49 50

Die Analyse im Sinn einer Abduktion geht auf den Philosophen Charles S. Peirce zurück. PIERCE, Semiotische Schriften (Bd. 1–3). Hans-Joachim Sander hat die Kategorie der Abduktion für die Theologie herausgearbeitet. Vgl. SANDER, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution, 698f.; ders., Fundamentaltheologie; ders., Gott und seine Orte. SANDER, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution, 698. SANDER, Gott und seine Orte, 203f. SANDER, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution, 699.

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zumutenden Licht. Wer dann nicht verzweifeln, abbrechen will, muss sich neu er-finden. Die Verwunderung oder die Sicht auf die Dinge, wie sie wirklich sind, das ist der erste Schritt einer Abduktion51 und diesen erfahren Volunteers bisweilen schmerzlich. Der zweite Schritt im Verfahren einer Abduktion ist die Wahrnehmung in Bezug auf all das, was an dem neuen Ort nicht zu realisieren ist. Dies schließt die Erkenntnis ein, dass hier auch die induktiven und deduktiven Vorgehensweisen letztlich nicht hilfreich und weiterführend sind. Sie bieten für das Neue nicht die hinreichend zufriedenstellende Antwort. Das erhöht natürlich weiter den Druck. Eine Lösung, eine Position, die tragen kann, muss gefunden werden. Das ist dann auch die dritte Phase im Prozess der Lösung von Problemen im Modus der Abduktion: Die Freiwilligen wissen jetzt, was nicht geht. Um aber eine Lösung zu finden, helfen nicht Zwang und Verbissenheit, sondern das „musing“.52 Damit ist ein Zustand gemeint, in dem man ein Problem wälzt, es einem/einer nicht aus dem Kopf geht und man zugleich weiß, dass es mit den normalen und eingeübten Problemlösungsstrategien nicht zu lösen ist. Das heißt, „dass mit der Zumutung begonnen wird, weil sie von dem Ort ausgelöst werden, dessen verstörendem Potential nicht ausgewichen wird. Am Anfang steht nicht die Einsicht in mögliche oder tatsächliche Falschheit, sondern die Überforderung durch überraschende Daten, Ereignisse, Begegnungen“.53 Doch eine solch bedrängende Erfahrung kann mittels des „musing“ gelöst werden. „‚Musing‘ steht für das nicht unmittelbar zielbezogene oder direkt zielführende Nachhängen über ein Problem, das jemanden beschäftigt. Es bildet die Ortsbestimmung in einem Problem oder einer Erfahrung, die die sprachlichen Fähigkeiten übersteigt. Probleme, die man unbedingt lösen will, die man gezwungen wird zu lösen oder denen man aus welchen Interessen auch immer verschrieben ist, lösen solche ‚musing‘-Phasen aus; sie erzeugen einen Handlungsdruck auf das verfügbare Wissen.“54 Im „musing“ kann neue Kreativität aufkommen. Jedoch es gibt für diesen Kreativitätsschub keine Garantie. Allerdings kann er befördert werden, in dem man sich auf die Situation einlässt und damit auch die erfahrenen Relativierungen anerkennt. An dieser Stelle kommt m. E. den Begleiter/

51 52 53 54

Vgl. SANDER, Fundamentaltheologie, 51. Vgl. SANDER, Gott und seine Orte, 203. SANDER, Einführung in die Gotteslehre, 27. Ebd.

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-innen vor Ort eine wichtige Rolle zu. Sie sind es, die die Volunteers in der Phase der Verabschiedung von fixierten Vorstellungen, von Müssen und Sollen, von mitgebrachten Rezepten und Vorhaben, in ihrem Mut und im Erwarten des Unvorhergesehenen unterstützen können. Wer sich auf das „musing“ einlassen kann, hat nicht die Garantie zur Lösung der Probleme, aber die Chance wirklich Neues über sich und die anderen zu erfahren. Und davon berichten auch Volunteers. Die Erfahrungen relativieren die normale Einordnung von Wahrnehmungen und ganz neue Aspekte tauchen auf im Zusammenhang mit Selbstübereinstimmung und „die Welt“: „Nach Hause flog ich mit zwei Koffern, die bepackt waren mit interkulturellen Begegnungen, die mich zum Nachdenken anregten und aus denen ich viel gelernt habe. Erwartungen sind zurückzuschrauben, denn zu oft kommt es anders, als man denkt. Mein Denk- und Verhaltensmuster hat sich verändert und der Blick für andere Wahrheiten enorm geweitet. Deutschland ist nicht die Welt.“55

55

ARBEITSGEMEINSCHAFT MAZ DER ORDEN, Wer lernt hier von wem?!, 49.

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Literaturverzeichnis AMMICHT QUINN, R., Leben im Niemandsland, in: Concilium 51/3 (2015) 27–35 ARBEITSGEMEINSCHAFT MAZ DER ORDEN, „Wer lernt hier von wem?!“ 25 Jahre Missionar/-in auf Zeit, ohne Ortsangabe 2007 AUNER, C., „Passage to India“ 2004 und 2006, in: S. Grillmeyer (Hg), „Wir sind die besseren Globalisierer“. Praxishandbuch der werkstattweltweit für globales Lernen und Freiwilligendienste, Schwalbach Taunus 2007, 81–86 AUNER, C., Salsa y Café – Exposure Venezuela, in: S. Grillmeyer (Hg), „Wir sind die besseren Globalisierer“. Praxishandbuch der werkstattweltweit für globales Lernen und Freiwilligendienste, Schwalbach Taunus 2007, 91–93 BATAILLE, G., Die Erotik, München 1994 FOUCAULT, M., Andere Räume, in: M. Wentz (Hg), Stadt-Räume, Frankfurt a. M. / New York 1991, 65–72 FOUCAULT, M., Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 121994 HAAS, B., Ambivalenz der Gegenseitigkeit. Reziprozitätsformen des weltwärtsFreiwilligendienstes im Spiegel der Postkolonialen Theorie, Köln 2012 http://www.fsj-aachen.de/tl_files/fsd/userdata/50jahre/fachvortrag-fsd.pdf (aufgerufen 13.4.2015) KLASS, T., 17. Heterotopie, in: C. Kammler / R. Parr / U.J. Schneider (Hgg), Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, 263–266 MASSUN, M., Zwischen Studium und Ernst des Lebens, in: S. Grillmeyer, (Hg), „Wir sind die besseren Globalisierer“. Praxishandbuch der werkstatt-weltweit für globales Lernen und Freiwilligendienste, Schwalbach Taunus 2007, 179–184 MÜLLER, K., Formen und formen lassen. Rückblick auf ein JEV-Jahr in Rumänien, in: S. Grillmeyer (Hg), „Wir sind die besseren Globalisierer“. Praxishandbuch der werkstatt-weltweit für globales Lernen und Freiwilligendienste, Schwalbach Taunus 2007, 137–138 MUNDORF, M., Christliche Freiwilligendienste im Ausland. Lernprozesse und Auswirkungen auf die Lebensentwürfe junger Menschen. Eine qualitative Studie, Münster u. a. 2000 PARTHE, E.-M., Authentisch Leben? Erfahrung und soziale Pathologien in der Gegenwart, Frankfurt a. M. / New York 2011

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PIERCE, C. S., Semiotische Schriften (Bd. 1–3), herausgegeben und übersetzt von C. Kloesel / H. Pape, Frankfurt a. M. 1986 SANDER, H.-J., Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 2006 SANDER, H.-J., Fundamentaltheologie – eine Theologie der Andersorte der Theologie. Stellungnahme zu Bernhard Körner, in: J. Meyer zu Schlochtern / R.A. Siebenrock (Hgg), Wozu Fundamentaltheologie? Zur Grundlegung der Theologie im Anspruch von Glaube und Vernunft (Paderborner Theologische Studien 52), Paderborn u. a. 2010, 39–57 SANDER, H.-J., Gott und seine Orte. Theologie auf dem Weg vom Subjekt zum Zeichen, in: G. Kruip / M. Fischer (Hgg), Als gäbe es Ihn nicht. Vernunft und Gottesfrage heute (Philosophie aktuell 2), Berlin 2006, 195–209 SANDER, H.-J., Heterotopien – Orte der Macht und Orte für Theologie. Michel Foucault, in: K. von Stosch / P. Hardt (Hgg), Für eine schwache Vernunft? Beiträge zu einer Theologie nach der Postmoderne, Ostfildern 2007, 91–115 SANDER, H.-J., Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: P. Hünermann / B.J. Hilberath (Hgg), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, Freiburg i.Br. u. a. 2005, 581–886 TAYLOR, C., Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009 TAYLOR, C., Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M. 1997 VONDRASEK, B., Lebensorientierung durch Freiwilligendienste, in: E. Baldas / R.A. Roth (Hgg), Freiwilligendienste haben es in sich. Studien zu Art, Umfang und Ausbaumöglichkeiten von Freiwilligendiensten im kirchlich-sozialen Umfeld, Freiburg 2003, 416–442 VONDRASEK, B., Lebensorientierung durch Freiwilligendienste. Eine qualitative Studie und pastoraltheologische Bewertung von Volontariat in katholischer Trägerschaft (Benediktbeurer Studien 11), München 2003 WEBER, K., Nicht alles ist planbar – Vier Jahre in Venezuela, in: S. Grillmeyer (Hg), „Wir sind die besseren Globalisierer“. Praxishandbuch der werkstatt-weltweit für globales Lernen und Freiwilligendienste, Schwalbach Taunus 2007, 188–196 WEINZIERL, J. / BESCHORNER, M., Was bedeutet JEV?, in: S. Grillmeyer (Hg), „Wir sind die besseren Globalisierer“. Praxishandbuch der werkstatt-weltweit für globales Lernen und Freiwilligendienste, Schwalbach Taunus 2007, 135–136 WIECHENS, P., Bataille zur Einführung, Hamburg 1995

Ludmila Muchová

Religiöse Bildung und die „Pädagogik der Wende“ Tschechische Erfahrungen 1 mit authentischem Glauben

Fragen nach der eigenen Individualität und Authentizität sind für Pädagoginnen und Pädagogen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks besonders bedeutsam. Durch Zeitzeugen bewahrt die Gesellschaft weiterhin die Erinnerung an den kommunistischen Druck, der auf die Negierung jeglicher Individualität zielte, indem er Loyalität gegenüber der kommunistischen Ideologie forderte. Die Generation, die die Herabsetzung des Menschen zu einem Rad im totalitären Getriebe nicht mehr erlebte, meldet sich jedoch immer stärker zu Wort. Während die ältere Generation nach wie vor zu einer Haltung nach dem Motto „Hauptsache mit dem Strom schwimmen“ tendiert, ist die jüngere Generation bestrebt, eine eigene Individualität zu entwickeln. Dabei nehmen ihre Versuche oft jene Züge an, die Charles Taylor als für westliche Gesellschaften typisch beschreibt. Einige Repräsentanten der tschechischen Intelligenz reflektierten vor allem in der Zeit nach 1968 die Situation derer, die der totalitären Macht aktiven Widerstand leisteten. Nach 1989 wurde diese Reflexion meiner Meinung nach zu leichtfertig an den Rand der Erwägungen über die Gestalt eines guten Lebens inmitten der demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft geschoben. Dabei könnte gerade diese reflektierte Erfahrung mit dem kommunistischen Totalitarismus sehr inspirativ für grundlegende

1

Die Herausgeber danken Dr.in Sandra LEHMANN, Assistenz-Professorin für Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz, für ihre Unterstützung in der Redaktion dieses Beitrags. Als Herausgeberin und Übersetzerin von Werken des tschechischen Philosophen Jan PATOČKA, auf den sich dieser Beitrag intensiv bezieht, war sie dafür besonders qualifiziert und motiviert.

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Überlegungen zur religiösen Bildung in der heutigen Gesellschaft sein, und zwar nicht nur für die Länder des ehemaligen Ostblocks. Dies will ich in diesem Beitrag zeigen. Zunächst möchte ich einige Gedanken von Charles Taylor rekapitulieren, die ich für eine Herausforderung für die Religionspädagogik halte – nicht nur in den Ländern mit demokratischer Tradition, sondern auch in solchen, in denen diese Tradition unterbrochen wurde: im Fall der Tschechischen Republik im 20. Jahrhundert sogar durch zwei totalitäre Systeme. Im anschließenden Teil will ich zeigen, dass bei der Entstehung einer typisch tschechischen philosophischen Reflexion des totalitären Systems die eigene Erfahrung der Reflexion und Theorie vorausging. Ich zeige es in der Analyse meiner eigenen Erfahrungen, die ich nach und nach machte, ohne damals Kenntnisse der Geschichte der philosophischen Schulen, geschweige denn der Existenzphilosophie, gehabt zu haben. Meine Erfahrungen möchte ich im Zusammenhang mit philosophischen und pädagogischen Reflexionen der Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 analysieren: diese gingen von Martin Heideggers Philosophie aus, gewannen aber mit der Zeit spezifisch „tschechische“ Elemente dazu. Schließlich möchte ich allgemein pädagogische Gedanken der tschechischen Existenzphilosophie vorstellen und daraus Konsequenzen für die Religionspädagogik ziehen. Dabei werde ich von einer Taylor gegenüber etwas differenzierten Auffassung von Authentizität ausgehen.

1.

Charles Taylor und seine Auffassung von Authentizität

„Jeder [hat] seine eigenen ‚Werte‘, über die kein Meinungsstreit möglich sei“.2 Das ist der Ausgangspunkt, den Taylor von Allan Bloom übernimmt. Den Gedanken, dass sich jeder Mensch so ehrlich wie möglich um die eigene Selbstverwirklichung bemühen soll, nennt Taylor „Individualismus der Selbstverwirklichung“. Diesen Typ des Individualismus charakterisiert er als „konzentrierte Vertiefung ins eigene Ich bei gleichzeitiger Ausklammerung oder sogar Unkenntnis der besonders bedeutenden Fragen

2

TAYLOR, Das Unbehagen an der Moderne, 20.

Religiöse Bildung und die „Pädagogik der Wende“

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oder Belange, welche auf religiösem, politischem oder historischem Gebiet über das Ich hinausgehen“.3 Paradoxerweise bilden sich jedoch auch unter Menschen, die sich bemühen, sie selbst zu sein, neue Formen von konformem Verhalten heraus, und es entstehen Abhängigkeiten von verschiedenen Experten, Begleitern und Technologen, die sich von einer Wissenschaft oder auch von exotischen Spiritualitäten inspirieren lassen. Im Unterschied zu Autoren, die dies kritisieren, erkennt Taylor in dieser „Kultur der Selbstverwirklichung“ die Wirkung eines dringenden moralischen Ideals, auch wenn dieses oft in entwerteten Formen erscheint. Dieses Ideal ist die Aufrichtigkeit des Menschen zu sich selbst, mit der er sich um eine „bessere“ oder „höhere“ Art des Lebens bemühen kann oder soll. Und dieses „Bessere“ und „Höhere“ bietet ein Maß dafür, wonach sich der Mensch sehnen sollte. Taylor macht auf zwei entwertete Formen aufmerksam: Vor allem junge Leute bemänteln ihr Karriere- oder auch Genussstreben mit dem Begriff Selbstverwirklichung – und sind darin unaufrichtig in der Interpretation ihrer eigenen Lebensbemühungen, wobei sie sich das Bewusstsein des eigenen Wertes behalten möchten. Ein ähnlicher Befund zeigt sich, wenn gegenwärtig manche Menschen spüren, dass von ihnen eine Stellungnahme oder Entscheidung gefordert ist: Das kann z. B. dazu führen, dass sie angesichts der Herausforderungen zur Pflege bedürftiger Angehöriger oder zur Sorge für die nächste Generation, der eigenen Karriere oder dem Geldverdienen den Vorrang geben. Ein „Diktat der Zeit“ lautet: Die Bemühung, selbst zu sein und die Qualität des eigenen Lebens zu pflegen, hat Vorrang vor jedem anderen Interesse an der Qualität des Lebens der Welt und der Menschen um uns. Auf der anderen Seite steht die heutige Gesellschaft vor der Frage, welche Autorität es sich überhaupt leisten kann, konkrete Entscheidung darüber zu treffen, welche Art des Lebens „gut“ und welche Art des Lebens „besser“ sei. Genau diese Überlegung ist es, die hinter der vom Liberalismus erhobenen Forderung nach Neutralität steht. Die Kultur der Authentizität entwickelt sich inmitten der industriellen Gesellschaft. Ihre Entwicklung prägte die Geschichte der letzten Jahrhunderte in Europa. Die Entstehung der großen Städte mit ihrer hohen Bevölkerungskonzentration war die Folge einer Entscheidung vieler Menschen: aufzubrechen – mit dem Ziel, größeren Reichtum oder größere Macht zu

3

Ebd. 21.

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gewinnen. Menschen, die der instrumentellen Vernunft huldigen – also jener Vernunft, die jede Entscheidung der Frage nach dem eigenen Gewinn unterwirft –, tendieren dazu, Freiheit als Möglichkeit zu verstehen, „nach eigenem Gutdünken ungestört handeln zu können“.4 Und es sei auch nötig, das, was ihnen den größten Gewinn oder Nutzen bringt, als handlungsleitendes Interesse zu definieren. Taylor findet im europäischen philosophischen Denken eine für ihn tragbare Idee der Authentizität, die zu einem starken moralischen Ideal werden kann. Er findet sie bei Herder: „Es gibt […] eine gewisse Weise, Mensch zu sein, die meine Weise ist. Ich bin dazu aufgefordert, mein Leben in ebendieser Weise zu führen, ohne das Leben irgendeiner anderen Person nachzuahmen“.5

Die Treue zu sich selbst gewinnt dabei an Wichtigkeit. Wenn ich diese Treue nicht einhalte, verfehle ich das Ziel meines Lebens und erfahre nie, was es gerade für mich bedeutet, Mensch zu sein. In der Diskussion mit den Anhängern einer instrumentellen Auffassung von Authentizität bezeichnet Taylor als eine wesentliche Eigenschaft des menschlichen Lebens seine Fähigkeit zum Dialog. Das folgt aus der Erfahrung, dass nur jene Menschen eigene Identität definieren können, die sie in Kommunikation mit anderen Menschen „gewinnen“, und zwar besonders mit jenen, die für sie besondere Bedeutung haben: „signifikante Andere“ (George Herbert Mead). Identität kann definiert werden als Antwort auf Fragen wie „Wer sind wir?“, „Woher kommen wir?“ etc. Dieser Dialog kann durchaus dramatische Formen annehmen, z. B. wenn wir im Streit liegen mit potentiellen Identitäten in uns, die signifikante Andere anerkennen wollen, und wenn wir diesen Dialog als Erwachsene und zu einem Zeitpunkt führen, da diese signifikanten Anderen selbst schon lange tot sind.6 Diese Dialogizität und gewisse Anforderungen der Treue zu sich selbst kennzeichnen eine Vorstellung von Identität, die sich von der egoistischen Form gegenwärtiger Kultur abhebt. Taylor drückt dies durch den Begriff „Sinn“ aus und spricht von einem sinnvollen gesellschaftlichen Umfeld. Damit meint er jene allgemein für bedeutend gehaltenen Fragen, die durch die Anforderungen der Kultur, die Bedürfnisse unserer Nächsten, die

4 5 6

Ebd. 30. Ebd. 38. Vgl. ebd. 43.

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staatsbürgerlichen Pflichten oder die Herausforderung durch Gott gestellt sind. Eine eigene Identität kann erst in Auseinandersetzung mit diesen bedeutsamen Fragen und im produktiven Bestehen dieser Auseinandersetzung ausgebildet werden. Sinn ist somit der Horizont, auf den man die Moral seiner authentischen Entscheidungen bezieht. Deshalb hat die Gesellschaft auch so große Bedeutung für unsere eigenen Entscheidungen.7 Man kann seine eigene Identität z. B. in Einklang mit dem gesellschaftlichen Sinnhorizont auf der Idee der allgemeinen Rechte aufbauen: Jeder und jede sollen das Recht und die Gelegenheit haben, er oder sie selbst zu sein. Niemand hat das Recht, die Werte anderer zu kritisieren. Dabei ist es jedoch notwendig, die Grenze für die Selbstverwirklichung jedes Menschen festzuhalten. Diese Grenze ist die Gleichheit der Chancen für die Selbstverwirklichung anderer Personen. Dazu kommt die Erkenntnis, dass unsere Identität die Anerkennung seitens anderer Personen voraussetzt. Wenn diese nicht gegeben ist, fühlt man sich zu Recht in seiner Identität verletzt. Daraus folgt die Forderung des Rechtes auf gleiche Anerkennung aller. Taylor schließt daraus: Die Anerkennung der Differenz fordert, genauso wie eine authentische Wahl, den Horizont des Sinnes, den die ganze Gesellschaft teilt. Identität und daraus folgend Authentizität können ihm zufolge also nicht auf der Freiheit zu beliebiger Wahl basieren, sondern beruhen auf der Wahl, die der Akteur in Bezug zu anderen Menschen tätigt. Dieser Bezug bildet zuletzt den dialogischen Horizont eines allgemeinen moralischen Sinnes. In der europäischen Kultur besteht dieser in der Anerkennung des gleichen Wertes unterschiedlich gearteter Wesen.8 Es gibt jedoch noch eine Gefahr, die zu egoistischen Formen der Äußerungen von Authentizität in der gegenwärtigen Gesellschaft führt. Sie besteht nach Taylor in jenen für unsere persönliche Entwicklung relevanten Konflikten, die im Spannungsfeld der (als Sinnhorizont verstandenen) allgemeinen moralischen Anforderungen und unserer Bindung an andere Menschen entstehen. (Ein Beispiel für einen solchen Konflikt: Auf Druck des Arbeitgebers soll jemand eine Hunderte Kilometer von seiner Familie entfernte Arbeitsstelle annehmen. Einerseits empfindet er eine intime emotionelle Bindung zu seiner Familie, andererseits die Pflicht, für sie zu sorgen.) Die jetzige Gesellschaft in ihrer industriell-technologisch-bürokra-

7 8

Vgl. ebd. 41–46. Vgl. ebd. 54ff.

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tischen Prägung stärkt in solchen Konflikten das instrumentelle Denken des Menschen.9 Um es zusammenzufassen: Authentizität hat laut Taylor zu tun mit der Bildung und Konstruktion, mit der Entdeckung und Originalität gesellschaftlicher Regeln. Authentizität entsteht oft aber auch gerade im Widerstand gegen weithin akzeptierte Moralvorstellungen. Sie fordert Offenheit für Sinnhorizonte und Selbstverwirklichung im Dialog. Mit anderen Worten: Authentizität ist in der Idee der Freiheit begründet, der zufolge man den Lebensweg selbst sucht und findet und dabei die Anforderungen äußerer Konformität abwehrt. Wenn sich jedoch die Idee der Freiheit auf ein Konzept von Selbstverwirklichung hin verschärft, hört sie auf, jegliche Grenze anzuerkennen und verliert das aus dem Blick, was auch bei selbstverwirklichender Wahl respektiert werden muss. Taylor versucht jedoch zu zeigen, dass deshalb die Idee der Authentizität selbst nicht verworfen werden sollte. Selbstverwirklichung schließt personale Beziehungen und moralische Forderungen, die jeweils das eigene Selbst überragen, ihm zufolge ja keineswegs notwendigerweise aus, vielmehr umgekehrt: sie fordert diese ihrerseits ein. Ich unterlasse eine Bewertung, ob das Resultat dieser Argumentation letztlich doch nur ein Beispiel dafür ist, dass ein Lebenskonzept, das auf Individualismus und Authentizität – mit einem vielleicht zu schwachen Schutz gegen den Primat des instrumentellen Denkens – basiert, in eine Sackgasse führt. Auf einen Sachverhalt möchte ich jedoch hinweisen: die ständig wiederkehrenden Formulierungen über die Menschenrechte. Der Mensch hat das Recht auf Freiheit der Bewegung, auf Redefreiheit, Bekenntnisfreiheit, auf einen gerechten Gerichtsprozess, der Mensch hat das Recht auf gleiche Anerkennung etc. Ich vermute, dass das Problem der modernen westlichen Gesellschaft darin besteht, dass die Priorität instrumenteller Vernunft sich auch in die Fundamentaldefinition der menschlichen Freiheit eingeschlichen hat. Das Recht auf verschiedene Arten der Freiheit wird – ohne dass man sich der Tragweite dieser Vorstellung bewusst ist – als ein Eigentum des Menschen dargestellt, der Mensch habe es! Und dieses Eigentum kann ihm vorenthalten werden, es kann ihm (ungerechterweise) genommen werden. Müssen wir jedoch Freiheit, das wesentliche Kennzeichen menschlicher Authentizität, nicht in anderen Kategorien auffassen als in jenen des Zuteilens oder Wegnehmens von Besitz,

9

Vgl. ebd. 109.

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wie dies die Rede von „Freiheit, die man hat bzw. nicht hat“ insinuiert? Zur Beantwortung dieser Frage will ich einige Erfahrungen meines eigenen Lebens rekapitulieren, deren Echo ich später in Gedanken tschechischer existentiell denkender Philosophen fand.

2.

Eigene Erfahrungen: Authentizität und totalitäres System

Als ich im August 1990 bei einem Treffen der ReligionslehrerInnen der Diözese Linz sprechen sollte, hatte ich vorgehabt, einige wesentliche Erfahrungen mitzuteilen, die Christen unter totalitären kommunistischen Machtverhältnissen machten. Im Verlauf der Veranstaltung hörte ich aus dem Mund von Jürgen Werbick eine allgemeine, von „außen“ kommende Charakterisierung dessen, was wir, die wir in das Innere der Geschichte des Totalitarismus hineingezogen waren, erlebten. In seinem Kommentar zu meinem Referat verwendete er Begriffe wie Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, Identität und Authentizität. Ich fasse meine Erfahrungen hier nochmals zusammen in der Hoffnung, dass dadurch einige Ausgangspunkte der tschechischen existentiell orientierten pädagogischen Theorie besser verständlich werden.

2.1

Geburt der Angst

Ich wurde 1953 geboren, ich gehöre also zu den sogenannten „Kindern der 50er-Jahre“. Das bedeutete, dass zugleich mit dem Entdecken der Geborgenheit in der Familie, der Lebensfreude und der Schönheit der Welt, gleichsam „um die Ecke unseres Hauses“ in meine Welt auch etwas Unheimliches, Dunkles trat, von dem die Erwachsenen nur leise sprachen, so, dass „es die Kinder nicht hören“. In einer gewissen Zeit konzentrierte sich dieses dunkle Bewusstsein in zwei Begriffen: „Hinrichtung durch Erhängen“ (in der tschechischen Umgangssprache: „das Seil bekommen“) und „der Angeber“ (udavač) bzw. Denunziant. Ein unheimlicher Unbekannter war der „Angeber“, ein anderer unheimlicher Unbekannter hat „das Seil bekommen“. Zufälle und Neugier ermöglichten dann dem Kind, beides zu verstehen: Es lebt in einer Welt, in der sich „Angeber“ bemühen, die Geborgenheit seiner Familie zu zerstören, in einer Welt, in der unbekannte

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schreckliche Kommunisten unschuldige Menschen zur Todesstrafe verurteilen. Die Welt teilt sich in die Verfolger und die Verfolgten. Die Christen gehören zu den Verfolgten. Wir sind Christen. Im Unterschied zu allen anderen Kindern in der Bekanntschaft. Aus dem Dunkel des kindlichen Unterbewusstseins stieg ein starkes Gefühl von Angst auf.

2.2

Geburt der „Solidarität der Erschütterten“

Mit der Schwelle zur Adoleszenz trat auch eine Lockerung des sozialistischen Klimas in unser Leben mit der Möglichkeit, uns umzusehen, Kontakte zu knüpfen und schließlich auch Freundschaft mit anderen Glaubenden zu schließen. Es war auch die Zeit der Treffen mit erwachsenen Christen, die die Glaubwürdigkeit ihres Glaubens in den 1950er-Jahren unter Verfolgung und im Gefängnis ausgeprägt hatten. Je fröhlicher das Erwachen, umso deprimierender aber die Rückkehr in die Position des Verfolgten, ohne Perspektive auf ein sinnvolles Studium oder eine zukünftige Arbeitsstelle. Das, was wir uns jedoch nicht nehmen ließen, war das tiefe Bewusstsein einer Gemeinsamkeit, die keine unheimliche Macht mehr bedrohen konnte. In uns entstand das Bewusstsein der „Solidarität der Erschütterten“; das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit jener, die ihrer von vornherein zerstörten Zukunft ins Angesicht geschaut hatten; (der zerstörten Zukunft des einen und einzigen Lebens, das uns gegeben war!) das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit jener, die diese Aussicht ertrugen und bejahten. – Die Treue der verfolgten Kirche bekam sogar den Vorrang vor den eigenen Zweifeln am Glauben.

2.3

Die Erfahrung von Freiheit

Die Reaktion der Mächtigen ließ nicht lange auf sich warten. Unsere Frühreife wurde zeitweilig begleitet von Verhörserien durch die staatliche Geheimpolizei. Damit gingen zutiefst existentielle Erfahrungen einher, besonders diese: Nach einem erschöpfenden, einige Stunden dauernden Verhör, in dem mir bezüglich meiner Zukunft und der Zukunft meiner Angehörigen gedroht worden war, stehe ich in einem engen Gang des leeren Polizeigebäudes, begleitet nur von „meinem“ Untersuchungsbeamten. Wir hatten nach und nach eine ganze Reihe von Stahlgittern durchschrit-

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ten, von denen jedes einzelne auf- und dann wieder zugeschlossen worden war. Jetzt plötzlich eine Pause und das Angebot: „Ein Leben ohne Zukunftsperspektive, das verdienen Sie nicht. Möchten Sie nicht mit uns zusammenarbeiten?“ Und in diesem Moment das spontane Gefühl unermesslicher Trauer über mich selbst, über die junge Frau, die wahrscheinlich im nächsten Augenblicken physisch angegriffen, geschlagen wird …, weil sie keine andere Antwort geben kann, als nein. Sie kann nicht, weil sie nicht will. Wenn man etwas nicht beeinflussen kann, dann ist es die Spontaneität des Gefühls. Die Annahme des Gefühls des Leidens an der erwarteten Qual war zugleich die Entdeckung der eigenen Freiheit. Diese Freiheit bedeutete nicht, dass zum Beispiel bei Wahlen mehrere Parteien zur Auswahl gestanden hätten. Wir haben Freiheit nicht gehabt, wir waren – mehr oder weniger – frei, insofern wie es vermochten, unsere Bangigkeit und Angst zu durchschreiten.

2.4

„Parallelwelten“

Das Ende der 1970er- und die 1980er-Jahre erlebte ich dann schon als Mitglied einer der kirchlichen Bewegungen, die gegen Ende der 1960erJahre auch in unserem Land entstanden. Sie zogen uns an, weil wir hier nicht nur glaubenden Gemeinschaften und ihrer Solidarität begegneten, sondern auch christlichen Ideen, die in gegenwärtiger Sprache formuliert waren und für unseren Alltag im totalitären System Werte bereitstellen konnten. Letztlich handelte es sich um Untergrundorganisationen, die eigene Texte herausgaben, große (mehr oder weniger geheime) Treffen organisierten und eigene Strukturen ausbildeten. Diese „Parallelwelten“ hatten jedoch nicht immer nur die ideale Form gemäß der „Solidarität der Erschütterten“. Von Zeit zu Zeit erschienen auch hier schon Äußerungen eines „parallelen Klerikalismus“, wenn es statt der Sorge um die Nächsten im Glauben (oft unbewusst) um die eigene „parallele Macht“ ging, darüber zu entscheiden, wer an der Peripherie bleiben und wer zur Teilnahme im Zentrum aufgefordert werden soll. Die „Parallelwelten“ in Gestalt der kirchlichen Bewegungen bildeten gegenüber der gespaltenen offiziellen Kirche somit nicht nur ein Paradies für katholische Dissidenten, sondern durchaus auch einen Ort für wenig authentische Äußerungen von Christentum.

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3.

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Havel und Patočka: Menschliche Identität besteht in der Suche nach der Wahrheit

Groß war meine Überraschung, als mir Anfang der 1980er-Jahre Václav Havels Samisdat-Buch Moc bezmocných (Macht der Ohnmächtigen) in die Hände fiel.10 Die hier geäußerten Gedanken entsprachen in auffallender Weise meinen Grunderfahrungen, nur dass sie darin präziser beschrieben und erklärt waren. Ohne sich auf bestimmte philosophische Theorien zu berufen, zeichnete Havel das Bild eines nicht authentischen Menschen, wie er inmitten des Systems „posttotalitärer“ kommunistischer Macht lebt. Dieses System ist nicht mehr von der böswilligen Autorität der Mächtigen getragen. Es ist vielmehr von einer Menge von Phrasen durchdrungen. Wer zu einem bedeutenden Akteur in der Hierarchie des Systems werden will, der muss diese Phrasen wiederholen. „Das System basiert seit langem nicht mehr auf reiner und brutaler Machtwillkür – die jeden nonkonformistischen Ausdruck ausschließt – und kann auch aus tausenderlei Gründen auf dieser reinen Willkür nicht mehr basieren; andererseits jedoch ist es schon solchermaßen politisch statisch, dass es fast unmöglich scheint, einen Ausdruck des Nonkonformismus auf die Dauer in seine offiziellen Strukturen einzubringen“.11

Sehr anschaulich ist das von Havel angeführte Beispiel des Leiters eines Gemüseladens, der statt einer Werbung für seine Waren im Schaufenster seines Ladens die sozialistische Parole „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ ausgestellt hat. Das tut er selbstverständlich nicht aus Überzeugung, sondern deswegen, „weil es alle machen“. Wenn er es nicht tut, könnte dies möglicherweise sein relativ bequemes Leben gefährden. Seinen Vorgesetzten gegenüber bekundet er damit nicht eine wirkliche Sehnsucht nach der Vereinigung aller Proletarier, sondern zeigt seine Loyalität zum System ihrer Macht. Die eigentliche und verborgene Mitteilung der Parole ist nämlich die: „Ich habe Angst und bin deshalb bedingungslos gehorsam“.12 So ersetzt er eine dem System gegenüber wahrhaftige, aber demütigende Mitteilung durch eine irgendwie würdigere – weil ideologische – Mitteilung. Havel bezeichnet solche Handlung als „Existenzverfall“. Der Gemüsehändler – und mit ihm eine Masse der ähnlich han-

10 11 12

Der Titel der deutschen Übersetzung weicht ab: Versuch, in der Wahrheit zu leben. HAVEL, Versuch, in der Wahrheit zu leben, 9. Ebd. 15.

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delnden Bürger – unterliegt aus eigenem Willen der Illusion, dass seine Existenz im Einklang mit der menschlichen Ordnung und mit der Ordnung des Universums steht. Er wird zum Opfer, aber auch zur Stütze des Systems. Aber „zwischen den Intentionen des posttotalitären Systems und den Intentionen des Lebens klafft ein Abgrund: Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit. Das posttotalitäre System dagegen verlangt monolithische Einheit, Uniformität und Disziplin.“13

Havel selbst präzisierte nicht, was die Menschlichkeit des Menschen ausmache, mit der die Freiheit so wesentlich verbunden ist. Zu dieser Frage äußert sich aber der Philosoph Jan Patočka, als dessen Schüler sich Havel verstand: Die Frage des Wesens des Menschen stellt sich direkt im Alltag, wenn es im eigenen Handeln gilt, sich die schwerwiegende Frage zu stellen: Wie soll ich als Mensch richtig leben? Die eigenen Kräfte dafür zu verwenden, sich dieser Herausforderung zu stellen, bedeutet „im Aufschwung zu leben“. Und umgekehrt: dieser anspruchsvollen Aufgabe auszuweichen und es sich leicht zu machen, stellt einen Verfall dar.14 Havel entwickelt seine Idee weiter: Die „ideologischen Handschuhe“, die sich das kommunistische totalitäre System übergezogen hat, brachten den Menschen Heuchelei und Lüge bei. In Lüge leben sowohl Einzelne, wie auch die Ideologie selbst, wenn sie offen lügt und fast grundsätzlich immer den Gegensatz dessen behauptet, was wahr ist. Mit dem „Leben in Lüge“ wird man zum Bestandteil dieses Systems. Die Ideologie ist in dieser Situation eine Machtinterpretation der Welt und unterstellt sich den Machtinteressen ihrer Verkünder – der anonymen Gesichter an den Spitzen der totalitären Machtstruktur. Das System wird so einerseits durch die Existenz der entsprechenden garantierenden Weltmacht getragen (damals die Sowjetunion), andererseits durch den automatischen Gehorsam seiner Opfer. Vor allem ihre Bereitschaft, „in Lüge“ zu leben, machte aus der Lüge das umfassende Element des sozialistischen Alltags: Die Menschen verzichten auf die eigene Identität und nehmen die Identität des Systems an, das auf Lüge basiert. Diese Absage an die Freiheit, die doch Treue zur eigenen geistigen und moralischen Integrität gebietet, und diese Annahme

13 14

Ebd. 16. CHVATÍK, Zodpovědnost „otřesených“, 3.

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eines „Lebens in Lüge“ wird zur Grundlage der Identitätskrise des sozialistischen Menschen. Folgerichtig schließt Havel, dass – wenn die Stütze der Stabilität totalitärer Systeme die Bereitschaft ist, „in Lüge“ zu leben – jedes „Leben in Wahrheit“ diese Stabilität notwendig stören muss. Der Preis für eine solche Entscheidung ist aber hoch: Menschen, die „in Wahrheit“ leben (und auch ihre Familien), werden der Geborgenheit und Sicherheit beraubt. Sie können auch die physische Freiheit verlieren. Sie geraten an den Rand der Gesellschaft. Gerade an diesem Rand der Gesellschaft aber können sie die Solidarität mit denen erleben, die ähnlich wie sie das „Leben in Wahrheit“ gewählt haben. Die Kraft der Menschen, die in Wahrheit leben, besteht nicht in ihrer Zahl, sondern aus dem Licht, das sie auf das System selbst werfen. Anderen Menschen, die bisher das, was wahres Menschsein ausmacht, nur unter der Oberfläche erlebt haben, zeigen sie die Lüge. Die Macht der Menschen, die gegenüber der totalitären Macht ohnmächtig sind, die aber in Wahrheit leben, besteht nicht in der Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Gewaltsystem, sondern auf der existentiellen Ebene des Bewusstseins und des Gewissens: da, wo es um die Sehnsucht nach eigener Würde und nach dem Erfülltsein elementarer Menschenrechte geht. Die Macht der Ohnmächtigen besteht darin, dass sie angesichts der Intention der Macht ein Licht auf die Intentionen des Lebens werfen: In Denken und Reflexion, in künstlerischer Tätigkeit, aber auch nur, indem sie den Alltag so bestehen, dass die Menschenwürde erhalten bleibt. Ihre „Macht“ ist eine moralische Macht.15 Havels Vorstellung vom „Leben in Wahrheit“ präzisiert Patočka im Zusammenhang der Frage nach dem Sinn des individuellen und historischen Lebens. Auf Heidegger Bezug nehmend schreibt er: „Der Mensch kann nicht ohne Sinn, und zwar einen gesamtheitlichen und absoluten Sinn, leben. Das heißt, er kann nicht in der Gewissheit der Sinnlosigkeit leben. Aber heißt das auch, dass er nicht in der Suche, in einem fraglichen Sinn leben kann? Dass zur echten, nicht zu bescheidenen, aber auch nicht dogmatischen Sinnhaftigkeit gerade dieses Leben in der Atmosphäre der Fraglichkeit gehört? … Ist die unendliche Tiefe der Wirklichkeit nicht gerade dadurch möglich, dass sich unmöglich bis auf ihren Grund blicken lässt, und ist nicht gerade das die Herausforderung und ebenso die Chance des Menschen in seinem Aufschwung zu

15

Vgl. HAVEL, Versuch, in der Wahrheit zu leben, 34.

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einem Sinn, der mehr meint als das Aufblühen und Verwelken der Lilien auf dem Feld unter den Augen der göttlichen Mächte?“16

Patočka gelangt also nicht zum Begriff „des Lebens in der Wahrheit“, sondern zum Begriff eines Lebens, das in die Suche nach der Wahrheit „eingeweiht“ ist. Havel beruft sich auf die historische Erfahrung von Menschen, die uns belehrt, dass ein wirklich sinnvolles Leben bei einem Menschen gewöhnlich dann gegeben ist, wenn es eine gewisse Universalität beinhaltet: ein Leben, das nicht nur partiell für sich selbst steht, sondern geeignet ist, Bezugspunkt für jedes Menschenleben zu sein und Vorbild einer allgemeinen Lösung, die nicht nur Ausdruck der Verantwortung des Menschen für sich selbst ist, sondern auch Ausdruck seiner Verantwortung zur Welt und für die Welt. Es geht also nicht um eine Flucht in ein Ghetto, in dem nur diejenigen ein gutes Gefühl haben, die hinein flüchteten, sondern es ist der Akt vertiefter Verantwortung zum Ganzen und für das Ganze. Im gegenteiligen Fall kann es nur zu einer kultivierteren Form des „Lebens in Lüge“ werden. Havel zitiert Patočka: Verantwortung hat die seltsame Eigenschaft, dass wir sie überallhin mitnehmen. „Parallelwelten“ demaskieren somit die vorfindliche Gestalt der Macht und verfallen dabei auch nicht jenem quasi-messianischen Rollenverständnis der Elite, die angeblich am besten wisse, wie die Sache läuft, und deren Aufgabe es sei, die unwissenden Massen zu belehren. Vielmehr überlassen es diese „Parallelwelten“ jedem selbst, was er von ihrer Arbeit annimmt oder nicht. Schon durch ihre Existenz fördern sie die Pluralität der Gesellschaft, indem sie eigene Typen von Kunst, Denken und Literatur ausbilden, das Bildungsangebot verbreitern, Verlage gründen und vieles andere in dieser Art tun.17 Patočka legt philosophisch dar, was Havel in der Form des literarischen Essays andeutet. Für die Geschichte des 20. Jahrhunderts unterscheidet Patočka zwei Wertinstanzen menschlichen Lebens: „die Ideen des Tages“ und „die Ideen der Nacht“. Die Ideen des Tages bzw. die „Kräfte des Tages“, die in ihrem Sinne agieren, herrschen über die Einzelnen, indem sie das Leben zum absoluten Wert machen: „Aus der Perspektive des Tages ist das Leben für den Einzelnen alles, es ist der höchste Wert, der für ihn existiert. Für die Kräfte des Tages dagegen existiert der Tod nicht, sie verfahren, als ob es ihn nicht gäbe, bzw. planen den Tod aus der

16 17

PATOČKA, Hat Geschichte einen Sinn?, in: ders., Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, 73–98, hier 96. Vgl. HAVEL, Versuch, in der Wahrheit zu leben, 31.

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Distanz und statisch, als bedeute er … eine bloße Übergabe von Funktionen. Im Willen zum Krieg herrschen also der Tag und das Leben mit Hilfe des Todes. … Unmöglich kann sich vom Krieg befreien, wer sich nicht von jener Gestalt der Herrschaft des Friedens, des Tages, des Lebens befreit, die den Tod ausklammert und vor ihm die Augen verschließt. … Frieden und Tag können nicht anders herrschen, als dass sie Menschen in den Tod schicken, um anderen einen künftigen Tag im Zeichen des Fortschritts … sicherzustellen“.18

Von den geopferten Menschen hingegen – so Patočka weiter – wird verlangt, dass sie auf das Leben verzichten. Die Erfahrung des Krieges kann jedoch zur Erfahrung der vollen Freiheit werden: Der Tod wird dann als etwas gesehen, das nicht ein Mittel zu etwas Weiterem ist. Was den Menschen von den Kräften des Tages abverlangt wurde: sich auszuliefern und zu opfern, wird zur Grundlage dafür, das eigene Leben, die eigene Existenz zu verwandeln. Diese Erfahrung der Nacht ändert den Sinn des Lebens. Wer von ihr betroffen ist, „stolpert über das Nichts“. Das ist die erste Folge der „Erfahrung der Nacht“. Die zweite Folge besteht nach Patočka darin, dass der Feind nicht mehr als der absolute Gegner auf dem Weg zur besseren Zukunft wahrgenommen wird oder als das verkörperte Übel, das im Namen der friedlichen Zukunft beseitigt werden muss. Vielmehr wird er zum „Mitentdecker“ der absoluten Freiheit, zum Teilnehmer an derselben Situation – der Erschütterung der Ideen des Tages. „Hier also tut sich das Abgründige des ‚Gebets für den Feind‘ auf, das Phänomen der ‚Liebe zu jenen, die uns hassen‘“,19 eine Beziehung, die Patočka als die „Solidarität der Erschütterten“ fasst.20 Die Erfahrung der Kriegsfront wird für Patočka so zur Erfahrung des Lebenssinns, der nicht in der Versklavung an die Erhaltung des Lebens besteht, sondern umgekehrt – in der Befreiung von dieser Versklavung. Die Freiheit kommt nicht „später“, d. h. wenn der Kampf beendet ist, sondern sie hat ihren Platz gerade in ihm. Diejenigen, die dem Machtdruck ausgesetzt werden, sind freier als diejenigen, die zuschauen und warten, ob auch sie an die Reihe kommen werden. Diese Erfahrung des Höhepunktes ist jedoch kurz und wer sie gemacht hat, kehrt früher oder später in den Alltag zurück, wo ihn wieder die manipulierenden „Kräfte des Tages“ ergreifen können. Das Mittel, mit dem man diesen Zustand überwinden kann, ist nach Patočka das in der Erfahrung der Er-

18 19 20

PATOČKA, Die Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg, in: ders., Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, 141–160, hier 151f. Ebd. 153. Ebd. 157.

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schütterung gewonnene Wissen, worum es in Leben und Tod geht: Dass die Geschichte ein Konflikt „des bloßen Lebens“ mit dem „Leben auf der Höhe“ ist, d. h. des Lebens, das von der Angst um sich selbst gefesselt ist, mit dem Leben, das den künftigen Alltag nicht plant, sondern klar sieht, dass der Alltag und mit ihm das Leben, der Frieden und die Absicherung ihr Ende haben werden. „Nur wer das zu verstehen vermag, wer die Fähigkeit zur Umkehr, zur metanoia hat, ist ein geistiger Mensch“.21 Wie Patočka hinzufügt, gilt dies nicht nur in der Grenzsituation des Krieges, sondern auch angesichts der ökonomischen und technischen Entwicklungen der Gegenwart. Auch hier braucht es Menschen, die „Unpopularität nicht fürchten“ und daher fähig sind, „‚nein‘ zu sagen zu allen Mobilisierungsmaßnahmen“.22 Die Ideen von Václav Havel und Jan Patočka entstanden vor dem Hintergrund der existentiellen Philosophie, aber auch inmitten jener existentiellen Erfahrungen, die wahrheitssuchende Menschen unter dem Druck eines totalitären Systems machten. Welche Relevanz haben sie in einer Gesellschaft, die auf die Demokratie und die in ihr gesicherten gleichen Rechte aller Menschen stolz ist? Der Gleichheitsgrundsatz, der aus dem von Taylor beschriebenen moralischen Sinnhorizont gegenwärtiger europäischer Gesellschaften folgt, kann zwar ein Ausgangspunkt sein, um die Frage nach den individuellen Freiheitsrechten der einen gegen die anderen aufzulösen (z. B. wo es um die Frage nach den Grenzen des Eigentums geht). Genuin jedoch bricht die Frage nach der Freiheit in der Situation der Unfreiheit auf, die der Mensch im totalitären System „rau“ erlebt hat und die gegenwärtig feinere Form annehmen kann. Die Freiheit ist dann nicht mehr unser unverdientes Eigentum, sondern sie ist ein wesentlicher Bestandteil unseres inneren „Selbst“, das uns auf Wahrheit ausrichtet, ohne Rücksicht auf die Folgen, die dies für unsere physische Existenz haben kann. Freiheit ist die Verantwortung dafür, die Wahrheit über jede Gesellschaft zu sagen, die Menschen zu Unfreiheit und Lüge manipuliert. Gewiss können wir uns von den modernen Gleichheits- und Freiheitsrechten her verstehen. Aber wir müssen der Wirklichkeit ungerechter Machtstrukturen auch frei und wahrhaftig entgegentreten, wir dürfen uns nicht zur Lüge manipulieren lassen.

21 22

Ebd. 157. Ebd. 158.

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Der Weg der Umkehr ins Innere, die Suche nach Wahrheit angesichts des Drucks gesellschaftlicher Ideologie, kann zum Sinn menschlicher Bildung werden, religiöse Bildung inbegriffen. Auch auf diesem Gebiet hat die tschechische philosophische Tradition in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Repräsentanten.

4.

Patočka und Palouš: Pädagogik der Umkehr (Metanoia)

Bildung wird in der tschechischen Pädagogik allgemein als die zielbewusste und geplante Tätigkeit des Pädagogen oder der Pädagogin definiert, die den zu bildenden Menschen auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet. Während der letzten 25 Jahre hat sich nur die Bezeichnung dieser Gesellschaft geändert: an die Stelle der sozialistischen Gesellschaft trat die demokratische Gesellschaft. Die Lehrinhalte an den pädagog/inn/enbildenden Institutionen erschöpft sich weiterhin in der Analyse von Bildungszielen, der sozialen Funktion von Bildung, der Faktoren, die an ihr beteiligt sind, der Prinzipien, nach denen sie sich richtet, der Formen und der Methoden, mit denen sie realisiert wird. In seinem 1991 in Prag erschienen Buch Čas výchovy (Die Zeit der Bildung) weist der tschechische Philosoph Radim Palouš (der wie Patočka als Sprecher der Charta 77 fungierte) auf die Unhaltbarkeit einer solchen Auffassung von Bildung hin. Bildung beschreibt so bloß die Wirkung eines Menschen auf einen anderen, sie wird mit der Tätigkeit des Pädagogen identifiziert. Für Palouš ist das eine ungewollte Reflexion eines immer noch nicht überwundenen einseitigen, monopolaren Verständnisses von Bildung: lehrerzentrierter Herbartianismus. Aber auch der gegenläufige Ansatz, der pädozentrische Ausgang vom zu Bildenden sowie die kybernetische Vorstellung von der Balance zwischen Pädagoge und Lernendem sind nach ihm nur verschiedene Techniken, wie man es einrichten will, dass der Pädagoge die vorgenommenen Ziele erreicht. All das hält Palouš für typisch für das neuzeitliche Konzept menschlicher Subjektivität, dem zufolge ein Einzelner, ein Subjekt auf einen anderen Einzelnen, ein anderes Subjekt wirkt, das Objektstatus hat. Die Vorstellung vom Voluntarismus des Formierenden geht so Hand in Hand mit jener der Plastizität des Formierten und der des Pragmatismus des Formierens. Palouš folgert:

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„Bildung lässt sich als planmäßige Organisationsarbeit verstehen: der Mensch wird im Rahmen kontrollierter Toleranz ‚auf das Leben vorbereitet‘, d. h., er wird zum gebildeten und wohl erzogenen Einzelnen gemacht, zum gesitteten Bürger, der in der Produktion und im gesellschaftlichen Verkehr wirkt … . Damit der zu Bildende in den Strukturen der modernen Gesellschaft ‚funktioniert‘ … , sind nur formative Eingriffe erforderlich: er muss bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und Gewohnheiten erwerben (‚sich an-eignen‘)“.23

Palouš geht darum auf zwei vormoderne Bildungskonzepte zurück: auf das platonische Konzept der Paideia und das christliche der Educatio.24 Im Vergleich mit dem modernen Begriff „Bildung“ zeigt sich bei beiden ein auffallender Unterschied: Während die moderne Bildung ihre Leistung am Erfolg des Gebildeten in einem bestimmten Fach oder im Leben allgemein misst, fehlt dieser Gesichtspunkt bei der platonischen Paideia und der christlichen Educatio vollständig: Derjenige, der in Platons Höhlengleichnis durch eine nicht näher bezeichnete Kraft von seinen Fesseln befreit und zum Licht gezogen wird, erlebt zunächst eher Gefühle des Verlustes als des Gewinns. Wer jedoch die Sonne – die Quelle des Lichts – anschaut, der nimmt seine vorherige Welt anders wahr als diejenigen, die sich ihr nie zugewandt haben.25 Das christliche Educatio ist der Weg der Nachfolge Christi in seiner sich ausgebenden Liebe, die dem Nächsten hilft und Gott ergeben das Leiden annimmt. Die Kategorie des Erfolgs spielt hier keine positive Rolle, umgekehrt, sie steht manchmal mit der Kategorie der Hingabe und der bedingungslosen Liebe im Widerspruch.26 Noch einmal zu Jan Patočka: In einer Studie über Jan Amos Comenius führt er zwei neue Begriffe ein, um seine existentielle Auffassung des Sinns von Bildung von den pragmatischen Zielen der weithin gängigen pädagogischen Theorien zu unterscheiden. Diese Begriffe sind die „geschlossene“ und die „offene Seele“. Die „geschlossene Seele“ charakterisiert er als die Tendenz des Menschen, nur die „Wirklichkeit“ zu sehen und anzuerkennen und sie mit rationaler Gewalt zu beherrschen. Im Gegensatz hierzu sieht er die „offene Seele“, für die die „christliche Seele“ ein Beispiel ist.27

23 24 25 26 27

PALOUŠ, Čas výchovy, 55. (Übersetzung von Sandra Lehmann.) Vgl. ebd. 56–89. Vgl. ebd. 90. Vgl. ebd. 91.92. Vgl. PATOČKA, Comenius und die offene Seele, 175f.

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„Die christliche Seele findet sich ja grundsätzlich vor etwas gestellt, dessen sie nicht mächtig wird, welches sie grundsätzlich überragt, das ihr unbegreiflich und von ihr unbewältigt bleiben muss, solange es sich ihr nicht selber enthüllt und sie ermächtigt, das zu tun, was ihrer Freiheit zwar grundsätzlich offensteht, ihr aber faktisch nicht verfügbar ist – nämlich vor Gott den Schöpfer und Erlöser, auf dessen Offenbarung und Gnade sie angewiesen ist“.28

Die Idee der „offenen christlichen Seele“ erscheint nach Patočka besonders deutlich in Comenius’ Schrift Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, wo er die Umkehr des Pilgers schildert, der sich im Labyrinth der Welt verirrt hat. Diese Umkehr, die Änderung des Interesses erhebt den Menschen über sich selbst. Das Menschenleben verausgabt sich im Dienst an Gott, Dingen und Nächsten, und das ist das Einzige, was es benötigt.29 In einer solchen Situation brauchen wir die Pädagogik der Umkehr, nicht eine Lehre menschlicher Formung, die auf Fachwissenschaften basiert, stellt Patočka fest. Da man Bildung nicht dort aufbauen kann, wo der Mensch zu einer Sache unter anderen Sachen reduziert wird, zu einer Kraft unter anderen Kräften, kann man sie nicht unter Maßgabe der geschlossenen Seele verwirklichen. Bildung kann nicht darin bestehen, Menschen zur Eroberung der Welt und ihrer Ausbeutung zu befähigen und anzuleiten. Vielmehr – so Patočka – soll sie helfen, dass der Mensch sich „dafür öffnet, sich zu widmen, zu verausgaben, zu pflegen und zu hüten; sie wird nicht einfach Wissen und Können einimpfen, sondern mit Geduld auf den einen Punkt hinarbeiten, wo begriffen wird, dass die Seele ihr Zentrum außerhalb der Dinge hat, also auch außerhalb ihrer selbst – als Kraft und Realität betrachtet –, und dass sie sich zu überschreiten, zu verschwenden, zu vergeben hat“.30

Radim Palouš vollzieht die christliche Tiefe des Sinns einer solchen Bildung nach: Der zu Bildende kommt in Bewegung und befreit sich von der egoistischen Sorge um sich selbst. Die Hingabe des Ich an den göttlichen Logos hat wieder Platz und Berechtigung, und zwar nicht nur im Leben des Einzelnen, sondern auch als Programm für eine Menschheit, die wesentlich dadurch bestimmt ist, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein. So ermöglicht und fördert Bildung eine Bewegung, die aus der modernen Katastrophe und Krisis herausführen kann.31

28 29 30 31

Ebd. 176. (Der deutsche Text stammt von Patočka selbst.) Vgl. ebd. 178. Vgl. ebd. 190. Vgl. PALOUŠ, Čas výchovy, 213–214.

Religiöse Bildung und die „Pädagogik der Wende“

367

Gegen Ende von Čas výchovy stellt Palouš fest: Bildung ist ein ontologisches, nicht ein ontisches Problem. Das menschliche Innere basiert darauf, dass dem Menschen die ernste Verantwortung für die Mit-Schöpfung auferlegt ist, die keine eigene Erfindung des Menschen ist. Bil-dung kann also nicht darauf beschränkt werden, Menschen mit Können, Wissen und Gewohnheiten auszustatten. Vielmehr soll sie sie aus dem modernen Labyrinth der Welt herausführen, sie von der bekümmerten Selbstsicherung wegbringen und hin zur ursprünglichen Verantwortung gegenüber den anderen Menschen und allen Lebewesen und Dingen, sowie gegenüber Gott als der übergeordneten Instanz, die den Menschen als Menschen geschaffen hat.32 Zuzana Svobodová, eine Schülerin von Palouš, konkretisiert diese Gedanken. Die verantwortliche Beziehung zu Gott bedeutet ihr zufolge, auf das Geheimnis hinzuweisen und in seiner „Nachbarschaft“ zu leben. Es fehlen hier weder Offenheit noch Geschlossenheit, weder Erwartungen noch Verborgenes, weder Nähe noch Ferne, weder Anwesenheit noch Abwesenheit, weder Teilnahme noch Schweigen. In der verantwortlichen Beziehung zu sich selbst geht es um die Suche nach einem Leben, in dem der Mensch gemäß seiner Authentizität – d. h. nicht nur für sich selbst – lebt. In der verantwortlichen Beziehung zu anderen Menschen schließlich geht es darum zu verstehen, dass wir unsere Nächsten verlassen, verlieren müssen, damit wir sie im echten Sinne nicht verlassen und die Hoffnung auf die offene Zukunft teilen können. In diesem Sinne bezeichnet Svobodová die religiöse Bildung als den Weg zum „fragenden Antworten“.33

5.

Schluss

Die tschechische Erfahrung eines Lebens, das inmitten gesellschaftlichen Machtdrucks nach der Wahrheit sucht, initiiert eine andere Sicht auf die Bildung zur Authentizität und zum christlichen Sinn: Die Bildung sollte dem Menschen helfen zu verstehen, dass seine Freiheit kein Eigentum ist, mit dem er sich von anderen Menschen und Institutionen abgrenzt. Vielmehr gehört zur Freiheit Verantwortung. Das menschliche Leben ist die Antwort auf jene Herausforderung, die das Wesen des Menschen (d.i. sein

32 33

Vgl. ebd. 223–226. Vgl. SVOBODOVÁ, Nelhostejnost, 107–112.

368

Ludmila Muchová

Sein) an seine konkrete Existenz (d.i. sein Dasein) stellt: Der Mensch soll für seine Seele und die Welt, für Mitmenschen und Natur sorgen. Erst im Moment der Umkehr ahnt er das Geheimnis des Sinnes und beginnt, ihn unermüdlich zu suchen – eine Handlung, in der sich nach und nach das innere Leben des Menschen bildet. Das Innere wird zu einem Raum, in dem der Mensch die Freiheit und die Verantwortung erlebt, die sein menschliches Schicksal sind. Die Bildung soll dem Menschen helfen, zu seiner ursprünglichen Freiheit und Verantwortung zurückzukehren. Der innere Raum, den man in sich entdeckt, ist auch ein Raum, in dem der Geist Gottes weht, so dass sich der Mensch für die Beziehung zu Gott und für seine Liebe öffnet, zu Gott, der nach Palouš die übergeordnete Instanz ist, die den Menschen zum Menschen gemacht hat. Künstler vermögen das so zu formulieren: Ein Raum ist im Raum, darin ist unser Weltall, in ihm ist die Erde, unser Planet, auf ihr ist der Mensch, im Menschen das Herz, und im Herzen ist Gott. In Gott ist der Raum, darin ist das Weltall, in ihm ist die Erde, unser Planet, darauf ist der Mensch, im Menschen das Herz, und im Herzen ist Gott.34

34

Ausschnitt aus dem Songtext Babylonská věž der tschechischen Sängerin ANETA LANGEROVÁ. – Übersetzung aufgerufen 24.09.2015 unter der Web-Adresse www.magistrix.de/lyrics/rad-za-feat-aneta-langerov/Babylonsk-V-Uebersetzung1222909.html.

Religiöse Bildung und die „Pädagogik der Wende“

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Literaturverzeichnis HAVEL, V., Moc bezmocných, Praha 1978; deutsch: Versuch, in der Wahrheit zu leben, aus dem Tschechischen übersetzt von G. Laub, Reinbek bei Hamburg 1989 CHVATÍK, I., Zodpovědnost „otřesených“. Patočkova „péče o duši“ v „době poevropské“ [on-line]. ff.ujep.cz/files/KPF/…/havlicek/text_chvatik.doc [Aufruf 24.09.2015] PALOUŠ, R., Čas výchovy, Prag 1991 PATOČKA, J., Kacířké eseje o filosofii dějin. Praha 1990; deutsch: Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, aus dem Tschechischen übersetzt von Sandra Lehmann (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1854), Frankfurt a. M. 2010 PATOČKA, J., Comenius und die offene Seele, in: ders., Kunst und Zeit. Kulturphilosophische Schriften, hrsg. am Institut für die Wissenschaften vom Menschen Wien, Stuttgart 1987, 175–190 SVOBODOVÁ, Z., Nelhostejnost. Črty k (ne)náboženské výchově, Prag 2005 TAYLOR, Ch., Das Unbehagen an der Moderne (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1178), Frankfurt a. M. 1995

Nach-Gedanken

Christoph Niemand

Was Authentizität sei und wozu Authentizitätsdiskurse gut sein können Ein persönliches Fazit

Es war zwar keineswegs das Ziel dieser Publikation, eine (gleichsam abschließende und umfassende) „Definition“ des „Begriffs“ Authentizität zu erarbeiten. Im Rückblick auf die verschiedenen Beiträge drängt es sich mir aber dennoch auf, meine essayhaften Nach-Gedanken definitorisch anzusetzen. Die nachstehenden begrifflichen Klärungen, die – wenn das denn möglich wäre – auf den alltäglichen semantischen Gebrauch abfärben mögen, haben sich für mich aus der Lektüre der Beiträge ergeben.1

1.

Bereichsfelder von Authentizitätsdiskursen

Das Wort Authentizität drückt ein graduelles – d. h. ein mehr oder weniger verwirklichtes – Entsprechungs-Verhältnis aus, das in unterschiedlichen Feldern antreffbar ist: a. In historischer Perspektive bewertet der Authentizitätsdiskurs die Ursprungsnähe einer Erzählung oder Darstellung: Ein Text entspricht mehr oder weniger dem referierten Ereignis. (Variante: Auch die Frage nach der Authentizität bzw. Nichtauthentizität der Autorschaftszuschreibung eines Artefakts gehört in diesen Bereich: Die Zuschreibung eines Kunstwerks an 1

Zusätzlich zu den Anregungen, die mir die in diesem Band versammelten Beiträge (zur Definition von Authentizität näherhin jener von M. HOFER) boten, nenne ich als besonders ergiebige noch A. WEIXLER, Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt, in: ders. (Hg), Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (Narratologia, 33), Berlin u. a. 2012, 1-32.

374

Christoph Niemand

einen Künstler entspricht mehr oder weniger den tatsächlichen Entstehungsumständen.) b. In hermeneutischer Perspektive bemisst der Authentizitätsdiskurs die sachliche Angemessenheit einer Interpretation: Eine Interpretation entspricht mehr oder weniger dem gelesenen Text. (Variante: Auch die Frage nach der performativen Qualität bzw. Angemessenheit im Bereich der reproduzierenden Künste kann man unter die hermeneutischen Authentizitätsdiskurse subsumieren: Die Inszenierung eines bestimmten Theaterstücks sei eine mehr oder weniger authentische Werk-Interpretation, insofern die Darstellung die dem Text eingeschriebenen Sinnpotenziale mehr oder weniger realisiert.) c. In personaler Perspektive bespricht der Authentizitätsdiskurs die Übereinstimmung von Entwurf und Vollzug von Leben: Der Lebensvollzug eines Menschen entspricht mehr oder weniger dem Lebensentwurf, den sich dieser Mensch gibt und den er kommuniziert.

2.

Die duale Struktur von Authentizitätsdiskursen: Anspruch und Zuerkennung

Diese Bestimmung der Rede von Authentizität im Blick auf die materialen Bereichsfelder ihres Vorkommens wird noch überlagert von einer formalen Bestimmung: Authentizitätsdiskurse spielen sich immer in der dualen Struktur von Anspruch und Zuerkennung ab. Nun wird zwar das Wort Authentizität meistens auf der Seite des Zuerkennungs˗, und kaum einmal auf der Seite des Beanspruchungsaktes verwendet. So sagt man etwa, die Politikerin A oder der Bischof B, der Hip-Hop-Künstler C oder die Aufdeckungsjournalistin D werden in der Öffentlichkeit als authentisch wahrgenommen, „kommen authentisch rüber“. Demgegenüber werden, wenn sie gut beraten sind, alle diese Personen in ihren öffentlichen Auftritten Authentizität nicht für sich selbst behaupten, sondern vielmehr versuchen, sich und ihre Agenda so zu präsentieren, dass viele Menschen ihnen Authentizität zuerkennen.

Dennoch handelt es sich nicht um bloße – gleichsam aus dem Himmel fallende – Akte der Zuerkennung, wenn von Authentizität die Rede ist. Authentizitätsdiskurse sind immer in der dualen Spannung von Anspruch und Zuerkennung verfasst. Dies trifft für alle drei oben genannten Bereichsfelder zu: Die Zuerkennung von Authentizität an einen Text (gemäß lit. a) oder überhaupt an ein Artefakt geschieht im Gegenüber zur Möglichkeit,

Was Authentizität sei …

375

dass es sich dabei ja auch um ein Pseudepigraph, oder – wie man heute gern sagt – um ein fake handeln könnte und andere Diskutanten womöglich just dies behaupte(te)n. Und die Zuerkennung von Authentizität an eine bestimmte Interpretation (gemäß lit. b) eines Textes bzw. eines Artefakts (z. B. die Inszenierung eines Theaterstücks), geschieht meist in Wahrnehmung dessen, dass es in aller Regel auch (wenigstens!) einen anderen – womöglich damit gänzlich unvereinbaren – Interpretationsvorschlag gibt. Wenn also schon die Rede von Authentizität bei Texten bzw. Artefakten und ihren Interpretationen bzw. Präsentationen die duale Struktur von Anspruch und Zuerkennung aufweist, so gilt dies umso mehr für die Rede von personaler Authentizität (gemäß lit. c): Sie verhandelt und bewertet, inwieweit die von einer Person in der Darstellung ihrer eigenen Identität erhobenen Ansprüche auf diese Identität überzeugend sind. Dabei macht es zwar einen Unterschied, ob sich die bewertende Person auch selbst jener Identität zugehörig fühlt, die die bewertete Person präsentiert, oder ob sie die betreffenden Identitätsmerkmale nur von außen kennt und wahrnimmt. Dennoch muss man sagen, dass Authentizitätsdiskurse sowohl gruppenintern als auch gruppenübergreifend und gesamtgesellschaftlich stattfinden. So mag – auf der einen Seite – ein Atheist oder Agnostiker den christlichen Glauben zwar an sich für verfehlt, den Christen A aber für einen „authentischen“ Christen halten und in gewissem Maß auch respektieren, während er den Christen B als „unauthentisch“, d. h. auch an dessen eigenen Ansprüchen gemessen unglaubwürdig wahrnimmt (und dann vielleicht für doppelt verachtenswert hält). Mitglieder einer lokalen Skater-Gruppe – auf der anderen Seite – werden sich, wenn neue Szenegänger mit anderer Stilistik auftauchen, herausgefordert sehen, sich zu diesen zu verhalten: Sind das authentische Typen, von denen man noch etwas lernen kann, oder handelt es sich um bloße Poser (in etwa: Angeber)? Aber auch „normale“, d. h. nicht szene-zugehörige Jugendliche wissen genug von den Gruppen-Codes der Skater, dass sie jene Szenemitglieder, die öffentlich wahrnehmbar sind, entweder als authentisch oder eben als Poser beurteilen.

Somit zu- oder ab-erkennt der Authentizitätsdiskurs das Verwirklichtsein jener Merkmale von Identität, Gruppenzugehörigkeit und gruppenspezifischer Kompetenz, die jemand in seinem Auftreten für sich beansprucht. Und – obwohl natürlich spezifische Unterschiede gegeben sind – Authentizitätsdiskurse laufen sowohl in gruppeninterner als auch in gruppenübergreifender Wahrnehmung und Kommunikation.

376

3.

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Authentizität und Öffentlichkeit

Authentizitätsdiskurse sind besonders virulent in Gesellschaften, in denen politische Positionen demokratisch gewählt werden, weltanschauliche Überzeugungen, Werte und Lebensstile in pluralistischer Umgebung gelebt und kommuniziert werden und Güter und Dienstleistungen marktförmig (d. h. monopolfrei) getauscht werden. Alle diese Prozesse bedürfen aber notwendigerweise eines öffentlichen Kommunikationsraums, besser gesagt: Sie bedürfen des Kommunikationsraums einer je bestimmten Öffentlichkeit. Und weil sich in unserer derzeitigen Zivilisation das, was wir Öffentlichkeit(en) nennen, durch die gleichzeitige Steigerung der Reichweiten-Breite und Impact-Tiefe von Informations- und Kommunikationsmedien ständig neu entgrenzt, gewinnen auch die Diskurse um Authentizität, die es in der Sache natürlich immer schon gab, eine massive Verbreiterung und Intensivierung: Alle Lebensbereiche, die öffentlich verfasst sind – und zunehmend mehr Lebensbereiche werden öffentlich und damit pluralistisch und marktförmig gemacht –, sind Bereiche, in denen Authentizität zu einem entscheidenden Parameter avanciert. Diese zeitdiagnostische Feststellung rät dazu, den zuvor (unter Punkt c) personale Authentizität genannten Sachverhalt nochmals in den Blick zu nehmen und weiter zu differenzieren. Meine Überlegung beginne ich dabei mit folgender Beobachtung: Die Frage, ob denn der von einem Menschen gedachte Entwurf seines Lebens in einem angemessenen Passungsverhältnis zum tatsächlichen Vollzug seines Lebens steht, ist natürlich keineswegs neu. Die verwirklichte oder fehlende Übereinstimmung (oder: Stimmigkeit) von Lebensentwurf und Lebensvollzug war schon immer ein Thema und wurde und wird auch als Thema der (alltäglich-populären, der philosophischen und der theologischen) Ethik verhandelt, die für solche Diskurse auch Terminologien und Kriteriologien in reichem Maß zur Verfügung stellt. Deshalb darf man durchaus kritisch fragen, welchen Mehrwert an semantischer oder begrifflicher Präzision es denn darstellen soll, wenn man neuerdings die Frage nach der Stimmigkeit von Entwurf und Vollzug von Leben unter dem Label „Authentizitätsdiskurs“ verhandelt. Zur Beantwortung dieser Frage versuche ich folgende Differenzierung: Das Wort Authentizität scheint für die Frage nach der Stimmigkeit von Leben besonders dann geeignet, wenn es um die Aushandlung eines öffentlichen Urteils geht. Authentizität wird deshalb v.a. dort ein Thema, wo es um die „Außenseite“ personaler Integrität geht: Was kommuniziert ein

Was Authentizität sei …

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Mensch an Identität nach außen, und wie wird dies von unterschiedlichen Kommunikanten wahr- und angenommen? Für diesen „Handel“ ist Authentizität die derzeit global gängige „Leit-Währung“. Sie bewertet, inwieweit die von einem Kommunikator präsentierte Identität von den Kommunikanten auch als solche rezipiert und anerkannt wird. In einer Zivilisation, in der das Ich im ständigen Zugriff und Spiegelreflex von Öffentlichkeit(en) steht, nehmen Fragen nach der personalen Integrität eines Menschen tatsächlich immer mehr den Zuschnitt von Authentizitätsdiskursen an. Und man kann beobachten, dass die derart unter öffentlicher Beobachtung Stehenden dies weithin überhaupt nicht im Sinn einer repressiven, quasi geheimpolizeilichen Aufsicht verstehen, sondern ganz selbstverständlich und durchaus frohgemut ihre gespiegelte Existenz leben: I goes public!

Muss man diesen Befund zivilisationskritisch bedauern? Soll man es als Anfang vom Ende (des Abendlandes, der Menschheit, …) bejammern, wenn in nachgerade pandemischer Weise die Identität von Menschen zur „Äußerlichkeit“ wird, weil Identität vor allem durch äußere Foren und Instanzen bewertet wird, weil Identität vielfach schon von Anfang an im Blick auf die bewertende Umwelt aufgebaut wird und somit, wie man gelegentlich hört, Ethik durch Ästhetik abgelöst würde? Ohne zu leugnen, dass mit den beschriebenen Phänomenen auch typische und massive Verblendungen einhergehen können und faktisch auch einhergehen, möchte ich selbst auf apokalyptisierende Rhetorik doch lieber verzichten, und versuche es statt dessen mit zwei bescheidenen Verhältnisbestimmungen. (Diese werden zwar weder Abendland noch Menschheit retten, können aber vielleicht helfen, die Gedanken ein wenig zu ordnen.)

4.

Authentizität und Ethik/Authentizität und Ästhetik

Ich beginne mit der Verhältnisbestimmung von personaler Authentizität und Ethik: Zunächst einmal wird man sagen, dass Fragen nach (den vielen vorfindlichen) Lebensentwürfen, Fragen nach (den je konkreten) Lebensvollzügen und Fragen nach dem Passungsverhältnis von Entwurf und Vollzug, wie sie im Leben eines jeweiligen Menschen zusammenkommen, zweifellos in den Zuständigkeitsbereich von Ethik fallen.

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Insofern gilt, dass der personale Authentizitätsdiskurs innerhalb des Feldes von Ethik sozusagen eine Spezialfrage bearbeitet, näherhin die Frage nach dem Verhältnis einer öffentlich gemachten, öffentlich präsentierten Identität zum tatsächlichen, gesamtheitlichen, auch unöffentliche Momente umfassenden Lebensvollzug, und zwar insofern dieses Verhältnis ethisch relevant ist. Kann ein solches Verhältnis überhaupt ethisch relevant sein? Zweifellos! Nicht nur in Produkten des täglichen Bedarfs sollte „drin“ sein, was auf der Verpackung „drauf steht“ bzw. in der Werbung gesagt wird, dass „drin sei“. Analoges gilt auch vom Personen: Und deshalb ist es ist ethisches Manko, wenn ein Mensch im Vollzug seines Lebens das nicht hält, was sein Design und Image an Identität versprechen. Wenn ein Politiker (sagen wir: in berlusconeskem Alter) mit seiner (sagen wir: sehr jungen) Referentin (, die karrieremäßig in einem massiven Abhängigkeitsverhältnis zu ihm steht,) eine sexuelle Beziehung unterhält, mag man dies in mehrerer Hinsicht für ethisch verfehlt ansehen. Ein Authentizitätsproblem wird der Mann aber erst und vor allem dann bekommen, wenn er (sagen wir) in seiner Wahlwerbung auf heile Familie gemacht und zusammen mit seiner Frau und einer Schar von lieben Enkelkindern großväterlich von weichgezeichneten Plakaten heruntergelächelt hatte. Ein ethisches Manko ist also nicht eo ipso ein Authentizitätsmanko. Und umgekehrt ist dieses ist nicht eo ipso jenes. Berlusconi hatte angesichts seiner Bunga-Bunga-Affären massive ethische, rechtliche und politische Probleme, aber kein (zu mindestens kein gleichrangiges) Authentizitätsproblem: Zum Zeitpunkt seines Eintretens in die Politik Mitte der 1990er-Jahre blickte die Berichterstattung schon auf etliche glamouröse amouröse Affären des Cavaliere zurück, sodass er sich von vornherein nicht als vatikanisch sanktionierter Ehemann und Familienvater zu inszenieren versuchte. Als „Ertappter“ konnte er deshalb dann auch die Flucht nach vorne antreten, indem er den bekennenden Macho gab und auf das feixende Einverständnis der „Generation Viagra“ setzte.2

2

Nicht das Phänomen Berlusconi, dafür die Kampagnen der um das Jahr 2010 in den Medien einige Zeit lang als besonders „authentisch“ wahrgenommenen deutschen Politikerin Hannelore Kraft analysiert der auch für Nicht-PolitologInnen sehr lesenswerte Beitrag M. BANDTEL, Authentizität in der politischen Kommunikation. Mediale Inszenierungsstrategien und authentifizierende Selbstdarstellungspraktiken politischer Akteure, in: A. Weixler (Hg.), Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (Narratologia, 33), Berlin u. a. 2012, 213-236.

Was Authentizität sei …

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In nicht wenigen Fällen aber überschneiden die beiden Diskurse einander. Unsere Welt ist, wer wollte das leugnen, voll von dreisten Fällen von Lüge, Täuschung, Heuchelei und Irreführung. Das ethische Problem, das personale Authentizitätsdiskurse im Blick auf die Diastase von publiziertem Lebensentwurf und tatsächlichem Lebensvollzug zu bearbeiten haben, ist nicht zuletzt deshalb so drängend, weil es gleichzeitig zu den medial aufbereiteten, atemberaubend eklatanten Fällen personalen Authentizitätsmangels – in Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Sport, Medien … – zu so etwas wie einem gesamtgesellschaftlichen Hintergrundrauschen kommen könnte, in dem (unser aller) Mangel an personaler Authentizität nicht einmal mehr die eigene Wahrnehmungsschwelle überwindet. Ethik und personaler Authentizitätsdiskurs haben also eine gemeinsame Schnittmenge, sind aber aus zwei Gründen nicht koextensiv: Erstens sagt die Feststellung, dass bei einem bestimmten Menschen personale Authentizität gegeben sei, noch gar nichts über die sachliche, inhaltliche – also ethische – Qualität des jeweiligen Lebensentwurfs aus. Aber gerade diese Frage wird man auf Dauer nicht vermeiden können. Insofern bespricht der Authentizitätsdiskurs nur einen Teilbereich von Ethik, näherhin einen recht überschaubaren Teilbereich. Zweitens (und umgekehrt) muss man auch sehen, dass die Rede von personaler Authentizität keineswegs in ihrer ganzen Ausdehnung in das Kompetenzfeld von Ethik fällt. Bei weitem nicht alle Authentizitätsfragen sind ethisch relevant. Vielmehr wird es sich bei der Mehrzahl der Authentizitätsurteile wohl um („bloße“) ästhetische Urteile handeln. Und deshalb lautet das öffentliche Verdikt, das sich jemand zuzieht, dessen oder deren Selbstdarstellung und Zuordnung zu einer bestimmten Identität und ihren Codes mangelhaft ist – wenn dabei der ethische Aspekt nachrangig ist –, eher auf Peinlichkeit denn auf Amoralität. So wird der Politiker des oben fiktiv konstruierten Falles, wenn die Medien davon Wind bekommen und zu berichten beginnen, natürlich ein ethisches Glaubwürdigkeitsproblem haben. Aber wahrscheinlich wird es eher das (in den sozialen Medien genüsslich kommentierte) ästhetische Urteil sein, das seine Wahlchancen massiv verschlechtert: die assoziationsträchtige und Spott generierende Peinlichkeit vom freundlichen, soignierten Polit-Opa, der in Wirklichkeit aber ein alter Bock ist und mit jungen Mädchen, die seine Enkelinnen sein könnten, herummacht! In diesem Fall einer unglaubwürdig gewordenen Inszenierung eines Politikers als Familienmensch interferieren die ethische und die ästhetische Dimension von Authentizität. Bei vielen anderen der für unsere Zivi-

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lisation typischen Authentizitätsdiskursen mag aber ethische Indifferenz gegeben sein. Dass ein Mangel an Authentizität häufig tatsächlich eher ein ästhetisches als ein ethisches Manko darstellt, zeigt sich auch, wenn man sich vor Augen führt, in welche Dialektik der gegenwärtige Authentizitäts-Boom führt: Wenn alle sich dem Zug der Zeit angeschlossen haben und ganz authentisch (geworden) sind, dann ist am Ende, weil die jeweils individuell gewählten und zusammengestellten Identitäten verwechselbar geworden sind, keiner mehr authentisch. Wenn es hauptsächlich darum geht, „ganz Ich selber“ zu sein, aber das Ich-sein nicht (mehr) in einem inhaltlich bestimmten, und deshalb auch nicht beliebig auswechselbaren So-sein besteht, sondern darin, jederzeit jede denkbare Identitätswahl treffen zu können, dann wird Authentizität anspruchslos und leer. Was aber gäbe es – und das ist als ästhetisches Urteil gemeint! – Peinlicheres, als eine Menschheit, in der sich alle als unverwechselbare, authentische Unikate gerieren, aber gerade darin austauschbar und verwechselbar geworden sind! Man muss sich nicht sofort der Arroganz zeihen (lassen), wenn man das „Ich bin ganz Ich“ nicht weniger ZeitgenossInnen, mit dem sie dem Mantra-Rat „Sei ganz Du“ gehorchen, für einen schlechten Witz oder gar für eine gefährliche Drohung halten möchte.

5.

Authentizität und Innerlichkeit: Eine theologie-fähige Schlussbemerkung

Ich habe den personalen Authentizitätsdiskurs bisher nur von seinem Öffentlichkeitsaspekt her betrachtet: Insofern Identität präsentiert und kommuniziert wird, bewertet Authentizität die Überzeugungskraft dieser Darstellung. Ist damit aber schon jeder mögliche personale Authentizitätsdiskurs erfasst? Ich denke, nein. Authentizitätsdiskurse können – wiewohl sie grundsätzlich dialogische Prozesse sind und einer Öffentlichkeit bedürfen – sehr wohl auch Prozesse sein, die sich im intimen Binnenraum des Bewusstseins (oder Gewissens) eines Menschen abspielen. Dass auch eine Intro-spektion, in der ein Mensch etwa denkt „Ich bin im Einklang mit mir“, oder „Ich bin nicht mehr ich selber“, oder gar „Ich bin noch nicht ich selber“, diskursiv angelegt ist und einen Aspekt von Öffentlichkeit in sich trägt, kann man gut am Kirchenlehrer Augustinus von Hippo nachvollziehen.

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Ich muss mich gar nicht als besonderer Augustinus-Experte (der ich nicht bin) gerieren, um schon als gelegentlicher Augustinus-Leser konstatieren zu können: Seine Konfessionen wird man nicht anders denn als großangelegtes Ringen um personale Authentizität verstehen können, das dabei auch noch die ganze Diachronie der eigenen Biographie mitdenkt. Augustinus gestaltet seine innere Betrachtung aber nicht als monologische Introspektion, sondern gibt ihr einen eminent dialogischen Charakter. Aber auch als bloßes Zwie-Gespräch des Augustinus mit seinem Gott wären die Confessiones in unzureichender, immer noch krass „unterkomplexer“ Weise beschrieben. Ihre innere Kommunikationsstruktur ist nämlich höchst exquisit und umfasst sechs unterscheidbare Pole: Schon im einfachen Leseakt können wir 1. das ansprechende Ich und 2. das angesprochene Ich des Augustinus 3. sowie den von Augustinus angesprochenen und 4. den Augustinus ansprechenden Gott unterscheiden. (Dabei spricht 1. zu 2. und zu 3. Und umgekehrt wird 2. von 1. und von 4. angesprochen.) Hinzu kommt aber noch die LeseInstanz als zusätzliche Öffentlichkeit. Denn Augustinus gestaltet das Gespräch dieser vier Kommunikationspole so, dass sich das 5. Ich des Lesers oder der Leserin in vielfacher Weise angesprochen fühlt und dass das 6. Ich des Lesers oder der Leserin an vielen Stellen in irgendeiner Form auch anfangen wird, „mitreden“ zu wollen. Dieser an beliebig vielen Beispielstellen recht einfach zu verifizierende Befund3 zeigt, dass bei Augustinus auch die Innerlichkeit ihre Öffentlichkeit hat! Ich verzichte nur schweren Herzens auf den Versuch einer graphischen Darstellung der dargestellten Kommunikationsstruktur: Da Augustinus Gott nicht nur als ein Gegenüber (und somit ihm Äußereres), sondern gleichzeitig auch als ihm innerlicher als sein eigenes Innerstes ansieht, wäre solches nur in einem (mindestens) dreidimensionalen Schaubild leistbar, was in auf Papier gedruckter Form aber kaum machbar ist.

3

Siehe z. B. die Serie jener berühmten Passagen aus dem 10. Buch der Confessiones, die in die Leseordnung des Stundengebets übernommen wurden: Die Feier des Stundengebets. Lektionar II/6, Freiburg i. Br. u. a. 2005 (= 1980), 50-51. 54-55. 5859. 62-64. 67-68.

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Übrigens ist nicht nur beim großen Hipponenser die Suche nach personaler Authentizität ein vielstimmiges öffentliches Gespräch, das sein Forum trotzdem im Binnenraum des eigenen Bewusstseins hat. Bei jedem gläubigen Bewusstsein, auch wenn es keine Confessiones in Schriftform zu veröffentlichen gedenkt, kann es ähnlich zugehen, wenn dieses Bewusstsein nur über einige Feinhörigkeit im Unterscheiden der in ihm sich artikulierenden Stimmen verfügt: Gott schaut allen, die so über sich selbst nachdenken, sozusagen konstant über die Schulter und spricht ihnen ins Herz (und in die Nieren); und auch die ganze (öffentliche) Welt redet ständig mit (und redet häufig drein), wenn ein solches Bewusstsein versucht, mit sich selber klar zu kommen! (Ein Leben wird ja nicht erst dadurch zum autobiographical life, dass – wie bei Augustinus – wirkliche Leser/innen zuhören und ihre Kommentare abgeben.) Aber was, wenn Gott als möglicher Mitdiskutant und Zuhörer eines inneren Authentizitätsdiskurses abhanden gekommen ist und somit die Pole 3. und 4. im Gespräch unbesetzt bleiben? Nun, auch in viergliedriger (Rumpf-)Gestalt bleiben personale Authentizitätsdiskurse in kommunikationsanalytischer Hinsicht immer noch äußerst komplex, bei genauer Betrachtung sind sie so womöglich noch viel verwirrender: Denn wenn in jenem inneren Forum, in dem die personale Authentizität eines Menschen verhandelt wird, kein Gott (mehr) zuhört und mitspricht, dann übernehmen wohl oder übel die anderen vier Kommunikationspole (1./2. und 5./6.) diese „göttlichen“ Funktionen. Nicht wenige Menschen bekunden aber die Erfahrung, dass sich sowohl das Ich, das dann zu einem Über-Ich der besonderen Art gerät, wie auch die Öffentlichkeit, die dem Ich dann als sein Schöpfer und Richter gnadenlos und oft in blanker Willkür Likes und Dislikes zuteilt, als „Gottes-Ersatz“ grausam, menschenfeindlich und letztlich untauglich sein können. Auch abgesehen von dieser letzten Überlegung: Authentizitätsdiskurse, vor welchem Forum auch immer sie stattfinden, sind jedenfalls im wahrsten Sinn des Wortes viel-stimmig. Diese keineswegs banal zu nehmende Feststellung möge als hoffentlich konsensfähiger Schlusssatz durchgehen.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Paul EISEWICHT, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Dortmund Karl GABRIEL, Dr. rer.soc., Dr. theol., Dr. hc., Professor emeritus für Christliche Sozialwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Franz GRUBER, Dr. theol., Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Katholischen Privat-Universität Linz Michael HOFER, Dr. phil., Professor für Theoretische Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz Heiner KEUPP, Dr. phil., Professor emiritus für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Ansgar KREUTZER, Dr. theol., Professor für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz Ludmila MUCHOVÁ, Ph.D., Dozentin für Religionspädagogik an der Südböhmischen Universität České Budějovice Christoph NIEMAND, Dr. theol., Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz Michaela PFADENHAUER, Dr.in phil., Professorin für Kultur und Wissen an der Universität Wien Walter RABERGER, Dr. phil., Dr. theol., Professor emeritus für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Katholischen Privat-Universität Linz Imelda ROHRBACHER, Dr.in phil., Lehrbeauftragte der Universität Stuttgart und Referentin für Forschung an der Katholischen Privat-Universität Linz Hanjo SAUER, Dr. theol., Professor emeritus für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz

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Autorinnen und Autoren

Barbara SCHRÖDL, Dr.in phil., PD, Assistenz-Professorin für Kunstwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz Gerd THEISSEN, Dr. theol., Dr. hc. mult., Professor emeritus für Neues Testament an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Klaus VIERTBAUER, Dr. phil. fac.theol., Assistenz-Professor für Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz Julia WUSTMANN, MA, Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der Technischen Universität Dortmund Hildegard WUSTMANS, Dr.in theol., Professorin für Pastoraltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz

Zum Buch Authentizität ist ein schillerndes, gleichzeitig aber sehr populäres Wort: In Medien und Populärkultur wird „authentisch sein“ als herausragendes Leitbild eines als gelungen definierten Lebens angesehen. Im religiösen Feld gilt vielen allenfalls ein „authentisch gelebter Glaube“ noch als glaubwürdig. Soziologisch hängt die Hochkonjunktur des Begriffs damit zusammen, dass die orientierende Kraft von Traditionen, Gemeinschaften und Organisationen brüchig geworden ist, so dass die Einzelnen auf der Suche nach Identität immer mehr auf sich selbst verwiesen sind. Aus philosophischer, sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive sowie in theologischen Aufnahmen untersuchen die Autorinnen und Autoren die Tragweite und die zeitdiagnostische Bedeutung des Begriffes Authentizität.

Die Herausgeber Ansgar Kreutzer, Dr. theol., geb. 1973, ist Professor für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Christoph Niemand, Dr. theol., geb. 1959, ist Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz.